Übergänge. Perspektivierungen aus Literaturwissenschaft, Kulturwissenschaft und Philosophie

672 165 4MB

German Pages 291 Year 2017

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Übergänge. Perspektivierungen aus Literaturwissenschaft, Kulturwissenschaft und Philosophie

Citation preview

• ·

Übergänge Perspektivierungen aus Literaturwissenschaft, Kulturwissenschaft und Philosophie

Herausgegeben von Sage Anderson Sebastian Edinger Jakob Christoph Heller Emanuel John

Königshausen & Neumann

Gefördert von der D FG im Rahmen des Graduiertenkollegs „Lebensformen und Lebenswissen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie,· detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Verlag Königshausen & Neumann Gm bH, Würzburg 2017 Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier Umschlag: skh-softics / coverart Umschlagabbildung: SLU B Dresden / Deutsche Fotothek / Karl Gröber Bindung: docupoint Gm bH, Magdeburg Alle Rechte Vorbehalten Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in Germany ISBN 978-3-8260-5865-3 www.koenigshausen-neumann.de www.libri.de www.buchhandel.de www.buchkatalog.de

Inhaltsverzeichnis

Andrea Allerkamp Grußwort.............................................................................................................. 7 Sage Anderson Sebastian Edinger Jakob Christoph Heller Emanuel John Einleitung.............................................................................................................. 9 Gerhard Gamm Der Anlass - die eigentliche Kategorie des Übergangs............................... 21 Sebastian Edinger Theoretische Wende und historischer Übergang. Zur Transformation der Kritischen Theorie bei Jürgen Habermas..........................................................................................33 Thomas Ebke Notizen zu einer Metaphysik der Differenz..................................................61 Frank Ruda Hegels Mutter: Vom Übergang in den Geist................................................. 85 Emanuel John Führt die Moral unumgänglich zur Religion? Antworten mit Kant und H egel.................................................................... 109 Andrea Allerkamp Im Fluss: Blumenbergs Quellen.................................................................... 125 Inga Anderson Überleben, überwinden, übergehen. Trauer als Medium des Übergangs................................................................ 139 Matthias Preuss Sebastian Schönbeck Abnorme Paarungen versuchen. Naturgeschichtliche Betisen in Flauberts Bouvard et Pécuchet..............157

5

Sage Anderson Ungesicherte Übergänge. Kürze und Krankheit bei Hippokrates, La Rochefoucauld und Nietzsche................................................................. 185 Alexandra Heimes Dramen der Verkennung: Untergänge......................................................... 201 Jacques Lezra ,Die Unübersetzbarkeit, die nicht eine ist‘. ,This untranslatability which is not one‘ ...................................................... 219 Ronja Bodola Bildstörungen - Zur ästhetischen Produktion von Lebenswissen an Übergängen.................................................................235 Jakob Christoph Heller Eine ,vollkommene schöne Kette‘? Übergänge und Spannungen in Johann Georg Sulzers Naturbegriff..... 257 Carmen Bartl-Schmechel Der Übergang von der Physiologie zur Ästhetik bei Schiller.................. 271 Autorinnen und Autoren................................................................................ 297

6

Andrea Allerkamp

Grußwort

Der vorliegende Sammelband ist hervorgegangen aus einer Abschlussta­ gung, die vom 4. bis zum 6. September 2014 in der Literaturwerkstatt Ber­ lin stattgefunden hat. Es war die letzte gemeinsame Tagung des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Graduiertenkollegs „Le­ bensformen & Lebenswissen“. Als ehemalige Sprecherin freue ich mich besonders über diesen bemerkenswerten Abschluss eines Promotionspro­ gramms, das nicht nur auf drei Generationen von KollegiatInnen zurück­ blicken konnte, sondern auch international Beachtung gefunden hat. Es ist sicher kein Zufall, dass die Konferenz in Berlin stattfand. Aus dem Blickwinkel der beiden am Kolleg beteiligten Partner-Institutionen - Eu­ ropa-Universität Viadrina und Universität Potsdam - erscheint Berlin als globaler Ballungsraum, als Mitte oder Übergang. Übergänge - der Titel des Bandes proklamiert keinen Abschluss, son­ dern ein Hinübergehen, vielleicht eine Grenzüberschreitung, ein Überge­ hen in etwas anderes, einen Wechsel, eine Wandlung. Wo etwas aufhört, beginnt etwas Neues. Übergänge sind im Dazwischen, sie sind flüchtig und schwer zu fassen aber auch beweglich und grundlegend, und diese Dynamik macht sie so einzigartig. In Aristoteles’ berühmter Definition „Ein Ganzes aber ist, was Anfang, Mitte und Ende hat“1 ist die Ganzheit der Handlung weniger durch eine Ordnung von Ereignissen, Geschehnis­ sen, Begebenheiten bestimmt, als vielmehr durch einen Anfang (Ent­ schluss), eine Mitte (Vorbereitung) und ein Ende (Vollzug), wobei die Mitte Anfang und Ende vereinigt: „Mitte ist das, was selbst nach etwas Anderem ist, und nach dem etwas Anderes ist.“12 In der Malerei spricht man von Schattierungen oder Abstufungen, in der Musik von verbinden­ den Tonfolgen oder Sätzen. Übergänge sind Wege - und das hat Metho­ de. Ein Transit wäre ohne Verkehrsverbindungen nicht denkbar, Grenzen sind dazu da überwunden zu werden. Bei Übergang fällt die Konstruktion einer Brücke ein - so wie der Pont Transbordeur, der als Emblem des Kollegs stets präsent war. Leise, im Hintergrund und in graphischer Leichtigkeit, hat dieses nützliche Luftgebilde des maritimen Verkehrs in Südeuropa uns still begleitet. Als

1 2

Aristoteles. Poetik. Griechisch / Deutsch. Hg. und übersetzt von Arbogast Schmitt. Darmstadt 2008, S. 12, Kap. 7, 1450 b 28. Ebd.

7

ich 2011 mein Amt als Frankfurter Sprecherin des Kollegs antrat, war das für mich mehr als eine Anekdote. Ausgerechnet ein Bauwerk aus Mar­ seille, meiner letzten akademischen Station in Frankreich, zierte die Insti­ tution, für die ich von nun an verantwortlich sein sollte. Das filigrane Ei­ sen-Konstrukt der Schwebebrücke, das nur kurz überlebt hat - 1905 er­ baut, 1944 zerstört - hatte damals zahlreiche Fotografen in den Bann ge­ zogen: genannt seien Germaine Krull oder Laszlo Moholy-Nagy, der dort 1929 seinen ersten Stummfilm realisierte. Moholy-Nagys Filmsequenzen sind dem alten Marseiller Hafen gewidmet. Sie zeigen im rhythmischen Wechsel große Boulevards und dunkle Gassen, was die Kontraste zwi­ schen der luftigen Eleganz der Architektur und dem marginalisierten Elend der Hafenbewohner nicht nur mit Lichteffekten unterstreicht. Der Pont Transbordeur, ein mythisches Gebilde, das Ingenieure und Archi­ tekturtheoretiker wie Sigfried Giedion oder Siegfried Kracauer in seinen Bann zog, stellte für die Avantgarde der 1920er Jahre eine emphatische Prophezeiung dar. Von nun an schien es möglich zu sein, Technik und Erkenntnis, Leben und Kunst, Wasser und Erde miteinander zu versöh­ nen. Wozu diese alten, flüchtigen Geschichten? Zum einen ist da ein per­ sönlicher Transit, zum anderen eine Universität an der Grenze. Nach der Wende erhielt die neu gegründete Viadrina an der Oder einen Brücken­ auftrag zu Osteuropa. Mittlerweile liegt die Grenzstadt Frankfurt/Oder in der Mitte Europas. Im Konzeptpapier der Kollegtagung war von Übergängen in einem aktiven Sinne die Rede, von Vollzügen und Bruchstellen, die eine lebens­ geschichtliche Einholung verlangen, sofern sie keine Abbrüche darstellen. Übergänge, so die These, treten erst nachträglich hervor, in oder als Post­ Histoire. Was für Konsequenzen aber zeitigt diese historische Nachträg­ lichkeit in den Kulturwissenschaften? Übergänge, Über-Setzungen bzw. Wechselwirkungen, vor allem jene zwischen Philosophie und Literatur, al­ so solche, die für das Kolleg zentral waren, sind vielleicht imstande, inno­ vative Energien zu erzeugen. Genau dieses Potential hat der vorliegende Band als Herausforderung verstanden. Zwischen Anfang und Ende, in der Mitte einer Handlung, im Wechsel vom einem zum anderen, im Gewand eines Schwellenhüters oder Grenzgängers - all diese übergängigen Mo­ mente weisen auf eine fundamentale Spannung, die der trennend­ verbindenden Dialektik von Lebensformen und Lebenswissen zugrunde liegt.

8

Sage Anderson Sebastian Edinger Jakob Christoph Heller Emanuel John

Einleitung: Das Problem des Übergangs

I. Das Problem des Übergangs stellt sich als ein universales dar, weil Über­ gänge überall dort stattfinden, wo es Bewegung oder Prozesse gibt. Auf­ grund ihrer Universalität sind Übergänge gleichermaßen praktische Phä­ nomene der Philosophie und der Literatur, welche sich der jeweiligen wis­ senschaftlichen Reflexion als theoretisches Desiderat aufdrängen. Übergänge zeichnen sich aber auch dadurch aus, dass sie in unser aller Le­ ben stattfinden, ohne - jedenfalls zumeist - als solche stattzufinden. Wenn wir von Übergängen sprechen, bedienen wir uns daher einer Refle­ xions- und Deutungskategorie, in der wir Phasen oder Episoden, die wir identifizieren, entweder nachträglich oder während wir uns in einem Übergangsstadium befinden, zu einem Davor und einem Danach in Be­ ziehung setzen. Unser Leben vollzieht sich in Übergängen und in Über­ gängen vollziehen wir unser Leben. Aber von Übergängen sprechen wir, wenn wir unser Leben deuten und Episoden, Phasen und Ereignisse als Einheiten aufeinander beziehen. Sie sind also keine Ereignisse, sondern durch Ereignisse vermittelte Deutungen derselben; die Deutung von Übergängen setzt daher voraus, dass Ereignisse in der Reflexion zumin­ dest fragile Einheiten bilden, auf die man sich als solche sinnvoll beziehen kann, zumindest aber keine bloßen Singularitäten sind, denen gegenüber eine jegliche Begriffsarbeit zu versagen verurteilt ist. Der Begriff des Er­ eignisses darf hier nicht allzu kleinkörnig aufgefasst werden; wo im an­ spruchsvollen Sinn von einem Ereignis gesprochen wird, etwa dem Ereig­ nis der Wiedervereinigung oder der Französischen Revolution, ist bereits eine Einheit von Ereignissen begriffsbildend impliziert, die dem Ereignis, auf welches Bezug genommen wird, überhaupt erst seine Identität ver­ leiht. Übergänge setzen eine solche Identität voraus, die es überhaupt erst ermöglicht zu sagen, dass etwas sich in einem Übergang befinde oder ei­ nem Übergang vollzogen habe, erzeugen aber innerhalb dieser minimalen Identität mindestens eine minimale Differenz: Denn auch, wo der Über­ gang, etwa als bejahter, gestalteter in ein neues Lebensstadium oder eine

9

andere Lebensform interpretiert wird, lässt Differenz sich in der doppel­ ten Gestalt der Nicht-Identität mit sich selbst und des - diese akzentuie­ renden - Über-sich-hinaus-Seins im Übergang nicht eliminieren. Über­ gänge konstituieren insofern allgemein auch Kontinuität (bzw. Identität) und Diskontinuität (bzw. Gebrochenheit) gleichermaßen. Wo in Über­ gängen gedacht wird und wo Übergänge vollzogen werden, verschwindet die Alternative von Identität und Differenz als disjunktive; identitäts- und differenztheoretische Paradigmen müssen gleichermaßen reduktiv verfah­ ren mit dem Problem des Übergangs, um die Suprematie eines Aspekts zu sichern. In der Philosophie wie in der Literaturwissenschaft stellt sich die Frage von Übergängen zwischen Epochen und damit die nach deren Iden­ tität und Grenzen gleichermaßen. In den letzten Jahrzehnten war in bei­ den Disziplinen für Diskussionen dieser Art die Frage nach dem Verhält­ nis von Moderne und Postmoderne bestimmend. Diese wird selbst wiede­ rum im Rekurs auf verschiedene Übergänge beantwortet, z.B. in der gattungstypologischen Bestimmung der Postmoderne und ihrer paradig­ matischen Fokussierung auf metafiktionale Erzählweisen. Setzt man so an, stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang dieses Übergangs, der aufgrund der metafiktionalen Romane der Frühen Neuzeit und der Roman­ tik kein Übergang zu einem schlechthin Neuen darstellt,1 und anderen Übergängen, seien diesen nun beispielsweise geschichtsphilosophischer Art (Ende der großen Erzählungen) oder soziologischer Art (Übergang vom Fordismus zum Postfordismus).12 Zur Unübersichtlichkeit der D is­ kussion tragen nicht wenig zwei Fragen bei: Zum einen, ob die Postmo­ derne überhaupt als Epoche anzusehen sei und ob nicht vielmehr die Übergänge und Hervorbringungen, die oft als postmodern bezeichnet werden, letztlich eine interne Differenzierung der Moderne darstellen. Und zum anderen, ob nicht die Postmoderne selbst als Herausforderung an Klassifikationssysteme gelesen werden kann, die die Setzung von Übergängen gleichsam problematisiert.3 Dem in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts stattfindenden Übergang von der Regelpoetik zum Sturm und Drang etwa entspricht auf der Ebene der literarischen Verfahrungsweisen der Übergang zum Brief­ roman, den Goethe 1774 in wirkmächtiger Form mit Die Leiden des jun­

1 2

3

10

Vgl. Linda Hutcheon: Narcissistic Narrative. The Metafictional Paradox. Ontario 1980. Zur Diskussion vgl. Fredric Jameson: Postmodernism, Or the Cultural Logic of Late Capitalism. Durham, N C 1991; Utz Riese; Karl Heinz Magister: Postmoderne/postmodern. In: Ästhetische Grundbegriffe. Bd. 5. Hg. von Karlheinz Barck. Stuttgart; Weimar 2003, S. 1-39; Peter Zima: Moderne/Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur. 4., korrigierte Auflage. Tübingen 2016. Vgl. Linda Hutcheon: A Poetics of Postmodernism. New York; London 1988, S. 75.

gen Werther vollzieht. Damit wird in Deutschland der Brief als eigenstän­ dige literarische Form etabliert, welche Subjektivität in einer neuartigen Weise zur Darstellung bringt und in gewisser Weise die Geburt der ihrer selbst reflexiv inne werdenden Subjektivität sowie die Grundvorausset­ zung des Geniegedankens darstellt, die in der deutschen Romantik ihre konzeptionelle Vertiefung erfahren.4 Zugleich kann, auf einer anderen Ebene, die Nobilitierung subjektiver Reflexivität zum literarischen Ge­ genstand als der Ort bestimmt werden, an dem individuelle Übergangser­ fahrungen selbst zum Sujet literarischer Texte werden.5 Hier greifen ver­ schiedene Übergänge ineinander: ein Übergang auf der Ebene von literari­ schen Gattungen und der geschichtsphilosophisch sowie schlicht ideengeschichtlich gewichtige Übergang zur Fokussierung des Individu­ ums und seiner substanziellen Innerlichkeit. Die ,Erfindung‘ der Subjekti­ vität und Innerlichkeit, wenn man von einer solchen reden darf, ermög­ licht wiederum mit den Konversionserzählungen des 19. Jahrhunderts ein literarisches Genre, dessen Wurzeln sich in der römischen Antike bereits bei Marc Aurel und Augustinus ausmachen lassen. Die Übergänge qua Konversionen, wie sie in Joris-Karl Huysmans Roman A rebours (1884) oder Clemens Brentanos Roman Godwi (1801) die innere Teleologie von Werken bestimmen, sind daher im Zusammenhang mit anderen, sowohl historischen als auch poetologischen Übergängen überhaupt erst zu be­ stimmen, um mehr als nur das Gleiche zu einem anderen Zeitpunkt zu sein. Nicht zuletzt wäre hier hinzuweisen auf die Übergänge von Textgat­ tungen innerhalb der Literatur, z.B. die Integration des Essays in den Roman, wie man sie bei Rousseau und in der sogenannten klassischen Moderne, so bei Hermann Broch und Robert Musil, findet. Solche Bei­ spiele zeigen auch, dass die klare Zuordnung einiger Texte zur Literatur oder zur Philosophie sich mitunter nur auf der Grundlage durchaus bor­ nierter Territorialansprüche gewinnen lassen. Wo vom Verhältnis von Epochen und Strömungen die Rede ist, müs­ sen die Zusammenhänge in der Analyse des Verhältnisses von Werken sich kristallisieren - und vice versa.6 Auf die Zurückführung periodischer Übergänge auf die Übergänge von Werk zu Werk kommt Adorno in der Ästhetischen Theorie zu sprechen: „Nur desultorisch kann von einem

4 5 6

Vgl. Karl Heinz Bohrer: Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Sub­ jektivität. München 1987. Vgl. Rüdiger Görner: Grenzen, Schwellen, Übergänge. Zur Poetik des Transitori­ schen. Göttingen 2001, S. 10-12. Vgl. Jurij Tynjanov: Über die literarische Evolution. In: Texte zur allgemeinen Li­ teraturtheorie und zur Theorie der Prosa. Texte der russischen Formalisten. Bd. 1. Hg. von Jurij Striedter. München 1969, S. 432-461.

11

Übergang von Werk zu Werk die Rede sein.“7 Damit redet Adorno kei­ nem bloßen Nebeneinander von Werken gleicher oder verschiedener Pe­ rioden das Wort, sondern er legt eine andere analytische Orientierung na­ he, nämlich die an der Einheit von Problemen: „Die diskontinuierliche Struktur ist aber so wenig kausal notwendig wie zufällig und disparat. Wird nicht von einem Werk zum anderen übergegangen, so steht doch ih­ re Struktur unter der Einheit des Problems.“8 Nicht die Werke selbst können Übergänge bilden, sondern in ihnen können Übergänge stattha­ ben vermöge dessen, was Adorno „die immanente Logik, das Gesetzhafte am Kunstwerk“ nennt. Die immanente Logik wird durch etwas bestimmt, was sowohl im Werk als kompositorisches Gesetz - die Logik des Materi­ als - wirksam ist als auch durch Faktoren bestimmt ist, die als dem An­ schein nach externen Faktoren das Werk selbst durchwalten. Diese dem Anschein nach „externen Faktoren“ bilden den gleichwohl werkimmanen­ ten Kern der Transzendenz, welche die Kunstwerke Adorno zufolge selbst produzieren; als den Ort dieser Transzendenz in den Kunstwerken bestimmt Adorno den „Zusammenhang ihrer Momente“. Ästhetische Übergänge werden somit von einander widerstreitenden Bewegungsgeset­ zen bestimmt: „Als Antithese zur bestehenden Gesellschaft erschöpft sie [die Kunst] sich nicht in deren Bewegungsgesetzen, sondern hat ein eige­ nes, diesen konträres“.9 Solche Bewegungsgesetze bestimmen nicht nur Übergänge realiter, sie bilden auch den Kern der Logizität von Übergän­ gen. Übergänge sind nicht als Übergänge in Werken vorhanden und bloß abzulesen, sondern sie müssen als solche anhand des Materials expliziert werden, und diese Explikation muss besonders bei Periodisierungsfragen eine werkimmanente Logik auf einen das Werk übersteigenden Problem­ horizont beziehen, der selbst wiederum einer irreduziblen Logik folgt. Die verschiedenen Diskussionen in Ästhetik und Philosophie von Übergängen sind nicht ohne Verweis auf Hegels Philosophie zu verste­ hen. In der Wissenschaft der Logik bestimmt Hegel den Übergang zwi­ schen sich scheinbar widersprechenden Momenten des Denkens, um de­ ren Einheit zu begreifen. Er sagt in der ,kleinen Logik‘, im ersten Teil der Enzyklopädie der Philosophischen Wissenschaften: „Das dialektische Mo­ ment ist das eigene Sichaufheben solcher endlicher Bestimmungen und ihr Übergehen in ihre entgegengesetzten.“10 Der Übergang wird hier als logi­ scher Fortgang des Denkens verstanden, in dessen Verlauf es seine eige­

7

Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 7. Frankfurt a.M. 2003, S. 311. 8 Ebd., S. 31lf. 9 Ebd., S. 291. 10 G.W.F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse 1830. Erster Teil. Die Wissenschaft der Logik, Mit mündlichen Zusätzen. Werke 8. Frankfurt a.M. 1986, § 81.

12

nen Bedingungen einzuholen versucht. Der Widerspruch zwischen Frei­ heit und Natur, wie ihn Kant in den Antinomien darstellt, soll aufgelöst werden, indem das Denken zu einer Ebene übergeht, auf der es die Ein­ heit beider Momente fassen kann. Diese Ebene wird in Hegels Philoso­ phie des Geistes etwa im „Übergang der Moralität in Sittlichkeit“11 darge­ stellt, wo das in der Moralität bloß abstrakt gefasste Gute als das „leben­ dige Gute“112 gefasst und in verschiedenen sozialen Praktiken dargestellt wird. In der Auseinandersetzung mit dem Hegelschen Begriff des Über­ gangs stellt sich immer wieder die Frage, wie der darin enthaltene An­ spruch sich mit einem philosophischen Perspektivwechsel verändert. Als ein Beispiel kann hier der philosophische Übergang von Hegel zu Marx angeführt werden. Da philosophiegeschichtlich die Bezugnahmen in der Regel expliziter vonstattengehen als in der Literaturgeschichte, lassen sol­ che ,Problemkonstellationen‘ sich häufig als Brüche und/oder Übergänge verstehen (in besonders interessanten Fällen nämlich als beides in ver­ schiedener Weise). In angemessener Weise wird dieses Problem darge­ stellt, indem die Eigennamen ,Hegel‘ und ,Marx‘ als Chiffren für Philoso­ phien begriffen werden - weitestgehend bereinigt von den personalistischen Resten, die in der Rede vom Verhältnis Hegels zu Marx unweigerlich noch mitschwingen, auch wo das Verhältnis als Sachliches intendiert ist. Am Problem des Übergangs von Hegel zu Marx stellt sich die Frage nach dem Ort, an dem der Übergang gedacht wird. Während man ihn nach einer bestimmten Weise Hegel zu lesen als logisches Prob­ lem begreifen kann, lässt er sich nach Marx als politisches Problem begrei­ fen, das seinen Ort im realgeschichtlichen Geschehen hat, welches sich z.B. an Hegels Pöbel13 festmachen ließe. In einem weiteren Sinne taucht dieses Problem wieder in Deutungen des Hegelschen Begriffs des Geistes als ein Begriff des Lebens auf. Zum einen ist der Geist als konstitutive Einheit eines Lebensprozesses zu denken, andererseits zeigt sich aber im praktischen Vollzug die Differenz des Geistes zur zweiten Natur gewor­ denen sozialen und historischen Realität.14 Dieser Anspruch der Hegelschen Philosophie, durch die Denkbewe­ gung des Übergangs der Einheit von Widersprüchen eine Bestimmung zu geben, wird kontrovers hinterfragt. Unter dem Titel ,nachmetaphysisches Denken‘ wird etwa der Versuch unternommen die Hegelsche Konzeption

11 Ders.: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissen­ schaft im Grundrisse. Frankfurt a.M. 1986, § 141. 12 Ebd., § 142. 13 Vgl. Frank Ruda: Hegels Pöbel. Eine Untersuchung der ,Grundlinien der Philoso­ phie des Rechts‘. Konstanz 2011. 14 Vgl. Thomas Khurana (Hg.): The Freedom of Life. Hegelian Perspectives. Freiheit und Gesetz III. Berlin 2013.

13

der Sittlichkeit im Rahmen einer Rechts- und Sozialphilosophie weiterzu­ entwickeln, ohne dabei von der metaphysischen Frage nach der Einheit von Freiheit und Natur auszugehen. Für Habermas ergibt die Frage nach dem absoluten Geist folglich nicht mehr als Frage nach deren Einheit Sinn, sondern lediglich als Frage danach, „ob die Subjekte im Rahmen ei­ ner sich selbst begründenden Kultur nicht strukturell überfordert sind.“15 In der Sozialphilosophie wird in diesem Sinne dann auch von Lern- und Entwicklungsprozessen geredet, in denen eine Verortung des Übergangs im realgeschichtlichen Geschehen, ohne geschichtsphilosophische Grund­ legung, vollzogen werden soll.16 Übergänge sind aber nie allein als sozial- oder geschichtsphilosophi­ sche Probleme zu verstehen, sondern ihre Formulierung wird häufig, wie in der Ausformulierung des Hegelschen Begriffs des Geistes vom Begriff des Lebens her angedeutet, erst mit Bezug auf naturphilosophische Prob­ leme verständlich.17 Eine solche begriffliche Durchdringung von Über­ gängen sieht sich fortwährend der Frage ausgesetzt, ob und inwiefern be­ stimmte Veränderungen, z.B. die Entwicklung von Lebewesen, Bewegungs­ gesetzen folgen, aufgrund welcher Übergänge zwischen Lebensformen im Sinne der Unterscheidung zwischen Pflanze, Tier und Mensch oder nur in­ nerhalb von Lebensformen stattfinden. Diese Frage ist z.B. zentral bei Edith Stein. In einer Sichtweise, die alles Sein als von Gott eingesetztes versteht, wird der Unterschied zwischen Lebensformen wie Pflanze, Tier, Mensch und Engel (so bei Thomas von Aquin) als göttlich inauguriert und nicht als Resultat von Übergängen, sondern als hierarchische Diffe­ renz von Wesensformen verstanden. In Engels’ Dialektik der Natur hin­ gegen überlagern sich zwei Übergangsstrukturen: Die Übergänge zwi­ schen Lebensformen bilden dann zugleich Übergänge von Ideen, die sich in der Natur als Realität verkörpern und welche die Natur selbst verkör­ pert. Aufgrund der transitiven Struktur lässt sich die Naturphilosophie dann als eine Logik der Sache, welche die Natur in ihrer gesetzlich be­ stimmten ideellen Struktur meint, begreifen. Wo eine Naturphilosophie, wie im Falle der Philosophischen Anth­ ropologie Plessners, die zentralen Unterscheidungen zwischen Pflanze, Tier und Mensch als eine Serie typologischer Differenzen statt als Über­ gänge konzipiert, verlagert sich das Problem des Übergangs auf andere Ebenen. So fasst Plessner den grundlegenden Unterschied zwischen Le­

15 Jürgen Habermas: Wahrheit und Rechtfertigung. Frankfurt a.M. 2004, S. 224. 16 Vgl . exemplarisch: Axel Honneth: Das Recht der Freiheit. Grundriss einer demo­ kratischen Sittlichkeit. Berlin 2011; Rahel Jaeggi: Kritik von Lebensformen. Berlin 2014. 17 Vgl. hierzu in sowohl historischer als auch systematischer Hinsicht: Johannes Haag und Markus Wild (Hg.): Übergänge —diskursiv oder intuitiv? Essays zu Eckart Försters ,Die 25 Jahre der Philosophie4. Frankfurt a.M. 2013.

14

bendigem und Nichtlebendigem am Phänomen und im Begriff der Grenze auf, die an Nicht-Lebendigem als bloße Raumgrenze in Erscheinung tritt, an Lebendigem hingegen darüber hinaus als von ihm realisierte Grenze er­ scheint. Diese Realisierung der Grenze unterscheidet Plessner von der geo­ metrischen Begrenzung und nennt sie auch vom Körper vollzogenen ,Grenzübergang‘: „Die Grenze gehört reell dem Körper an, der damit nicht nur als begrenzter an seinen Konturen den Übergang zu dem ansto­ ßenden Medium gewährleistet, sondern in seiner Begrenzung vollzieht und dieser Übergang selbst ist.“18 Dem hiatus zwischen Leben und Theo­ rie zum Trotz, und zugleich gerade aufgrund desselben, gibt das Leben der Theorie das Denken des Übergangs als konstitutiven Übergang im Leben selbst zu denken auf.

II. Der Name dieses Bandes verdankt sich nicht nur einem praktischen Prob­ lem der Philosophie und Literaturwissenschaft, das als solches logischer­ weise zugleich ein theoretisches Problem ist, wie es im in literaturwissen­ schaftlicher und philosophischer Herangehensweise über mehrere Genera­ tionen von DoktorandInnen im DFG-Graduiertenkolleg Lebensfor­ men + Lebenswissen erforscht wurde. Sondern es betrifft die subjektiv nicht ganz unwichtige Frage der zukünftigen Gestaltung und Gestaltbarkeit der Lebensform der Stipendiatinnen und Stipendiaten dieses Gradu­ iertenkollegs, die bei aller etwaigen Verschiedenheit im einzelnen eine stark wissenschaftlich bestimmte ist. Im Übergang befinden wir uns als scientific community im Miniaturformat, aber über das Problem des Über­ gangs wollen wir hier glücklicherweise ausschließlich als Angehörige einer solchen community, d.h. in wissenschaftlicher Weise, nachdenken. Der bereits angedeuteten interdisziplinären Zusammensetzung des Graduiertenkollegs gemäß war es unser Ziel, ein Thema - genauer gesagt: ein Problem - zu finden, das in Philosophie und Literaturwissenschaft sich gleichermaßen aufdrängt, auch wenn dies oft gar nicht wahrgenom­ men wird. In ihrer Gesamtheit lassen die Beiträge dieses Bandes diesen Zusammenhang verständlich werden. Aus methodischen und themati­ schen Gesichtspunkten wurden die Aufsätze in drei Abschnitte unterteilt. Der erste Teil dieses Sammelbandes umfasst Beiträge, die sich mit dem philosophischen Problem des Übergangs auseinandersetzen, wobei der Hegelsche Begriff des Übergangs sowie seine zeitgenössischen Ab­ grenzungen und Fortführungen das verbindende Motiv bilden. Den Be­

18 Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Berlin; New York 1975, S. 103.

15

ginn markiert ein Beitrag von Gerhard Gamm, der in seinem Aufsatz Der Anlass - die eigentliche Kategorie des Übergangs denselben nicht gemäß ei­ ner bestimmten Hegelschen Tradition als lineare entwicklungslogische Kategorie liest. Stattdessen entfaltet er den Begriff in Anschluss an Kier­ kegaard als Logik des Anlasses. Damit eröffnet Gamm ein Spektrum von Anschlussmöglichkeiten, die es erlauben, die Kategorie des Übergangs als eine Kategorie der Existenz und des praktischen Lebens zu begreifen, die sich einer Logifizierung ebenso widersetzt wie einer Ableitung von Über­ gängen aus Antezedenszusammenhängen. Vielmehr legt Gamm den An­ lass als eigentliche Kategorie des Übergangs frei, indem er dessen initiali­ sierende Kraft im Zusammenhang mit seinem fetischistischen Charakter aufzeigt. Was Gamm damit leistet, ist die Exposition einer prä-logischen Logik des Übergangs als Anlass. Das Verhältnis zwischen den paradigmatischen Wenden (von der Ontologie zum Mentalismus und dann zur Sprache bzw. Sprachpragmatik), die Habermas diagnostiziert, und den historischen Übergängen (zur Moderne wie auch innerhalb der Moderne) befragt Sebastian Edinger in seinem Text Theoretische Wende und historischer Übergang. Zur Transfor­ mation der Kritischen Theorie bei Jürgen Habermas. Dem Autor geht es dabei darum, zu zeigen, dass Habermas Historisches und Systematisches parallellaufen lässt, wodurch beide sich gegeneinander verselbständigen und letztlich erratische Blöcke bilden, die sich nicht sinnvoll vermitteln lassen, was wiederum dazu führt, dass Habermas als Zeitdiagnostiker sich mehr von der sprachpragmatischen Systematik als von der Zeit, die es di­ agnostisch zu durchdringen gilt, bestimmen lässt. Der Aufsatz Notizen zu einer Metaphysik der Differenz von Thomas Ebke nimmt sich den Übergang von Hegels Begriffslogik zur Realphilo­ sophie vor. Die Frage nach dem Zusammenhang von der Logik immanen­ ten Formbestimmung und zeitlicher Existenz wird entgegen der Tradition der Hegelexegese als Metaphysik der Differenz gedeutet. Damit wird die Differenz der zeitlichen Existenz zu deren immanent begrifflichen Be­ stimmungen gedacht. Diese Deutung wird aus Bezügen auf Jean Hyppolite und Friedrich Heinrich Jacobi gewonnen, die den Hegelschen Übergang vom Logischen zur Existenz auch immer als Übergang von der Existenz ins Logische denken. Der Beitrag Frank Rudas, Hegels Mutter: Vom Übergang in den Geist, thematisiert Hegels Anthropologie als Teil von dessen Philosophie des Geistes. Entgegen einer philosophischen Anthropologie, die einen stati­ schen Begriff von der Natur des Menschen begreift, wird das natürliche im menschlichen Lebens innerhalb des geschichtlichen Werdens des Geis­ tes als Gewohnheit oder zweite Natur begriffen. In diesem Rahmen wird der Rede von der Natur des Geistes jedoch nicht ein neues Fundament oder Prinzip gegeben, indem der Geist als kontinuierlicher Bildungs- und

16

Vererbungsprozess der zweiten Natur erfasst wird. Vielmehr wird darin die Problematik des Verhältnisses von Geist und Natur erfasst. Die Ge­ wohnheit, die zur Natur wird, stellt vielmehr den verfehlten Geist dar, in­ sofern er sich darin nicht erschöpfend begreifen lässt. Die Gewohnheit als geschichtliche gewordene und veränderbare Natur ist somit als der Ort zu begreifen, an dem der Geist, entgegen seiner Naturalisierung, immerzu wiedergewonnen wird. In seinem Führt die Moral unumgänglich zur Religion? Antworten mit Kant und Hegel betitelten Text verkehrt Emanuel John die These Kants aus der Einleitung seiner Religionsschrift, wonach die Moral unumgäng­ lich zur Religion führe, in eine Frage. In Anbetracht von Hegels Über­ gang der Moral in Sittlichkeit scheint Kants These nicht die Antwort auf diese Frage zu liefern. Im Begriff der Sittlichkeit findet sich zunächst eine Antwort auf die Frage, die Motive von Kants These entkräften. Doch bei genauerer Betrachtung der Sittlichkeit als Organisation ethischen Lebens zeigt sich der Punkt, an dem die Frage nach der Religion wieder auftau­ chen kann. Doch taucht sie hier nicht, wie bei Kant in der Reflexion auf die Möglichkeit praktischer Vernunft auf, sondern aus der praktischen Frage, wie Widersprüche im Sittlichen verstanden und überwunden wer­ den können. Der zweite Teil dieses Bandes versammelt Beiträge, die den Über­ gang primär als lebensweltliches Phänomen - oder lebensweltliches metaphorologisches Reservoir - fassen und so zu einer Reflexion auf den Be­ griff des Übergangs im Kontext von Lebensformen ansetzen. Den metaphorologischen Auftakt bildet Andrea Allerkamps Beitrag Im Fluss: Blumenbergs Quellen. Sie arbeitet die Bedeutung der titelgebenden Quel­ lenmetaphorik für ein Denken des Übergangs aus. Ihr Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass Übergänge nicht das Denken von Grenzen aushe­ beln, sondern es dialektisch überhaupt erst erlauben, Grenzen zu ziehen. Blumenbergs begriffsgeschichtliche Analysen zu Quellenmetaphern er­ möglichen es, diese Antinomie deutlicher herauszuarbeiten. Ihnen ist die Ambivalenz zwischen der „formlosen Struktur des Fließens“ und der ur­ sprünglichen „Reinheit der Quelle“ eigen - zwischen der Unmöglichkeit, Übergänge zu bestimmen und der Notwendigkeit, von (ursprünglich) distinkten Entitäten zu sprechen. In Überleben, überwinden, übergehen. Trauer als Medium des Über­ gangs setzt sich Inga Anderson mit Transformationen jenseits des Todes auseinander. Anhand von Texten von van Gennep, Freud und Derrida geht es um unterschiedliche kulturelle Einstellungen zum Nachleben und Überleben, oder um die Frage, inwiefern Tod und Trauer als sich aufei­ nander beziehende Übergänge konzipiert worden sind. Mit ihrer Diskus­ sion der Totenportraits von Elizabeth Heyert bringt Anderson die Positi­ on des Gestorbenen ins Blickfeld, die zwischen den hier besprochenen

17

ethnologischen, psychoanalytischen und dekonstruktivistischen Theorien der Trauer stark variiert. Die Möglichkeit eines vollendeten Übergangs stellt sich in diesem Kontext als ethische Ambivalenz dar, die für eine neue Perspektive auf den Umgang mit Trauer um jemandes Verlustes wei­ tergedacht wird. Matthias Preuss und Sebastian Schönbeck widmen sich in ihrem Auf­ satz Abnorme Paarungen versuchen. Naturgeschichtliche Betisen in Flauberts Bouvard und Pécuchet den ,Dummheiten‘, die Flaubert in seinem letzten Roman in Szene setzt. In ihrer Analyse der abnormen Paarungen des Romans wird die produktive Dimension der Kreuzung verschiedener Diskursfelder und Wissensformen in den Mittelpunkt gerückt: Wenn, mit Derrida gesprochen, jeder Definitionsversuch als begriffliche Gewalt zu verstehen ist, stellen die monströsen - und wie der Roman unabschließba­ ren - Verfahren der beiden Romanhelden eine Möglichkeit dar, Übergän­ ge zwischen Entitäten offenzuhalten und auf normative Gattungsbegriffe zu verzichten. In ihrem Beitrag arbeiten Preuss und Schönbeck die nicht nur poetologischen und naturhistorischen, sondern politisch-ethischen Dimensionen eines solchen Entwurfs aus. Der Beitrag Ungesicherte Übergänge. Kürze und Krankheit bei Hippokrates, La Rochefoucauld und Nietzsche von Sage Anderson stellt jene kon­ ventionelle Sichtweise in Frage, die Übergänge mit eindeutiger bzw. zu­ sammenhängender Entwicklung und Fortschritt assoziiert. Ihre Untersu­ chung konzentriert sich auf die Darstellung von Veränderungen der Gesundheit zur Krankheit (und umgekehrt) in verschiedenen literarischen Kurzformen. Diese Formen ermöglichen es, so die These, durch formelle Diskontinuität und Thematisierung der Unberechenbarkeit von Erfah­ rung Ordnungserwartungen zu unterbrechen. Indem man kein Weiter­ kommen als gegeben annimmt, ergibt sich die Gelegenheit, Übergänge sowohl auf der Ebene der rhetorischen Zusammenstellung als auch auf der Ebene des dargestellten Lebens anders zu konzipieren - wohl oder übel. Der abschließende Teil des Sammelbandes umfasst Aufsätze, die sich mit der Ästhetik des Übergangs und dem Übergang als ästhetisches Prin­ zip auseinandersetzen. Den gleichsam bandinternen Übergang zwischen einer lebensweltlichen und einer stärker ästhetischen Fokussierung des Phänomens führt dabei Alexandra Heimes in ihrem Aufsatz Dramen der Verkennung: Untergänge am Beispiel von Goethes Roman Die Wahlver­ wandtschaften vor. Dabei legt sie eine den Untergängen zugrunde liegende intrikate Struktur frei, in welcher sich die Ontologie der Wirklichkeit und die teils beschränkte, teils bornierte Erkenntnis der empirischen Subjekte in einer unheilvollen Weise gegenseitig durchdringen. Heimes legt dabei die fatale Dynamik der doppelten Inkonsistenz des Wissens der Akteure und der Wirklichkeit selbst offen, deren verborgene Schicksalsmacht die transitive Logik von Untergängen invisibilisiert und ihnen ihre dämoni­

18

sche Zweideutigkeit, Schicksal und Tat zugleich und doch nicht schlicht beides zu sein, verleiht. Jacques Lezras Aufsatz ,Die Unübersetzbarkeit, die nicht eine ist‘ ver­ bindet zwei Felder miteinander, die auf den ersten Blick nur wenig Ge­ meinsamkeit haben: politische Ökonomie und Übersetzungstheorie. Ausgangspunkt ist die Simultaneität, die die klassische politische Ö ko­ nomie zwischen Produktion und Konsumtion konstruiert. Lezra liest die­ ses „mythologische Axiom der Identität“ als eine Aussage über Überset­ zungen. Diese Negation von Übergängen freilich ermöglicht die Äquiva­ lenzen und Konvertierbarkeiten des transnationalen Imports und Exports - von Gütern aller Arten, seien diese materiell, kulturell oder idiomatisch. Lezra dekonstruiert im Rückgriff auf Derridas Überlegungen zur Über­ setzbarkeit diese Identität und fokussiert auf eine (genauer: mehrere) Unübersetzbarkeiten: Reste, die ihm - nicht nur im akademischen D is­ kurs - zum Einsatz- und Bruchpunkt für die Kritik eines auf Äquivalenz, Austausch und Abstraktion basierenden Marktsystems werden. Mit Bildstörungen - Zur ästhetischen Produktion von Lebenswissen an Übergängen zeigt Ronja Bodola, wo und wie sich die Epistemologie der Lebenswissenschaften um 1900 durch Reflexionen der Rolle der Medialisierung bzw. der Wahrnehmung des Lebens entwickelt. Bodola greift auf das ästhetische Konzept des „verstandenen Lebensbilds“ (Vischer) zu­ rück, um zwei Beispiele an der Schnittstelle von Natur- und Geisteswis­ senschaften miteinander ins Gespräch zu bringen: Dem „bildnerischen Denken“ von Charles S. Pierce und dem Skeptizismus von H.G. Wells liegen eine Offenheit zugrunde, die das Verstehen des Lebens von seiner klassifikatorischen Erklärung entkoppelt und stattdessen mit einem diagrammatischen Denken verknüpft. Anhand dieser Beispiele wird verdeut­ licht, wie die „Unterbrechung und Weiterverarbeitung“ von Bildstörun­ gen Übergangsphänomene des Lebenswissens hervortreten lassen. In seinem Beitrag Eine vollkommene schöne Kette‘? Übergänge und Spannungen in Johann Georg Sulzers Naturbegriff untersucht Jakob Chris­ toph Heller einen konkreten Fall des Übergangs, wie er sich an der Wi­ dersprüchlichkeit von Johann Georg Sulzers Naturbegriff zeigt. ,Natur‘ spielt in Sulzers Ästhetik eine zentrale Rolle für die Produktion von Kunstwerken: Ihre Verfahren haben dem Künstler als Vorbild zu dienen. Der Übergang zur Beschreibung dieses Verfahrens ist Sulzer, wie Heller herausarbeitet, nicht möglich: Eine regelhafte Fassung des natürlichen Verfahrens würde Sulzers Konzeption von Natur widersprechen. Zur Lö­ sung greift er auf eine - für das späte 18. Jahrhundert - antiquierte, der Regelpoetik eigene, Strategie zurück, die eine Verdoppelung des Naturbe­ griffs zur Folge hat. Aus epochengeschichtlicher Perspektive positioniert sich Sulzer so selbst an einem Übergang.

19

Der Aufsatz von Carmen Bartl-Schmechel mit dem Titel Der Über­ gang von der Physiologie zur Ästhetik bei Friedrich Schiller behandelt den Zusammenhang von Schillers medizinischen und ästhetischen Schriften. In den medizinischen Schriften Schillers zeigt sich eine Auffassung vom Menschen als sinnlichem und geistigem Wesen. In der Spannung zwi­ schen Sinnlichkeit und Geist wird die spezifische Fragilität des Menschen verständlich. In Schillers ästhetischen Schriften findet sich ein erweitertes Verständnis dieser Spannung und Fragilität. Die Ästhetik wird als Ver­ mittlung beider Seiten begriffen, indem daraus auf einen Begriff der Bil­ dung gefolgert wird, wodurch ein praktischer, ethischer Umgang mit Lei­ den möglich wird. Der Band ist Schlusspunkt einer immer wieder fordernden, vor allem aber produktiven Zusammenarbeit, wie sie das interdisziplinäre DFGGraduiertenkolleg Lebensformen + Lebenswissen ermöglichte - und wie sie wohl auch nur interdisziplinär angelegte Forschungszusammenhänge erlauben. Ohne die Unterstützung der D FG wäre dieser besondere Ort eines produktiven Austauschs über Fachgrenzen hinweg nicht realisierbar gewesen. Und ohne diese Unterstützung hätte auch dieser Band, ein Querschnitt durch die Arbeiten und Forschungsinteressen des Kollegs und befreundeter WissenschaftlerInnen, nicht realisiert werden können. Dafür möchten wir danken.

20

Gerhard Gamm

Der Anlass - die eigentliche Kategorie des Übergangs

Wenn Kierkegaard den „Anlass [...] die letzte Kategorie, die eigentliche Kategorie des Übergangs von der Sphäre der Idee zur Wirklichkeit“1 nennt, zeigt sich nicht nur, wie stark die intellektuelle Basis der antiken, mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Philosophie: dass das Denken von sich aus Realität beanspruchen könne, erschüttert ist. Seine Bemerkung wirft auch ein Licht auf die heraufziehende neue Gesellschaft und darauf, wie weit sie sich bereits aus den polit-ökonomischen Verfugungen und Verfügungen der alten gelöst hat. Der Riss, der durch die Gesellschaft geht, ist nicht ein einziger, er ist nicht aus dem Klassengegensatz von Ka­ pital und Arbeit ableitbar. Die Welt hat gleichsam einen Sprung, der sich in unzähligen kleineren und größeren, verbundenen und unverbundenen zu Bewusstsein bringt. Auch bilden nicht wie im „immanenten Denken“ (Kierkegaard) Ursache und Wirkung, Grund und Folge, Motivation und Handlung die Grundlinien eines neuen Selbst- und Weltverständnisses, sondern eine Kategorie, die durch ihre Kontingenz, Ambivalenz und (In-) Differenz das Kategorische jeder Kategorie rhizomartig unterläuft und sich zuletzt gegen jede in der Ordnung von Zweck- und Zielgerichtethei­ ten geregelte Kommunikation und Praxis richtet. Kierkegaard entwickelt seine Analyse des Anlasses als eigentliche, als letzte Kategorie des Übergangs auf wenigen Seiten, stets im kritischen Blick auf Hegel und die in seinem Denken verkörperte abendländische Tradition der ontologischen Metaphysik. Diese Auseinandersetzung steht hier nicht im Vordergrund, vielmehr werden bestimmte Grundlinien sei­ ner Interpretation herangezogen, um Anschluss an gegenwärtige Diskus­ sionen der Philosophie, insbesondere der Sozialphilosophie, zu gewin­ nen.12 War in der philosophischen Tradition die Kategorie als Einheit von Sein und Selbst die das Denken ermächtigende Form, so ist der Anlass das glatte Gegenteil. An dieser Denkform wird deutlich, wie und inwieweit ein postmetaphysisches Denken zum Nicht-Denken und d.h., zum (ge­

1

2

S0ren Kierkegaard: Entweder-Oder. Unter Mitw. von Niels Thulstrup und der Kopenhagener Kierkegaard-Gesellschaft. Hg. von Hermann Diem und Walter Rest. München 1975, S. 277. Vgl. Gerhard Gamm: Verlegene Vernunft. Eine Philosophie der sozialen Welt. Pa­ derborn 2017.

21

fährlichen) Sprung, zu den vielen kleinen Richtungs- und Blickwechseln, disponiert. Der Anlass depotenziert das Denken bis in seine letzten Winkel. Er rüttelt an den Grenzen des Denkbaren, ohne es einfach hinter sich las­ sen zu können. Er zieht das Machbare auf ein anderes Feld, ohne das Inte­ resse an ihm zu verlieren. Hinreichend aufgeklärt, sind wir uns ziemlich sicher, dass es keinen logischen Übergang von der Welt der Wörter zur Welt der realen Dinge gibt, auch keinen, der vom Satz zu den im Satz angesprochenen Dingen der Außenwelt führt. Oder, wie es bei H.M. Enzensberger heißt: Das Wort „Rettungsboot“ rettet keinen. Diese Kluft ist nur durch einen Sprung in ein gänzlich anderes Milieu zu überbrücken. Man kann den Riss logisch nicht überwinden, metaphysisch nicht heilen, ihn aber auch nicht praktisch, bar jeder Verantwortung, einfach übergehen. Und dennoch ist seine selbstverständliche Überwindung unser alltägliches kommunikatives Brot. Wir stecken in diesem Übergang fest, wir leben und denken in ihm, den wir fortwährend - meist unbedacht - machen. Wir sehen gerade noch, dass wir uns in ihm wie Fische im Wasser bewegen, d.h. in seinem Medi­ um produktiv leben und denken: ihn im Betrieb unseres Lebens auf unter­ schiedliche Weise tätigen (gebrauchen, reflektieren, autorisieren, legitimie­ ren, affirmieren usf.). Und wir kommen mit ihm - dem Übergang als Sprung - im Allgemeinen gut zurecht. Unser kommunikatives In-derWelt-Sein schreibt uns ein Denken in und mit Übergängen planmäßig vor. Der Umgang mit ihnen bereitet wenig Schwierigkeiten. Kleine und große soziale Systeme stabilisieren in und mit wiederholten Übergängen ihre Selbst- und Weltverhältnisse gleichermaßen. Aber sie missraten auch in überzufälliger Weise. Unbemerkte wie strategische Reparaturverfahren sind daher ständig am Werk, sie auszubessern. Der Anlass ist die Kategorie, die alle Kategorien in ihrer Staat, Ge­ sellschaft und Denken tragenden Funktion entmachtet, sie setzt das Den­ ken außer Kraft. Als letzte, eigentliche Kategorie löst sie das, „was es gibt“, aus der Obhut der machthabenden, das ist der wirklichkeitskonsti­ tutiven Denkbestimmungen. Sie haben ihre Zeit gehabt. Die letzte Kate­ gorie entlässt sie in einen neuen Raum, einen der ungleich zeitigen, un­ gleich sinnigen und ungleich sozialen Übergänge, in denen sie ihre Stelle erst noch definieren müssen. Mit Transformationsraum ist ihr An-Wesen nicht schlecht getroffen. In ihm müssen die tatsächliche Bedeutung und die imaginierte Geltung, der angezielte Gedanke und die sprachliche Arti­ kulation der vordem staatstragenden Kategorien neu ausgehandelt und eingestellt werden. Was „aus Anlass von“, „Veranlassen“ u.a. bedeutet, d.h., welche Kreise es zieht, zu welchen begrifflichen Generalüberholungen es mit Blick auf den „Anfang“ Anlass gibt, insbesondere dann, wenn man es als Ereignis und Schema, als Gelegen- und Verlegenheit - inklusive aller Winkelzüge, die aus

22

seiner Kontingenz und Ambivalenz resultieren - betrachtet und dabei auch die entfernte Nähe nicht verschweigt, die der „Anlass“ zum „Anstoß" bei Fichte und zum „Anschluss“ bei Luhmann hat -, all das kann hier nicht diskutiert werden, wohl aber ein Gedanke, dem Kierkegaard nachgeht.

I. N ichts, ohne das nichts geht Es scheint, als sei für Kierkegaard die unmögliche Querlage dieses Be­ griffs das Entscheidende, es mache seinen geradezu postmodernen Witz aus, dass er sich einem Denken in einfachen und regulären Oppositionen widersetzt: „Ohne Anlaß geschieht eigentlich gar nichts, und doch hat der Anlaß gar kein Teil an dem, was geschieht.“3 Von jeder der Sache geschul­ deten Notwendigkeit gelöst, markiert der Anlass nur die leere, kraftlose, zufällige, aber anspielungsreiche Stelle, an der etwas anfängt - ob aus hei­ terem Himmel oder aus ersichtlichem Grund, bleibt unerfindlich. In je­ dem Fall muss offenbleiben, ob und in welcher Stärke sich das, was Anlass ist, mit dem, was in Rede steht, verbindet. Kierkegaard bringt den Gedanken durch seine paradoxe Formgebung in Schwung, er avisiert das total Äußerliche „angelegentlich von“, um den begrifflichen Graben zwischen dem Anlass qua bedeutungslosem Nichts (zur Sache) und der Tatsache, dass ohne ihn rein gar nichts passiert, un­ überwindbar groß zu machen. Der Anlass ist nichts, ohne den nichts geht. Er gleicht aufs Haar der „Null“, wie sie von Paul de Man in Anlehnung an Blaise Pascal und die Logik von Port-Royal analysiert wird: radikal hete­ rogen gegenüber der Ordnung der Zahlen und zugleich entscheidend, wenn es überhaupt eine Ordnung der Zahlen geben soll.4 Das genau ist die Basis, der Gegenstand des Nachdenkens, „dass der Anlass im Allgemeinen etwas ist, das nichts ist“.5 Der Begriff verlangt diese Grabungstiefe und kann sich dabei ex negativo auch auf die alltägliche Erfahrung stützen, nach der die Menschen in der Regel vom Gegenteil fest überzeugt sind: ,Von nichts kommt nichts‘, ,etwas hat immer etwas anderes zur Voraus­ setzung/ Die Alltagsakteure sind ganz benommen von diesem zur Tatsa­ che verdichteten Schluss, wissen aber, dass, obwohl der Anlass bis dort hinaus null ist und zum Verständnis der Sache nichts beiträgt, ihm als pures „D ass“ (bloßes Da-Sein) und als Ausgangspunkt (Signal, Initial, Impuls usf.) retro- wie proaktiv jede Menge Bedeutung zuwachsen kann: die Nullnummer, die alles sein und zu allem und nichts berechtigen kann.

3 4 5

Ebd., S. 277. Vgl. Paul de Man: Pascals Allegorie der Überzeugung. In: Anselm Haverkamp (Hg.): Die paradoxe Metapher. Frankfurt a.M. 1998, S. 88. Ebd., S. 279.

23

Ausgangspunkt von Kierkegaards Überlegungen zum Anlass ist das, was man die beiden Stellungen des Künstlers zum Anlass nennen könnte: des Dichters, der erwartet, dass der Anlass ihn begeistert, seine Produkti­ vität antreibt und steigert, sowie des Schriftstellers, der darauf zählt oder hofft, dass der Anlass ihn ehrt und auszeichnet, da er, weil er ihn ergriffen hat, alles ihm, seinem Schöpfer, zu verdanken hat. Kierkegaard meint, Künstler der ersten Art „versehen“ sich im Anlass, die zweiten „überse­ hen" ihn; die einen deuten immerhin an, dass der Anlass nötig ist, die an­ deren wollen von ihm nichts wissen. Sie versuchen, sich von seiner Prä­ senz nichts anmerken lassen, sie spielen ihn herunter und sich selbst (her)auf, sie bringen sich ohne Rücksicht auf den Anlass selbst zur Spra­ che. Man könne etwas nur so, nur beiläufig, zum Anlass nehmen und doch zeige sich, dass das „vollendetste, tiefste und bedeutendste Werk“ einen Anlass hat.6 Was wiederum keinesfalls so verstanden werden dürfe, als sei der Anlass das Wichtige: die künstlerische Produktivität entfes­ selnde Kraft. Wäre dem so, dann hieße er Ursache oder Grund und wäre gerade kein Anlass. Eher gleicht er einem Parabolspiegel, einer gekrümm­ ten Fläche ohne Mitte. „Begeisterung“ und „Anlass“ gehören aber nach Kierkegaard un­ trennbar zusammen. Sie gehören zur künstlerischen Produktivität, aber nicht nur zu dieser, sondern zu allem, was gut und groß werden will. In der Begeisterung liegt das Ansteckende des Geistes, ohne seine Verwand­ lungskraft ist alles nichts - auch Geist und Begeisterung gehören zusam­ men. Kierkegaard will darauf hinaus, dass man unmöglich an der Tatsache vorbeigehen kann, „daß es gleichsam fremde Mächte sind, von dem der Mensch glaubt, es gehöre ihm selbst: die Begeisterung nämlich und der Anlass“. Nur ein „pelegianischer Selbstherrscher“7 sitzt diesem Irrtum auf, als gehörten die beiden ihm selbst. Wie angedeutet, steht der Anlass allem, auch und gerade den aber­ witzigen Besetzungen offen. Der Anlass ist der billige Jakob unter den Anfängen, denn Möglichkeiten anzudocken, gibt es viele, schlecht, schlicht unendlich viele. Beim „anlässlich von“ regiert das vielverspre­ chend Beliebige. Und doch muss jeder Einzelne, der dieses oder jenes zum Anlass nimmt: zum Anlass des Erzählens einer Geschichte, des Ergreifens einer Gelegenheit, des Auf- oder Abbaus einer Erwartung, des Machens einer frechen Bemerkung usf. dafür geradestehen, gerade auch im Blick auf die Willkür oder den Übermut, das Kalkül oder den Wunsch, mit dem er ihn herbeizitiert. Der Anlass fällt auf den Anlassnehmer zu­ rück, ob er will oder nicht, er muss wohl oder übel die Verantwortung für ihn übernehmen. Es bleibt offen, in welcher Form. Auch der nichtige oder

6 7

24

Ebd., S. 274ff. Ebd., S. 276.

schräge Anlass entdeckt dem Anlassnehmer, wer oder was er ist, wie er wird, was er sein will. Der Schalk sitzt dem Anlass sozusagen im Nacken. Seine federleichte Ironie veranlasst Kierkegaard, angesichts seines Ge­ brauchs von „Scharade“, „Scherz", ja, von einer gewissen „Albernheit" zu sprechen,8 unerschöpflicher Stoff und Gelegenheit für Ironie und Geläch­ ter. Man könnte auch sagen, die Gelegenheit, die der nichtige, der billige Anlass bietet, sei trotzdem - ob seiner puren Faktizität, ob des lapidaren „D ass" - unendlich wichtig. Sie werfe ein bezeichnendes Licht darauf, wie der Einzelne reagiert, kierkegaardisch: auf seine „Wahl". So gesehen gerät der Anlassnehmer unversehens in die Defensive einer Verlegenheit; in die Situation der Notwendigkeit einer Wahl, die als erzwungene jeden Einzel­ nen vor die Wahl zweiter Ordnung stellt, die Wahl wählen, d.h. sie (und sich) in eigene Regie zu übernehmen oder sie ausschlagen zu müssen; mit der misslichen Folge, bei Verweigerung der Wahl sich erst recht dem Zwang zu beugen. Frei ist nur, wer sich für die Möglichkeit, ein freies Wesen sein zu wollen, entscheidet. Nur wer sich sein Los, ein für die Wahl Verantwortlicher zu sein, auf die Fahne schreibt, ist frei. Ein freier Wille, der den freien Willen will. Die querschießende Paradoxie des An­ lasses ist daher für Kierkegaard „zugleich das Bedeutendste und Unbedeu­ tendste, das Höchste und das Geringste, das Wichtigste und das Unwich­ tigste",9 aber auch das Alberne, das mit dieser ganzen Situation nichts Rechtes anzufangen weiß.

II. Fetischcharakter der Kategorie Interessant ist Kierkegaards psychologischer Blick, er will nämlich den Anlass, seine Unmöglichkeit und Notwendigkeit, sein „unmöglich, aber wahr" nicht zuerst in einem logischen Sinn verstanden wissen, er streicht seinen „Fetischismus"10 heraus. Ohne weiter darüber zu räsonieren, stellt Kierkegaard ihn in den Kontext sozialer Kommunikation, er lenkt den Blick auf seine primär existenzielle Note wie auf seine gesellschaftliche Norm: ein beliebiges, zufälliges Objekt zu sein, das das individuelle oder kollektive Begehren in überwertig phantasmagorischer Weise auf sich zieht und an sich fesselt; das als Objekt ohne besondere Bedeutung zum Ausgang für alles Mögliche, ja auch für die libidinöse Besetzung des Un­ wahrscheinlichen, in Frage kommt. Dem „immanenten Denken", das sich in den klassisch-kategorialen Abmessungen bewegt, ist es unmöglich, den Anlass, „eine Kategorie der Endlichkeit", wie Kierkegaard betont, in den Begriff und d.h., in den Griff 8 Ebd., S. 273-280. 9 Ebd., S. 277. 10 Ebd., S. 277.

25

zu bekommen: „dazu ist er allzu paradox“. Man sieht, „dass das, was aus dem Anlass hervorgeht, etwas ganz anderes ist als der Anlass selbst“. Ge­ rade in seiner für das verständige Denken vollkommen absurden Schleife ist der Anlass auch die kurzweiligste, interessanteste [...] aller Kategorien. Gleich einem Zaunkönig ist er überall und nirgends [...]. Der Anlass ist also an sich nichts und nur etwas im Verhältnis zu dem, was er veranlasst, und zu die­ sem ist er eigentlich nichts. Sobald nämlich der Anlass etwas anderes wäre als nichts, so stünde er in einem relativ immanenten Verhältnis zu dem, was er hervorbringt, und wäre dann entweder Grund oder Ursache. Hält man dies nicht fest, so verwirrt sich alles wieder.11

Der Anlass ist in der Tat die witzigste Kategorie eines Denkens unter Be­ dingungen einer multiplen Moderne. „Über das Nirgendsein spannt sich das Überall“, wie Rilke in den Duineser Elegien Kierkegaard variiert. Als Spiegel einer neuen Welt im Übergang verkörpert er das Un-wesen der sozialen Grammatik notwendiger Undinge in seiner reinsten und schöns­ ten Form; nicht nur im Blick auf die ästhetische Erfahrung, wie Kier­ kegaard nahelegt, sondern auch mit Hinweis auf die politische Ökonomie in ihrer Güter- und Ereignisproduktion. Der Anlass ist die letzte, die ei­ gentliche Kategorie des Übergangs einer nur lose verfugten Zeit, die die großen geschichtsträchtigen Verfügungen der Vergangenheit ebenso ab­ zustreifen versteht wie die anthropologischen, fix in die Naturgeschichte eingebauten Zweckmäßigkeiten „mit“ oder „ohne Zweck“. Der Anlass ist das, was das einstmals Göttliche des Ursprungs zum Fetisch herunterholt. Seine anspielungsreiche Logik agiert auf der Oberfläche der vielen situativ mehr oder weniger interessanten Bezüge, die sich aufdrängen oder entste­ hen, in jedem Fall viel versprechen. Im Medium permanenter Revolte sträubt sie sich, durch Ursache und Wirkung, Motiv und Handlung, aber auch Kategorien wie Relevanz und Irrelevanz an die Wand gespielt zu werden. Und - trotz fehlender Sachdienlichkeit - bewegt und reüssiert die Logik des Anlasses dann doch. Ihre Befreiung aus den Fängen der klassi­ schen Kategorien erfährt sie nicht zuletzt dadurch, dass in dieser nur schlecht verfugten Welt hohe Prämien auf die Erzeugung des Neuen, An­ deren und Überraschenden gezahlt werden. Sie spiegelt unsere These von „der Positivierung des Unbestimmten als Ausgang der Moderne“1112 wie keine zweite. Natürlich ist die Untersuchung der Anlass-Semantik das eine, die Funktionsweise des sozialen Lebens etwas anderes. Gleichwohl lässt sich

11 Ebd., S. 277f. 12 Gerhard Gamm. Flucht aus der Kategorie. Die Positivierung des Unbestimmten als Ausgang der Moderne. Frankfurt a.M. 1994.

26

an ihrer Inanspruchnahme studieren, wie sich die Semantik unter die sozi­ ale Grammatik der gesellschaftlichen Realität geschaltet hat. Sie hat, so muss man Kierkegaards Hinweis auf den „Fetischismus“ wohl verstehen, erstens nicht mehr die Form, die zwischen Wunsch und Wille (Wirklichkeit), Sein und Selbst, Autonomie und Heteronomie, Interessantheit und Langeweile usf. clare et distincte zu unterscheiden weiß, sondern sie miteinander vermengt: sie im Extrem oder in ihrem höchsten Gegensatz, der auch etwas Drolliges, Nulliges, Abwegiges sein kann, zu­ sammenfallen sieht. Sie stellt zweitens die Definition der sozialen Realität in ihrem Selbstverständnis qua durchschnittlichem Dasein in Frage und d.h., sie über- oder unterschreitet, über- oder unterdeterminiert sie stän­ dig, um zuletzt, bei Schwächung oder Wegfall der grand récits, unzählige kleine und große Fetische zu schaffen, die auf ihre libidinös ingeniöse Weise die soziale Weltwahrnehmung und Kommunikation strukturieren. Der Anlass und seine Nähe zum Fetischismus erklärt bzw. erzählt die Ge­ schichte der extremen Anfälligkeit unserer Zeit für Phantasmagorien aller Art, für die Verschwörungstheorien und populistischen Wahnideen, die Trugbilder des Aberglaubens und Hellsehens bis hin zu jenen Chimären der Ernährung, der Bewegung, der Entspannung usf., die um das erste aller Güter, das goldene Kalb der Gesundheit tanzen. Und der größten Fetische einer ist heute die Wissenschaft. Anlässe sind Fetische, mindestens ausgezeichnete Gelegenheiten, sie als solche zu behandeln. In ihnen spielt das Imaginäre eine ebenso bedeu­ tende Rolle wie das durch es bestimmte Begehren. Das imaginäre Begeh­ ren überschreitet die Realität, wie es sich in Form eines konkreten Gegen­ standes unerklärlich fix an sie bindet. Es speist sich aus der dubiosen Quelle einer mehr oder weniger verzweifelten Spannung oder besser: ei­ nem Vielversprechen, das aus einem mixtum compositum von Verhei­ ßungszauber und Bedrohungsszenario, Kontrollwunsch und Ohnmacht, Schuldgefühl und Entlastung usf. resultiert. Der Fetisch ist der Ersatz für das Reale - in einem durchaus schelling-lacanschen Sinn, libidinöses Er­ satzobjekt im Kleinen (Fuß, Damenschuh, Autoschlüssel, der Penis des Mannes selbst als „das Normalvorbild des Fetisch“13) wie Ersatzreligio im Großen (Christentum, Kapitalismus, Kommunismus, Szientismus, Rea­ lismus). Die Dinge und Weltanschauungen nehmen eine „von ihrer Reali­ tät verschiedene phantastische Gestalt“ an.14 Mit dem Fetisch werden wir in den Bann einer Macht und Magie gezogen, die alles, was unsere Ge­ wissheit des Wissens und das Hochgefühl des Erlebens betrifft, weit in 13 Sigmund Freud. Fetischismus. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. XIV. Hg. von Anna Freud u.a.. Frankfurt a.M. o.J., S. 317. 14 Karl Marx. Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. In: Ders.: Ökonomische Schriften. Erster Band. Hg. von Hans-Joachim Lieber und Benedikt Kautsky. Darmstadt 1971, S. 54.

27

den Schatten stellt. Wie Deleuze sagt: „Der Fetisch ist das Objekt des Phantasmas, das Phantasieobjekt schlechthin.“15 Der Fetisch entlastet in allem, was schwer ist und Angst macht, was kompliziert und ausweglos erscheint. Er verspricht, mit ihm etwas in der Hand oder im Kopf, im Herzen oder in der Sache zu haben, das hilft, die verdammten Klippen des Lebens weniger gefahrenvoll zu umschiffen. Das Begehren nötigt ihm das Versprechen ab, uns in Situationen der Hilflo­ sigkeit und Ohnmacht nicht allein zu lassen. Er besitzt die bezaubernde Kraft der Wunscherfüllung, die man selbst nicht hat. Der Anlass ist der Joystick unter den Steckern und Ansteckern. Wir flüchten uns unter sei­ nen Rettungsschirm, ängstlich oder spielerisch, voller Übermut oder blu­ tigem Ernst. Der Schirm ist seit jeher das „Mittelwesen“ zwischen Him­ mel und Erde, ein mobiles himmlisches Einsatzkommando, ein Heiligen­ schein, sagt Bataille, der einem Strahlenkranz gleicht, dessen Licht auf uns fällt, aber auch vor den Strahlen und Sturzergüssen des Himmels in Schutz nimmt. Als eigentliche Kategorie wirft der Anlass ein grelles, durch seine dekonstruktive Unwucht gebrochenes Licht auf die soziale Welt - auf ihre Semantik wie Pragmatik. Wie hat er sich in ihr eingerichtet? Wo und in­ wiefern werden Anlässe in der sozialen Realität bedeutsam?

III. Ins Vielversprechende Wie gesagt, dem Anlass stehen alle Türen offen und sie ihm, er lockt mit Versprechen - nicht nur, wenn der Tag lang ist. Gleichgültig, ob es sich um unscheinbare Dinge oder elegante Feste, Soireen, Preisverleihungen oder um Orte und Tage schmerzlicher Erinnerungen handelt, der Anlass geht mit jedem und jeder. Gefühle und Gedanken könne sich ebenso an ihn heften wie ganze Industrien der Kulturgüterproduktion, die Geburts­ und Todes-, Jahres- und Gedenktage von Personen und Institutionen, Er­ lebnissen und Ereignissen zum Anlass nehmen, die symbolische wie mate­ rielle Wort- und Wertschöpfungskette in Gang zu setzen und am Laufen zu halten. Unzählige gesellschaftliche Anlässe fungieren da als Aufhänger oder Stichworte, um etwas zu fertigen, das weit und maßlos über jeden Anlass hinausgeht. Ob es sich um den Beginn des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren (1914) oder um J.G . Fichtes Todestag vor 200 Jahren (1814), die erste Bewegung für Menschenrechte (1787) oder deren Allgemeine Erklärung (1948) handelt, ist gleichgültig, es hängt von der Einschätzung des öffentlichen Interesses ab und davon, ob es dem Anlass-Management 15 Gilles Deleuze: Sacher-Masoch und der Masochismus. In: Leopold von SacherMasoch: Venus im Pelz. Mit einer Studie über den Masochismus von Gilles Deleuze. Frankfurt a.M. 1980, S. 223.

28

gelingt, dasselbe multimedial zu befördern. Ein Großaufgebot von Kon­ gressen und Ausstellungen, Büchern und Filmen, Nachrichten und Pro­ duktlinien steht bereit, sie werden diesem zum „Ereignis“ hochgestuften Geschehen angehängt und im Blick der Gegenwart auf den Anlass umge­ schrieben. „Anlässlich“ der neuesten Daten über die Konjunkturentwick­ lung, des Börsengangs von X Y und der letzten Weltklimakonferenz wird vorsichtig an Stellschrauben gedreht, die Wirtschaft und Politik nachhal­ tig beeinflussen sollen. Dabei geht es nicht nur um Prognose und wahr­ scheinlichen Verlauf, sondern auch um damit assoziierte Versprechen, dass es gut, möglichst besser, jedenfalls nicht schlechter laufen soll. Durch sein schieres Dasein besitzt der Anlass mehr als bloß koordi­ nierende Kraft. Man bezieht sich auf ihn. Ihm gelingt ein wenngleich punktuelles Ein- und Unterhaken von Interessen und Begierden, Gewinn­ erwartungen und -prognosen, Freuden und Ängsten unter die Zeit und damit die Realität in all ihren Facetten. Der Anlass ist der flüchtige Anker, an dem vieles hängt, an dessen Verständnis, seinem „D ass“ und „Wie“ un­ zählige Kräfte umwillen kleiner Grenznutzenvorteile zerren. Anlass­ Ökonomie. Kein Surplus, das sich dabei heute nicht am liebsten in die ge­ sellschaftliche Form des „Events“ kleidet: „Was könnte sich ,aus Anlass von‘ erfolgreich auf welchem Markt anbieten und die Konkurrenz über­ flügeln?“, lautet die bis zum Überdruss wiederholte Frage aller Bild-, Ton- und Textredaktionen einer world wide web-vernetzten Aufmerk­ samkeits-Ökonomie. Wie den Anlass mit dem verknüpfen, was an der Zeit ist? Sie über welche Narrative und Normative, Quietive und Commotive an den Mann, an die Frau, an das Kind bringen? „Aufhänger“ und „Event“ stehen im selben Verhältnis wie der Anlass zu sich selbst und zu seinem zwiespältigen Gebrauch: im Allgemeinen der Sache äußerlich, gleichzeitig aber interessant genug, um neue, möglichst überraschende Formen der Realitätserzeugung ohne weitere Herleitung aus kausal oder teleologisch, stratifikatorisch oder funktional verfugten gesellschaftlichen Anforderungen daran anzuschließen. Der Anlass als Event ist die gesellschaftliche Form, über die sich die soziale Praxis als ordinäre im Extraordinären reproduziert und spiegelt. Das Event überschreitet den Alltag, indem es ihn qua highlight aus seinem Nullnummer-Dasein befreit, ihn in einem Punkt zu veredeln und zu ver­ zaubern hilft, weil es das normale Leben unterbricht. Auf der Höhe der iterativen Moderne geht es nirgends um (existenziellen) Halt oder um ein Ereignis im emphatischen Sinn, eine Intervention, die schlagartig alles verändert; beim Fetischcharakter des Events geht es um einen im allge­ meinen Erregungsniveau leicht erhöhten sozialen An-halt, der schnell vergessen, negiert wird, weil das nächste Event schon wartet und seine Fabrikation damit winkt, das eigentliche, das authentische, in seinem Ver­ sprechen auf Erfüllung so andere wie überraschende zu sein: sinn- oder

29

glückhaft verdichtete Erfüllung einer ansonsten gleich- und leerlaufenden Zeit. Das Event als Ausbaustufe beliebiger Anlässe ist eine dem kapitalisti­ schen Alltag immanente Überschreitungsfigur.16 Von ihr zehren selbst noch die neuen sozialen Bewegungen, die - vom Feminismus bis Attac und Occupy - unterdessen selbst zu Eventbewegungen geworden sind. Anders gesagt, der Anlass ist dermaßen anfällig für seinen Fetischis­ mus, dass es - qua Forschungshypothese - planmäßig geboten erscheint, ihn im gewöhnlichen Gebrauch als Fetisch zu betrachten. Nicht nur in Form eines problematischen Registerwechsels: aus ihm einen Grund, ein Motiv, eine causa sui oder eine behauptende Kraft zu machen; auch darin, ihn mit einem imaginären Begehren auszustatten und in eine Gala zu ver­ wandeln, die seinen Illusio-Charakter nur notdürftig kaschiert.17 Sein Fe­ tischcharakter liegt nicht zuletzt in der Vorspiegelung falscher Tatsachen, vornehmlich in der, die Hauptsache zu sein: Was dann zählt, ist einzig der Anlass. In dieser Totalverkehrung strahlt er freilich eine augenzwinkernde Größe, eine Überlegen- und Erhabenheit ab, die all das, was sonst noch geschieht, in den Hintergrund rückt: das Claire-Obscure des Anlasses, der sich selbst feiert, spielt und - ob seiner Unernsthaftigkeit offenbart. Die letzte Kategorie liefert die Analytik des Fetischismus gleich mit: die Ein­ sicht in seine irreduzible Ambivalenz und (In-)Differenz. Ihr Eigentliches ist das Letzte, das Allerletzte. Ohne ihre polemische Ironie ist sie un­ denkbar. Keine Kategorie des Übergangs kann es qua Lichtquelle und Medium mit dem Anlass aufnehmen. Sie zeigt, dass und wie das Hand­ lungsregime der iterativen Moderne gestrickt ist, wie es überhaupt in dem liegt, was J. Derrida in einem anderen Zusammenhang eine „vielverspre­ chende Aporie“18 genannt hat. Die vielversprechende Aporie ist der Pro­ zessor, der wie kein zweiter die perplexe soziale Welt am Laufen hält. Er wirft ein bezeichnendes Licht auf die allseits aufgebrachte Problemmate­ rie, in und mit der heute über Leben und Denken gehandelt wird: das Vielversprechende, das sowohl als universelles Medium und als Maß wie Anschein von Orientierung, aber auch als Manifest einzigartiger Über­ schreitung den techno- und sozioökonomischen Spekulationsraum bildet, in dem Dinge und Ereignisse, Personen und Institutionen ihre gleichsam transzendental temperierte Vorprägung erhalten. Was Kant intellektualistisch der Einbildungskraft: dem Vermögen, das „viel zu denken veran­

16 Vgl. Gamm, Verlegene Vernunft, S. 175-181. 17 Zum Illusio-Begriff bei Pierre Bourdieu: Gerhard Gamm: Pierre Bourdieu. Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. In: Gerhard Gamm, Andreas Hetzel, Markus Lilienthal. Interpretationen. Hauptwerke der Sozialphilosophie. Stuttgart 2001, S. 225-249. 18 Jacques Derrida: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen. Berlin 2003, S. 51.

30

lasst“,19 Vorbehalten hatte, ist heute unter der Form: das „viel zu verspre­ chen veranlasst" der Beweggrund totaler Mobilmachung in einer ausufernden Welt.20

19 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Akademie-Textausg. Bd. V. Berlin 1969, S. 314. 20 Vgl. des Näheren: Gamm, Verlegene Vernunft, S. 111-124.

31

Sebastian Edinger

Theoretische Wende und historischer Übergang. Zur Transformation der Kritischen Theorie bei Jürgen Habermas

In den Geistes- und Kulturwissenschaften ist die Ausrufung von „Wen­ den“ zu einer Trendsportart geworden, die sich längst breitenwirksam durchgesetzt hat.1 Besonders begehrt ist natürlich auch hier die pole posi­ tion, die das modische Pendant des Patents im technologischen Bereich bildet. Ist man nur Zweiter oder Dritter, so lässt die Nachrangigkeit sich immer noch gut verwerten, wenn man schnell genug darin ist, an der pub­ lizistischen Beschlagnahmung des entsprechenden turns mitzuwirken und sich als jemand zu etablieren, den „man kennen muss“, will man sich in dem entsprechenden Feld professionell orientieren. In der dritten Reihe spätestens wird es dann allerdings unangenehm; man war zu spät und muss einen counter turn ausrufen und etablieren, sich als sogenannter ,prominenter‘ Kritiker des jeweiligen turns zu positionieren verstehen o­ der auf den nächsten wissenschaftlichen Aufschrei warten. Jenseits modisch beflissenen intellektuellen Paparazzitums können Wenden Ausdruck eines objektiven Wandels sein, indem sie im Gebiet der Theorie eine objektiv gesättigte Reaktion auf Veränderungen in der realen Welt und Geschichte darzustellen versuchen. Wenden in diesem Sinn sind Notwehr(re)aktionen und Deutungsversuche zugleich. Das heißt nicht, dass man sich ihrer normativen Ausrichtung anzuschließen habe, aber eine triftige Wende zu ignorieren würde bedeuten, auf eine Art des Theoretisierens zu bestehen, welches auf die Realität gut verzichten kann. Gewöhnlich hält man die Wende, in deren Kielwasser man dahin­ treibt, für den Ausdruck einer kognitiven Überlegenheit womöglich gar theorie-evolutionärer Art gegenüber den ,Paradigmen‘, die dadurch abge­ löst wurden. Auf die überwunden geglaubten Vorgänger referiert man nicht selten, indem man ein von Abderitenstolz geschwängertes explizites „nicht mehr“ verwendet oder dessen Pendant nur stilphysiognomisch zu­

1

Einen umfassenden Überblick über etliche turns in den Kulturwissenschaften gibt Doris Bachmann-Medick in Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwis­ senschaften. Hamburg 2006.

33

tage treten lässt, z.B. indem man etwas als ,von gestern‘2 tituliert, ohne zu ahnen, dass die Art des (Nicht-)Verhältnisses zu realen Inhalten sowie die dümmliche Phrasenhaftigkeit des Ausdrucks Indizien genau der Unmün­ digkeit sind, die man bei den sogenannten „Überholten“ jovial zu diag­ nostizieren können vermeint. Findet allerdings das Ungewöhnliche statt und ist eine Wende triftiger Art, dann ist zu unterstellen, dass die in der Theorie vollzogene Wende mit Veränderungen in der realen Welt korre­ liert, die sich in der Form eines Übergangs bzw. mehrerer Übergänge ma­ nifestieren. Ob die theoretische Wende, welche Jürgen Habermas mit seiner Transformation der Kritischen Theorie publizistisch folgenreich vollzo­ gen hat, eine Wende darstellt, in der reale Übergänge sich abbilden oder nicht, soll im Folgenden untersucht werden.

Die kommunikationstheoretische Wende der Kritischen Theorie Habermas betätigt sich, was Wenden angeht, als Historiograph und Schöpfer zugleich - und als Schöpfer wiederum zugleich als Historist in eigener Sache, indem er seine kommunikationstheoretische Wende dem modernen Reflexivitätsparadigma gemäß ebenfalls reflexiv behandelt. Nicht jede Wende, die bei Habermas Erwähnung findet, muss hier Er­ wähnung finden, sondern nur die wichtigsten, d.h. diejenigen, an denen Habermas’ Bild der Moderne und seiner eigenen Verortung innerhalb der­ selben sich ablesen lässt. Die große neuzeitliche Wende, die sich mit dem Namen Descartes verbunden hat, bezeichnet Habermas als mentalistische Wende,3 die Descartes „auf der neuen, durch den Paradigmenwechsel von der Ontolo­ gie zum Mentalismus erschlossenen Grundlage der Subjektivität“4 vollzo­ gen habe. Was gängigerweise als Epochenumbruch vom Mittelalter zur frühen Neuzeit gefasst wird, erhält hier seine paradigmatische Fassung, wodurch Epochen mit Paradigmen identifiziert oder zumindest durch sie als hinreichend charakterisierbar dargestellt werden. Die „Herder-

2

3

4

34

Vgl. Richard David Precht; Harald Welzer: Jugend an die Macht! Zeit online, 19.03.2016. http://www.zeit.de/2016/13/migration-debatte-gefluechtete-zuversichtjugend (zuletzt abgerufen am 11.05.2016). Bezeichnend ist, dass Habermas diesen Begriff hauptsächlich seit den 1980er Jahren zu verwenden beginnt, vor allem ab Nachmetaphysiches Denken. Wie sein Rorty-Essay Rortys pragmatische Wende (Jürgen Habermas: Rortys pragmatische Wende. In: DZPhil 44.5 (1996), S. 715-741) zeigt, bildet Rortys The Mirror of Nature den konzeptuellen Hintergrund von Habermas‘ Terminologie. Jürgen Habermas: Motive nachmetaphysischen Denkens. In: Ders.: Nachmetaphy­ sisches Denken. Philosophische Aufsätze. Frankfurt a.M. 1992, S. 35-62, hier S. 39.

Humboldt-Hamann-Theorie “ , 5 die sprachphilosophische Alternativlinie zur neuzeitlichen Vernunftphilosophie, unterschlägt Habermas zwar nicht - sie antworte „seit Herder und Hamann, Humboldt und Hegel mit einer Mentalismuskritik “ 6 -, doch die Ablösung des mentalistischen Para­ digmas sieht Habermas hier noch nicht vollzogen. Die Bedeutung dieser Linie, in welcher bei Habermas Giambattista Vico fehlt, relativiert H a­ bermas zugunsten späterer Strömungen: Erst der Historismus und die Lebensphilosophie, der Pragmatismus und die Sprachphilosophie haben freilich im weiteren Verlauf des 19. und frü­ hen 20. Jahrhunderts den symbolisch vermittelten praktischen Lebenszu­ sammenhängen der leiblichen, sozialen und geschichtlichen Existenz der vergesellschafteten Individuen eine erkenntnis- und wissenschaftstheoreti­ sche Bedeutung beigemessen.7

Die Frage, ob diese Relativierung nicht eine Marginalisierung darstellt, erweist sich besonders dann als triftig, wenn man bedenkt, dass Habermas neben Herder, Hamann und Humboldt 8 eben Hegel nennt, der Habermas 5 6

7 8

Charles Taylor: Bedeutungstheorien. In: Ders.: Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus. Frankfurt a.M. 1992, S. 52-117, hier S. 63. Jürgen Habermas: Von den Weltbildern zur Lebenswelt. In: Ders.: Nachmetaphy­ sisches Denken II. Aufsätze und Repliken. Frankfurt a.M. 2012, S. 19-53, hier S. 44. Ebd. Zu Habermas’ genauerer Bestimmung von Humboldts Status in diesem Zusam­ menhang vgl. ebd., 40. - Hier soll aber nicht verschwiegen werden, dass Habermas Humboldt anderweitig als asynchronen Partner Meads bezeichnet, wenn er die Auffindung des „Schlüssel[s] für die Lösung dieses letzten und schwierigsten Problems der von der Metaphysikkritik hinterlassenen Probleme“ (Jürgen Haber­ mas: Die Einheit der Vernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen. In: Ders.: Nachmeta­ physisches Denken. Philosophische Aufsätze. Frankfurt a.M. 1992. S. 153-186, hier S. 184) - des Problems der Individuierung bzw. der Individualität - sich dadurch verspricht, dass man das Problem der Individualität „aus der Kapsel abso­ luter Innerlichkeit befreit und mit Humboldt und George Herbert Mead ins Medi­ um einer Sprache verpflanzt, die die Prozesse der Vergesellschaftung und der Indi­ viduierung miteinander verschränkt“ (ebd.). - In seinem Essay Eine genealogische Betrachtung zum kognitiven Gehalt der Moral hat Habermas gar von „in der Tradi­ tion von Hegel, Humboldt und G.H. Mead stehenden Theorien“ (Jürgen Haber­ mas: Eine genealogische Betrachtung zum kognitiven Gehalt der Moral. In: Ders.: Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie. 2. Aufl. Frankfurt a.M. 1997, S. 11-64, hier S. 57) gesprochen, welche die Spur aufgenommen hätten, derzufolge „Verständigungsprozesse und Lebensformen gewisse strukturelle As­ pekte gemeinsam haben“ (ebd.) - eine Spur, die sich - ohne dass Habermas dies ausführlicher erläuterte - bei Hegel aus der Theorie des Geistes als Medium (auch der Sprache), bei Humboldt aus der ebenfalls Theorie der Sprache als Medium (auch des Geistes) ergibt. Humboldt ist in Habermas’ Sicht also sowohl ein ferner Vorläufer als auch ein konkreter Vorbereiter, der dem integrativen Verwertungsin­

35

zufolge den „mentalistischen Gegensatz von Geist und Körper, Subjekt und Objekt “ 9 bereits in seiner Jenaer Periode überwunden habe. Die prinzipielle Überwindung - so pflegt man in wissenschaftlichen Kreisen die Orientierung der sogenannten scientific community prägende Neuausrichtungen zu nennen, wenn man den Begriff der Mode vermeiden möchte - des mentalistischen Paradigmas ist Habermas zufolge erst mit dem linguistic turn bzw. mit der linguistischen Wende vollzogen worden, da erst „die linguistische Wende den Einbruch einer neuen Sorte ge­ schichtlicher Kontingenzen, die erst in Folge des im späten 18. Jahrhun­ dert entstandenen historischen Bewußtseins philosophische Relevanz er­ langen“ , 101 ermöglicht. Nicht nur vollendet die linguistische Wende offen­ bar die oben angesprochenen Tendenzen, die zur Ausbildung einer sprachphilosophischen Parallelentwicklung neben der sogenannten men­ talistischen führen, sondern philosophische Paradigmenwechsel werden hier immanent und ideenevolutionär aufgefasst, Wende und Übergang konvergieren hier. Die linguistische Wende verläuft zweispurig, einmal puristisch im Sinne der „Wahrheitssemantik, wie sie von Frege bis Dummett und D a­ vidson entwickelt worden ist “ , 11 und einmal im Sinne der Sprachpragmatik, die Habermas’ kommunikationstheoretischen Ansatz fundiert. Die Wahrheitssemantik geht, so Habermas, „von der logozentrischen An­ nahme aus, daß der Wahrheitsbezug des assertorischen Satzes (und der indirekte Wahrheitsbezug des auf die Verwirklichung von Absichten ver­ teresse der neueren Kritischen Theorie insofern nicht gerecht wird, als er —anders als Mead —„eine plausible Erklärung dafür, daß die Sprache ein Mechanismus ist, der zugleich vereinzelt und verbindet, schuldig geblieben“ (Jürgen Habermas: Individuie­ rung durch Vergesellschaftung. Zu G.H. Meads Theorie der Subjektivität. In: Ders.: Nachmetaphysisches Denken. Frankfurt a.M. 1992, S. 187—241, hier S. 202) ist. 9 Jürgen Habermas: Symbolischer Ausdruck und rituelles Verhalten. Ein Rückblick auf Ernst Cassirer und Arnold Gehlen. In: Ders.: Zeit der Übergänge. Frankfurt a. M. 2001, S. 63—84, hier S. 70. —Darauf zielt Habermas bereits in seinem frühen, auf dem anfänglichen Weg zur noch nicht vollendeten Kommunikationstheorie ver­ fassten Essay Arbeit und Interaktion. Bemerkungen zu Hegels Jenenser ,Philosophie des Geistes‘, in welchem Habermas zufolge „der dialektische Zusammenhang von sprachlicher Symbolisierung, Arbeit und Interaktion“ (Jürgen Habermas: Arbeit und Interaktion. Bemerkungen zu Hegels Jenenser .Philosophie des Geistes‘. In: Ders.: Technik und Wissenschaft als Ideologie. Frankfurt a.M. 1969, S. 9—47, hier S. 10) den Geist bestimme, wobei es sich handele um eine „Dialektik von Ich und Anderem im Rahmen der Intersubjektivität des Geistes, in dem nicht Ich mit sich als seinem Anderen, sondern Ich mit einem anderen Ich als Anderem“ (ebd., 13) kommuniziere. 10 Jürgen Habermas: Replik auf Beiträge zu einem Symposion der Cardozo Law School. In: Ders.: Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie. Frankfurt a.M. 1997, S. 364. 11 Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. 12 Vorlesungen. Frankfurt a.M. 1985, S. 364.

36

weisenden intentionalen Satzes) den geeigneten Ansatzpunkt für die Ex­ plikation der sprachlichen Verständigungsleistung überhaupt bietet“ . 12 Der analytische Fixpunkt der Wahrheitssemantik ist damit ontologischer statt kommunikativer Natur, da für sie „die Geltungsproblematik aus­ schließlich im Verhältnis der Sprache zur Welt als der Gesamtheit der Tatsachen lokalisiert“ 13 ist und die intersubjektive Geltungssphäre entwe­ der nicht oder nur unter den Vorzeichen einer ontologischen Objektrefe­ renz thematisiert wird. Ihre vollgültige und eigentliche Vollendung erfahre die linguistische Wende in ihrer sprachpragmatischen (und intersubjektivistischen ) 14 Ge­ stalt. Die sprachpragmatische linguistische Wende markiere jene spezielle „Wende von der Bewußtseins- zur Sprachphilosophie, [...] die mit dem Erbe der Subjektphilosophie auf eine besonders rabiate Weise aufräumt“ ; 15 es handele sich bei ihr um die „konsequent zu Ende geführte linguistische Wende“ , 16 die „deshalb mit dem Mentalismus auch das Erkenntnismodell der Widerspiegelung der Natur überwinden“ 17 könne. Es ist deshalb nur konsequent, wenn Habermas in replizierender Selbstcharakterisierung, behauptet, „nach seinem eigenen Verständnis die pragmatisch-linguistische Wende als Kritik an jeder Form von Subjektphilosophie betrieben“ 18 zu ha­ ben. Aus der Vermeidung der Subjektphilosophie selbst lässt sich jedoch noch nicht gewinnen, worauf es Habermas ankommt: eine Theorie des kommunikativen Handelns, auf die ein Streifblick geworfen werden muss, um die sprachpragmatische Wende hinreichend charakterisieren und in ih­ rer Spezifik fassen zu können.

12 Ebd. 13 Jürgen Habermas: Handlungen, Sprechakte, sprachlich vermittelte Interaktionen und Lebenswelt. In: Ders.: Nachmetaphysisches Denken. Frankfurt a.M. 1992, S. 63-104, hier S. 76. 14 Die „Wende zu einer intersubjektivistischen Betrachtungsart“ (Habermas, Indivi­ duierung durch Vergesellschaftung, S. 217), von welcher Habermas in seinem pro­ grammatisch zentralen Mead-Essay spricht, basiert auf der medientheoretischen Dezentrierung des Subjekts, das in der Sprache ein ihm unverfügbares und seine personale Ontogenese ermöglichendes Medium genuin und unaufhebbar intersub­ jektiver Natur vorfindet: „Selbstbewußtsein bildet sich vielmehr über die symbo­ lisch vermittelte Beziehung zu einem Interaktionspartner auf dem Wege von außen nach innen. Insofern besitzt es einen intersubjektiven Kern; seine exzentrische Stellung bezeugt die anhaltende Abhängigkeit der Subjektivität von der Sprache als dem Medium, durch das sich einer im anderen nicht-objektivierend erkennt.“ (Ebd.). 15 Jürgen Habermas: Philosophie und Wissenschaft als Literatur? In: Ders.: Nachme­ taphysisches Denken. Frankfurt a.M. 1992, S. 242-263, hier S. 244. 16 Habermas, Rortys pragmatische Wende, S. 720. 17 Ebd. 18 Jürgen Habermas: Exkurs: Transzendenz von innen, Transzendenz ins Diesseits. In: Ders: Texte und Kontexte. Frankfurt a.M. 1992, S. 127-156, hier S. 152.

37

In der Ausformulierung seines sprachpragmatischen Ansatzes be­ zieht Habermas sich auf Karl Bühlers Organon-Modell19 und, wesentlich stärker und weitläufiger, auf George Herbert Meads symbolischen Interaktionismus. 20 In Meads „Paradigma der symbolisch vermittelten Interak­ tion “ 21 findet das sprachpragmatische Paradigma die systematische Grundlage, von welcher her eine Theorie des kommunikativen Handelns einzig entwickelt werden kann, denn die Sprachpragmatik, so Habermas, „hat der Durchführung einer Theorie des kommunikativen Handelns und der Rationalität gedient“ . 22 Der evolutionäre Dreischritt der Paradigmen von der Ontologie über den Mentalismus zur Sprachpragmatik (die sprachpragmatische Wende ist genau genommen eine Binnendifferenzie­ rung der linguistischen Wende) findet seine Erfüllung in Habermas‘ Phi­ losophie selbst; die Wenden erscheinen im Licht einer die eigene Philoso­ phie als teleologische Manifestationsgestalt derselben auffassenden Be­ schreibung und damit als Dienstleistungen, denen dieser Status sowohl intentional als auch genetisch selbst fremd war.

Wenden (Paradigmenwechsel) und Übergänge Auffällig an den drei Wenden, die Habermas skizziert, ist, welchen perio­ dischen Raum sie jeweils in nicht gänzlicher, 23 aber doch weitgehender Homogenität ausfüllen. Das Mittelalter verschmilzt differenz- und kom­

19 Vgl. Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 1. Handlungs­ rationalität und gesellschaftliche Rationalisierung. 2. Aufl. Frankfurt a.M. 1982, S. 531f. 20 Peirce vollzieht Habermas zufolge eine „semiotische Transformation der Kantischen Erkenntnistheorie“ (Jürgen Habermas: Charles S. Peirce über Kommunika­ tion. In: Ders.: Texte und Kontexte. 2. Aufl. Frankfurt a.M. 1992, S. 9—33, hier S. 14), welche jedoch dem Rahmen der klassischen Epistemologie unter veränderten Vorzeichen jedoch verhaftet geblieben sei (vgl. ebd., S. 19). Demgegenüber bildet Mead einen systematischen „can’t-miss-case“: „Wenn wir die revolutionäre Kraft der verhaltenstheoretischen Grundbegriffe, das paradigmensprengende Potential dieses Ansatzes freilegen wollen, müssen wir auf G.H. Meads Sozialpsychologie zurückgehen. [...] Mead analysiert Bewußtseinsphänomene unter dem Gesichts­ punkt, wie diese sich in den Strukturen sprachlich oder symbolisch vermittelter In­ teraktion herausbilden.“ (Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Han­ delns. Bd. 2. Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft. 4. Aufl. Frankfurt a.M. 1987, S. 12. 21 Habermas, Individuierung durch Vergesellschaftung, S. 210. 22 Jürgen Habermas: Einleitung. Realismus nach der sprachpragmatischen Wende. In: Ders.: Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze. Frankfurt a.M. 2004, S. 7-64, hier S. 7. 23 Vgl. die oben erwähnten Tendenzen des späten 18. Jahrhunderts, die erst im lingu­ istischen Paradigma zu ihrer vollen Entfaltung gelangen.

38

plexitätslos mit dem ontologischen Paradigma, während der Ontologie­ Begriff Habermas‘ an der neuzeitlichen und damit nachmittelalterlichen Genesis der Ontologie genauso vorbeigeht wie an sich selbst als ontolo­ gisch verstehenden Philosophien wie etwa der Christian Wolffs . 24 Das mentalistische Paradigma, das sich im 17. Jahrhundert mit der Philosophie Descartes‘ etabliert hat, wird erst im 20. Jahrhundert abgelöst, was bedeu­ tet, dass der gesellschafts- und sozialgeschichtliche Übergang, welchen die industrielle Revolution mitsamt ihren technischen Errungenschaften dar­ stellt, sowie ihre philosophisch folgenreichste Deutung, die Marx’sche Philosophie, aus dem Habermas’schen Schema aufgrund mangelnder Sig­ nifikanz herausfallen. Das Kriterium hinreichender paradigmatischer Sig­ nifikanz ergibt sich in Habermas’ Schema vor allem aus einer immanenten Beziehung zur Subjektphilosophie und ihres epistemologischen Indivi­ dualismus, auch in dessen politisch transformierter kontraktualistischer Gestalt (z.B. bei Hobbes), auszumachen. Die philosophischen Wenden stellen eine philosophische, aber auch eine rein philosophieinterne Kommunikation dar. Das sprachpragmati­ sche Paradigma antwortet auf philosophische Aporien, die innerhalb sei­ ner Vorläufer nicht zufriedenstellend beantwortet werden konnten. „Re­ algeschichtlichen“ Übergängen und Brüchen, unabhängig von ihrer mög­ lichen Interferenz mit den philosophischen Wenden, kommt keine determinierende Kraft zu. In ironischer Bestätigung der auf philosophi­ sche Paradigmenwechsel angewandten systemtheoretischen Logik ant­ worten bei Habermas Paradigmen auf Paradigmen, die füreinander U m ­ welten sind, gemäß einer einheitlichen Systemlogik, nämlich im Rahmen der internen philosophischen Logik dieser Paradigmen. In den hier skizzierten Paradigmenwechseln erschöpft Habermas‘ ideengeschichtliche Selbsteinbettung sich allerdings nicht, denn eine zwei­ te ideengeschichtliche Linie verläuft zur paradigmentheoretischen parallel und kreuzt sie zugleich. Dabei geht es um keine Wende, sondern um den Übergang zur Moderne. In der Einholung von deren philosophischen Ge­ halten tritt paradigmentheoretisch Diachrones, nämlich die vor­ linguistische bzw. -sprachpragmatische Philosophie Hegels, in eine the­ matisch-inhaltliche Synchronie mit der Theorie des kommunikativen Handelns ein, wodurch das Verhältnis von paradigmatischer Wende und periodisch-identitärem Übergang umso problematischer gerät.

24 Zu Wolff vgl. Sebastian Edinger: Das Politische in der Ontologie der Person. Helmuth Plessners Philosophische Anthropologie im Verhältnis zu den Substanzontologien von Aristoteles und Edith Stein. Berlin, New York 2017, S. 62ff. - Den grö­ ßeren geistesgeschichtlichen Zusammenhang findet man detailliert ausgearbeitet in: Panajotis Kondylis: Die neuzeitliche Metaphysikkritik. Stuttgart 1990.

39

Der Übergang zur Moderne Problematisch ist Habermas’ Konzeption des Übergangs zur Moderne auch dadurch, dass hier die Philosophie kein geschlossenes Ganzes mehr bildet, das nur interne Interferenzverhältnisse kennt, sondern Interferen­ zen zwischen der Philosophie und der realen Geschichte bestehen, welche in ihrer Relationierung zu Sprüngen bzw. - auf der interpretatorischen Ebene - unmerklichen Übergängen führen. Habermas rekonstruiert die Ideengeschichte der Moderne zunächst philosophisch, liest dabei aber die philosophischen Texte, über sie in die Geschichte ausgreifend, symptomatologisch. Es ist Hegel, der Habermas zufolge die philosophische Moderne maßgeblich inauguriert habe, indem er „Kants Vernunftkritik als eine lehrreiche, aber unvollständige, insofern nur symptomatische Deutung des rationalen Wesens der modernen Welt“ 25 begriffen habe. Die philologisch-zeitdiagnostische Doppelprämis­ se bleibt keine implizite, sondern Habermas spricht andernorts offen aus, „daß sich in Kants Philosophie die wesentlichen Züge des Zeitalters wie in einem Spiegel reflektieren, ohne daß Kant die Moderne als solche begrif­ fen hätte “ . 26 Kants Differenzierung der Vernunftarten ist in dieser Lesart eine Widerspiegelung der sozialhistorischen Ausdifferenzierung institutio­ neller Tätigkeitsbereiche, die Habermas bereits zum Ende des 18. Jahr­ hunderts vollzogen sieht. 27 Was Habermas hier mit Hegel aus Kant symp­ tomatologisch herausliest, ist der im philosophischen Textkorpus wider­ gespiegelte „Übergang zur Moderne“ , 28 laut Habermas „ein Vorgang, der im 16. Jahrhundert einsetzt und im 18. Jahrhundert zum Abschluß ge­ langt“ , 29 weshalb Kants Trias von Epistemologie, Ethik und Ästhetik als frühester Ausdruck dieses zum Abschluss gelangten Übergangs angese­ hen werden kann und seine Unterscheidung zwischen Glaube und Wissen eine Wende im Übergang zur Moderne markiert, nämlich die „Wende zum nachmetaphysischen Denken “ . 30 Diese Wende ist keine paradigmati­ sche im engeren Sinne, das nachmetaphysische Denken kein Paradigma wie das linguistische oder mentalistische; in ihr vollzieht sich philoso­ phisch ein Bruch, jedoch ohne dass eine systematische und über Genera­ 25 Jürgen Habermas: Konzeptionen der Moderne. Ein Rückblick auf zwei Traditio­ nen. In: Ders.: Zeitdiagnosen. Zwölf Essays 1980-2001. Frankfurt a.M. 2003, S. 175-203, hier S. 180. 26 Vgl. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 30. 27 Vgl. ebd. 28 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 1, S. 236. 29 Ebd. 30 Jürgen Habermas: Die Grenze zwischen Glauben und Wissen. Zur Wirkungsge­ schichte und aktuellen Bedeutung von Kants Religionsphilosophie. In: Ders.: Zwi­ schen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze. Frankfurt a.M. 2005, S. 216-257, hier S. 253.

40

tionen hinweg akzeptierte Umstellung des Philosophierens selbst statt­ fände, das auf eine neue Doppelheit von Ausgangspunkt und/oder Unhintergehbarkeit (z.B. der Sprache) festgelegt würde. Damit liest Habermas mit Hegel aus Kant symptomatologisch her­ aus, was er soziologisch und sozialhistorisch Max Weber entnimmt, des­ sen Ausdifferenzierung der kulturellen Moderne in die drei Wertsphären von Wissenschaft, Kunst und Moral er wiederum folgt , 31 darin den sozio­ logisch-institutionellen Widerschein der Kantischen Vernunftarchitekto­ nik erblickend: „Kant hatte innerhalb der Vernunft diejenigen Differen­ zierungen herausgearbeitet, denen in der Kultur die Sphären von Wissen­ schaft, Moral und Kunst entsprachen. “ 32 Nicht nur verbindet Habermas allerdings Hegel und Weber mit Kant, sondern auch Hegel und Weber werden von Habermas - wenn auch eher assoziativ - in eine Perspektive gerückt und damit als unterschiedlich gelagerte Erklärungsweisen gesell­ schaftlicher Modernisierung betrachtet: Die institutionellen Kerne der beiden Bereiche - staatliche Bürokratie und Unternehmensorganisation - betrachtet Weber als die erklärungsbedürfti­ gen evolutionären Errungenschaften der gesellschaftlichen Moderne. Zu­ sammen mit dem positiven Recht sind sie sozusagen die Schrittmacher der gesellschaftlichen Modernisierung. Die Erklärung, die Weber anbietet, er­ innert an Hegel. Während dieser die signifikanten Bereiche moderner Ge­ sellschaften als Verkörperungen seiner subjektzentrierten Vernunft begrif­ fen hatte, versteht Weber die Modernisierung der Gesellschaft als eine In­ stitutionalisierung zweckrationalen Handelns vor allem in den beiden dynamischen Kernsektoren von Staat und Wirtschaft.33

Bei dieser Erinnerung geht allerdings unter, dass gerade die Übergangslo­ gik, welche bei Hegel die Bereiche in der Substanz des Ganzen bzw. des Staates eingelassen auffasst, einen entscheidenden Unterschied zu Webers Logik der Ausdifferenzierung darstellt, in welcher die Momente sich ge­ rade gegenüber dem Ganzen in einer funktionalen Weise verselbständigen und daher aufhören, solche einer substanzhaften Totalität zu sein. Zutref­ fender ist Habermas‘ Anknüpfung an Weber dort, wo der Unterschied zu 31 Für die kulturelle Moderne ist Habermas zufolge die „kulturelle Rationalisierung“ (Weber) kennzeichnend, an die er anknüpft: „Die kulturelle Rationalisierung, aus der die für moderne Gesellschaften typischen Bewußtseinsstrukturen hervorgehen, erstreckt sich, so können wir zusammenfassen, auf die kognitiven, die ästhetisch­ expressiven und die moralisch-evaluativen Bestandteile der religiösen Überliefe­ rung. Mit Wissenschaft und Technik, mit autonomer Kunst und den Werten ex­ pressiver Selbstdarstellung, mit universalistischen Rechts- und Moralvorstellungen kommt es zu einer Ausdifferenzierung von drei Wertsphären, die jeweils einer eige­ nen Logik folgen.“ (Ebd., 233f.). 32 Habermas, Konzeptionen der Moderne, S. 201f. 33 Ebd., S. 184.

41

Hegel klar hervortritt, und Habermas die Moderne mit Weber dadurch charakterisiert, „daß die in religiösen und metaphysischen Weltbildern ausgedrückte substantielle Vernunft in Momente auseinandertritt, die nur noch formal, durch die Form argumentativer Begründung, zusammenge­ halten werden“ . 34 Wichtiger als philologische Detailfragen ist hier aller­ dings, dass der Übergang zur Moderne sich Habermas zufolge in doppel­ ter Weise legitim dechiffrieren lässt: auf der Ebene des Kantischen Textes wie auch auf der Ebene der soziologisch-historischen Analyse Max We­ bers. Die Moderne, wie Habermas sie an Max Weber anschließend ver­ steht, ist mehrfältiger Natur; konstitutiv für sie sind (1) die bereits angesprochenen „kulturellen Wertsphären (Wissen­ schaft und Technik, Kunst und Literatur, Recht und Moral) “ , 35 (2) „die kulturellen Handlungssysteme, in denen Überlieferungen sys­ tematisch unter einzelnen Geltungsaspekten bearbeitet werden: den Wis­ senschaftsbetrieb (Universitäten und Akademien), den Kulturbetrieb (mit den Institutionen der Kunstproduktion, -Verteilung und -rezeption, und den Vermittlungsinstanzen der Kunstkritik), das Rechtssystem (mit fach­ juristischer Ausbildung, wissenschaftlicher Jurisprudenz, Rechtsöffent­ lichkeit), schließlich die religiöse Gemeinde (in der eine prinzipiengeleite­ te Ethik mit ihren universalistischen Forderungen gelehrt und gelebt, d.h. institutionell verkörpert wird) “ , 36 und (3) „die zentralen Handlungssysteme, die die Struktur der Gesellschaft festlegen: kapitalistische Wirtschaft, moderner Staat und Kleinfamilie; schließlich auf der Ebene des Persönlichkeitssystems die Handlungsdis­ positionen und Wertorientierungen, die für die methodische Lebensfüh­ rung und ihr subjektivistisches Gegenstück typisch sind “ . 37 Hier wird nicht mehr eine funktionale Ausdifferenzierung der Ge­ sellschaft aus der Kantischen Unterscheidung von Vernunftformen symptomatologisch herausgelesen, sondern die Moderne selbst inhaltlich be­ stimmt. Von besonderem Interesse ist dabei für Habermas die Gestalt, welche die kulturelle Moderne annimmt, die wiederum durch die von We­ ber diagnostizierte kulturelle Rationalisierung bestimmt sei: „Die beiden Stichworte, unter denen Weber eine entsprechende kulturelle Rationali­ sierung untersucht, sind: Systematisierung der Weltbilder und Eigenlogik der Wertsphären. “ 38 Die Eigenlogik der Wertsphären ist ambivalent, denn indem die Wertsphären sich durch sie gegeneinander verselbständigen, können sie zugleich immanent ihr eigenlogisches Potenzial ausreizen und 34 35 36 37 38

42

Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 2, S. 481. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 1, S. 236. Ebd. Ebd. Ebd., S. 247.

zur Entfaltung bringen. Sowohl dieses Potenzial als auch die diesem Po­ tenzial zugrundeliegende „kommunikative Infrastruktur“,39 die zugleich von den „sich gegenseitig verstärkenden Tendenzen [...] von systemisch induzierter Verdinglichung und kultureller Verarmung “40 bedroht ist, bilden den Ansatzpunkt von Habermas’ Konkretisierung des Sprachparadigmas zum Kommunikationsparadigma und der Verständigung zur kommunika­ tiven Rationalität; im Konzept der kommunikativen Rationalität werden die Grundlagen der kommunikativen Infrastruktur konzeptualisiert: „Das Konzept des kommunikativen Handelns entfaltet die Intuition, daß der Sprache das Telos der Verständigung innewohnt.“ 41 Die sprachpragmatische Wende in ihrer Konkretionsform der kom­ munikationstheoretischen Wende soll den theoretischen Versuch markie­ ren, dem Übergang zur Moderne philosophisch gerecht zu werden. Der Übergang zur Moderne koinzidiert nicht mit den Übergängen innerhalb der Moderne, als deren entscheidenden, das Kommunikationsparadigma nahelegenden, internen Übergang Habermas den „Übergang zum weltan­ schaulichen Pluralismus“ 42 ausmacht, mit dem „in modernen Gesellschaf­ ten die Religion und das darin wurzelnde Ethos als öffentliche Geltungs­ grundlage einer von allen geteilten Moral“ 43 zerfalle. Dieser Übergang macht eine Modifikation des sprachpragmatischen Paradigmas erforder­ lich, das als solches noch keine philosophischen Mittel bereitstellt, inner­ halb der sprachpragmatischen Wende auf diesen weltanschaulich­ pluralistischen Übergang adäquat zu reagieren; die Gestalt, welche diese Modifikation des sprachpragmatischen Paradigmas annimmt, ist das kommunikationstheoretische Paradigma. Habermas modifiziert also die sprachpragmatische Wende unter den Vorzeichen eines konkreten Über­ gangs innerhalb der Moderne, indem er die Sprache als Verständigungs­ medium in den Dienst der Pluralitätsbewältigung und -koordination durch Kommunikation stellt.

Der Übergang zur Kommunikationstheorie als Transform ation der Kritischen Theorie Das kommunikationstheoretische Paradigma modifiziert nicht nur das sprachpragmatische, sondern bildet überdies das systematische Zentrum von Habermas’ Transformation der Kritischen Theorie. In dieser Trans-* 39 40 41 42 43

Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 2, S. 483. Ebd. Habermas, Handlungen, Sprechakte, sprachlich vermittelte Interaktionen, S. 75. Habermas, Eine genealogische Betrachtung zum kognitiven Gehalt der Moral, S. 19. Ebd.

43

formation geht es Habermas darum, „der Kritik der mstrumentellen Ver­ nunft, die sich mit den Mitteln der älteren Kritischen Theorie nicht mehr weiterführen läßt, die angemessene Form einer Kritik der funktionalistischen Vernunft“ 44 zu geben. Der sogenannten älteren Kritischen Theorie, in deren „Begriff der instrumentellen Vernunft bereits der Schlüssel, mit dem Horkheimer und Adorno das Verdinglichungsthema umformuliert haben“ , 45 zu finden sei, verrenne sich in Aporien, die keine Utopien be­ gründen können, sondern diese vielmehr verstellen müssen. Gegen Adorno wendet Habermas ein dieser wolle „im performativen Widerspruch einer Negativen Dialektik, die die unumgänglichen Mittel des identifizierenden und objektivierenden Denkens gegen dieses selbst richtet, ausharren “ , 46 dabei sich der Möglichkeit beraubend, sich auf eine „der instrumentellen Vernunft heterogene Struktur beziehen “ 47 zu können. Damit gerate die Kritik der instrumentellen Vernunft selber in den Bannkreis der instru­ mentellen Vernunft, weil sie nur auf eine degenerierte normative Grund­ lage der instrumentellen Vernunft reagieren, selber aber keine eigene normative Grundlage formulieren könne; ihr eigenes normatives Woher ist das Dunkel, das sie nicht aufzuhellen vermag: „Sobald die Kritik der instrumentellen Vernunft nicht mehr im Namen der Vernunft selbst durchgeführt werden kann, verliert sie, und damit die Kritik der Moderne, eine eigene normative Grundlage . “ 4849 Die Mimesis könne die Kritik nicht fundieren, welche einer vernünftigen Grundlage bedürfe, da Horkheimer und Adorno innerhalb ihres Koordinatensystems „eine Theorie der Mi­ mesis aufstellen müßten, die nach ihren eigenen Begriffen unmöglich • _cc.49 ist Die funktionalistische Vernunft, deren Kritik zur Aufgabe der Theo­ rie des kommunikativen Handelns erklärt wird, gewinnt Habermas aus seiner Auseinandersetzung mit der Systemtheorie und der in dieser Aus­ einandersetzung entwickelten Gegenüberstellung von System und Le­ benswelt. Die funktionalistische Vernunft ist nicht die Vernunft eines na­ türlichen Trägers derselben, sondern die Rationalität eines medial selbs­ treferenziell gesteuerten Systems und damit einer die Interaktionen von Trägern einer natürlichen Vernunft medial steuernden Systemvernunft: Insofern verkörpern mediengesteuerte Interaktionen nicht mehr eine in­ strumentelle, in der Zweckrationalität der Entscheidungsträger lokalisierte 44 Jürgen Habermas: Dialektik der Rationalisierung. In: Ders.: Die Neue Unüber­ sichtlichkeit. Frankfurt a.M. 1985, S. 167—208, hier S. 180. 45 Ebd. 46 Jürgen Habermas: Ein Interview mit der Left Review. In: Ders.: Die Neue Unüber­ sichtlichkeit. Frankfurt a.M. 1985, S. 213—257, hier S. 219. 47 Ebd., S. 220. 48 Habermas, Konzeptionen der Moderne, S. 187. 49 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 1, S. 512.

44

Vernunft, sondern eine den selbstgesteuerten Systemen innewohnende funktionalistische Vernunft. Dieser in den Wirtschafts- und Organisati­ onswissenschaften ausgebaute Ansatz erfaßt allerdings nur spezielle Hand­ lungs-bereiche; er erfüllt nicht den Anspruch einer generalisierten Erklä­ rung, die soziales Handeln überhaupt auf strategisches zurückführen kann.50

Die instrumentelle Vernunft hingegen ist sowohl an das marxistische Produktionsparadigma als auch an die Produktivkraft als Akteur inner­ halb dieses Produktionszusammenhangs gebunden; die Differenz fasst Habermas bündig zusammen: „Die in Produktivkräften entfesselte in­ strumentelle Vernunft, die in Organisations- und Planungskapazitäten sich entfaltende funktionalistische Vernunft sollten den Weg zum men­ schenwürdigen, egalitären und zugleich libertären Leben bahnen. “ 51 Beide Vernunftarten treten in der Ideologie als Verheißungen, in der Praxis als Gesetz (instrumentelle Vernunft) oder Mechanismus (funktionalistische Vernunft), in der Perspektive der Kritik hingegen als Verhängnisse auf. Nicht die angesprochenen Aporien allein, die Habermas bei Adorno und Horkheimer ausmachen zu können meint, machen einen Paradig­ menwechsel erforderlich, sondern auch die Transformation des Vernunft­ typs, der systembestimmend wirkt. Adornos geschichtsphilosophischer Begriff des Banns, dem auch die kritische Vernunft noch anheimfällt, ver­ liere seine Bannkraft im Angesicht der Rationalitätspotenziale der kom­ munikativen Alltagspraxis, 52 welche von quasi-transzendentaler Bedeu­ tung für die (kognitiv-instrumentellen, moralisch-praktischen und expres­ siven) Weltbezüge in der Welt handelnder Akteure sei. Verständigung ist nach Habermas das, was das Handeln in der Welt sowohl ermöglicht als auch strukturiert und koordiniert; sie setzt Rationalitätspotenziale voraus, die ihrerseits irreduzibel sind und in keiner Weise das Ganze okkupieren, aber auch nicht in einer zum unwahren Ganzen werdenden Systemratio­ nalität zum Verschwinden gebracht werden können: Gesellschaftliche Rationalisierung bedeutet dann nicht die Diffusion zweckrationalen Handelns und die Transformation von Bereichen kom­ munikativen Handelns in Subsysteme zweckrationalen Handelns. Den Be­ 50 Habermas, Handlungen, Sprechakte, sprachlich vermittelte Interaktionen, S. 83. 51 Jürgen Habermas: Die Krise des Wohlfahrtsstaates und die Erschöpfung utopi­ scher Energien. In: Ders.: Die Neue Unübersichtlichkeit. Frankfurt a.M. 1985, S. 141-163, hier S. 161. 52 Daraus speist sich der Optimismus, der es Habermas erlaubt, mit produktiven Zu­ mutungen an eine zeitgemäße kritische Gesellschaftstheorie heranzutreten: „Einer kritischen Gesellschaftstheorie möchte ich hingegen auch die Aufgabe zumuten, aufklärende Situationsdeutungen zu ermöglichen, die unser Selbstverständnis be­ treffen und uns im Handeln orientieren.“ (Habermas, Interview mit der Left Re­ view, S. 237).

45

zugspunkt bildet vielmehr das Rationalitätspotential, das in der Geltungs­ basis der Rede angelegt ist. Dieses ist niemals völlig stillgestellt; es kann aber auf verschiedenen Niveaus, die vom Grad der Rationalisierung des Weltbildwissens abhängen, aktiviert werden.53

Die lebensweltlichen Rationalitätspotenziale bilden in dieser minimalisti­ schen Fassung gleichermaßen ein „Immer-schon“ und „Überall“ mit un­ antastbarer Immunität. Indem das Rationalitätspotenzial nicht das Poten­ zial einer wirklich werdenden möglichen Rationalität ist, sondern „in der Geltungsbasis der Rede angelegt“ (Hervorhebung, S.E.) ist, braucht man Irrationalität nur noch zu fürchten, wo sie die Gestalt blanker Gewalt an­ nimmt, da jegliche formell kommunikative, praktisch aber gelingende Kommuniktion unterminierende Dummheit, solange sie sich semantisch manifestiert, als kritisierbar und verhandelbar erscheint, weil ihre semanti­ sche Manifestation formaliter von lebensweltlichen Rationalitätsressour­ cen zehrt. 54 Der quasi-transzendentale Status von Rationalitätspotenzialen zeigt sich auch darin, dass Habermas diese „in den drei Weltbezügen des Aktors “ 55 verortet, der dieses Rationalitätspotenzial „ausdrücklich für das kooperativ verfolgte Ziel der Verständigung mobilisieren“ 56 müsse. Das ideale Resultat von Verständigung ist der Diskurs, in welchem das Ratio­ nalitätspotenzial kommunikativen Handelns in der größtmöglichen Po­ tenzierung realisiert wird; dieses Rationalitätsmaximum des Diskurses ist in den formalen Grundstrukturen der Verständigung zwar nicht enthal­ ten, aber - um auf eine folgenreiche Lieblingsvokabel Habermas‘ zu spre­ chen zu kommen - angelegt: „Dieser Weg vom kommunikativen Handeln zum Diskurs ist in natürlichen Kontexten vielfach blockiert, aber in der Struktur des verständigungsorientierten Handelns immer schon ange­ legt. “ 57 Höchst Verschiedenartiges (z.B. das um Verständlichkeit und Sinn überhaupt bemühte Gestammel und die prononcierte wissenschaftliche Kritik) wird hier in einer Potenz-Akt-Relation zusammengefasst, die nicht mehr aristotelisch als ein ontologisches Immanenzverhältnis z.B. ei­ nes lebendigen Körpers gedacht wird, der lebendig ist, indem er lebendige Potenzen aktualisiert, sondern in der Habermas’schen Potenz sind vielfäl-

53 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 1, S. 455. 54 Hier zeigt sich die Kalamität, die aus der Fundamentalisierung des Lebenswelt­ Begriffs erwächst, der unter kommunikationstheoretischen Vorzeichen in letztlich immer noch transzendentalphilosophischer, wenn auch expressis verbis sprach- bzw. universalpragmatischer Weise betrachtet wird. Sein quasi-transzendentales Pen­ dant, das als gebieterisches Korrektiv zu veranschlagen wäre, nämlich Zivilisation, erscheint dann als ein Sekundäres statt als das, was als das Gesetz einer Lebenswelt fungieren könnte, in der das Leben erst auf menschenwürdige Weise lebbar wäre. 55 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 1, S. 149. 56 Ebd. 57 Ebd., S. 188.

46

tige Realisierungsmöglichkeiten angelegt, die situativ mehr oder weniger aktualisiert werden, im Verständigungshandeln jedoch nicht gänzlich unaktualisierte Potenz sein können. Indem die Rationalitätspotenziale keine individuellen Potenziale im Sinne psychologischer Vermögen von Individuen sind, sondern Struktur­ potenziale von Verständigung überhaupt, kann Habermas eine interne Beziehung zwischen Praxis und Rationalität herstell en. 58 Verständigung als empirischer Akt, der unternommen oder unterlassen, gelingen oder scheitern kann, ist nicht der Fixpunkt der Habermas’schen Überlegungen, sondern „daß in sprachliche Kommunikation ein Telos von gegenseitiger Verständigung eingebaut ist “ , 59 dessen Nicht-Aktualisierung keine Wider­ legung der Existenz, sondern lediglich eine arbiträre Verfehlung der Po­ tenziale kommunikativer Rationalität darstellt. Den Bruch mit der älteren Kritischen Theorie vollzieht Habermas allerdings nicht als Abbruch der Beziehungen auf intentionaler Ebene, da er die Orientierung an der Idee gegenseitiger Verständigung auf der Basis kommunikativer Rationalität für die Ermöglichungsbedingung der praktischen Einlösung von Adornos zentralen Intentionen hält: „Anhand dieses Leitfadens [der internen Verschränktheit von sprachlicher Kommunikation und gegenseitiger Ver­ ständigung, S.E.] gelangt man zu einem Begriff von kommunikativer Ra­ tionalität, der - nebenbei gesagt - auch den wenigen affirmativen Äuße­ rungen Adornos über ein nicht-verfehltes Leben zugrunde gelegen hat. “ 60 In Anspielung auf Adorno und Marx behauptet Habermas, die Idee der kommunikativen Rationalität gesellschaftstheoretisch in Anschlag brin­ gend, dass „in den Strukturen sprachlicher Verständigung Universalien stecken, die sogar die Maßstäbe für eine geschichtsphilosophisch nicht mehr zu begründende Kritik hergeben . “ 61 Der Einzelne kann, ohne sich monadologisch in sich selbst zu verlieren, sein verfehltes Leben zu einem nicht-verfehlten nur in Beziehung setzen in der Inanspruchnahme einer kommunikativen Rationalität, die ihn zugleich befähigt, mit Anderen über sich, über den Anderen sowie über beider Verhältnis zueinander und zur Gesellschaft im Ganzen zu kommunizieren. Sämtliche kommunikativen Vollzüge, auch die vorrangig expressiven, schöpfen aus den unerschöpfli­ chen Ressourcen der kommunikativen Rationalität. 62 Doch Habermas be58 „Die Theorie des kommunikativen Handelns stellt nämlich eine innere Beziehung zwischen Praxis und Rationalität her.“ (Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 96). 59 Habermas, Dialektik der Rationalisierung, S. 173. 60 Ebd. 61 Ebd., S. 174. 62 „Damit sind die drei Dimensionen angedeutet, die im Begriff kommunikativer Ra­ tionalität drinstecken: das Verhältnis des erkennenden Subjekts zu einer Welt von Ereignissen bzw. Tatsachen, das Verhältnis des praktisch, in Interaktionen mit an­ deren verstrickten und handelnden Subjektes zu einer Welt der Sozialität, und

47

zieht sich nicht nur auf die kommunikative Rationalität im sprachpragma­ tischen Sinne, sondern auch auf die historische Sedimentierung kommu­ nikativer Rationalität, d.h. auf die historisch realisierte kommunikative Rationalität: Ich würde nicht von kommunikativer Rationalisierung‘ reden, wenn nicht in den letzten zweihundert Jahren europäischer und amerikanischer Ge­ schichte, in den letzten vierzig Jahren nationaler Befreiungsbewegungen, bei allen Katastrophen doch auch ein Stück existierender Vernunft‘, wie Hegel gesagt hatte, wiederzuerkennen wäre - in den bürgerlichen Emanzi­ pationsbewegungen nicht weniger als in der Arbeiterbewegung, heute im Feminismus, in den Kulturrevolten, in ökologischen und pazifistischen Widerständen.*63

Die Weiterentwicklung des sprachpragmatischen Ansatzes zum kommu­ nikationstheoretischen Ansatz lässt die historischen Realisierungsformen kommunikativer Rationalität, auf die Habermas sich hier stützt, leicht aus dem Blick geraten. Die kommunikative Rationalität bildet insofern eine Ressource der „existierenden Vernunft“ wie diese umgekehrt den theore­ tischen Rekurs auf jene erheischt, ohne dass die kommunikative Rationa­ lität als solche historisch aus der existierenden Vernunft heraus entwickelt zu werden bräuchte (oder könnte - denn diese wäre dann nur aufweisbar als eine Realisierungsform einer kommunikativen Rationalität, deren gene­ relle Theorie wiederum erst noch zu formulieren wäre). Die Transformation der Kritischen Theorie, die Habermas vollzieht, geht nicht ohne massive Umwertungen vonstatten: Habermas setzt nicht positivistisch, sondern gar affirmativ an den Rationalitätspotenzialen an, die in Verständigung per se angelegt seien, während Adorno die Welt als eine begreift, in der dieses Angelegtsein so wenig wie dessen Realisierung überhaupt noch imaginierbar sind. Der Unterschied zwischen Affirmation und Positivismus zeigt sich darin, dass die Rationalitätspotenziale von Kommunikation für Habermas zugleich Rationalitätspotenziale aktualer gesellschaftlicher Kommunikation und gesellschaftlicher Gestaltung qua Kommunikation sind. Wie Sprache ein Medium der Kommunikation ist, so ist Kommunikation ein Medium gesellschaftlicher Gestaltung und vor

schließlich das Verhältnis des im Feuerbach’schen Sinne leidenden und leiden­ schaftlichen Subjektes zur eigenen inneren Natur, zu seiner Subjektivität und zur Subjektivität anderer. Das sind die drei Dimensionen, die in den Blick kommen, wenn man Kommunikationsprozesse aus der Perspektive der Beteiligten analy­ siert.“ (Ebd., S. 185). 63 Habermas, Interview mit der Left Review, S. 252.

48

allem der Formierung und Regenerierung einer von Systemimperativen in Beschlag genommenen Lebenswelt. 64 Die sprachpragmatische Wende wird von Habermas in den Dienst einer kommunikationstheoretischen Wende gestellt, mittels derer eine Transformation der Kritischen Theorie vollzogen wird im Übergang von der instrumentellen Vernunft zur kommunikativen Rationalität - und das heißt: im Bereich der Theorie. Der eigentliche Sinn der sprachpragmati­ schen Wende besteht also für Habermas nicht darin, die Wende selbst mitzuvollziehen, um auf dem philosophisch-paradigmatischen Stand der Zeit zu sein, sondern darin, den Übergang von der Subjekttheorie zur Kommunikationstheorie zu vollziehen, der des Orientierungskosmos der linguistischen Wende bedarf. 65 Der Übergang von der Subjekt- zur Kommunikationstheorie lässt sich jedoch ebenso als Widerschein einer Veränderung der realen Welt in der Theorie deuten, wie Habermas dies ironischerweise philologisch an­ hand von Hegels Kant-Lektüre getan hat. Die Tatsache, dass Habermas nicht mehr unter dem Bann zweier Weltkriege, sondern im Horizont der sich konstituierenden Bundesrepublik philosophiert, hört dann auf, ein kontingentes oder bloß biographisches Faktum zu sein; 66 die historische Lage seines Philosophierens wird dann zu einem indikatorischen Merkmal 64 Diese Leistung wird in institutionalisierten Diskursen vollzogen: „Rationalisierte Lebenswelten verfügen mit der Institutionalisierung von Diskursen über einen ei­ genen Mechanismus der Erzeugung neuer Bindungen und normativen Arrange­ ments. In der Sphäre der Lebenswelt verstopft ,Rationalisierung‘ nicht die Quellen der Solidarität, sondern erschließt neue, wenn die alten versiegen. Diese Produk­ tivkraft Kommunikation ist auch für die Herausforderungen ,reflexiver Moderni­ sierung4von Bedeutung.“ (Habermas, Konzeptionen der Moderne, S. 201). 65 Habermas zufolge hat Hegel bereits an der Grenze zur kommunikationstheoreti­ schen Überwindung der Subjektphilosophie gestanden, ohne aus dieser auszubre­ chen (vgl. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 42). Das sub­ jektphilosophische Paradigma konnte dadurch noch bei Marx bestimmend bleiben, der nicht fähig gewesen sei, „die tote Arbeit als mediatisierte und gelähmte Intersub­ jektivität zu denken. Sie bleibt eine Variante der Subjektphilosophie, die die Ver­ nunft zwar nicht in der Reflexion des erkennenden, aber doch in der Zweckrationa­ lität des handelnden Subjekts ansiedelt.“ (Ebd., S. 82) Das prinzipiell gleiche Ar­ gument führt Habermas auch gegen den Hegelmarxismus Lukacs’ und Adornos/Horkheimers ins Feld (vgl. ebd., S. 84ff.). 66 Sloterdijk gesteht Habermas zu, dass er „den overkill-Aspekt in der Gesellschafts­ kritik der älteren Kritischen Theorie und im Neomarxismus abzufangen versucht und ganz auf die Westintegration der Vernunft gesetzt“ (Peter Sloterdijk; HansJürgen Heinrichs: Die Sonne und der Tod. Dialogische Untersuchungen. Frankfurt a.M. 2001, S. 64) habe. Dieses Integrationsbestreben enthebt Habermas enger bio­ graphischer Zusammenhänge, die sich erschöpfend psychologisieren ließen, macht ihn aber gleichwohl zum „Theoretiker der Reedukation“ (ebd.), die sich dort über­ lebt hat, wo die ältere Massendemokratie auf die neuen Realitäten der multikultu­ rellen Massengesellschaft trifft.

49

eines „Zeitgeistes“ und das Konzept kommunikativer Rationalität erhält selbst Symptomwert, wie im Folgenden im Anschluss an Panajotis Kondylis gezeigt werden soll. Der Übergang zur kommunikativen Rationalität als Widerschein des Übergangs zur sozialdemokratisierten Massengesellschaft Die deutsche Nachkriegszeit lässt sich soziologisch kennzeichnen durch einen Übergang, der zugleich eine Fortsetzung ist: nämlich durch den Übergang zur sozialdemokratischen Massengesellschaft, welche die domes­ tizierte Variante einer bereits in die Weimarer Republik zurückreichenden Grundform ist, welche im Nationalsozialismus ihre prinzipiell vorhande­ ne barbarische Potenzialität realisiert hatte. Die Massengesellschaft ist bereits der älteren Kritischen Theorie bes­ tens bekannt, die Kulturindustrie einer ihrer in Adornos und Horkheimers Augen geistlosen und geistfeindlichen Auswüchse und die Dialektik der Aufklärung das beredte Dokument ihrer Aversion gegen die Kulturin­ dustrie. Als zeitdiagnostisch relevantes Problem verschwindet sie aller­ dings bei Habermas, der sie nur noch im Modus der Erinnerung an die „sowjetrussische Verkehrung des humanen Gehalts des revolutionären Sozialismus, das Scheitern der sozialrevolutionären Arbeiterbewegung in allen Industriegesellschaften und die sozialintegrativen Leistungen einer in die kulturelle Reproduktion eindringenden Rationalisierung“ 67 und als solche als die „Grunderfahrungen, die Horkheimer und Adorno Anfang der 40er Jahre theoretisch zu verarbeiten suchten “ , 68 benennt. Das Prob­ lem der Massenkultur verkürzt Habermas allerdings zu einem Problem des Einflusses der Massenmedien auf die Bewusstseinsbildung der Mas­ sen, die hier allerdings als die Summe jeweils Einzelner gedacht werden: „Die Theorie der Massenkultur bezieht sich auf die weniger spektakulären Erscheinungen einer sozialen Integration des Bewußtseins über die Mas­ senmedien. " 69 Laut Habermas assimiliere eine solche Analyse „die neuen Massenkommunikationsmittel an das Medium des Tauschwertes, obwohl die strukturellen Ähnlichkeiten nicht weit genug reichen“ , 70 was sich wie­ derum aus der Unfähigkeit der Massenmedien erkläre, „die Handlungsori­ entierungen von lebensweltlichen Kontexten überhaupt abzukoppeln “ . 71 Zudem „bleiben die Massenmedien auf sprachliche Verständigung ange­ wiesen“ , 72 und indem sie qua Verständigung an die Rationalitätspotenziale 67 68 69 70 71 72

50

Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 1, S. 490. Ebd. Ebd., S. 495. Ebd., S. 497. Ebd. Ebd.

der Lebenswelt als der Ressource kommunikativer Rationalität angebun­ den sind, lassen ihre detrimentalen Effekte sich kommunikativ kanalisie­ ren und begrenzen. Die kommunikative Rationalität bricht in Habermas‘ Augen den Einfluss der Massenmedien auf die Massen, die in Habermas‘ Sicht eher Zuschauermassen als politische Massen mit physischer Präsenz sind; die Abschwächung dieser Differenz verläuft über die Behauptung eines internen Zusammenhangs von Kommunikation und Politik - ein in­ terner Zusammenhang, der das Politische um die agonale Dimension be­ reinigt, die Hannah Arendt, in Sachen Massengesellschaft und hellsichtiger als Habermas, stets im Auge hatte. Das Paradigma der Kommunikationstheorie ist als Paradigma zu­ gleich ein Symptom, das davon kündet, dass in einer Theorie des kommu­ nikativen Handelns zur Zeit der re-education eine Massengesellschaft auf­ hört, ihrer selbst als eine solche ansichtig zu sein, und, wie Panajotis Kondylis herausstellt, „,Kommunikation‘ zum Zentralbegriff massendemo­ kratischer Sozialtheorie“ 73 wird. Diese ohne Namensnennung auf Haber­ mas gemünzte und en passant geäußerte Behauptung Kondylis’ hängt we­ der in der Luft, noch handelt es sich dabei um eine polemische Gelegen­ heitsbehauptung, sondern sie hat ihren Ort innerhalb einer mehrere Wer­ ke umfassenden Theorie der europäischen Neuzeit, die mit dem „Übergang vom bürgerlichen Liberalismus des 19. Jahrhunderts zur mo­ dernen Massendemokratie“ 74 und deren Planetarisierung ihren Todesritt vollzogen habe. 75 Dieser Übergang überdauert als Konstante die Weima­ rer Republik, den Nationalsozialismus und die Nachkriegszeit bis in die Gegenwart hinein mit der entscheidenden Pointe, dass die planetarische Politik „seit 1917 durch das Auftreten von großen Nationen gekenn­ zeichnet [ist], die einen Sozialentwurf auf Weltebene durchsetzen wollen und den Dichtegrad planetarischer Politik gerade durch die enge Verbin­ dung von Sozialem und Planetarischem miteinander“ 76 erhöht haben, bis

73 Panajotis Kondylis: Das Politische im 20. Jahrhundert. Von den Utopien zur Glo­ balisierung. Heidelberg 2001, S. 181. 74 Ebd., S. 17. 75 „An sich beweist jene Verflechtung, die durch die Triebkraft der Motoren der mas­ senhaft produzierenden und massenhaft konsumierenden Massendemokratie ihre größte Dichte erreicht, daß die Neuzeit zu Ende ist, da sie ein spezifisch europäi­ sches Phänomen war —und mit ihr ist auch die bürgerlich-liberale Kultur zu Ende, die dem Zeitalter von der Renaissance bis zum 20. Jahrhundert ihren Stempel auf­ drückte. Trotz propagandistischer Schönrednerei und ideologischer Selbsttäu­ schung überflutet heute der Westen die restliche Welt nicht mit dieser Kultur, son­ dern mit dem massendemokratischen Technizismus und Ökonomismus einerseits und mit der hedonistischen Massenkultur des Kitsches andererseits.“ (Kondylis, Das Politische im 20. Jahrhundert, S. 36f.). 76 Ebd., S. 25.

51

nach dem Kalten Krieg die Massendemokratie US-amerikanischen Ty­ pus ’ 77 als die „erste Gesellschaftsformation in der bisherigen Geschichte mit echt planetarischem Anspruch “ 78 sich ihrem Anspruch gemäß durch­ zusetzen vermocht hat. Die Erhöhung des Dichtegrads planetarischer Politik nach dem Ende des Kalten Krieges, die Kondylis anspricht, hat genau die deutsche Son­ dersituation der re-education eingeebnet, welche Habermas‘ Philosophie in ihrer Formierungszeit plausibel erscheinen ließ. Aber auch in ihrer Formungszeit war die Theorie des kommunikativen Handelns ein Trans­ formationsversuch innerhalb der Kritischen Theorie, welcher diese ihres kritischen Kompasses beraubt hat, indem die reale Problematik der Ver­ dinglichung, die das Zentrum der frühesten philosophischen Reflexion der Massengesellschaft, nämlich der Marx’schen Philosophie, bildet, in der Unmöglichkeit der Eliminierung sämtlicher Rationalitätsressourcen auf abstrakt-fundamentalistische Weise aufgelöst wird. Dass eine totale Verdinglichung auf der Ebene der Rationalitätstheorie aporetisch erschei­ nen muss, nimmt der realen Gefahr einer in pathologischem Ausmaß ex­ zessiv um sich greifenden Verdinglichung nicht ihre Bedrohlichkeit. Den Widerschein der Realität in der Theoriebildung der älteren Kritischen Theorie versucht Habermas allerdings dadurch loszuwerden, dass er theo­ retische Fallstricke in der Theoriebildung angreift, welche lediglich deren Architektonik betreffen. Dieser scholastische Versuch, die ältere Kritische Theorie zu delegitimieren, wird als Übergang von der Subjektphilosophie zur Kommunikationstheorie durchgeführt - ein Übergang, der eine Kon­ tinuität überblendet, die nicht übergangen werden kann, zugleich aber notwendig ist, um eine egalitaristische Kulturpolitik intellektuell zu un­ termauern, welche einer Theorie bedarf, die das „Vorhandensein von ur­ sprünglich unabhängigen, gleichberechtigten und gleichwertigen Indivi­ duen“ 79 gar nicht erst behaupten muss, weil sie es in ihren theoretischen Ansatz aufnimmt. Im Lichte der Ausführungen von Kondylis zur europäischen Neuzeit ist zunächst zu erwähnen, dass Habermas, obwohl er meist verkürzt von „der Subjektphilosophie“ spricht, in Der philosophische Diskurs der Mo­ derne auch von der „neuzeitlichen Subjektphilosophie “ 80 spricht. Kurz ge­ 77 Dieser US-amerikanische Typus ist daher der planetarische Typus schlechthin und keine Exzeptionalität, sondern das role model weitgehend kulturindifferenter mas­ sendemokratischer Angleichungsprozesse: „Die ,Rechten‘ wollen nicht wahrhaben, daß das, was sie ,Amerikanisierung‘ nennen, kein Import und kein Oktroi, sondern die normale Lebensweise der modernen Massendemokratie ist, ob man sie mag oder nicht.“ (Ebd., S. 100). 78 Ebd., S. 112. 79 Panajotis Kondylis: Das Politische und der Mensch. Grundzüge der Sozialontolo­ gie. Berlin 1999, S. 5. 80 Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 69, Fußnote 4.

52

fasst, fällt unter den Namen bzw., bei Habermas, unter das Verdikt der Subjektphilosophie eine jede Philosophie, welche die Subjekt-Objekt­ Relation als Ausgangspunkt oder wenigstens Referenzrahmen einer Theo­ rie der Erkenntnis als verbindlich anerkennt. Der locus classicus der Sub­ jektphilosophie ist die Erkenntnistheorie, doch Habermas verfolgt die Spur der „dichotomisierenden Grundbegriffe der Subjektphilosophie“ 81 auch bis in die Geschichtsphilosophie oder politische Theorie hinein. Die angesprochenen Dichotomien ergeben sich nicht in bestimmten Varianten der Subjektphilosophie kontingenterweise, sondern die Subjektphiloso­ phie ist als solche grundsätzlich in ihren Dichotomien eingesperrt und daher ein Gefängnis ohne Ausweg: „Das subjektphilosophisch gebundene Denken kann diese Dichotomien nicht überbrücken, sondern schwankt, wie Foucault scharfsichtig diagnostiziert hat, hilflos von einem Pol zum anderen.“ 82 Dieser Einwand ist strukturell-formalistischer Natur und übersieht Entscheidendes, z.B. dass das „Mehr an Subjekt“,83 von dem Adorno in der Negativen Dialektik in normativ-teleologischer Absicht spricht, Habermas’ „unversehrte Intersubjektivität“,84 in der Adornos In­ tention erst, wie Habermas suggeriert, zu sich selbst komme,85 ein­ schließt, aber eben nicht mehr als dies tut: sie als Moment einzuschließen, ohne in ihr teleologisch aufzugehen. Denn was im Rahmen der sogenann­ ten Subjektphilosophie denkbar bleibt und im eliminativen Egalitarismus86 der Kommunikationstheorie zum Verschwinden gebracht wird, ist die Idee einer substanziellen Subjektivität und damit die Idee einer substanzi­ ellen Differenz zwischen einer solchen und einer entleerten, in ihrer Selbstverfehlung nur scheinhaft erscheinenden Subjektivität, welche als Mal von Verstümmelung an eine „unversehrte Intersubjektivität“ ohnehin nicht mehr zu denken erlaubt. Die substanzielle Differenz ermöglicht überhaupt erst die Identität der Person, welche sich von Anderem/Anderen unterscheiden und in sich selbst von Anderem als ihrem Anderen innerhalb der konstitutiven Verwobenheit mit diesem unter­ scheiden kann. Habermas’ Kritik an der vermeintlichen Intersubjektivi­ tätsblindheit der sogenannten Subjektphilosophie suggeriert, dass jemand nur das sehe, worauf er zeige. Mithilfe dieses Gestus kann man den eige-8123456

81 Ebd., S. 369. 82 Ebd. 83 Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 6. Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit. 5. Aufl. Frankfurt a.M. 1996, S. 7— 412, hier S. 50. 84 Habermas, Interview mit der Left Review, S. 221. 85 Vgl. ebd. 86 Dieser ist zu unterscheiden von dem juridischen Egalitarismus, dem es um die Gleichberechtigung geht.

53

nen Fixpunkt, der nicht explizites Thema anderer Denker ist, diesen stän­ dig als ihren blinden Fleck vorhalten und Begriffe vermarkten . 878 Für den Übergang von der Subjekt- zur Kommunikationstheorie be­ darf Habermas der Sprache als Medium der Drittheit, von der her die In­ tersubjektivität als die primäre Relation zwischen Personen sich konstitu­ iert. Der Kernbegriff dieser Konstitutionstheorie, die auf die Individuie­ rung durch Vergesellschaftung setzt, ist der Begriff der Dezentrierung, welcher es ermöglicht, Subjekte in der theoriearchitektonisch adäquat zu berücksichtigenden Abhängigkeit von der kommunikativen Rationalität bzw. von den Rationalitätspotenzialen von Sprache und Lebenswelt in ih­ rem Verhältnis zueinander und zu sich selbst zu fokussieren: Wenn wir in dieser Weise Piagets Begriff der Dezentrierung als Leitfaden benützen, um den internen Zusammenhang zwischen den Strukturen eines Weltbildes, der Lebenswelt als dem Kontext von Verständigungsprozessen und den Möglichkeiten rationaler Lebensführung aufzuklären, stoßen wir wiederum auf den Begriff kommunikativer Rationalität.89

Die Dezentrierung bildet jedoch nicht nur die funktionale Atomisierung der Individuen in der Massendemokratie theoretisch ab, sie legitimiert sich zugleich aus der profanen methexis an der Sprache im Sprechen, dem keiner als einer sozialen Notwendigkeit entkommen kann. Mit ihr wird überdies ein von Kondylis zur Sprache gebrachter Zusammenhang aufgege­ ben, den die Subjektphilosophie geistesgeschichtlich gestiftet hat und in­ nerhalb dessen sie zum Träger der philosophischen Moderne geworden ist: Die allgemeine geistesgeschichtliche Inkompetenz der Theorie des kom­ munikativen Handelns schlägt sich in ihrer Unfähigkeit nieder, den eige­ nen geistesgeschichtlichen Standort zu bestimmen. Vom ursprünglichen

87 Auf derselben Verfahrungsweise basieren Honneths Reduktionismus-Vorwürfe gegenüber Adorno, in denen verkannt wird, dass es sich bei den vermeintlichen Reduktionismen allenfalls um Essentialismen handelt, um Entscheidungen also, die auf einem Sehen und Gewichten basieren statt auf Blindheit. Honneths Behaup­ tung, dass das Werk Adornos und Horkheimers „in den vierziger Jahren von einer Geschichtsphilosophie bestimmt [ist], die den historischen Prozeß, auf die eine Dimension der Naturverarbeitung hin“ (Axel Honneth: Kritische Theorie. Vom Zentrum zur Peripherie einer Denktradition. In: Ders.: Die zerrissene Welt des Sozialen. Frankfurt a.M. 1990, S. 25—72, hier S. 43) verkürze, ist überdies auch dadurch falsch, dass bereits in der Dialektik der Aufklärung die Logik der Versa­ gung aus dem Kulturindustrie-Kapitel und die Logik der Projektion aus dem Anti­ semitismus-Kapitel sich nicht auf den selben theoretischen Nenner bringen lassen wie das erste Kapitel des Buches, auf welches Honneths Einwand sich der Sache nach allenfalls beziehen lässt. 88 Vgl. Habermas, Individuierung durch Vergesellschaftung. 89 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 1, S. 110.

54

,internen Zusammenhang‘ zwischen der Subjektphilosophie und dem Ver­ nunft- bzw. Rationalitätsbegriff weiß sie, sie will aber nicht wissen, daß die Loslösung von der ersteren eine Verteidigung der aufklärerischen Moderne gegen den postmodernen Angriff auf Vernunft und Rationalität aussichts­ los macht.90

Kondylis deutet hier mit guten Gründen an, dass Theorien, die mit gro­ ßen Verabschiedungsgesten auftreten, wie im Fall von Habermas, nicht selten den Ast absägen, auf dem sie sitzen. Der historisch bedingte und gesellschaftlich sanktionierte Wille zum Neuanfang führt bei Habermas zur Denunziation philosophischer Tradition im Dienste eines akademisch zu etablierenden Paradigmas, das sich gegenüber der Realität, zu deren Er­ klärung es beitragen soll, in mindestens vierfacher Weise verselbständigt: 1. Das bloße und insofern triviale Faktum des Sprechens und der Sinnstrukturen von Sprache wird in ein sprachlich-lebensweltliches Ratio­ nalitätspotenzial umgedeutet, das gar nicht mehr real aufgewiesen werden muss, weil es formalistisch und apodiktisch zu einem unumstößlichen Immer-schon erhoben wird, dessen Existenz in der Faktizität der Sprache unaufhebbar verkörpert ist. Die Vernunft, die gerettet werden soll, wird auf eine Art und Weise gerettet, welche den Rettungsversuch selbst eher als Beleg der Unrettbarkeit der Vernunft erscheinen lässt. 2. Der sprachpragmatische Formalismus der Theorie des kommuni­ kativen Handelns macht diese gleichermaßen unempfindlich gegenüber den Pathologien der real existierenden Gesellschaft. Aus der Masse, wel­ che das Substrat der Massendemokratie bildet, wird eine Masse Kommu­ nizierender, die als solche eine Nobilitierung in einer Theorie erfahren, welche sich über die abgründige Primitivität der realen gesellschaftlichen Kommunikation hinwegsetzt.9 1 Pathologien werden als schädliche Ein­ flüsse des Systems bzw. verselbständigter Subsysteme auf die Strukturen der Lebenswelt konzipiert, während die Möglichkeit, dass die Lebenswelt Pathologien potenzieren kann ,92 indem sie detrimentale System-Effekte 90 Kondylis, Das Politische und der Mensch, S. 67. 91 Diese Bemerkung soll ausdrücklich nicht als kulturkritisches Geraune verstanden werden, weil mit dem Ausdruck schlicht der modus operandi kommunikativer In­ klusion benannt wird. Eine andere, nicht abgründig primitive Kommunikation, würde vom modus operandi her eine Exklusion der „Kommunikationsteilnehmer“ darstellen, die den Kommunikationsprozess überhaupt erst hervorbringen. Wenn man also universalpragmatisch ansetzen wollte, wäre es ratsamer, von funktionalen Potenzialen der Kommunikation als von Rationalitätspotenzialen zu sprechen. Die meiste Kommunikation ist keine vernünftige Kommunikation oder Vernünftigkeit als Ziel zu ihrem Gesetz habende Kommunikation, sondern Teil der primär (eher schlecht als recht gelungenen) funktionalen Reproduktion der Lebenswelt. 92 Habermas selbst spricht von „strukturellen Selbstgefährdungen“, welche der gesell­ schaftlichen Entwicklung der Moderne inhärieren: „Ich sehe durchaus, daß in die gesellschaftliche und ökonomische Entwicklung der Moderne strukturelle Selbst-

55

gefährdungen eingebaut sind, die aber sowohl von den Neokonservativen wie von den Poststrukturalisten vereinseitigt wahrgenommen werden. Es kommt darauf an, die Komplexität und Amivalenz des ganzen Prozesses zu sehen und auszuhalten.“ (Jürgen Habermas: Über Moral, Recht, zivilen Ungehorsam und Moderne. In: Ders.: Eine Art Schadensabwicklung. Frankfurt a.M. 1987, S. 64—70, hier S. 67) — Wo von „Komplexität“ die Rede ist, empfiehlt sich skeptische Aufmerksamkeit, dient diese Vokabel doch oft der Verschleierung möglicher unbequemer Strategien zur Problemlösung oder wenigstens der Problembegegnung, um die Dinge am Lau­ fen zu halten und das eigene Gewissen nicht damit belasten zu müssen, dass „die Moderne“ womöglich einer (sei es ökonomischen, sei es gesellschaftlichen bzw. politischen) Modifikation bedarf, die sie mit ihrer ideologischen Verfasstheit in schwerwiegende Konflikte bringt. Wenn in die Moderne „strukturelle Selbstge­ fährdungen“ eingebaut sind, wäre nichts mehr angebracht als strukturelle Reaktio­ nen darauf bzw. entsprechende strukturell korrektive Implementierungen. Der schlafmützige Pseudo-Heroismus des „Aushaltens“ struktureller Selbstgefährdun­ gen zeugt eher davon, der ständig beschworenen Komplexität kognitiv nicht adä­ quat begegnen zu können als ihm gewachsen zu sein. Eine strukturelle Selbstge­ fährdung der Moderne, die sich im Aushalten übt in der trübsinnigen Hoffnung, es werde schon alles gut werden, lässt sich in der Lektüre von Bassam Tibis Die Krise des Islams studieren. Die strukturelle Selbstgefährdung lässt sich hier konkret an der normativ synthetischen, faktisch aber antagonistischen Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem studieren, das die Verschmelzung, von der die Liebhaber der kommunikativen Vernunft träumen, nicht eingegangen ist und nach derzeitigem Stand auch —mit welchen Folgen auch immer —nicht in einer Weise eingehen wird, die als Aufhebung einer strukturellen Selbstgefährdung angesehen werden kann. Tibi benennt den unschlichtbaren Widerspruch zwischen der islamischen Moral und der das normative Repertoire des Westens repräsentierenden Kommunikation­ sethik im expliziten Rekurs auf Habermas, dessen Rezept gegen unaufhebbaren Dissens nur „Noch mehr Kommunikation!“ lauten kann: „Die Moralbegriffe der Moderne, die —wie Habermas ausführt —auf die Anerkennung der subjektiven Freiheit der Individuen zugeschnitten sind, stehen als kulturelle Normen in einem diametralen Widerspruch zum überlieferten islamischen theozentrischen Weltbild und zur islamischen Bestimmung des Menschen als einem ,Geschöpf (makhluq) Gottes4, das dem göttlichen Willen grenzenlos unterworfen ist und somit über kei­ ne subjektive Freiheit verfügen kann.“ (Bassam Tibi: Die Krise des Islams. Eine vo­ rindustrielle Kultur im wissenschaftlich-technischen Zeitalter. Frankfurt a.M. 1991, S. 216) Tibis Verteidigung der kulturellen Moderne schließt übrigens die Verteidi­ gung einer substanziellen Subjektivität anders als bei Habermas explizit ein: „Mei­ ne Kritik schließt jedoch die vehemente Verteidigung des Prinzips der Subjektivität der kulturellen Moderne ein, die durch ihre Traditionskritik das Reflexiv-Werden des Religiösen ermöglichte.“ (Ebd., S. 8) Anders als Habermas und durchaus auf der Linie der erwähnten Kritik Kondylis4 sieht Tibi, dass das Reflexivwerden eine Leistung der Moderne selbst ist, die keiner Vertiefung durch eine Theorie des kommunikativen Handelns bedarf. Kondylis wiederum zeigt auf, dass Habermas4 Unterscheidung zwischen strategischem und kommunikativem Handeln eine nor­ mative Dichotomie darstellt, die strategisches Handeln im politischen Bereich limi­ tiert, weil andernfalls klar zutage treten würde, in welcher Weise Habermas die Freund-Feind-Unterscheidung verdeckt in den Dienst des Guten gestellt hat: „Wer die Dichotomie ,strategisch-kommunikatives Handeln4 zugrundelegt, hat im Grunde die Dichotomie ,Feindschaft-Freundschaft‘ unterschrieben.“ (Kondylis,

56

innerhalb ihrer selbst prolongiert oder eigene Fatalitäten auf sich selbst heraus produziert, nicht ernsthaft erwogen wird. 3. Wie sehr hier eine Verselbständigung der Theorie gegenüber der Realität stattfindet, zeigt sich eindrucksvoll darin, dass Habermas selbst, wo er einen theoretischen Anker für die Erklärung sozialgeschichtlicher Veränderungen sucht, sich auf das kollektive Handeln sozialer Bewegun­ gen statt auf das kommunikative Handeln bezieht, so z.B., wenn er sagt, dass im nach-revolutionären Europa des 19. und 20. Jahrhunderts „die lange nachwirkenden Klassenunterschiede von den Betroffenen als ein Schicksal erfahren worden [sind], das nur durch kollektives Handeln ab­ gewendet werden konnte“ . 93 4. Gegenüber der Philosophiegeschichte verselbständigt sich Haber­ mas’ Kritik der Subjektphilosophie, weil sie ein jegliches Denken, das sei­ ner Kommunikationstheorie vorausgeht, als in deren Aporien verfangen begreift, ohne die Frage überhaupt stellen zu können, ob eine Anreiche­ rung der Subjektivitätstheorie durch eine intersubjektiv orientierte geneti­ sche Theorie der Subjektivität wirklich zu deren Verabschiedung führen muss. Die Frage danach, inwieweit das sogenannte subjektphilosophische Denken, etwa in Gestalt der Traditionslinie der Verdinglichungskritik, sich realen Sachverhalten zu stellen vermag, die in der Theorie des kom­ munikativen Handelns formalpragmatisch entschärft werden, stellt sich darüber hinaus nicht mehr, weil das Konzept der kommunikativen Ratio­ nalität eine unangreifbare Vorentscheidung enthält. Die linguistische Wende wird mit einem evolutionistischen Gestus adaptiert und einer Kommunikationstheorie dienstbar gemacht, die selbst wiederum die traditionalen Gehalte verwirft, derer sie bedarf, um ein Projekt der Moderne sinnvoll, d.h. unter den Vorzeichen von Substanzialität und nicht bloß sprachpragmatisch-formalistisch formulieren zu können. Im Übergang zur Moderne, den Habermas bei Kant erstmals symptomatologisch seinen philosophischen Widerschein finden sieht, findet eine Depotenzierung von Subjektivität in der Zersplitterung in Vernunftarten statt, die Haber­ mas in seiner „Überwindung“ der Subjektphilosophie zu Ende führt mit dem Problem, dass die Subjektphilosophie als das Paradigma fungiert, Das Politische und der Mensch, S. 411) Die Dichotomie von strategischem und kommunikativem Handeln ist selbst theoriestrategischer Art und ermöglicht die Benennung des Feindes, der dann ein Feind der kommunikativen Vernunft selbst sein soll. Habermas‘ strategische Hellsichtigkeit in der Feindschaft gegenüber dem strategischen Handeln hat auch Sloterdijk, wenn auch einem anderen Anlass ge­ schuldet, zu einem interessanten Kommentar verleitet: „Auf der strategischen Ebene denkt er [Habermas, S.E.] konsequenter als irgendwer sonst in Freund­ Feind-Kategorien. Carl Schmitt steht ihm viel näher als Karl Barth“ (Sloterdijk / Heinrichs, Die Sonne und der Tod, S. 66). 93 Jürgen Habermas: Der 15. Februar —oder: Was die Europäer verbindet. In: Ders.: Der gespaltene Westen. Frankfurt a.M. 2004, S. 43-51, hier S. 50.

57

welches als solches von Descartes bis zur linguistischen Wende im 20. Jahrhundert intakt geblieben ist, obwohl das Organon dieses Paradig­ mas, das vernünftige Subjekt, sukzessive zerfallen ist. In der vermeintli­ chen Überlegenheit der Kommunikationstheorie gegenüber der Sub­ jektphilosophie werden jedoch die moderne und die vormoderne Sub­ jektphilosophie, in welcher noch keine Krise der Vernunft bzw. der Subjektivität eingetreten ist, gleichermaßen verworfen aus Gründen, die sich gerade nicht als einer immanenten Kritik entwachsen bezeichnen las­ sen. Der symptomatologische Aufweis des Übergangs zu Moderne, in dem Kant mit Hegel und Hegel wiederum mit Max Weber gelesen wird, wobei die Depotenzierung des Subjekts den abstrakten gemeinsamen Nenner bildet, verdeckt die Kontinuität zwischen Moderne und Vormo­ derne, die sich Habermas zufolge gerade im subjektphilosophischen An­ satz zeigt. Zudem soll das Projekt der Moderne gerade durch eine Kom­ munikationstheorie gerettet werden, welche die substanzielle Subjektivität und Vernunft verabschiedet und damit beerdigt statt zu retten, was im Übergang der Moderne in die Krise geraten ist. Die Kommunikationsthe­ orie leistet eine Euthanasie des Subjekts, von welcher sie sich eine Heilung derjenigen Vernunft verspricht, die geistesgeschichtlich gerade an das Subjekt gebunden war, das sie loswerden will. Es ist prinzipiell möglich, so zu verfahren, aber dann sollte man nicht an einer Moderne festzuhalten beanspruchen, deren Identität gerade auf der Verwobenheit dessen ba­ siert, was bei Habermas voneinander losgelöst werden soll. Bei Habermas laufen die Wenden und die Übergänge in einer Art und Weise durcheinander, überlagern und durchkreuzen sich, dass hier auf Kondylis’ summarisches Urteil über Habermas’ Philosophie zurück­ zukommen ist: „Die Theorie des kommunikativen Handelns ist ein locke­ res und heterogenes Gebilde, dessen Hauptkomponenten weder logisch noch inhaltlich oder geistesgeschichtlich zusammengehören . “ 94 Habermas versucht den Vernunftbegriff mittels einer Konzeption zu retten, welche allerdings selbst einem Übergang zum Opfer fällt, den sie zugleich ver­ schleiert: den Übergang zur Massendemokratie, der nicht in die Formie­ rungszeit der Theorie des kommunikativen Handelns fällt, sondern be­ reits Gegenstand der Traditionslinie kritischer Gesellschaftstheorie von Marx bis Adorno/Horkheimer war, in der neueren Kritischen Theorie aber in unauflöslichen sprachlich-lebensweltlichen „Rationalitätspotenzia­ len“ mit seinem Katastrophenpotenzial seine Sichtbarkeit verloren hat. Kondylis hat sich als wesentlich klarsichtiger als Habermas erwiesen, was die entscheidenden geistes- und sozialgeschichtlichen Übergänge an­ geht. Der einzige von vielen Aspekten, auf die hier eingegangen werden konnte, bildet der Übergang vom Liberalismus zur Massendemokratie

94 Kondylis, Das Politische und der Mensch, S. 408.

58

und die Maximierung ihres planetarischen Dichtegrads nach dem Ende des Kalten Krieges. Nicht eine Weiterentwicklung der Kommunikations­ theorie wäre heute in Angriff zu nehmen, sondern eine (bei Kondylis nur als Desiderat angedeutete) Theorie der planetarischen Massendemokra­ tie, 95 deren Sorge nicht darin besteht, akademische Wenden mitzuvollzie­ hen, sondern in der Frage nach den Konstitutionsbedingungen und der Dynamik der Massendemokratie und ihren geistesgeschichtlich-philoso­ phischen Hintergründen und Konsequenzen. Dabei müsste vor allem der Übergang vom Liberalismus zur Massengesellschaft und der Übergang qua Transformation, in welcher die Massendemokratie seit dem Kalten Krieg sich nach wie vor befindet, ins Zentrum der Analyse gerückt wer­ den; dass die kommunikationstheoretische Wende hier eine helfende Hand der Analyse darstellen könnte, darf, da sie verklärt und verschleiert, was sie de-legitimiert, bezweifelt werden.

95 Der Herausforderung, die Kondylis markiert, hat die Philosophie sich bis dato nicht gestellt, sieht man einmal von Peter Furth ab, vgl. Peter Furth: Massendemo­ kratie. Über den historischen Kompromiß zwischen Liberalismus und Sozialismus als Herrschaftsform. Vier Aufsätze. Berlin: Landt 2015.

59

Thomas Ebke

Notizen zu einer Metaphysik der Differenz

I. Das Problem Die Schlusseinstellung der Hegelschen Wissenschaft der Logik (1816) stellt auch noch zweihundert Jahre nach Erscheinen dieses monumentalen Bu­ ches - nach zweihundert Jahren ungebrochen obsessiver Hegel-Lektüre und -rezeption also - ein Enigma dar: Indem die Idee sich nämlich als absolute Einheit des reinen Begriffs und seiner Realität setzt, somit in die Unmittelbarkeit des Seins zusammen­ nimmt, so ist sie als die T otalität in dieser Form - N atu r. (...) Die reine Idee, in welcher die Bestimmtheit oder Realität des Begriffes selbst zum Begriffe erhoben ist, ist vielmehr absolute Befreiung, für welche keine un­ mittelbare Bestimmung mehr ist, die nicht ebenso gesetzt und der Begriff ist; in dieser Freiheit findet daher kein Übergang statt; das einfache Sein, zu dem sich die Idee bestimmt, bleibt ihr vollkommen durchsichtig und ist der in seiner Bestimmung bei sich selbst bleibende Begriff. Das Übergehen ist also hier vielmehr so zu fassen, dass die Idee sich selbst fre i entlässt, ih­ rer absolut sicher und in sich ruhend. (...) Dieser nächste Entschluss der reinen Idee, sich als äußerliche Idee zu bestimmen, setzt sich aber damit nur die Vermittlung, aus welcher sich der Begriff als freie, aus der Äußer­ lichkeit in sich gegangene Existenz emporhebt, in der Wissenschaft des Geistes seine Befreiung durch sich vollendet und den höchsten Begriff sei­ ner selbst in der logischen Wissenschaft als dem sich begreifenden Begriffe findet.1

Wie ist der „Übergang zur Realphilosophie“ , 12 der auf den letzten Seiten der „Begriffslogik“, die ja von Hegel, paradox genug, als subjektive Logik adressiert wird, zweifellos seinen Lauf nimmt, im Detail zu denken? Wel­ che spekulative Struktur ist dieser letzten und darin singulären Bewegung eingezeichnet, die, sofern sie das System der Wissenschaft der Logik im Ganzen perfektioniert, einen irreduziblen Rest bewahrt gegenüber jenem in sich vermittelten logischen „Gang von Bestimmtheit zu Bestimmt­

1 2

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik II. Werke in zwanzig Bänden. Bd 6. Frankfurt a.M. 1986, S. 573. Walter Jaeschke: Hegel-Handbuch. Leben-Werk-Wirkung. Stuttgart 2003, S. 252.

61

heit“ , 3 durch den hindurch sich das „System der Totalität " 4 allererst kon­ stituiert? 5 Die Pointe der „Begriffslogik“, so erklärt es uns die Forschung traditionell, hängt an einer Dopplung, die es scharf zu markieren gilt: Auf der einen Seite ist sie das Projekt und der Zusammenhang, in dem die ei­ gentümlich substantiale Unmittelbarkeit, die sich exakt dort restituiert, wo sich „das Seyn selbst“ gerade als reines „Konstituiertsein “ , 6 als intern durchgängig reflexive Totalität von Denkbestimmungen ausweist („We­ senslogik“), ihrerseits einer Bewegung der Bestimmung ausgesetzt wird. 7 Andererseits jedoch nimmt sich „das sich ausbreitende Außer-sich-Gehen der absoluten Idee “ , 8 das sich als die Wahrheit der selbstbezüglichen N e­ gativität, als die in dieser voll ausdifferenzierten Negativität zu sich kom­ mende Identität erweist, zugleich als ein rekursiver Prozess aus: Als „Rückgang in den Anfang “ 9 und Wiedereinholung des eigenen Ursprungs dergestalt, dass am Ende die nicht weiter überbietbare, vollständig gewor­ dene (gesetzte) Negativität aller Denkbestimmungen von der Restitution der Einheit und Unmittelbarkeit des Ganzen (in) dieser Negativität unun­ terscheidbar wird. Am Ende der Wissenschaft der Logik laufen mithin die reine Exteriorität der untereinander restlos vermittelten logischen Struk­ turen und die Immanenz der absoluten Idee unendlich ineinander: Das Ganze kommt nur so zu sich und in sich zurück, dass es sich in den letz­ ten Konsequenzen des Negativen und in der Durchmessung einer nicht nochmals intensivierbaren Äußerlichkeit wieder selber erreicht. 3

4 5

6 7

8 9

62

Karl-Heinz Volkmann-Schluck: Die Entäußerung der Idee zur Natur. In: Hegel­ Studien Beiheft 1. Heidelberger Hegel-Tage 1962. Vorträge und Dokumente. Bonn 1964, S. 39. Ebd. Siehe Pierre-Jean Labarrière: Die Hegelsche .Wissenschaft der Logik‘ in und aus sich selbst. Strukturen und reflexive Bewegung. In: Dieter Henrich (Hg.): Hegels Wissenschaft der Logik. Formation und Rekonstruktion. Stuttgart 1986, S. 94—196. Christian Iber: Subjektivität, Vernunft und ihre Kritik. Prager Vorlesungen zum Deutschen Idealismus. Frankfurt a.M. 1999, S. 173. Wenn mithin der Übertritt von der Wesens- in die Begriffslogik für Hegel der An­ kunft im eigentlichen „Reich der Subjectivität oder der Freyheit“ gleichkommt, dann deshalb, weil dieser Übergang den unabgegoltenen Rest einer Substantialität internalisiert, die sich eben nicht dem schieren Mangel an reflexionslogischer Ver­ mittlung verdankt (was gerade für die Seinslogik charakteristisch war), sondern im Gegenteil und brisanter Weise den Modus markiert, in dem sich eine Dialektik ent­ faltet, die sämtliche Denkbestimmungen konsistent als reflexive, gesetzte Bestim­ mungen erläutert. In dieser Hinsicht besteht der systematisch wichtige Nachweis, der mit der Überschreitung der Wesenslogik hin zur sie unterfangenden Begriffs­ logik zusammenhängt, darin, die in der Wesenslogik auf die Spitze geführte „Selbstbeziehung der Negativität“ zuletzt als „positive Selbstbeziehung“ einer „an und für sich seyenden Identität“, nämlich der absoluten Idee explizieren zu können. Siehe ebd., S. 174 bzw. Hegel, Wissenschaft der Logik II, a.a.O., S. 251. Volkmann-Schluck, Die Entäußerung der Idee zur Natur, a.a.O., S. 39. Ebd.

Am Ende der „Wesenslogik“ hatte sich noch ein Residuum an Un­ mittelbarkeit manifestiert, das der Konzeption eines substantialen Seins integral zukommt - so sehr auch dieses Sein dort gänzlich in Kategorien der Reflexion erläutert worden war. Wenn sich nun jedoch auch noch in der finalen Wendung der „Begriffslogik“ in dem Maße eine Einfachheit (re-)konstituiert, wie sich die absolute Idee „in die Unmittelbarkeit des Seins zusammennimmt“ , 101 so handelt es sich auf diesem Niveau um eine immediate Einheit, die nicht ihrerseits den Anstoß zu einem Vermitt­ lungsgang geben kann, in dem sich die absolute Identität von Denken und Sein allererst noch zu vollziehen und bestimmen hätte . 1 1 Vielmehr expli­ ziert Hegel, wenn er von der „Subjektivität des Begriffs“ spricht, bereits die Konkretion, die die sich vollkommen transparent gewordene Einheit von Denken und Sein auf der höchsten Stufe ihrer Selbstreflexion mit struktureller Konsequenz annimmt: Und da sich zuletzt, Hegels eigenen Deduktionen zufolge, „die absolute Idee [...] zum Freiesten befreit [...], steht es auch allein bei ihr, ob sie das einfache Sein, in das sie sich zurück­ genommen hat, nur in der Weise des Begriffs, d.h. in der Form der Sub­ jektivität, oder auch in der Weise des Naturseins “ 12 sein soll. Es ist be­ merkenswert, dass sich die Wissenschaft der Logik nicht - wie eine vulgäre Idealismuskritik vorschnell unterstellt - in einer nunmehr enzyklopädisch in sich kreisenden Reflexivität, einem dialektisch in sich selbst gegründe­ ten Gebäude totaler Vermittlung vollendet, das jegliches „Außen“ aus sich ausgeschlossen hätte. Im Gegenteil: Der letzte Zug dieses Projekts fällt in einen freien Entschluss, eine Tat, die nun die Identität und die Differenz zwischen absolutem Begriff und Natur, zwischen Geist-und Realphiloso­ phie, zwischen logischer Immanenz und zeitlicher Exteriorität erneut ebenso aufs Spiel stellt wie ermöglicht. Diese in der Tat unvorwegnehmbare Operation, mit der Hegel die Frage nach dem systematischen Schlussstein der stringent logischen Selbstexplikation des Seins (als reinem Denken) ausgerechnet als einen „freien Entschluss“ öffnet, hat nie aufgehört, die Rezeption und Interpre­ 10 Ebd., S. 41. 11 Man könnte sagen: Eine Anwendung der Begriffslogik auf sich selbst würde die Frage nach dem Ende, d.h. nach dem Modus, den die absolute Identität von Den­ ken und Sein an dem Punkt, an dem sie sich restlos begriffen hat, annehmen muss, zwar verschieben, nicht aber in einer Weise beantworten können, die von Hegels Szenario am Ende der „Begriffslogik“ abweicht. Der Versuch, die am Ende der „Begriffslogik“ realisierte vermittelte Unmittelbarkeit ihrerseits (analog zur be­ griffslogischen „Aufhebung“ des „Wesenslogik“) zu vermitteln, würde sich in ei­ nen infiniten Regress verwickeln. In dieser Perspektive ist in Erinnerung zu rufen, dass Hegel die Dialektik des sich als reines Denken begreifenden Seins nicht als zeitliche Genesis, sondern als überzeitlich-logischen Gang dargelegt hat, dessen Endpunkt es auf seine logische Notwendigkeit hin zu denken gilt. 12 Ebd., S. 41.

63

tation des Hegelschen Ansatzes zu vexieren. Schelling verstand die kryp­ tische Rede von einer „absolute[n] Befreiung“ am Ende des Buches als Indiz einer „Stockung der Bewegung, die bei [Hegel] zwischen der Logik und der Naturphilosophie eintritt“:13 Hegel begehe an diesem Punkt eine aus seinem eigenen System heraus nirgends zu rechtfertigende, für den eliminativen Idealismus seiner „negativen Philosophie“ (der eine „positive Philosophie“ der Wirklichkeit göttlicher Offenbarung entgegen gestellt werden müsse) jedoch allemal kennzeichnende Apostasie. Für Marx hin­ gegen zeigte diese ostentative Entschließung der absoluten Idee zur Natur unverstellt die Wirklichkeitsleere der „sich als Abstraktion erfassende [n] Abstraktion“ 14 auf, die Hegels spekulative Dialektik prinzipiell regiere: Gerade die betont „mystisch“ 15 anmutende Passage in eine neue Philoso­ phie des Realen lasse auffliegen, dass Hegel in entrückten „Abstraktionen von Naturbestimmungen“ 16 denke, weshalb die Logik zuletzt bestenfalls „das Gedankending der Natur aus sich entlasse[...], Natur als Natur“17 je­ doch, „insofern sie sich sinnlich noch unterscheidet von jenem geheimen, in ihr verborgenen Sinn“,18 von Grund auf abblende. Bei aller Verschiedenheit ihrer Prämissen wie ihrer Konsequenzen laufen die heterogenen Blicke auf Hegel, die von Schelling sowie, demge­ genüber, von Marx ausgehen, in einer Feststellung zusammen, die sie bei­ de eint: In seinem buchstäblich letzten Akt, der Selbstunterscheidung der absoluten Idee von sich in und als „Natur“, finde sich Hegels Idealismus auf jenen flagranten Hiatus zurückgeworfen, der die Errichtung des spe­ kulativ-dialektischen Systems überhaupt erst möglich machte. Hegels Re­ de vom Wirklichen und Natürlichen gelte stets nur dem, was, von der Selbstreferenz einer Geiststruktur her gedacht, eine Äußerlichkeit mar­ kiert, deren Aufhebung unweigerlich ist: Eine Philosophie, die sich in ei­ nem parmenideischen coup de forçe dem Denken allein einer solchen „N a­ tur“ annehmen könne, die als ebenso negatives wie internes (und darin „begriffenes“) Moment des Ideellen firmiert. In dieser Hinsicht liest Schelling das voluntaristische Vokabular am Ende der Hegelschen Logik, das sich in Kategorien der „Entscheidung“ und „Entlassung“ bewegt, als 13 Joseph Wilhelm Friedrich Schelling: Philosophie der Offenbarung. Darmstadt 1974, S. 88. Siehe dazu Dieter Wandschneider und Vittorio Hösle: Die Entäußerung der Idee zur Natur und ihre zeitliche Entfaltung als Geist bei Hegel. In: Hegel-Studien. Bd. 18 (1983), S. 174. 14 Karl Marx: Kritik der Hegelschen Dialektik und Philosophie überhaupt. In: Karl Marx; Friedrich Engels. Werke. Bd. 40. Ergänzungsband Erster Teil (Schriften, Manuskripte, Briefe bis 1844). Berlin 1968, S. 585. 15 Ebd., S. 586, Hervorhebung im Original. 16 Ebd., S. 587, Hervorhebung im Original. 17 Ebd., Hervorhebung im Original. 18 Ebd.

64

eine Art return of the repressed: Auf dem Gipfel einer streng idealistischen Lektüre, die das Natürliche in die Natur des Geistes zurückgezwängt hat­ te, emergiert etwas, was keinerlei Verhältnis hat zu der eben erst vollende­ ten systematischen Selbstbewegung des Begriffs. In letzter Linie geht das System der Logik zu jener Sprache einer unableitbaren, gleichsam „irrati­ onalen“ Spontaneität über, die es der Natur unter den von ihm selbst dik­ tierten Bedingungen durchweg entzogen hatte. Anders als Schelling und Marx hat Klaus-Erich Kaehler eine Exegese des Ausklangs von Hegels Wissenschaft der Logik und näherhin der „Be­ griffslogik“ ausgearbeitet, die den Übergang aus der Immanenz der abso­ luten Idee in einen neuen Naturanfang nicht als dogmatischen Sprung, sondern als „endogene Krisis“ 19 absoluter Subjektivität (und zwar bei H e­ gel: des Begriffs) expliziert. Kaehler legt für die Interpretation des fragli­ chen Schritts aus der vollendeten Logik in die Realphilosophie bei Hegel eine Perspektive an, die um die Einsicht kreist, dass „die Äußerlichkeit auf allen Stufen der Selbstvollendung ihrerseits notwendige Bedingung der­ selben [ist] “ . 20 In den bereits angesprochenen Überlegungen am Ende sei­ ner Logik profiliere Hegel die absolute Idee gerade nicht als letztendliche Identität, in der das Prozessieren der dialektischen Widerspruchsfiguren, d.h. die Bewegung des Begriffs zum Erliegen käme. Nicht um das Ende al­ ler Philosophie nach und in der Realisierung eines hyperlogischen Absolu­ ten sei es Hegel gegangen, sondern darum, in der „vollendete[n] logi­ sch e^] Idee“ 21 die Iteration einer Selbstunterscheidung aufzuweisen, die sie in dasjenige hinein zerstreut und differenziert, was nicht aufhört, sich ihr gegenüber real-inhaltlich radikal äußerlich zu verhalten: In eine als Endlichkeit insistierende Endlichkeit, in das Reale unter dem Gesichts­ punkt seiner strikten Nichtkoinzidenz mit dem Logischen, in „Natur als Natur“ (Marx) . 22

19 Klaus-Erich Kaehler: Das Prinzip Subjekt und seine Krisen. Selbstvollendung und Dezentrierung. Freiburg im Breisgau / München 2010, S. 659ff. 20 Ebd., S. 685. 21 Ebd., S. 669. 22 Ebd., S. 669f., Hervorhebungen im Original: „Nur ein in sich bereits vollständig und unwandelbar durch und für sich selbst bestimmtes Subjekt [im Sinne der Sub­ jektivität des Begriffs bei Hegel, Anm. TE] kann sich ,frei entlassend kann sich nämlich selbst dazu ,entschließen‘, sich von sich zu unterscheiden, so dass es sich ei­ ne Äußerlichkeit, eine zu ihm selbst äußere Sphäre voraussetzt, ohne dazu schon irgendwie von außen genötigt zu werden. [...] Diese Freiheit des Sich-Entlassens und Unterscheidens von sich ist aber nicht nur die Freiheit der einen Seite, eben des in und für sich fertigen Subjekts, das sich dieses Verhältnis selbst gibt, sondern diese Freiheit ist auch das Freilassen der nun eröffneten anderen Seite. Damit muss dieses Anderssein der Idee, das, was ,Natur‘ genannt wird, gegenüber den Bestim­ mungen des Logischen durchgängig ,frei‘ gelassen werden; d.h. die Natur muss als eigener Seinsbereich außer der logischen Totalität gelten.“

65

Kaehler beschreibt „die unaufhebbare ontologische Ambivalenz“ 23 des Hegelschen Logos: „Vom absoluten Ganzen aus gesehen, das das spe­ kulativ vollendete Subjekt ist “ , 24 stellt sich „alles Anderssein, alle Äußer­ lichkeit als seine Endlichkeit“ , 25 d.h. „wieder nur [als] interne Differenz “ 26 dar. Im selben Zug jedoch generiert diese Totalisierung eine Exteriorität, die ihr niemals als solche zugehört, sondern dem Begriff gegenüber anders, begriffslos, zufällig, singulär bleibt: „[D]ieses ganze Reich des Endlichen mitsamt seinen begriffsungemäßen Realitäten [...] muss er [der absolute Geist im Sinne Hegels, Anm. TE] sich ewig voraussetzen, gerade um sich durch die Aufhebung dieser Voraussetzung als absolutes Subjekt zu reali­ sieren. “ 27 Eigentümliche Vollendung der Immanenz des Logischen: Sie wäre intrinsisch-spekulative Selbstschließung des Ganzen, das schlechthin „kein Anderssein“ mehr kennt, und ineins damit Durchstoßung in eine Differenz, die gerade noch nicht und nicht mehr Differenz in der Identi­ tät ist. Der Nerv dieser Deutung steckt in dem Argument, wonach „[das Subjekt] [a]us [der] externen Negativität seines absoluten Wesens [...] nicht mehr mit gleicher Restlosigkeit zurück[kehrt] wie in der internen Negativität des Logischen . “ 28 Das aber heißt, in der logischen Gründung einer erneuerten Realphilosophie noch mehr und anderes zu sehen als die transzendentalistische Reformulierung „eine[r] dritte[n] Totalität unter dem Namen des Geistes, worin die Rückvermittlung und Rückkehr der Idee aus ihrem Anderssein zu sich [...] als der am Ende auch vollständig gewussten Wahrheit alles Andersseins zu leisten ist . “ 29 Man muss also

23 24 25 26 27 28

Ebd., S. 690. Ebd., S. 689. Ebd. Ebd. Ebd., S. 690. Siehe ebd., S. 693. Auch der Fortgang der Passage ist entscheidend (ebd., Hervor­ hebung im Original): „In diesem Anderen seiner selbst geht das Subjekt zwar wie­ derum ,mit sich selbst zusammen’, soweit das Anderssein begrifflich bestimmt ist, aber genau diese begriffliche Bestimmung lässt frei, was ihr nicht gemäß ist; und damit ist das Anderssein zugleich an ihm selbst differenziert in jene Bestimmung und diese dem Begriff unangemessene, äußerlich bleibende Seite.“ 29 Ebd., S. 668. Einem solchen Transzendentalismus hängen etwa Wandschneider und Hösle nach, wenn sie die Hegelsche Denkfigur des Geistes nach dem impliziten Modell des „Schematismuskapitels“ der Kritik der reinen Vernunft als Vermittlung erläutern, welche „die Bestimmtheiten der Idee als solche setzt und so erst ihre dia­ lektische Natur zum Austrag bringt.“ Siehe Wandschneider; Hösle, Die Entäuße­ rung der Idee zur Natur und ihre zeitliche Entfaltung als Geist bei Hegel, a.a.O., S. 197. Das auf dieser Interpretation lastende Problem liegt darin, dass sie noch an der Hintergrundüberzeugung einer in sich schon immer „nur ideal[en], nur im Begriff des Begriffs“ erreichbaren Dignität der logischen Selbstvollendung festhält, die „als solche [...] über die Endlichkeit und damit Zeitlichkeit der Realisierung in der Tat

66

weiter gehen als bis zu dem bloßen Projekt einer nunmehr aus der absolu­ ten Immanenz des Logischen heraus grundierten Geistesphilosophie als Nukleus jeglicher Realphilosophie: Und zwar deshalb, weil jenes Reale, das die absolute Idee aus sich heraus differenziert, den Stachel eines „ab­ soluten Andersseins“30 gegenüber der realphilosophischen Begriffsbildung ausstellt, über die sich „die aus der Natur in sich zurückkehrende Idee“31 neuerlich (indem sie sich selbst in ihr begreift) restituiert. Worum es mit­ hin ginge, wäre ein Erfassen des Endlichen in seiner Endlichkeit, d.h. in genau jener Alternanz, die existiert, wenn und insofern es „noch nicht wieder in der Form des reinen Begriffs zurückgewonnen ist“32 - worin wiederum die prekäre epistemologische Arbeit realphilosophischer Konzeptualisierungen besteht. Alles aber kommt darauf an, eine derartige Explizierung „des auf endliche Weise Seienden“33 so zu denken, dass sie ihre dialektische Einschreibung in die Immanenz des Logischen bzw. des lo­ gisch Absoluten im Endlichen nicht naiv durchbricht: Im Sinne der fal­ schen Alternative, Geschichtlichkeit an Stelle von Metaphysik, Endlich­ keit um den Preis des Unendlichen, Differenz unter Ausschluss von Dia­ lektik proklamieren zu können.34 Die folgenden Ausführungen greifen Kaehlers Bild eines von innen her differentiellen Hegelschen Logos auf, der nie restlos wieder aus jener Endlichkeit, die er gleichwohl souverän aus sich entlässt, in sich selber zu­ rückkehren kann. Von dieser Grundeinsicht her gewinnt eine bislang nicht angetretene starke Erbschaft der Hegelschen Philosophie Konturen: Eine Metaphysik der Differenz, die weder mit einem eliminativen Idealis­ mus noch mit einer anthropologischen Reduktion auf die immanente Endlichkeit des Geschichtlichen zusammenfällt.35 Bei Kaehler leuchtet ei­

30 31 32 33 34

35

erhaben ist.“ (ebd.). Dann aber gerinnen die qua Geist geleisteten Verzeitlichungen der Idee im Realen zu thetischen Setzungen rein logischer Gehalte in einer Positivität der Natur, deren radikale Differenz gegenüber dem Begriff gar nicht erst einge­ holt werden kann. Kaehler, Das Prinzip Subjekt und seine Krisen, a.a.O., S. 673. Ebd., S. 672. Ebd. Ebd., S. 686. In diesen Dualismen, die ihrerseits freilich durch gewisse Suggestionsformeln der von ihm evozierten Autoren (Foucault, Althusser, Derrida) befeuert werden, wo­ nach Hegel durch Marx und/oder durch Nietzsche zu zerschlagen sei, verläuft sich Heinz Kimmerles Vorschlag einer Evakuierung von Differenz gegen Dialektik. Sie­ he Heinz Kimmerle: Verschiedenheit und Gegensatz. Uber das Verhältnis von Dia­ lektik und Denken der Differenz. In: Dietrich Henrich (Hg.): Hegels Wissen­ schaft der Logik. Formation und Rekonstruktion. Stuttgart 1986, S. 265-282. Anders als die traditionellen Orthodoxien der Hegel-Rezeption es wollen, steht man im Rekurs auf Hegel also nicht vor der dualistischen Wahl zwischen einer Me­ taphysik des Unendlichen, die kein genuines Außen kennt, sondern nur die not­ wendigen Negative einer Bewegung der Einheit, die nie wirklich außer sich, son-

67

ne derart angelegte Metaphysik der Differenz zwar auf, ohne jedoch als ein belastbarer Ansatz für eine eigene Philosophie mit und zugleich gegen Hegel durchdacht zu werden. Denn Kaehler zieht aus der intrinsischen Differentialität des logischen Absoluten lediglich die Konsequenz einer reinen Aporie: Die immer nur vermeintlich, nur ihrem Anspruch nach nachmetaphysische Konstellation der philosophischen Moderne (die in Wirklichkeit die beschriebene „endogene Krisis“ der Hegelschen Subjek­ tivität des Begriffs perpetuiere) schwanke in unbeendbarer Weise zwi­ schen einer überdeterminierten Selbstzentrierung des absoluten Begriffs „mit allen seinen Differenzen in sich und für sich“ 36 und einem „völlige[n] Sich-Äußerlich-Werden ohne Rückbeziehung au f sich“,37 dem schieren Rauschen radikal begriffsloser Differenz. Hier erweist sich Kaehlers O ri­ entierung an Hölderlins Denkmotiv der „Entzweiung“ 38 als Achillesferse: Wenn nämlich „Negativität [...] in jeder Schicht des Hegelschen Denkens präsent [ist] “ , 39 also bis „in [die] Abschlussfiguren des Absoluten oder der Idee“ 40 hinein, ist nicht nachvollziehbar, weshalb aus dieser Differenz­ struktur das dualistische „Drama “ 41 einer reinen Entgegensetzung zwi­ schen unterschiedslos zentripetaler Schließung und der Überhöhung eines zentrifugalen Verlusts in absolute Äußerlichkeit folgen muss . 42 Letztlich reproduziert Kaehler in seiner Diagnose einer (die Philosophie seit Hegel bannenden) „endogenen Krisis“ des Absoluten jene überdeterminierten Hegel-Lektüren, die er zuvor wohlbegründet in ihre Schranken gewiesen hatte: So als ginge es nach Hegel allen Ernstes noch entweder um die wahnhaft idealistische Apotheose der Metaphysik als Wissenschaft der Lo­

36 37 38 39 40 41 42

68

dern im Durchgang durch ihr Außen am Schluss umso tiefer bei sich ist —oder ei­ nem anthropologischen Durchbruch in die Endlichkeit, der den Menschen qua Praxis als treibende Kraft und zugleich Telos der Geschichte inauguriert, weshalb Hegel höchstens noch eine Anthropologie der Anerkennung (à la Phänomenologie des Geistes) abgewonnen werden könne, aber auch nur dann, wenn sie jedes Band zur „schlechten Metaphysik“ der Wissenschaft der Logik radikal kappt. Kaehler, Das Prinzip Subjekt und seine Krisen, a.a.O., S. 749. Ebd., Hervorhebung im Original. Ebd., S. 748. Angelika Pillen: Hegel in Frankreich. Vom unglücklichen Bewusstsein zur Unver­ nunft. Freiburg im Breisgau; München 2003, S. 121. Ebd. Kaehler, Das Prinzip Subjekt und seine Krisen, a.a.O., S. 674. Womöglich unterstreicht dieser Punkt die Einschätzung Ulrich Steinvorths, wo­ nach Kaehler unentschieden zwischen der Ausarbeitung einer eigenständigen Me­ taphysik und der philosophiehistorischen Rekonstruktion dessen schwankt, was von Descartes über Hegel bis hinein in die Geschichte aporetisch nachhegelscher Erblasten (Feuerbach, Marx, Husserl, Dekonstruktion ...) als strikt verstandenes Paradigma von „Subjektivität“ gelten kann. Siehe Ulrich Steinvorth: Eine Rekon­ struktion der Subjektphilosophie. Über: Klaus Erich Kaehler: Das Prinzip Subjekt und seine Krisen. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie. 6 (2010), S. 1011.

gik oder um die schlechtunendliche Selbstbefreiung des Endlichen in Ge­ stalt der Anthropologie. Was Kaehler in der Tat nicht denkt, ist die ontologische und zugleich epistemologische Entfaltbarkeit einer Metaphysik der Differenz als eine immanente Genesis des Sinns. Im Folgenden soll ein solches Programm holzschnittartig exponiert werden. Ihre entscheidenden Überlegungen verdankt die kommende Argumentation einer kritischen Wiederaneig­ nung der Hegel-Rezeption von Jean Hyppolite (1907-1968), die in ihrem Bemühen, eine neue Dialektik von Unendlichkeit und Endlichkeit, von „Logik“ und „Existenz" anzusteuern , 43 ein für die französische Philoso­ phielandschaft des 20. Jahrhunderts besonders markantes Ensemble aus Überschreitungen und zugleich latenten Fortführungen des Hegelschen Projekts (Foucault, Deleuze) hervorgerufen hat. Doch so sehr auf Hyppolite zurückgegangen werden kann, um eine fundamentale Explana­ tion dessen zu erhalten, was hier als Metaphysik der Differenz - im Sinne einer eigenständigen Philosophieform - lanciert werden soll, so sehr ist auch sein Beitrag an einer spezifischen Stelle zu ergänzen: Nämlich im Hinblick auf die Frage, wie sich aus den Registern des Endlichen heraus der in sich differentielle Logos, der diese Endlichkeit in der geschilderten Weise frei aus sich entlässt, artikulieren und gleichsam stabilisieren lässt. Demnach ist Hyppolite derjenige, der die eigentliche Innovation einer Metaphysik der Differenz am profundesten antizipiert, indem er die Be­ wegung aus der nichtzeitlichen Immanenz der absoluten Idee in „die Ge­ schichtlichkeit unserer Welt“ 44 als eine Logik des Sinns entwirft; jedoch bleibt in seinem Ansatz die konkrete Artikulation dieser Sinnrichtung in der Geschichtlichkeit des Endlichen und mit dessen Mitteln noch unter­ expliziert. Die bei Hyppolite noch fehlende differentielle „Vermittlung von nichtzeitlicher Logik des Absoluten und dessen Geschichtlichkeit“ 45 soll hier mit Hilfe einer Reflexionsfigur eingefangen werden, die sich ausge­ rechnet bei einem der notorischsten Kritik des Deutschen Idealismus fin­ det - nämlich in den Briefen über die Lehre des Spinoza an den Herrn Mo­ ses Mendelssohn von Friedrich Heinrich Jacobi . 46 Jacobis Bemerkungen zu einem „salto mortale“ aus dem hyperidealistischen Fatalismus des hen kai pan implizieren, wie das Ende dieses Textes andeuten soll, eine Pointe, die

43 Siehe Jean Hyppolite: Logique et existence, essai sur la Logique de Hegel. Paris 1961 (i.O. 1953). 44 Sabina Hoth: Jean Hyppolite. Logique et Existence. In: Ulrich Johannes Schneider (Hg.): Der französische Hegel. Berlin 2007, S. 91-104, hier S. 102. 45 Ebd., S. 103. 46 Siehe vor allem die „Beylage VII“ in: Friedrich Heinrich Jacobi: Briefe über die Lehre des Spinoza an den Herrn Moses Mendelssohn. In: Ders.: Schriften zum Spinozastreit. Werke. Bd 1,1. Hamburg; Stuttgart; Bad Cannstatt 1998, S. 247-265.

69

eine Metaphysik der Differenz in der Tat durchlaufen muss, um ihren ei­ genen systematischen Intentionen wirklich Rechnung tragen zu können.

II. Metaphysik der Differenz als Logik des Sinns: Jean Hyppolite Mit einem schönen Bonmot hat Slavoj Zizek Louis Althusser einmal als „verschwindenden Vermittler“ zwischen Traditionsmarxismus und poststrukturalistischen Vorstößen zu einer Politik der „Ent-Unterwerfung“ beschrieben . 47 Aussagekräftiger als in Bezug auf den ubiquitären und al­ lemal schulbegründenden Althusser erscheint das Etikett eines „ver­ schwindenden Vermittlers“, wenn man es auf Jean Hyppolite und auf die Rolle seiner Hegel-Lektüre innerhalb der französischen Philosophie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts anwendet. In der Tat ist Hyppolites Äußerung nicht zu unterschätzen, es sei philosophisch sehr wohl mög­ lich, Hegel und Nietzsche konsistent zusammenzudenken (unter dem Gesichtspunkt der von beiden generierten radikalen Immanenz des Seins) : 48 Hier zeichnen sich Spuren eines komplexeren Verständnisses der Ko-Präsenz von Nietzsche und Hegel auf dem Feld der französischen Philosophie der Differenz von Foucault über Derrida bis Nietzsche ab, die allesamt direkte Adepten der Hegel-Interpretation Hyppolites waren, und zwar unter Zurückweisung des anthropologisch zugeschnittenen H e­ gelmarxismus Alexandre Kojèves, der zeitgleich und in enger Rivalität mit Hyppolites Hegel-Lektüre die französische Debatte diktierte. Um die Originalität von Hyppolites Rekurs auf Hegel zu begreifen, ist es hilfreich, zunächst bei dem bloßen Titel seiner Monografie Logique et Existence zu verweilen. 49 Von Anfang an konzentriert sich Hyppolite auf die Frage, wie der von Hegel selbst herausgestellte begründungstheo­ retische Primat der Wissenschaft der Logik vor der noch an den „Gegensat­

47 Slavoj Zizek: Die Tücke des Subjekts. Frankfurt a.M. 2001, S. 171. 48 Hyppolite, Logique et existence, a.a.O., S. 7lf. 49 Hyppolites Rang als epochaler Hegel-Interpret verdankt sich primär seiner Über­ setzung (1939—1941) der Phänomenologie des Geistes, die dank ihm erstmals ge­ schlossen auf Französisch vorlag und die er zudem mit einem minutiösen Kom­ mentar (1946) flankierte. Siehe Jean Hyppolite: Genèse et structure de la Phéno­ ménologie de l’Esprit de Hegel. 2 Bände. Paris 1946. Insofern enthält Jürgen Brankels lockere Anmerkung im Gespräch mit Alain Badiou, „dass die deutschen Philosophen, die die französische Philosophie, wie sie sich seit 1940 herausgebildet hat, durchdringen wollen, Hegel auf Französisch“, nämlich „in der Fassung von Hyppolite“ lesen müssten, ein veritables Forschungsprojekt. Siehe Jürgen Brankel: Interview mit Alain Badiou. In: Alain Badiou: Ethik. Versuch über das Bewusstsein des Bösen. Wien 2003, S. 147—156, S. 152. Letztlich sei diese Über­ setzung, so Brankel in Anlehnung an Jankélévitch, „Hyppolite, von Hegel durch­ gesehen“ (ebd.).

70

ze des Bewusstseins“ 50 gebundenen Phänomenologie des Geistes im Detail zu verstehen sei. 51 Auf der einen Seite macht Hyppolite dabei mit dem Projekt der Konstituierung einer reinen Immanenz des Logischen Ernst, die selber die allererst noch einzuholende Grundlage des absoluten Wis­ sens, also des letzten Stands der Phänomenologie des Geistes, stiftet. Auf der anderen Seite jedoch wird im Ausgang von einem solchen Denken der Immanenz das Problem der temporalen und geschichtlichen Vollzugs­ strukturen des absoluten Logos gerade nicht verfrüht aufgelöst, sondern auf verschärfte Weise erneuert: Wie lässt sich die Welt der Äußerlichkeiten, wenn sie sich nicht über eine bloß dogmatische Abschneidung von der logi­ schen Immanenz „emanzipiert“, in einem Zusammenhang zu ihr ansiedeln, der sie zugleich strikt in dieser Immanenz grundlegt und doch in ihrer Ei­ genheit, ihrer Endlichkeit belässt ? 52 Die Schwierigkeit, aber zugleich der innovative punch von Hyppolites Hegel-Lektüre beruht letztlich darauf, die in Denkbestimmungen prozessierende Selbstbegründung der Subjek­ tivität des Begriffs im gleichen Zug als reflexive Bewegung aufzufassen, in der sich das Sein selbst im und als Denken expliziert. Hier übernimmt bei Hyppolite die Kategorie des „Sinns“ (sens) ihre präzise und vollkommen grundlegende Funktion: „Sinn“ ist bei Hyppolite die Vokabel für jenen „diskursive[n] Prozess “ , 53 in dem sich die (a fortiori in der Wissenschaft der Logik ausgewiesene) absolute Einheit von Sein und Denken generiert. 54 50 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik I. Werke in zwanzig Bän­ den. Bd. 5. Frankfurt a.M. 1983, S. 43. 51 Ebd., S. 17f. (aus der „Vorrede zur ersten Ausgabe“): „In dieser Weise habe ich das Bewußtsein in der Phänomenologie des Geisites darzustellen versucht. Das Bewußt­ sein ist der Geist als konkretes, und zwar in der Äußerlichkeit befangenes Wissen; aber die Fortbewegung dieses Gegenstandes beruht allein, wie die Entwicklung al­ les natürlichen und geistigen Lebens, auf der Natur der reinen Wesenheiten, die den Inhalt der Logik ausmachen. Das Bewußtsein, als der erscheinende Geist, welcher sich auf seinem Wege von seiner Unmittelbarkeit und äußerlichen Konkretion be­ freit, wird zum reinen Wissen, das sich jene reinen Wesenheiten selbst, wie sie an und für sich sind, zum Gegenstand gibt. Sie sind die reinen Gedanken, der sein Wesen denkende Geist. Ihre Selbstbewegung ist ihr geistiges Leben und ist das, wodurch sich die Wissenschaft konstituiert und dessen Darstellung sie ist. [...] Es ist hiermit die Beziehung der Wissenschaft, die ich Phänomenologie des Geisites nenne, zur Logik angegeben.“ (Hervorhebungen im Original). 52 Siehe Hyppolite, Logique et existence, a.a.O., S. 216f. 53 Hoth, Jean Hyppolite, a.a.O., S. 93. 54 Hyppolite, Logique et existence, a.a.O., S. 228: „Dans l’essence c’est l’être-en-soi qui apparaît, mais cette apparition est son apparition, sa position. Ce n’est pas l’être qui apparaît, c’est lui-même qui s’ apparaît, et donc se reconnaît. Le mouve­ ment de sa position de soi, voilà ce que Hegel nomme le concept que nous pour­ rions traduire par le sens. La logique du concept reprend à son étage toutes les dé­ terminations de l’être et de l’essence, mais elle les reprend pour montrer comment elles se constituent elles-mêmes, comme elles se posent et s’engendrent. Cette genèse du sens était implicite dans les sphères antérieures; elle est la Logique, car la Lo-

71

Im Kern rekonstruiert Hyppolite die Hegelsche Logik damit als eine O n­ tologie, allerdings unter der wichtigen Prämisse, dass sich „die Sache selbst“ - das Hegelsche Absolute - in einem reflexiven Diskurs, in einem Geschehen der Signifizierung vollzieht und darin selbst begreift. Insofern schließen bei Hyppolite eine ontologische und eine semiotische Interpre­ tation einander ein: Er gewinnt eine Theorie der (Möglichkeit jeglicher) Sinnkonstitution, deren Ursprung er nicht, wie Kant und Husserl, im transzendentalen Bewusstsein, sondern in der diskursiven Immanenz des sich entwickelnden und sich darin intelligibel werdenden Seins verankert. Wie Hyppolite hervorhebt, ist es niemals „ohne einen gewissen Bruch“ 55 möglich, zur immanenten Genesis des Absoluten durchzusto­ ßen, wenn man Hegels spekulative Dialektik auf ein anthropologisches Zentrum zu verpflichten versucht. 56 Mit Feuerbach, Marx und dem Kojève-Kreis den Menschen als movens und Fluchtpunkt der Geschichte zu inaugurieren hieße, innerhalb der Dialektik der Geschichte eine reduktive Immanenz im Namen der „Wahrheit des Diesseins“ (Marx) zu errichten, während Hegel gerade das Problem einer Transformation der vertikalen Transzendenz der Religion in die horizontale Transzendenz der Ge­ schichte gestellt habe. 57 Aber diese Zurückweisung der anthropologischen Reduktion berechtigt keinesfalls dazu, die Differenz des Endlichen dadurch zu überspringen, dass man es als rein ungeistige Äußerlichkeit des (qua Logik zu sich kommenden) Unendlichen ansetzt, deren Aufhe­ bung und Interiorisierung im absoluten Begriff ganz buchstäblich eine bloße „Frage der Zeit“ wäre. Zu zeigen wäre vielmehr, worin die endliche Welt - die Geschichte und die Zeit des Menschen - gerade unter strikter und voller Wahrung der absoluten Immanenz des Logischen irreduzibel bleibt: „Mehr“ als ein bloß vorläufiges Negativ der absoluten Idee, das, wenn diese sich schließlich ganz zu sich selbst aufgehoben haben wird, als deren nichtige Hülle abfällt; zugleich aber anders als jene paradox verungique est la constitution de l’être comme sens, [...] ce mouvement lui-même comme genèse intelligible de la chose (et la chose même n’est que ce mouvement).“ 55 Ebd., S. 123 („sans une certaine rupture“). 56 In diesem Sinne würde Hyppolite zweifellos Kaehlers These unterschreiben, dass ein anthropologischer Durchbruch aus dem absoluten Begriff in Hegels Wissen­ schaft der Logik hin zu einem Denken der Endlichkeit dialektisch gesehen nicht überzeugt, „indem eine faktische Instanz oder Basis als unhintergehbar, weil be­ grifflich irreduzibel und unaufhebbar behauptet wird. Die gesamte nachhegelsche Philosophie [...] ließe sich durch Einsetzungen von realen Instanzen als vorbegriff­ lichen Wahrheitsbedingungen rekonstruieren, die doch immer irgend eine Stelle im spekulativen System finden und somit in diesem bereits als aufgehoben ,erwiesen’ werden könnten.“ Kaehler, Das Prinzip Subjekt und seine Krisen, a.a.O., S. 694. 57 Siehe Jean Hyppolite: Figures de la pensée philosophique. 2 Bände. Bd. 1. Paris 1991, S. 146—149. Zu dieser Unterscheidung bei Hyppolite siehe Stefanos Geroulanos: L ’ascension et la marionnette. L’homme selon Jean Hyppolite. In: Giuseppe Bianco (Hg.): Jean Hyppolite. Entre structure et existence. Paris 2013, S. 83-106.

72

endlichte Endlichkeit, die sich allein über die undialektische Aufkündi­ gung mit dem Sinn zu definieren vermag. Insofern Hyppolite eine solche (dem Sinn) interne Differenz des Endlichen denkt, die dem Sinn restlos immanent ist und darin zugleich unaufhörlich gegen ihn versetzt bleibt, kreist er die wesentlichen Züge jenes philosophischen Vorhabens ein, das ich als Metaphysik der Differenz tituliere. 58 Im Unterschied zu Kaehler also manövriert sich Hyppolite nicht in den Dualismus zwischen der eliminativen Überzentrierung und der bis zum Selbstverlust gesteigerten radikalen Dezentrierung der Hegelschen absoluten Idee (in ein Außen, das nicht mehr „ihres“ wäre) hinein. Dieses Szenario kann er deshalb vermeiden, weil er Hegels Projekt als eine O nto­ logie und, ineins damit, als Logik des Sinns auslegt, die keiner Teleologie der „Versöhnung“ untersteht, sondern auch noch in die vermeintlichen spekulativen Schließungen des Hegelschen Systems eine „Bewegung ohne Ende “ 59 einschreibt. Hyppolite nimmt mithin keine sublime Einheit nach der Dialektik der Widersprüche an, keine mit sich selbst versöhnte letzte Instanz, die sich aus der Entfremdung von sich selbst zu sich aufheben würde. Vielmehr drückt sich der sich selber explizierende Sinn immer schon im Element des ihm gegenüber Heterogenen aus, in Verhältnissen, in denen er noch nicht und zugleich nicht mehr zu sich selber gelangt. Für Hyppolite ist das Absolute (als der Sinn) ohne Ausweg dezentriert: In ei­ ner Zerstreuung seiner selbst, die nicht Ausdruck einer erst noch zu über­ schreitenden Negativität, sondern in der Tat der Modus ist, in dem es als Absolutes prozessiert . 60

58 Dies sieht auch Leonard Lawlor, wenn er herausarbeitet, wie sich das von Hyppolite ausdrücklich adressierte Problem des Übergangs aus der Phänomenologie des Geistes zur logischen Selbstexplikation des absoluten Wissens auf eine differentielle Konzep­ tion der Immanenz hin öffnet. Siehe Leonard Lawlor: „L ’immanence est complète“ ou l’héritage de la pensée de Jean Hyppolite. In: Giuseppe Bianco (Hg.): Jean Hyppolite. Entre structure et existence. Paris 2013, S. 147f.: „On insistera néan­ moins sur ce qu’Hyppolite essaye de démontrer: tout en réalisant l’immanence, la lo­ gique spéculative de Hegel maintient une certaine différence entre l’essence et l’apparence. Loin d’être une différence externe —plaçant une chose à côté d’une autre et en dehors d’elle, juxtaposant une chose à l’autre —cette différence est différence interne. [...] Cette différence est différence propre de l’être.“ 59 Siehe Jean Hyppolite: La conception hégélienne de l’État et sa critique par Karl Marx. In: Cahiers internationaux de sociologie. II (1947), S. 153 („mouvement sans cesse“). 60 Kaehlers Konzept von „Dezentrierung“ ist demgegenüber äquivok verdoppelt. Nach seiner Theorie der „endogenen Krisis“ ist der absolute Begriff einerseits in eine intrinsische Differenz zu sich selbst verwickelt, insofern Kaehler sehr wohl ar­ gumentiert, dass auch noch der letzten spekulativen Einheitsfigur in Hegels Wis­ senschaft der Logik eine Selbstunterscheidung eingezeichnet bleibt, die sie eo ipso immer schon von sich selbst differieren lässt. Neben dieser Dezentrierung steht „Dezentrierung“ im terminologischen Sinne bei Kaehler jedoch für die Tendenz

73

Alles kommt hier auf ein Verständnis der für Hyppolite entscheiden­ den Umstellung an, nämlich auf seine Strategie einer „voraussetzenden Reflexion [...]: indem das vermittelnde Denken sich in der Zeit absolut voraussetze, sei es die Ewigkeit in der Zeit“ . 61 Mit Koyré teilt Hyppolite das Bild einer unaufhebbaren Gabelung des Hegelschen Systems in eine Dialektik der Temporalität des menschlichen Bewusstseins, die auf den Primat historischer Zukunft gerichtet sei, und eine „rein logische[...] Dia­ lektik der Ewigkeit“ , 62 die mit einer Aufhebungsstruktur „nachträgliche[r] Identitätssetzung“ arbeite. 63 Während aber Koyré diese Diskrepanz als in­ ternen Bruch der Hegelschen Philosophie um den Preis der in ihr angeleg­ ten phänomenologischen Anthropologie und zu Gunsten der idealisti­ schen Überzeitlichkeit des Logos liest, knüpft Hyppolite produktiv an die Nichtkoinzidenz zwischen zeitlicher und logischer Bewegung an; diese Drift ist selbst der konsequente und systematische Ausdruck eines diffe­ rentiell verfassten Absoluten, das seinerseits die Crux einer Metaphysik der Differenz bildet. Hier muss man sich die von Hyppolite getroffene Schlüsselunterscheidung zwischen „sens“ und „expression“ vergegenwär­ tigen : 64 Hyppolites Beschreibung nach verläuft die immanente Genesis des Sinns über die Expressivität der Sprache, mit der Pointe, dass hier eine „gedoppelte Bewegung von Verinnerlichung und Entäußerung“ 65 statt hat. Wie bereits aus Hegels Erläuterung des von ihm so genannten „spe­ kulativen Satzes“ hervorgeht, verliert jeder Satz (etwa: „Diese Rose ist rot“) „so sehr seinen festen gegenständlichen Boden, den es im Subjekt hatte, als es im Prädikate darauf zurückgeworfen wird, und in diesem nicht in sich, sondern in das Subjekt des Inhalts zurückgeht. “ 66 Aus dieser dialektischen Struktur zieht Hyppolite zunächst die Folgerung, Hegel ha­ be jeglicher Vorstellung eines Ineffablen, eines vor- und außersprachli­ chen Erfahrungsgrunds, der erst via Abstraktion versprachlicht werde,

61 62

63 64

65 66

74

des absoluten Begriffs zur Hingabe an ein radikal unbegriffliches Rauschen der Äußerlichkeit: Eine Überdeterminierung, die eben durch gegenläufige Strebungen, durch neuerliche spekulative Zentrierungen aufgefangen werden müsse. Hoth, Jean Hyppolite, a.a.O., S. 102. Ebd., S. 94. Sabina Hoth diskutiert explizit Hyppolites Anschluss an Koyré, den ich hier nur referiere. Siehe als Basistext Alexandre Koyré: Hegel à Iéna (1934). In: Ders.: Études d’histoire de la pensée philosophique. Paris 1961, S. 147—189. Hoth, Jean Hyppolite, a.a.O., S. 94. Siehe Hyppolite, Logique et existence, a.a.O., S. 12f.: „C ’est l’expression du sens qui est le travail de la pensée et ce travail ne part pas d’un ineffable qui serait donné d’abord, ou ne conduit pas au delà vers une transcendance ineffable [...] Seul le de­ venir qui, au niveau de l’immédiat, est déjà médiation, préfigure ce que sera ce dis­ cours, la réflexion de l’être en soi-même [...].“ Hoth, Jean Hyppolite, a.a.O, S. 97. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. Stuttgart 1987, S. 55.

den Boden entzogen. Es gebe kein „ontologisches Schweigen“ . 67 Was als unableitbar angezeigt werden soll, lässt sich von Anfang an nur über die Universalität der Sprache artikulieren, die diese sinnliche Einzelnheit sagt. Aber genau diese Figur bedeute zugleich, dass die Welt des Unmittelbaren immer schon und stets nur in der Sprache „verinnerlicht“ 6869 ist, d.h. in der Sprache präsent als etwas, was von ihr er-innert wird. Was Hyppolite als „Sinn“ auffasst, steht daher für die ursprüngliche und immanente Einheit zwischen Denken und Sein, die radikale Interiorität von „Welt“ im Be­ griff. Und doch ist es so, dass sich dieser Sinn in prononciert partikularen Formen, in konkreten Propositionen und diskursiven Äußerungen, d.h. in der Dimension endlicher verständiger Rede enunziert: Genau deshalb kann Hyppolite schreiben, dass „l’intelligence se trouve elle-même dans une extériorité qui soit intégralement la sienne, un être qui tout en restant être, soit pourtant sa création, une aliénation d ’elle-même en ellemême.“ Denken zu können, wie sich das Unendlich-Logische in eine End­ lichkeit hinein artikuliert, die ihm zugleich radikal heterogen und darin immanent zugehörig ist: Dies wäre die allgemeinste Blaupause einer Me­ taphysik der Differenz, die sich bei Hyppolite zu der Entkopplung zwi­ schen der reflexiven, rein begrifflichen Genesis des „sens“ und der „ex­ pression“ als jener immer schon endlichen Exteriorität, in die das Absolu­ te sich einschreibt bzw. die ihrerseits dem Absoluten eingeschrieben ist, verdichtet. 70 Mehreres folgt hieraus: Erstens ist zu berücksichtigen, dass Hyppolite das Thema der Stellung des Menschen mit Blick auf diese intrinsische Inkommensurablität zwischen „sens“ und „expression“ ange­ siedelt hat. Der Mensch sei gleichsam jene Instanz, die sich allein „im Element der Universalität von Bestimmungen “ , 71 also auf Grundlage des sich durch ihn artikulierenden ihn durchquerenden Sinns aussagen kann; aber zugleich ist er die Gestalt, an der sich der Sinn zerstreut und an eine Endlichkeit ausgibt, die er als solche niemals gänzlich zu internalisieren vermag. Zweitens aber hat Hyppolite aus dieser differentiellen Hegel­ Lektüre die Konsequenz gezogen, dass der primäre Typ einer systema­ 67 Siehe Hyppolite, Logique et existence, a.a.O., S. 25f.: „Il n’y a donc pas pour Hegel d’ineffable qui serait en deçà ou au delà du savoir, pas de singularité immédiate ou de transcendance; il n’y a pas de silence ontologique, mais le discours dialectique est une conquête progressive du sens. [...] One ne va pas d’une intuition silencieuse à une expression, d’un inexprimable à un exprimé, pas plus que du non-sens au sens. Le progrès de la pensée, son développement, est le progrès même de l’expression.“ 68 Hoth, Jean Hyppolite, a.a.O, S. 97. 69 Hyppolite, Logique et existence, a.a.O., S. 37. 70 Dazu Christian Kerslake: Immanence and the vertigo of philosopy. From Kant to Deleuze. Edinburgh 2009, S. 27-31. 71 Hoth, Jean Hyppolite, a.a.O, S. 94.

75

tisch eigenständigen Philosophie, die eine gegenwartsfähige Rezeption von Hegel aus weiterdenken könnte, in einer Art Epistemologie des Kon­ kreten bestehen könnte: Es ginge darum, mit den Mitteln einer „nie zum Abschluss kommenden Arbeit der Epistemologie “ 72 immer erneut die Elemente einer dem absoluten Sinn noch und irreduzibel inhärierenden Fremdheit zu explizieren, so dass gerade unter Festhaltung an einer Hegelschen Figur vollendeter Totalisierung die „grundsätzliche Reversibilität“ 73 von Wahrheitsansprüchen, die lokale wissenschaftliche Rationalitäten erhe­ ben, gesichert würde. Es ist interessant, dass die profiliertesten unmittelbaren Schüler Hyppolites seine Variante einer Metaphysik der Differenz zugleich erfasst und auf eigene Weise weitergetragen, aber schließlich doch, ohne ihren philosophischen Reichtum jemals voll auszuschöpfen, abgestreift haben. Anders als Hyppolite selbst sah die an ihm geschulte jüngere Generation philosophischer Theoretiker die Notwendigkeit einer strengen Wahl zwi­ schen Hegel oder Nietzsche, zwischen Dialektik oder Genealogie. Für Foucault etwa rang Hyppolite darum, zu „beschreiben, auf welche Weise alle Philosophien in sich etwas Unmittelbares bewahren, das sie schon nicht mehr sind; auf welche Weise sie auf etwas Absolutes zielen, das sie niemals erreichen werden; auf welche Weise sie Grenzen festlegen, die sie ständig überschreiten. “ 74 Die Philosophie konstituiere sich nie auf der Höhe eines vollends in sich geschlossenen enzyklopädischen Systems, ei­ ner ultima ratio, sondern stets in verendlichten Vollzügen eines philoso­ phischen Denkens, worunter „jenes schwer zu erfassende, bei seinem Er­ scheinen bereits überdeckte Moment“ 75 zu verstehen sei, „in dem der phi­ losophische Diskurs sich entscheidet, seine Stummheit überwindet und auf Distanz gegenüber dem geht, was von nun an als Nichtphilosophie er­ scheinen wird. “ 76 Diese Formulierungen antizipieren bereits die H om ­ mage, die Foucault Hyppolite ein Jahr darauf, bei Gelegenheit seines An­ tritts jenes Lehrstuhls am Collège de France, den er von Hyppolite nach dessen Tod übernahm, widmete. Auch dort umreißt Foucault die Kontu­ ren „einer gegenwärtigen, unruhigen Philosophie, die auf der ganzen Linie ihrer Berührung mit der Nicht-Philosophie beweglich ist, nur dank dieser existiert und uns den Sinn dieser Nicht-Philosophie enthüllt. “ 77 Es sei

72 Angelika Pillen: Eintrag. Jean Hyppolite. In: Thomas Bedorf und Kurt Röttgers (Hg.): Die französische Philosophie im 20. Jahrhundert. Ein Autorenhandbuch. Darmstadt 2009, S. 164. 73 Ebd., S. 165. 74 Michel Foucault: Jean Hyppolite (1907—1968). In: Ders.: Schriften in vier Bänden / Dits et Ecrits. Bd. I (1954—1969). Frankfurt a.M. 2001, S. 991—998, S. 992f. 75 Ebd., S. 992. 76 Ebd. 77 Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt a.M. 1997, S. 25.

76

Hyppolite gewesen, der diesen Typ epistemologischer Reflexionen durch eine Umlenkung des „Hegelschen Gedanken von der Vollendung des Selbstbewusstseins in den Gedanken der wiederholt-wiederholenden Fra­ ge“ 78 inaugurierte. So luzide und fruchtbar dieser Rekurs auf seinen ur­ sprünglichen Mentor (neben bzw. zeitlich vor der Präsenz Canguilhems für Foucault) auch anmutet: In systematischer Hinsicht ist kaum ersicht­ lich, inwiefern Foucaults Archäologie der Humanwissenschaften oder gar seine genealogische Dekuvrierung der modernen Verschränkungen von Macht und Wissen noch Raum für das Thema einer spekulativen Selbst­ vollendung des absoluten Wissens lässt, das bei Hyppolite, was seine noch immer starke Loyalität zu Hegel unterstreicht, zentral steht. Auch der Fall von Gilles Deleuze ist aufschlussreich. In seiner Buch­ besprechung von Logique et Existence aus dem Jahr 1954 hatte Deleuze in der Tat noch die Originalität einer allererst noch aufzufächernden Meta­ physik der Differenz gewürdigt, die Hyppolite in nuce umrissen hatte: Wenn der zweite und dritte Teil des Buchs von Jean Hyppolite eine Theo­ rie des Widerspruchs im Sein begründet, in der der Widerspruch selbst das Absolute der Differenz ist, begründet er dagegen im ersten Teil (Theorie der Sprache) sowie im gesamten Buch (Anspielungen auf das Vergessen, die Reminiszenz, den verlorenen Sinn) nicht eine Theorie des Ausdrucks, in der die Differenz der Ausdruck selbst ist und der Widerspruch lediglich ihr phänomenaler A spekt?79

Zwar beobachtet Deleuze scharfsinnig, man könne mit Hyppolite gegen­ über Hegel in der Tat zeigen, dass es unterhalb einer Dialektik der Ver­ mittlung von Widersprüchen und ihr vorausliegend eine andere Expressi­ vität des Seins (als Sinn) gebe, nämlich ein Geschehen der „Differenz“ und der „Wiederholung“ . 80 Aber es fällt doch auf, dass die von Deleuze groß angelegte Rehabilitierung des scholastischen Traums von einer Ontologie der Univozität des Seins Züge eines platonischen Monismus wiederannimmt, den Deleuze ja auch in der Tat „umzukehren“ versucht. So manövriert sich Deleuze über die Abhebung der virtuell bleibenden „Differentiation“ der Idee von deren raumzeitlicher „Differenzierung“ auf Linien der Aktualisierung81 in eine proto-platonische Verklärung der idea hinein, der es „darum [geht] [...] aus dem Ereignis den unerschöpflichen und leuchtenden Teil zu gewinnen, der über seine Aktualisierung hinaus­ geht“ . 82 78 Ebd. 79 Gilles Deleuze: Jean Hyppolite. Logik und Existenz. In: Ders.: Die einsame Insel. Texte und Gespräche von 1953 bis 1974. Frankfurt a.M. 2003, S. 18—23, S. 23. 80 Gilles Deleuze: Differenz und Wiederholung. München 1992. 81 Ebd., S. 265. 82 Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino I. Frankfurt a.M. 1989, S. 149.

77

Foucault und Deleuze - das sollten diese Darlegungen nur andeuten - entwickeln, was sie in kritischer Abweichung von Hyppolite, dessen Po­ sition gleichwohl ein wichtiger Ausgangspunkt für sie bleibt, konzipieren, nicht überzeugend zu Ende. Weder Foucaults erst archäologisch, später genealogisch gewendete Epistemologie noch die von Deleuze proklamier­ te Affirmation (qua Wiederholung) einer immanenten Ontologie purer Differenz erreichen die spezifische Pointe, die Hyppolites differentielle Lektüre des Hegelschen Logos initial umspielt: Wie sich nämlich eine Fassung des Endlichen als Endlichem unter den Bedingungen strikter Immanenz des Sinns (und nicht in Gestalt einer „postmetaphysischen“ Abwehr) gewinnen ließe. Insofern führt die Interpretation, mit der etwa (Diltheys Schüler und Schwiegersohn) Georg Misch das Hegelsche Abso­ lute charakterisiert hat, auch in das Herz von Hyppolites Lesart hinein: Denn ähnlich wie Misch, der über diese Figur das Verhältnis zwischen lo­ gischer „Gedankenmäßigkeit“ und lebendiger „Unergründlichkeit“ aufzu­ fächern versuchte, denkt auch Hyppolite von einem in sich „doppelsinni­ gen“ 83 Logos her, der sich über die Andersartigkeit der „expression“ zum und im „sens“ konkretisiert. Im Sinne einer Vervollständigung der von Hyppolite geleisteten An­ bahnung einer Metaphysik der Differenz müsste man jedoch, um es zu präzisieren, zu dem Verhältnis zwischen „Logik“ und „Existenz“ zurück­ kehren, das er zu denken vorschlägt. Denn in der Tat bleibt bei Hyppolite im Vagen, wie sich innerhalb der „Geschichtlichkeit unserer Welt“ 84 ein immanent logisches und darin überzeitliches Prinzip so artikulieren kann, dass es weder zur eliminativen Interiorisierung des Endlichen (als schiere Äußerlichkeit) noch zu dessen undialektischer Abschneidung von der immanenten Genesis des Sinns kommt. Als Schlüsselproblem erweist sich damit in gewisser Weise das der Expressivität des Sinns: Man müsste zeigen, wie sich die intern differentielle Verfasstheit des Sinns konkret exprimiert, also Erfahrungsstrukturen im Endlichen/Realen auflässt, an denen das ei­ genwillige Zusammengehören von sens und expression, von Sinn und Aus­ druck, Logik und Existenz selbst expressiv wird. Es ginge mithin um die Form einer Erfahrung, die an sich selbst den vollen Unterschied, die eigent­ liche Differenz des Endlichen zum Unendlichen erneuert und bejaht, ohne die eine Seite in die andere einzuschreiben oder beide undialektisch zu ent­ koppeln. Hyppolite selbst war noch auf die Selbstreferenz diskursiv restrin­ gierter Sprache konzentriert, die sich - siehe den „spekulativen Satz“ bei Hegel - auf eine spekulative Einheit hin überschieße, wie sie sich in kei­ nem endlichen Diskurs je totalisieren könne. Aber es scheint, dass man 83 Zu den drei letztgenannten Zitatstellen siehe Georg Misch: Der Weg in die Philo­ sophie - eine philosophische Fibel. Erster Teil: Der Anfang. München 1950, S. 51. 84 Hoth, Jean Hyppolite, a.a.O, S. 102.

78

den Horizont ausweiten muss: Denn mit der Hegelschen Transition aus der Wissenschaft der Logik in eine veränderte, nicht länger prä-logische Philosophie des Realen treten insgesamt Fragen nach der Erfahrbarkeit der Immanenz des Logischen im Realen auf, nach einer Expressivität, die sich in allem noch als durch den Sinn unterlegt zu bestimmen vermag. 85 Wie sich also vom Endlichen aus jene Selbstvoraussetzung des Sinns (in einer Exteriorität, die ihm, dem Sinn, gegenüber differentiell bleibt) errei­ chen ließe, möchte ich am Ende zumindest andeutungsweise im Rückgriff auf einige Betrachtungen Friedrich Heinrich Jacobis skizzieren.

III. Metaphysik der Differenz als expressiver Sprung des Endlichen: Friedrich Heinrich Jacobi Zweifellos stellt der „aus dem Fatalismus unmittelbar gegen den Fatalis­ mus“ vollführte „Salto mortale“ , der nach einer Umdrehung „Kopf-unter“ durchaus mit einer neuerlichen Landung „auf den Füßen“ des Springers enden soll, das berühmteste Philosophem des epochalen Spinoza­ Kritikers Friedrich Heinrich Jacobi (1744-1819) dar. 86 Jacobi erschien dieser Sprung, der bei ihm emphatisch als freie Tat und mitnichten als die logische Endstufe einer Deduktionskette aufgefasst wird, als veritable Grundentscheidung: In Spinozas Monismus der all-einen Substanz, die in eben der gleichen Weise causa sui ist wie sie als causa omnium rerum fir­

85 In gewisser Weise stellen sich übrigens mit dieser Öffnung der Problemstellung, die sich zugleich als strikte Rückerinnerung an das Ende der Hegelschen Wissen­ schaft der Logik, d.h. an die immanent logische Gründung der Realphilosophie ver­ steht, bestimmte Perspektiven Klaus-Erich Kaehlers für eine Argumentation zu Gunsten der Dezentrierung der Immanenz wieder ein. Kaehler umreißt prekäre Dynamiken der Stabilisierung von „Pluralität als Sozialität“, „Individualität“ und „Naturalität“, die jedoch in seiner Konzeption allesamt den Charakter einer Ab­ milderung des von ihm angenommenen Dualismus zwischen einer Uberzentrie­ rung im Logischen und dessen überdeterminiertem Verschwinden im begriffslosen „Außen“ des Realen aufweisen. Siehe Kaehler, Das Prinzip Subjekt und seine Kri­ sen, a.a.O., S. 757. Demgegenüber wäre zu fragen, ob nicht derartige realphiloso­ phische Naturalisierungen, Individuationen usw. als Expressionen einer Dialektik von Logik und Existenz, nicht als bloße Korrektive eines überzeichneten Dualis­ mus (entweder reine Zentrierung oder pure ekstasis) zu generieren. 86 Alle Zitate aus Jacobi, Schriften zum Spinozastreit, a.a.O., S. 20, Hervorhebungen im Original. Birgit Sandkaulen hat eine detaillierte „Topographie“ aller „Topoi“ dieses Sprungs vorgestellt, die unter anderem freilich den Hegelschen Eindruck entkräften soll, es handle sich hier um einen schier irrationalistischen Akt nach Art eines dogmatischen Abbruchs der Philosophie schlechthin. Siehe Birgit Sandkaulen: Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis. München 2000, insb. S. 53-63.

79

miert, 87 habe der neuzeitliche Rationalismus eine unüberbietbare Gestalt entfaltet, die nicht mehr mit ihren eigenen Mitteln (einer de more geometrico operierenden ratio) zurückweisbar sei. Die spinozistische Metaphy­ sik, die alle Konsequenzen aus dem Prinzip einer radikalen Inhärenz des Unendlichen im Endlichen zieht - d.h. der Substanz in allem Seienden, das nurmehr in Modifizierungen der unendlichen Attribute der all-einen Substanz besteht - mache jegliche Unterscheidung zwischen Transzen­ dentem und Immanentem hinfällig. Daher besiegle Spinozas prominentes Diktum deus sive natura (Gott oder Natur, mit der Betonung auf oder·. denn im Hinblick auf die unendlich einzige Substanz gilt kein solcher Un­ terschied zwischen den Dimensionen) einen philosophisch vollendeten Atheismus. 88 Unter der Prämisse, um die Spinozas Projekt einer streng immanen­ ten Metaphysik kreist, kann es dieser gegenüber, locker formuliert, „kein Halten“ mehr geben· Unter der Prämisse also, dass die eine Substanz allen Dingen sowohl als ontologische causa wie als axiomatisch-logische ratio essendi immaniert. Was Jacobi als „rationalistischen Grundfehler“ 8990 des Spinozismus identifiziert, ist in dieser Hinsicht die reduktive Vermen­ gung eines Diskurses über Ursachen und Verursachungszusammenhänge mit einem Diskurs über axiomatische Gründe9 über logische Grund­ Folge-Relationen, der seinerseits die Voraussetzung einer a limine erreich­ baren absoluten Letztbegründung macht (deren skeptizistische Alternative ein infiniter Regress wäre). Es liegt vollkommen in der Konsequenz einer solchen Philosophie, sowohl auf Seiten des begründenden Einen als auch in der Ordnung des von ihm unendlich begründeten und bedingten Seienden, jegliches Moment von „Verstand“ und „Willen“ zu stornieren. 91 Mit eben dieser Wendung läuft Spinozas Ansatz für Jacobi mithin aus strukturell­ methodischen Gründen auf eine atheistische Leere hinaus, die Jacobi selbst durch die theistische Auffassung eines transzendenten persönlichen Got87 Und zwar in der Weise einer causa efficiens und keineswegs einer causa finalis. Zur rigorosen Durchstreichung der Finalkausalität bei Spinoza siehe Günter Zöller· Fichte als Spinoza, Spinoza als Fichte. Jacobi über den Spinozismus der Wissen­ schaftslehre. In· Walter Jaeschke und Birgit Sandkaulen (Hg.)· Friedrich Heinrich Jacobi. Ein geistiger Wendepunkt seiner Zeit. Hamburg 2004, S. 41. 88 Jacobi, Schriften zum Spinozastreit, a.a.O., S. 19. 89 Iber, Subjektivität, Vernunft und ihre Kritik, a.a.O., S. 68. 90 Dass die Differenz von Ursachen gegenüber Gründen von Spinoza (in der Wahr­ nehmung Jacobis) eingeebnet, von Jacobi dagegen rehabilitiert wird, ist der Kern von Sandkaulens Jacobi-Interpretation. Siehe Sandkaulen, Grund und Ursache, a.a.O. 91 Siehe Jacobi, Schriften zum Spinozastreit, a.a.O., S. 20· „Leßing· ... Ueber unser Credo also werden wir uns nicht entzweyen. Ich (Jacobi, TE)· Das wollen wir in keinem Falle. Aber im Spinoza steht mein Credo nicht. Leßing· Ich will hoffen, es steht in keinem Buche. Ich· Das nicht allein. Ich glaube an eine verständige persön­ liche Ursache der Welt.“

80

tes, der sich allein in der dialogischen Relation des Glaubens offenbart, konterkariert. Insofern bringt der von Jacobi als irreduzible Entscheidung präsentierte salto mortale gleichsam performativ zum Ausdruck, was er gegenüber der spinozistischen Determinierung sicher zu stellen bean­ sprucht: Nämlich die unableitbare und unvorwegnehmbare Freiheit zum Glauben an (den theistisch vorgestellten) Gott. Nun gründet das Interesse, das sich im Ausgang von dem, was ich hier als Metaphysik der Differenz eingeführt habe, auf die beschriebene Sprung­ figur des salto mortale richten könnte, freilich nicht in dem theistischen Glaubensgehalt, mit dem Jacobi sie allemal noch enggeführt hat. Fruchtbar erscheint dagegen eine methodisch orientierte Rezeption dieses Sprungs, 92 und zwar dann, wenn man schärfer in den Blick nimmt, dass Jacobi kei­ neswegs (wie Hegel in seinen obsessiven Polemiken gegen Jacobi sugge­ riert hat) einen kruden Dualismus zwischen dem Glauben an die unver­ mittelte Positivität des geoffenbarten Schöpfergotts und einem philosophi­ schen Vernunftwissen, das ganz in Negativität verfangen sei, behauptet. Der salto mortale wäre missverstanden, deutete man ihn als irrationalisti­ schen Sturz ins Bodenlose, in die Dunkelheit einer göttlichen Handlungs­ macht, die gleichsam eine Freiheit ohne Grund garantieren würde. Man darf nicht vergessen, dass sich ein solcher salto vielmehr - das hat Miroslav Klose viele Jahre lang vorexerziert - als Übersprung über eine Kluft aus­ nimmt, der, wenn er denn gelingt, dem Springer erlaubt, zuletzt wieder si­ cheres Terrain unter seinen Füßen zu gewinnen: Dies alles aber, indem dieser Sprung eine Drehbewegung (ein „Kopf-unter„ wie es bei Jacobi heißt) durchmacht, die durchaus, für einen Moment, eine Exponierung an den möglichen Tod bedeutet. 93 Was man beachten muss, ist der Umstand, dass der präzise Dualis­ mus, den Jacobi in der Tat zwischen Glauben und Wissen, zwischen un­ mittelbar zeitlichen und invariant logischen Relationen errichtet, selbst innerhalb einer spezifisch immanenten Gründung seinen Platz hat. Die in­ teressante Komplikation von Jacobis Spinoza-Lektüre beruht deshalb da­ rauf, dass sie Spinozas Universum der radikalen Inhärenz des Unendli­ chen im Endlichen von innen her umdeutet, 94 anstatt ihr von „außen“ die 92 Im Gefolge von Sandkaulens Monografie haben Lektüren zugenommen, die Jacobi von dem Odium eines gegenaufklärerischen Pietisten (das Jacobi vor allem Hegel verdankt) zu befreien versuchen und dadurch zu produktiven Aktualisierung von Jacobis Position gelangen. Siehe bspw. Stefan Schick: Die Vollendung des Deut­ schen Idealismus in Friedrich Heinrich Jacobis Sendschreiben an Fichte. In: Deut­ sche Zeitschrift für Philosophie. 1 (2013), S. 21-41. 93 Siehe dazu ähnlich Sandkaulen, Grund und Ursache, a.a.O., S. 23ff. 94 Siehe Iber, Subjektivität, Vernunft und ihre Kritik, a.a.O., S. 69, der Jacobis Trans­ formation des spinozistischen Substanzbegriffs in den Begriff eines ursprünglichen und absoluten Seins anspricht, das aber gerade, in Umkehrung von Spinoza, als „weder begründbar noch beweisbar“ angesetzt werde.

81

Alternative eines radikalen Realismus der Unmittelbarkeit entgegen zu setzen . 95 Der Dualismus, der das zuletzt Unbedingte und das Bedingte ebenso voneinander abschneidet wie die jeweiligen Modi (Glauben vs. Wissen), in denen sich sie sich eröffnen, ist streng; aber dieser Dualismus findet sich zugleich innerhalb einer Immanenz wieder, die er nicht auf ei­ ne der beiden Seiten, die er einander entgegensetzt, abzubilden vermag. Jacobis systematisches Anliegen besteht in einer Rekonfiguration, nicht in einer Auflösung: Es geht darum, die Anteile dessen, was „vernünftig“ und „unvernünftig" ist, in neuer Weise zuzurechnen. Dies schließt ein, dass etwas existiert, was „vernünftigerweise“ nur (instantan) geglaubt und hin­ genommen, nicht aber mit den Mitteln einer sich selbst verabsolutieren­ den ratio, die eben nicht mehr „Vernunft“, sondern Hybris wäre, objekti­ viert werden kann. Dies ist der Hintergrund für Jacobis Separierung der „adjektiven“ Vernunft im Sinne einer „Beschaffenheit des Menschen, die er nach und nach erlangt, [eines] Werkzeug[s], dessen er sich bedient“ , 96 von einer „substantiven“, den Menschen ebenso implizierenden wie ihn durch­ schreitenden Vernunft. 97 Letztere trägt in Jacobis Sicht „die ganze leben­ dige Natur des Menschen: durch sie besteht der Mensch; er ist eine Form, die sie angenommen hat“ . 98 Man sieht jetzt, was Jacobi mitlaufen lässt, wenn er die eigene „Unphilosophie, die ihr Wesen hat im Nicht-Wissen,“99 gegen die „Alleinphilosophie“ 100 (hier) Fichtes und a fortiori Spinozas ausspielt: Weit davon entfernt, zu einem schlichten „Sprung aus der Ver­ nunft in den Glauben “ 101 zusammenzusinken, mutet der „Sprung an den Ort der ,Unphilosophie ‘ “ 102 als eine Geste an, die das Endliche als Endli­ ches (als Differenz) freisetzt, ohne sein Gehaltensein durch das Unbeding­ te (bei Jacobi: das „Übernatürliche“) zu negieren. Man sieht, wie sich an diesem Wendepunkt die gesamte Konstellation einer Metaphysik der D if­ ferenz wiederholt: Kein eliminativer Idealismus (Spinozas Rationalismus 95 Jacobis salto mortale ist daher auch nicht mit jener Operation zu verwechseln, von der sich später auch Derrida distanziert hat und die darin besteht, gegenüber der Immanenz „einen Wechsel des Standortes zu beschließen, auf diskontinuierliche und plötzliche Weise, durch ein brutales Sich-außen-Einrichten und durch die Af­ firmation absoluten Bruches und absoluter Differenz.“ Siehe Jacques Derrida: Fi­ nes hominis. In: Ders.: Randgänge der Philosophie. Wien 1999, S. 156. 96 Friedrich Heinrich Jacobi. Beylage VII. In: Ders.: Schriften zum Spinozastreit, a.a.O., S. 259. 97 Die Unterscheidung wird insgesamt eingeführt in Friedrich Heinrich Jacobi: Bey­ lage II zu: Jacobi an Fichte (1799). In: Ders.: Schriften zum transzendentalen Idea­ lismus. Werke. Bd. 2,1. Hamburg; Stuttgart; Bad Cannstatt 2004, S. 232. 98 Ebd., 260. 99 Jacobi, Schriften zum transzendentalen Idealismus, a.a.O., S. 194. 100 Ebd. 101 Sandkaulen, Grund und Ursache, a.a.O., S. 88. 102 Ebd.

82

der Inhärenz) und auch kein hiatus irrationalis in radikal begriffslose Exteriorität (Glaube ans Unmittelbare statt Wissen in Vermittlungen), son­ dern Sicherung einer differentiellen Immanenz - dies sind die Koordina­ ten der Position Jacobis, die nicht umsonst auf die Frage zuläuft: „[H ]at der Mensch Vernunft: oder hat Vernunft den Menschen?“ 103 Aber die Ergänzung, die Jacobi in die Bewegung einer solchen diffe­ rentiellen Metaphysik einbringt, ist entscheidend: So sehr nämlich Hyppolite - das war die relevante dialektische Einsicht - das Hegelsche Absolute als einen „doppelsinnigen“ Logos (G. Misch) rekonstruierte, als Geschehen eines in die Expressivität zerstreuten Sinns, so sehr ließ diese Beschreibung noch die Frage unbeantwortet, wie innerhalb der Expressivität/Endlichkeit deren Unterschiedenheit von und zugleich Implikation in den Sinn/das Unendliche artikuliert werden kann. Mit Jacobi liegt nun eine solche Antwort zu Tage: Es bedarf innerhalb der Endlichkeit eines freien Sprungs, eines salto mortale, der am Endlichen selbst die synthetische Arbeit eines Sinns erneuert, welcher seinerseits dieses Endliche nie gänz­ lich interiorisiert, sondern ihn stets nur als ein Außen erreicht, das unauf­ hebbar bleibt.104 Erst ein solcher salto erlaubt es, klar zu fassen, inwiefern eine genuine Existenz im Logischen, ein „Sein-im-Wahren“ 105 möglich ist, wenn gilt, dass diese Existenz mehr und anderes voraussetzt als eine schiere Reduplizierung des Logischen. In die Terminologie von Hyppolite überführt: Was Jacobi präzisiert, ist der eigentliche Modus, in dem der Sinn expressiv wird; und zwar wird er es so, dass sich innerhalb des Endli­ chen die gesamte Verdopplung des Sinns, sein differentieller Lauf wieder­ holt. So aber aktualisiert sich in der „expression“ deren eigener Abstand zum „sens“, und erst so kann jene „Aufgabe ohne Ende“ 106 einer Epistemo­ logie beginnen, die stets aufs Neue das Zusammenspiel von Philosophie und Nicht-Philosophie durchläuft, um es zu differenzieren.107 1034567 103 Jacobi, Beylage VII, a.a.O., S. 259. 104 Siehe Michel Foucault, Jean Hyppolite (1907-1968), a.a.O., S. 996f.: „Während an­ dere im Hegel’schen Denken die Rückwendung der Philosophie auf sich selbst sa­ hen, den Augenblick, da sie zur Darstellung ihrer eigenen Geschichte überging, er­ blickte Hyppolite darin den Augenblick, da sie ihre eigenen Grenzen überschritt, um Philosophie der Nichtphilosophie zu werden oder vielleicht auch Nichtphilo­ sophie der Philosophie.“ 105 Zur Problematik des „être-dans-le-vrai“ siehe Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, a.a.O., S. 25. 106 Ebd., S. 46. 107 Übrigens hat sich womöglich im Denken Foucaults insgesamt ein gewisses Echo des Jacobischen salto mortale bewahrt, das zugleich in den Linien der bereits erläu­ terten Epistemologie Hyppolites zu verstehen wäre. Siehe Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt a.M. 1974, S. 396: „Noch bevor es vorschreibt, eine Zukunft skizziert, sagt, was man tun muß, noch bevor es ermahnt oder Alarm schlägt, ist das Denken auf der einfachen Ebene seiner Existenz, von seiner frühesten Form an, in sich selbst eine Aktion, ein

83

Der differentielle Übergang der Logik in Existenz (sowie in das epistemologische Feld der Realphilosophie) läuft mit sich über einen seiner­ seits differentiellen Überstieg vom Existenziellen ins Logische zusammen, der beide Relata in ihrer Singularität belässt. Auf merkwürdige Weise hat der salto mortale dann aber nicht nur den Charakter eines Sprungs in die Differenz, sondern zugleich den eines Sprungs im Glas: in der Immanenz. Bei Hegel selbst taucht eine solche Bruchstelle auf, wo die vollkommen logische, überzeitliche Selbstexplikation des Begriffs ihren paradoxen Grund in der Freiheit durschimmern lässt: Wie das reine Wissen nichts heißen soll als das Wissen als solches, ganz abstrakt, so soll auch reines Sein nichts heißen als das Sein überhaupt; Sein, sonst nichts, ohne alle weitere Bestimmung und Erfüllung. Hier ist das Sein das Anfangende, als durch Vermittlung, und zwar durch sie, welche zugleich Aufheben ihrer selbst ist, entstanden dargestellt; mit der Voraus­ setzung des reinen Wissens als Resultat des endlichen Wissens, des Be­ wusstseins. Soll aber keine Voraussetzung gemacht, der Anfang selbst un ­ m ittelbar genommen werden, so bestimmt er sich nur dadurch, dass es der Anfang der Logik, des Denkens für sich, sein soll. N ur der Entschluss, den man auch für eine Willkür ansehen kann, nämlich dass man das D enken als solches betrachten wolle, ist vorhanden.108

Bevor und damit die ungeheure Maschinerie der Selbstbewegung des Be­ griffs, die in ihrem letzten Zug die volle Identität von Denken und Sein realisiert haben wird, überhaupt anlaufen kann, bedarf es also eines ur­ sprünglichen „Entschluss[es], den man auch für eine Willkür ansehen kann“. Insofern ist die Wendung aufschlussreich, wonach der „Anfang der Wissenschaft" genuin gemacht werden muss: Jener Prozess, der, einmal sich selbst überlassen, sich bis zur letzten, durch keinen inneren Gegen­ satz mehr getrübten Einheit selber durchbegründen wird, hängt seiner Möglichkeit nach an einer Tat, die ihrerseits unableitbar bleibt. Im Inne­ ren der Immanenz des Logischen kommt es zu einem Sprung, einer le­ bendigen „Verursachung“ im Jacobischen Sinne, die sich, wenn das Den­ ken erst einmal angefangen hat, nurmehr in dessen Außen wiederholt.

gefährlicher Akt.“ Die deutsche Übersetzung von Canguilhems Aufsatz „Tod des Menschen oder Ende des Cogito?“, wo die besagte Passage aus Les mots et les choses zitiert wird, macht durch ihren alternativen Wiedergabeversuch der Foucault-Stelle die Nähe zu Jacobis Denkfigur (unfreiwillig) plakativer: „Das Denken ist, kaum daß es ins Dasein tritt und Form annimmt, per se ein Tun —ein Akt wie ein salto mortale.“ Siehe Georges Canguilhem: Tod des Menschen oder Ende des Cogito? In: Marcelo Marques (Hg.): Georges Canguilhem über Michel Foucault. Michel Foucault über Georges Canguilhem. Tübingen 1988, S. 47. 108 Hegel, Wissenschaft der Logik I, a.a.O., S. 68.

84

Frank Ruda

Hegels Mutter: Vom Übergang in den Geist

I. Es war einmal... Die philosophische Anthropologie war einmal eine Einöde. In ihrem Ge­ biet waren nahezu alle Unternehmungen harschen und grundlegenden Kritiken, weitreichenden De(kon)struktionen verschiedenster Art oder auch direkten Verwerfungen unterworfen. Wie ist diese eigentümliche Si­ tuation entstanden? Indem die philosophische Anthropologie die interne Struktur, Logik und / oder die natürliche Verfasstheit menschlicher We­ sen ausstellen wollte, schien sie sich nicht nur konstitutiv einem objekti­ ven Verständnis und einer objektivierenden Konzeption des Menschen zu überantworten, sondern überdies zugleich selbst Begriffe des menschli­ chen Wesens sowie Lebens hervorzubringen, die höchst problematische Implikationen hatten. Teilweise geschah dies, weil sie den Grund für die zunächst größtenteils ignorierte und dann, nach kurzer affirmativer Übergangszeit, größtenteils abgelehnte, idealistische Weltanschauung des Humanismus bereitete. Ein solcher Humanismus sollte ermöglichen, die wirklich existierenden sozialen Verhältnisse politisch zu kritisieren, indem man darauf hinwies, dass diese im Widerspruch zu den wirklichen Zwe­ cken der menschlichen Natur stehen. Humanismus war so schon immer ein heimlicher Aristotelismus. Anders gesagt, beförderte die humanisti­ sche Perspektive einen Kritizismus der existierenden sozialen und politi­ schen Bedingungen, aber nur um den hohen Preis einer Rückkehr zu einer metaphysischen Konzeption der menschlichen Natur. So wurde als Kon­ sequenz des Humanismus (d.h. des Aristotelismus) die philosophische Anthropologie in eine Scylla-und-Charybdis-Situation gebracht. Wenn menschliche Natur die Basis dafür ist, weltliche Bedingungen zu verän­ dern oder zumindest zu bewerten, dann braucht man eine stabile Basis, um diesen Akt der Kritik zu vollziehen. Aber auch wenn diese Basis uns ermöglicht, die Veränderung der Welt oder deren Kritik zu vollziehen, ge­ stehen wir so immer noch implizit zu, dass wir niemals das verändern werden können, was uns erlaubt die Welt zu verändern, nämlich unsere Natur. Auf diese Weise hat sich die zum Humanismus neigende philoso­ phische Anthropologie selbst aristotelisiert und wurde so unmittelbar zu einer substantialistischen Metaphysik der menschlichen Natur und des menschlichen Lebens.

85

Eine geringfügig andere Phrasierung des gleichen begrifflichen Zu­ sammenhangs, der oft mit den Arbeiten des frühen Marx assoziiert wird, 1 betont nicht nur, dass menschliche Wesen die einzigen Wesen sind, die beständig ihre eigenen Natur verändern, sondern auch, dass jede Gesell­ schaft, die fixiert ist, auf einer Fiktion / Fixion dessen aufruht, was menschliche Wesen sind. 12 Eine solche Fiktion / Fixion mag eine gewisse Verfasstheit bestimmter Gesellschaftsformen ermöglichen (kapitalisti­ scher beispielsweise), aber da menschliches Leben sich konstitutiv und konstant neu bestimmt, ist jede Art der Fixion der menschlichen Natur letztlich nichts anderes als eine inhumane Fiktion, die eine Gesellschaft von ihrem eigenen subjektiven Lebensimpuls, d.h. ihrer natürlichen Basis, entfremdet. Menschliche Natur ist hier, anders als die Natur anderer We­ sen, weil sie sich nur durch und in einer selbsttransformierenden und auto-transformatorischen Praxis verwirklichen kann. Aber mit diesem be­ grifflichen Schritt, durch die Bestimmung der menschlichen Natur als we­ sentlich unfixierbar, wird Geschichte und geschichtliche Veränderung zum Wesen des Menschen gemacht. Diese Konzeption impliziert so, dass Geschichte menschliche Natur ist . 3 So wird man aber zu der Schlussfolge­ rung getrieben, dass, solange wie eine Gesellschaft von ihrem substantiel­ len, subjektiven Grund entfremdet ist, man noch in der „Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft“ 4 lebt. Auch wenn man behauptet, dass Menschen keine vorgegebene Natur haben, sondern nur durch historische Prozesse der Selbstveränderung (d.h. durch eigene Praktiken) zu dem werden, was sie sind, kann man nicht anders als Geschichte zu naturalisie­ ren. Geschichte ist die Natur menschlicher Wesen und Menschen haben daher nur diese Natur. Man etabliert so aber nicht nur einen normativen, sondern ebenso grundlegend substantialistischen Grund. So wird die we­ sentliche Instabilität der menschlichen Natur zu einer überraschend stabi­ len Annahme. Die kritische (oder selbst-erklärt) emanzipatorische Anth­ ropologie hat daraus u.a. abgeleitet, dass der gegenwärtige Zustand der (kapitalistischen) Verhältnisse kritisiert werden muss, weil er die wahre menschliche Verwirklichung der menschlichen Natur fixiert und so un­ 1

2 3 4

86

Erich Fromm war der prominenteste Vertreter eines humanistischen Marx. Vgl. Erich Fromm: Das Menschenbild bei Marx. Berlin 1982. Für eine .cognitive map’ der verschiedenen Deutungen des humanistischen Marx, siehe: Frank Ruda: Hu­ manism Reconsidered, or: Life Living Life. In: Filozofski vestnik. 30.2 (2009), S. 175-93. Jacques Lacan führt den Begriff der „fixion“ mit einem „x“ in „L’etourdit“, in: Jac­ ques Lacan: Autres écrits. Hg. von Jacques-Alain Miller. Paris 2011, S. 483ff. Vgl. dazu: Robert B. Brandom: A Spirit of Trust: A Semantic Reading of Hegel’s Phenomenology of Spirit. Unveröffentlichtes Manuskript, auf: http://www.pitt.edu/. Karl Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie. In: Friedrich Engels; Karl Marx: Werke. Hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Bd. 13. Berlin 1961, S. S. 3-160, hier S. 9.

terdrückt und letztlich wahres menschliche Leben und Handeln verhin­ dert. Die anthropologische Konzeption der menschlichen Natur ist ent­ weder niemals oder immerwährend sich verändernd, aber in beiden diesen sozusagen „linken“ Varianten, kann die Charakterisierung des menschli­ chen Wesens nicht anders als ein Problem generieren, sobald man sie mit dem Begriff der Geschichte oder Geschichtlichkeit verbindet. Beide Vari­ anten enden bei einer a-historischen und unveränderlichen Natur mensch­ licher Wesen; entweder bei einer, die jede Art sozialer und politischer Veränderung und so auch Geschichte begründet (d.h. Natur wird so zur Basis von Geschichte gemacht und Geschichte somit wesentlich naturali­ siert) oder bei einer vermeintlich geschichtlichen und transformativen Natur des Agenten der Geschichte (des menschlichen Wesens), von dem behauptet wird, so fundamental geschichtlich zu sein, dass jegliche sub­ stantielle Bestimmung menschlicher Natur verunmöglicht wird. 5 Aber und dies ist das augenscheinliche Paradox - gerade diese Verunmöglichung ist letztlich eine erneute, wenn auch veränderte, Neu-Einschreibung einer substantialistischen Natur. Wieso? Da die einzige Sache, die sich nicht verändern kann und nicht verändern soll, die sich immer verän­ dernde Natur menschlicher Wesen ist (diese Festlegung wird hier zur ul­ timativen normativen Festlegung). Anthropologie in diesen beiden Versionen führt zu einer begriffli­ chen Eliminierung von Geschichte, was meint, dass sie sich letztlich in der Natur wiederfindet. Hieraus kann man sehen, wieso es nicht sonderlich überraschend ist, dass diese beiden anthropologischen Positionen leicht konvertierbar und dann in konservative politische Orientierungen inkor­ porierbar waren. Die erste Variante, die eine unveränderliche menschliche Natur annimmt, wurde prominent in den (immer noch) oft wiederholten Behauptungen aufgenommen, dass die menschliche Natur wesentlich selbstsüchtig und egoistisch ist (man kann hier an Hobbes und viele ande­ re denken) und sie deswegen nur einem kompetitiven Umfeld sich ange­ messen entwickeln kann, welches wiederum am besten durch die kapitalis­ tischen Weise sozialer Organisation bereitgestellt wird. 6 Wenn die menschliche Natur folglich substantielle Eigenschaften hat, dann kann

5

6

Gemäß dieser Variante gibt es keine vorgegebene Natur des Menschen, da mensch­ liche Natur wesentlich unbestimmt ist. Aber wenn man die Unbestimmtheit der menschlichen Natur annimmt, bedeutet das letztlich, dass menschliche Natur ent­ weder das ist, was Menschen aus ihr machen oder immer aber wesentlich unverän­ derlich unbestimmt bleibt. Die erstere Version führt zu den Konsequenzen, die ich oben skizziere, die andere, leicht abweichende, substantialisiert Unbestimmtheit (man kann hier etwa an Sartre denken). Für mehr dazu, vgl. die (mittlerweile) klassische Studie: Crawford Brough Macpherson: Die politische Theorie des Besitzindividualismus. Frankfurt a.M. 1973.

87

man argumentieren, dass es genau diese Eigenschaften sind, die jegliche Form menschlichen Verhaltens und menschlicher Interaktion wesentlich determinieren, welche wiederum jeder Forderung, die Gesellschaft grund­ legend zu verändern, widersprechen. Die menschliche Natur dient, dieser ersten konservativen anthropologischen Artikulation, nicht als eine un­ veränderliche Begründung, die Veränderung erlaubt, sondern als ein un­ veränderlicher natürlicher Grund, der Veränderung verhindert. 7 Der ge­ genwärtige Zustand der Gesellschaft ist, was er ist, aufgrund der mensch­ lichen Natur und jene, die von einer anderen Einrichtung der Welt träumen, träumen einen unnatürlichen (und oft grausamen) Traum oder haben eine falsche Vorstellung der menschlichen Natur und müssen des­ wegen an die richtige erinnert werden. Die zweite Variante, die der sich beständig verändernden Natur menschlicher Wesen, erschien in zwei verschiedenen, buchstäblich kon­ servativen, Positionen. Die erste behauptet, dass jede Art der sozialen Konstruktion, die nicht so dynamisch wie die menschliche Natur ist, notwendig das produktive, kreative und transformatorische Potential menschlicher Lebensaktivität blockiert. Das angemessene Funktionieren sozialer und politischer Organisationen hat die menschliche Natur und ihre intern transformatorische Dynamik als normativen Standard. Gerade der normative Standard, der aus der substantiellen Verfasstheit des Men­ schen abgeleitet wird, führt dann notwendig zu einer Gesellschaft, die, so wie ihre Mitglieder, dauerhaft dynamisch sich bewegend und flexibel zu sein hat. Gesellschaften können nur dann überleben, wenn sie beständige Selbstveränderung vollziehen und ermöglichen. Aber die Gesetze dieser Selbstveränderung sind nicht durch die, die ihnen unterworfen sind, selbst-gesetzt, sondern werden vielmehr als natürlich präsentiert (eine ,natürliche Umgebung‘ für diese ist zum Beispiel der Markt und seine spezifischen Gesetze ) . 8 Die zweite mögliche Option, wie man die selbst­ verändernde Natur menschlicher Wesen in ein (auch wenn nicht notwen­ dig) konservatives framework innerhalb der Anthropologie integrieren kann, ist, zu betonen, dass menschliche Wesen von Natur aus defizient sind, dass ihre Natur schwach ist und dysfunktional und man gerade des­ 7

8

88

Deswegen hat Max Horkheimer etwa einmal —dieser Annahme widersprechend — bemerkt, dass „die seit Ewigkeiten vorgetragenen Reden, die aufgrund der mensch­ lichen Natur der notwendigen geschichtlichen Veränderung sich entgegensetzen, sollten endlich verstummen.“ Max Horkheimer: Bemerkungen zur philosophi­ schen Anthropologie. In: Alfred Schmidt (Hg.): Kritische Theorie. Frankfurt a.M. 1968, S. 227. Man sollte hier auch an Stalins Idee erinnern, eine neuen Menschen zu schaffen, der dazu in der Lage wäre, die begrifflichen Konsequenzen dieser Be­ stimmung der menschlichen Natur zu negieren. Eine Analyse der Flexibilitätsbehauptung im Gegensatz zu einer Betonung der ,Plastizität‘ des Menschen, vgl. Catherine Malabou: Was tun mit unserem Gehirn? Zürich 2006, S. 1—12.

wegen kompensatorische Operationen starker Institutionen benötigt, um sie funktionieren zu lassen (man kann hier an Arnold Gehlen denken). Die menschliche Natur ist so schwach, dass sie nichts anderes als einen sozialen und kulturellen Prozess der Prothetisierung, der sie dauerhaft verändert, erlaubt, gerade weil es kein Überleben der menschlichen Natur vor und jenseits ihrer kulturellen und institutionellen Transformation, Er­ ziehung und Formierung gibt. Menschliche Natur ist unfähig die Gesell­ schaft, in der sie lebt, zu bestimmen, da sie diese Gesellschaft braucht, durch die sie geformt wurde. Die Gesellschaft zeigt sich so als das natürli­ che Schicksal der schwachen menschlichen Natur, die ihr ermöglicht, ihre eigene Schwäche zu überkommen. In diesen konservativen Artikulationen optierte man entweder für eine menschliche Natur, die in natürlicher Weise eine gegebene Form der Gesellschaft bestimmt oder für eine menschliche Natur, die unfähig ist, die eigenen Gesetze der Veränderung zu beschließen, wodurch die Art und Weise und der Ort dieses Beschließens naturalisiert wird. Die philosophische Anthropologie wurde zu einer begrifflichen Ein­ öde, wie man hieraus schließen kann, weil all diese, konservativen als auch emanzipatorischen, Varianten, in der ein oder anderen Weise, einer meta­ physischen (d.h. substantialisierenden) Bestimmung der (menschlichen) Natur verhaftet waren. Der Diskurs über menschliche Wesen und ihre Natur wurde aufgrund der naturalisierenden Tendenz dieses Diskurses, die letztlich Geschichtlichkeit verunmöglichte, zu einem unbewohnbaren Terrain. Die Anthropologie wurde zu einer Einöde, weil in ihrem Reich die Natur herrschte und Geschichte verschwand. Daher waren all die Kämpfe zwischen den Konservativen und Emanzipatoren um die mensch­ liche Natur auf diesem nun verlassenen Kampfplatz letztlich Kämpfe um die ahistorische Natur (menschlicher Wesen). Die Nachwirkungen dieser Schlachten brachten als Kollateralschaden die Unmöglichkeit jeden D is­ kurses mit sich, der noch das leichteste anthropologische Timbre hatte, was auch einen der Gründe angibt, wieso etwa die Psychoanalyse im All­ gemeinen und Freuds Theorie der Triebe im Besonderen dafür kritisiert wurde, dass sie „historische Zufälligkeiten in biologische Notwendigkei­ ten “ 9 verkehrt (und manche von Freuds Kritikern gingen dann weiter und behaupteten, dass aus seiner Theorie aber gerade deswegen die allgemei­ nen Mechanismen der Naturalisierung und d.h. der Ideologie herausprä­ parieren kann) . 10 Die philosophische Anthropologie war einmal eine Einöde, weil sie nach Substantialismus, Metaphysik und genauer einer Metaphysik der 9

Herbert Marcuse: Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud. Frankfurt a.M. 1965, S. 28. 10 „Der ,ungeschichtliche‘ Charakter von Freuds Begriffen enthält so die Elemente seines Gegenteils.“ Ebd., S. 3lf.

89

(menschlichen) Natur roch. Sie naturalisierte die menschliche Natur und so wurde ihr Geschichte zum anathema. Ein anathema, auf das sie sich dennoch konstant bezog. Aber die naturalisierende Tendenz brachte Probleme mit sich, die sogar den Konflikt zwischen konservativen und emanzipatorischen Positionen überstieg. Das hat einen begrifflichen Grund: Substantialismus kann nur in ein Ausschluss- und Ausschließlich­ keitsdenken umschlagen - das ist die Folge des zugrundeliegenden Aristotelismus 11 - und manche nicht nur aus der sozialen und politischen Sphäre ausschließen, sondern auch aus der Sphäre der menschlichen We­ sen überhaupt, was sich als politisches (und historisches) Desaster zeigte. So wurde jeder Diskurs, der das Wesen des Menschen substantiell zu be­ stimmen suchte, zu einem verbotenen und zurecht vermiedenen, wie ver­ minten Territorium. Die Gefahren eines solchen Versuchs beinhalteten die Substantialisierung der Natur oder die Naturalisierung der Substanz (entweder beides zugleich oder nur eines von beiden im Versuch, beide zu vermeiden), politischer und ontologischer Exklusivismus, etc. etc.

II. Dann: Gewohnheit Dann, vor nicht so langer Zeit, gab es ein Wiederaufkeimen des Interesses an der philosophischen Anthropologie. Neo- oder nicht N eo­ Biologismen sind wieder in Mode und mancherlei Form des philosophi­ schen Vitalismus ermutigt eine Rückkehr zu anthropologischen Spekula­ tionen. Die Naturphilosophie ist ebenso zurückgekehrt wie neue Materia­ lismen, die nicht nur die Materie neu zu definieren trachten, sondern auch, im gleichen Zug, die Definitionsversuche der menschlichen Natur (wenn auch nicht immer explizit) neu beleben. Und Theorien der zweiten Natur lassen sich aus manchen philosophischen Lagern gar nicht mehr wegdenken. Wie konnte dies geschehen, nachdem die Dinge so schlecht um die Anthropologie bestellt schienen? Diese Frage ist leichter zu be­ antworten als man zunächst denken mag, denn das Wiederaufkommen des Interesses an der Anthropologie war in gewisser Weise bereits in das ein­ geschrieben, was ihren Untergang heraufbeschwor. Was man brauchte, war ein nicht-substantialistischer Diskurs über die menschliche Natur, und die verschiedenen Versionen der substantialistischen Anthropologie ernst zu nehmen generierte genau diese Einsicht. 112 Wenn man mit der 11 Manche dieser Implikationen werden klarer durch: Jacques Rancière: Das Unver­ nehmen. Politik und Philosophie. Frankfurt a.M. 2002 und in: Giorgio Agamben: Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt a.M. 2002. 12 Es ist hier angebracht anzumerken, dass bereits 1970 Adorno (ein Kritiker der substantialistischen Anthropologie) Ulrich Sonnemanns Negative Anthropologie pries. Vgl. Theodor W. Adorno: Zu Ulrich Sonnemanns .Negative Anthropologie‘. In:

90

Option einer unveränderbaren menschlichen Natur, die sozialen und poli­ tischen Wandel ermöglicht oder verhindert, oder mit der Option einer sich immer verändernden Natur, die diesen ermöglicht oder verhindert, zurückgelassen wurde, dann kann man daraus schließen, dass gerade der Konflikt zwischen den beiden Seiten nicht nur für die Bestimmung der menschlichen Natur, sondern auch für die der Anthropologie verantwort­ lich ist. Menschliche Natur in der Anthropologie ist zwischen Dynamik und Statik, zwischen Unveränderbarkeit und unveränderbarer Verände­ rung gespalten und genau diese Spaltung spaltet wiederum den Diskurs, der die menschliche Natur zu bestimmen sucht. In diesem Sinne hat die Anthropologie die Substanz ihres Substantialismus verloren und dies hat es erneut ermöglicht, zur Anthropologie und menschlichen Natur zu­ rückzukehren. Um dies anschaulicher zu machen, folgendes Schema:

Unveränderbare menschliche Natur

Pro Veränderung

Sich immer verändernde (bestimmte oder unbestimmte) menschliche Natur Pro Veränderung

Unveränderbare menschliche Natur

Vs. Veränderung

Sich immer verändernde (bestimmte oder unbestimmte) menschliche Natur Vs. Veränderung

Wo findet der wahre Widerstreit statt? Wo erscheint der Mangel an Sub­ stanz? Augenscheinlich zwischen den ersten zwei und der zweiten zwei Spalten durch die ein Antagonismus in der Definition der menschlichen Natur erscheint und also durch die Anthropologie, den sie bestimmenden Diskurs. Es gibt einen Widerspruch in der Konzeption der menschlichen Natur und die Einheit der Gegenteile ist genau die Struktur der Anthro­ pologie. Durch das Verständnis ihrer Struktur - sie als Einöde oder Schlachtfeld zu sehen - verliert sie ihren substantialistischen Charakter. D.h. dadurch, dass man den überdeterminierten (weil letztlich durch ei­ nen unveränderlichen determinierenden Faktor determinierten) Wider­ spruch in ihrem Kern ernst nimmt (und die zwei Spalten gegeneinander­ setzt), wird die Anthropologie zu der Einsicht geführt, dass es letztlich keine stabile Definition des menschlichen Wesens oder Lebens gibt, we­ der als schlicht transformativ noch als der Veränderung entgegengesetzt. Sie ist konstitutiv beides, veränderlich und unveränderlich. Sie ist ein Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann. Bd. 20.1. Frankfurt a.M. 1970, S. 262-263. Die Rückkehr zu anthropologischen Fragen ist daher weder besonders neu noch eine wirkliche Rückkehr, schon allein, weil der historische Moment der Überwindung der Anthropologie mit einer Rückkehr zu ihr koinzidierte (ein sehr Adornitisches Motiv). Mit anderen Worten: der Moment, in dem der substantialistische Diskurs alle Substanz verlor (und zur Einöde wurde) ist genau der Moment, an dem man diesen Diskurs wiederaufnehmen konnte.

91

Kampfplatz (und ihre Definition resultiert aus den anthropologischen Kämpfen, die auf ihm gekämpft werden). Dies ernst zu nehmen, bedeutet, dass Anthropologie ihren inhärenten substantialistischen Charakter verlo­ ren hat und ihren immanenten Widerspruch adressieren muss. Dass, wie ein berühmter slogan lautet, dies „nicht als Substanz sondern ebenso sehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken “ 13 ist, mag ein Grund sein, wieso viele, wenn nicht alle gegenwärtigen Rückkehrversuche oder Verle­ bendigungen der Anthropologie, zumindest irgendwann, beginnen sich Hegel zuzuwenden (und dies gilt sowohl für die kontinentalen als auch für die analytischen und pragmatistischen Projekte). Ist Hegel nicht der Denker des Widerspruchs, der zeigt, dass wider­ sprechende Positionen unwissentlich zugleich eigentümlich in einer Ver­ einigung der Gegenteile miteinander verbunden sind? Deswegen ist es wohl keine große Überraschung, dass das Wiederaufkeimen des Interesses in die Anthropologie mit einem Wiederaufkeimen des Interesses an dem­ jenigen Teil des Hegelschen Systems ko-emergierte, der für lange Zeit nicht nur vernachlässigt, sondern auch als unbewohnbare Einöde wahrge­ nommen wurde, nämlich seine Philosophie der Natur (ebenso wie seine Philosophie der menschlichen Natur, die Teil der Philosophie des subjek­ tiven Geistes ist). Natürlich ist Hegels Anthropologie anscheinend kein Teil seiner Naturphilosophie, aber in gewisser Weise ist sie es weiterhin, da sie den Übergang aus der Natur beschreibt, der beides ist: Teil und nicht Teil der Natur. So ist die Anthropologie sowohl in als auch außer­ halb der Natur oder, mit anderen Worten, sie behandelt die Spezifizität der menschlichen Natur . 14 Aber was kann man von Hegels Anthropologie lernen, das die vorherigen Substantialismen übersteigt? Es ist das Ver­ dienst von u.a. Catherine Malabou15 und Slavoj Zizek , 16 die Bedeutung des Begriffs der Gewohnheit in Hegels Philosophie in den Blick gebracht zu haben, eines Begriffs, der die Antwort auf die oben gestellte Frage gibt. Gewohnheit ist ein Begriff, der die unveränderlichen, substantialistischen Züge der menschlichen Natur vermeiden soll und sich als konstitutiv für alle menschlichen Praxisformen zeigt. Er steht daher wahrhaft im Zent­ rum menschlichen Lebens und ist nicht nur für die Ausbildung der Sub­ jektivität oder des subjektiven Geistes relevant, sondern auch für sozio13 Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Phänomenologie des Geistes. In: Ders.: Werke. Bd. 3. Frankfurt a.M. 1970, S. 23. 14 Eine der ersten Sammelbände, der sich mit Hegels Naturphilosophie beschäftigt, ist: Stephen Houlgate (Hg.): Hegel and the Philosophy of Nature. Albany 1998. Der subjektive Geist spielt in ihm keine bedeutende Rolle. 15 Vgl. Catherine Malabou. The Future of Hegel. Plasticity, Temporality, and Dialec­ tic. Routledge 2005. 16 Vgl. Slavoj Zizek. Discipline between Two Freedoms — Madness and Habit in German Idealism. In: Markus Gabriel und Slavoj Zizek: Mythology, Madness, and Laughter. Subjectivity in German Idealism. New York 2009, S. 95—121.

92

politische Phänomene, für den objektiven Geist, und man könnte anneh­ men, dass er sogar eine wichtige Rolle für die Konstitution des absoluten Geistes, d.h. die Sphären der Kunst, Religion und Philosophie spielt. Der Begriff der Gewohnheit erscheint im Übergang von der Naturphilosophie zur Philosophie des Geistes im ersten Teil des dritten und letzten Bandes der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1817), der mit „Sub­ jektiver Geist“ überschrieben ist und in dem Hegel die (natürliche und geistige) Formierung des Subjekts behandelt. Dieser Teil beginn mit der Anthropologie (bevor Hegel die Phänomenologie, die Psychologie und dann den objektiven17 und absoluten Geist behandelt). Die Gewohnheit ist ein Teil dessen, was Hegel die „fühlende Seele“ 18 nennt. Wie bereits häufig gezeigt wurde, ist Gewohnheit eine formierende Kategorie, da man durch sie fähig ist, seine Natur in eine andere Art von Natur zu verwandeln, weswegen Gewohnheit synonym mit zweiter Natur ist. Gewohnheit ist formierend und transformativ, weil man durch sie (auch wenn dies tautologisch klingt) an Dinge und Praktiken gewöhnt (vom Atmen bis zum Laufen, Sprechen, etc.). Und zwar, indem diese Praktiken Teil des eigenen Selbstgefühls werden (d.h. man kann sich ohne diese Fähigkeiten und Fertigkeiten gar nicht mehr denken). Gewohn­ heitsdinge scheinen, als wären sie in unsere Natur eingeschrieben, weil sie habitualisiert sind, zweite Natur und doch erworben und d.h. kulturell, weswegen sie zweite Natur sind. Alles, was wir sind, ist in einem abstrak­ ten Sinne, habitualisiert und d.h. nicht natürlich ererbt. Durch Gewohn­ heit ist man fähig verschiedene komplexe Dinge zugleich zu tun (zu re­ den, während man läuft und raucht und denkt, etc.). Ich möchte hier kei­ ne detaillierte Untersuchung des Gewohnheitsbegriffs vornehmen, sondern vielmehr vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Rückkehr zur Anthropologie (und zu der Hegels) eine einfache Frage stellen: Wenn es nur eine veränderte, immer schon zweite Natur gibt, die bereits durch Praktiken der Habitualisierung und habitualisierte Praktiken geprägt ist, was ist die Natur, die transformiert wird? Diese Frage wird dringlicher, wenn man sich klar macht, dass Hegels Anthropologie nicht mit Ge­ wohnheit beginnt, sondern mit etwas anderem, zu dem ich gleich zurück­ kehren möchte. Was ist also die Natur, die durch die Praxis des Geistes

17 Ich habe auch zur sich beständig erweiternden Liste der Namen beigetragen, die sich mit Hegels Gewohnheitsbegriff befassen, indem ich Gewohnheit im objekti­ ven Geist untersucht habe. Vgl. Frank Ruda: Hegels Pöbel. Eine Untersuchung der .Grundlinien der Philosophie des Rechts‘. Konstanz 2011. 18 Der Begriff der Gewohnheit erscheint in § 409, nachdem Hegel das „Selbstgefühl“ und die „fühlende Seele“ und die „fühlende Seel in ihrer Unmittelbarkeit“ behan­ delt hat. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Dritter Teil. In: Ders.: Werke. Bd. 10. Frankfurt a.M. 1983, S. 182.

93

verändert wird? Ererben wir etwas von der Natur? Gibt es etwas, was in natürlicher Weise den Geist determiniert? Wie genau geht man von der Natur in den Geist über? Gibt es eine erste Natur? Gibt es hier vielleicht sogar eine Theorie der Vererbung als Theorie des Übergangs oder schließt Hegels Theorie der Gewohnheit dies systematisch aus ? 19 Die erste Antwort scheint ein eindeutiges „Nein“ zu sein: es gibt keine Vererbung, die nicht grundlegend eine Vererbung des Geistes an sich selbst wäre. Denn durch Gewohnheit formt sich Kultur und man er­ erbt kulturelle Praktiken, die bereits etabliert wurden, also scheint es kein natürliches Moment der Vererbung geben zu können (auch wenn manche behaupten, dass auch die zweite Natur nur eine andere Art Natur ist und daher der Geist niemals das los wird, wovon er sich los machen will) . 20 Wenn im subjektiven Geist der Geist sich auszubilden beginnt, indem er eine zweite Natur ausbildet, dann kann man sehen, warum Hegel explizit statuiert, dass „der Geist... nicht auf natürliche Weise aus der Natur hervor[geht] “ . 21 Wenn der Geist nicht natürlich aus der Natur hervorgeht, dann einfach, weil er schon immer „sein eigenes Resultat“ ist, und deswe­ gen kann die Natur nicht „das absolut unmittelbare, Erste, ursprünglich Setzende“ sein, sondern nur eine der Voraussetzungen, die der Geist „sich macht“ 22 und von der er ausgeht. Der Geist geht nicht natürlich aus der Natur hervor, sondern weil am Anfang der Geist nicht anders kann als sich (auch) zu naturalisieren, ist die Emergenz des Geistes grundlegend geistig. Das ist der scheinbar paradoxale Zug: Der Geist naturalisiert sich selbst - indem er die Natur als seine Voraussetzung annimmt -, aber diese Naturalisierung ist ein Akt des Geistes. Kann man daher nicht annehmen, dass das einzige, was der Geist er­ erbt, ein Produkt des Geistes ist, das er sich selbst zugedacht hat? Ja, aber was bedeutet das? Wenn Hegel behauptet, dass „der natürliche Mensch ist, wie er nicht sein sollte. Es gehört die Vermittlung dazu, vermittels der Erhebung über das Natürliche zum Bewußtsein, zum Wissen des Allge­

19 Hegel hat natürlich eine rechtliche Theorie der Vererbung, die er in seiner ,Philosophie des Rechts’ entwickelt. An dieser Stelle werde ich aber nur den Übergang von Natur zu Geist in den Blick nehmen, auch wenn man von dort aus die Erb­ schaftstheorie sicherlich anders wird lesen können / müssen. 20 Man kann hier an die Arbeiten von Hubert L. Dreyfus denken. Man kann aber auch daran erinnern, dass für Hegel bereits so das Atmen etwas ist, was das Kind mit seiner Geburt erlernen muss und das dann unmittelbar habitualisiert wird. Aber die Tatsache, dass menschliche Körper, die atmen müssen, Luft und eine At­ mosphäre brauchen kann nicht vollständig als ein Effekt der Kultur gedacht wer­ den (auch wenn die ,Atmosphäre‘ klarerweise ein kultureller Begriff ist). 21 Hegel, Enzyklopädie, S. 25. 22 Ebd., S. 24.

94

meineren, des Höheren zu kommen “ , 23 dann scheint es, dass die einzige Sache, die die Menschheit zur Menschheit macht, den Geist zum Geist, genau der Akt der Veränderung dessen ist, was ein unmittelbar, natürlich Gegebenes ist. Und ein Mittel dies zu tun - vielleicht das entscheidende ist die Gewohnheit, d.h. die Formierung einer zweiten Natur. Ebenso ist alles, was ein Unmittelbares, ein natürlich Gegebenes zu sein scheint, be­ reits durch den Geist in einem Akt der Naturalisierung gesetzt. Scheint es deswegen nicht sinnfrei, die Hegelsche Konzeption der Vererbung (als Übergangstheorie von Natur zu Geist) zu untersuchen? Man kann diese Frage in folgender Weise verkomplizieren: Was ererbt der Geist als das, was er verändern muss, so dass es das ist, was der Geist als das gesetzt hat, was verändert werden muss? Wenn es nichts Gegebenes bei Hegel gibt, nicht einmal Nichts, wie kann man dann das denken, was weniger ist als Nichts, das wir in irgendeiner Weise ererben? Bevor Hegel den Begriff der Gewohnheit in der „Anthropologie“Sektion der Enzyklopädie einführt, entwickelt er einen Begriff, der zu­ mindest auf den ersten Blick, einen Grund für eine Hegelsche Theorie der Vererbung bereitzustellen scheint. Dieser Begriff ist der des Naturells. 24 Der Verweis auf die Natur ist augenscheinlich, wenn es ein Naturell des Geistes gibt und ein Aspekt dieses Begriffs ermöglicht die oben gestellte Frage zu beantworten, nämlich der, den Hegel als „Genius“ bezeichnet. Um sich diesem zu nähern, sollte man zunächst bemerken, dass Hegel während er diesen Begriff einführt, erklärt, warum er so beginnt, wie er beginnt: „Man kann... nicht mit dem Geiste als solchem, sondern muss von seiner unangemessenen Realität anfangen. Der Geist ist zwar schon im Anfange der Geist, aber er weiß noch nicht, daß er dies ist . “ 25 Der Geist beginnt unangemessen. Der Anfang des Geistes ist ein verfehlter Anfang. Die unangemessene Realität des Geistes ist das, was Hegel Natur nennt. 26 Die Natur ist der Geist in unangemessener Form, aber d. h. auch, dass am Anfang der Geist natürlich ist, weil er (noch) nicht Geist ist. Er ist ein Geist, der nicht Geist ist, weil er ein Geist ist, der nicht weiß, was er ist. Daher ist er nicht, was er ist. Seine Unangemessenheit wird in Be­ griffen des Wissens bemessen und artikuliert. Der Geist ist anfänglich da,

23 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III. In: Ders.: Werke. Bd. 20. Frankfurt a.M. 1986, S. 328. 24 Hegel, Enzyklopädie, S. 71. Ich beziehe mich hier und im Folgenden auch auf die Anmerkungen, von denen ich behaupten würde, dass sie zumeist in Hegelschem Geiste verfasst sind, wenn auch nicht von Hegel selbst. 25 Ebd., S. 33. 26 Das ist klarerweise ein sehr reduzierte Art Hegels Begriff der Natur einzuführen, der weitaus komplexer ist. Aber an dieser Stelle ist es nur wichtig zu bemerken, dass Natur das ist, was da ist, wenn der Geist unangemessen da ist.

95

aber er weiß nicht, dass er anfänglich da ist . 27 Daher ist er, in positiver Weise, nicht-da, Nicht-Geist am Anfang. Er weiß nicht, dass er da ist und so ist er ein Geist, der nicht weiß, wo, was oder sogar, dass er ist. Am An­ fang des Geistes ist derselbe desorientiert und wird nur langsam damit be­ ginnen, zu fühlen, dass und was er ist (wenn er zur „fühlenden Seele“ ge­ worden ist). Der Geist beginnt aus und mit seiner eigenen Unangemes­ senheit, weswegen er auch letztlich sein eigenes Resultat sein wird. Er beginnt aus und mit seiner eigenen Unangemessenheit, weil der Geist nicht einfach mit sich als solchem beginnen kann, sondern vielmehr mit dem Scheitern, sich selbst zu fassen. In diesem Sinne kann man sagen, dass der Geist beginnt, noch bevor der Geist beginnt und, dass er da ist, bevor er wirklich da ist. Wenn, der „Geist... wesentlich nur das“ ist, „was er von sich selber weiß“ 28 und der Geist noch nicht weiß, dass er Geist ist, dann ist der Geist am Anfang des Geistes noch nicht Geist. Der Geist be­ ginnt, bevor der Geist beginnt, aber dieser Anfang ist ein Anfang, weil der Geist, der anfängt, bevor der Geist anfängt, (noch-)nicht-Geist ist, ein­ fach, weil der Geist noch nicht angefangen hat. Der Geist ist da, bevor der Geist da ist, aber nur als Abwesenheit des Geistes (als Geist, der nicht weiß, was er ist, und deswegen nicht ist, was er ist). Der Geist ist da und nicht da an seinem eigenen Anfang. Er ist nur da als Abwesenheit des Geistes und ist daher (als) seine eigene verfehlte Antizipation. Der Name für die Präsenz des Geistes im Modus der Abwesenheit ist Natur. Warum Natur? Weil der positive Begriff (im trivialen und in Hegels Sinn) der Abwesenheit des Geistes - das Andere des Geistes - Natur ist. Aber wie geht der Geist aus seiner Abwesenheit hervor?

27 Am Anfang des Geistes gibt es einen Geist, dem es misslingt Geist zu sein. Aber das meint nicht, dass er einfach nicht Geist ist, vielmehr ist er Un-Geist, ganz ana­ log zu der berühmten Anekdote über Freuds Patienten, der nachdem er seinen Traum geschildet hat, sagt, dass er nicht weiß, wer die Person in seinem Traum ist, aber klarerweise ist das nicht seine Mutter. Für Freud, wie Alenka Zupancic gezeigt hat, bedeutet dies nicht, dass der Patient einfach seine Mutter negiert. Vielmehr bringt gerade der Akt der Negation eine eigentümliche Entität hervor, die die ,Nicht-Mutter’, die negierte Mutter ist. Man kann sagen, dass dies bei Hegel der Anfangszug des Geistes ist (und es mag kein Zufall sein, dass Hegel das anfängli­ che Leben des Geistes auch in Begriffen des Traumes fasst). Es ist als ob der Geist damit beginnt zu statuieren: „Was auch immer da ist, es ist nicht-Geist“ und genau dies ist der Anfang des Geistes. Vgl. Alenka Zupancic: Between Aufhebung and V erneinung. U nter: http://backdoorbroadcasting.net/2013/05/the-actuality-ofthe-absolute-hegel-our-untimely-contemporary/. 28 Hegel, Enzyklopädie, S. 33.

96

III. Die N atur des Geistes Wie Hegel bemerkt: „Der Geist hat für uns die Natur zu seiner Vorausset­ zungg. “ 29 Was ererbt also der Geist von und durch die Natur, wenn die N a­ tur das Andere des Geistes, d.h. wenn sie die Abwesenheit des Geistes ist oder genauer: Geist noch nicht als Geist, ist? Was ist der Status dieser ei­ gentümlichen Voraussetzung? Um dies zu fassen, sollte man erinnern, dass Hegel drei Formen des Geistes unterscheidet: zunächst einen Geist, der sich immanent auf sich bezieht, dann einen Geist, der sich auf etwas außerhalb von sich bezieht und letztlich einen Geist, der sich auf etwas außerhalb von sich bezieht, als etwas, das er selbst gesetzt hat. Subjekti­ ver, objektiver und absoluter Geist. Es ist wichtig anzumerken, dass der Geist von Anfang an Teil des (absoluten) Geistes ist, weshalb er nur „für uns“ (d.h. aus der Perspektive des absoluten Geistes, d.h. der Philosophie) seine Voraussetzung in der Natur hat (d.h. in der Abwesenheit des Geis­ tes). Aber es ist ebenso wichtig anzumerken, dass der Geist „als solcher“ die Natur nicht voraussetzt, weil es kein einfach Gegebenes gibt, noch ei­ ne objektive Natur, die vor dem Geist dessen vor-geistige Vorbedingung ausmachte. Der Geist setzt Natur voraus heißt, dass er seine eigene Ab­ wesenheit annimmt und der Name dieser Annahme ist Natur. Aber er setzt sich nicht einfach nur negativ als abwesend voraus, sondern er setzt seine eigene Abwesenheit so voraus, dass er sie bestimmt und ihr (natürli­ che) Qualitäten zuschreibt. Wenn der Geist abwesend ist, dann gibt es ei­ nen Anderen (des Geistes, aber letztlich im Geist), der diese Abwesenheit auffüllt (und sie im Wortsinne physisch verkörpert), die Natur und so wird die Natur bestimmt. Die Art, in welcher der Geist sich selbst als natürliche Bestimmtheit voraussetzt, ergibt sich also so, dass er seiner Abwesenheit Qualitäten zu­ schreibt, und zwar solche, die weiterhin das Charakteristische dieser Ab­ wesenheit in sich tragen. Mit anderen Worten, wenn der Geist das ist, was fähig ist, sich selbst zu bestimmen, dann ist die Abwesenheit des Geistes (als Vorbedingung des Geistes) durch unveränderliche Gesetze, natürliche Zyklen und heteronome Bestimmungen charakterisiert. Der Geist be­ stimmt so seine eigene Abwesenheit (wir haben es also mit der positiven Seite der bestimmten Negation zu tun). Aber, um zu wiederholen, an sei­ nem Anfang - das ist: vor dem Anfang des subjektiven Geistes - weiß der Geist nicht, dass er Geist ist und erscheint sich deswegen selbst in der Form (gegebener) natürlicher Bestimmungen, die seine eigene Abwesen­ heit bestimmen . 30 Der Geist erscheint sich in der Form von etwas, das an­ 29 Ebd., S. 17. 30 Hegel nennt dies auch „das Umschlagen der Idee in die Unmittelbarkeit äußerli­ chen und vereinzelten Daseins. Dies Umschlagen ist das Werden der Natur.“ Ebd., S. 30.

97

ders ist als er. 31 Aber der Geist ist „nicht das bloße Resultat der Natur, sondern in Wahrheit sein eigenes Resultat; er bringt sich selber aus den Voraussetzungen, die er sich macht,... hervor. . . “ 32 Deswegen ist die Natur nicht einfach eine gegebene Voraussetzung. Sie ist gesetzt vom Geist als Abwesenheit des Geistes, aber diese Abwesenheit, von der der Geist nicht weiß, dass er sie gesetzt hat, beginnt den Geist zu bestimmen. Man kann daher sagen, dass die Natur dann hervorgeht, sobald der Geist glaubt, dass es gegebene Voraussetzungen gibt (und nicht weiß, dass er diese gesetzt hat). Sobald man an die Gegebenheit objektiver Voraussetzungen, die man selbst gesetzt hat, glaubt und den Akt der Setzung vergisst, beginnen die­ se Voraussetzungen einen äußerlich zu bestimmen. Und genau diese Form der Bestimmung steht am Anfang des Geistes auf dem Spiel. Die Natur ist so der Name für die Idee, dass es etwas gibt, was nicht gesetzt ist. Es ist die Annahme, dass es ein ,Es gibt’ gibt, bevor dieses gesetzt ist. Aber gerade diese Annahme ist gesetzt und ihre Setzung wurde vergessen. Das bedeutet, dass man bestimmt ist durch etwas, was man so gesetzt hat als wäre es nicht gesetzt. Die Natur ist eine Art gesetzter Mythos des Ge­ gebenen, der seinen Setzungscharakter vergisst. Man kann in abstrakter Weise behaupten, dass wenn es irgendeine Art von natürlicher Vererbung geben kann, diese natürlich im nun ausgeführten Sinne sein muss. Was man ererbt von der Natur, ist etwas, das man ererbt, weil man nicht weiß, dass man das, was einen bestimmt, selbst gesetzt hat und es als gegebenen annimmt. Mit anderen Worten: es scheint, dass es nur eine Form der Ver­ erbung am Anfang des Geistes gibt, weil der Geist daran scheitert, sich so zu fassen, dass es nichts zu ererben gibt (denn alles ist vom Geist gesetzt). Aber der Geist kann, am Anfang, nicht anders als daran zu scheitern, zu verstehen, dass es nichts zu ererben gibt und deswegen gibt es natürliche Vererbung. Der Geist ererbt so eine eigentümliches „Nichts“, das er selbst hervor und über sich gebracht hat. Der Geist geht hervor aus dem Prozess, sich selber eine Vorausset­ zung zu setzen und nichts von dem Setzen genau dieser Voraussetzung zu wissen. Dies führt ihn dazu, anzunehmen, dass es einen (natürlichen und objektiven) Grund seines Seins gibt. Der Geist sollte wissen, dass jede

31 Aber —und dies ist entscheidend —das ist nur eine Erscheinung, denn „das Hervor­ gehen des Geistes aus der Natur“ darf „nicht so gefaßt werden... als ob die Natur das absolut Unmittelbare, Erste, ursprüngliche Setzende, der Geist dagegen nur ein von ihr Gesetztes wäre; vielmehr ist die Natur vom Geiste gesetzt und dieser das absolut Erste.“ Ebd., S. 24. Der Geist ist hier durch seine eigene Abwesenheit be­ stimmt (obwohl er diese unwissentlich gesetzt hat) und, weil er dies nicht weiß, ist diese Bestimmtheit wiederum letztlich gezwungen eine selbst natürliche Form an­ zunehmen. 32 Ebd.

98

Voraussetzung gesetzt ist (weil er selbst der Agent dieser Setzung ist), aber er weiß nicht, was er weiß. Aber genau so geht der Geist aus der N a­ tur hervor, d.h. aus dem Geist, der nicht weiß, dass er weiß, was er weiß. Weil er nicht weiß, was er weiß, ererbt der Geist etwas von und aus der Natur. Um Dinge zu vereinfachen: es gibt für Hegel keinen natürlichen Übergang, der von der Natur zum Geist führt (weil es keine Natur gibt, ohne dass der Geist sich selbst missversteht).33 Der einzige Übergang von der Natur zum Geist ist durch den Geist, schlicht, weil Natur verfehlter Geist ist. Genau diese Verfehlung lässt den Schritt von der Natur zum Geist so erscheinen als wären in ihr natürliche Bestimmungen involviert. Aber wie kann man genauer den Übergang von einem Geist, der nicht weiß, was er ist und so als natürliche Bestimmtheit des Geistes er­ scheint, zum Geist fassen? Hegel situiert dessen Anfang im „subjektiven Geist“ , der sich dann weiter untergliedert in drei Bereiche: die „Anthro­ pologie", die „Phänomenologie“ und die „Psychologie“. Die „Anthropo­ logie“ behandelt den Geist an sich, den Hegel die „Seele“ nennt, den „na­ türlichen Geist“ oder buchstäblich den „Naturgeist“. Geist ist in diesem Anfang in der Natur (es ist nur da, indem er nicht-da ist). Die „Phäno­ menologie“ behandelt das Bewusstsein und die „Psychologie“ behandelt den Geist als solchen, d.h. den Geist, der sich wiederum in drei Formen differenziert, nämlich in die abstrakte Allgemeinheit (Seele), die Beson­ derheit (Bewusstsein) und die Einzelheit (Geist für sich). Aber es ist die „Anthropologie“, die die allgemeine „Grundlage des Menschen“34 behan­ delt. Wie Catherine Malabou zu recht festgehalten hat: M h e course of the Anthropology as a whole explicates the process whereby originary substance, leaving behind the natural world, progressively differ­ entiates itself until it becomes an individual subject. This movement un­ folds in three moments which structure the exposition: self-identity, rup­ ture, return to unity. The meaning of this division organizes itself in the process of the soul’s singularization which, from its beginning in the “uni­ versal” (understood as “the immaterialism of nature” or “ simple ideal life”), moves progressively towards self-individuation until it becomes “ singular self.” From the “ sleep of spirit” to the “ soul as work of art” the genesis of the individual is accomplished, that individual which, configured as the “Man,” finally stands forth in the guise of a statue. If the anthropo­ logical development appears to be a progressive illumination, it does pro­ duce some abrupt returns to obscurity, some moments of trial and error, some aberrations. The spirit that awakens knows also crises of somnambu-

33 Hegels Punkt ist entscheidend (etwa für heutige ökologische Diskussionen ): Nicht einmal die Natur sollte naturalisiert werden. Und das gleiche gilt vom Geist, auch wenn der Geist, anfänglich, nicht anders kann als sich selbst in der Natur zu finden (wobei er sich gerade nicht findet). 34 Hegel, Enzyklopädie, S. 40.

99

lism, delirious manias; at times it consults the stars or magnetizers, at times it weeps endlessly over those it has lost whom it never managed properly to mourn. It haunts its own depths, its own night, failing to commit to the individuation which will be its definitive splendour. The un­ furling of the process of individuation is the constitution of the “Self [Selbst],” the founding instance of subjectivity.35

Der Gang von Hegels „Anthropologie“ beginnt mit einem „in der Natur befangenen, auf seine Leiblichkeit bezogenen, noch nicht bei sich selbst seienden, noch nicht freien Geiste . . . “ 36 Deswegen ist deren primäres O b­ jekt die „an ihre Naturbestimmungen gebundene Seele“ , 37 Naturbestim­ mungen, die bestimmen, was durch die Abwesenheit des Geistes be­ stimmt zu sein scheint (aber zugleich vom Geist, unwissentlich, gesetzt wurde). Diese Naturbestimmungen des Geistes erscheinen dem Geist, etwa in der Form von Rassenunterschieden (in Form der Annahme, dass etwa Franzosen anders denken als Japaner, weil sie durch die natürlichen und geographischen Faktoren Frankreichs und Japans bestimmt sind). Wie Malabou wiederum bemerkt: [t]he soul’s determinations are in the first instance the “natural qualities” which make up its initial “being-there [D ase in ].” [...] But what, for the Anthropology, are these “ qualities”? They are divided into three types fol­ lowing a hierarchy based on their degree of differentiation. The first type includes such qualities as “ differences of climate, changes of the seasons, times of the day, etc.,” connected to “the general planetary life.” Spirit lives this life “in agreement with it” [...]. These first natural qualities can be classified under the generic term of “influences,” in the original sense of that physical and fluid force believed by ancient physics to proceed from the heavens and the stars and act upon men, animals and things. These “physical qualities” determine the soul’s correspondence to “cosmic, side­ real, and telluric life.” [...] The second group of “natural qualities” con­ tains those of the specialized “nature-governed spirits [N aturgeister]” which constitute the “ diversity of races... The third set of “ qualities” con­ sists of those which can be called “local spirits [Lokalgeister].” These are “ shown in the outward modes of life [Lebensart] and occupation [Bes­ chäftigung], bodily structure and disposition [körperlicher B ild u n g u n d D is ­ p o sitio n ], but still more in the inner tendency and capacity [Befähigung ] of the intellectual and moral character of the peoples.38

Die erste und deswegen unangemessenste natürliche Form, in der der Geist sich selbst voraussetzt (als abwesend oder genauer: als noch-nicht-

35 36 37 38

Malabou, The Future of Hegel, S. 28. Hegel, Enzyklopädie, S. 40. Ebd. Malabou, The Future of Hegel, S. 30; Hervorhebung im Original.

100

Geist), ist die Form der Seele. Der Geist weiß sich als Seele und noch nicht als Geist. Die Seele erscheint also als etwas, das gegeben ist, neben der gegebenen Abwesenheit des Geistes. Das ist ein entscheidender Punkt, denn die Seele ist natürlich in dem Sinne, dass sie dem Geist als gegeben und nicht als gesetzt erscheint, aber sie erscheint ihm selbst als gegeben, wodurch die vollständige Abwesenheit des Geistes überwunden wird. Weil aber die Gegebenheit der Seele weiterhin begrifflich die Abwe­ senheit der Seele impliziert (denn sie wird nicht als gesetzt gedacht), führt dies dazu, dass sich der Geist durch physikalische, natürliche und lokale Bestimmungen determiniert findet. Die Seele ist so Geist, der nicht weiß, was er ist, und sich als eine immer bereits natürlich bestimmte Form der Gegebenheit versteht. Der Geist nimmt an, dass er eine natürliche Gege­ benheit in der Form der Seele ist und zwar so, dass er ist sich ohne sein Zutun gegeben ist. Aber es ist wichtig zu sehen, dass mit der Seele eine wichtige Differenzierung eintritt. Denn die Seele ist nicht einfach Natur, sondern immateriell. Sie ist der Anfang des Geistes. Hegel nennt dies die „Immaterialität der Natur “ , 39 weil die Seele dem Geist immer noch natürlich bestimmt erscheint und gerade weil sie als durch nicht gesetzte, gegebene Qualitäten determiniert scheint, bestimmt er sie als eine „einfache Allgemeinheit“ . 40 Der Geist setzt eine bestimmte Voraussetzung seiner selbst, die von der Natur als solcher (der reinen Abwesenheit des Geistes) verschieden ist, und ihre Bestimmung ist so all­ gemein und einfach wie sie nur sein kann, nämlich schlicht, dass es eine Gegebenheit des Geistes gibt. Der Geist nimmt sich selbst als gegebenen an. Aber er erkennt nicht, dass schon immer ein Akt der Setzung impli­ ziert ist, durch den er selbst seine eigene Voraussetzung setzt. Wenn die nicht erkannte Setzung einer gegebenen Voraussetzung den Geist in die Natur führt, dann führt die nicht erkannte Setzung seiner selbst als gege­ bener Voraussetzung (d.h. die Voraussetzung seiner eigenen Gegeben­ heit) den Geist dazu eine (natürlich gegebene) Seele anzunehmen, die von der Natur deswegen verschieden ist, weil sie immaterielle (aber immer noch natürliche) Qualitäten hat. Deswegen kann Hegel behaupten, dass die Seele „allgemeine Immaterialität der Natur... der Schlaf des Geistes..., welcher der Möglichkeit nach Alles ist “ , 41 ist. Die Seele ist der schlafende Geist, aber mit dem Schlaf kommen auch die Träume (von einem selbst). Der Geist setzt sich selbst als eigene Voraussetzung und setzt sich dabei als ein Wesen, das von der Natur verschieden ist. Aber diese Diffe­ renz von der Natur erscheint immer noch als eine gegebene und ist, daher, immer noch natürlich (weil nicht als gesetzt gewusst). Der Geist setzt sich als Seele, die von der Natur verschieden ist, aber das ist immer noch 39 Hegel, Enzyklopädie, S. 43. 40 Ebd. 41 Ebd.

101

der Geist in der Natur (als gegeben und nicht als eigenes Resultat). Man kann hier sehen, wieso der scheinbar unvermeidliche Fehler des Geistes, seinen eigenen Setzungsakt in Rechnung zu stellen, zu der Annahme führt, dass der Geist nicht einfach nur gegeben ist, sondern, aufgrund sei­ ner Gegebenheit von Faktoren determiniert ist, die dem Geist entzogen sind. Der Geist schläft und träumt von sich, aber was und wie er träumt scheint nicht der Verfügung des Geistes zu unterstehen (auch wenn dem so ist, wie auch Freud später zeigen wird). Die Träume des Geistes schei­ nen von einer Quelle außerhalb des Geistes zu kommen und dadurch scheint der Geist sein Sein oder seine Existenz von der Natur vererbt zu bekommen. Der Geist ererbt seine Träume als auch sich selbst. Aber wo­ her? Diese Frage lässt den Geist erwachen. Die Seele gründet den Prozess des Erwachens des Geistes (zu sich), weil sie nicht nur als einfache Allgemeinheit, sondern auch als „Einzel­ heit“ 42 erscheint, d.h. dass Hegel in den folgenden Schritten damit begin­ nen wird, die Annahme der Gegebenheit von Bestimmungen so differen­ zieren und individualisieren wird, dass er genau diese Bestimmungen der Gegebenheit differenziert. Der Geist nimmt an, dass er eine gegebene, be­ stimmte Natur hat (eine Natur des Geistes, deren Natur sich von der N a­ tur als solcher unterscheidet) und beginnt diese langsam zu fassen und zu begreifen. Das führt einen Unterschied ein, denn der Geist erkennt so unwissentlich an, dass es verschiedene Arten gibt, wie man Voraussetzun­ gen setzen kann und die Seele als eine Form zu setzen, in der der Geist bestimmt gegebenen ist, spezifiziert den Akt der Setzung der Vorausset­ zungen. Der Geist fängt langsam an, einen wirklichen Unterschied zu ma­ chen.

IV. Soul-Mates Für Hegel ist die Seele allgemein in drei verschiedene Formen unterteilt: die natürliche, die fühlende und die wirkliche Seele. Bisher habe ich die natürliche Seele, d.h. die Annahme einer natürlichen Gegebenheit des Geistes, diskutiert. Die natürliche Seele ist noch nicht in einer spezifi­ schen Weise individualisiert. Ihr Begriff ist die Verkörperung der Annah­ me, dass es allgemeine qualitative Bestimmungen gibt, etwa die „physi­ schen wie geistigen Rassenverschiedenheiten des Menschengeschlechts“ , 43 d.h. Differenzen, die eine Individualisierung und Differenzierung der ein­ fachen allgemeinen und natürlichen Seele ermöglichen (man differenziert und individualisiert die Annahme, dass es eine Voraussetzung gibt). Aber

42 Ebd., S. 51. 43 Ebd., S. 50.

102

dieser Differenzierungsprozess produziert nicht nur äußerliche, natürli­ che Differenzen (der Rassen), sondern ermöglicht auch eine innere Diffe­ renzierung und Individualisierung menschlicher Wesen als solcher. Bei­ spielsweise generiert er die Annahme, dass es unveränderbare natürliche Zeitalter, nicht nur der Individuen, sondern auch der Rassen und Staaten gibt (Kindheit, Jugend, Erwachsenenleben, etc.). Das liegt daran, dass eine natürliche Form der Veränderung die Seele bestimmt und auch daran, dass der Geist annimmt, er könne nicht nicht auch diesen natürlichen Bestim­ mungen unterworfen sein. Hegel demonstriert diese Bewegung dadurch, dass er zeigt, dass die (allgemeine) natürliche Seele ein „allgemeines plane­ tarisches Leben“ lebt, d.h. dass sie durch den „Unterschied der Klimate, den Wechsel der Jahreszeiten, der Tageszeiten u.dgl. “ 44 bestimmt ist. Das Leben des Geistes in Form der natürlichen Seele ist ein natürliches Leben, das durch natürliche Veränderung (Klimaveränderungen, etc.) bestimmt ist. Der Geist setzt sich in der Form der Seele als gegeben voraus - als ver­ schieden von der Natur als solcher -, aber nur um zugleich wiederum die Natur als bestimmende Instanz seiner Gegebenheit rückeinzuführen. Aber dadurch wird diese Instanz partikularisiert und individualisiert, weswegen dieser Prozess der internen Differenzierung fortschreitet, so dass man von den Rassen zu „Lokalgeister(n) “ , 45 d.h. zu lokalen Kulturen, lokalen ethischen Gemeinschaften, etc. vorangeht. Man kann sagen, dass man sich von rassischen zu nationalen Differenzen bewegt und das diese Bewegung die Selbstbehauptung des Geistes ist, denn der Geist ist durch die Natur determiniert, aber er bestimmt wiederum, das, was ihn be­ stimmt - und in jedem dieser Schritte wird er immer wieder dazu geführt, das, was er als determinierende Instanz annimmt, zu naturalisieren. Es sollte deutlich sein, dass diese kontinuierliche Differenzierung der verschiedenen Bestimmungen zu einem ansteigenden Grad an Partikularisierung dessen führt, was der Geist als seine gegebene Vorbedingung an­ nimmt. Man bewegt sich vom Effekt klimatischer Bedingungen zu den Rassen, zu den nationalen Gemeinschaften, zu ihren Gebräuchen, zu inner-familialen Beziehungen (zu dem natürlichen Determinationen, die etwa Kinder von ihren Müttern mitbekommen), etc. Hegel kann so be­ haupten, dass diese Verbesonderung an einem gewissen Punkt in Form „verschiedenen Temperaments, Talents, Charakters, der Physiognomie und anderer Dispositionen und Idiosynkrasien von Familien oder den singulären Individuen“ 46 erscheint. Wir gehen so von einem planetarisch zu einem geographisch bestimmten Leben, von einem nationalen Leben zu einer individuellen Familie und zum Leben eines Individuums in der Familie über. Und genau hier stellt sich dann auch wiederum die Frage 44 Ebd., S. 52. 45 Ebd., S. 63. 46 Ebd., S. 70.

103

nach dem Übergang und nach der Vererbung. Hegel statuiert, dass die Ef­ fekte der natürlichen Bestimmungen innerhalb einer Familie sich als Ei­ gentümlichkeiten zeigen: „Die Eigentümlichkeit des Individuums hat nun aber verschiedene Seiten. Man unterscheidet dieselbe nach den Bestim­ mungen des Naturells, des Temperaments und des Charakters.“47 Was ist ein Naturell? 48

V. Annäherung an das Genie Hegel definiert das Naturell in § 395 seiner Enzyklopädie als „die natürli­ chen Anlagen im Gegensatze gegen dasjenige, was der Mensch durch sei­ ne eigene Tätigkeit geworden ist . “ 49 Eine natürliche Anlage ist also keine Gewohnheit (obwohl sie unwissentlich gesetzt ist, im oben ausgeführten Sinne). Deswegen kann diese Anlage als „angeboren “ 50 charakterisiert werden - eine erstaunliche Behauptung für den (Hegelschen) Geist! Der Geist setzt sich selber unwissentlich als gegeben voraus, d.h. als Seele und ein Teil des determinierten Charakters dieser Gegebenheit (die natürliche Anlage) ist oder zumindest scheint angeboren zu sein. Das impliziert zu­ mindest zweierlei: Erstens setzt der Geist sich selbst unwissentlich so vo­ raus, dass er sich als verschieden von der Natur gegeben ist, aber zur glei­ chen Zeit setzt er sich selbst so voraus, dass er immer noch die fundamen­ tale Qualität der Natur, nämlich die Unveränderbarkeit ihrer Konstitution mitführt (auch wenn diese hier als natürliche Anlage individualisiert ist). Der Geist setzt sich als gegeben voraus und nimmt dies als unveränderli­ che Tatsache. Am Anfang des Geistes und für den Geist hat der Geist keinen Anfang, weswegen sein Anfang ein notwendig und begrifflich ver­ fehlter Anfang ist. So aber klärt dies, warum der Geist gar nicht anders kann als eine natürliche Anlage seiner selbst vorauszusetzen (weswegen diese angeboren ist). Der Geist - zumindest der subjektive Geist, der Geist am Anfang, der seinen Anfang ignoriert - hängt an der Annahme, dass er einen gegebenen Grund hat, den er nicht verändern kann. Der Geist kann nicht die Annahme verändern, dass es etwas gibt, was er nicht verändern kann. Das, was aber der Geist nicht ändern kann, ist die An­ nahme der Gegebenheit (seiner) selbst. Daher setzt er einen angeborenen Grund, nämlich sich selbst, in der Form natürlicher Anlagen voraus.

47 Ebd., S. 71. 48 Ich lasse die beiden anderen an dieser Stelle außer Acht, weil gerade das Naturell die eigentümliche Hegelsche Theorie der Vererbung enthält, die ich hier als Theorie des Übergangs von Natur zu Geist lese. 49 Ebd., S. 71. 50 Ebd., S. 74.

104

Ein Teil dieser unveränderlichen natürlichen Anlage des Geistes ist, was Hegel (und man) „Talent“ und „Genie“ nennt: „Beide Worte drücken eine bestimmte Richtung aus, welche der individuelle Geist von Natur er­ halten hat. “ 51 Aber während das Talent etwas Neues innerhalb eines gege­ benen besonderen Feldes produziert (jemand ist etwa ein talentierter Ma­ ler), ist das Genie fähig, „eine neue Gattung “ 52 zu erschaffen. Das Talent ist eine Gegebenheit, aber eine, die innerhalb der Domäne der Gegeben­ heit verbleibt. Das Genie ist eine Gegebenheit, die das Gegebene verän­ dert und etwas Neues schafft. Innerhalb der unveränderlich gegebenen natürlichen Anlage des Geistes gibt es eine repetitive und eine transforma­ tive. Der Geist differenziert hier seine eigene Voraussetzung in zwei ver­ schiedene, angeborene Teile. Aber - und hier werden die Dinge komple­ xer - beide, Talent als auch Genie, müssen „nach allgemeingültigen Wei­ sen ausgebildet werden“53. Dinge werden hier komplexer, wenn gerade diese Kultivierung einer natürlichen Logik folgt (denn man nimmt an, dass man kultiviert und nicht etwas setzt) und Kultivierung folgt so der Logik der natürlichen Zeitalter der Kinderzeit, des Erwachsenenlebens, etc. An dieser Stelle spielen dann Erziehung und deren Institutionen (Kindergarten, Schule, etc.) eine wichtige Rolle. Der Geist fühlt so be­ ständig (das ist die fühlende Seele), dass er nicht einfach gegeben ist, son­ dern sich als gegeben annimmt und deswegen in natürlichen Bestimmun­ gen endet (weswegen Hegel sagen kann, dass diese Oszillation des Geistes die natürliche Veränderung zwischen wachem und schlafendem Geist ist). Hegel zeigt so, dass, weil wir noch in natürlichen Bestimmungen stehen, gerade der Rhythmus und das Gesetz des wachen oder schlafenden Le­ bens des Geistes nicht vom Geist, sondern von der Natur bestimmt ist. Es erscheint dem Geist natürlich zu sein, dass der Geist Geist ist, ohne dass er einer Setzung bedürfte. Aber nur einer der beiden Zustände generiert eine Empfindung, nämlich das Wachleben. Nur in diesem fühlt der Geist, dass er Geist ist und nicht einfach gegeben. Diese Empfindung, die die na­ türliche Seele zur fühlenden Seele macht, ist nicht einfach natürlich, son­ dern eine Form der Selbstbeziehung des Geistes. Es ist ein „ Urteil“ , 54 nämlich, das Urteil, dass der Geist da und gegeben ist. Auch wenn dieses Urteil den selbstsetzenden Akt des Geistes ignoriert, setzt es eine Bezie­ hung zu dem, was nicht als gesetzt erscheint. Aber es ist zugleich ein fal­ sches Urteil, ein Urteil das „die Form des dumpfen Webens des Geistes “ 55 ist, in dem ein besonderer Inhalt erscheint. Der Geist fühlt sich und er fühlt sich als etwas Besonderes (er fühlt nicht die ganze Natur oder seine 51 52 53 54 55

Ebd., S. 71. Ebd. Ebd. Ebd., S. 97. Ebd.

105

natürliche Anlage, sondern etwas Spezifisches). Aber Empfindung ist „die schlechteste Form des Geistigen “ , 56 weil sie etwas fühlt, aber zugleich an­ nimmt, dass der Grund des Gefühls etwas ist, was sie als gegeben an­ nimmt, nämlich die Seele. Hegel unterscheidet nun zwei Typen von Empfindung, nämlich sol­ che, die durch äußere und solche die durch innere Impulse hervorgerufen werden. Aber man kann sehen, dass diese Unterscheidung sofort kolla­ biert, weil die Seele etwas dem Geist innerlich äußerlich ist, da er sie als gegebenen Grund annimmt. Hier führt Hegel aus, dass der Begriff der Empfindung zumindest drei Dinge impliziert: Erstens impliziert es, dass die Bestimmungen, die in ihr erscheinen, vergänglich und singulär sind, obwohl sie auch immer ein durchgängiges Gefühl des Selbst implizieren. 57 Auch, wenn sie nicht andauern, sind sie immer Empfindungen der Seele. Zweitens, impliziert Empfindung eine Passivität der Seele. Hegel spielt hier mit der Etymologie des Wortes ,Empfindung‘ und bezieht es zurück auf das ,Finden‘, das ,Vorfinden‘ (eines mir Gegebenen). Die Seele findet eine Empfindung, wodurch sie auf etwas bezogen ist, das nicht in ihr ent­ sprungen ist. Die Seele macht so, was der Geist macht, wenn es eine Seele gibt. Die Seele nimmt etwas als einfach gegeben und nicht gesetzt an. Das führt die Seele dazu, etwas zu empfinden, und was sie empfindet aktuali­ siert immer auch die Empfindung der eigenen Gegebenheit, weswegen die Empfindung ein determinierender, individualisierender Faktor der Gege­ benheit der Seele ist. Drittens kann die Empfindung entspringen, obwohl das, woraus sie entspringt nicht unmittelbar oder physisch (etwa für die Sinne) vorhanden ist. Man kann sich schlecht fühlen, nicht nur weil ein gegebenes Objekt einen Effekt hatte, sondern auch sonst. Der Ursprung der Empfindung liegt also in etwas, das nicht physisch ist. Empfindung differenziert so den Begriff der Gegebenheit ihrer selbst, insofern eine Empfindung durch etwas entstehen kann, was anders gegeben ist als phy­ sisch - weswegen die Empfindung immer ein Selbstgefühl impliziert, denn das Selbst, d.h. die Seele ist auch gegeben, aber auch in nicht-objektiver Weise. Hegel leitet aus der Empfindung den Begriff der individuellen Seele ab. Und genau hier, in § 405 der Enzyklopädie spezifiziert er den Begriff des Genies weiter. Die Seele, die empfindet, hat ein Gefühl der Individua­ lität, weil sie auch immer sich selbst fühlt. Aber es hat noch keinen wirkli­ chen Selbstsinn, weil das, was sie fühlt, für sie von etwas Anderem her­ kommt, obgleich dieses ebenso gegeben ist, wie die Seele. Weswegen He-

56 Ebd., S. 100. 57 Die Empfindungen, die ich habe, sind hier immer meine Empfindungen: „Was ich auf diesem Standpunkt empfinde, das bin ich, und was ich bin, das empfinde ich.“ Ebd., S. 199.

106

gel sagen kann, dass „die fühlende Seele in ihrer Unmittelbarkeit“ 58 nicht sie selbst ist. Die Seele fühlt sich, aber sie fühlt sich nicht als selbst, was auch bedeutet, dass der Geist sich nicht in der Seele wiedererkennt, da auch die Seele sich nicht als bestimmender Agent ihres Gefühls wiederer­ kennt. Aber als was fühlt sich die Seele, wenn sie sich so fühlt, dass sie sich als etwas Anderes fühlt? Hegels Antwort ist: als ein anderes Subjekt.

VI. Genie vererben, oder: Hegels Mutter Hegels Paradigma für dieses andere Subjekt ist die Mutter. „Die Mutter ist der Genius des Kindes“ 59 und was Hegel hier als Genius definiert ist die „intensive Form der Individualität“ . 60 Zunächst meint dies, dass die Mutter-Kind Beziehung in etwa so verfasst ist, wie die Geist-Seele Bezie­ hung. Das Kind kann nicht anders als die Mutter als gegeben anzuneh­ men, einfach, weil es sich selbst als gegeben annimmt (es ist sich selbst durch die Mutter gegeben, die gegeben sein muss, damit sie ein Kind ge­ ben kann). Aber was gibt die Mutter dem Kind? Hegels Antwort ist vier­ teilig. 1. Die Mutter gibt dem Kind das Kind. 2. Die Mutter gibt dem Kind die Form ihrer Individualität (sie wird die eine Mutter des Kindes) und dadurch gibt sie sich selbst dem Kind. Sie ist das Paradigma der Ge­ gebenheit für das Kind (die Quelle aller Empfindungen, zumindest bevor es geboren wird). 3. Die Mutter gibt dem Kind seine Individualität (als dieses Kind der Mutter) und zwar in der Form des Genius, als „kon­ zentrierte Individualität“ . 61 Der Genius ist konzentriert, weil er die Indi­ vidualität des Kindes mit der der Mutter verdichtet. Das Kind in der Mut­ ter empfindet, was die Mutter empfindet und dadurch wird die Mutter zum Paradigma des anderen Subjekts, auf das sich der Geist beständig be­ zieht. 4. Die Mutter gibt dem Kind den Begriff der Gegebenheit (als Ver­ einigung der drei vorherigen Gegebenheiten). Es ist hier entscheidend zu erinnern, dass der Genius für Hegel das ist, was die Erschaffung einer neuen Gattung ermöglicht. Die Mutter gibt so dem Kind etwas, was sie selbst ist, nämlich, was sie zur Mutter macht: den Akt etwas Neues zu schaffen . 62 Was das Kind von der Mutter ererbt, ist nichts anderes als die Möglichkeit - die kein Vermögen ist -, etwas zu generieren, was die gegebenen Koordinaten übersteigt; eine Möglichkeit, die alle Vermögen übersteigt, weil sie nicht einfach nur ein Gegebenes ist. 58 59 60 61 62

Ebd., S. 124. Ebd. S. 125. Ebd., S. 126. Ebd. Von hier aus ließe sich eine neue Lektüre von Marx’ berühmter Bemerkung, dass die alte Gesellschaft mit der neuen schwanger gehe, anstellen.

107

Eine Art Möglichkeit jenseits der Möglichkeit, eine Un-Möglichkeit. Aber Hegel sagt deutlich, dass die Mutter der Genius des Kindes ist. Be­ sitzt also die Mutter den Genius als ein natürliches Vermögen, dass dann auf das Kind übergeht? Muss man so den Übergang aus der Natur in die Kultur denken? Man kann hier ein einfaches Argument entfalten, näm­ lich, dass die Mutter ebenfalls einmal Kind war und daher der Genius auch an sie übergegangen ist. Genius bezeichnet so vielmehr eine Art Möglich­ keit, die man nicht hat - auch, wenn man nicht anders kann als sie als na­ türliche Anlage wahrzunehmen. Der Genius bezeichnet die Qualität neue Voraussetzungen zu setzen. Wenn aber nun die Mutter diese Möglichkeit an das Kind weitergibt und jede Mutter selbst einmal Kind war, muss man dann nicht folgern, dass es keine Mutter dieser Möglichkeit gibt (nicht nur, weil die Mutter auch einmal ein Kind war, sondern auch, weil man diese Möglichkeit niemals als gegeben annehmen kann, auch wenn man nicht anders kann als dies zu tun)? Gilt dies nicht schon deswegen, weil es beides gibt: für jede Mutter eine Mutter und keine Mutter aller Mütter? Hegels Theorie der Vererbung als Theorie des Übergangs von Natur in Kultur führt zu der überraschenden Schlussfolgerung, dass es keine Mut­ ter gibt - nicht nur, dass es letztlich keine Mutter dessen gibt, was man ererbt, denn es gibt kein sujet supposée de l’avoir - , sondern auch, dass die einzige Sache, die der Geist, und wir alle, ererben kann, der Genius ist. Eine Un-Möglichkeit neue Voraussetzungen zu setzen. So beginnt der wahre Übergang in den Geist.

108

Emanuel John Führt die Moral unumgänglich zur Religion? Antworten mit Kant und H egel

Einleitung Dieser Text untersucht die Frage: „Führt Moral unumgänglich zur Religi­ on?“ Kant provoziert diese Frage in der Einleitung seiner Religionsschrift. Er sagt: Moral führt unumgänglich zur Religion, wodurch sie sich zur Idee eines machthabenden moralischen Gesetzgebers außerhalb des Menschen erwei­ tert, in dessen Willen dasjenige Endzweck (der Weltschöpfung) ist, was zugleich der Endzweck des Menschen sein kann und soll.1

Im Folgenden wird diskutiert, warum und wieso zwingend der Begriff ei­ nes Endzwecks menschlichen, also vernünftigen, ethischen Lebens zur Religion führt. Entsprechend der Formulierung des Titels dieses Textes als Ja-Nein-Frage bieten sich zunächst zwei Antwortmöglichkeiten an: Erstens, es zeigt sich, dass die Moral unumgänglich zur Religion führt, so hängt die Beantwortung der Frage, was zu tun einem ethischen Leben gemäß ist, von einem Gegenstand des Glaubens ab und weist somit über den Bereich des zeitlich beschränkten Gebrauchs vernünftiger Vermögen hinaus. Den Ausgangspunkt stellen Kants Gründe für diese Antwort dar (Abschnitt I). Doch es gibt auch eine zweite mögliche Antwort. Führt die Moral nicht unumgänglich zur Religion, so kann die Frage danach, was gut oder vernünftig zu tun ist, durch Wissen über ein ethisches Leben beant­ wortet werden, das durch Ausübung vernünftiger Fähigkeiten erworben wird. Das Wissen über das ethische Leben erweist sich dann als unabhän­ gig vom Gegenstand der Religion. Im Kontrast zu Kant wird diskutiert, inwiefern Hegels Begriff der Sittlichkeit diese Antwort liefert, da darin das, was für Kant in der Religion präsent ist, innerhalb der Formen endli­ chen Wissens erfasst wird (Abschnitt II). Die Abwägung der beiden Antwortmöglichkeiten erfordert eine Bestimmung des Vermögens, die Bedingungen des Lebensvollzuges selbständig zu gestalten. In Reflexion auf den Hegel’schen Begriff der Sittlichkeit wird gezeigt werden, dass das darin bestehende Verständnis eines ethisch guten Lebens auch eine Vor-*V I. 1

Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Werke VIII. Frankfurt a.M. 1977, A IX.

109

Stellung von den Gefahren der Unterdrückung und Unfreiheit beinhaltet. Dabei wird jedoch ebenso gezeigt werden, dass sich die Frage nach der Religion aus der Perspektive des Hegel’schen Begriffs der Sittlichkeit wieder aufdrängt. Es wird der Punkt im Leben einer konkreten Person freigelegt, an dem die Frage nach der Religion für sie Sinn ergibt, ja sie sich diese sogar unumgänglich zu stellen vermag (Abschnitt III).

I. Kant: Moral führt unumgänglich zur Religion I. 1. Die Dialektik der praktischen Vernunft Es wird mit Kants Argument für die Aussage, die Moral führe unumgäng­ lich zur Religion begonnen. Dieses Argument ist in der Grundstruktur seiner Moralphilosophie angelegt. Den Gegenstand der Kantischen Mo­ ralphilosophie stellt der Begriff des guten Willens dar. Analysiert wird er als unter Gesetzen der praktischen Vernunft stehende Willensbestim­ mung. Das allgemeine, abschließende Prinzip praktischer Vernunft stellt somit das moralische Gesetz dar, welches, von allem Inhalt abstrahierend, darin besteht, seinen eigenen Willen nach einem allgemeinen, objektiven Grund zu bestimmen. Diese formale Bestimmung führt jedoch noch nicht zur Erkenntnis des Guten. Im moralischen Gesetz liegt lediglich das Prin­ zip des Gebrauchs der praktischen Vernunft. Dieser besteht in der Er­ kenntnis des Guten, also dessen inhaltlicher Bestimmung. Die Frage nach der möglichen inhaltlichen Bestimmung des Guten führt jedoch zu einem inneren Widerspruch der praktischen Vernunft, deren Dialektik Kant ar­ tikuliert. Die Begründung seiner Aussage, die Moral führe unumgänglich zur Religion, liegt in der für ihn möglichen Auflösung dieser Dialektik und der damit zusammenhängenden Möglichkeit der Bestimmung eines vernünftigen ethischen Lebens . 2 Die Dialektik der praktischen Vernunft geht aus den beiden Bezugs­ punkten des Begriffs des höchsten Gutes, als der Endzweck, der die Ein­ heit eines vernünftigen, ethischen Lebens darstellt, hervor: Einerseits muss der Begriff des höchsten Gutes dem abschließenden Prinzip praktischer Vernunft entspringen, um als moralisches Gut zu gelten. Andererseits muss dieses in den partikularen Handlungszwecken von Individuen, die den möglichen Inhalt darstellen, wirklich sein, insofern es Grund und Einheit von deren Leben darstellt. In Abstraktion von partikularen Zwe­ cken stellt die Glückseligkeit den Endzweck eines empirisch bestimmten Individuums dar.

2

Mit der Verwendung der Wörter Ethik und Moral verbinde ich hier keinen Unter­ schied.

110

Diese beiden Bezugspunkte führen zu einem Widerspruch, da sich das gegebene Verständnis des möglichen Inhalts als unzulänglich erweist. Es erweist sich als unzulänglich, da es nur rein empirische Zwecke kennt, welche den Gehalt des moralischen Gesetzes nicht darstellen können, wie z.B. von A nach B zu gehen oder, auf allgemeinerer Ebene, dass alle meine Bedürfnisse und Wünsche erfüllt werden. Wäre die empirische Existenz nur durch solche Zwecke bestimmbar, wäre auch ein Handeln nach dem moralischen Gesetz nicht möglich. Dieses bliebe eine leere Form und die Vollkommenheit und Einheit des Lebens eines Individuums bestünde nicht im tugendhaften Handeln, sondern in einer anderen Existenzweise, die durch rein empirische Eigenschaften oder mechanistische Erklärungs­ weisen verstanden werden müsste. Es gilt also, das individuelle Streben nach Glückseligkeit in Übereinstimmung mit dem allgemein, notwendi­ gen Gut der Vernunft zu begreifen. Das heißt nun nicht, dass ein Zustand von Zufriedenheits- oder Glücksgefühlen mit vernünftigem Handeln ab­ gestimmt werden muss. Vielmehr ist die Erfüllung eines individuellen Le­ bens als Realisierung des allgemeinen, notwendigen Guten zu begreifen . 3 Zur Auflösung der Dialektik der praktischen Vernunft bedarf es so­ mit des Begriffs eines Endzwecks, der einerseits das Gute zum Gegenstand hat, das dem allgemeinen Prinzip der Vernunft entspricht, andererseits aber unter empirischen Bedingungen wirksam sein kann. In solch einem vernünftigen Zweckbegriff, durch dessen Realisierung das moralische Ge­ setz bewirkt wird, besteht die Einheit von Form und Inhalt der Moral. Ein so verstandener Endzweck stellt das höchste Gut dar, welches die Einheit der Vollzüge eines ethischen, vernünftigen Lebens darstellt.

I. 2. Religion Vor dem Hintergrund des Problems der Dialektik der praktischen Ver­ nunft zeigt sich nun, warum für Kant Moral unumgänglich zur Religion führt. Das oberste formale Prinzip der Moral, das moralische Gesetz, stellt das innere Prinzip der praktischen Vernunft dar, insofern ist sie au­ tonom. Aber um einem diesem entsprechenden Zweck zu denken, ist ein weiterer Schritt nötig. Es muss angenommen werden, dass die empirisch bestimmte Natur endlicher Wesen und das moralische Gesetz als oberstes*V I.

3

Kants Rede von einer zur „[...] praktisch reinen Vernunft [...] proportionierten Glückseligkeit [...]“ (Vgl. Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft. Werke VII. Frankfurt a.M. 1974, A 214.) ist somit nicht so zu verstehen, dass individuelle Interessen mit vernünftigen Handlungsprinzipien abgeglichen werden. Stattdessen ist ein erfülltes Leben nur soweit möglich, wie ein Handeln innerhalb der Allge­ meinheit der Vernunft möglich ist. In einer solchen Auffassung bestünde erst eine echte Einheit beider sich zunächst widersprechenden Seiten.

111

Prinzip praktischer Vernunft von gleicher Realität sind, um die Antino­ mie zwischen real möglichem, aber bloß partikular materiellem, also nach Kant empirischem, Gehalt und formal notwendigem Gehalt eines ethisch guten Lebens aufzulösen. Die Postulate der praktischen Vernunft: Beide Seiten sind für sich ge­ nommen dem endlichen Denken zugänglich, aber nicht deren Einheit, worin der Wille „[...] unabhängig von der Sinnenwelt [...]“ und „[...] nach dem Gesetzte einer intelligiblen Welt [ , . . ] “ 4 bestimmt ist. Das Er­ gebnis der Dialektik der praktischen Vernunft besteht zunächst in der Einsicht in die Begrenztheit endlicher Erkenntnis- und Begehrungsver­ mögen. Doch die praktische Vernunft könnte wiederum niemals praktisch werden und somit wäre niemals gutes Handeln möglich, wenn diese Ein­ heit nicht doch möglich wäre. Deshalb gilt es dennoch darzulegen, unter welchen Bedingungen diese möglich ist. Nach Kant hängt die Möglichkeit dieser Einheit von Form und Inhalt von einem unendlichen Standpunkt ab, der eben nicht darauf begrenzt ist, nur eine der beiden Seiten für sich zu erkennen. Nach Kant kann sie nur unter den notwendig anzunehmen­ den theoretischen Postulaten 5 der Unsterblichkeit der Seele und der Exis­ tenz Gottes, das heißt der einen „oberste Ursache der Natur “ , 67 gedacht werden. Diese Einheit in Gott muss postuliert werden, damit deren Aktua­ lisierung als möglich betrachtet werden kann. Die Auffassung von einem Postulat der praktischen Vernunft ist hier analog zu den Postulaten der Euklidischen Geometrie zu verstehen, die nicht beweisbare Annahmen darstellen, durch die eine Strecke oder ein Kreis erst denkbar sind. Genau­ so stellen die Postulate der praktischen Vernunft notwendige Annahmen dar, durch die ihr Gegenstand, das höchste Gut, erst im Handeln realisiert werden kann. Moral führt zur Religion: Die Frage nach dem Gehalt des ethischen Lebens ist jedoch durch ein notwendig anzunehmendes Postulat von Gott noch nicht erschöpfend beantwortet. Die Rede von dessen Möglichkeit bleibt leer, wenn nicht auch dessen Dasein7 gefasst werden kann. Dafür muss gezeigt werden, wie der Endzweck des ethischen Lebens den Willen bestimmt und wie dessen Realisierung im Handeln möglich ist. Die Reali­ tät des Endzwecks ethischen Lebens zeigt sich im individuellen Leben, das diesem vollkommen entspricht, kann aber nicht durch praktische Urteile erschöpfend erfasst werden. Damit die Realität des Endzwecks, bei gleichzeitiger Einsicht in die Begrenztheit praktischen Urteilens, sich im individuellen Lebensvollzug zeigen kann, ist die theoretisch postulierte Ursache der Natur, Gott, in Beziehung zu der Welt und dem Menschen 4 5 6 7

Ebd., A 238-239. Ebd., A 200-201 sowie 238-239. Ebd., A 226. Ders. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, BVI.

112

zu betrachten. Diese Beziehung ist für Kant im Leben Christi dargestellt. Sie ist Gegenstand der Religion, da sie nicht vermöge des Denkens alleine zu fassen ist, sondern sich im Ereignis der Offenbarung zeigt. Die Realität des guten Lebens kann erst in Bezug auf dieses Ereignis gefasst werden, das durch Auslegung der Überlieferung dieses Ereignisses in einer religiö­ sen Tradition immer wieder vergegenwärtigt wird. Zur Religion erweitern muss sich die Moral also nicht nur, da sie Möglichkeit eines Endzwecks postulieren muss, sondern auch, da dessen Realisierung im Lebensvollzug einer Person sich in der Offenbarung zeigt. Die Moral führt nach Kant also unumgänglich zur Religion, da die Frage nach dem moralisch Guten durch die formalen Prinzipien der prak­ tischen Vernunft nicht hinlänglich beantwortet wird, sondern zudem der Idee eines unendlichen Intellekts bedarf. Das Denken der Ebene, auf der die Einheit von Form und Inhalt des sittlichen Lebens gedacht werden kann, führt somit in eine Kluft von Wissen und Glauben. Diese impliziert, dass das Wissen, das durch die Ausübung praktischer vernünftiger Ver­ mögen erworben werden kann, unzulänglich ist, um Handeln in der Ein­ heit des ethischen Lebens zu begreifen. Diese Einheit wird nicht im endli­ chen Wissen begriffen, sondern zeigt sich nur im historischen Ereignis der Offenbarung, das den Gegenstand der Religion darstellt.

II. Hegel: Der Übergang zur Sittlichkeit II. 1. Sittlichkeit statt Religion Folgen wir Kant, ist also Wissen um die Realität eines ethischen Lebens nicht möglich, da dieses einen Standpunkt jenseits der Antinomie von partikularen Zwecken und dem Prinzip der praktischen Vernunft verlangt. Es gilt nun, eine alternative Lösung der Dialektik bei Hegel zu diskutie­ ren, wonach die Einheit von Form und Inhalt des Begriffs des Guten in­ nerhalb endlichen Wissens erfasst wird. Die entsprechende Form dieses Wissen liegt nach Hegel im Begriff der Sittlichkeit. Hegels alternative Auflösung der Dialektik beruht auf einem Über­ gang. Ein Übergang hebt das Denken auf eine höhere Ebene, in der die Einheit von Gegensätzen, wie dem von Form und Inhalt, gedacht wird. Zum Begriff der Sittlichkeit führt ein Übergang vom bloß abstrakten Ver­ ständnis des Guten zu der Ebene des Wissens, auf der ein vernünftiges, ethisches Lebens bestimmt werden kann. Kant bleiben im Bereich des Wissens nur die zwei sich widersprechenden Ausgangspunkte, die jeweils einen der beiden Teile der Metaphysik der Sitten darstellen: 1. Der erste Ausgangspunkt geht von den partikularen Zwecken von Individuen aus und führt zum Begriff des Rechts, in dem die Übereinstimmung verschie­

113

dener partikularer Zwecke reflektiert wird. 2. Der zweite Ausgangspunkt besteht im moralischen Gesetz und strebt danach, einen für alle vernünf­ tigen, endlichen Wesen bindenden Zweck zu denken. Ein solcher wird im Begriff der Tugend artikuliert. In diesen beiden Seiten spiegelt sich die Dialektik der praktischen Vernunft und das damit zusammenhängende Problem wider, die Einheit von Form und Inhalt zu denken. Hegel disku­ tiert beide Seiten in der Philosophie des objektiven Geistes in den Begrif­ fen Recht und Moralität. Während im Recht die Allgemeinheit des Guten nicht begrifflich gefasst werden kann, kann in der Moralität die Wirklich­ keit der Allgemeinheit des Guten im Leben nicht gefasst werden. Der Übergang zu der Ebene, auf der die Wirklichkeit eines solchen vernünfti­ gen Endzwecks, des ethischen Lebens, gedacht werden kann, liegt im Be­ griff der Sittlichkeit. Diese vereint beide Seiten als das „lebendige Gute “ 8 oder als „[...] Einheit des Begriffs des Willens und seines Daseins, welches der besondere Wille ist [...]“. Um zu begreifen, wie das Gute im individu­ ellen Lebensvollzug realisiert werden kann, bedarf es hier also nicht des Bezuges auf das Ereignis der Offenbarung des Guten im individuellen Le­ ben. Die Sittlichkeit besteht in begrifflich artikulierbaren Normen und Praktiken, innerhalb derer ein Individuum die Vermögen zu einem guten Leben herausbilden kann, das der Allgemeinheit des Gutes der prakti­ schen Vernunft entspricht.

II. 2. Der Tod durch Gewohnheit Was bei Hegel im Begriff der Sittlichkeit erklärt wird, den Kant nicht er­ klären kann, zeigt sich in dem Verhältnis des Endzwecks zu dessen Reali­ sierung. Nicht in der Religion wird dessen Realisierung erfasst. Vielmehr wird die Form sittlicher Praktiken dargestellt. Diese sittlichen Praktiken und Handlungsweisen sind konstitutiv für das ethische Leben. In deren vollkommenen Verständnis und Erfüllung besteht das Wissen vom End­ zweck ethischen Lebens, durch dessen Erfüllung das Gute lebendig wird. Bei Hegel zeigt sich das konkret in seinen Darlegungen zu Familie, bür­ gerlicher Gesellschaft und Staat als den drei Ebenen, auf denen dargestellt wird, was die Sittlichkeit ausmacht. Man könnte nun vermuten, Hegels Begriff der Sittlichkeit führe zu einer konventionellen oder gar totalitären Auffassung von Kultur und Ge­ sellschaft. Eine solche bestünde etwa in einer konkreten Auffassung guter Praktiken, deren Institutionalisierung und Vermittlung durch abrichtende

8

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Werke 7. Frankfurt a.M. 1986, § 142.

114

Erziehung realisiert werde. 9 Demnach stellte Hegels Begriff der Sittlich­ keit eine Auffassung von Ethik dar, die sich, anders als bei Kant, im endli­ chen Wissen erschöpfend begreifen lasse. Doch dass der Begriff der Sitt­ lichkeit nicht zu dieser Auffassung einer Gesellschaftsordnung führen kann, zeigt sich in Hegels eigenem Problembewusstsein für die Gefahr von eingewöhnten Reaktions- und Evaluationsweisen, die einem freien Leben entgegenstehen. So weist Hegel sowohl in der Enzyklopädie der Philosophischen Wissenschaften als auch den Grundlinien der Philosophie des Rechts auf die Möglichkeit hin, dass die Gewohnheit sittliche Prakti­ ken auszuüben auch unterdrückend auf eine Person wirken kann. Auszu­ gehen ist also davon, dass ein Leben im Guten in der „[...] Gewohnheit [...] des Sittlichen [ , . . ] “ 10 1 besteht. Einerseits hat durch die Macht der Ge­ wohnheit das „[...] vernünftige Denken freien Weg [...]“. Doch anderer­ seits gilt zugleich: Der „[...] Mensch stirbt auch durch Gewohnheit“ . 11 Die Gewohnheit kann also zur bestimmenden Macht werden, welche die Möglichkeiten, sich als Person zu bestimmen, ausfüllt und auf bestimmte Muster festlegt. Einer Person werden damit die Fähigkeiten, ihr Leben selbst zu gestalten, genommen. Statt Freiheit zu geben, „[...] verschwin­ det die Tätigkeit und Lebendigkeit, und die Interesselosigkeit, die als­ dann eintritt, ist geistiger und physischer Tod . “ 12 Die Macht der Ge­ wohnheit wird dann zur Gewalt über eine Person. Doch mit dem Verweis auf die Möglichkeit des Todes durch Gewohnheit wird nur auf die Mög­ lichkeit des Widerspruches verwiesen. Es ist damit noch nicht begriffen, wie ein Subjekt durch seine freie Aktivität innerhalb der Sittlichkeit, die Einheit ethischen Lebens begreifen und bewirken kann. Erst wenn das er­ klärt ist, haben wir eine Alternative zu Kant, demzufolge der Gedanke dieser Einheit somit nicht allein durch die freie Aktivität begriffen wird und unumgänglich zur Religion führt.

9

Vgl. etwa Poppers Kritik an Hegel, der diesem darin vorwirft die Idee einer solchen Gesellschaftsordnung zu entwickeln (Sir Karl Raimund Popper: The Open Society and Its Enemies. Part 2. The High Tide of Prophecy. Hegel, Marx and the After­ math. London 1945). 10 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der Philosophischen Wissenschaf­ ten III. Werke 10. Frankfurt a.M. 1986, § 410. 11 Beide Zitate: Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 151, Zusatz. 12 Ebd. Diesen betont Adorno (Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. Gesammel­ te Schriften 6. 4 Auflage. Frankfurt a.M. 1968, S. 52.) in seiner Auseinandersetzung mit der Hegel'schen Philosophie. Vgl. dazu außerdem Christoph Menkes Unter­ scheidung der affirmativen und der kritischen Auffassung der zweiten Natur. (Christoph Menke: Autonomie und Befreiung. In: Deutsche Zeitschrift für Philo­ sophie. 58/5 (Oktober 2010), S. 675—694).

115

II. 3. Wissen vom Guten Im vorhergehenden Abschnitt wurde auf eine Herausforderung des ethi­ schen Wissens verwiesen. Diese besteht in dem möglichen Widerspruch, in dem eine Gewohnheit zu einem freien, sich gestaltenden Leben stehen kann. Die Möglichkeit des Todes durch Gewohnheit, zeigt, dass ein Wi­ derspruch zwischen dem vernünftigen Allgemeinen und dem materiellen, durch Gewohnheiten bestimmten, Partikularen innerhalb des Sittlichen auftreten kann. Damit der Übergang zur Sittlichkeit als Alternative zum „unumgänglichen“ Schritt zur Religion begriffen werden kann, gilt es also zu verstehen, wie innerhalb der Sittlichkeit, d.h. in der Gewohnheit zur Ausübung einer Praxis, das Auftreten dieses Widerspruches abgewendet werden kann. Vor dem Hintergrund dieser Herausforderung gilt es nun zu diskutieren, wie der Anspruch des Begriffs der Sittlichkeit eingelöst werden kann. Dieser Anspruch besteht nicht darin, dass ein vollständiger Begriff des Guten unmittelbar gegeben wird. Dann würde man einfach nur absolutes Wissen behaupten und könnte vom Allgemeinen ausgehen. Wissen immanent des Unendlichen zu verstehen besteht hingegen darin zu erklären, wie sich ein besonderer Zweck zur Ordnung des Endzwecks des ethischen Lebens verhält. Dem Hegel’schen Begriff der Sittlichkeit folgend, wird damit nicht der Gehalt der Religion, also das Unendliche oder Absolute, der Endzweck vernünftigen ethischen Lebens, verdrängt, sondern das Verhältnis zu diesem innerhalb des Wissens bestimmt. Es muss sich somit innerhalb des Begriffs der Sittlichkeit zeigen, wie der Tod durch Gewohnheit überwunden werden und stattdessen ein gutes Leben in Übereinstimmung mit dem allgemein notwendig Guten der praktischen Vernunft möglich wird. Der Anspruch an die Form des Wissens besteht also darin, sich im Ausgang partikularer Handlungsweisen zum Endzweck des ethischen Lebens als seinen Rechtfertigungsgrund bei der Ausübung praktischer Vermögen zu verhalten. Um zu verstehen, wie das Wissen über ethisches Leben sich zu sei­ nem Rechtfertigungsgrund verhält, ist eine Unterscheidung von Formen des Wissen über anderes Leben oder andere Dinge hilfreich. Das Wissen über das Leben einer Pflanze oder eines Tieres kann durch Beobachtung gerechtfertigt werden. Die fehlerfreie Beobachtung in den gesamten Le­ bensprozess einzuordnen, führt zu einem Begriff des Lebens einer Pflanze oder eines Tieres. Indem ich z.B. auf Katze X referiere, deren Paarungs­ verhalten ich beschreibe, stelle ich deren typisches Paarungsverhalten in den Kontext meines weiteren Wissens über das Leben der Katze. Bei einer fehlerhaften Beobachtung kann ich ein zweites und ein drittes Mal be­ obachten, da es unabhängig von mir Realität hat. Wenn andere und ich Katzen lange genug beobachten, können wir uns dem vollständigen Wis-

116

sen von deren Leben annähern und somit sagen, worin der Endzweck des individuellen Katzenlebens besteht. Beim vernünftigen, ethischen Leben verhält es sich anders. Dieses wird erst durch ein Subjekt, das Wissen von seinem eigenen Leben hat, re­ alisiert. Man kann es nicht beobachten, sondern muss es unter den empiri­ schen Bedingungen, im eigenen Handeln realisieren. Dass etwa andere Personen respektiert werden sollen, kann nicht durch Beobachtung be­ gründet werden. Zugleich muss das Wissen um das ethische Leben, wel­ ches im Begriff der Sittlichkeit dargestellt wird, auf dessen Endzweck als seinen Rechtfertigungsgrund Bezug nehmen können. Es mag zwar schon zum Teil Wissen über das ethische Leben vorhanden sein, insofern dieses eine Geschichte hat, doch in jedem Schritt der Erweiterung dieses Wis­ sens taucht das Problem der Rechtfertigung von neuem auf, da ich nicht durch Beobachtung nachweisen kann, dass dieses oder jenes zu tun, durch ein ethisches Leben erfordert wird oder ihm zumindest nicht wider­ spricht. Es ist nicht sichtbar, bevor wir es im Handeln sichtbar machen. Da das ethische Leben erst durch Wissen eines Subjekts von diesem realisiert wird, zeigt sich also ein Problem für den Bezug auf den Recht­ fertigungsgrund dieses Wissens. Dieser Rechtfertigungsgrund erweist sich für das Subjekt, das sein eigenes Handeln darunter begreifen muss, zu­ nächst als negativ. Erst im Wissen selber besteht seine Wirklichkeit - im Sinne der Negation der Negation. Wie stehen also vor dem Problem zu erklären, wie Wissen möglich ist, das im Endzweck des ethischen Lebens seinen Rechtfertigungsgrund hat, auf welchen aber zugleich nicht referiert werden kann. Dieses Problem stellt das Kernproblem aller Moralphiloso­ phie dar. Dieses Problem stellt sich uns im Bewusstsein der Möglichkeit des Todes durch die Gewohnheit, auf welche Hegel verweist. Darin be­ steht ein Bewusstsein für die Negativität des ethisch Guten. Denn aus der Möglichkeit des Todes durch Gewohnheit folgt, dass das Gute sich nicht von selbst im Leben einer Person ergibt, indem sie in eine Handlungswei­ se eingeübt wird. Sie muss sich hingegen dessen als eines nicht-gegebenen bewusst sein. Zugleich rückt damit die einzelne Person in den Mittel­ punkt der Ethik. Sie kann ein Bewusstsein vom Guten als eines nicht­ gegebenen herausbilden, womit sie überhaupt erst dazu disponiert ist, ihm in ihrem Lebensvollzug Ausdruck zu verleihen. Sie ist nicht länger ge­ zwungen, sich bloß auf gewohnte Handlungsweisen zu verlassen, son­ dern, die Möglichkeit des Todes durch Gewohnheit sehend, ist sie selbst herausgefordert, ihren Lebensvollzug auf das Gute auszurichten. Nun gilt es somit, zu zeigen, wie innerhalb der Sittlichkeit einer Person das Ver­ mögen gegeben ist, die negative Einheit ethischen Lebens in den persona­ len Lebensvollzügen, das heißt in der Ausübung verschiedener Praktiken und Gewohnheiten, sichtbar zu machen und damit dem ethisch Guten Ausdruck zu verleihen.

117

III. D er Widerspruch im Sittlichen III. 1. Die Organisation des Lebens Aus der Perspektive der Person, deren Lebensvollzüge durch den weiteren Kontext bestimmter Gewohnheiten und Praktiken bestimmt sind, ist das Verhältnis zur negativen Einheit ethischen Lebens zunächst wie folgt zu verstehen: Im Bewusstsein der Möglichkeit, dass die Einübung von Ge­ wohnheiten innerhalb der Sittlichkeit zur Gewalt über eine Person führen kann, zeigt sich, dass der Widerspruch von vernünftig allgemeinem und empirisch partikularem Bestimmungsgrund des Willens wie bei Kant, so auch bei Hegel noch gegeben ist - er ist darin aufgehoben, da er erstens nicht mehr besteht, und zweitens, da er bewahrt wird. Das heißt, der Wi­ derspruch besteht nicht mehr als ein unüberbrückbarer Gegensatz, wird aber in der Form voneinander abtrennbarer Ebenen innerhalb der Einheit sittlichen Leben bewahrt. Der Widerspruch wird somit in die Lebensweise von Personen hineingeholt. Sie sind sich seiner als Abtrennbarkeit, als möglicher Tod durch Gewohnheit bewusst. Dieser besteht, wenn die Ge­ wohnheiten, welche die materielle Existenzweise einer Person bestimmen, nicht freie Lebensvollzüge ermöglichen, sondern unter dem Zwang gege­ bener, verhärteter Strukturen oder äußerer Autoritäten stehen. Aus dieser Perspektive ergibt sich nur ein negativer Begriff des Guten, welcher in der Unfreiheit und Unterdrückung als Möglichkeit des Todes durch Ge­ wohnheit bewusst wird. Als Abwesenheit von Freiheit wird negativ ge­ fasst, wie der Widerspruch innerhalb des Begriffs der Sittlichkeit fortbe­ steht. Der genuine Erklärungs- und Begründungsanspruch im Begriff der Sittlichkeit besteht hingegen in einer Darstellung der Überwindung des Widerspruchs in den Lebensvollzügen einer Person. Um die Einheit ethi­ schen Leben zu verstehen, bedarf es einer Darstellung des Vermögens, in der Ausübung von Praktiken Allgemeines und Partikulares zu vereinen. Dadurch wird die Einheit ethischen Lebens innerhalb der organisierten Lebensvollzüge von Personen dargestellt. Konkreter heißt das, dass die verschiedenen Praktiken, die die Lebensweise einer Person bestimmen, das Verhältnis der Partikularität des Lebensvollzuges einer Person und des allgemein Guten organisieren. Zu diesen Praktiken gehören zum Beispiel die Rollen, die eine Person innerhalb des Familienlebens einnimmt, die Tätigkeiten, die sie im gesellschaftlichen und ökonomischen Leben aus­ führt oder ihr Engagement im politischen Leben. Auf die Details und Be­ dingungen der Ausübung dieser Praktiken will ich hier nicht weiter einge-

118

hen. 13 Gemeinsam ist ihnen jedoch, dass sie, jeweils auf ihre Art, diesen Widerspruch organisieren und somit keine verhärteten Praktiken darstel­ len, deren Gewohnheit zum Tod von Personen führt, sondern deren Le­ bendigkeit befördern, indem die Personen selbst die gestaltende Autorität über ihre Praktiken besitzen. Diese können Personen durch Kritik und Reformen ihrer Praktiken ausüben und somit aktiv in den Widerspruch zu den bestehenden Verhältnissen ihrer Praktiken treten, ihn aber zugleich auch überwinden. Hier wird die Person sich des Widerspruchs nicht bloß in der Ausübung verschiedener Praktiken, also nicht bloß als des mögli­ chen Tods, bewusst, sondern nimmt ihn aktiv auf sich. Thomas Khurana beschreibt dieses Verhältnis zu den Gewohnheiten als ständige Verände­ rung durch Produktion eben dieser, worin eine ständige Simultanität und Diskontinuität von Leben und Geist bestehe . 14 Als ein ständiger Wandel, welcher aus der Kritisierbarkeit und Reformierbarkeit von Praktiken her­ vorgeht, besteht hier also die Lebendigkeit des Guten. Der Widerspruch von vernünftigem Allgemeinem und empirisch Partikularem besteht hier in den Personen, die ständige Veränderung durch fortwährende Produkti­ on der eigenen materiellen Realität, der Gewohnheiten als zweiter Natur, bewirken. Im Begriff der Sittlichkeit stehen beide Seiten des von Kant in der Dialektik der praktischen Vernunft dargelegten Widerspruchs also in der freien Aktivität einer Person zusammen. Deren Einheit ruht somit in ei­ nem Übergang zu einer höheren Ebene des Wissens, worin der Zusam­ menhang unendlichen Intellekts und endlichen Wissens neu bestimmt wird. Der Begriff der Sittlichkeit stellt eine Weise dar, dieses Verhältnis zu begreifen. Daher werden durch tugendhafte Praktiken, die in der Einheit des ethischen Lebens begriffen werden, beide Seiten im ethischen Wissen verbunden.

III. 2. Bewusstsein vom Widerspruch Die im Hegel’schen Übergang zur Sittlichkeit enthaltene Erklärung der Einheit des vernünftigen, allgemein Guten und des partikular Materiellen kann auf zwei Schritte zurückgeführt werden. Im ersten Schritt wird sie innerhalb des Lebensvollzuges einer Person begriffen. Das heißt, es wird

13 Die Darstellung von Details dieser Praktiken stellt nicht den Gegenstand dieses Textes dar. Auf detaillierte Aspekte dieser verschiedenen Praktiken und Lebensbe­ reiche geht zum Beispiel Axel Honneth in seinem Buch Das Recht der Freiheit, Ber­ lin 2011 ein. 14 Vgl. Thomas Khurana: Life and Autonomy. Forms of Self-Determination in Kant and Hegel. In: Thomas Khurana (Hg.): The Freedom of Life. Hegelian Perspec­ tives. Freiheit und Gesetz III. Berlin 2013, S. 192—193.

119

zunächst auf die gegebenen, schon gemachten Praktiken und Gewohnhei­ ten geschaut, innerhalb derer eine Person ihr Leben innerhalb bestimmter Handlungs- und Evaluationsweisen vollzieht. Die Einheit wird in einge­ übten Gewohnheiten realisiert, wobei sich aber einer Person auch zu­ gleich der Widerspruch zeigt, der durch die Gewohnheit vereint werden soll. Dieser zeigt sich, wenn eine Person durch Gewohnheiten unfrei und unterdrückt wird, was Hegel, wie oben in Abschnitt II.2 dargestellt, als Tod durch Gewohnheit beschreibt. Der Widerspruch zwischen den mate­ riellen Bedingungen des Handelns und dem allgemein Vernünftigen wird in der Unfreiheit und Unterdrückung bewusst, welche eine Person zum Ausdruck bringt, indem sie „Ich kann nicht, denn unter diesen Bedingun­ gen ist gutes Handeln nicht möglich“ sagt. Im zweiten Schritt wird ge­ zeigt, wie eine Person durch ihre freie Aktivität diese Einheit bewirken kann und ihr somit ein gelungenes, glückseliges Leben möglich wird. Das heißt, abstrakt gesprochen, in diesem Schritt wird gefragt, wie ein Subjekt das Gute in seinen Lebensvollzügen sichtbar machen kann, wie es also die Einheit beider Seiten begreifen und realisieren kann und somit Bedingun­ gen herstellt, unter denen die Äußerung „Ich kann nicht, denn unter die­ sen Bedingungen ist gutes Handeln nicht möglich“ nicht mehr angebracht ist. Durch Hegels Begriff der Sittlichkeit wird der zweite Schritt, wie im vorherigen Abschnitt (III.1) gezeigt wurde, in Form von Praktiken ge­ fasst, die sich in ständiger Veränderung befinden, die von jedem Subjekt bewirkt wird, das etwas zu deren Realisierung und Reformierung beiträgt. In Praktiken solcher Art stehen allgemein Vernünftiges und partikulares Materielles in einer Einheit, insofern Personen diese in ihrem Lebensvoll­ zug begreifen und realisieren. Das Verhältnis von Schritt 1 zu Schritt 2 wird durch den Hegel’schen Begriff der Sittlichkeit im Rahmen einer Ordnung von Praktiken aufgefasst, welche diese formalen Merkmale tei­ len. Die verschiedenen Arten von Praktiken könnten dann jeweils im Rahmen einer Untersuchung über Familienbeziehungen, ökonomische Tauschbeziehungen oder Formen politischer Kooperation im Detail ana­ lysiert werden. Diese Analysen müssten dann jeweils die Bedingungen aufzeigen, unter denen diese Praktiken in ihrer materiellen Gestalt ständig verändert werden und reformierbar sind. Der Zusammenhang von Schritt 1 und Schritt 2 besteht hier innerhalb von Praktiken und Gewohnheiten. In ihnen kann eine Gefahr der Unfreiheit und Unterdrückung bemerkt werden. Zugleich ist in ihnen selbst die Möglichkeit gegeben, diese zu verhindern. Insofern können beide Schritte erst in der Reflexion vonei­ nander abstrahiert werden. Es zeigt sich jedoch noch eine andere Weise, von Schritt 1 zu Schritt 2 zu gehen. Diese zeigt sich an einer anderen möglichen Interpretation des Ausdrucks von Unfreiheit und Unterdrückung durch Gewohnheiten

120

in „Ich kann nicht, denn unter diesen Bedingungen ist gutes Handeln nicht möglich“. Im Rahmen des Hegel’schen Begriffs der Sittlichkeit wird er als Kritik und somit als Motiv für Veränderungen verstanden. Das setzt voraus, dass diese Veränderungen auch zugelassen werden und eine Aus­ sage als Kritik verstanden werden kann. Ist dieses nicht gegeben, kann die Äußerung „Ich kann nicht, denn unter diesen Bedingungen ist gutes Handeln nicht möglich“ auch auf die Unfähigkeit zur Kritik und zu Ver­ änderungen verstanden werden. In diesem Fall sagt eine Person „ich kann nicht“ bloß wegen des Zustandes der materiellen Bedingungen, weil sie al­ so die Möglichkeit des Todes durch Gewohnheit nicht sieht, sondern auch, weil Schritt 2 in der gegebenen soziohistorischen Realität nicht möglich erscheint. Dass Schritt 2 nicht möglich ist, bedeutet, dass Kritik nicht gehört wird und Veränderungen nicht möglich scheinen. Das heißt, eine Person kann nicht ihre Aktivität ausüben und zu der ständigen Ver­ änderung gegebener Gewohnheiten und Praktiken beitragen. Versteht man die Äußerung „Ich kann nicht, denn unter diesen Bedingungen ist gutes Handeln nicht möglich“ auf diese Weise, wird ein Subjekt außerhalb bestehender Handlungs- und Evaluationsweisen betrachtet. Diese Art, den Zusammenhang von Schritt 1 und Schritt 2 aufzufassen, geht also von deren Unterschied aus und abstrahiert sie nicht erst voneinander in der Reflexion. Eine Person stößt in ihren Lebensvollzügen auf den Unter­ schied, insofern sie sich der Unterdrückung und ihrer Unfreiheit bewusst wird, aber nichts dagegen machen kann. Sie muss ihren Tod durch Ge­ wohnheit als ihr Schicksal hinnehmen und ins Auge schauen. Von diesem, ethisch betrachteten Außenseiterstandpunkt aus, allein besteht ein Bewusstsein für die Negativität des Guten. Das heißt, eine Person kann das vernünftige Allgemeine und das partikular Materielle nicht in ihren Aktivitäten vereinen. Die strukturellen Bedingungen ethi­ scher Praktiken, die den Begriff der Sittlichkeit entsprechen, sind histo­ risch nicht gegeben. Es mögen entweder nur autoritär verhärtete Struktu­ ren oder nur sehr schlecht herausgebildete vorhanden sein. Nun bedeutet das nicht, dass eine Person kein ethisches Bewusstsein mehr hat. Es zeigt sich hier zunächst nur negativ im Bewusstsein der Unfreiheit und der Un­ terdrückung. Das heißt aber auch, dass eine Person ein ethisches Bewusst­ sein haben kann, ohne ein glückliches, erfülltes Leben erreichen zu kön­ nen. Ihr ethisches Bewusstsein besteht somit nicht in den Handlungs­ und Veränderungsmöglichkeiten innerhalb sittlicher Praktiken, wodurch sie die Einheit von Allgemeinem und Partikularem begreift und realisiert. Das ethische Bewusstsein besteht hingegen im Gegensatz beider Seiten, dem sie sich in ihren Lebensvollzügen bewusst wird - z.B. als Unfreiheit oder Unterdrückung. Doch alleine auf dieser negativen Ebene, die aus dem zweiten Ver­ ständnis der Äußerung „Ich kann nicht, denn unter diesen Bedingungen

121

ist gutes Handeln nicht möglich“ hervorgeht, bleibt das ethische Bewusst­ sein leer. Der Grund dafür liegt darin, dass Schritt 2 nicht möglich ist und somit ein ethisch gutes Leben nicht gelingen kann. Es scheint allein ein apokalyptisches Bewusstsein möglich, das die materielle Welt als Ort, an dem ein erfülltes Leben möglich sein kann, verachtet und dieses dafür im Jenseits erwartet. Doch diese Folgerung ist nicht zwingend. Es wurde nur gezeigt, dass eine Person nicht die Vermögen besitzt oder ausüben kann, wodurch begriffen wird, was zum Guten führt, aber nicht, dass sie diese nicht erwerben könnte. Aus Perspektive der unfreien, unterdrückten Per­ son kann dem ethischen Bewusstsein ein Inhalt gegeben werden, wenn man sie als hilfsbedürftig betrachtet. Da es ihr am nötigen Vermögen mangelt, kann eine Person sich, etwa angesichts gegebener materieller Umstände, als schwach und somit der Hilfe bedürftig, erweisen. Ob Schritt 2 möglich ist, hängt also davon ab, ob einer Person Hilfe gegeben werden kann und sie dadurch in die Lage gebracht werden kann, ein gutes Leben zu führen, in dem das allgemein, vernünftige Gute und das Materi­ ell-Partikulare zusammenstehen.

III. 3. Hilfsbedürftige Personen Eine Person, die nicht das Vermögen besitzt, innerhalb historischer Prak­ tiken und Gewohnheiten zu der ständigen Veränderung und Reformie­ rung von Praktiken und Gewohnheiten beizutragen, bedarf der Hilfe. Ihr mangelndes Vermögen kann einmal deswegen vorliegen, weil es ihr an Bildung mangelt. Eine Person hat jedoch noch nicht die Gewohnheiten und somit Vermögen herausgebildet, gemäß ethischer Praktiken zu han­ deln. Zweitens kann einer Person das Vermögen zum guten Handeln feh­ len, weil die Gestalt der historischen Praktiken und Gewohnheiten ein solches nicht zulassen. Das heißt, sie könnte unter anderen gesellschaftli­ chen Bedingungen in der Lage zum guten Handeln sein, befindet sich aber unter solchen, in denen andere Maßstäbe gelten, die etwa durch politische Macht oder ökonomische Interessen gesetzt werden. Anhand dieser bei­ den Fälle, in denen Personen der Hilfe bedürfen, soll herausgestellt wer­ den, was es heißt, eine Person als hilfsbedürftig zu betrachten und inwie­ fern daraus deren Vermögen, ein gelingendes Leben zu führen, entwickelt werden kann. In beiden Fällen wird eine Person als jemand betrachtet, der nicht in­ nerhalb einer als solche real bestehenden ethischen Ordnung von Werten aktiv ist. Das heißt nicht, dass sie gänzlich außerhalb einer ethischen Ordnung steht. Schließlich kann eine Person sich einer solchen negativ bewusst sein. Es ist lediglich so, dass sie nicht dazu fähig ist, diese selb­ ständig zu realisieren. Eine solche Person wird als hilfsbedürftig adres­

122

siert. Für die Beziehung des Hilfsbedürftigen zum Helfer ist charakteris­ tisch, dass letzterer mehr weiß als jener. Zum Beginn des Bildungsprozes­ ses bedarf also jede Person der Hilfe von jemanden, der mehr weiß. Im ersten Fall kann durch Hilfe die Verfehlung, das Scheitern und das Miss­ lingen, die auf meinem Mangel an Wissen beruhen, vermieden oder beho­ ben werden. So hilft der Lehrer dem Schüler, Aufgaben fehlerfrei zu lö­ sen. Oder die Eltern helfen ihrem Kind dabei, die körperliche und mentale Kraft zu entwickeln, um laufen zu lernen und später ein selbstständiges Leben zu führen. Diese Art der Relation zwischen Hilfsbedürftigem und Helfer kann noch innerhalb von Hegels Begriff der Sittlichkeit erfasst werden. Jemand, der nicht auf Hilfe angewiesen ist, kann unmittelbar Richtiges und Gutes tun. Der Hilfe bedürftig zu sein, heißt hingegen, ab­ hängig zu sein. Doch diese Abhängigkeit stellt keinen Gegenpol zur Un­ abhängigkeit dar. Letztere wird erst durch das mit Hilfe erworbene Wis­ sen gewonnen. Eine hilfsbedürftige Person wird als Teil eines kollektiven Bildungsprozesses dazu gebildet, die Selbständigkeit zu erlangen, die sie ab einem bestimmten Punkt selbst zu einem potenziellen Helfer macht. Es stellt sich nun die Frage, ob es auch im zweiten Fall Hilfe geben kann, die zu einem ethischen Leben führt. Im ersten Fall wurde die Hilfe innerhalb der Strukturen historischer Praktiken begriffen. Dort etwa mö­ gen ein institutionalisiertes Erziehungswesen und soziale Institutionen bestehen, wodurch der Vollzug eines ethischen Lebens angeleitet wird. Der zweite Fall stellt hingegen die Situation dar, in der eine Person inner­ halb der gegebenen Praktiken keine Vermögen zu Veränderung und Re­ form hat, weil die Praktiken dergestalt ausgeübt werden, dass sie weder Kritik noch Entwicklung erlauben. Hier bedarf eine Person also keiner Hilfe, um zur kompetenten Teilnehmerin von Praktiken zu werden. Sie bedarf der Hilfe in Unfreiheit und Unterdrückung. Hier ist niemand an­ wesend, der durch einen Rat oder eine Weisung innerhalb eingeübter Praktiken und gesellschaftlicher Bedingungen weiterhelfen könnte. Das Bedürfnis nach Hilfe stellt hier somit einen Ausdruck der Negativität des Guten dar. In diesem Bewusstsein scheint die Person einsam zu bleiben, da sie ihre Hilfsbedürftigkeit nicht mitteilen und somit keine Entwick­ lung vollziehen kann. Daraus folgt nun nicht, dass hier die Person, die sich als hilfsbedürftig begreift, vor einer Wissenslücke steht, die es auszu­ füllen gilt. Vielmehr wird eine Person hier hilfsbedürftig, insofern sie sich selbst als unvermögend begreift, an Praktiken teilzunehmen. Indem eine Person sich als unvermögend begreift, wird ihr zugleich eine Freiheit be­ wusst, die sich durch Einübung und Organisation von Praktiken nicht er­ schöpfend darstellen lässt. Sie gewinnt diese Freiheit indem sie Situationen und Konflikte thematisiert, in denen niemand weiter weiß, weil sie dadurch den Rahmen der eingeübten Praktiken und deren organisierte Ausübung durchbricht. Eine Situation, wie sie im zweiten Fall von Hilfs­

123

bedürftigkeit dargestellt wird, stellt die äußerste Grenze ethischen Wis­ sens dar, insofern hier die Bedingung, unter der es sich entwickeln kann, fraglich wird. Diese Form von Hilfsbedürftigkeit könnte eine Person auch resignierend verdrängen und stattdessen Vorgaben und Regel folgen. In­ dem eine Person sich aber als unvermögend und hilfsbedürftig begreift an Praktiken teilzunehmen, kann sie eine andere Perspektive auf diese entwi­ ckeln, und offen werden für andere Möglichkeiten, als denen die innerhalb der Bedingungen ethischen Wissens formulierbar sind. Es stellt sich nun die Frage, ob benötigte Hilfe an der Grenze des ethischen Wissens noch gegeben werden könnte. An den Grenzen des Wissens, wo Helfer nicht erreichbar sind, kann am Ende nur jemand hel­ fen, der nicht durch endliche Bedingungen wie einen zu durchlaufenden Bildungsprozess und gesellschaftliche Bedingungen, eingeschränkt ist. Das heißt, die Hilfe könnte nur von jemanden gegeben werden, dessen Leben unendlich und dessen Autorität die höchste darstellt. Zu diesem Punkt kann ich nun keine weiteren Ausführungen geben, denn dann müsste ich etwas darüber sagen können, wie sich ein Wesen mit unendli­ cher Macht endlichen Subjekten zuwendet, was jedoch eine Frage der Re­ ligion wäre. Mit dieser Feststellung und Selbstbeschränkung wird nicht Kant in seiner Aussage „Moral führt unumgänglich zur Religion“ Recht geben. Es wurde lediglich gezeigt, dass an diesem Punkt die Frage nach dem Zusammenhang von Moral und Religion Sinn ergeben kann. In die­ sen Fall ergibt sie nicht allein, wie bei Kant, aufgrund einer theoretischen Reflexion auf den Abschluss praktischer Vernunft Sinn. Stattdessen kann sich die Frage nach der Religion der Person aufdrängen, die Widersprüche in der Ausübung von Gewohnheiten, als Unterdrückung und Unfreiheit bewusst ist. Ungeklärt bleibt hier zudem auch, ob Kants Aussage „Moral führt unumgänglich zur Religion“ nicht auch noch auf eine Weise mit Hegel weitergeführt werden kann. Dessen Denken endet nicht im objektiven Geist, mit dem Begriff der Sittlichkeit. Die „Idee des Guten“ geht in der Wissenschaft der Logik in die „absolute Idee“ über und der objektive Geist geht in den absoluten Geist über. Außer durch die Kunst und den religiö­ sen Kultus könnte nach Hegel die Hilfe auch durch das Wissen der Philo­ sophen gegeben werden. Dann müsste man aber zeigen, inwiefern der Künstler oder Philosoph hilfreiche Unterstützung, Ratschläge oder Wei­ sungen, geben könnte, die zu einem guten Leben verhelfen.

124

Andrea Allerkamp

Im Fluss: Blumenbergs Quellen

Im Ursprung wird kein Werden des Entsprungenen, vielmehr dem Werden und Vergehen Entspringendes gemeint.1 Als Heraklit untersagte, zweimal in denselben Fluß zu steigen, ließ er offen, zu welchem Zweck überhaupt man dies beabsichtigen könnte. Doch wohl, um zu baden. Der Fluß hat instrumentelle Bedeutung.12

Übergänge Übergänge erlauben es, Grenzen genauer zu ziehen, sie schärfer zu be­ stimmen. Es mag wenig erstaunen, dass sie für Hans Blumenbergs „Typo­ logie von Metapherngeschichten“ entscheidend sind. Besteht die Aufgabe der Metaphorologie darin, „Aspekte des geschichtlichen Sich-verstehens der Philosophie zu gewinnen und zu differenzieren“, so kommt dem Moment des Übergangs in diesem Unternehmen eine zentrale Rolle zu: „Dabei werden vor allem die Übergänge die Spezifizität der Metapher und ihrer Ausdrucksformen schärfer heraustreten lassen . “ 3 Die Bühnen­ Metaphorik des ,Heraustretens‘ unterstreicht die dynamische Energie ei­ ner in Fluss gehaltenen Übergängigkeit, in der die „Plausibilität der Meta­ pher, ihre bildliche Evidenz“ aufreißt und die „,Reinheit‘ der Quelle“ als eine immer schon getrübte erscheint. 4 Metaphern müssen sich aus ihrer eigenen Begriffsgeschichte heraus selbst verstehen, sie können keinen Außenstandort einnehmen. 5

1

2 3 4 5

Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd. I, 1. Frankfurt a.M. 1974. S. 226; zukünftig zitiert als GS I, 1. Hans Blumenberg: Quellen, Ströme, Eisberge. Hg. von Ulrike von Bülow und Dorit Krusche. Frankfurt a.M. 2012, S. 117. (zukünftig: QSE). Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt a.M. 1999, S. 111. (zukünftig: PM). Hans Blumenberg: Beobachtungen an Metaphern. In: Archiv für Begriffsgeschichte. Bd. 15. Bonn 1971, S. 161—214, S. 192. (zukünftig: BaM). Vgl. auch Dirk Mende: Vorwort. Begriffsgeschichte, Metaphorologie, Unbegrifflichkeit. In: Metaphorologie. Zur Praxis von Theorie. Hg. von Anselm Haverkamp und Dirk Mende. Frankfurt a.M. 2009, S, 20, Anm. 76.

125

Nicht um die feinen Übergänge zu den benachbarten Ausdrucksfor­ men wie Mythos, Begriff und Symbol wird es mir im Folgenden gehen, sondern um die fließenden Übergänge, die im und zwischen einzelnen Metaphern entstehen. Blumenbergs Arbeit ist zuerst eine philologische. Seine begriffsgeschichtlichen Sammlungen setzen sich aus einer Fülle von Zitaten und Belegen, Anekdoten und Szenen aus der Kultur- und Philo­ sophiegeschichte zusammen. Die immer wieder aufgenommene Arbeit an der Daseinsmetaphorik - Seefahrt, Schiffbruch, Zuschauer - und die Insistenz auf kaum wahrgenommenen Metaphern vom Typus ,Quelle’ las­ sen zentrale Topoi heraustreten. Sie nicht in typologischer Rasterung er­ starren, sondern in verschiedenen begriffsgeschichtlichen Zusammenhän­ gen immer wieder neu auftreten zu lassen, ist das Ziel. Dass die Fülle der Beispiele eine metaphorologische Herausforderung darstellt, die den eige­ nen Umgang mit Quellen betrifft, zeigen Blumenbergs Schriften aus dem Nachlass. So konzentriert sich die posthum erschienene Sammlung Quel­ len, Ströme, Eisberge auf die drei titelgebenden Metaphern, die bereits in Beobachtungen an Metaphern auftauchen. Die Programmatik mancher Sät­ ze liest sich in diesem früheren Aufsatz wie ein Kommentar in eigener Sa­ che: „Es ist die Unmöglichkeit der Theorie gegenüber der Einzigartigkeit eines Gegenstandes, dem sie sich selbst integriert sieht.“ (BaM, 188). Metaphern des Fließens werden oft unbefangen aufgenommen - als influentia oder diffusio, so Blumenberg schon in Licht als Metapher der Wahrheit: „Es gibt Übergangsformen, die im Unbestimmten bleiben, [...] bei der sowohl der Gegenstand wie der Akt der Erfahrung ,Licht’ sein kann. “ 6 Fließende Übergänge zwischen den einzelnen Metaphern aber bilden überhaupt erst den Untergrund beziehungsweise Horizont, dem sich das Fundieren oder Umgreifen von Begrifflichkeiten verdankt. 7 6

7

Hans Blumenberg: Licht als Metapher der Wahrheit. Im Vorfeld der philosophi­ schen Begriffsbildung (1957). In: Ästhetische und metaphorologische Schriften. Hg. von Anselm Haverkamp. Frankfurt a.M. 2001, S. 167. (zukünftig: LMW). Vgl. Aristoteles: Poetik. Übersetzt von Arbogast Schmitt. Berlin 2011, S. 33, 1459 8a: „Denn gute Metaphern zu finden, hängt von der Fähigkeit ab, Ähnlichkeiten [d. h. in Verschiedenem das Gleiche] zu erkennen.“ Für das aristotelische Ver­ ständnis ist die Übertragungsfunktion der Metapher zentral, die auf Ähnlichkeit beruht, für den post-aristotelischen Begriff der absoluten Metapher ist dagegen die Gleichsetzung übertragener und uneigentlicher Rede fragwürdig geworden. Vgl. dazu auch Rüdiger Campe: Von der Theorie der Technik zur Technik der Meta­ pher. Blumenbergs systematische Eröffnung. In: Metaphorologie. Zur Praxis von Theorie. Hg. von Anselm Haverkamp und Dirk Mende. Frankfurt a.M. 2009, S. 312: „Den Ansatz zur Metaphorologie hat Blumenberg danach im Vorwort zu den Paradigmen zu einer Metaphorologie aber schon erreicht, wenn er dort vom ,Mehr an Aussageleistung‘ spricht, das der sophistischen Methode zukomme, in der Tradition der Aristotelischen Rhetorik und der Handbücher aber unzugänglich geworden sei. Von diesem Augenblick an verfolgt die Metaphorologie das Ziel, die­ ses ,Mehr an Aussageleistung’ seiner Art und seinem Inhalt nach zu erkunden.“

126

Exemplarisch mag dafür die Metapher des Bewusstseinsstroms stehen. Husserls, von Blumenberg geltend gemachte Übergangsmetaphorik er­ laubt es mir, gleich in einen der drei Wasser-Essays zu springen, die An­ fang der 1980er Jahre entstanden sind. Dort heißt es: „Die Übergänge zwischen der ansetzenden und der erfüllten Intention mögen freilich flie­ ßend sein - und insofern schon fließt das Bewußtsein kraft seiner elemen­ taren Bestimmtheit.“ (QSE, 115). Ausgangspunkt ist das Fragment des Heraklit: „Man könne nicht zweimal in denselben Fluß steigen.“ (QSE, 103) Diese „tiefe Weisheit“ er­ scheint als „absolute Metapher und darin eine der frühesten Errungen­ schaften der Philosophie, daß man die Wirklichkeit nicht festhalten kann, weil sie nicht das ist, als was sie uns erscheint.“ (ebd.) Denn die bloße Vermutung, es sei derselbe Fluss, in den man steige, obwohl doch die Strömung längst an anderer Stelle fließt, „beruht auf dem Anblick, den er dem Zuschauer als ein Stück Landschaft bietet“ (QSE, 103). Die räumli­ che Distanzierungsleistung, jene visuelle „Einstellung des theoros, des Zu­ schauers der Welt und der Dinge “ , 8 erscheint als die Voraussetzung für die Fähigkeit zur Kritik. Jene Frage nach der „Bedeutung der Perspektive, des Standortbewußtseins“ , 9 hervorgebracht seit der Frühen Neuzeit durch das Eindringen technischer Charaktere in die Lichtmetaphorik, richtet sich auch an Husserls Strommetapher. Heraklits Warnung, man könne nicht zweimal in denselben Fluss steigen, eröffnet eine Alternative von zwei Möglichkeiten: Zum einen charakterisiert sich die Flussmetapher bei oberflächlicher Annäherung durch ihre „amorphe Struktur des Fließens“, die bei näherer Analyse „wesensmäßige Zuordnungen von Teilen und Teilmassen“ erlaubt, zum anderen führt sie ihren Betrachter „zu den U r­ sprüngen, zu den Quellen, wo das ganze in seiner Reinheit und vor sei­ nem Anschwellen zur Formlosigkeit betrachtet werden kann.“ (QSE, 115) Dieser antinomische Ansatz zwischen der formlosen Struktur des Fließens und ihrer Vorform in der Reinheit der Quelle zeige, so Blumen­ berg, „daß überall in der Phänomenologie Unstimmigkeiten und Interfe­ renzen der Metaphorik zu erwarten sind." (QSE, 115) Indem die Metaphorologie danach fragt, „wie weit der Deckungsbereich einer Metapher geht" (BaM, 193), indem sie sich auf die Suche nach den fließenden Über­ gängen begibt, will sie die Phänomenologie über deren eigene Grenzen hinausführen.

8 9

Hans Blumenberg: Das Lachen der Thrakerin. Eine Urgeschichte der Theorie. Frankfurt a.M. 1987, Vorbemerkung. LMW, S. 170: „den Winkel [...], aus dem das Licht auf den Gegenstand fällt und aus dem er gesehen wird —Bedingtheiten der Perspektive und ihre Bewußtmachung, ja ihre freie Wahl, bestimmen nun den Begriff des ,Sehens‘.“

127

Bruchstellen Die nautische Metaphorik von Seefahrt, Schiffbruch und Zuschauer ver­ leiht der Bewegung des Daseins Ausdruck. Blumenbergs Interesse gilt den Bruchstellen und Umbesetzungen dieser Metaphorik, die immer wieder auf paradoxe Zuspitzungen zuläuft. So (ver-)weist die „Unmöglichkeit der Theorie gegenüber der Einzigartigkeit eines Gegenstands, dem sie sich selbst integriert sieht“ (BaM, 188), auf die Unmöglichkeit eines nur unbe­ teiligten Zuschauens, die vor allem in Krisenmomenten sichtbar wird. Exemplarisch wird diese Unmöglichkeit in einem zweifach ausgefalteten Gleichnis Schopenhauers, das die komplexe Struktur des Wissens vom Leben im und als Vollzug skizziert. Der Mensch führt ein Doppelleben, „ein konkretes und ein abstraktes“ (BaM, 190). Im abstrakten Leben schaut er sich reflektierend zu, in das konkrete Leben ist er verwickelt. Die allseitige Uebersicht des Lebens im Ganzen, welche der Mensch durch die Vernunft vor dem Thiere voraus hat, ist auch zu vergleichen mit einem geometrischen, farblosen, abstrakten, verkleinerten Grundriß seines Le­ bensweges. Er verhält sich damit zum Thiere, wie der Schiffer, welcher mittelst Seekarte, Kompaß und Quadrant seine Fahrt und jedesmalige Stel­ le auf dem Meer genau weiß, zum unkundigen Schiffsvolk, das nur den Himmel und die Wellen sieht. Daher ist betrachtungswerth, ja wunderbar, wie der Mensch, neben seinem Leben in concreto, immer noch ein zweites in abstracto führt. Im ersten ist er allen Stürmen der Wirklichkeit und dem Einfluß der Gegenwart Preis gegeben, muß streben, leiden, sterben, wie das Thier. Sein Leben in abstracto aber, wie es vor seinem vernünftigen Be­ sinnen steht, ist die stille Abspiegelung des ersten und der Welt worin er lebt, ist jener eben verkleinerte Grundriß. Hier im Gebiet der ruhigen Überlegung erscheint ihm kalt, farblos und für den Augenblick fremd, was ihn dort ganz besitzt und heftig bewegt: hier ist er bloßer Zuschauer und Beobachter.101

Schopenhauers Gleichnis stellt eine begriffsgeschichtliche Bruchstelle dar, denn es trägt wesentliche Unterschiede in das Bild von Schiffbruch und Zuschauer ein. Auffällig ist die Vernunftkritik. Dem abstrakten Leben, der „allseitige [n] Uebersicht des Lebens im Ganzen “ 1 1 fehlt etwas. Der Schiffer verhält sich zum unkundigen Schiffsvolk wie der Mensch zum Tier, beide trennt die Differenz von Steuerung und Genuss. Dem karto­ graphischen Wissen auf der einen Seite antwortet das bloße Sehen auf der anderen. Ursprünglich ist der unbeteiligte Zuschauer des Schiffbruchs auf dem Meere eine kosmologische Metapher (vgl. BaM, 189). Dagegen ver­

10 Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. Bd, I. In: Ders.: Werke in fünf Bänden. Hg. von Ludger Lütkehaus. Zürich 1988, S. 134, § 16. 11 Ebd.

128

tieft das Gleichnis die folgenreiche Verschlingung in einen Weltprozess, in dem sich die Übergänge reflexiv zueinander verhalten. Reflexion kann hier im Anschluss an Husserl als ,Zurückbeugung‘, also in der okularzen­ trischen Metaphorik der Gerichtetheit und des Blicks verstanden wer­ den. 1 2 Das Doppel-Leben ist ein wollendes und leidendes, es fordert die Vernunft dazu heraus, praktisch zu werden. Blumenbergs vorsichtig kon­ junktivische Kommentierung betont das Prospektive dieses Bildes, das schließlich zu einer Projektion nach Innen führe: „An dieser Stelle wird kenntlich, daß die konsequente Zuspitzung und Ausschöpfung der meta­ phorischen Anlage die Internalisierung wäre.“ (BaM, 189). Eine Projektion zieht weitere nach sich. 13 Das erklärt auch die „enge Affinität [...] zwischen den imaginativen Kontexten von Theater und See­ fahrt“ (BaM, 190). Schopenhauer potenziert das Bild des Schiffers in dem des Schauspielers: In diesem Zurückziehen in die Reflexion gleicht er einem Schauspieler, der seine Scene gespielt hat und bis er wieder auftreten muß, unter den Zu­ schauern seinen Platz nimmt, von wo aus er was immer auch vorgehen möge, und wäre es die Vorbereitung zu seinem Tode (im Stück), gelassen ansieht, darauf aber wieder hingeht und thut und leidet wie er muß.14

Im Gegensatz zum Seefahrer genießt der Schauspieler „eine Lizenz, wel­ che die Realität nicht zu vergeben hat, in der die reflektierende Vernunft eben nicht die Identität mit der betroffenen Erfahrung auch nur unterbre­ chen kann.“ (BaM, 190) Das Gleiten vom Navigieren zum Schauspielen macht die paradoxe Metapher des unbeteiligt-beteiligten Anblicks noch lange nicht entbehrlich. Nach wie vor liefert der Schiffbruch mit Zu­ schauer den „dunklen Punkt aller Kulturkritik“, für die Blumenberg seit Lukrez die Verhandlung zweier Standorte ausmacht: „einmal das Meer als naturgegebene Grenze des Raumes menschlicher Unternehmungen und zum anderen seine Dämonisierung als Sphäre der Unberechenbarkeit, Ge­ setzlosigkeit, Orientierungswidrigkeit. “ 15 Im 19. Jahrhundert, das „in 12 Vgl. Barbara Merker: Phänomenologische Reflexion und Pragmatistische Expressi­ on. Zwei Metaphern und Methoden in der Philosophie. In: Metaphorologie, S. 167 und 169. 13 Vgl. BaM, S. 169: „Projektion ist das Verfahren der Erfüllung der außerweltlichen Vorstellungsräume [...]“. 14 Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, S. 134f., § 16. 15 Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher. Frankfurt a.M. 1997, S. 10. (zukünftig: SmZ) Vgl. auch Blumenberg, Beobachtun­ gen an Metaphern, S. 185: „Der Schiffbruch ist ein Naturereignis; es ist zufällig, daß es den Menschen trifft. Aber daß der Mensch auf das Meer hinausgeht und sich dieser Gefahr aussetzt, ist gleichfalls ein Naturereignis, ein Resultat seiner Triebe und Leidenschaften, die ihn mit der kargen Versorgung seines natürlichen Standortes nicht zufrieden sein ließen.“

129

quantitativer Betrachtung sicher die Epoche der Schiffbrüchigen“ (SmZ, 72) war, gibt es „den festen Standort nicht mehr, von dem aus der H isto­ riker der distanzierte Zuschauer sein könnte.“ (SmZ, 74) Die paradoxe Schiffsmetapher kreist weiter „um den elementaren Sachverhalt einer Phänomenologie der geschichtlichen Krisenlagen, daß in ihnen die Ge­ triebenen sich für die Treibenden halten“ (SmZ, 76). Der Schiffbruch macht „die Zuverlässigkeit des Kosmos fraglich“ (SmZ, 11). Aus diesem Grund trifft die Neugierde des Menschen ein kulturkritischer General­ verdacht - „[d]aß hier, an der Grenze vom festen Land zum Meer, zwar nicht der Sündenfall, aber doch der Verfehlungsschritt ins Ungemäße und Maßlose zuerst getan wurde, ist von Anschaulichkeit, die dauerhafte Topoi trägt“ (SmZ, 11). Doch der Anschein einer allmählich fortschreiten­ den Untergangsgeschichte trügt. Anders als Ernst Robert Curtius interes­ siert Blumenberg bei der Verfolgung einzelner Metaphern weniger der Nachweis von Kontinuitäten. Die Fokussierung auf die nautische Meta­ phorik zeigt vielmehr, dass die anthropologische Grundbefindlichkeit des Zuschauens einer komplexen, immer wieder anders auszuhandelnden Standortbestimmung unterworfen ist. Im Erstaunen des Schiffbrüchigen manifestiert sich der theoretische Antrieb als „neue Erfahrung des festen Landes“, nämlich als „Grunderfahrung der Wissenschaft, daß sie Dinge zu ermitteln vermag, die standhalten und festen Grund für weitere Erkenntnis geben.“ (SmZ, 26) Doch gerade diese standfeste Position zeigt sich als of­ fene Reibungsstelle zwischen Wirklichem und Möglichem: „Das feste Land ist nicht die Position des Zuschauers, es ist die des geretteten Schiffbrüchi­ gen; seine Festigkeit wird ganz aus der Unwahrscheinlichkeit heraus erfah­ ren, das überhaupt Erreichbare zu sein.“ (SmZ, 27) Wenn „der Mensch als Festlandlebewesen dennoch das Ganze seines Weltzustandes bevorzugt in den Imaginationen der Seefahrt darstellt“ (SmZ, 10), so weil die Metapher Projektion ist, nämlich „bändigende Anthropomorphie der Natur im Dienst des Subjekts, das sich an ihr reflektiert.“ (SmZ, 28) Auch die Begriffsgeschichte der Projektion erzählt die Wechselfälle einer Bändigung. Beschränkt sich die Bedeutung von Projektion zunächst auf elementare körperliche Vorgänge (projizieren im Sinne von heraus­ strecken, -treten, -werfen), so gewinnt sie im Umfeld neuer Bildapparatu­ ren wie der Camera obscura eine technische Dimension, um schließlich von der mathematisch-technischen Ebene auf das Feld der Erkenntnis­ theorie übertragen zu werden. 16 Diese produktive Spannung zwischen Anthropologie, Technik und Erkenntnistheorie wird in Blumenbergs Pro­ jekt nicht zum Stillstand gebracht, sie wandert im Gegenteil aus „in die

16 Vgl. Falko Schmieder: Von der Methode der Aufklärung zum Mechanismus des Wahns. In: Archiv für Begriffsgeschichte. Bd. 47. Hamburg 2005, S. 163-189, S. 169.

130

Lektüre der Metaphern in ihren jeweiligen Zusammenhängen“.17 Wenn sich die Aufmerksamkeit auf den nicht mehr wahrgenommenen Hinter­ grund einer Metapher richtet, treten die von ihr hervorgebrachten Verstörungen in ihrer geschichtlichen Übergangsdynamik hervor.18

Zu den Quellen Die Verstörung gilt umso mehr für Metaphern, die zurück zur Frage des Ursprungs führen, nämlich zu den „Quellen, wo das Ganze in einer Rein­ heit und vor seinem Anschwellen zur Formlosigkeit betrachtet werden kann.“19 Mit der Quelle ist zum einen die Stelle aufgerufen, an der ein Fluss oder Bach entspringt oder an der Wasser aus dem Erdboden fließt. Die Quelle ist Ausgangspunkt oder Ursache von etwas. Als Dokument, Text oder Beleg, wird sie für wissenschaftliche Forschungen genutzt oder meint die Person oder Institution, von der eine Information stammt. Dass die Quellen des Historikers in den „Strom der Geschichte eingegan­ gen, in ihm aber nicht untergegangen sind“, erfordert ein Nachdenken über den Prozess der Kanonisierung: „Was tut der, der aus einer Quelle schöpft? [...] Und was ist der Quelle geschehen, aus der geschöpft wur­ de? [...] Was wird zur ,Quelle‘?“ (BaM, 191f.) Wenn Quellen etwas sind, „worauf man stößt“, so erzeugt dieser Aufprall Bewegung. Das Projekt der Metaphorologie ist aus einer doppelten Distanzierungsanstrengung entstanden. Zum einen rückt es ab vom Romantizismus der Authentizität und verwirft damit die Idee einer rückholbaren „Unbefangenheit genui­ nen Ausdrucks“,20 zum anderen nimmt es Abstand von einer Motiv-, Stoff- oder Toposgeschichte, die darum bemüht ist, konstant gehaltene Grundfiguren aufzufinden. Besonders die erste von Blumenbergs Wasser­ Metaphern macht dies deutlich. Mit der Metapher der Quelle stößt man paradigmatisch „auf eine andere Unselbstverständlichkeit, die in der Me­ tapher verborgen ist“ (QSE, 103), nämlich auf ihr Versprechen, „die im traditionellen Sinne ,eigentliche‘ Rede werde auch die eindeutige sein“ (BaM, 190). Analog zu Nietzsches Appell „,Auf die Schiffe, ihr Philoso­ phen!“', mit dem die fröhliche Wissenschaft im Gewand des Columbus zum Aufbruch in neue Meere auffordert, (SmZ, 27) erinnert Blumenberg be-

17 Campe, Von der Theorie der Technik zur Technik der Metapher, S. 285. (zukünftig: Campe). 18 BaM, S.192: „Es zeigt sich plötzlich, daß die einzelne Metapher zu einem Orientie­ rungssystem gehört und dieses anzeigt, daß aber zugleich die Latenz des Hinter­ grundes auch durch die vermeintliche Evidenz der Metapher gesichert und abge­ schirmt wird.“ 19 Vgl. Anm. 15. 20 Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, S. 24, Anm. 19.

131

reits in den Beobachtungen an Metaphern an den Mythos von der ,Rein­ heid der Quellen. Die Metapher des Schiffbruchs nimmt die geschichts­ philosophische Imagination der Quelle vorweg und fragt danach, „wie Er­ eignisse miteinander in Zusammenhang stehen können“ (ebd., 27). Metaphern bilden nicht bloß „Restbestände“, sondern „Grundbe­ stände“. In ihrem Bemühen um Rekonstruktion wirkt die Metaphorologie als „Archäologie diskreditierter und von Weltmodell-Emissionen ver­ schütteter, wenngleich keineswegs kompensierter Sinnbezirke“ . 21 Der Rückruf „,Zu den Quellen!‘“ ist deshalb „eine nur rhetorisch mögliche Zumutung“. Denn, wie Blumenberg programmatisch notiert: „Die Quel­ len sind immer schon verloren, liegen immer im Rücken der Geschichte.“ (QSE, 10) Ihre Bewegung zwischen Aufkommen oder Verschwinden, Auffrischung oder Erstarrung, Ausschöpfung und Weiterleitung treibt ei­ ne übergängige Dynamik hervor. So wie die Metapher lässt sich auch die Quelle nicht zurückholen zu einem Ursprung, vielmehr wird sie erst in der „Unmöglichkeit ihres Vollzuges anschaulich demonstriert“ (BaM, 189). Nicht zu einem Anfang gilt es die Quelle zurückzurufen, sondern das einzulösen, was in Benjamins Trauerspielbuch eingefordert wird: „Im Ursprung wird kein Werden des Entsprungenen, vielmehr dem Werden und Vergehen Entspringendes gemeint. “ 22 Die Herausforderung besteht darin, den Übergang, jenen „instabilen Zustand der Begriffsbildung zwi­ schen Metapher und Terminus“, in Fluss zu halten. Im Licht-Aufsatz er­ innert Blumenberg daran, dass Philosophie es „mit dem Unbegriffenen und Vorbegriffenen aufzunehmen“ (LMW, 139) habe. Die „anthropologi­ sche Beleuchtung“ will keinen „Nachweis einer ,metaphysischen‘ Aus­ zeichnung“ erbringen, sie sieht sich vielmehr in der Tradition einer schwachen oder armen Philosophie, als „,Armutszeugnis’“ oder „Verhal­ tensmerkmal eines Wesens, das trotzdem lebt“ . 23 Dies gilt umso mehr für die Metapher der Quelle, die für das Leben einsteht und damit in Reibung gerät zu anderen metaphorischen Komple­ xen: Spur, Rolle, Wurzel, Holzweg, Boden, Keime, Blüte, Frucht, Höhle sie alle verunreinigen das Bild einer Sehnsucht nach Reinheit und U r­ sprung, führen über Umwege hin zu etwas, das einen Anfang zu setzen in Aussicht stellt. Seit der Antike ist das Leben durch Selbstbewegung defi­ niert. (vgl. QSE, 50) Auf diesen Lebensbegriff im Sinne einer Selbstbewe­ gung „im Abbruch des Anfangs, aber auch Durchbruch“ (QSE, 51) macht Blumenberg mit Kant aufmerksam, dessen Symbolbegriff den Ausgangs­ 21 Ralf Konersmann: Metaphorologie als Quelle der Historischen Semantik. In: Die Kunst des Überlebens. Nachdenken über Hans Blumenberg. Hg. von Hermann Timm und Franz Josef Wetz. Frankfurt a.M. 1999, S. 130. 22 Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, GS I,1, S. 226. 23 Hans Blumenberg: Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik. In: Ders.: Wirklichkeiten in denen wir leben. Stuttgart 2012, S. 130.

132

punkt der Metaphorologie bildet. Der Quelle entströmt etwas, sie ist ab­ gewendet von ihrem Ursprung, gibt ihren Ausgangspunkt preis, ent­ springt dadurch aber auch im „Übergang von der absoluten Ruhe, die der Schöpfungsakt durch gleichmäßige Verteilung des Stoffes im Raum ge­ setzt hat, zur Bewegung, die zwar der Widerspruch zu diesem gesetzten Zustand ist, zugleich aber das, was allein überhaupt nur daraus entstehen konnte.“ (QSE, 51) Die Sammlung Quellen, Ströme, Eisberge erscheint somit wie eine Schatzkiste, die am Meeresboden der Metaphorologie noch auf Entde­ ckung wartet. Die Zettelkästen aus dem Nachlass bezeugen eine mehr als vierzigjährige Ausschöpfung der eigenen Quellen, geordnet in Mappen zu acht nummerierten und mehr oder weniger ausgearbeiteten Stichworten Kugel, Schlaf und Weckung, Licht, Eisberge, Quellen, Ströme, Naturbild, Abgrund. Eine Art Blütenlese, die ihren Betrachter immer wieder ins Tal stößt, so wie Benjamins Surrealismus-Essay, dessen Anfang Blumenberg als „einleitend ausgespannte [s] Bildpanorama von Quelle und Strom“ liest: Der deutsche Betrachter steht nicht an der Quelle. Das ist seine Chance. Er steht im Tal. Er kann die Energien der Bewegung abschätzen. Für ihn, der als Deutscher längst mit der Krisis der Intelligenz, genauer gesagt, des humanistischen Freiheitsbegriffs vertraut ist, der weiß, welch frenetischer Wille in ihr erwacht ist, aus dem Stadium der ewigen Diskussionen heraus und um jeden Preis zur Entscheidung zu kommen, der ihre exponierte Stellung zwischen anarchistischer Fronde und revolutionärer Disziplin am eignen Leib hat erfahren müssen, für den gibt es keine Entschuldigung, wenn er auf oberflächlichsten Augenschein die Bewegung für eine ,künstlerische‘, ,poetische‘ halten sollte.24

„Was tut der, der aus einer Quelle schöpft?“ Erst nachträglich konstruiert der Historiker aus der Quelle einen ,Einfluss‘. Das Ausschöpfen der Quelle verwandelt lauteres Wasser in getrübtes: „Man kann über die Quelle hinaus zurückfragen, entweder auf den Willen, der sie hinterläßt, oder auf die Bedingungen ihrer Entstehung.“ (BaM, 194) Letzteres tut der von Blumenberg zitierte Geschichtstheoretiker Johann Gustav Droysen, der sich gegen den Absolutismus der Quellenmetaphorik auflehnt und das Verhältnis von Ich und Geschichte als Herausarbeitung einer strömenden Kraft des geschichtlichen Lebens beschreibt. (QSE, 15) Diese Kraft wirkt ihrerseits auf das geschichtliche Bewusstsein des Historikers zurück, so

24 Walter Benjamin: Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz. In: GS II,1, S. 295-310.

133

Droysen im Grundriß der Historik: „Die Quellen, auch die vorzüglichs­ ten, geben ihm (sc. dem Forscher) sozusagen nur polarisiertes Licht. “ 25

Caput nihil Szenenwechsel: Unter den im Quellen-Essay unberücksichtigten Materia­ lien findet sich ein sarkastischer Kommentar zu einem verunglückten Me­ tapherngebrauch in der FAZ, aufgelesen am 15.11.1989: „Willy Brandt hat dieser Tage in Berlin vom Strom der Geschichte gesprochen, der die östli­ chen Systeme unterspült.“ (QSE, 200) Blumenberg notiert am Rande: „,Metaphern‘ - Fließen erhellt alles!‘ - Vom Bew.strom zum Urstrom der Geschichte“. Die metaphorologische Aufmerksamkeit für das Fließen der Metaphern ist eine gerichtete. Sie wehrt sich gegen die Blindheit, welche die geschichtsbildende Energie ausblendet. Quellen trüben sich, wenn sie zum Strom werden. Und wenn die Ströme sich im Meer verlieren, läutern sie sich. Das Paradox der sich trübenden Quelle ist das „der geschichtli­ chen Wirkung selbst.“ (QSE, 19) Das aber heißt nicht nur, dass es ver­ borgene Quellen gibt, „sondern daß die Quellen des Geschichtsverste­ hens wesentlich verborgen sind.“ (QSE, 29) Veranschaulicht wird dies durch eine „metaphorische Apostrophe“, die Nilquellenfrage. Der Wunsch, die seit Jahrtausenden gesuchten Quellen des Nils endlich zu entdecken, trieb zu wahrhaft abenteuerlichen Expeditionen. Caput Nili, eine empfindsame Reise zu den Quellen des Nils, so ein Buchttitel des For­ schungsreisenden Richardt Kandt 1904. Blumenberg schlüsselt diese kul­ turgeschichtlichen Zusammenhänge nicht auf, die Hintergrundmetapho­ rik schwingt bloß latent mit. Caput N ili quaerere (nach den Quellen des Nils fragen) ist bei den al­ ten Römern ein geflügeltes Wort für eine unlösbare Aufgabe. Im Quellen­ Essay könnte auch eine unmerkliche Laut-Verschiebung den Verdacht wecken, dass die Suche nach dem N ili zum Nihil führt. Die „quälende Verborgenheit“ der Quellen löst Assoziationsströme aus, was „durchaus auch diesen Klang“ eines Nichts hat, „ohne daß damit schon etwas über die theoretische Qualität gesagt sein müßte“ (QSE, 29). Wenn absolute Metaphern nicht auf einen zeitlosen Grund zurückgeholt werden können, so weil sich sowohl Frage als auch Antwort nach ihrer eigentlichen Be­ deutung „selbst schon einem Paradigma zitierbarer Stellen“ verdanken. Wie komplex dieser „Stellenzusammenhang“ ist, hat Rüdiger Campe in Berufung auf Blumenbergs Bezeichnung der Metaphorologie als „Halb­ zeug“ gezeigt. Das Halbzeug ist eine „aus der Terminologie der Industrie­

25 Johann Gustav Droysen: Grundriß der Historik. Hg. von R. Huebner. S. 334, § 25; zitiert in: Blumenberg, Quellen, Ströme, Eisberge, S. 13.

134

zeit hergenommene Metapher für Metaphorik“ (Campe, 288). Bei Blu­ menberg handelt es sich aber auch um ein „Halbzitat“ aus Heideggers Sein und Zeit, wo es zur Ganzheit des Zeugs heißt, dass dieses sich über die Struktur seiner Dienstbarkeit konstituiere: „In der Struktur ,Um-zu’ liegt eine Verweisung von etwas auf etwas. “ 26 Für die Metaphern gilt das, was Heidegger über das Zeug sagt: „Der je auf das Zeug zugeschnittene Umgang, darin es sich einzig genuin in seinem Sein zeigen kann [...], er­ faßt weder dieses Seiende thematisch als vorkommendes Ding, noch weiß etwa gar das Gebrauchen um die Zeugstruktur als solche. “ 27 Blumenberg fängt die Frage nach der Dienstbarkeit der Metapher mit der metaphorologischen Vernetzung der Quellen auf, was zur Folge hat, dass die Übergänge zwischen Historie und Psychoanalyse fließend wer­ den. So zitiert Blumenberg Droysen, der die Kulturgeschichte mit der jah­ reszeitlichen Überschwemmung des Nils vergleicht. Droysens „Rhetorik der Verundeutlichung“ gibt zu erkennen, dass er „etwas in der Hinter­ hand [behält], was er uns nicht preisgibt“ (QSE, 17). In der Bestimmung ihres historischen Gegenstands „als eine Art ,Ding an sich‘, welches au­ ßerhalb ihres Horizontes bleiben muß“ (QSE, 17), konstituiert sich Kul­ turgeschichte auf beweglichem Grund. Von Droysens Nilüberschwemmung bahnt sich der Weg des Quel­ len-Essays zu Freuds Traumdeutung - und zwar mittels einer anderen N il­ Metapher, der es ebenfalls nicht an Berühmtheit mangelt. Mit einer An­ spielung auf die Nilquellensuche gelingt Blumenberg der Einstieg in die Traumproblematik um 1900: In einem bisher der Öffentlichkeit vorenthaltenen Brief an Wilhelm Fließ vom 26. April 1896, also noch ein gutes Stück Zeit vor dem größeren Durchbruch der ,Traumdeutung‘, hatte er einen seiner Mißerfolge mit die­ ser Theorie beschrieben: Ein Vortrag im Psychiatrischen Verein habe bei den Eseln eine eisige A ufnahm e gefunden. Die maßgebende Instanz für das Fach am Ort habe sich so geäußert: E s klingt w ie ein wissenschaftliches M ärchen. [...] An die Äußerung von Krafft-Ebing schließt er eben die me­ taphorische Apostrophe auf die Nilquellenfrage an: U n d dies, nachdem m an ihnen die L ösu n g eines mehrtausendjährigen Problem s, ein caput N ili aufgezeigt h at!28

Freuds Erwähnung des caput N ili erweist sich für Blumenberg als „wis­ senschaftlicher Paradefall von zumindest für die Zeitgenossen schönster metaphorischer Eignung in der Suche nach den Quellen des Nils.“ (QSE, 29) Entscheidend ist nicht die Empörung. Vielmehr gibt die Apostrophie26 Martin Heidegger: Sein und Zeit. 17. Aufl. Tübingen 1993, S. 68, § 15. 27 Heidegger, Sein und Zeit, S. 69, § 15. 28 Max Schur: Sigmund Freud. Leben und Sterben. Frankfurt a.M. 1973, S. 633.; zi­ tiert in Blumenberg, Quellen, Ströme, Eisberge, S. 29.

135

rung Aufschluss darüber, was wissenschaftlich auf dem Spiel steht - eben nichts Geringeres als die Lösung eines mehrtausendjährigen Problems.

Traumquellen Der Abschnitt zu Freud erscheint als einer der dichtesten im Quellen­ Essay. Zitiert werden die Traumdeutung und die Vorlesungen zur Einfüh­ rung in die Psychoanalyse. Mit den Doppelbildungen, die Freud gehäuft verwendet - „Reizquellen, Affektquellen, Traumquellen“ - habe die Metaphorologie nur wenig zu tun, wehrt Blumenberg gleich zu Anfang ab: sie würden „durchgängig nicht mehr als Metaphern gehört“ (QSE, 29). Ob Traum- oder Reizquelle, in beiden Fällen dient die Quelle wie „die Urkunden, die ein Historiker benutzt“ (ebd., 30), und das heißt in diesem Fall wie eine Lösung für das Rätsel der Traumbildung. In der Auseinan­ dersetzung mit den physiologischen Traumtheorien des 19. Jahrhunderts, in die sich schon Schopenhauers Vorschlag integriert, sich von den Tages­ eindrücken abzuschirmen, um „wie bei Nacht die Quelle rieseln zu hö­ ren“ , 29 entwickelt Freud die Idee einer neuentdeckten Distanz zum laten­ ten Traumgedanken. Doch Blumenbergs Aufmerksamkeit gilt weniger diesen psychoanalytischen Neuerungen als dem instrumentalisierten Ge­ brauch der Metapher. Tatsächlich entfalte die Traumquelle bei Freud „kaum etwas von dem metaphorischen Potential“, sie gerate „im Gegen­ teil in Reibung mit zwei anderen metaphorischen Komplexen, dem der Spur und der Rolle“ (QSE, 31). Zielgerichtet führt der Verlauf der Traumdeutung in immer tiefer liegende Quellen. Von „der übertäubenden Wirkung der Tageseindrücke“ geht es zu den „frühkindlichen Erlebnis­ sen“ und noch weiter zurück zu den Träumen, „die aus der Gattungsge­ schichte der Menschheit“ (QSE, 31) stammen, zu denen auch die Ge­ burtsträume gehören. Die Metaphorik der Quelle mit ihrer nachträglich eingetragenen Te­ leologie erweist sich schließlich als verschliffen, sie bricht sogar termino­ logisch aus, wenn vom „Zusammentreten“ - und nicht mehr vom Zu­ sammenfließen - der Affektquellen die Rede ist. Und doch geht diese Rechnung nicht auf, was Blumenberg in Bezug auf Freuds Non-VixitTraum ausführt. Die in der Traumdeutung mehrfach aufgenommene Aus­ legung dieses Eigentraums mündet in der Annahme von einem „Mittel­ stück der Traumgedanken, das die in den Traumgedanken waltenden A f­ fektregungen, wie eine Brunnenschale die zugeleiteten Gewässer, sam­ melt“ . 30 Blumenberg schließt mit einem Eigenkommentar: „Es mag genug 29 Sigmund Freud: Die Traumdeutung. In: Ders.: Studienausgabe. Bd. II. S, 61; zitiert in Blumenberg, Quellen, Ströme, Eisberge, S. 30. 30 Freud, Traumdeutung, S. 466.

136

sein, den instabilen Zustand zwischen Metapher und Terminus zu bele­ gen.“ (QSE, 31) Auch Freuds Vorlesungen zeigten einmal mehr, dass „der Quelle nichts von ihrem metaphorischen Horizont“ gelassen werde: „Was aus der Quelle wird, wenn sie zutage getreten ist, hängt von ihr nicht mehr ab.“ (QSE, 32) Ob die Quelle, wie in der Metapher bestimmungs­ gemäß angelegt, zum Strome anschwillt, könne „nur durch die Zahl und Mächtigkeit der anderen Quellen entschieden werden, deren Ausstoß sich mit ihrigen irgendwo vereinigt.“ Tritt dieser Fall nicht ein, droht der Quelle das „schlechteste ihrer Schicksale“ (QSE, 32). Sie wird zum Rinn­ sal, verläuft sich, versickert, bleibt in all ihrer Verausgabung vergeblich. Die tiefenpsychologische Einlassung des Traums bringt die Quelle zum Versickern, weil sie Beziehungen unterstellt anstatt sie „unter der Voraus­ setzung ihrer Unverrechenbarkeit“ (Campe, 314) zu untersuchen.

Kraftstation des Kritikers Ein letztes Zu den Quellen! sei erlaubt. In Walter Benjamins SürrealismusEssay steckt eine politische Sprengkraft, die Blumenberg aufnimmt und umbesetzt. Sie weist auf ein großes Modewort der 1920er Jahre: „die ge­ fährliche Kombination von ,Entscheidung‘ und ,Gleichgültigkeit’ des Preises“ (QSE, 22). Blumenberg erscheint dieser Hinweis auf eine inflati­ onäre Ökonomie alles andere als harmlos. 31 Benjamin komme es nicht so sehr auf die Richtung an als auf das Gefälle, das ,„scharf genug’ sein muss, damit der Kritiker seine Kraftstation an ihnen errichten kann.“ (QSE, 22) Die Umwandlung der „Wasserläufe zu Energiequellen“ (QSE, 23) er­ scheint hier wie eine Antwort auf Curtius’ Topik, von der Blumenberg sich absetzt. Wo Benjamin „die gewaltigen Kräfte der Stimmung zur Ex­ plosion bringen “ 32 will, findet Blumenbergs Metaphorologie ihr Kraftfeld in der übergängigen Dynamik einer metaphorischen, geschichtsbildenden Energie. In kritischer Abgrenzung von Heidegger heißt es in einer Notiz: „Es ist das Geheimnis der Quelle, daß sie mehr enthält als das, was ihr entfließt; die Quelle birgt in sich das Meer.“ (QSE, 94) Schließlich ist es keiner der Quellen im „mächtigen Strom der Tradition“ gestattet, „ihre ursprüngliche Reinheit zu bewahren.“ (QSE, 94) Das notiert Blumenberg im langen Nachkrieg, der die Verfolgungen jüdischer Intellektueller nicht vergessen machen konnte. 31 QSE, S. 23: „Nichts also vom Kritiker und seinem Zuschauerstandort im Tal, alles bezogen auf den Schauplatz eines eher mondänen Vorgangs literarischer Zirkelbil­ dung, der eben nur als Symptom großräumiger Zuläufe und Untergründigkeiten, Spannungen und Stimmungen den ersten Eindruck der Harmlosigkeit zu hinterge­ hen auffordert.“ 32 Benjamin, Anmerkungen zum Sürrealismus-Aufsatz, GS II, 3, S. 1031.

137

Inga Anderson

Überleben, überwinden, übergehen. Trauer als Medium des Übergangs

I. „G oing to the party“

Abb.1: Elizabeth Heyert, 2003. Anna Bell McGill. Born: February 1923. New York, New York. Died: March 2003. Harlem, New York.

Auf ihrem letzten Portrait trägt Anna Bell McGill ein weißes Kleid mit Pailletten und einen ausladenden, mit einer auffälligen Schleife verzierten Hut, der einen Schatten über ihre geschlossenen Augen wirft. Die Hände, die linke sanft auf der rechten ruhend, stecken in filigranen Spitzenhand­ schuhen. Eine Braut könnte prachtvoller kaum aussehen. In der ausführli­ chen Bildunterschrift zu diesem Portrait liest man: „Anna Bell McGill. Born: February 1923. Died: March 2003“. Ihr letztes Portrait wurde nach

139

ihrem Tod aufgenommen. Es gehört zu einer Reihe von Fotografien der US-amerikanischen Fotokünstlerin Elizabeth Heyert, die den Titel The Travelers trägt. Diese Reihe besteht aus 31 Post-mortem-Portraits von verstorbenen Mitgliedern einer Baptistengemeinde aus Harlem im Format 30x38 Inches bzw. 76x97 cm, die Heyert zwischen März 2003 und März 2004 im Bestattungsinstitut von Isaiah Owens aufnahm . 1 Hier wur­ de auch der Leichnam von Anna Bell McGill für die Bestattung vorberei­ tet. Über eine Aufschrift am Vordach seines Bestattungsinstituts lässt Owens seine Kundinnen und Kunden wissen, dass sie an einem Ort ange­ langt seien, an dem Schönheit die Trauer mildern könne: „Where Beauty Softens Your Grief“ . 12 Doch diese Schönheit ist kein Selbstzweck; ihr Zweck ist primär nicht einmal ein diesseitiger. Die Verstorbenen werden von Owens durch ihre elegante Kleidung und die aufwendige Art, auf die sie zurecht gemacht werden, auf ihre Reise ins Paradies vorbereitet, oder, wie Owens selbst sagt: „They’re going to the party.“ Er bereitet die Ver­ storbenen durch seine Arbeit mit den toten Körpern auf den Übergang vom Leben in den Tod vor. Der Übergang vom Leben in den Tod - damit ist die Perspektive be­ nannt, aus der der vorliegende Beitrag sich der diesem Band gestellten Aufgabe widmen will, Übergänge zu denken. Anhand einer prismatischen Analyse von The Travelers will ich im ersten Teil meines Aufsatzes ver­ schiedene Facetten von Übergängen zum Aufscheinen bringen, die in die­ ser Bilderserie eine Rolle spielen. Dabei werde ich zunächst (provisorisch) auf einen spezifischen und theoretisch gehaltvollen Begriff des Übergangs verzichten und stattdessen Übergänge als allgegenwärtige Phänomene des Wandels und der Transformation betrachten, d.h. im weitesten Sinne als Prozesse der Veränderung. Der Punkt, auf den ich dabei zusteuern will, ist der, an dem die medialen, materiellen, soziokulturellen und biografi­ schen Übergänge, die in den Totenportraits von Heyert ins Licht rücken, ineinandergreifen mit Übergängen, die sich in der Trauer vollziehen. Um verschiedene Arten einzuführen, auf die Trauer als Übergang konzeptualisiert werden kann, werde ich im zweiten Teil dieses Textes Arnold van Genneps Theorie der Übergangsriten (1908) und Sigmund Freuds Trauer und Melancholie (1917) vergleichen. Mit van Gennep kön­ nen die Praktiken, die The Travelers dokumentiert, als Bestandteile eines Ritualkomplexes beschrieben werden, der die Reise von den Lebenden zu

1 2

140

Für die Erlaubnis, einige der Bilder der Reihe in diesem Aufsatz zu verwenden, möchte ich mich an dieser Stelle herzlich bei Elizabeth Heyert bedanken. Owens erlangte eine gewisse Berühmtheit dadurch, dass er in New York City Be­ stattungsfeiern durchführt, die sich an den Traditionen der Baptistengemeinden im Süden der USA orientieren. In der New York Times wurde von ihm als dem „most artful undertaker in Harlem“ gesprochen; 2013 widmete sich die Regisseurin Christine Turner in dem Dokumentarfilm Homegoings seiner Arbeit.

den Toten begleitet: Trauerrituale versteht van Gennep als diesseitige Entsprechung der Reise, die die Verstorbenen vom Diesseits ins Jenseits führt. Auch Freud beschäftigt sich im Rahmen der „Etablierung der Psy­ choanalyse als Praxis und Wissenschaft bzw. als Therapie und als Bedeu­ tungstheorie “ 3 mit dem menschlichen Umgang mit Verlust. Fast zeit­ gleich mit van Gennep arbeitend, wählt er dabei jedoch eine völlig andere Perspektive als die ethnologische. In Freuds innerpsychischer Theorie der Trauer wird der Unterschied zwischen Leben und Tod nicht als Übergang konzeptioniert, sondern der Tod wird als Endpunkt verstanden. Trauer als Problem des Übergangs kann damit nur auf der immanenten Ebene ei­ nes sich transformierenden Ichs verhandelt werden. Der Vergleich zwischen ethnologischen und psychoanalytischen Trauertheorien des frühen 20. Jahrhunderts führt mich folglich zu der Frage, ob und wie sich die Bewegungsgesetze der Trauer als Medium des Übergangs verändern, wenn der Tod nicht mehr als Übergang an einen anderen Ort, sondern als Ende gedacht wird. Vor diesem Hintergrund werde ich mich im letzten Teil meines Beitrags der Ethik der Trauer bei Jacques Derrida widmen. Ich werde dabei die These formulieren, dass Derridas Abarbeitung an psychoanalytischen Theorien der Trauer einen Versuch darstellt, Überleben als einen anachronen und unverfugten Übergang zu konzeptionieren, der die Trauer nicht überwinden kann, weil er die Toten nicht übergehen will. Über die Figur der Krypta, einem geheimen Ort, an dem die Toten im Ich begraben liegen, führt er in psy­ chologische Konzepte der Trauer, die diese als immanenten Übergang be­ greifen, eine Art /Transzendenz durch die Hintertür‘ ein. Darauf fußt, so werde ich argumentieren, seine Ethik der Alterität. Der kryptischen Be­ wahrung des Anderen, die Derrida an dieser Stelle vorschlägt, will ich, in­ dem ich mich auf zentrale Aspekte aus van Genneps Diskussion beziehe, im letzten Schritt eine Ethik der Trauer entgegensetzen, deren Flucht­ punkt nicht die Enkryptierung des verlorenen Anderen ist, sondern die den Toten ihr Totsein lässt.

Mediale und materielle Übergänge Ein fotokünstlerisches Projekt, das sich auf das Genre der Leichenfoto­ grafie beruft, kommt kaum umhin, den Übergang vom Leben zum Tod als ein mediales und materielles Problem zu thematisieren, stellt dieser doch einen Grenzfall der Möglichkeiten fotografischer Repräsentation dar. „My

3

Sigrid Weigel: Literatur als Voraussetzung der Kulturgeschichte. Schauplätze von Shakespeare bis Benjamin. München 2004, S. 26.

141

portraits aren’t about death, but about people’s lives, “ 4 so kommentiert Heyert in einer Pressemitteilung ihre Arbeit. Der hier formulierte Impe­ tus, nicht den Tod, sondern das Leben abbilden zu wollen, durchzieht die gesamte Serie. Bereits im Portrait von Anna Bell McGill, dem ersten Bild von The Travelers, wendet Heyert formelle und technische Verfahren der fotografischen Verlebendigung an, die sie über das ganze Projekt beibehal­ ten wird. Anstatt die Leichen direkt in den Särgen zu fotografieren, legt sie sie mit Owens Hilfe am Morgen vor der Beisetzung auf einen schwarzen Stoff und fotografiert dann von oben herab, wobei sie mit Studiolicht und langen Belichtungszeiten arbeitet. Kurz bevor sie das jeweilige Foto auf­ nimmt, bringt Owens auf ihre Anweisung hin die Leichen in eine Position, die sie als eine natürliche empfindet, eine Position, bei der es sich freilich eher um eine lebensnahe handelt, als um eine, die den Tod ins Bild bringen will. Der sich aus dieser Inszenierung ergebende Eindruck einer den Lei­ chen eigenen Nähe zum Leben, gar einer ihnen eignenden Lebendigkeit entsteht insbesondere, wenn die Bilder durch ihre Hängung in Galerien oder Ausstellungsräumen wieder in eine aufrechte Position gebracht werden. Als eine Auseinandersetzung mit dem Genre des Portraits steht The Travelers in der Tradition viktorianischer Post-mortem-Fotografie. Viele fotografiehistorische Diskussionen dieses Genres5 weisen darauf hin, dass die soziale Praxis der Totenfotografie nicht reflexhaft als exotisch oder pa­ thologisch abzuwerten sei - eine Reaktion, die mit kulturkritischen Figu­ ren der Todesverdrängung in Zusammenhang gebracht wird -, sondern als Ausdruck eines medienanthropologischen Zusammenhangs von Bild und Tod zu begreifen sei. 6 Solche medienanthropologischen Überlegungen über den Zusammenhang zwischen Bild und Tod prägen auch zahlreiche fototheoretische Positionen: Der „uralte Konnex von Bild und Tod [hat] gerade im fotografischen Bild eine aktualisierte Kulturtechnik und ein er­ neuertes Bewusstsein gefunden “ . 7 Häufig wird dabei eine Analogie zwi­ schen fotografischer Bildwerdung, d.h. zwischen dem Übergang des Le-

4

5

6

7

142

Edwynn Houk Gallery: Photographer Elizabeth Heyert creates postmortem por­ traits in her new series The Travelers. http://elizabethheyert.com/projects/thetravelers/press (aufgerufen am 12.08.2015). Vgl. etwa Katharina Sykora: Die Tode der Fotografie 1. Totenfotografie und ihr sozialer Gebrauch. München 2009; Stanley B. Burns: Sleeping Beauty. Memorial Photography in America. Pasadena 1990; ders. und Elizabeth A. Burns: Sleeping Beauty II. Grief, Bereavement and the Family in Memorial Photography, American & European Traditions. New York 2002. Prägend für die Diskussion wurde der medienanthropologische Zusammenhang von Bild und Tod von Hans Belting elaboriert; vgl. Hans Belting: Bild­ Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft. München 2007. Martin Schulz: Die Sichtbarkeit des Todes in der Fotografie. In: Thomas Macho, Kirsten Marek (Hg.): Die neue Sichtbarkeit des Todes. München 2007, S. 401-425, hier S. 402.

bens ins Bild, und dem Übergang vom Leben zum Tod in Anschlag ge­ bracht, wie sie sich prominent in Roland Barthes’ Die helle Kammer. Be­ merkungen zur Fotografie findet. In Barthes’ Versuch einer phänomenolo­ gischen Annäherung an das Wesen der Fotografie findet sich neben des­ sen Bestimmung als Gewahrwerdung des Todes, des „Ça a été“, auch eine Beschreibung desjenigen Moments, in dem man selbst fotografiert wird: „In der Phantasie stellt die P H O TO G R A PH IE [...] jenen äußerst subti­ len Moment dar, in dem ich eigentlich weder Subjekt noch Objekt, son­ dern vielmehr ein Subjekt bin, das sich Objekt werden fühlt: ich erfahre dabei im kleinen das Ereignis des Todes (der Ausklammerung): ich werde wirklich zum Gespenst . “ 8 Genauso, wie Heyert nicht Leichen portraitieren, sondern mit einem Totenportrait das Bild eines Lebens zeichnen will und deshalb bestimmte Zeichen des Todes zum Verschwinden bringt, ist auch Barthes’ Entwurf einer fotografischen Ontologie nicht daran interessiert, wie der Tod sich auf materieller Ebene als Übergang vom Körper zum Leichnam vollzieht. 9 Der Tod erscheint nicht im Gewand eines sich schrittweise vollziehenden Sterbe- oder gar Verwesungsprozesses, sondern wird als ein singulärer Moment verstanden, der Leben und Tod voneinander trennt. Der Tod zeigt sich als Zustand, in den nur dasjenige am Menschen eintreten kann, das unveränderlich, stillgestellt, ewig ist: sein in einem fotografischen Pa­ radigma gedachtes Bild. Wenn in The Travelers tote Körper ins ewige Le­ ben des Bildes eingehen, findet das ewige Leben der Seele ein Äquivalent, in dem materielle Verfallsprozesse des Körpers, sein Sterben und seine Verwesung, nicht ins Bild passen.

Biografische, historische und (sozio-)kulturelle Übergänge O ft wurden bei der Ausstellung von The Travelers neben den Namen und den ungefähren Geburts- wie Todesdaten der Portraitierten auch die Orte genannt, an denen sie auf die Welt gekommen waren und an denen sie von der Welt gingen. So wird ersichtlich, dass für über die Hälfte der 31 Portraitierten biografische Übergänge ihre Entsprechung in räumli­ chen Übergängen fanden: French Perry etwa, auf Heyerts Portrait geklei­ det in einen eleganten schwarzen Anzug mit einer Fliege, wurde im Jahre

8 9

Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Fotografie. Frankfurt a.M. 1985, S. 22. Einige Überlegungen dazu, was Toten- und Geisterfotografie für Barthes’ Versuche bedeuten könnten, zum Wesen der Fotografie vorzudringen, entwickle ich in folgen­ dem Aufsatz: Inga Schaub: Bühnen und Bilder, Szenen und Séancen. Geisterfotogra­ fie als Theater der Toten. In: Carolin Blumenberg, Alexandra Heimes, Erica Weitzman, Sophie Witt (Hg.): Suspensionen. Über das Untote. München 2015, S. 143—149.

143

1924, also zwischen den beiden Weltkriegen und während der Great D e­ pression, in den amerikanischen Südstaaten geboren. Von dort zog er als Mitglied einer aufbrechenden Generation in den Norden der USA, wo das Versprechen eines besseren Lebens lockte. Freilich sind solche biografi­ schen Übergänge nicht zu lösen von historischen Transformationen, Umkehrungen und Brüchen. So beschreibt Heyert in Bezug auf dieses Portrait, wie überrascht sie war, als ihr klar wurde, dass French Perry, der als Veteran mit der US-amerikanischen Flagge beerdigt wurde, als Soldat in der segregierten Armee gekämpft haben musste.

Abb. 2: Elizabeth Heyert, 2003. French Perry. Born: September 1924. Kittrel, North Carolina. Died: September 2003. Harlem, New York.

Im Rahmen einer Betrachtung der lebensgeschichtlichen und gesellschaft­ lichen Übergänge, die The Travelers ins Bild bringt, ist sicher auch die Tatsache bemerkenswert, dass einige der portraitierten Verstorbenen vor ihrem Tod den Wunsch äußerten, dass ihre Leichen nicht in New York City, sondern an ihrem Geburtsort in den Südstaaten bestattet werden sollten - ein Wunsch, in dem die jahrtausendealte kulturelle Praxis der Se­

144

kundär- oder Doppelbestattungen in einer Variante des 20. und 21. Jahrhunderts in Erscheinung tritt . 101 Neben solchen großen Veränderungen, die die (afro-)amerikanische Geschichte prägten und prägen, spielen auch ,kleinere‘ Veränderungen ei­ ne Rolle für The Travelers, denn historische Übergänge vollziehen sich nicht nur ereignishaft, in Umwälzungen und Brüchen, sondern auch als schleichende, beinahe unmerklich voranschreitende soziokulturelle Trans­ formationsprozesse. In einem Interview anlässlich der ersten Galerie­ Präsentation von The Travelers beschreibt Heyert, wie sehr sich Harlem in der Zeit veränderte, in der sie an ihrer Serie arbeitete: It’s changing so unbelievably fast. N ow there’s a Starbucks, MAC, Sports Authority, all the downtown chains. I saw a quintessential sign of the new Harlem on a restaurant blackboard: ham hocks and arugula salad. Four to five years ago when I went up to Harlem, it was all African American, and now it’s many different types of people. Building is going on constantly, fancy condos and hotels.11

Diese Beschreibung soziokulturellen Wandels scheint beinahe nostalgisch konnotiert zu sein. Der Eindruck der Nostalgie verstärkt sich, wenn Heyert später in demselben Interview bemerkt, dass es ihr in diesem Projekt nicht zuletzt ein Anliegen war, eine im Verschwinden begriffene Tradition zu dokumentieren und damit das Erbe einer Gemeinschaft zu bewahren: die feierlichen Bestattungsformen und -zeremonien, die von freikirchlichen Baptistengemeinden praktiziert und innerhalb eines christlichen Interpre­ tationsrahmens mit Bedeutung aufgeladen werden. Das Verschwinden solcher Bestattungsformen könnte also mit dem Begriff ,Säkularisierung‘ bezeichnet werden. ,Säkularisierung‘ fungiert in zahlreichen aktuellen Untersuchungen sich wandelnder Trauerkulturen als entscheidendes Schlagwort. 12 Wie diese Säkularisierungstendenzen nicht nur Trauerpraktiken beeinflussen, sondern auch ein Denken von Trauer als Problem des Übergangs bestimmen, darauf werde ich in den folgenden Abschnitten meines Texts zurückkommen, wenn ich Arnold 10 Der bereits kurz erwähnte Dokumentarfilm Homegoings betrachtet diesen Aspekt der Arbeit von Owens vor dem Hintergrund der Heimführungen schwarzer Solda­ ten im Bürgerkrieg, die dazu diente, dass diese von ihren Familien bestattet werden konnten. Gleichzeitig wird mit dem Titel der Dokumentation auf eine christlich inspirierte afroamerikanische Glaubenstradition aus den Zeiten der Sklaverei ange­ spielt: Als „homegoing“ wurde hier die Reise der Seele nach Afrika, in das Land der Vorfahren bezeichnet. 11 Elizabeth Heyert: In Conversation: Elizabeth Heyert and Stacey D’Erasmo. http://elizabethheyert.com/projects/the-travelers/essay (aufgerufen am 12.08.2015). 12 Vgl. z.B. Julia Schäfer: Tod und Trauerrituale in der modernen Gesellschaft. Per­ spektiven einer alternativen Trauerkultur. Stuttgart 2011; Reiner Sörries: Herzli­ ches Beileid. Eine Kulturgeschichte der Trauer. Darmstadt 2012.

145

van Genneps Analyse von Trauerritualen als Übergangsriten mit Sigmund Freuds psychoanalytischer Trauertheorie vergleichen werde. Dazu werde ich eine Unterscheidung zwischen immanenten und transzendenten Übergängen einführen: Bei van Gennep steht die Trauerzeit als Phase immanenter Umwandlungsprozesse, die die Hinterbliebenen durchlaufen, in engem Zusammenhang mit der Reise vom Diesseits ins Jenseits, die die Verstorbenen als transzendenten Übergang absolvieren müssen. Diesem Paradigma des doppelten Übergangs steht ein Paradigma der Überwin­ dung gegenüber, das die Freud’sche Trauertheorie strukturiert.

II. Immanente und transzendente Übergänge Im frühen 20. Jahrhundert entwickelt Arnold van Gennep eine bis heute rezipierte und zitierte Theorie, mittels derer er verschiedene Rituale kate­ gorisierbar und in ihrer Struktur und Funktion beschreibbar, analysierbar und vergleichbar machen will. Denn trotz der Vielfalt ihrer historischen und gegenwärtigen Formen dienen zahlreiche Rituale, so van Gennep, ei­ nem identischen Ziel: das „Individuum aus einer genau definierten Situa­ tion in eine andere, ebenso genau definierte, hinüberzuführen“ . 13 Auch die zeremoniellen Sequenzen, die den Verlust eines Lebens begleiten, können in seiner ethnologischen Theorie als ein Ritualkomplex beschrieben wer­ den, der zu der „besondere [n] Kategorie der Übergangsriten“ zählt und der sich dementsprechend „bei genauer Analyse in Trennungsriten (,rites de séparation‘), Schwellen- bzw. Umwandlungsriten (,rites de marge‘) und Angliederungsriten (,rites d’agrégation‘) “ gliedert. 14 Ritualisierten Zere­ monien nur eine einzige Funktion und einen einzigen Zweck zuzuschrei­ ben, würde ihnen freilich kaum gerecht. Auch van Genneps Anliegen ist es keineswegs, mit dem Konzept der Übergangsriten eine allumfassende Theorie des Rituals zu behaupten: Nichts liegt mir ferner als die Behauptung, alle Geburts-, Initiations-, Hochzeitsriten usw. seien ausschließlich Ubergangsriten. Denn außer ih­ rem generellen Ziel - eine Veränderung des Zustands oder einen Übergang von einer magisch-religiösen bzw. säkularen Gruppe zu einer anderen zu gewährleisten - haben alle diese Zeremonien noch einen speziellen Zweck. So enthalten Hochzeitszeremonien Fruchtbarkeitsriten; Geburtszeremo­ nien Schutz- und Divinationsriten; Bestattungszeremonien Abwehrriten;

13 Arnold van Gennep: Übergangsriten (1909). Frankfurt a.M. 1999, S. 15. 14 Van Gennep, S. 21, Hervorhebungen im Original.

146

Initiationszeremonien Versöhnungsriten; Ordinationszeremonien Binderi­ ten (Riten der Bindung an die Gottheit) usw.15

Dort aber, wo sie in Situationen des Übergangs praktiziert werden, sollen Rituale die schädlichen Auswirkungen von Zustandsveränderungen auf das soziale und individuelle Leben abschwächen. 16 Für den Anthropolo­ gen van Gennep sind Trauerrituale genau deshalb interessant, weil im Zu­ stand der Trauer Probleme des Übergangs zutage treten. Der Übergang vom Diesseits ins Jenseits bedeutet eine der heiklen und gefährlichen bio­ grafischen Zustandsänderungen, die zu gestalten, zu strukturieren und in geordnete bzw. ordnende Bahnen zu lenken eine wichtige Funktion von Ritualen ist. Denn der Tod stellt eine prekäre Situation dar - und zwar auf mindestens zwei Arten und Weisen: einerseits für die Verstorbenen selbst, die vom Zustand des Lebens in den des Todes übergehen und An­ schluss an das Reich der Toten finden müssen, andererseits aber auch für die Trauernden, die in einer Zeit der Trennung von Lebenden zu Überle­ benden werden, um wieder in die Gemeinschaft der Lebenden integriert werden zu können. In seinem Kapitel über Bestattungsrituale widmet sich van Gennep, dieser Einsicht Rechnung tragend, einerseits Ritualen, die der „Einbürgerung im Schattenreich [dienen], andererseits aber [auch sol­ chen Ritualen, die] die soziale Reintegration der trauernden Hinterbliebe­ nen besiegeln “ . 17 Wenn ein Mensch aus dem Leben scheidet, beginnt nicht nur für die Hinterbliebenen, die Trauernden, sondern auch für die Toten eine Umwandlungsphase. Van Gennep äußert diesbezüglich die These, dass Übergangsriten, die den Weg für die Reise vom Diesseits ins Jenseits ebnen, häufig in ei­ nem Verhältnis zeitlicher Parallelität zu die Lebenden betreffenden Ritua­ len der Trauer stehen. Die Trauerzeit [...] ist für die Hinterbliebenen eine Umwandlungsphase, in die sie mit Hilfe von Trennungsriten eintreten und aus der sie mit Hilfe von an die Gesellschaft wieder angliedernden Reintegrationsriten (Riten, die die Trauerzeit aufheben) heraustreten. In einigen Fällen stellt diese Umwandlungsphase der Lebenden das genaue Gegenstück zur Umwand­ lungsphase der Toten dar, dann nämlich, wenn das Ende der Trauerzeit zeitlich mit der abgeschlossenen Angliederung des Toten an das Toten­ reich zusammenfällt.18

15 Van Gennep, S. 22. 16 Vgl. van Gennep, S. 23. 17 Thomas Macho: Der zweite Tod. Zur Logik doppelter Bestattungen. In: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 7, Nr. 2 (1998), S. 43-60, hier S. 53. 18 Van Gennep, S. 143.

147

Als aufeinander bezogene Unterkategorien von Bestattungsritualen sind sie demnach nicht gesondert voneinander zu betrachten und zu verstehen, sondern miteinander in Zusammenhang zu setzen und in ihrem Zusam­ menhang zu begreifen. In vielen Kulturen dient das Bild der Reise als Metapher für den Übergang aus dem Reich der Lebenden ins Reich der Toten, vom Dies­ seits ins Jenseits. „Kaum ein anderes Bild hat sich im Laufe der Metaphorisierung des Todes stärker eingeprägt, als dieses Bild der Reise . “ 19 In die­ sem Lichte betrachtet erinnern die Geldscheine in den Taschen von James Earl Jones, die ihm von seinen Freundinnen und Freunden als Grabbeigabe zugesteckt wurden, an die Münze, die der Fährmann Charon verlangte, um die Toten über den Fluss Lethe ins Schattenreich des Hades zu bringen.

Abb. 3: Elizabeth Heyert, 2004. James Earl “Jay Moe” Jones. Born: February 1982. New York, New York. Died: March 2004. Harlem, New York.

Verschiedene Kulturen kennen für ihre Toten unterschiedlichste Reisear­ rangements, Reiserouten und Reiseziele. Doch gleich, wo nun der Weg vom Reich der Lebenden ins Totenreich die Verstorbenen genau entlang führt: Fast immer ist die Reise vom Diesseits ins Jenseits langwierig, oft schwierig, und manchmal erweist sie sich als außerordentlich gefahrenvoll. 19 Macho 1998, S. 54.

148

Weil aber die Angliederung der Verstorbenen ans Totenreich solch ein ge­ fährliches Unterfangen darstellt, muss sie mit Ritualen begleitet werden. „Reise und Eintritt in die jenseitige Welt erfordern eine Reihe von Über­ gangsriten, die im einzelnen von der Entfernung und Topographie dieser Welt abhängig sind. “ 20 Tatsächlich handelt es sich für van Gennep bei den zum Zweck der Angliederung ans Totenreich vollzogenen Riten um die wichtigste Dimension der beim Tode vollzogenen Zeremonien: „Die Ri­ ten aber, die den Verstorbenen dem Totenreich angliedern, sind am stärksten ausgestaltet, und ihnen mißt man die größte Bedeutung zu . “ 21 Bei der Trauerzeit handelt es sich um eine Schwellenzeit, die zwi­ schen verschiedenen Arten von Trennungen und Angliederungen liegt: Trauer- und Bestattungsrituale führen nicht nur die Trauernden in die Gemeinschaft zurück, sondern begleiten und sichern auch für die Ver­ storbenen das Gelingen der Reise von den Lebenden zu den Toten. Die Trauerzeit, die die Überlebenden als Teil eines Übergangsritus diesseitig durchschreiten, entspricht in van Genneps Begriffsschema der Reise, die die Verstorbenen vom Diesseits ins Jenseits führt. Wenn nun aber die Angliederung der Verstorbenen der bedeutsamste Aspekt der Bestat­ tungsrituale ist, dann erscheint als gelingende Trauer diejenige Trauer, durch die es den Überlebenden gelingt, die Verstorbenen sicher ins Reich der Toten zu geleiten.

Das Paradigma der Überwindung In diesem Punkt unterscheidet sich van Genneps Trauerkonzept kategorial von der psychoanalytischen Vorstellung der Trauer, die Sigmund Freud erstmals in Trauer und Melancholie skizziert. Freuds innerpsychische Theorie der Trauer konzipiert den Unterschied zwischen Leben und Tod nicht als Übergang, sondern als eine Grenze, an der kein Weg von A nach B führt. Das für die Trauertheorie von van Gennep fundamentale Ver­ ständnis von Trauer als einem doppelten Übergang, ein Verständnis von der Trauerzeit als einer Umwandlungsphase der Lebenden und der Toten zugleich, gerät damit bei Freud aus dem Blickfeld. Trauer als Problem des Übergangs kann nurmehr auf der immanenten Ebene eines sich transfor­ mierenden Ichs verhandelt werden, dessen primäre Aufgabe laut Freud die Überwindung des Verlusts darstellt. Welche Auswirkungen hat es auf Theorien der Trauer, wenn sich die Möglichkeit verschließt, die Trauerzeit, in welche die Lebenden nach ei­ nem Verlust eintreten, als eine diesseitige Entsprechung der Totenreise zu

20 Van Gennep, S. 148. 21 Van Gennep, S. 142.

149

denken? Wie kann Trauer als Übergang gedacht werden, wenn der Tod selbst nicht mehr der Übergang in eine jenseitige Existenz ist, sondern le­ diglich das Ende der diesseitigen? Mit diesen Fragen im Hinterkopf werde ich im Folgenden einen Blick auf Freuds Text Trauer und Melancholie werfen, der in den Fokus bringen will, wie sich Trauer als Übergang hier an einem Paradigma des Überwindens orientiert: Der wesentliche Über­ gang, der in der Trauer, wie sie in Trauer und Melancholie konzipiert wird, auf dem Spiel steht, besteht in einer Transformation des Ichs, die im Zei­ chen der Überwindung steht. Den Begriff der Überwindung gebraucht Freud zunächst, um den Normalaffekt der Trauer bzw. die gelungene Trauerarbeit zu charakteri­ sieren. „Wir vertrauen darauf, daß sie [d.h. die normale Trauer, I.A.] nach einem gewissen Zeitraum überwunden sein wird, und halten eine Störung derselben für unzweckmäßig, selbst für schädlich. “ 22 Was hier überwun­ den werden soll, ist die Trauer selbst - eine Trauer, der ihre Terminierbarkeit bereits eingeschrieben ist. Im Verlauf seines Texts stellt Freud detail­ lierte Hypothesen darüber auf, wie genau Trauer als ein dem Paradigma der Überwindung verpflichteter Übergang vonstattengeht und in welchen Schritten Trauernde einen Verlust überwinden. Seine besondere Auf­ merksamkeit gilt dabei den ökonomischen Mitteln, die die Trauer einsetzt und beansprucht, um diese Überwindung zu erreichen: Die normale Trauer überwindet ja auch den Verlust des Objekts und ab­ sorbiert gleichfalls während ihres Bestandes alle Energien des Ichs. [...] An jede einzelne der Erinnerungen und Erwartungssituationen, welche die Li­ bido an das verlorene Objekt geknüpft zeigen, bringt die Realität ihr Ver­ dikt heran, daß das Objekt nicht mehr existiere, und das Ich, gleichsam vor die Frage gestellt, ob es dieses Schicksal teilen will, läßt sich durch die Summe der narzißtischen Befriedigungen, am Leben zu sein, bestimmen, seine Bindung an das vernichtete Objekt zu lösen.23

Anders als im ersten Zitat ist hier nicht von der Überwindung der Trauer die Rede, sondern von einer Überwindung des Verlusts. Diese Verschie­ bung, die sich beinahe unmerklich im Rahmen weniger Seiten vollzieht, ergibt sich bei genauerer Betrachtung aus Freuds Diskussion des Zusam­ menhangs zwischen Melancholie und Manie. Melancholie versteht Freud als pathologisches Gegenteil der gelungenen Trauerarbeit, als fehlgeleite­ ten Trauerprozess, in dem es dem Ich nicht gelingt, die an das verlorene Objekt geknüpften libidinösen Energien zu lösen, welches deshalb über eine Identifikation mit dem verlorenen Objekt ins Ich verlegt wird. Bei

22 Sigmund Freud: Trauer und Melancholie. In: Anna Freud (Hg.): Gesammelte Werke. Bd. 10. Werke aus den Jahren 1913-1917. London 1946, S. 428-446, hier S. 429. 23 Freud, S. 442.

150

der Melancholie handelt es sich folglich um einen Zustand, in dem der Weg eines die Trauer wirklich überwindenden Übergangs nicht offen steht. Die geheimnisvolle und verwunderliche Neigung der Melancholie wiederum, „in den symptomatisch gegensätzlichen Zustand der Manie umzuschlagen “ , 24 etabliert Freud über eine weitere Figur der Überwin­ dung. Dabei wird Überwindung nicht nur als Überwindung der Trauer, sondern auch (wenngleich im folgenden Zitat erst einmal nur vermutend und darum in Klammern) als Überwindung des Verlusts, und schließlich sogar als Überwindung des Objekts selbst aufgefasst. „In der Manie muß das Ich den Verlust des Objekts (oder die Trauer über den Verlust oder vielleicht das Objekt selbst) überwunden haben, und nun ist der ganze Betrag von Gegenbesetzung, den das schmerzhafte Leiden der Melancho­ lie aus dem Ich an sich gezogen und gebunden hatte, verfügbar gewor­ den. “ 25 Ein manischer Zustand wird somit als ein triumphaler Übergang verständlich, als Triumph eines Lebenden, der zum Überlebenden wird, wie auch Elias Canetti es beschrieb: „Der Augenblick des Überlebens ist der Augenblick der Macht. Der Schrecken über den Anblick des Todes löst sich in Befriedigung auf, denn man ist nicht selbst der Tote. [...] Im Überleben ist jeder des anderen Feind, an diesem elementaren Triumph gemessen, ist aller Schmerz gering. “ 26 Canetti formuliert eindeutig und unmissverständlich, wo Freud in seinem Einschub in Klammern vage bleibt: In der Manie triumphiert der Überlebende nicht, weil er die Trau­ er, sondern weil er den Toten selbst überwunden hat. Wenn nun psychologisierte und säkularisierte Trauerkonzepte dies­ seitige Übergänge nicht in Analogie zur Reise der Toten, sondern als Überwindung der Toten konzipieren, dann wird im Medium der Trauer gleichsam das Schicksal der Hinterbliebenen wie das der Verstorbenen verhandelt. Das Fortleben der Toten ist fortan auf tragische Art und Wei­ se an das Überleben der Hinterbliebenen geknüpft, denn nur das diessei­ tige Überleben ist als Übergang strukturiert, nicht aber der Weg in ein Fortleben. Dem Übergang, der die Überlebenden wieder aus der Trauer hinausführt, wenn sie diese überwinden, entspricht kein Übergang, der die Toten in ein jenseitiges Nachleben hineinführt - sie bleiben einfach tot, sie erleiden gar einen zweiten, einen doppelten Tod.

24 Freud, S. 440. 25 Freud, S. 442. 26 Elias Canetti: Masse und Macht. Frankfurt a.M. 1980, S. 267, Hervorhebung im Original.

151

III.

Übergänge, die nicht übergehen Ich habe mich schon immer für das Thema des Überlebens interessiert, dessen Sinn nicht zusätzlich zum Leben oder zum Sterben hinzutritt. Es ist etwas Ursprüngliches: Leben ist Überleben. [...] Sämtliche Begriffe, die mir bei meiner Arbeit geholfen haben, namentlich der der Spur oder der des Gespenstischen, waren mit dem Überleben als strukturaler und strikt ursprünglicher Dimension verbunden,27

bemerkt Jacques Derrida bei einem seiner letzten Auftritte vor seinem ei­ genen Tod im Jahr 2004. Fragen zum Zusammenspiel von Überleben, Überwinden und Übergehen stellen für seine philosophische Rezeption psychoanalytischer Trauertheorie eine denkerische und ethische Heraus­ forderung dar. Trauer tritt dabei in Gestalt einer „Aporie [auf], in der wir beim Tod des Freundes, am Ende einer Beziehung zwischen Lebenden, gefangen zu sein scheinen“ . 28 An dieser Aporie arbeitet sich Derrida im Sinne einer Trauerethik ab - und zwar erstens einer Trauerethik in einem engeren Sinne, die zu bestimmen beabsichtigt, was gute Trauer sein kann, und zweitens einer Trauerethik im einem weiteren Sinne, für die Trauer als ein ethischer Affekt funktioniert, der gerecht zu leben lehren kann . 29 Die Antwort, die er auf diese Herausforderungen findet, soll hier als ein Versuch verstanden werden, Überleben als einen Übergang zu konzeptionieren, der die Trauer nicht überwinden kann, weil er die Toten nicht übergehen will. Als Moment, der es notwendig und gleichzeitig unmöglich macht, sich in ein Verhältnis zum Anderen zu setzen, impliziert Trauer für Der­ rida eine Auseinandersetzung mit Alterität. Hierin liegt eine wesentliche Motivation dafür, warum Derrida „über die Arbeit arbeitet, über die Trau-

27 Jacques Derrida: Leben ist Überleben. Wien 2005, S. 32-33, Hervorhebung im Original. 28 Pascale-Anne Brault und Michael Naas: Mit den Toten, den Toden rechnen. Jac­ ques Derrida und die Politik der Trauer. In: Jacques Derrida: Jedes Mal einzigartig, das Ende der Welt. Wien 2007, S. 17-55, hier S. 32. Ausführlicher zu dieser Rezep­ tionslinie z.B. die Artikel von Colin Davis: États Présent. Hauntology, Spectres and Phantoms. In: French Studies 59, Nr. 3 (2005), S. 373-379; oder Joan Kirkby: .Remembrance of the Future‘. Derrida on Mourning. Social Semiotics 16, Nr. 3 (2006), S. 461-472. 29 Zu ersterem Aspekt vgl. Jacques Derrida: FORS. Die Winkelwörter von Nicolas Abraham und Maria Torok. In: Nicolas Abraham und Maria Torok: Kryptonymie. Das Verbarium des Wolfsmanns. Weil am Rhein 2008. S. 9-59; zu letzterem vgl. v.a. Jacques Derrida: Marx’ Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale. Frankfurt a.M. 1995.

152

erarbeit“ . 30 Sein Einsatz in diesem Unterfangen liegt in dem „Paar ,selbst/anders“ ‘ : 31 „Die Frage der Bewahrung, der Wahrung oder der all­ gemeinen Aneignung des anderen als anderen wird immer entscheidend sein. “ 32 Weil seine Trauerethik sich nicht von der Frage lösen kann, was mit den Toten passiert, wohin sie gehen, während wir sie betrauern, stellt Derrida das Freud’sche Paradigma der Überwindung in Frage. Seinem Trauerbegriff ist folglich eine Tendenz zur Melancholie, dem pathologi­ schen Gegenteil der gelungenen, d.h. den Toten überwindenden Trauer­ arbeit, eingeschrieben. Doch droht, genauso wie durch die Überwindung, auch in der Me­ lancholie die Möglichkeit abhandenzukommen, sich auf das verlorene Objekt zu beziehen. Weil es sich bei der Freud’schen Melancholie um ei­ nen narzisstischen Affekt handelt, der nicht weiß, nicht wissen will, wo­ rum er trauert, muss Derrida ein Element der Alterität in die Melancholie einführen. Nur wenn es gelingt, die melancholische Verlegung des verlo­ renen Objekts ins Ich nicht als Angleichung oder als Assimilation zu konzipieren, sondern darin Alterität zu konservieren, eröffnet sich die Möglichkeit, Trauer als einen Übergangsprozess zu denken, der den An­ deren nicht übergeht. Das Konzept, das für Derrida im Spannungsfeld von Überleben, Überwinden und Übergehen zwischen dem Narzissmus der Melancholie einerseits und der Bewahrung des nicht aneignenbaren Anderen anderseits vermittelt, ist das Konzept der Krypta, eines der Schlüsselkonzepte, um das Maria Torok und Nicolas Abraham in den 1960er und 1970er Jahren den psychoanalytischen Begriffsapparat ergänzten. Sie re-konzeptualisieren die Freud’sche Opposition zwischen der gelungenen, überwindenden Trauerarbeit und der sich nicht vom verlorenen Objekt lösenden, sondern es ins Ich verlegenden Melancholie als einen Unterschied zwischen Introjektion, einem graduellen Vorgang psychischen Wachstums, durch den sich das Ich schrittweise erweitert, und Inkorporation, einer magischen Einverleibung des verlorenen Objekts ins Ich . 33 Das verlorene, jedoch nicht introjizierbare Objekt wird ins Ich verlagert und findet seinen Platz dort an einem geheimen, unsichtbaren und unzugänglichen Ort, der Krypta. Oberflächlich bleibt die psychische Topographie unverändert,

30 Jacques Derrida: Kraft der Trauer. Die Macht des Bildes bei Louis Marin. In: Peter Engelmann (Hg.): Jedes Mal einzigartig, das Ende der Welt. Wien 2007, S. 179— 210, hier S. 179. 31 Derrida 2007, S. 188. 32 Derrida 2008, S. 16. 33 Vgl. Maria Torok: The Illness of Mourning and the Fantasy of the Exquisite Corpse. In: Nicholas T. Rand (Hg.): The Shell and the Kernel. Renewals of Psychoanalysis. Chicago 1994.

153

doch unter der scheinbar unangetasteten Oberfläche entsteht die Krypta als verborgener Ort. Um eine dergestalt durch die Inkorporation veränderte psychische Topographie zu beschreiben, evoziert Torok das Bild eines Grabes, „the tomb where desire lies buried “ . 34 Wie die Inschrift eines Grabsteins auf einem Friedhof an die unter ihm begrabenen Toten erinnert, erinnern die Gräber im Ich daran, dass es unmöglich war, bestimmte libidinöse Bin­ dungen zu introjizieren: „Like a commemorative monument, the incorpo­ rated object betokens the place, the date, and the circumstances in which desires were banished from introjection: they stand like tombs in the life of the ego . “ 35 Das Ego bleibt auf der Suche nach diesem Grab, nach dem Ort, an dem durch die Inkorporation die Möglichkeit zur Introjektion be­ wahrt wird. So droht der geheimen Krypta stets, gefunden, ihrem Ge­ heimnis, preisgegeben zu werden. Mit seiner Lesart der Krypta als einen geheimen Ort, an dem die T o­ ten im Ich begraben liegen, führt Derrida in innerpsychische Theorien, in denen Trauer als ein immanenter Übergang funktioniert, eine Art /Trans­ zendenz durch die Hintertür‘ ein: Das verlorene, jedoch nicht introjizierbare Objekt wird ins Ich verlagert und findet seinen Platz dort an einem geheimen, unsichtbaren und unzugänglichen Ort. Indem sie einen Ort zur Verfügung stellt, an dem die Verstorbenen, weder lebend noch tot, weiter existieren können, macht die Krypta es nachgerade unmöglich, das Problem des Übergangs im Medium der Trauer als sich allein auf Seiten der Überlebenden vollziehenden Überwindungsprozess zu denken. Die­ ser Ort kann freilich nicht mehr das Jenseits einer bestimmten Religion sein, sondern errichtet sich als Krypta als Außen im Innen, als Heimstätte der immanenten Transzendenz der Dekonstruktion, als ein Ort, „der in einem anderen begriffen, aber von ihm streng geschieden, vom allgemei­ nen Raum durch Verschläge, Schotten, Enklaven isoliert ist “ . 36 Indem Derrida das Gerüst eines trauernden Denkens und Schreibens zu errich­ ten versucht, in dem die gelungene Trauer diejenige ist, die scheitert, und die einzig mögliche Trauer eben die unmögliche Trauer ist, versucht er, das Ineinandergreifen von diesseitigem Überleben und jenseitigem Fort­ leben als einen unverfugten, nicht-teleologischen und anachronen Über­ gangsprozess zu konzeptionieren, der die Trauer nicht überwinden kann, weil er die Toten nicht übergehen will. Auch für Derrida kann die Trauer die Toten nicht ins Jenseits gelei­ ten, doch weil die Krypta Alterität markiert, eröffnet sie eine „Transzen­

34 Torok, S. 121. 35 Torok, S. 114. 36 Derrida 2008, S. 13.

154

denzperspektive“ , 37 die freilich auch ein Charakteristikum von Derridas Spurbegriff darstellt: „In einer paradoxalen Geste verweist die Spur auf das Surplus einer transzendenten Welt, welches der diesseitigen Welt ge­ rade abhanden gekommen und daher auch nicht positiv zu erkennen ist . “ 38 Während es für Abraham und Torok das Ziel der Analyse sein muss, das in der Krypta verwahrte Geheimnis ans Licht des Bewusstseins zu beför­ dern und damit in die immanente Ordnung einzugliedern, funktioniert die Krypta bei Derrida als immanente Spur von etwas Transzendentem und Uneinholbarem.

Den Toten ihr Totsein lassen Weil der Tod bei Derrida als Ende der Existenz und nicht als Differenz zwischen einem diesseitigen und einem jenseitigen Leben funktioniert, muss die Unterscheidbarkeit von Leben und Tod suspendiert werden, damit diese der Alterität Raum gebende Transzendenzperspektive einge­ nommen werden kann - das betrauerte Objekt in der Krypta schwebt wie Schrödingers Katze zwischen Leben und Tod. Das Paradox, demnach die Krypta gleichzeitig einschließt und ausschließt, setzt eine Dynamik in Gang, die den Tod zu verhindern sucht, aber auch kein Fortleben zulassen kann: Bleibt, daß die Andersheit des anderen in jedem Aneignungsprozeß (noch vor jeder Opposition zwischen Introjizieren und Einverleiben) einen ,Widerspruch‘, oder besser, oder schlechter, wenn der Widerspruch immer das Telos einer Aufhebung in sich trägt, eine unentscheidbare Unentschlos­ senheit installiert, die sie auf immer hindert, sich zu ihrer eigentlichen und idealen Kohärenz, anders gesagt und in jedem Fall: zu ihrem T o d zu schließen.39

An dieser Stelle ergibt sich eine Reihe weiterer ethischer Probleme, die bei Derrida selbst deutlich weniger Beachtung finden als die der Aneignung und der Alterität und die ich am Ende des Textes mit Rückgriff auf van Gennep skizzieren will. Der Begriff der Trauer, den van Gennep in seiner Theorie der Übergangsrituale entwickelt, gibt zu denken, dass auch eine vom Anderen her gedachte Theorie der Trauer, eine Ethik der Trauer, die dem Anderen gerecht werden will, nicht unbedingt eine nicht enden wol­ 37 Sybille Krämer: Immanenz und Transzendenz der Spur. Über das epistemologische Doppelleben der Spur. In: Sybille Krämer, Werner Kogge und Gernot Grube (Hg.): Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst. Frankfurt a.M. 2007, S. 155-181, hier S. 167. 38 Krämer, S. 167. 39 Derrida 2008, S. 23, Hervorhebungen im Original.

155

lende Beziehung zum Anderen als Fluchtpunkt haben muss. Die Derrida’sche Krypta, ein geheimes Grab für die lebenden Toten, etabliert eine Zone zwischen Leben und Tod. Van Gennep weist darauf hin, dass auch die Trauernden zu Bewohnerinnen und Bewohnern einer Zwischenzone werden: „In der Trauerzeit bilden die Verwandten des Toten eine beson­ dere Gruppe, die weder der Welt der Lebenden, noch der der Toten, son­ dern gewissermaßen einer Zwischensphäre angehört. “ 40 Diese Zwi­ schensphäre aber können Trauernde und Verstorbene nur in einer ge­ meinsamen Anstrengung wieder verlassen. Für van Gennep müsste schließlich eine Existenz in der Krypta zu der Art von Existenzen gezählt werden, die er als „beklagenswert“ bezeichnet: „Wie Kinder, die keinen Namen erhielten, nicht getauft oder initiiert wurden, sind auch Menschen, für die keine Bestattungsriten ausgeführt wurden, zu einer beklagenswer­ ten Existenz verdammt, da sie weder ins Totenreich eingehen, noch in die dort bestehende Gesellschaft eingegliedert werden können . “ 41 Wo die gelingende Trauer diejenige Trauer ist, die den Toten den Übergang und die Eingliederung ins Reich der Toten ermöglicht, da zeichnet sich eine Ethik der Trauer ab, die einen anderen Fluchtpunkt hat als eine Verbindung, die nicht abreißen darf, eine nicht enden wollende, unmögliche Trauer. Tatsächlich könnte es doch gerade im Sinne des An­ deren sein, dass diese Beziehungen abreißen und die Verbindung zwischen den Lebenden und den Toten abgebrochen wird, wenn das heißt, dass er nicht länger in einer Krypta verharren muss und endlich wirklich tot sein darf. Die Verbindung zu den Toten abzubrechen, heißt dann nicht, den anderen tot zu stellen, heißt nicht, eine Existenz zum Verschwinden zu bringen. Die Toten loszulassen heißt dann vielmehr, sie tot sein zu lassen - wobei ,tot sein‘ eben nicht nur ,Tod‘, sondern auch ,Sein‘ bedeutet. Der Versuch, eine Trauerethik in der Tradition von van Genneps Theorien der Trauerrituale zu entwerfen, eröffnet einen Denkraum, in dem Loslassen nicht nur für die Hinterbliebenen, sondern vor allem für die Verstorbenen überlebenswichtig ist.

40 Van Gennep, S. 143-144. 41 Van Gennep, S. 154.

156

Matthias Preuss Sebastian Schönbeck

Abnorme Paarungen versuchen. Naturgeschichtliche Betisen in Flauberts Bouvard und Pécuchet

Am Anfang 1 des letzten, Fragment gebliebenen und erst 1881 postum veröffentlichten Roman Gustave Flauberts entwickelt sich zwischen den Pariser Kopisten Bouvard und Pécuchet rasant eine innige Freundschaft. Durch ein enormes Erbe in den Stand versetzt, ihr monotones Erwerbsle­ ben aufgeben zu können, lassen sich die eponymen Anti-Helden nahe Rouen in der französischen Provinz nieder. 12 Hier beginnen sie, des arts, des sciences et des métiers nach den Büchern durchzuspielen, mit dem Ziel, enzyklopädisches Wissen in die Tat umzusetzen . 3 Flaubert nennt sein Projekt in seinem Brief an Mme Roger des Genettes vom 19. August 1872 treffend „une espèce d’encyclopédie critique en farce“ . 4 Darüber hinaus verweist ein später gestrichener Untertitel des Romans auf einen Mangel an Methode in den Wissenschaften . 5

1

2

3

4

5

Wenn Bouvard und Pécuchet froh sind, ein Monster zu besitzen, so sind wir froh, in eine im besten Sinne ,monströse‘ Institution involviert gewesen zu sein: das DFG-Graduiertenkolleg lebensformen + lebenswissen. Wir danken den Organisator_innen für die Einladung zu dieser Abschlusstagung, indem wir auch über die Schwierigkeiten des Schließens und Abschließens schreiben wollen. Darüber hin­ aus gilt unser Dank den Teilnehmerinnen und Sprecher_innen (Hans-Peter Krüger, Logi Gunnarsson, Anselm Haverkamp und Andrea Allerkamp) zweier Generatio­ nen des Kollegs, an dessen Veranstaltungen wir seit 2007 teilnehmen durften. Gustave Flaubert: Bouvard et Pécuchet. In: Ders.: Œuvres. Hg. von A. Thibaudet und R. Dumesnil. 2 Bände. Bd. 2. Bibliothèque de la Pléiade. Paris 1951—1975, S. 713—987 (im Folgenden: BPF). Gustave Flaubert: Bouvard und Pécuchet. Über­ setzt von Caroline Vollmann. Frankfurt a.M. 2009 (im Folgenden: BPD). Für eine detaillierte Liste der von den Protagonisten bearbeiteten Wissensbereiche vgl. Bernhard Siegert: Frivoles Wissen. Zur Logik der Zeichen nach Bouvard und Pécuchet. In: Hans-Christian v. Herrmann und Matthias Middell (Hg.): Orte der Kulturwissenschaft. Leipzig 1998, S. 15-40, hier S. 35. Brief an Mme Roger des Genettes vom 19. August 1872. Gustave Flaubert: Cor­ respondance. Hg. von Jean Bruneau. 5 Bände. Bd. 4. Bibliothèque de la Pléiade. Pa­ ris 1973-2007, S. 558-559, hier S. 559 (eigene Hervorhebung, d.Verf.). Brief an Gertrude Tennant vom 16. Dezember 1879. Flaubert: Correspondance, Bd. 5, S. 767-768, hier S. 767: „Le sous-titre serait: ,Du défaut de méthode dans les sciences‘.“

157

Die beiden Aussteiger und outlaws sind demnach prädestiniert, Prob­ leme der Wissenschaften, ihrer Spielarten und Gesetzmäßigkeiten lesbar zu machen. Am Verhältnis der Figuren zueinander und zu den von ihnen verhandelten Diskursen kristallisiert sich eine bestimmte Form literari­ scher Kritik ,en farce an definitivem Wissen heraus. Dieser Modus von Kritik wird im vorliegenden Beitrag anhand einer Szene expliziert, in der es um die Frage nach dem Artbegriff in der Naturgeschichte (nach der façon Linnés und Buffons) geht. 6 Bouvard und Pécuchet stellen den na­ turgeschichtlichen Artbegriff auf die Probe und versuchen, monströse Kreuzungen zwischen verschiedenen Tierarten hervorzubringen. Der Artbegriff - so unser Einsatz - wird jedoch im Roman auf verschiedenen Ebenen und durch mehrere ,abnorme Paarungen‘ zum Gegenstand von Auseinandersetzungen. Im folgenden Beitrag sollen drei ,abnorme Paarungen‘ untersucht und aufeinander bezogen werden. Erstens: die ,abnorme Paarung ver­ schiedener Wissensformen. Der Text ,mischt‘ unterschiedliche Diskurse in den Roman, in eine Gattung also, deren Aufgabe seit Balzacs Comédie humaine darin bestand, ein umfassendes Panorama sozialer Gegenwart nach dem Vorbild der Naturgeschichte zu liefern. Exemplarisch hierfür wird die sonderbare ,Kreuzung‘ von Literatur und Naturgeschichte unter­ sucht. Zweitens: die ,abnorme Paarung unterschiedlicher Tierarten. Bourvard und Pécuchet nehmen in einer Szene Tierversuche vor. In dem Roman, der sich mit verschiedenen Diskursfeldern ,kreuzt‘ werden also auch ver­ schiedene Tierarten ,gekreuzt‘. Um eine Korrespondenz zwischen monst­ röser Text- und Lebensform geht es bereits in einem frühen Text Flauberts zur Gattung commis, in dem soziale und naturgeschichtliche Klassi­ fikation aufeinander bezogen werden. Drittens: die ,abnorme Paarung zweier Junggesellen. Diese sind nicht nur die Protagonisten eines sich mit anderen Diskursen mischenden Ro­ mans und sie versuchen sich darin nicht nur an einer Kreuzung unter­ schiedlicher Spezies, sondern sie stellen auch selbst ein gesellschaftlich brisantes ,Paar‘ dar. Rezeptionsgeschichtlich verdoppelt sich die Ableh­ nung, die den Protagonisten in der Diegese durch ihr bürgerliches Umfeld entgegenschlägt, in der ,verhaltenen‘ Aufnahme des Spätwerks. Im letzten Teil des Artikels wird unter dem Eindruck der jüngeren Rezeptionsgeschichte eine Lesart vorgeschlagen, die ,Monstrosität‘ und ,Abnormität‘ jenseits von wissensgeschichtlichen und poetologischen Zu­ schreibung produktiv macht. Dabei stellt Jacques Derridas Seminar Das Tier und der Souverän die letzte Station dar. Derrida dringt darin anhand 6

158

Zum kritischen Verhältnis von Flauberts Werk zur Naturgeschichte vgl. Gisèle Séginger: Éléments pour une biocritique. In: Revue Flaubert. 13 (2015), ohne Sei­ tenzahl (URL: http://flaubert.revues.org/2439, 01.10.2015).

von Bouvard et Pécuchet zu einer Bestimmung von bêtise durch, die sich nicht mehr einfach als Idiotie der Charaktere fassen lässt. Der Beitrag geht von der These aus, dass der explizite Bezug des Romans auf die Naturgeschichte Aufschluss über den produktiven Zu­ sammenhang von Lebensformen und Lebenswissen gibt und dass den ent­ sprechenden Passagen somit mehr als nur episodische Relevanz zukommt.

I. Die Kopulation von Literatur und Naturgeschichte Nachdem sich Bouvard und Pécuchet der Landwirtschaft, dem Garten­ bau, der Blumen- und Obstbaumzucht, der Lebensmittelherstellung, der Likördestillation, der Chemie, Anatomie, Physiologie, Medizin, Hygiene und Makrobiotik und der Kosmologie gewidmet haben, konzentrieren sie sich auf die Naturgeschichte, genauer auf eine ihrer Kernfragen: Was ist eine Art (oder eine Gattung) und wie lassen sich die Grenzen zwischen verschiedenen Arten bestimmen? Puis leur curiosité se tourna vers les bêtes. Ils rouvrirent leur Buffon et s’extasièrent devant les goûts bizarres de cer­ tains animaux. Mais tous les livres ne valent pas une observation personnelle, ils entraient dans les cours et demandaient aux laboureurs s’ils avaient vu des tau­ reaux se joindre à des juments, les cochons rechercher les vaches, et les mâles des perdrix commettre entre eux des turpitudes. - Jamais de la vie ! On trouvait même ces questions un peu drôles pour des messieurs de leur âge.7

Die Neugierde für das Tierreich folgt aus ihrer Beschäftigung mit Fragen der Schöpfung und der Harmonie in der Welt. Im Zuge dieser Studien ha­ ben sie bereits Buffons Epoques de la Nature und Geoffroy Saint-Hilaire gelesen. Die beiden Protagonisten begeistern sich angesichts des „goût bi­ zarre“ bestimmter Tiere. Die Kategorie des Geschmacks erstreckt sich je­ doch hier nicht ausschließlich auf bestimmte Tiere, sondern zudem auf die ästhetischen Interessen des Naturforschers Buffon, für die sich Bou­ vard und Pécuchet begeistern. Es ist Buffons Geschmack am Geschmack bestimmter Tiere, an dem die Protagonisten Gefallen (oder eben 7

BPF, S. 780. „Dann wandte sich ihre Wißbegier den Tieren zu. Sie öffneten erneut ihren Buffon und gerieten außer sich vor Entzücken über die merkwürdigen Vor­ lieben mancher Tiere. Aber weil alle Bücher nicht den Augenschein ersetzen kön­ nen, suchten sie die Höfe auf und fragten die Bauern, ob sie beobachtet hätten, daß Stiere sich mit Stuten paarten, daß Schweine hinter Kühen her waren und daß Reb­ huhnmännchen untereinander Schändlichkeiten begingen. ,Nie im Leben!‘ Man fand diese Fragen sogar etwas komisch für Männer ihres Alters.“ BPD, S. 91.

159

,Geschmack‘) finden. Diesem ,ästhetischen Sog‘, den die Lektüre des exorbitanten Werks (die Histoire naturelle Buffons umfasst 36 Bände) entfaltet, folgen die beiden Experimentatoren in Flauberts Roman. Die äs­ thetische Qualität der Histoire naturelle wurde von Seiten ihrer Kritiker vor allem auf der Ebene des naturgeschichtlichen Stils ausgemacht. Sie bemängelten - so hat es Wolf Lepenies mehrfach gezeigt - Buffons aus­ schweifende Schreibart und sein ästhetisches und poetologisches Interesse, das den empirischen Blick des Naturforschers trüben würde. 8 An der vermeintlichen klassifikatorischen Schärfe und Prägnanz Linnés gemes­ sen, zieht Buffon sich den Vorwurf zu, bei seiner Naturgeschichte handele es sich um eine Serie von Romanen. Die aristotelische Unterscheidung zwischen Dichter und Geschichtsschreiber, die hier unter den Titeln ro ­ man und .histoire“ ein Nachleben führt, wird in der Histoire naturelle pre­ kär. 9 Bouvard und Pécuchet hingegen sind Figuren in einem Roman, die sich in Naturgeschichte üben. Auch sie problematisieren damit die Rein­ heit der Grenze zwischen Dichtung und Geschichtsschreibung. Ihnen geht es um die Praktikabilität des Wissens, das sie sich durch ihre Lektüre anzueignen glauben: „Mais tous les livres ne valent pas une observation personnelle [ , . . ] . “ 101 Diesem Diktum folgt eine Reihe von Experimenten, die sie an Tieren vornehmen. 1 1 Auch die Abwertung tradierten Bücher­ Wissens speist sich aus den naturgeschichtlichen Schriften von Linné und Buffon. Beide betonen die Notwendigkeit der Natur-Erfahrung, um zu ei­ nem Wissen von der Natur durchdringen zu können . 12

8

Wolf Lepenies: Der Wissenschaftler als Autor. Buffons prekärer Nachruhm. In: Herrn von Buffons allgemeine Naturgeschichte. Eine freie mit Zusätzen vermehrte neue Übersetzung. Berlin 1771, Nachdr. Frankfurt a.M. 2008, S. 1121-1148. 9 Wolf Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständ­ lichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. 1978, S. 151-152. 10 BPF, S. 780. „Aber weil alle Bücher nicht den Augenschein ersetzen können [...].“ BPD, S. 91. 11 Als sie sich mit Physiologie beschäftigen und explizit Sanctorius (den Erfinder des Thermometers) nachahmen wollen, läuft ein Hund in das Laboratorium, der ihnen kurz darauf als Versuchstier dient: „Un chien entra, moitié dogue, moitié braque, le poil jaune, galeux, la langue pendante. [...] Toi, mon bonhomme, tu serviras à nos expériences.“ BPF, S. 769. „Ein Hund, halb Dogge, halb Hühnerhund, mit gelbem, räudigem Fell und hängender Zunge kam herein.“ BPD, S. 76. 12 Vgl. Linnaeus: Natur-Systema oder Die in ordentlichen Zusammenhange vorgetra­ gene Drey Reiche der Natur, nach ihren Classen, Ordnungen, Geschlechtern und Arten. Übersetzt von Johann Joachim Langen. Halle 1740, S. 2f. Vgl. Georges­ Louis Leclerc de Buffon: Premier Discours. De la manière d’étudier & de traiter l’Histoire naturelle. In: Ders.: Oeuvres complètes I. Histoire naturelle, générale et particulière, avec la description du cabinet du roi. Tome I (1749). Texte établi, in-

160

Bouvard und Pécuchet wollen erklärtermaßen „abnorme Paarungen versuchen“: „Ils voulurent tenter des alliances anormales. “ *13 Experimente an lebendigen Tieren unterschiedlicher Arten, unter anderem an einem Schaf und einem Ziegenbock, werden vorgenommen. Bouvard und Pécu­ chet wünschen sich, es würden wahre „monstres “ 14 dabei entstehen. Al­ lerdings misslingen sämtliche Versuche, das odd couple zur Fortpflanzung anzuregen. Obwohl Bouvard und Pécuchet selbst Hand anlegen, schlägt der Ziegenbock aus; das Schaf flieht und reißt Pécuchet in den Schmutz. 15 Das Scheitern des Tierversuchs wird mit der Unkenntnis der Experimen­ tatoren bezüglich der Frage der Art begründet: „[...] ne comprenant rien à la question de l’espèce“ . 16 Der Diagnose folgt jedoch eine präzise For­ mulierung des Problems, das Buffon hinsichtlich des Artbegriffs aus­ macht, auf dem Fuße. „Ce mot désigne un groupe d’individus dont les descendants se reproduisent; mais des animaux classés comme d’espèces différentes peuvent se reproduire, et d’autres, compris dans la même, en ont perdu la faculté. “ 17 Das Wort Art tritt somit in seiner Ambivalenz - und genauer als Problem - in den Vordergrund. Obwohl der Artbegriff eine Gruppe von Individuen umfasst, die miteinander fruchtbare Nachkommen zeugen können, lassen sich einerseits einzelne Exemplare unterschiedlicher Art zur Kopulation bewegen, andererseits verlieren wiederum einige Vertre­ ter, die einer gemeinsamen Art angehören, ihre Fähigkeit zur Fortpflan­ zung. Die misslungenen Versuche werden in dieser Konstellation umge­ kehrt als äußerst gelungene Darstellung einer wissenschaftshistorisch spe­ zifischen Unsicherheit des Wissens von den Arten lesbar - als practical joke, in dem eine definitorische Unschärfe als positives Wissen inszeniert wird. Indem das Vor-Augen-Stellen der Einwände Buffons scheitert, wird ein Denken entlarvt, das auch nach und mit Buffon kategorisch hinter

13 14 15

16 17

troduit et annoté par Stéphane Schmitt. Paris 2007, S. 129-224, hier S. 139: „On doit donc commencer par voir beaucoup & revoir souvent“. BPF, S. 781. „Sie wollten abnorme Paarungen versuchen.“ BPD, S. 91. BPF, S. 781. Edi Zollinger verweist auf die semantische Nähe von Bovary, Bœuf und Ochsen­ ziemer und legt so den latent erotischen Subtext einer Szene aus Madame Bovary frei. Auch Bouvards Name lässt sich vor diesem Hintergrund lesen. Bouvards ero­ tische Eskapaden wären hierbei zu berücksichtigen. Edi Zollinger: Arachnes Rache. Flaubert inszeniert einen Wettkampf im Weben, Mme Bovary, notre Dame de Pa­ ris und der Arachne-Mythos. Paderborn 2007. Edi Zollinger: Ochsenziemer. In: Barbara Vinken und Cornelia Wild (Hg.): Arsen bis Zucker. Flaubert-Wörterbuch. Berlin 2010, S. 208-210. BPF, S. 781. „[...] sie hatten keine Ahnung von dem Problem der Arten.“ BPD, S. 92. BPF, S. 781. „Dieses Problem bezeichnet eine Gruppe von Individuen, deren Nachkommen sich untereinander fortpflanzen. Aber auch Tiere, die als verschie­ dene Arten klassifiziert sind, können sich untereinander fortpflanzen, während an­ dere, die derselben Art angehören, diese Fähigkeit verloren haben.“ BPD, S. 92.

161

Buffon zurückfällt. Damit ist nicht zuletzt auch auf eine theoretische Spannung innerhalb des Werks des Naturhistorikers verwiesen. Die ver­ meintlich problematische Unkenntnis erscheint so als Kenntnis der Problemhaftigkeit jeglichen Versuchs, den Artbegriff zu definieren - eine Kritik en farce, par excellence.

II. Das Problem der Arten Das Lebenswissen, das Bouvard et Pécuchet zitiert, ist überholt. Anders und mit Foucault gesprochen: Dieses Wissen ist noch gar kein Wissen vom Leben. 18 Anstelle von Zell- und Evolutionstheorie, Molekularbiologie, Vererbungs- und Anpassungslehre, vergleichender Anatomie oder roman­ tischer Naturphilosophie wird die Naturgeschichte des 18. Jahrhunderts auf den Plan gerufen. Diese anachronistische Anlage ließe sich damit be­ gründen, dass der Text weniger auf den Stand moderner Wissenschaften, als auf das Imaginäre des Wissens, die Repräsentationen, die zirkulieren­ den idées reçues, die popularisierten gelehrten Gemeinplätze rekurriert. 19 Allerdings wird damit - im dezidierten Rückgriff auf Naturgeschichte ein Problem virulent, das auch den Roman (als Exemplar und Gattung) betrifft. In der fraglichen Paarungs-Szene wird das verhandelt, was der Biolo­ ge Ernst Mayr - offenbar selbst in klassifikatorischer Absicht - als essentialistischen Artbegriff bestimmt; 20 und zwar gerade in seiner Unreinheit, von seinen konzeptuellen Rändern her und mit den vollen poetologischen Konsequenzen. Dem essentialistischen Artbegriff nach zerfallen Natur und Leben in eine begrenzte Zahl invarianter Universalien. Diese Annah­ me impliziert in Bezug auf die Arten, dass jedes Individuum am Ende ei­ ner uniformen Serie von Exemplaren steht, die auf ein sexuelles Urpaar zurückgeht. Nach Mayr bestimmen vier Merkmale den Begriff: Wesens­ ähnlichkeit der Individuen, Diskontinuität zwischen den Arten, deren zeitliche Konstanz und eine Minimierung des Variationsspektrums. 21 Mit

18 Michel Foucault datiert die „archäologischen Ereignisse“, die zur Emergenz des Begriffs des Lebens als Organisationsprinzip des Wissens von den Naturdingen führen und so ,Biologie‘ ermöglichen auf den Zeitraum 1775-1795. Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Frankfurt a.M. 1974, S. 279-287, hier S. 287. 19 Vgl. Gisèle Séginger: Forme romanesque et savoir. Bouvard et Pécuchet et les sciences naturelles. In: Revue Flaubert. 4 (2004), ohne Seitenzahl (URL: http://flaubert.univ-rouen.fr/revue/ revue4/02seginger.php, 29.09.2015). 20 Vgl. Ernst Mayr: Die Entwicklung der biologischen Gedankenwelt. Vielfalt, Evolu­ tion und Vererbung. Heidelberg; New York 2002, S. 301-306. 21 Mayr, Entwicklung, S. 305f.: „(1) Arten bestehen aus ähnlichen Individuen, die dieselbe Essenz gemeinsam haben; (2) jede Art ist von allen anderen durch eine

162

anderen Worten - und im sprachlichen Register der Sekretäre Bouvard und Pécuchet - sind Individuen einer Art dem Begriff nach ideale Kopien, die einander ähneln und vom Original morphologisch (d.h. der Form nach) mehr oder weniger weit entfernt sind, diesem jedoch wesentlich na­ he kommen. Die lateinischen Namen als Artzeichen sollen dabei eine stabile Referenz mit der äußeren oder inneren Struktur als Essenz garan• 22 tieren. Ein solcher Essentialismus wird insbesondere Carl von Linné attes­ tiert und, so heißt es bei Mayr, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts fast univok vertreten - außer, so scheint es, von Linné selbst. Dieser ent­ deckt Exemplare, die in wesentlichen Merkmalen von den vermeintlich ,ewigen‘ Arttypen abweichen. Die Begriffsdefinition wird in der Folge von Linné in Zweifel gezogen. Diese Devianz wird in der wissen­ schaftshistorischen Klassifikation Mayrs im Dienste der Systematisierung maskiert. Damit kommt der Artbegriff buchstäblich wieder ins Spiel, denn ,species‘ kann „im Lateinischen die Konnotation von ,Täuschung‘ oder ,gefährlicher Illusion‘ tragen“.223 1742 wird Carl von Linné mit einer Mutation des Echten Leinkrauts (Linaria vulgaris) konfrontiert, die er für eine Arthybride hält und Peloria, ,Monster‘ (von griech. pelor), tauft. Obgleich er sie zunächst für eine aus verschiedenen Pflanzenteilen zusammengeklebte Fälschung hält,24 be­ grüßt er das Phänomen euphorisch25 und vollzieht unter ihrem Eindruck eine theoretische Volte. Er rückt von der Vorstellung konstanter Arten ab. Der spätere Bischof Browallius teilt Linné in einem Brief mit, seine Beschreibung der Peloria habe jedermann aufgebracht, insbesondere der gefährliche Satz, der besagt, dass die Art nach der Schöpfung erst entstan­ den sei. Mit der zwölften Auflage wird 1766 das Diktum ,nullae species novae‘ aus dem Systema naturae entfernt. Linné fasst fortan die Arten als

22

23

24

25

scharfe Diskontinuität getrennt (3) jede Art ist in der Zeit konstant und (4) es gibt: strenge Grenzen für die mögliche Variation jeder einzelnen Art.“ Dass die biologische Taxonomie und deren Geschichte durchaus zum Anlass einer (in einem affirmativen Sinne) kritischen Auseinandersetzung wurde und jenseits al­ ler Stabilität stiftenden Mechanismen dabei auch „Kunst“ am Werk ist, zeigt Mi­ chael Ohl. Vgl. Michael Ohl: Die Kunst der Benennung. Berlin 2015. Vgl. Georg Toepfer: Art. In: Ders. (Hg.): Historisches Wörterbuch der Biologie. Geschichte und Theorie der biologischen Grundbegriffe. Bd. 1. Analogie­ Ganzheit. Stuttgart, Weimar 2011, S. 61-131, hier S. 62. Vgl. Sebastian Schönbeck: Schnittverfahren. Operationen an der Hydra (Trembley, Linné, Goethe). In: Silke Förschler und Anne Mariss (Hg.): Akteure, Tiere, Dinge. Verfahrensweisen der Naturgeschichte in der Frühen Neuzeit. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2017, S. 177-192. „Gewiß, dies ist fast ein eben so grosses Wunder, als wenn eine Kuh ein Kalb mit einem Wolfskopf zur Welt brächte.“ Carl von Linné: Des Ritter Carl von Linné Auserlesene Abhandlungen aus der Naturgeschichte, Physik und Arzneywissenschaft. Mit Kupfern. Bd. 3. Leipzig 1778, S. 175-194, S. 189.

163

Produkte von Kreuzungen ursprünglich geschaffener Gattungen auf und avanciert selbst zum Schöpfer neuer Arten und zum Agenten der Diffe­ renz.26 1760 erhält er den Preis der Petersburger Akademie für die Erzeu­ gung eines eigenen Monsters, einer Kreuzung zwischen Wiesen­ Bocksbart und Haferwurzel.27 Auch Buffons Auffassung der Art ist widersprüchlich.28 Enthält der erste Band seiner Naturgeschichte noch ein nominalistisches Plädoyer für das Individuelle und Singuläre sowie die kleinen Nuancen zwischen den Arten (eine kalkulierte Polemik gegen Linnés System), scheint er in zwei gleichzeitig (1749) erscheinenden Bänden von konstanten und gut abge­ grenzten Arten auszugehen: „[L]e premier animal, le premier cheval, par exemple, a été le modèle extérieur & le moule intérieur sur lequel tous les chevaux qui sont nés, tous ceux qui existent & tous ceux qui naîtront ont été formés [,..].“29 Aufgrund der Vorstellung einer Ähnlichkeit zwischen dem jeweiligen Exemplars mit dem artspezifischen Prototyp, bzw. seinem äußeren und inneren Modell (moule intérieur), sieht Mayr in Buffon einen Vertreter des essentialistischen Artbegriffs. Arthur Lovejoy hingegen, dessen maßgeblicher Artikel zu Buffons Problem of Species von 1911 mit den Worten „to be continued“ endet, hält es für ein Verdienst des frühen Buffon, ein „platonic habit of mind“ kritisiert zu haben, dessen Siegeszug erst noch folgen sollte.30

26 Vgl. Matthias Preuss: Zur Ordnungswidrigkeit der Dinge. Linnés marginale Monstrosität(en) und das kalligrammatische Verfahren. In: Förschler; Mariss (Hg.): Akteure, Tiere, Dinge, S. 193-207. 27 Vgl. A. Gustafsson: Linnaeus’ Peloria. The History of a Monster. In: Theoretical and Applied Genetics. 54 (1979), S. 241-248. 28 Zum Problem der Arten bei Buffon vgl. Arthur Lovejoy: Buffon and the Problem of Species. In: The Popular Science Monthly. Vol. LXXIX (1911), S. 464-473. Jean Piveteau: Introduction. In: Oeuvres Philosophiques de Buffon. Texte établi et presenté par Jean Piveteau. Paris 1954, S. X-XXXVII. Paul L. Farber: Buffon and the Concept of Species. In: Journal of the History of Biology. Vol. 5, no. 2 (Herbst 1972), S. 259-284. Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte, S. 62-72. Jacques Roger: Buffon. A Life in Natural History. Ithaca 1997, S. 309-335. Arthur Lovejoy: Die große Kette der Wesen. Die Geschichte eines Gedankens. Frankfurt a.M. 1993, S. 274-291. Mayr, Entwicklung, S. 306-309. Hanna Roman: Naming as Nat­ ural Process and Historical Narrative in Buffons Histoire naturelle. In: Romance Studies. Vol. 31, nos. 3-4 (2013), S. 238-250. 29 Georges-Louis Leclerc de Buffon: Le Cheval. In: Ders.: Oeuvres complètes IV. Histoire naturelle, générale et particulière, avec la description du cabinet du roi. Tome IV (1753). Texte établi, introduit et annoté par Stéphane Schmitt. Paris 2010, S. 253-402, hier S. 285. „das erste Tier, zum Beispiel das erste Pferd, war das äußere Modell und die innere Form (moule intérieur), nach der alle geborenen Pferde, alle die bisher existiert haben und die zukünftig existieren, geformt wer­ den.“ (Eigene Übersetzung). 30 Lovejoy, Buffon and the Problem of Species, S. 470.

164

Buffon führt später ein Fortpflanzungskriterium für die Art ein.31 Dem zufolge bestimmt nicht mehr ein Exzess der morphologischen D if­ ferenz das Monströse, sondern das Scheitern der Reproduktion.32 Spezifi­ sche Ähnlichkeiten produzieren zu können wird als eine Fähigkeit oder ein Vermögen aufgefasst. Unfähigkeit hingegen - und von hier aus ließe sich eine Brücke zu den Dilettanten Bouvard und Pécuchet schlagen33 erzeugt das Artfremde und fällt damit selbst aus der Art. Es ist die Möglichkeit monströser Kreuzungen, die Buffons Artbe­ griff stets bedroht und die seine Arbeit am Artbegriff sowie seine Expe­ rimente im cabinet du roi perpetuiert (sie zu keinem Ende kommen lässt), sodass sein Artbegriff als offene Frage, mit dem Status des Experiments am lebendigen Tier im Hintergrund, zitierbar wird.34 Dass sich Bouvard und Pécuchet gerade an einer solchen Kreuzung von Schaf und Ziegen­ bock versuchen, zeigt wiederum ihr konzises Verständnis von der Frage nach den Arten, das der Text ihnen absprechen möchte („ne comprenant rien à la question de l'espèce“35). Charles Darwin bringt 1856 in einem Brief das Problem der Arten als Versuch einer Definition des Undefininierbaren auf den Punkt:

31 Georges-Louis Leclerc de Buffon: L’Ane. In: Ders.: Oeuvres complètes IV, S. 410­ 457, hier S. 417: „chaque espèce, chaque succession d’individus qui se reproduisent & ne peuvent se mêler, sera considérée à part & traitée séparément, & nous ne nous servirons des familles, des genres, des ordres & des classes, pas plus que ne s’en sert la nature. L’espèce n’étant donc autre chose qu’une succession constante d’individus semblables & qui se reproduisent, [...].“ „jede Art, also jede Aufeinan­ derfolge von Individuen die sich erfolgreich fortpflanzen können, wird als Einheit betrachtet und separat behandelt, und wir bedienen uns der Familien, Gattungen, der Ordnungen und Klassen nicht mehr, als die Natur sich ihrer bedient. Die Art ist demnach nichts anderes als die konstante Aufeinanderfolge von ähnlichen Indi­ viduen, die sich fortpflanzen können [...].“ (Eigene Übersetzung). 32 Georges-Louis Leclerc de Buffon: Histoire des Animaux. In: Ders.: Oeuvres com­ plètes II. Histoire naturelle, générale et particulière, avec la description du cabinet du roi. Tome II (1749). Texte établi, introduit et annoté par Stéphane Schmitt. Paris 2008, S. 97-447, hier S. 108: „[...] on doit regarder comme la même espèce celle qui, au moyen de la copulation, se perpétue & conserve la similitude de cette es­ pèce, & comme des espèces différentes celles qui, par les mêmes moyens, ne peu­ vent rien produire ensemble“. „Man muss jene [Individuen] als einer Art zugehörig betrachten, die mittels Fortpflanzung die Ähnlichkeit der Art verewigen und kon­ servieren, jene Individuen hingegen als die unterschiedlicher Arten, die mit den selben Mitteln nichts zusammen erzeugen können.“ (Eigene Übersetzung). 33 Vgl. Abschnitt IV dieses Artikels. 34 Derrida verweist darauf, dass die „störenden Anomalien“ durch „Wiederholung“ erzeugt werden, durch „Zitation oder durch Erzählung (ré-cit), vorausgesetzt, die eingeengte Verwendung der beiden Wörter ruft uns nicht gerade die strenge Gat­ tungsordnung in Erinnerung.“ Jacques Derrida: Das Gesetz der Gattung. In: Ders.: Gestade. Wien 1994, S. 246-283, hier S. 250. 35 BPF, S. 781.

165

I have just been comparing definitions of species [...] It is really laughable to see what different ideas are prominent in various naturalists minds, when they speak of “ species” in some resemblance is everything & descent of little weight—in some resemblance seems to go for nothing & Creation the reigning idea—in some descent the key—in some sterility an unfailing test, with others not worth a farthing. It all comes, I believe, from trying to define the undefinable.36

Als Bouvard und Pécuchet ihre Kreuzungsversuche durchführen wollen, zeigen die ausgewählten Exemplare keinerlei Interesse zu kopulieren, im Gemüsebeet hingegen herrscht Anarchie - hier vollzieht sich unwillkür­ lich, was dort zum Verdruss ausbleibt. „Les choux le [Pécuchet] consolè­ rent. Un, surtout, lui donna des espérances. Il s’épanouissait, montait, fi­ nit par être prodigieux, et absolument incomestible. N ’importe! Pécuchet fut content de posséder un monstre.”37 Vermutlich zeigen sich die beiden Protagonisten ebenso glücklich wie Linné, den 1742 der Zufallsfund der Peloria gänzlich enthusiasmierte. En effet, comme il avait cultivé les unes près des autres des espèces diffé­ rentes, les sucrins s’étaient confondus avec les maraîchers, le gros Portugal avec le grand Mogol - et le voisinage des pommes d’amour complétant l’anarchie, il en était résulté d’abominables mulets qui avaient le goût de ci­ trouilles.38

Bouvard und Pécuchet sind am Übergang vom Studium der Botanik und der Zoologie in die Praxis mit empirischen Ausnahmefällen konfrontiert, die sie ähnlich wie Linné und Buffon dazu drängen, ihre Auffassung der Ar­ ten zu modifizieren oder gar zu revidieren. Im Roman ist also ein Lernpro­ zess dargestellt, in dem die Stabilität vermeintlich natürlicher Kategorien als fabrizierte erfahren wird. Bouvard und Pécuchet lassen die notorische O f­ fenheit innerhalb der Terminologie der Art aufleben, indem sie einerseits

36 Brief von Charles Darwin and J. D. Hooker vom 24. Dezember 1856, digitalisiert im Darwin Correspondence Project. URL: https://www.darwinproject.ac.uk /letter/?docId=letters/DCP-LETT-2022.xml, 27.06.2016. 37 BPF, S. 739. „Die Kohlköpfe trösteten ihn [Pécuchet] darüber [dass ihm Brokkoli, Auberginen, Kohlrüben, Brunnenkresse und Artischocken bereits misslungen wa­ ren,] hinweg. Vor allem einer gab ihm Hoffnung. Er wuchs, schoß in die Höhe und war schließlich wundervoll und völlig ungenießbar. Es spielte keine Rolle! Péuchet war glücklich, daß er ein Monstrum besaß!“ BPD, S. 39. 38 BPF, S. 739. „Da er die verschiedensten Sorten [espèces différentes] dicht nebenei­ nander gezogen hatte, hatten sich die Zuckermelonen mit den Netzmelonen und der fette Portugiese mit dem Großmogul vermischt —und da die Nachbarschaft der Tomaten die Anarchie vervollständigte, waren schauderhafte Kreuzungen [abominables mulets] entstanden, die den Geschmack von Kürbissen hatten.“ BPD, S. 41.

166

die Theorie mit der Empirie konfrontieren und indem sie andererseits diese Offenheit in die Definition der Artbegriffe einschreiben und derart aus dem Artbegriff eine Art Kritik machen.

III. Flauberts Lektion in Sachen Ironie Die Jugendwerke Gustave Flauberts bezeugen bereits in ihren Titeln ein Interesse, das sich noch in Bouvard et Pécuchet niederschlägt.39 Am 30. März 1837 veröffentlicht der fünfzehnjährige Flaubert zwei Texte in der Zeitschrift Le Colibri. Neben der Erzählung Bibliomanie handelt es sich um den Text Une leçon d’histoire naturelle. Genre commis. In dieser frühen Lehrstunde in Naturgeschichte verlacht Flaubert jene Ergebnisse, die das Nachdenken über die Systematik und Klassifikation der Natur „[d]epuis Aristote jusqu’à Cuvier“40 hervorgebracht haben. Neben jenen „grandes découvertes“ habe man es bisher versäumt, von dem „animal le plus intéressant de notre époque“ zu sprechen: dem gemeinen Beamten (commis). Eines der Hindernisse, welche die Naturforscher bisher von der Beschäftigung mit diesem Tier abgehalten hätten, sei die Schwierigkeit, es zu klassifizieren: Un autre obstacle se présentait: comment classer cet animal? A quelle fa­ mille le rattacher? [...] Car on a hésité longtemps entre le bradype, le hur­ leur et le chacal. Bref, la question resta indécise, et on laissa à l’avenir le soin de résoudre ce problème avec celui de découvrir le principe du genre chien.41

39 Guy Sagnes: Notice —Une leçon d’histoire naturelle. Genre commis. In: Gustave Flaubert: Œuvres I. Texte établi et annoté par Claudine Gothot-Mersch et Guy Sagnes. Paris 2001, S. 1273: „L’image générique du commis rouennais aura subsisté quarante ans, et les deux bonshommes [Bouvard et Pécuchet, S.Sch] en gardent plusieurs traits: casquette, gilets, redingote, souliers de castor, chaleur étouffant, célibat, pupitre, sifflement et propos sur le gaz.“ Vgl. Raymond Queneau: Bouvard und Pécuchet (1947). In: Gustave Flaubert: Bouvard und Pécuchet. Übersetzt von Erich Marx. Zürich 1979, S. 375-393, hier S. 382. 40 Gustave Flaubert: Une leçon d’histoire naturelle. Genre commis. In: Ders.: Œuvres I. Texte établi et annoté par Claudine Gothot-Mersch et Guy Sagnes. Paris 2001, S. 195-201, hier S. 195. Gustave Flaubert: Eine Lektion Naturgeschichte. Gattung: Kommis. In: Ders.: Jugendwerke. Erste Erzählungen. Hg. und übersetzt von Trau­ gott König. Zürich 1991, S. 85-93, hier S. 85. 41 Flaubert, Une leçon, S. 195. Flaubert, Eine Lektion, S. 85: „Wie sollte man dieses Tier klassifizieren? Denn lange hat man zwischen Faultier, Brüllaffe und Schakal geschwankt. [...] Es war tatsächlich schwer, ein seinem Naturell nach so wenig lo­ gisches Tier zu klassifizieren.“

167

Die Problematik, die mit der Klassifikation einhergeht, wird als eine der metaphorischen Zuschreibung beschrieben. In Frage steht der präzise Ort des Beamten auf dem naturgeschichtlichen Tableau. Der Text lässt die Frage nach einer stabilen metaphorischen Relation offen und schafft so­ mit ein Möglichkeitsspektrum für Figuren aus dem Register „politischer Zoologie“.42 Die Polysemie des Wortes „famille", so wie die anderer Be­ griffe, etwa der „Klasse“ oder des „Geschlechts“, ermöglicht die Übergän­ ge zwischen den diskursiven Ebenen der Poetik, der Naturgeschichte und der Gesellschaft.43 Wenn also gefragt wird, welcher Familie der Beamte angehört, so klingt mit dieser Frage sowohl die bürgerliche Kleinfamilie als auch das naturgeschichtliche Taxon ,Familie‘ an. Die Lektion entspringt - so scheint es - der Schwierigkeit, dem chi­ märischen Wesen des Beamten Rechnung zu tragen und damit der struk­ turellen Offenheit der theriomorphen Referenz. Vor diesem Hintergrund werden die ,Fruchtbarkeit‘ naturgeschichtlichen Denkens für die Literatur und vice versa, die ,Fruchtbarkeit‘ der Literatur für die naturgeschichtliche Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der Klassifikation verhandelt. Die Lektion liest sich als exemplarischer Pastiche eines zoologischen Wör­ terbuch-Eintrags, der die Komplexion angesichts eines Lebewesens und die daraus erwachsene Schwierigkeit eines Klassifikationsaktes in die Sphären der Literatur ,überspielt‘. Flaubert setzt einen naturgeschichtli­ chen Text literarisch in Szene. Während der Text einerseits die Gattung commis rudimentär festschreibt, verweist der fingierte Naturhistoriker am Ende auf seine Akten, in denen er „nombreuses observations“44 über die einzelnen Arten der Gattung notiert habe. Die Menge des empirisch ge­ wonnenen Wissens wuchert über die gebotene Kürze des naturgeschicht­ lichen Textes hinaus. Statt dieser Wucherung mit einem enormen Text­ umfang zu begegnen, verschmilzt der Text diese Massen zu einem kleinen ironischen und theoretischen Lehrstück. Es lassen sich mindestens zwei Lesarten dieser Ironie ausmachen, durch die der Text sich auszeichnet: Zum einen besteht sie darin, die Gat­ tung der Beamten als zoologische Gattung zu beschreiben und hierbei durch die Naturgeschichte (zu der der Beamte gerade nicht gehört) seine Bürgerlichkeit freizulegen. Der commis wird also mittels theriomorpher

42 Vgl. Anne von der Heiden und Joseph Vogl (Hg.): Politische Zoologie. Zürich, Berlin 2007. 43 Werner Michler beschreibt die Polysemie etwa anhand der Figur des Harlekins und zeigt damit die Übergänge zwischen Poetik und Naturgeschichte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Vgl. Werner Michler: Klassifikation und Naturform. Zur Konstitution einer Biopoetik der Gattungen im 18. Jahrhundert. In: Michael Bies, Michael Gamper, Ingrid Kleeberg (Hg.): Gattungs-Wissen. Wissenspoetologie und literarische Form. Göttingen 2013, S. 35-50, hier S. 36. 44 Flaubert, Une leçon, S. 201.

168

Zuschreibungen charakterisiert. Er erhält durch die changierenden natur­ geschichtlichen Referenzen einen unsicheren Platz auf dem sozialen Tab­ leau und wird gleichsam im Räderwerk einer bürokratischen, kafkaesken Ordnung situiert. Der Text macht den Beamten zur automatisierten und veritablen Amts-Person und löst seine Individualität in Richtung eines sozialen Taxons gewissermaßen auf. Zum anderen besteht die Ironie darin, die zoologische Methode der Klassifikation anhand des commis zu verhandeln und hierbei über den Be­ amten die Unzulänglichkeit des Anspruchs von definitorischer Schärfe angesichts der Komplexion des Lebens zu problematisieren.45 Naturge­ schichtliche Beschreibung wird demnach als anthropomorph charakteri­ siert. Durch die Überblendung von zoologischer und gesellschaftlicher Ordnung wird also auch etwas über die Naturgeschichte gesagt (deren Gegenstände gerade keine gesellschaftlichen sein sollen). Indem Flaubert das Genre des naturgeschichtlichen Wörterbuch-Eintrags und das Schei­ tern seines klassifikatorischen Anliegens offenlegt, verwischt er auch die klaren und distinkten Grenzen dieses Genres. Die monströse Amts­ Person wird durch die monströse Form des Textes dargestellt. Der frühe flaubertsche Text überträgt also die Frage der naturge­ schichtlichen oder zoologischen Klassifikation auf die Sphären des Sozia­ len und skizziert analog zu Balzac in raschen Zügen ein soziales Tableau. Anders und aus der Perspektive naturgeschichtlichen Denkens gesagt: Flaubert begreift die Sphäre der Gesellschaft als Teil derjenigen Natur, die die Naturgeschichte anvisiert. Der Text positioniert sich kritisch - im Modus der Ironie - zur Überblendung von Zoologie und Gesellschaft.46 Die Lektion hebt den schriftlichen Akt der Gattungszuschreibung hervor und siedelt sich somit gleichsam im ,Vorfeld‘ der zoologischen Begrifflichkeit (etwa Familie, Gattung oder Art) an. Flauberts soziale Zoologie wirkt sich nicht, wie im Falle Balzacs, in obsessiven Milieu-Studien aus, sondern sie kreuzt das Genre des naturgeschichtlichen Wörterbuch­ Eintrags mit einem literarischen Portrait (etwa in der Tradition von La Bruyère) und leistet in diesem der Monstrosität von Bouvard und Pécuchet Vorschub.

45 Ironie eignet dieser Distanzierung vom Anspruch definitorischer Schärfe, da sie selbst einen Begriff darstellt —wenn es sich um einen Begriff handelt —der die Un­ möglichkeit gegenüber der eigenen Definition thematisiert. Vgl. Paul de Man: The Concept of Irony. In: Ders.: Aesthetic Ideology. Minneapolis; London 1996, S. 163—184, hier S. 163ff. 46 Ausführlicher zu Balzacs Rückgriff auf die Naturgeschichte und zum Verhältnis Flaubert —Balzac vgl. Matthias Preuss und Sebastian Schönbeck: Bêtes Studies. Flauberts and Balzacs Lessons in Natural History. In: Journal for Literary Theory. 09/02 (2015), S. 250—270. Hier wird auch eine dritte mögliche Lesart der Ironie an­ geführt. Vgl. ebd. S. 263—267.

169

Die Kritik des Textes strahlt also in beide Richtungen der zusam­ mengeführten ,Bildfelder‘, in Richtung des Bürgertums und der naturge­ schichtlichen Terminologie. Beide Bereiche werden ,gepaart‘ und fürei­ nander ,fruchtbar‘ gemacht. Aus der Perspektive dieser Zusammenfüh­ rung wird nicht zuletzt deutlich, dass sich aus Flauberts „abnormen Paarungen“ politische Implikationen entfalten lassen. Mit Jacques Derrida gesagt zeigt die Lektion die bêtises von Definitions-Akten durch eine Überblendung von sozialer und naturgeschichtlicher Nomenklatur.

IV. Roman-M onster und traurige Anarchisten Es ist bemerkenswert, dass die Figur des commis in Bouvard und Pécuchet wiederkehrt und dass auch hier die Monstrosität der Charaktere die Form des Textes ,kontaminiert‘. Allerdings überschreiten die Protagonisten hier die Grenzen, die dieser besonderen Art Kleinbürger gesetzt sind. Ein Monster ist nach der Auffassung Foucaults ein Wesen, das „qua Existenz und Form“ sowohl gegen Naturgesetze als auch gegen gesellschaftliche Normen verstößt.47 Durch die poetische wie poetologische Legitimierung monströser Übergangsfiguren werden in Bouvard et Pécuchet mittels einer Auseinandersetzung mit dem naturgeschichtlichen ,Problem der Arten‘ sowohl bürgerliche Konventionen als auch naturwissenschaftlichen Re­ geln denaturalisiert. Bouvard und Pécuchet werden so als ,genologische‘48 Reflexionsfiguren lesbar, in denen auch die ,monströse‘ Form des Textes verhandelt wird. An die Stelle der Narration, die ins Leere läuft und ab­ bricht, tritt die Aberration. Die mit dessen unzeitgemäßer Form zusammenhängende Abnormi­ tät des ,Romans‘ wurde in der literaturwissenschaftlichen Auseinander­ setzung als entscheidendes Kriterium für die (positive oder negative) Be­ wertung des Textes und der darin agierenden Protagonisten in Anschlag gebracht. Bemerkenswerterweise ging aber auch die Affirmation der Monstrosität von Bouvard et Pécuchet nicht selten mit dem Effekt einher, das kritische Potential der Text- und Lebensform gewissermaßen zu neut­ 47 „Der Begriff des Monsters ist im wesentlichen ein Rechtsbegriff —des Rechts frei­ lich im weiteren Sinne des Wortes, denn das Monster ist durch die Tatsache defi­ niert, daß es qua Existenz und Form nicht nur eine Verletzung der gesellschaftli­ chen Gesetze darstellt, sondern auch eine Verletzung der Gesetze der Natur. [...] Man kann sagen, daß die Kraft und die beunruhigende Fähigkeit des Monsters da­ rin gründet, daß es das Gesetz, obwohl es dieses verletzt, verstummen läßt. [...] In diesem Sinn kann man sagen, daß das Monster das große Modell aller kleinen Ab­ weichungen ist.“ Michel Foucault: Die Anormalen. Vorlesungen am Collège de France 1974/1975. Frankfurt a.M. 2003, S. 76. 48 Vgl. Werner Michler: Kulturen der Gattung. Poetik im Kontext 1750-1950. Göt­ tingen 2015, S. 12, passim.

170

ralisieren. Im Folgenden werden einige dieser Lesarten kursorisch einge­ führt und fortgeschrieben, um zu einer alternativen Auffassung der a b ­ normen Paarung‘ von Bouvard und Pécuchet zu gelangen. Flauberts unabgeschlossenes Manuskript strapazierte die Gattung ,Roman‘ und stieß daher in der Rezeption zumeist auf Ablehnung. Der Text rief allerseits „Enttäuschung“, „Befremden", „Verdruß" und „Irrita­ tion" hervor und wurde als unangenehme „Störung" betrachtet.49 Das po­ etische Unding war schwer zu verdauen. Diese spezifische Unverträglich­ keit wird jedoch später in der Retrospektive als Symptom eines „literar­ historischen Kontinuitätsbruchs"50 les- und behandelbar, und „[v]ormals kritikwürdige Merkmale werden im Zeichen einer sich radikalisierenden Moderne als differentiale Qualitäten gewertet",51 also aufgewertet und entschärft. Gegen Ende der 1970er ist das Ungeheuer theoretisch gebän­ digt. War das Fragment - als ungeliebtes enfant sauvage - eine Krisener­ scheinung des Übergangs zu einer kommenden Literatur, so ist es jetzt im Schoß der Familie gut aufgehoben: Man muss sich Gregor Samsa als einen glücklichen Familienmenschen vorstellen. Der Text ist jedoch nach wie vor kritikwürdig. Vielleicht gelingt es, ihn wieder monströs zu machen. Die literaturgeschichtlichen Diskontinuitäten des Texts hat der Ro­ manist Ulrich Schulz-Buschhaus pointiert zusammengestellt. Gattungsge­ schichtlich breche, wie bereits Borges in seiner Apologie bemerkt, Flau­ bert als Erfinder des realistischen Romans auch als Erster wieder mit ihm.52 Die Handlung werde radikal entdramatisiert und in kontingente Episoden gesplittet. Deren unerträgliche Akkumulation überfordert die Gattung und treibt sie an ihr Limit. In der rhetorischen Figur der ,Häufung‘, in der Gattung und Art in ein bestimmtes Verhältnis gesetzt wer­ den, kommt diese Form auf ihren Begriff:53 Die diversivoken Glieder [der Häufung, d. Verf.] sind die begriffliche D e­ taillierung [...] eines übergeordneten Begriffs: die Glieder sind Individuen unter einer gemeinsamen Art [...] oder Arten unter einer gemeinsamen Gattung [...]. Die gemeinsame Art bzw. Gattung kan n hierbei zusätzlich

49 Ulrich Schulz-Buschhaus: Der historische Ort von Flauberts Spätwerk. Interpreta­ tionsvorschläge zu Bouvard und Pécuchet. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur. 87.3 (1977), S. 193-211, hier S. 195f. Beispielhaft seien hier zwei Bei­ spiele für die noch in den späten 1960ern ,wenig enthusiastische‘ Rezeption des Spätwerks angeführt: Vgl. Victor H. Brombert: The Novels of Flaubert. Princeton 1966. Benjamin F. Bart: Flaubert. Syracuse 1967. 50 Schulz-Buschhaus, Der historische Ort, S. 194. 51 Dietrich Scholler: Umzug nach Encyclopaedia. Zur narrativen Inszenierung des Wissens in Flauberts Bouvard und Pécuchet. Berlin 2002, S. 8. 52 Vgl. Jorge Luis Borges: Rechtfertigung von Bouvard et Pécuchet. In: Eine neue Wiederlegung der Zeit und 66 andere Essays. Frankfurt a.M. 2003, S. 339-345. 53 Ebd., S. 197.

171

als (summierendes) Häufungsglied auftreten [...]. Die Gemeinsamkeit der Art kan n durch chaotische Erscheinungen durchbrochen werden.54

Der strukturalen Analyse erscheinen die Episoden gleichartig und der Text als ,Ganzes‘ damit zirkulär und monomanisch.55 Verdrängt ist in ihr jedoch die Möglichkeit des Auftretens chaotischer Phänomene. Die stil­ geschichtliche Absonderlichkeit von Bouvard et Pécuchet, die Schulz­ Buschhaus diagnostiziert, lässt sich vielleicht treffend als eine ,diskursanalytische‘ Perspektivierung innerhalb des Romans beschreiben. Exzessives Recycling von historisch jeweils kurrentem Sprachmaterial führe zu einer Aushöhlung des Personals, indem nur mehr immer schon Gesagtes, Ge­ dachtes, Gefühltes, Erprobtes mit einer Menschenmaske versehen werde. Bouvard et Pécuchet stellt sich in dieser Analyse als Uberlebensraum unto­ ter ,Autor_innen‘ heraus, die zu Objekten von habituellen Rede- und Denkweisen, von psychologischen, sozialen und ideologischen Mustern degradiert werden. Was an Handlungsresten bleibe, sei einem Eigenleben der Dinge geschuldet. Diese „Verdinglichung und Entfremdung“56 sei das dialektische Nebenprodukt des wissenschaftlichen Zugriffs, den Flaubert imitiert. Ausgehend von der Figur des Kopisten, der vom Diskursmaterial un­ terschiedslos passiert wird, kann Bouvard et Pécuchet vor diesem Hinter­ grund als ,Durchgangstext‘ gelesen werden. So schreibt etwa Karin Wes­ terwelle über die Charaktere: „Ihre Geisteshaltung und ihr Verhältnis zur Schrift sind rein mimetisch, sie stehen außerhalb der Diskurse des Verste­ hens und des hermeneutischen Weltzugangs.“57 Die medienwissenschaftliche Lektüre Bernhard Siegerts, die nach den medialen Voraussetzungen des epistemischen Bruchs im Roman fragt, geht detaillierter in eine ähnliche Richtung. Flaubert, nach dessen Selbst­ beschreibung ein Schubladen-Mensch,58 wird hier als exemplarischer Sek­

54 Heinrich Lausberg: Elemente der literarischen Rhetorik. München 1967, S. 96 (§ 297). Eigene Hervorhebung. 55 Beispielhaft sei hier eine ,tabellarische‘ Lektüre angeführt: Alfonso de Toro: Description du niveau de l’histoire. In: Ders.: Gustave Flaubert. Procédés Narratifs et Fondements Epistémologiques. Tübingen 1987, S. 121—147. Im Gegensatz dazu steht die differenzierte Betrachtung der Übergänge zwischen den Episoden und des epistemologischen Rahmens im gleichen Band: Eckhard Höfner, Bouvard et Pécu­ chet et la science livresque. Remarques épistémologiques sur la dernière œvre de Flaubert. In: de Toro: Gustave Flaubert, S. 149—172. Zum Problem des methodi­ schen Übergangs siehe auch: Schulz-Buschhaus, Der historische Ort, S. 209. 56 Ebd., S. 203. 57 Karin Westerwelle: Fiktionen des Wissens. Gustave Flauberts ,Bouvard und Pécu­ chet. In: Merkur. 760/761 (2012), S. 971-979, S. 973. 58 Brief an Louise Colet vom 2. Januar 1854: „Aussi moi, gardant chaque chose à sa place, je vis par casiers, j’ai des tiroirs, je suis plein de compartiments comme une

172

retär klassifiziert, der als paradigmatische Figur den Autoren (natürlich: Goethe) beerbt habe; das „Subjekt der Schrift“ werde in Anlehnung an Flauberts Bonmot vom Leben als Verdauungsstörung59 zum „Verdau­ ungskanal für Diskurse“. Der Sekretär sei mit „flottierenden Diskurse[n] [...] direkt verschaltet“ :60 Die Arbeit von Sekretären kennzeichnet - im Unterschied zur Arbeit von Dichtern - eine Verarbeitung von Wissen auf dem Niveau seiner buchstäb­ lichen Materialität. Nicht Erzählung, sondern Aufzählung, nicht Verste­ hen, sondern Registrieren ist ihre Signatur.61

Jegliches Wissen werde durch die Registratur frivolisiert - das heißt aus­ schließlich qua Signifikant verarbeitet. Die Opazität der Sprache sei den „semiotische[n] Katastrophen“62 ablesbar, die darauf zurückzuführen sei­ en, dass den Druckerzeugnissen im Text eine stabile Referenz fehle. So könne „Naturgeschichte [...] nicht mit Naturbeschreibung in Einklang gebracht werden.“63 Kreuzkopplungen und Monstren belegen die „Unver­ einbarkeit von Naturzeichen und Kulturzeichen, [...] Tableau und Geschichte“.64 Indem die Wörter und Begriffe dementsprechend behandelt (also der Enzyklopädie entnommen und wieder abgelegt) werden, entleert sich das Wissen. Damit, so ließe sich mit Siegert festhalten, wäre zumin­ dest der instrumentellen Vernunft Einhalt geboten. Frivolität wird so zum Sabotagewerkzeug im Betrieb einer Aufklärung, die in ihr Gegenteil um­ schlägt. Indem jeder Aussage nach dem Durchgang durch den Biblio­ theksroman der Ruch des Schon-einmal-Gesagten anhängt, wird sie für den ,Kriegsdienst‘ zum Zwecke der schrankenlosen Naturbeherrschung untauglich. Es ist die Absicht, die sprechenden Wesen mit dem Virus des déjà lu zu in­ fizieren. [...] Die Universalbibliothek ist eine Technologie zur Abschaf­ fung von Diskursen, à la limite von allen Diskursen. Das frivole Abschrei­ ben von gedruckten Büchern dient der Unbrauchbarmachung der Universalbibliothek.65

59 60 61 62 63 64 65

bonne malle de voyage, et ficelé en dessus, sanglé à triple étrivière.“ Flaubert, Cor­ respondance, Bd. 2, S. 496-499, hier S. 499. Brief an Louise Colet vom 23. September 1847: „La vie après tout n’est-elle pas une indigestion continuelle?“ Flaubert, Correspondance, Bd. 1, S. 473-474, hier S. 473. Siegert, Frivoles Wissen, S. 15-40, S. 18. Ebd., S. 26. Ebd., S. 20. Ebd., S. 22. Ebd., S. 22. Ebd., S. 32.

173

Die Sekretäre erscheinen als rudimentäre Organe eines technischen Meta­ bolismus, der unterschiedslos Zeichen zirkulieren lässt. Was Foucault als „Rücklauf der Rede in sich selbst“66 beschreibt und als Prinzip der Biblio­ thek ausmacht, determiniert den Text allerdings nicht restlos. Wenn Wes­ terwelle und Siegert das Problem des Romans im Kern genau treffen, so lässt sich anhand der Figuren jedoch auch eine marginale Veränderung aufzeigen. Diese soll hier, zum Zweck einer vorsichtigen Ergänzung der vorliegenden Lektüren, näher in den Blick genommen werden. In der diegetischen Welt stempelt die Obrigkeit Bouvard und Pécu­ chet als ,harmlose Schwachköpfe‘ ab.67 Dass sie vielleicht so harmlos nicht sind, könnte an den Abweichungen, Fehlern und Störungen liegen, die sie produzieren und die in einer euphemistischen Vorstellung der Verdauung (des Kopierens, der Übersetzung) nicht aufgehen. Genauer besehen blei­ ben sich Bouvard und Pécuchet nicht gleich - sie schlagen aus der Art. Zwar kopieren sie am Anfang wie am Ende des Romans, „(allerdings nur beinahe)“.68 Die geringe Abweichung, auf die Schulz-Buschhaus in der Pa­ renthese hinweist, eröffnet den Spielraum für eine andere Lektüre. Wie Kopiermaschinen erzeugen auch die Abschreiber technisch be­ dingte Differenzen; der Arbeitsprozess verläuft nicht ideal. Das „frivole Abschreiben von gedruckten Büchern“69 greift die Materialität der Zei­ chen an. Dafür gibt es zwei Indizien. Erstens wird durch den singulären Schreibstil von Bouvard und Pécuchet, der mit der jeweiligen Körperhal­ tung zusammenhängt, unterstrichen und nahegelegt, dass gerade darin ein Geheimnis lesbar wird: Aussi leurs collègues les trouvaient drôles. Bouvard, qui écrivait étalé sur son pupitre et les coudes en dehors pour mieux arrondir sa bâtarde, pous­ sait son espèce de sifflement tout en clignant d’un air malin ses lourdes paupières. Pécuchet huché sur un grand tabouret de paille soignait toujours les jambages de sa longue écriture - mais en gonflant les narines pinçait les lèvres, comme s’il avait peur de lâcher son secret.70

66 Michel Foucault: Un ,fantastique‘ de bibliothèque. In: Ders.: Schriften zur Litera­ tur. Frankfurt a.M. 1993, S. 157-177, hier S. 177. 67 Westerwelle, Fiktionen des Wissens, S. 979. 68 Schulz-Buschhaus, Der historische Ort, S. 199. 69 Siegert, Frivoles Wissen, S. 32. 70 BPF, S. 725. „Ihre Kollegen fanden ihr Verhalten ,komisch‘. Bouvard, der über sein Pult gelagert mit darüber herausragenden Ellenbogen schrieb, um seine Bas­ tardschrift besser zur Geltung zu bringen, stieß einen Pfeifton aus, wobei er ver­ schmitzt mit seinen schweren Augenliedern blinzelte. Pécuchet, der auf seinem hohen Strohschemel saß, malte weiterhin seine langen Grundstriche —aber er blies dabei seine Nüstern auf und kniff die Lippen zusammen, als habe er Angst, sein Geheimnis könnte ihm entschlüpfen.“ BPD, S. 22.

174

Zweitens haben nicht umsonst Schreibutensilien das erste und das letzte Wort im Text („encre“71 und „grattoirs“72). Kopisten produzieren Fehler, sie sind auf Radiermesser angewiesen. Sie sondern Geheimnisse ab, ihre Übersetzungen sind befremdlich. Das Kopieren ist die idée fixe, die Bou­ vard und Pécuchet zusammenbringt: „nourrie en secret par chacun d’eux“.73 Das Geheimnis von Bouvard und Pécuchet besteht in ihren Sek­ retionen, ihren Absonderungen, und in ihrer Absonderung. In einer epistemologisch erschütterten Welt entdecken Bouvard und Pécuchet die Kollegialität. Dies ist ein gravierender Unterschied, den der Text produziert. In der Erschöpfung allen Wissens überdauert ein Rest Lebenswissen. Bouvard und Pécuchet ziehen ihre absonderliche, kollegiale und symbiotische Lebensform der bürgerlichen Kleinfamilie vor.74 Ihre Beziehung wird allerdings mangels eines alternativen Modus der Sagbarkeit in konventionellen Termini verhandelt: „Chacun en écoutant l’autre retrouvait des parties de lui-même oubliées; - et bien qu’ils eussent passé l’âge des émotions naïves, ils éprouvaient un plaisir nouveau, une sorte d’épanouissement, le charme des tendresses à leur début.“75 Auch von „passions“76 ist die Rede, sowie davon, dass die Schlafzimmer Bouvards und Pécuchets durch eine Passage miteinander verbunden sind, die nächtlichen Austausch ermöglicht.77 Der Familie als Fortpflanzungsge71 „Plus bas, le canal Saint-Martin, fermé par les deux écluses, étalait en ligne droite son eau couleur d’encre.“ BPF, S. 713. „Etwas unterhalb breitete der Kanal SaintMartin, eingeschlossen zwischen den beiden Schleusen, sein tintenfarbenes Was­ serband aus.“ BPD, S. 7. 72 „Achat de livres et d’ustensiles, sandaraque, grattoirs, etc. Ils s’y mettent.“ BPF, S. 987. „Kauf von Eintragebüchern —und Utensilien, Sandarak, Radiermesser etc. Sie machen sich an die Arbeit“ BPD, S. 352. 73 BPF, S. 987, „Eine gute Idee, von jedem insgeheim gehegt.“ S. 351. 74 „Bref, il valait mieux vivre sans elles [femmes, d. Verf.]; aussi Pécuchet était resté célibataire. / —Moi, je suis veuf, dit Bouvard, et sans enfants! —C’est peut-être un bonheur pour vous? Mais la solitude à la longue était bien triste.“ BPF, S. 715. „Kurz, es sei klüger, ohne sie [Frauen, d. Verf.] zu leben; darum war Pécuchet Junggeselle geblieben. ,Ich bin Witwer4, sagte Bouvard, ,und kinderlos!4 /Vielleicht ist das ihr Glück?4Aber auf die Dauer sei das Alleinsein doch sehr traurig.“ BPD, S. 9. 75 BPF, S. 715. BPD, S. 10: „Jeder entdeckte, während er dem anderen zuhörte, längst vergessene Seiten seiner selbst wieder; - und obwohl sie [mit 47 Jahren, d. Verf.] über das Alter naiver Gemütsbewegungen hinaus waren, empfanden sie ein neuar­ tiges Vergnügen, eine Art Frühlingserwachen, den Reiz erstmals aufblühender zärtlicher Gefühle.“ 76 „Ce qu’on appelle le coup de foudre est vrai pour toutes les passion. Avant la fin de la semaine ils tutoyèrent.“ S. 710 „Das, was man Liebe auf den ersten Blick nennt, trifft für alle Arten von Leidenschaften zu. Ehe die Woche zu Ende ging, duzten sie sich.“ BPD, S. 15. 77 „Leurs deux chambres avaient entre elles une petite porte que le papier de la tenture masquait. [...] Ils la trouvèrent béante. Ce fut une surprise. Déhabillés et dans leur lit, ils bavardèrent quelque temps, puis s’endormirent [...].“ BPF, S. 729. „Ihre bei-

175

meinschaft wird eine Kopulation als Kooperation entgegengesetzt. Bou­ vard und Pécuchet haben eine gänzlich andere Vorstellung von Reproduk­ tion: Sie schreiben an ihrer eigenen Geschichte und geben damit ihrem Zusammenleben ein geheimes Gesetz und eine monströse Form. Bouvard und Pécuchet verstoßen immer wieder gegen bürgerliche Normen und Normalitätsvorstellungen und ziehen diese in Zweifel. Darin besteht ihre ,anarchische‘ Tendenz. „Nous ferons tout ce qui nous plaira! Nous laisserons pousser notre barbe!“*78 Sie verstoßen gegen das Gesetz der Gattung commis,79 indem sie erst den vicious circle ihres Angestellten­ daseins, dann den des Unternehmertums durchbrechen. Sie verbleiben nicht an der Stelle, die ihnen in der gesellschaftlichen Ordnung vorge­ zeichnet ist. Curiositas treibt ihre Bewegung an.80 Warum wird gerade in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Text die Theoriebegeisterung des privatisierenden Pärchens Bou­ vard und Pécuchet so oft heruntergespielt? Zumal es die Sehnsucht nach einer „reflektierten Praxis“ ist, welche die beiden an die „Peripherie der Bürgerlichkeit“ treibt. Die szientifische Fixierung der Figuren auf die Dummheit ihrer Zeitgenossen lässt sich kaum wiederum selbst als bloße Dummheit entschärfen. Der Forschungsbewegung Bouvards und Pécuchets eignet ein (auto)kritisches Moment. Derrida deutet diesen Zusammenhang an, wenn er die ,Kategorie‘ als „eine Signatur der bêtise/Dummheit“81 liest und auf eine entscheidende Ambivalenz des griechischen kategoria hinweist. Einerseits steht das Wort für den Begriff, der entlarvt, sichtbar und denk­ bar macht, das heißt eine Erscheinung dem Wissen zurichtet. Anderer­

78 79

80

81

den Zimmer waren durch eine kleine Tür miteinander verbunden, die durch eine Tapete verdeckt gewesen war. [...] Sie trafen sie weit offen an. Das war eine Über­ raschung. Entkleidet und im Bett liegend schwatzten sie noch eine Weile, dann schliefen sie ein [...]“ BPD, S. 27. BPF, S. 725. „Wir werden alles machen, was uns gefällt! Wir werden uns Bärte wachsen lassen!“ BPD, S. 21. So werden Bouvards Büro-Kollegen als commis bezeichnet: „Les commis se préci­ pitèrent, on lui ôta sa cravate.“ BPF, S. 722. „Die Gehilfen stürzten herbei; man löste seine Halsbinde [...].“ BPD, S. 18. Liest man Bouvard et Pécuchet als Fortset­ zung der naturhistorischen Studie in den Jugendschriften (vgl. Abschnitt III dieses Beitrags), so geht es hier nicht (mehr) um das parodistische Portrait einer Art. Vielmehr ist der Text durch die narrative Entfaltung der Unart ,Bouvard und Pécu­ chet vor dem Hintergrund des Arttypus bestimmt. Dazu auch Schulz-Buschhaus, Der historische Ort, S. 210: „Es gibt keinen Code mehr, der sich unangefochten richtend und satirisierend über einen anderen Code erhebt“. „Ils s’informaient des découvertes, lisaient les prospectus, et, par cette curiosité, leur intelligence se dévellopa.“ BPF, S. 721. „Sie informierten sich über Entdeckun­ gen, lasen Buchankündigungen, und durch diese Neugier entwickelte sich ihre In­ telligenz.“ BPD, S. 16. Jacques Derrida: Das Tier und der Souverän I. Seminar 2001—2002. Hg. von Peter Engelmann. Übersetzt von Markus Sedlaczek. Wien 2015, S. 230.

176

seits bezeichnet es jedoch auch eine Anklagerede vor Gericht.82 Die Devi­ anz ist der Kategorie bereits etymologisch eingetragen; eine Kollision mit der N orm ist ihr inhärent. Bouvard und Pécuchet sind Wissenschaftler, die „anti-bürgerliche Aufklärung“83 betreiben. Sie kommen mit dem Gesetz in Konflikt, als sie einen Wilderer gegen staatlichen Zugriff verteidigen und propagieren die „Auflösung der Familie sowie die Beseitigung von Besitz- und Klassen­ schranken“.84 „Leur science avait des périls pour la société“85 - und weiter: „Bouvard et Pécuchet proférèrent en d’autres occasions leurs abominables paradoxes. Ils mettaient en doute, la probité des hommes, la chasteté des femmes, l’intelligence du gouvernement, le bon sens du peuple, enfin sa­ paient les bases.“8687Kurzum: „Leur manière de vivre, qui n’était pas celle des autres, déplaisait. Ils devinrent suspects et même inspiraient une vague terreur“. Allerdings erweist sich ihr Bestreben, die Gesellschaft zu revolutio­ nieren, als Sisyphos-Arbeit. Ihr Wissen vom Wissen erscheint als schwa­ cher Trost angesichts der von Westerwelle und Siegert völlig zu Recht hervorgehobene Reproduktion des Gleichen. Innerhalb des akademischen Betriebs kann das Lachen über diese fatalen Gestalten Bouvard und Pécu­ chet schnell im Halse stecken bleiben. Was in Bouvard et Pécuchet zur Sprache kommt, bring Schulz-Buschhaus auf den Punkt: Es ist die „trau­ rige [...] Lächerlichkeit einer zur Ideologie gewordenen Wissenschaft“.88 Flaubert beschreibt in einem Brief die historische Situation des Übergangs und spricht womöglich auch in unserem Namen: „Nous sommes venus, nous autres, trop tôt et trop tard. Nous aurons fait ce qu’il y a de plus dif­ ficile et de moins glorieux: la transition. Pour établir quelque chose de du­ rable, il faut une base fixe. L ’avenir nous tourmente et le passé nous re­ tient. Voilà pourquoi le présent nous échappe.“89 Bouvard und Pécuchets 82 83 84 85 86

Ebd., S. 216. Schulz-Buschhaus, Der historische Ort, S. 205. Ebd., S. 206. BPF, S 892. „Ihre Wissenschaft war eine Gefahr für die Menschheit“ BPD, S. 233. BPF, S. 915. „Bouvard und Pécuchet brachten auch noch bei anderen Gelegenhei­ ten ihre schändlichen Paradoxe vor. Sie zogen die Ehrlichkeit der Menschen in Zweifel, die Keuschheit der Frauen, die Weisheit der Regierung, den gesunden Menschenverstand des Volkes, kurzum, sie unterhöhlten die Fundamente.“ BPD, S. 261. 87 BPF, S. 897. „Ihre Lebensweise —die von der der anderen abwich —mißviel. Sie be­ nahmen sich verdächtig; und sie flößten sogar eine unbestimmte Angst ein.“ BPD, S. 239. 88 Schulz-Buschhaus, Der historische Ort, S. 210 (Anm. 51). 89 Brief vom 19. Dezember 1850 an Louis Bouilhet. Flaubert, Correspondance, Bd. 1, S. 724—733, hier S. 730 (eigene Hervorhebung). „Wir, wir anderen, sind zu früh und zu spät gekommen. Wir werden das vollzogen haben, was (uns) an Schwierigerem und weniger Glorreichem übrigbleibt: den Übergang [transition]. Um etwas Dau­

177

gelungenes Experiment besteht darin, in diese Melancholie am Übergang eine immerhin solidarische wissenschaftliche Praxis als Lebensform einzu­ tragen. Mit anderen Worten: Bouvard und Pécuchet gründen ein Kolleg.

IV. Betisen (ohne Ende) Was heißt ,bêtise‘ und wie ist sie möglich?9091Derrida geht diesen Fragen in der fünften Sitzung seines Seminars Das Tier und der Souverän91 anhand von Flauberts Bouvard et Pécuchet nach. Seine Lektüre problematisiert bêtise als begriffliche Gewalt im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit der „Frage des Tiers“92 in der Philosophie und deren Geschichte. Wenn Derrida hier also Literatur als Philosophie liest, so wird dadurch die refle­ xive oder selbstkritische Stimme des Textes in einen Zusammenhang mit dem definitorischen Zugriff auf Lebensformen gebracht.93 Insofern im Romanfragment seine Form bzw. Unförmigkeit durchdacht wird, erhellt sich im Gegenzug auch die unhintergehbare Verstrickung philosophi­ schen Denkens in seine Darstellungsweise. Was als poetologisches Prob­ lem von Bouvard et Pécuchet aufgeworfen wird, betrifft die Produktion von Wissen in literarischen und naturgeschichtlichen Texten gleicherma­ ßen. ,Bêtise‘ ist „ein Wort in der französischen Sprache“,94 so viel ist of­ fenkundig. Die Pointe Derridas besteht in dessen prinzipieller Unüber­ setzbarkeit.95 Es lassen sich zwar viele Bedeutungen, aber keine definitive Bedeutung des Wortes angeben, die unabhängig von dessen „pragmati­ schen Besonderheiten“96 wäre. Wie Benjamin begreift Derrida Überset­

90 91 92 93

94 95 96

erhaftes zu errichten, bedarf es eines festen Fundaments. Die Zukunft quält uns und die Vergangenheit hält uns zurück. Deshalb entzieht sich uns die Gegenwart.“ (Eigene Übersetzung). Zur Bêtise bei Flaubert vgl. Anne Herschberg Pierrot (Hg.): Flaubert, l’empire de la bêtise. Nantes 2012. Derrida, Das Tier und der Souverän I, S. 197—232. Siehe auch: Jacques Derrida: Sé­ minaire. La bête et le souverain. Tome 1 (2001-2002). Paris 2008, S. 189-222. Jacques Derrida: Das Tier, das ich also bin. Hg. von Peter Engelmann. Übersetzt von Markus Sedlaczek. Wien 2010, S. 27. „Wird Literatur als Philosophie aufgefasst, dann insofern literarische Werke —wie Kunstwerke überhaupt —auf sich selbst referieren und sich in ihrer Verfasstheit selbst zum Gegenstand werden. Sie gewinnen Einsicht in die eigene Darstellungs­ struktur und deren Effekte, ja eine Einsicht in das, was Darstellung und Sprache überhaupt sind, ohne jedoch je mit ,Philosophie‘ als Theorie zusammenzufallen.“ Eva Horn, Bettine Menke, Christoph Menke: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Literatur als Philosophie —Philosophie als Literatur. München 2005, S. 7—14, hier S. 7. Derrida, Das Tier und der Souverän I, S. 230. Ebd., S. 215, 216f, 230f. Ebd., S. 216.

178

zung als einen befremdlichen Übergang zwischen und innerhalb von Sprachen, als eine Bewegung (trans-latio), die als „Agentur der Diffe­ renz“97 unaufhörlich Nicht-Identisches produziert. Philosophische Kate­ gorien oder naturgeschichtliche Taxa (Artzeichen) lassen sich eben so wenig definitorisch festschreiben wie die Bedeutung eines Wortes (z. B. ,bêtise‘). Derrida wiederholt die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von bêtise,98 die Gilles Deleuze bereits 1968 in Differenz und Wiederholung aufwirft, wobei er Flaubert als eine Autorität in Sachen philosophischer Untersuchung von Dummheiten (bêtises) mit literarischen Mitteln expli­ zit anführt.99 Deleuze nimmt in diesem Kontext eine wichtige Unter­ scheidung vor, indem er fragt: „Wie ist die Dummheit (und nicht der Irr­ tum) möglich?“100 Gerade vor dem Hintergrund der Bedeutung, die D e­ leuze der Frageform beimisst,101 wird der Einschub signifikant. Das des Irrtums entzieht die bêtise der „epistemologischen Ökonomie“102 und da­ mit dem Feld vermeintlicher Objektivität. Demnach disqualifiziert bêtise nicht einen ,falschen‘ Zugriff auf einen (wissenschaftlichen) Gegenstand. Sie steht nicht in einem falschen Zusammenhang zu dem, was der Fall ist. Das heißt, es handelt sich dabei nicht um einen Fehler oder ein Versehen, sondern um einen exzessiven Willkürakt des Denkens, ein „Übermaß des Willens gegenüber dem Verstand“.103 Deleuze entwickelt seine Auffassung von bêtise jedoch nicht anhand von Flauberts Spätwerk, sondern in Kooperation mit Guattari an einem anderen Gegenstand. In Tausend Plateaus (1980) werden bêtises einem9781023

97 Zur Übersetzung als „Agentur der Differenz“: Anselm Haverkamp: Zwischen den Sprachen. In: Die Sprache der Anderen. Hg. von Anselm Haverkamp. Frankfurt a.M. 1997, S. 7-12, hier S. 7. 98 Jacques Derrida, Das Tier und der Souverän I, S. 203. 99 „Die schlechteste Literatur fabriziert Stilblüten; die beste aber wurde vom Problem der Dummheit heimgesucht, das sie bis an die Pforten der Philosophie heranzufüh­ ren vermochte, indem sie ihm seine ganze kosmische, enzyklopädische und gno­ seologische Dimension verlieh (Flaubert, Baudelaire, Bloy). Die Philosophie hätte dieses Problem nur mit ihren eigenen Mitteln und der nötigen Bescheidenheit auf­ greifen müssen, eingedenk dessen, daß die Dummheit nie die des anderen, sondern der Gegenstand einer spezifisch transzendentalen Fragestellung ist: Wie ist die Dummheit (und nicht der Irrtum) möglich?“ Gilles Deleuze: Differenz und Wie­ derholung. Übersetzt von Joseph Vogl. München 1992, S. 196. 100 Ebd., S. 196. Eigene Hervorhebung. 101 Vgl. Gilles Deleuze: Die Methode der Dramatisierung. In: Ders.: Die einsame In­ sel. Texte und Gespräche von 1953-1974. Hg. von David Lapoujade. Übersetzt von Eva Moldenhauer. Frankfurt a.M. 2003, S. 139-152. 102 Jacques Derrida, Das Tier und der Souverän I, S. 212. „Deleuze entzieht seine transzendentale Frage diesem epistemologischen Regime, dieser Erkenntnistheorie, er tut das in Klammern, wenn er, in Klammern also, präzisiert [...].“ (Ebd.). 103 Ebd., S. 213.

179

Diskurs zugeschrieben, der darauf aus sei, gegen jeden Widerstand ein stabiles menschliches Subjekt zu produzieren: der Psychoanalyse.104 Deleuze/Guattari ergreifen hier (als ,Paar‘ wie Bouvard und Pécuchet) das Wort und werfen Freud und anderen in seiner Folge vor, genau zu wissen, wovon sie nicht sprechen. Denunziert wird ein fingiertes Unverständnis, in dem sich ein Wille zum Nicht-Wissen der Psychoanalyse zeige, der da­ rauf aus sei, die Realität des Tier-Werdens auszuschließen (z. B. in der Fallgeschichte des Wolfsmannes).105 Betisen werden in diesem Zusam­ menhang selbst zum „Symptom“ einer verschleierten Strategie der „Miss­ handlung":106 [D]ie genannten ,bétises/Dummheiten‘ der Psychoanalyse [stellen] nicht nur Fälle von Wissensbedürftigkeit, Nichtwissen oder Unverständnis dar, sondern ethische Gewaltsamkeiten, ihrerseits Maschinen, und Kriegsma­ schinen, Maschinen der Unterwerfung [assujetissement), Verblödung [ab­ rutissement], Arten und Weisen, die Patienten dümmer [plus bêtes], roher [brutes] oder blöder [abruti] zu machen, als sie in Wirklichkeit sind.107

Die Reduktion der Rede auf ihre ödipale Präkonfiguration komme, so Deleuze/Guattari, einem Diebstahl des Eigennamens gleich. Der Sohn werde gezwungen, im Namen des Vaters zu sprechen. Die Psychoanalyse sei also in letzter Instanz ein Diskurs, der den Wolfsmann am Sprechen hindert.108 Gerade dort, wo in Sprache eine Überschreitung der Grenzen zwischen den Arten (etwa zwischen Mensch und Wolf, Pferd oder H ahn...) sich ankündigt, erfolgt ein normativer Zuschnitt des Gesagten, eine Reduktion auf eine definitive Bedeutung. Soweit folgt Derrida Deleuze in seinen Ausführungen, in denen er dessen Flaubert-Referenz mit den späteren Ausführungen zu den Betisen der Psychoanalyse konfrontiert. Derrida bezweifelt dabei allerdings, dass sich bêtise als wesentlich menschliche Eigenschaft auffassen lässt. Deleuze siedelt die Betise im Kern der Philosophie an, indem er bekräftigt, sie sei 104 „Die Psychoanalyse hat kein Gespür für widernatürliche Anteilnahmen oder für Gefüge, die ein Kind sich schafft, um ein Problem zu lösen, für dessen Lösung man ihm die Auswege versperrt: einen Plan und kein Phantasma. Man würde auch we­ niger dummes Zeug [bêtises] über Schmerz, Demütigung und Angst im Masochis­ mus erzählen, wenn man begreifen würde, daß er vom Tier-Werden geleitet wird und nicht umgekehrt.“ Gilles Deleuze und Felix Guattari: Tausend Plateaus. Über­ setzt von Gabriele Ricke und Ronald Voullié. Berlin 2005, S. 353. Vgl. Gilles De­ leuze und Felix Guattari: Milles Plateaux. Paris 1980, S. 317. 105 Vgl. Ebd., S. 38-39 und 44-58. 106 Jacques Derrida, Das Tier und der Souverän I, S. 205. 107 Ebd. 108 „Die Leute zum Schweigen bringen, sie am Sprechen hindern, und vor allem, wenn sie sprechen, so tun, als ob sie nichts gesagt hätten: das ist die berühmte Psycho­ analytische Neutralität.“ (Deleuze; Guattari, Tausend Plateaus, S. 58).

180

immer ,uns‘ eigen, „me“ den „anderen".109 Wie die Tyrannei und die Grau­ samkeit sei sie in der menschlichen Freiheit begründet und gehöre daher zum ,Bild des Denkens‘110 als einem menschlichen, wie Derrida pointiert. Das Seminar Das Tier und der Souverän befasst sich in der Hauptsa­ che mit der Frage, was als Ur-Eigenes, als Essenz oder als Proprium der Tiere (oder Bestien/Biester) gelten könne.111 Mit Deleuze wiederholt Derrida: „Das Eigene des Tiers [bête] wenn es denn so etwas gibt - wäre weder die bêtise/Dummheit noch die Bestialität“,112 allerdings schließt D e­ leuze Tiere kategorisch aus: „Die Dummheit ist nicht das Wesen des Tiers. Dem Tier verbürgen spezifische Formen eine Absicherung gegen das ,Dumm‘-Sein“.113 Bêtise wird als zweifelhaftes Privileg für die Menschheit reserviert. In diesem Vorbehalt erkennt Derrida eine Verlän­ gerung des Anthropozentrismus unter anderen Vorzeichen und er lanciert dagegen die „in der Schwebe bleibende Arbeitshypothese“, nach der bêtise das Eigene des Eigenen [le propre du propre109123114] kurzum ist, das sich selbst aneignende Eigene, das sich selbst setzende Eigene, das für sich selbst (an)geeignete, selbstgesetzte Eigene, die Aneignung oder das Phantasma des Eigenen überall da, wo es sich ereignet [a d v ie n t], wo es sowohl setzt als auch sich setzt, wobei der Mensch nur ein Zeuge unter anderen ist.115167

Mit dieser paradoxen Definition stellt Derrida aus, dass der Versuch, bêtise als begriffliche Gewalt endgültig auf den Begriff zu bringen, jene Strukturen des Denkens reproduziert, die vermieden werden sollten. Dass bêtise kategorisch ,dem Menschen‘ zugeschrieben und damit den Tieren abgesprochen wird, zeugt von einer grundsätzlichen Gefahr der „Ansteckung“.116 In der Auseinandersetzung mit oder der Kritik von bêtise ris­ kieren Philosoph_innen ständig, sich zu infizieren. Es gibt immer einen Übergang, oder - wenn man so will - ein Moment der Kollegialität. N ie­ mand ist ungeteilt bête. Das heißt: „Man kann nie ganz alleine bête/ dumm sein, da haben Sie’s, wenn dies auch niemanden entschuldigt oder entlas­ tet.“117 Davon zeugen weitere .alliances anormales‘ in Flauberts Text: Ers-

109 Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 196. 110 „Die Gemeinheit, die Grausamkeit, die Niedertracht, die Dummheit sind nicht bloß körperliche Mächte oder charakterliche und soziale Tatsachen, sondern Struktu­ ren des Denkens als solchen [sic].“ Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 195f. 111 Ein Biest ist kein Tier, oder „nicht genau“ Tier. Vgl. Derrida, Das Tier und der Souverän I, S. 21. 112 Ebd., S. 198. 113 Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 195. 114 Vgl. Derrida, La bête et le souverain I, S. 192. 115 Derrida, Das Tier und der Souverän I, S. 200. 116 Ebd., S. 225 und S. 226. 117 Ebd., S. 226.

181

tens Flauberts Mimesis an seine Figuren und zweitens die absonderliche Beziehung zwischen Bouvard und Pécuchet. „Leur bêtise est mienne et j’en crève“ ,118 schreibt Flaubert am 15. Ap­ ril 1875 an Edma Roger des Genettes. Durch die „symbolische Nähe“119 zu den Protagonisten zieht sich der Autor deren perverse Faszination zu. Bouvard und Pécuchets bêtise besteht darin, diese in einem Akt des Pro­ tests zum Objekt ihrer Wissenschaft zu machen und zu katalogisieren. Bêtise resultiert in diesem Fall gerade aus ihrer Intelligenz: „Alors une fa­ culté pitoyable se développa dans leur esprit, celle de voir la bêtise et de ne plus la tolérer.“120 Bouvard und Pécuchet machen bêtise „zu ihrer Sa­ che“.121 Sie wollen sie definieren - das heißt auch: der Sache ein Ende ma­ chen. Flaubert ist in dieses Projekt eingebunden.122 Ein jeglicher Definitionsversuch sei jedoch ein Fall von bêtise: Definiens und Definiendum fallen zusammen.123 Was Derrida hier als Problem des Denkens adressiert, formuliert Flaubert zweideutig als poetologisches Problem und überträgt es so auf die Form des Romans. So bestimmt er in einem Brief an Louise Colet vom 31. März 1853 die conclusion - das Schließen wie das Abschließen (von Texten) - als Akt der bêtise. Die Schönheit der Naturwissenschaften bestehe darin, sich voreiliger Schlüsse zu enthalten. Menschen sollten daher wie Mastodonten und Krokodile behandelt werden124 - ohne abschließende Urteile zu fällen. Als eine Kon­ sequenz dieser Forderung ließe sich die episodische und fragmentarische Form des Romans über die beiden ,crapauds‘ (Unken) oder ,cloportes‘ (Asseln)125 Bouvard und Pécuchet betrachten. In einem späteren Brief vom 12. Oktober an die gleiche Adresse fordert Flaubert, die Kritik solle wie die Naturgeschichte verfahren126 - ohne zu moralisieren - und lobt 118 Flaubert, Correspondance, Bd. 4, S. 919-920, hier S. 920. 119 Derrida, Das Tier und der Souverän I, S. 226. 120 BPF, S. 915. „Mit der Zeit entwickelten sie eine beklagenswerte geistige Fähigkeit, diejenige, die Dummheit [bétise] zu erkennen und sie nicht mehr ertragen zu kön­ nen.“ BPD, S. 261. 121 Derrida, Das Tier und der Souverän I, S. 228. 122 Vgl. Maurice Blanchot: The Infinite Conversation. Minneapolis 1993, S. 332-336. 123 Derrida, Das Tier und der Souverän I, S. 229, 230. 124 „La conclusion, la plupart du temps, me semble acte de bêtise. C'est là ce qu’ont de beau les sciences naturelles : elles ne veulent rien prouver. Aussi quelle largeur de faits et quelle immensité pour la pensée ! Il faut traiter les hommes comme des mastodontes et des crocodiles. Est-ce qu'on s'emporte à propos de la corne des uns et de la mâchoire des autres ? Montrez-les, empaillez-les, bocalisez-les, voilà tout ; mais les apprécier, non. Et qui êtes-vous donc vous-mêmes, petits crapauds?“ Flau­ bert, Correspondance, Bd. 2, S. 295. 125 Vgl. Frank Leinen: Proust, Flaubert und „Deux Cloportes“. Zur Interpretation von Marcel Prousts Pastiche „Mondanité et Mélomanie de Bouvard et Pécuchet“. In: Romanische Forschungen. 10 2/3 (1991), S. 211-235. 126 Vgl. Séginger: Éléments pour une biocritique. Ohne Seitenzahl.

182

den Zoologen Saint-Hilaire, der die Legitimität von Monstren demons­ triert habe.127 Insofern eine Naturgeschichte also nicht mit einem essentialistischen Artbegriff operiert und normativ ausschließt, was sich der Definition sperrt, sondern ,schändliche Kreuzungen‘ und ,abnorme Paarungen‘ zu­ lässt, wird sie zum Maßstab einer Kritik ,en farce‘. Dies gilt sowohl für die epistemologischen Voraussetzungen als auch für den Gegenstandsbereich. Nicht zufällig entnimmt Derrida den Hinweis auf die beiden angeführten Briefe Flauberts einem Zitat aus den Regeln der Kunst128 und setzt dieses zu Beginn der Seminarsitzung, die am 30. Januar 2002 auf den Tod Bourdieus in Paris folgt, an die Stelle des konventionellen Enkomiums. Dass Derridas Exkurs zu Bouvard et Pécuchet im Zeichen der Kollegialität und Freundschaft einsetzt, rührt an die eigentümliche Symbiose der Roman­ helden, die Wissenschaft a fortiori zu einer gemeinsamen Sache machen nicht im Sinne einer Popularisierung (die Flaubert ein Dorn im Auge war), sondern als absonderliche und in gewissem Sinne gesetzeswidrige Lebensform. In diesem Sinne sind auch Bouvard und Pécuchet nicht un­ geteilt bête. Sie sind es nicht ganz und ausschließlich; und sie sind es ge­ meinsam.

127 „Il faut faire de la critique comme on fait de l’histoire naturelle, avec absence d’idée morale. Il ne s’agit pas de déclamer sur telle ou telle forme, mais bien d’exposer en quoi elle consiste, comment elle se rattache à une autre et par quoi elle vit (l’esthétique attend son Geoffroy Saint-Hilaire, ce grand homme qui a montré la légitimité des monstres). Quand on aura, pendant quelque temps, traité l’âme hu­ maine avec l’impartialité que l’on met dans les sciences physiques à étudier la ma­ tière, on aura fait un pas immense. C ’est le seul moyen à l’humanité de se mettre un peu au-dessus d’elle-même.“ Flaubert, Correspondance, Bd. 2, S. 450f. 128 Vgl. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Frankfurt a.M. 1999, S. 165.

183

Sage Anderson

Ungesicherte Übergänge. Kürze und Krankheit bei Hippokrates, La Rochefoucauld und Nietzsche

Im Alltagsleben sind die Veränderungen, die wir als ,Übergänge‘ zu be­ zeichnen pflegen, zunächst eindeutige Veränderungen, von einem zum deutlich anderen Zustand, vom bestimmten Vorher zum klar getrennten Nachher. Eine aktuelle Google-Suche vollendet etwa den Satz „Übergang zu“ mit „zum Gymnasium", „zum Tod", „zur Naturhaarfarbe“.1 Über­ gänge werden, mit anderen Worten, oft mit vorhersehbaren Lebensetap­ pen zusammengedacht, auf die man sich vorzubereiten versucht. Das lässt sich exemplarisch an dem üblichen Narrativ eines Übergangs vom Jugendins Erwachsenenalter erkennen: Versuche ich, mein Leben in Abschnitte zu ordnen - um behaupten zu können, ich wachse auf, ich komme weiter, ich entwickle mich fort -, verlasse ich mich auf einen progressiven Über­ gangsbegriff. Das Leben kennt aber auch Veränderungen, die nicht so eindeutig zu ordnen sind. Um diese Art von Übergängen geht es mir hier. Anhand von Texten von Hippokrates, La Rochefoucauld und Nietzsche werden in diesem Beitrag nämlich Veränderungen von Gesundheit zur Krankheit (und umgekehrt) diskutiert. Konträr zu der Vorstellung einer teleologischen Entfaltung des Organismus von seiner Entstehung hin zur funktionstüchtigen Reife, handelt es sich bei gesundheitlichen Übergän­ gen um die einem jeden bekannten Wechsel des individuellen Zustands, die weder unidirektional verlaufen noch in eine ordentliche Erzählung oder Erklärung passen. Diese Art der Veränderung lässt sich in Aphorismen und Maximen wiedererkennen und mit ihrer Hilfe besser verstehen, weil die kurze bzw. diskontinuierliche Form eine Darstellung von konstitutiver Unordnung ermöglicht. Damit lassen sich Übergänge wiederum anders fas­ sen als in einem Begriff von klar gegliederter Entfaltung oder gesichertem Fortschritt in eine bestimmte Richtung. Wie im Leben gibt es auch in der Rhetorik eine prägende Vorstellung von gelungenen Übergangen, die als stilistische Tugend gelten, gar allge­ mein als Voraussetzung der Verständlichkeit. Um uns von einer Rede oder Schrift überzeugen zu lassen - allein um einem Gedankengang zu folgen -, verlassen wir uns regelmäßig auf artikulierte Verbindungen zwischen einem 1

Am gemeinsam benutzten Computer, Staatsbibliothek zu Berlin, Unter den Linden, August 2016.

185

und dem nächsten koordinierten Teil. Nicht nur von philosophischen Abhandlungen, sondern auch gewissermaßen von jedem Argument erwar­ ten wir Signale, die uns zeigen, dass wir den nächsten Punkt erreicht ha­ ben und die dann darauf hinweisen, wie jeder weitere Punkt sich auf die vorangehenden bzw. nachfolgenden Punkte bezieht. So werden Übergän­ ge (Griechisch: metâbasis; Latein: transitio, transitus) in klassischen Texten zur Rhetorik als jene Redefiguren behandelt, die an das schon Gesagte er­ innern und das noch zu Sagende ankündigen.2 Solche Übergänge bilden das Gerüst eines als organisiert konzipierten Ganzen, eines Organismus. Nach Sokrates im Platonischen Phaidros ist eine gute Rede wie ein Lebe­ wesen aufgebaut, und das heißt ihm zufolge aus Teilen, die wie Kopf, Körpermitte und Füße zusammenpassen.34Bei Aristoteles in seiner Poetik heißt es, mit derselben Metapher gesprochen, die Begebenheiten einer Tragödie müssen richtig zusammengestellt werden, um ein Ganzes mit Anfang, Mitte und Ende darzustellen, und: Weil außerdem das Schöne, ein Lebewesen und jede Sache, die aus bestimmten Teilen zusammengesetzt ist, nicht nur eine Ordnung unter den Teilen haben muss, sondern auch eine bestimmte, keineswegs beliebige Größe - denn das Schöne gründet in Größe und Ordnung -, deshalb kann etwas ganz Kleines nicht ein schönes Lebewesen werden

Eine Ordnung unter den Teilen und eine bestimmte Größe werden hier von Aristoteles als Bedingungen der Schönheit identifiziert. Das lebendi­ ge Wesen bzw. „jede Sache, die aus bestimmten Teilen zusammengesetzt ist“ - hier also die Tragödie, aber auch andere Arten der Dichtkunst -, sind als erkennbare Lebensformen einzuordnen. Damit ein schönes Gan­ zes sich zu entfalten vermag, braucht es Übergänge, die diese Entfaltung mitbestimmen, indem sie die Größe und Ordnung der Teile sichtbar ma­ chen. Was aber geschieht, wenn das Tier doch ganz klein ist, oder wenn es gar zerteilt oder vermehrfacht erscheint? Was geschieht mit dem lebendi­ gen Wesen, was wird aus der literarischen Form, wenn Übergänge keine anordnende Funktion erfüllen? Wenn Stücke nicht als organisiertes Gan­ zes zusammenpassen, wenn Zufall zugelassen wird, wenn jeder Ablauf un­ terbrochen werden kann? Ferner, kann in solchen Fällen von einem Übergang überhaupt die Rede sein? Dies sind nur einige der Fragen, die

2 3 4

186

G. Krapinger: Transitio. In: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhe­ torik. Bd. 9: St-Z. Tübingen 2009, Sp. 773-775. Platon: Phaidros. Übersetzt von Ernst Heitsch. Göttingen 1993, S. 50-51. Aristoteles: Poetik. Hg. von Hellmut Flashar. Übersetzt von Arbogast Schmitt. Berlin 2008, S. 12.

von literarischen und philosophischen Kurzformen aufgeworfen werden: Formen wie Aphorismen und Maximen, denen Knappheit, Vielzahl und Diskontinuität eigen sind, scheinen ganz ohne Übergänge zu funktionie­ ren - oder wenigstens ohne die Art von Übergängen, die für Ordnung sorgt und für Fortschritt steht. Meine Untersuchung besteht aus drei Abschnitten, in denen ich je­ weils ausgewählte Texte von Hippokrates, La Rochefoucauld und N ietz­ sche behandle. Ich konzentriere mich dabei auf zwei Aspekte, die mitei­ nander in Wechselwirkung stehen: Einerseits werde ich zeigen, wie hier die Kürze verwendet wird, um auf formeller Ebene Diskontinuität zu be­ wirken. Wenn wir mit kleinen, verdichteten Texten konfrontiert sind, die nacheinander erscheinen, ohne dass sie in explizite Verbindungen mitei­ nander treten und ohne dass sie sich einer umfassenden Gliederung un­ terordnen würden, dann scheitert eine Lesart, die erkennbare Organisati­ on gewohnt ist und sinnvolle Weiterentwicklung verlangt. Andererseits werde ich untersuchen, wie die Diskontinuität bei den hier behandelten Autoren mit einer Darstellung der Diskontinuität der Erfahrung zusam­ menfällt - und freilich zu dieser Darstellung beiträgt. Das Thema der un­ sicheren Gesundheit, das in allen Beispielen behandelt wird, entspricht in­ sofern einer immer wiederkehrenden Auseinandersetzung mit der Unge­ wissheit, die menschlichem Leben zugrunde liegt. Laut meiner These bieten diese Texte eine besondere Gelegenheit, Übergänge anders zu kon­ zipieren: anders als gewöhnlich, indem die Möglichkeit von eindeutigen Veränderung in Frage gestellt wird, und auch potenziell jedes Mal/immer anders, weil Kurzformen die Kapazität haben, Erwartungen von verlässli­ chen Ordnungen sowohl in der Zusammenstellung eines Textes als auch in der Darstellung der Erfahrung radikal zu unterbrechen.

I. Hippokrates: „Der rechte Augenblick geht schnell vorüber“ ,Aphorismus‘ gilt oft als Überbegriff für sämtliche literarische Kurzfor­ men in der westlichen Tradition, als Urbild der Form des Aphorismus wiederum gelten die Aphorismen von Hippokrates.5 Diese prägnanten Aussagen wurden um 400 v.u.Z. auf Griechisch verfasst. Teilweise fallen Aussagen zum gleichen Subjekt zusammen, wie etwa die Behandlung von Fieberzuständen. Eine Aufteilung in sieben Abschnitte wurde von Hip-

5

Auch der Name „Hippokrates“ steht für mehrere Autoren, die zum sogenannten „Corpus Hippocraticum“ beigetragen haben. Vgl. Harald Fricke: Aphorismus. Stuttgart 1984, S. 25-29. Siehe auch Friedemann Spicker: Der Aphorismus. Begriff und Gattung von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis 1912. Berlin 1997, v.a. S. 30-34.

187

pokrates’ Nachfolger Galen durchgesetzt.6 Allerdings gibt es keine durch­ gehende systematische Organisation, sondern jeder Text ist vereinzelt. Der Anfang der Hippokratischen Aphorismen ist wohlbekannt, in der la­ teinischen Übersetzung sogar zum Sprichwort geworden: Vita brevis, ars longa. Etwas weniger bekannt ist seine Fortsetzung: 1. Das Leben ist kurz; die Kunst ist lang; der rechte Augenblick geht schnell vorüber; die Erfahrung ist trügerisch: die Entscheidung schwierig. Der Arzt muß nicht nur selbst bereit sein, das Erforderliche zu tun, son­ dern auch der Kranke, seine Umgebung und die äußeren Umstände müs­ sen dazu beitragen.7

Die Kürze des Lebens wird als Axiom, das für Sterbliche selbstverständ­ lich sein sollte, vorausgesetzt.8 Schließlich sind die Tage auch des gesun­ den Menschen gezählt, und ihre endliche Zahl scheint angesichts eines übergreifenden und unbestimmten Zeitflusses klein. Im Gegensatz dazu gilt die Kunst als lang, weil das menschliche Können ein Menschenleben überdauern kann, sei es durch Dokumentation des eigenen Schaffens oder durch Weitergabe einer Methode in kontinuierlicher Tradition. Anders als für das Leben ist für die Kunst Endlichkeit keine Gewissheit. Genau dar­ aus aber ergibt sich die Spannung, um die es in diesem Aphorismus geht, nämlich die Spannung zwischen dem Ablauf der Zeit und der Möglichkeit zur Veränderung im Leben. Es geht hier also um die Unsicherheit von Übergängen. Die „Kunst“, die Hippokrates im Sinn hat, ist die Kunst der Medizin. Seine Aphorismen sind an Personen gerichtet, die, wie er, als Ärzte diese Kunst betreiben und die sich tagtäglich mit der Kürze des Lebens beschäf­ tigen. „Der rechte Augenblick“ ist folglich derjenige Augenblick, in dem Eingreifen ins Leben therapeutisch wirksam wäre. Genauer gesehen ist es das rasch zufallende Zeitfenster, während dessen der Arzt sich erhoffen kann, den Zustand eines Patienten zu beeinflussen. Dass die angestrebte Veränderung von Krankheit zur Gesundheit tatsächlich erreicht werden wird, ist jedoch alles andere als sicher, denn zusätzlich zur Schnelligkeit der Zeit kommen noch Täuschung der Erfahrung und Schwierigkeit der Entscheidung hinzu. Auch die Bereitschaft des Arztes, der sich in seiner Kunst vertraut, reicht ohne die Mitwirkung anderer Faktoren nicht zum Erfolg. Alle diese Faktoren - benannt werden der Kranke, die Umgebung 6

7 8

188

W.H.S. Jones. Introduction. In: Ders. (Hg. und Übers.): Hippocrates. Bd. IV. Cambridge, Massachusetts 1967, S. xxxv. Charles V. Daremberg. Aphorismes. Int­ roduction. In: Ders. (Hg. und Übers.): Hippocrate. Paris 1961, S. 328-333. Hippokrates: Aphorismen. In: Hans Diller (Hg. und Übers.): Ausgewählte Schrif­ ten. Stuttgart 1994, S. 192. Für eine Lektüre dieses Aphorismus in Hinblick auf Zeit siehe: Harald Weinrich: Knappe Zeit. Kunst und Ökonomie des befristeten Lebens. München 2004, S. 15-24.

und die äußeren Umstände - können weitere Hindernisse darstellen, die nur schwerlich vom Arzt vorhersehbar bzw. kontrollierbar sind. Während darüber Bilanz gezogen wird, mag mittlerweile der rechte Augenblick längst vorübergegangen sein, ohne dass ein entscheidender Übergang zu­ stande gebracht wurde. Der Hauptpunkt dieses ersten Aphorismus wird sowohl von seiner eigenen Kürze als auch von seiner Zusammenstellung mit anderen Apho­ rismen formell unterstrichen. Der Text selbst geht schnell vorüber und von einem kurzen Aphorismus zum nächsten gibt es keinen artikulierten Übergang. Soviel zeigt schon der zweite Aphorismus: 2. Wenn bei Verdauungsstörungen und bei spontan auftretendem Erbre­ chen das abgeführt wird, was abgeführt werden muß, ist es nützlich, und die Kranken fühlen sich besser, wenn aber nicht, ist das Gegenteil der Fall. So ist es auch bei künstlicher Entleerung: wenn sie richtig vor sich geht, ist sie nützlich, und die Kranken fühlen sich besser, wenn nicht, ist das Ge­ genteil der Fall. Man muß auch auf das Land, die Jahreszeit, das Lebensal­ ter und die Krankheiten achten, in denen man diese Behandlung vorneh­ men muß oder nicht.9

Hier beschreibt Hippokrates, wie die Bedeutung von Symptomen immer von den Umständen abhängt, oder, etymologisch gesehen, immer mit Gegebenheiten zusammenfällt (sym-piptein) . Was im einen Fall hilft, schadet im anderen, und was eher nach Verschlimmerung der Krankheit aussieht, kann tatsächlich eine Wiederherstellung der Gesundheit beglei­ ten. Für den Arzt ist eine angemessene Vorgehensweise aus den Sympto­ men nicht ohne weiteres ersichtlich, da die gleichen körperlichen Äuße­ rungen gegensinnige Ursachen und Wirkungen haben können. Nur mit Blick auf Ort, Zeit - im Jahr sowie im Leben des Patienten - und den zu­ grundeliegenden Zustand wird es dem Arzt möglich zu erkennen, welche Behandlung nützlich sein könnte. Was meine Vorgehensweise als Leserin von Aphorismen betrifft, so könnte ich mir freilich vornehmen, diesen Text mit dem vorigen in Ver­ bindung zu bringen, etwa wenn ich mich darauf konzentrieren würde, dass die Beobachtungen des ersten eher generell, die des zweiten hingegen schon spezifischer sind: Dies könnte auf ein Ordnungsprinzip hinweisen. Ich muss aber jenen Zusammenhang selbst formulieren, da vom Autor keine umfassende Gliederung artikuliert wird. Durch die Nebeneinander­ stellung von eigenständigen Texten lassen sich diese jedoch auch auf an­ dere Art und Weise lesen: Man kann etwa passend zu einem spezifischen Fall einen einzelnen Aphorismus aussuchen, frei nach Bedarf eine Aus­ wahl von mehreren treffen, oder alle Aphorismen gründlich studieren, um 9

Hippokrates, S. 193.

189

in möglichst vielen Szenarien Rat zu wissen. Statt mich auf eine durchge­ hende Ordnung zu verlassen, muss ich als Leserin also vielmehr danach streben, wie ein Arzt entscheidende Unterschiede immer in den Einzel­ heiten eines spezifischen Falls bzw. im aktuellen Kontext zu suchen. Nur so wird man bereit, das erworbene Wissen rechtzeitig anzuwenden, um möglicherweise eine Veränderung im Leben zu bewirken.

II. La Rochefoucauld: „Die Gesundheit der Seele ist nicht gesicherter als die des Körpers“ François VI, duc de la Rochefoucauld, war unter den sogenannten franzö­ sischen Moralisten des 17. und 18. Jahrhunderts der erste, der seine kur­ zen und kritischen Texte als Maximen betitelte.10 Die erste Ausgabe seiner Maximes et Réflexions diverses wurde 1665 veröffentlicht, und vor seinem Tod in 1680 erschienen noch vier bearbeitete Ausgaben. Gleich Aphoris­ men sind Maximen einprägsame und einsichtsvolle Prosatexte, die kurz und vielzählig erscheinen, ohne gegliederte Ordnung. Aber während Hippokrates sich mit praktischem Rat für die Behandlung des kranken Kör­ pers beschäftigt, konzentriert sich La Rochefoucauld auf die kritische Be­ obachtung der moralischen Verfassung seinesgleichen im kultivierten Ge­ sprächsraum des aristokratischen Salons.11 Nehmen wir als Beispiel die Maxime, die ab der vierten Ausgabe als Epigraph dient: „Nos vertus ne sont, le plus souvent, que des vices déguisés.“12 Hiermit wird die Kürze als scharfes Instrument verwendet, um trüge­ rischen sozialen Schein durchzuschneiden.13 Niemand wird dabei ver­ schont: Mit der ersten Person Plural des Personalpronomens entblößt sich auch der Moralist selbst und zählt sich zu denen, bei denen Tugend meistens nur getarntes Laster ist. Was dadurch aufgedeckt wird, ist D is­ kontinuität, nicht nur zwischen dem Mensch, wie er sich präsentieren möchte und wie er wirklich ist, sondern auch zwischen einer Annahme 10 Für eine differenzierte Positionierung der Maximen von La Rochefoucauld inner­ halb der Tradition der Moralisten —und weiter eine Positionierung dieser Tradition innerhalb der längeren Tradition von Kurzformen —siehe: Louis van Delft: Les Moralistes. Une Apologie. Paris 2008, S. 331—346, v.a. S. 340. 11 Zu Maximen im Kontext des Salons siehe: Marc Fumaroli: La conversation. In: Pierre Nora (Hg.): Les lieux de mémoire. Les Frances, III.2. Paris 1992, S. 679— 743, v.a. S. 692—704; Eric Tourrett: Les formes brèves de la description morale. Quatrains, maximes, remarques. Paris 2008, S. 191—208. 12 „Unsere Tugenden sind meist nur getarnte Laster“. Meine Übersetzung. La Roche­ foucauld: Maximes et réflexions diverses. Hg. von Jacques Truchet. Paris 1977, S. 45. 13 Zum Thema Schnitt als Prinzip der kurzen literarischen Form siehe: Louis van Delft: Les Spectateurs de la vie. Généalogie du régard moraliste. Québec, 2005, S. 201ff.

190

der Deutbarkeit vom menschlichen Zustand und einer Annäherung der ungesicherten Realität. Der Hippokratische Arzt hat zum Ziel, die vorübergehende Gele­ genheit schnell zu ergreifen, um durch Behandlung den weiteren Ablauf einer Krankheit zu verhindern. Der Moralist hingegen beschreibt Zustän­ de, die nicht allein von außen her zu verändern sind. Er hat es mit Kon­ flikten zwischen dem öffentlichen Verhalten und der privaten Motivation zu tun. Die Frage danach, was im Innern eines Menschen vorgeht, ist in diesem Kontext noch weniger klar, als bei dem oben genannten spontan erbrechenden Patienten. Damit wird die Vorstellung eines eindeutigen Übergangs noch problematischer. Soll der Mensch sich derart ändern können, dass eine Veränderung in seinem Leben zu deuten oder sogar als Fortschritt zu bezeichnen ist, muss zuerst klargestellt werden, in was für einem Zustand er sich derzeit befindet. Gerade das erweist sich als schwierige Aussicht für den Moralisten, der Sprachgebrauch und Verhal­ ten statt physischen Symptomen verstehen will. Seine Aufgabe ist zu­ nächst die Enttarnung. Roland Barthes’ Einführungsaufsatz zum Werk La Rochefoucaulds erläutert die hier diskutierte Kraft der Kurzformen, konventionelle Wahr­ nehmungen zu unterbrechen. Er charakterisiert zwei Lesarten für Maxi­ men: „pour-moi“ (für-mich) oder „pour-soi“ (für-sich, also für den Au­ tor).14 Entweder öffne ich das Buch nach Lust und Laune und wähle da und dort einen Text aus, der mir Wichtiges zu sagen hat, oder ich lese wie von der Seitenreihenfolge diktiert und folge dem Autor schrittweise von einem Text zum nächsten - ohne ausgeschilderten Weg, und ohne das es mich und meine Lebensumstände persönlich betrifft. Barthes zufolge ist die erste davon die anregendere bzw. die zufriedenstellendste - sein Wort ist „éclatant“ -, weil eine diskontinuierlichere Lesart die Diskontinuität bewahrt, die den Maximen eingeschrieben ist.15 Die erste von Barthes be­ schriebene Lesart ist auch die für mich relevante, weil es mir darum geht, die Kapazität der Kurzformen zu untersuchen, Übergänge zu unterbre­ chen. In dieser Perspektive dienen der Weißraum, der jeden kurzen Text im gedruckten Buch umgibt, sowie die Abwesenheit von syntaktischer Verbindung zwischen den Inhalten der Texte dazu, einzelne Maximen hervorzuheben. Diese Diskontinuität ist weit mehr als ein Effekt der Sei­ tengestaltung, denn wie wir gleich sehen werden, wird die Vorstellung von umfassender Ordnung sowohl zwischen als auch - und tiefer noch - in­ nerhalb einzelner Maximen gestört.

14 Roland Barthes: La Rochefoucauld. „Réflexions ou Sentences et Maximes“. In: Le degré zéro de l’écriture. Suivi de Nouveaux Essais Critiques. Paris 1972, S. 69. Meine Übersetzung, Hervorhebung im Original. 15 Barthes, 69.

191

Barthes erläutert den Effekt von Maximen durch seine Analyse ihrer Struktur und Semantik. Er zeigt, wie die Verhältnisse, die La Roche­ foucauld zwischen den Termen einer Maxime aufbaut, etwas völlig ande­ res als eine Kohärenz des Lebens darstellen: c’est finalement le désordre réel de l’homme (désordre des passions, des événements, des humeurs), qui donne à cet homme son unité. [...] La pas­ sion et la fortune sont des principes actifs, le désordre fait le monde: le dé­ sordre des contingences crée, vaille que vaille, la seule vie qui nous soit im­ partie.16

Das, was der Moralist im Menschen identifiziert und mit seinen Maximen ans Licht bringt, ist also nach Barthes die „echte Unordnung“ der Leiden­ schaften, Ereignisse und Launen. Die einzige Einheit, die dem menschli­ chen Leben zu eigen ist, ist eine paradoxe Einheit der unberechenbaren Aktivität und Kontingenz. Um die Möglichkeit von Veränderung für den Mensch zu bewahren, muss man in dieser Unordnung noch einen Über­ gang erkennen, insofern als alle Selbsttransformation unter diesen Begriff fällt. Dafür muss man allerdings Übergänge anders als eindeutig konzipie­ ren, die Vorstellung von vorhersehbaren Etappen abschaffen und den Ab­ lauf des Lebens anders als eine sinnergebende Entwicklung verstehen. Betrachten wir eine kleine Auswahl der Maximen La Rochefoucaulds. Das Thema der Gesundheit kommt explizit in der ersten und letzten vor. Als Beispiel der Diskontinuität bzw. der Abwesenheit artikulierter Über­ gänge zitiere ich jedoch alle sechs. 188. La santé de l’âme n’est pas plus assurée que celle du corps; et quoique l’on paraisse éloigné des passions, on n’est pas moins en danger de s’y lais­ ser emporter que de tomber malade quand on se porte bien. 189. Il semble que la nature ait prescrit à chaque homme dès sa naissance des bornes pour les vertus et pour les vices. 190. Il n’appartient qu’aux grands hommes d’avoir de grands défauts. 191. On peut dire que les vices nous attendent dans le cours de la vie comme des hôtes chez qui il faut successivement loger; et je doute que l’expérience nous les fit éviter s’il nous était permis de faire deux fois le même chemin. 192. Quand les vices nous quittent, nous nous flattons de la créance que c'est nous qui les quittons.

„Es ist letztendlich die echte Unordnung des Menschen (Unordnung der Leiden­ schaften, der Ereignisse, der Launen), die diesem Menschen seine Einheit gibt. [...] Die Unordnung macht die Welt: die Unordnung der Kontingenzen schafft so oder so das einzige Leben, das uns gewährt wird.“ Barthes, S. 83. Meine Übersetzung, Hervorhebung im Original.

192

193. Il y a des rechutes dans les maladies de l’âme, comme dans celles du corps. Ce que nous prenons pour notre guérison n’est le plus souvent qu’un relâche ou un changement de mal.17

Jede Maxime steht alleine und erklärt keine Verbindung mit den umge­ benden anderen. Es gibt jedoch Themen und Formulierungen, die immer wieder variiert Vorkommen, zum Beispiel das Thema der Laster, oder die beschränkende Formulierung „n’ [est]... que“.18 Wenn man aber entschei­ den will, ob und wie sich die verschiedenen Maximen aufeinander bezie­ hen, muss man diese Beziehungen selbst in Worte fassen. Oder eben nicht, wenn man auf Gliederung verzichten kann, um jeder einzelnen Ma­ xime Aufmerksamkeit zu schenken. Denn die Abwesenheit von Verbin­ dung mit weiteren Gedanken verschärft die Einsichten, die innerhalb einer einzigen Maxime dargelegt werden - Einsichten in die Diskontinuität zwischen schmeichlerischer Eigenliebe und schonungsloser Eigenwahr­ nehmung. In den oben zitierten Maximen geht es unter anderem um verschie­ dene Aspekte der fehlenden Kontrolle des Menschen über den Ablauf seines Lebens, auch - oder vielleicht besonders - wenn es um das innere Leben geht. Betrachten wir zunächst die erste etwas näher: 188. La santé de l’âme n’est pas plus assurée que celle du corps; et quoique l’on paraisse éloigné des passions, on n’est pas moins en danger de s’y lais­ ser emporter que de tomber malade quand on se porte bien.19

Mit „santé de l’âme“ zielt La Rochefoucauld auf den Aspekt des Men­ schen ab, den wir heute als seinen geistigen, mentalen oder psychologi­ schen Zustand bezeichnen würden.20 Er stellt eine kraftvolle Analogie her, indem er die Unsicherheit der Gesundheit auf beiden Seiten der Geist­ Körper Trennung ausfindig macht. Nach dieser Formulierung sind es die 17 La Rochefoucauld, S. 61. Für eine deutsche Übersetzung siehe: La Rochefoucauld. Reflexionen oder Sentenzen und moralische Maximen. Übersetzt von Helga Berg­ mann und Friedrich Hörlek. Leipzig 1976, S. 27. 18 Barthes bezeichnet diese Formulierung als „relation d’identité restrictive“ (Bezie­ hung der beschränkenden Identität) und behauptet, diese sei entscheidend für die Maximinen La Rochefoucaulds: „N ’est que est en somme le mot clef de la maxime car il ne s’agit pas ici d’un simple dévoilement (ce qu’indique parfois l’expression en effet, au sens de: en réalité); ce dévoilement est presque toujours réducteur; il n’explique pas, il définit le plus (l’apparence) par le moins (le réel).“ Barthes, S. 76. 19 „Die Gesundheit der Seele ist nicht gesicherter als die des Körpers; und obgleich man von den Leidenschaften entfernt zu sein scheint, ist man nicht weniger in Ge­ fahr, sich davon mitreißen zu lassen, als zu erkranken, wenn es einem gut geht.“ La Rochefoucauld, S. 61. Meine Übersetzung. 20 Zum Thema Gesundheit der Seele in Maximen siehe: Van Delft. Les Moralistes. Une Apologie. Paris 2008, S. 118-126.

193

„passions“, die die geistige Gesundheit destabilisieren, und diese können launisch aufflackern, auch wenn man weit entfernt von aller Störung zu sein scheint - ebenso, wie eine physische Krankheit wie aus heiterem Himmel zuschlagen kann. Anders gesagt erscheint der Übergang von Ge­ sundheit zum Kranksein manchmal abrupt, ohne jegliche Vorankündi­ gung, und ohne erkennbaren Aufbau. Die Maxime geht von der Annahme aus, dass Gesundheit gesichert (assurée) ist, enthüllt jedoch gleich darauf eine Unordnung, die diese Annahme tief untergräbt. Auch wenn man wohlauf ist, läuft man nichtdestotrotz Gefahr, sich von den Leidenschaf­ ten mitnehmen zu lassen, oder zu erkranken (die französische Ver­ balphrase „tomber malade“ betont die Passivität: man fällt in die Krank­ heit, wie in ein Loch). Von einer anderen Seite lässt sich diese Unordnung der Gesundheit auch in der zuletzt zitierten Maxime erkennen: 193. Il y a des rechutes dans les maladies de l’âme, comme dans celles du corps. Ce que nous prenons pour notre guérison n’est le plus souvent qu’un relâche ou un changement de mal.21

Nach La Rochefoucauld ist es also nicht nur das Einsetzen der geistigen oder körperlichen Krankheit, das unsicher ist, sondern auch die Gene­ sung. Das, was wir für Besserung halten, ist oft nur ein temporäres Nach­ lassen, eine Lockerung (relâche), oder gar nur ein Wandel (changement) von einer Krankheit zur anderen. Da, wo wir eine Veränderung vom schlechten zum besseren Zustand sehen - und sehen wollen -, gibt es oft gar keine fortwährende Veränderung, oder es gibt eine Veränderung von einem schlechten Zustand zu einem anderen oder anders schlechten Zu­ stand, oder sogar zu einem noch schlechterem Zustand. Nimmt man sich die Unordnung der Maximen zu Herzen, erscheint keine Veränderung im Leben gesichert zu sein. Gleichzeitig aber wird Veränderung unumgäng­ lich. Fängt man an, die Übergänge des Leben als ungesichert zu sehen, wo man sich vorher von falschen Annahmen von verlässlichem Fortschritt hatte täuschen lassen, merkt man, dass in sich Veränderungen schon im Gange sind. Der Übergang, der nicht wie erwartet oder gewünscht statt­ findet, wird Anlass einer veränderten Selbstkenntnis: Statt sich einfach auf eine klare Trennung vom Vorher des schlechten Krankseins und Nachher der guten Verbesserung zu verlassen, wird man aufgefordert, sich hier die Ambivalenz seines aktuellen Zustands bewusst zu werden.

21 „Es gibt Rückfälle bei den Krankheiten der Seele, wie bei denen des Körpers. Was wir für unsere Genesung nehmen, ist meist nur ein Nachlassen oder eine Verände­ rung des Übels.“ Meine Übersetzung. La Rochefoucauld, S. 61.

194

III. Nietzsche: „Wert der Krankheit“ Friedrich Nietzsche äußert in seinem Werk immer wieder seine Wert­ schätzung für Kurzformen sowie seine Vorliebe für verschiedene Vorläu­ fer in der diskontinuierlichen Tradition von philosophischer bzw. literari­ scher Kürze. Seine Bewunderung für u.a. Graciän, La Rochefoucauld, La Bruyère, Chamfort und Lichtenberg verhindert aber nicht, dass Nietzsche der Überzeugung ist, mit seiner eigenen Verwendung der Kürze etwas gänzlich Neues zu erreichen. Er verwendet Kurzformen vor allem in Menschliches, Allzumenschliches (1878), Morgenröthe (1881) und Die Fröh­ liche Wissenschaft (1882, 1887) sowie auch in Abschnitten von Jenseits von Gut und Böse (1886) und Götzen-Dämmerung (1888).22 Um seine kurzge­ fassten Schriften zu beschreiben und um sich gegenüber der Tradition zu positionieren, bezieht sich Nietzsche auf die Begriffe „Aphorismus“ und „Sentenz", wie zum Beispiel in jenem bekannten Text aus „Streifzüge ei­ nes Unzeitgemäßen“ in Götzen-Dämmerung·. 51. [...] Der Aphorismus, die Sentenz, in denen ich als der Erste unter Deutschen Meister bin, sind die Formen der „Ewigkeit“; mein Ehrgeiz ist, in zehn Sätzen zu sagen, was jeder Andre in einem Buch sagt, - was jeder Andre in einem Buche nicht sagt... [...]23

Nietzsche erkennt also in verdichteten Kurzformen nichts weniger als ein Mittel, mit seinem Schreiben auf die Ewigkeit zuzugreifen. In zehn Sätzen das zu sagen, was sonst niemand in einem ganzen Buch zu sagen vermag, heißt nicht nur etwas prägnanter ausdrücken zu können, sondern viel­ mehr etwas zu sagen, was sich von allem schon Gesagten grundsätzlich unterscheidet. Die kurze bzw. diskontinuierliche Form ermöglicht N ietz­ sche, etwas Neuartiges zu leisten. In ähnlicher Art und Weise hatten sol­ che Formen die besonderen Leistungen von Hippokrates, La Roche­ foucauld und anderen vor ihm ermöglicht· Die formelle Geste der D is­ kontinuität lässt sich immer neu in die Gegenwart einschreiben, weil diese Geste einen Bruch mit der Vergangenheit ermöglicht. Nietzsche mag wieder ein Erster sein, weil er seine Verwendung der Kürze an den Prob22 Zu Nietzsches Verhältnis zur Tradition der Kurzformen siehe· Spicker, 181-204; Joel Westerdale· Nietzsche’s Aphoristic Challenge. Berlin 2013, v.a. S. 14-24. Siehe auch· Claus Zittel· Französische Moralistik. In· Henning Ottmann (Hg.)· Nietz­ sche Handbuch. Weimar 2011, S. 399-401; Martin Stingelin· Aphorismus. In· Ottmann, S. 185-187. Entsprechend dem üblichen akademischen Gebrauch spre­ che ich hier von Nietzsches Aphorismen, obwohl er seine kurzgefassten Texte nicht immer bzw. nicht nur so bezeichnet hat. 23 Friedrich Nietzsche· Götzen-Dämmerung. Sämtliche Werke. Kritische Studienaus­ gabe. Bd. 6. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 1999, S. 153. Hervorhebung im Original.

195

lemkomplexen seiner Zeit orientiert, aber er ist nicht der Erste, der genau das macht. Was also macht er mit dem Aphorismus, was jeder andere nicht gemacht hat? Dies lässt sich wiederum an seiner Darstellung von Übergängen zwischen Gesundheit und Krankheit zeigen. 1886 fügt Nietzsche seinem ersten Buch von Aphorismen eine Vor­ rede hinzu, in der er die Menschen beschreibt, denen Menschliches, Allzu­ menschliches gewidmet ist. Diese „freien Geister“ sind die Leser, die er sich wünscht, die aber noch nicht existieren. Nietzsche beschreibt die Entstehung freier Geister als einen Prozess, der als „Loslösung“ oder „Genesung“ zu verstehen ist.24 Die Veränderung von der Krankheit zur Gesundheit, die mich in diesem Artikel beschäftigt, ist also zentral für Nietzsche und wird in Hinblick auf das eigene Leben bzw. den eigenen Körper sowie in Hinblick auf Gesellschaften der Vergangenheit, Gegen­ wart und Zukunft problematisiert.25 Wie Hippokrates und La Roche­ foucauld stellt auch Nietzsche jene konventionelle Annahme, dass Über­ gange eindeutig und erkennbar sind, nachdrücklich infrage. Wie H ippo­ krates betont Nietzsche die Schwierigkeit, eine Veränderung von Krankheit zur Gesundheit zu realisieren. Wie La Rochefoucauld gibt Nietzsche die Täuschung preis, die Genesung und Rückfall allzu leicht mit einander verwechseln lässt. Nietzsche aber hat seine eigene Vorstellung davon, woraus ein ge­ sunder Zustand bestehe, und wie er zu erreichen sei. Er spricht von einer „Gesundheit, welche der Krankheit selbst nicht entrathen mag, als eines Mittels und Angelhakens der Erkenntnis“.26 Diese Verwicklung von Ge­ sundheit und Krankheit trägt zu einem geistigen Prozess bei, den N ietz­ sche hier folgendermaßen beschreibt: „bis zu jener reifen Freiheit des Geistes, welche ebensosehr Selbstbeherrschung und Zucht des Herzens ist und die Wege zu vielen und entgegensetzten Denkweisen erlaubt [...]“.27 Auf dem Weg der freien Geister gilt es also zu bedenken, dass es keine Genesung ohne Krankheit gibt, und hier stellt Krankheit einen An­ lass zur erweiterten Erkenntnis tiefliegender gesellschaftlicher Übel dar. Mit dieser Wegbeschreibung scheinen wir zunächst wieder in das progres­ sive Entwicklungsmodell zu geraten, von dem wir uns mit Hilfe von Kurzformen verabschieden wollten; doch ist die von Nietzsche beschrie­ bene Entwicklung gewiss keine lineare, die eine geordnete Entfaltung in eine von vorne her deutbare Richtung bezeichnen würde. Vielmehr geht

24 Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches I. Sämtliche Werke. Kriti­ sche Studienausgabe. Bd. 2. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Mün­ chen 1999, S. 15, 18. 25 Für einen Überblick dieses Themas in dem Werk Nietzsches siehe: Volker Caysa. Gesundheit/Krankheit. In: Ottmann, S. 243-244. 26 Nietzsche, Menschliches, S. 17. 27 Nietzsche, Menschliches, S. 18.

196

es um einen keineswegs gesicherten Prozess, der bei jeder Kurve Vielfalt und Gegensätzlichkeit im Denken erfordert. Dafür braucht es Übergänge, deren Form, Ausrichtung und Zusammenhang mit Vergangenem und Kommendem radikal offen bleiben. An dieser Stelle ist daran zu erinnern, dass die Vorrede zu Menschli­ ches Allzumenschliches nur eine angefügte Einrahmung des Buches be­ zeichnet. Die „eben geschilderte [...] Entwicklung“28 von freien Geistern bietet eine nachträglich entwickelte Antwort auf die Reaktionen von Kri­ tikern, die weder Form noch Inhalt der kurzen Texte richtig verstanden haben. Die Leser bzw. Gesellen, die Nietzsche sich wünscht, sollen ei­ gentlich keine verortende Einleitung oder umfassende Gliederung nötig haben, weil sie für sich selbst ohne roten Faden den Weg bzw. mehrere Wege durch die Texte sowie durch die eigene Entwicklung finden können und wollen.29 Denn für Nietzsche hängt die Möglichkeit zur Selbstverän­ derung von der Fähigkeit zum Perspektivwechsel ab. Auch darin unter­ scheidet Nietzsche sich von seinen Vorgängern. In den Aphorismen von Hippokrates ist die ärztliche Auseinandersetzung mit symptomatischer Mehrdeutigkeit eine praktische Notwendigkeit für die Behandlung des Patienten. In den Maximen von La Rochefoucauld lassen moralische Be­ obachtungen die verdeckten Wahrheiten des sozialen Lebens erkennen, indem sie Menschen in einem genaueren Licht zeigen. Nietzsches Apho­ rismen setzen eine Perspektivierung ein, die die Überprüfung der Bestän­ digkeit von Begriffen wie Gesundheit oder Wahrheit beansprucht und so dem Individuum Verantwortung für die Veränderlichkeit seines eigenen Zustands gibt. Betrachten wir dazu zwei Beispiele aus dem fünften Hauptstück von Menschliches Allzumenschliches, „Anzeichen höherer und niederer Kultu­ ren“. Zuerst: 286. Inwiefern der Thätige faul ist. - Ich glaube, dass Jeder über jedes Ding, über welches Meinungen möglich sind, eine eigene Meinung haben muss, weil er selber ein eigenes, nur einmaliges Ding ist, das zu allen anderen Dingen eine neue, nie dagewesene Stellung einnimmt. Aber die Faulheit, welche im Grunde der Seele des Thätigen liegt, verhindert den Menschen, das Wasser aus seinem eigenen Brunnen zu schöpfen. - Mit der Freiheit

28 Nietzsche, Menschliches, S. 22. 29 Joel Westerdale geht der Frage der Ordnung bzw. Unordnung in Bezug auf die Aphorismus-Forschung ausführlich nach und besteht darauf, dass sich aus einer Sammlung isolierter Aphorismen ein Widerstand gegen festgelegte Deutung ergibt. Dabei betont er sowohl die von Nietzsche an seine Leser übertragene Verantwor­ tung als auch die Spannung zwischen dieser Verantwortung und jenen Vorschriften für die adäquate Auslegung von Aphorismen, die Nietzsche 1887 in Zur Genealogie der Moral formuliert. Siehe „Chapter 4. An Anarchy of Atoms“ und „Chapter 5. An Art of Exegesis“. Westerdale, Challenge, S. 85-96 und 99-122.

197

der Meinungen steht es wie mit der Gesundheit: beide sind individuell, von beiden kann kein allgemein gültiger Begriff aufgestellt werden. Das, was das eine Individuum zu seiner Gesundheit nöthig hat, ist für ein anderes schon Grund zur Erkrankung, und manche Mittel und Wege zur Freiheit des Geistes dürfen höher entwickelten Naturen als Wege und Mittel zur Unfreiheit gelten.30

Nietzsche weist hier auf das hin, was jedem Individuum möglich ist, gleichzeitig aber auch auf das, was vielen Menschen im Weg steht. Als einmaliges Ding bin ich grundsätzlich fähig, oder gar verpflichtet, über je­ des überlegenswerte Ding eine eigene Meinung zu haben. Aber wenn ich mich zu den Tätigen zähle, ist mir auch die Faulheit eigen. Mit dieser Ver­ allgemeinerung fördert Nietzsche die Anerkennung, dass Tätigkeit und Faulheit keine einander ausschließende Gegensätze sind: Die erstere Ei­ genschaft kann die letztere eben ermöglichen, wenn die geübte Tätigkeit nicht die eigenen energiespendenden Ressourcen in Anspruch nimmt. Mit der Analogie zwischen Gesundheit und Freiheit der Meinungen betont er, dass individuelle Prozesse nicht mit allgemeinen Begriffen voranzutreiben sind. Das, was eine Person einen Schritt in die gewollte Richtung bringt, führt die andere Person einen Schritt zurück. Wie Hippokrates in seinen Aphorismen hervorgehoben hat, gibt es kein allgemein gültiges Rezept, sondern individuelle Fälle. Verantwortung für die eigene Behandlung überträgt Nietzsche also auf jeden Patienten. Will ich meine „neue, nie dagewesene Stellung“ einnehmen, muss ich selbst bestimmen können, was ich brauche, um gesund zu werden, oder frei zu meinen - und das heißt auch darüber eine Meinung zu haben, was für mich als Gesundheit oder Freiheit gilt. Auf die Frage, wie man herausfindet, was für einen selbst gesund ist, kommt Nietzsche in einem der nächsten Aphorismen indirekt zurück, und damit komme ich zum Schluss. Die Krankheit nämlich stellt diese Möglichkeit - oder wie oben formuliert den „Angelhaken zur Erkenntnis“ - dar: 289. Werth der Krankheit. - Der Mensch, der krank zu Bette liegt, kommt mitunter dahinter, dass er für gewöhnlich an seinem Amte, Geschäfte oder an seiner Gesellschaft krank ist und durch sie jede Besonnenheit über sich verloren hat: er gewinnt diese Weisheit aus der Musse, zu welcher ihn seine Krankheit zwingt.31

Die Krankheit, für die man krankgeschrieben wird, bietet auch eine ungenehmigte Gelegenheit, Bilanz zu ziehen über die schlimmeren Gesund­ heitsgefährdungen von routinemäßigem Amt, alltäglichen Geschäften und 30 Nietzsche, Menschliches, S. 233. Hervorhebung im Original. 31 Nietzsche, Menschliches, S. 234. Hervorhebung im Original.

198

üblicher Gesellschaft. Dass der Mensch diese Gelegenheit ergreift, ist nicht zwangsläufig der Fall, sondern er „kommt mitunter dahinter“. Das ist etwas anderes als der schnell vorübergehende „rechte Augenblick“ bei Hippokrates, in dem der Arzt das Erforderliche tun muss: Dieser Stel­ lungwechsel, den Nietzsche im Sinn hat, wird vom Nichtstun ermöglicht. Er findet in dem Moment statt, da der Kranke seine Tätigkeit abgebro­ chen hat und zu Bette liegt, um besser unter und hinter seinen beständi­ gen Tagesablauf einzusehen, dass er da „jede Besonnenheit über sich ver­ loren hat“. Diese Situation unterscheidet sich auch von der von La Roche­ foucauld beschriebenen Gefahr, dass eine Krankheit urplötzlich die Seele genauso wie den Körper einer scheinbar gesunden Person befallen kann. Bei Nietzsche ist es nicht die unerwartete Veränderung, die eine Gefahr darstellt, sondern vielmehr eine dauerhafte bzw. selbstgefällige Gesund­ heit, die jede Möglichkeit zur kritischen Betrachtung ausschließt. Von ei­ ner Krankheit erzwungene Muße gibt nicht nur die Zeit, nachzudenken, sondern auch die ungewöhnliche Perspektive, die man braucht, um eine Krankheit zu erkennen, die Teil des gewöhnlichen Lebens geworden ist. Erst aus dieser Erkenntnis entsteht die Möglichkeit, das Leben zu verän­ dern, auch wenn man noch keinen Schritt aus dem Bett gewagt hat. Ein Übergang, der mit einem Perspektivwechsel anfängt, ist also noch längst kein Ankommen an ein nächstes Ziel, sei es Gesundheit, Freiheit oder ein verändertes Leben. Mit dem chronologischen Aufbau der vorigen Diskussion gehe ich das Risiko ein, einen Schluss nahezulegen, der von meiner eigentlichen Absicht abweichen würde. Die nacheinander folgenden Beispiele von Hippokrates, La Rochefoucauld und Nietzsche könnten nämlich so ge­ deutet werden, dass sie untereinander eine Ordnung bilden - und sich zu einem Bild zusammensetzen, bei dem sich die Vorstellung von Übergän­ gen als Träger organischen Fortschritts mit einem Verständnis von Über­ gängen als Indizien einer genauso progressiven Bloßstellung des Men­ schen ersetzten ließe. Allerdings geht es bei allen drei Autoren genau da­ rum, durch die Diskontinuität von Kurzformen jede scheinbar eindeutige Ordnung zu hinterfragen und durch die Darstellung von Übergangen zwischen Krankheit und Gesundheit darauf zu bestehen, dass das Leben vielmehr von Unterbrechung und Umkehrung als von vorhersehbarem Ablauf geprägt ist. Aus dieser Konstellation von Texten ergibt sich tat­ sächlich die Herausforderung, den Begriff des Übergangs von jeder Er­ wartung des gesicherten Weiterkommens - aber auch des unausweichli­ chen Niedergangs - radikal zu entkoppeln, indem man die Möglichkeit der Veränderung im Leben eben als Möglichkeit erkennt und nicht als Notwendigkeit oder ausgemachte Sache. Für diejenigen von uns, die sich am nominellen Abschluss einer institutionell definierten Lebensphase fin­ den, kommt diese Herausforderung keinen Augenblick zu früh.

199

Alexandra Heimes

Dramen der Verkennung: Untergänge

[...] besonders Unglücks- oder Todesfälle ereigneten sich nur selten, ohne eine Weile vorher durch ihre Gedanken gehuscht zu sein.“ Sigmund Freud, D as Unheimliche

I. Paradoxien des Vorauswissens Die Untergänge, um die es hier gehen soll, stehen zum ,Übergang‘ in ei­ nem zweideutigen Verhältnis. Denn zur Diskussion steht ein Typus von Ereignis, der sich nicht allein durch ein böses Ende auszeichnet, sondern eine spezifische Komplikation aufweist: Es geht um solche Fälle, in denen sich das Unglück einerseits überraschend und scheinbar übergangslos er­ eignet, während sein Eintreten andererseits doch eine gewisse Folgerich­ tigkeit oder Zwangsläufigkeit nahelegt und möglicherweise sogar erwartet wurde. Ich möchte diese Struktur gleich zu Beginn mit einem - etwas buchstäblichen und fraglos sehr plakativen - Beispiel verdeutlichen: dem Untergang der Titanic, des seinerzeit größten Passagierschiffes weltweit, das während seiner Jungfernfahrt Richtung New York im April 1912 mit einem Eisberg kollidierte und im Atlantik versank. Es geht mir dabei we­ niger um die historischen Umstände und Folgen dieser Katastrophe, als um einen bestimmten Aspekt ihrer Wahrnehmung. Der Untergang der Titanic stellte einerseits ein Unglück von erschütternden Ausmaßen dar, das etwa 1500 Menschen das Leben kostete. Zum anderen besaß das Schiff, das danach als monströses Wrack auf dem Meeresboden überdau­ erte, bei seiner Fertigstellung alle Eigenschaften, um als Populärmythos in die Geschichte einzugehen: Der fast 270 Meter lange Passagierdampfer repräsentierte technischen Fortschritt und exklusiven Luxus; er brachte gesellschaftliche Eliten zusammen und hielt die 2. und 3. Passagierklasse von diesen fern. So formierte das Schiff eine Art Mikrokosmos, oder ge­ nauer, das idealisierte und zugleich rückständige Bild einer Welt, das mit den Ideologien des späten 19. Jahrhunderts mehr zu tun hatte als mit der Gegenwart der Vorkriegsgesellschaft.1 Folgt man der Einschätzung Slavoj Zizeks, so ging die allgemeine Be­ stürzung, die der Schiffbruch der Titanic auslöste, nicht allein auf den*

1

Vgl. dazu u.a. Steven Biel: Down with the Old Canoe. A Cultural History of the Titanic Disaster. New York; London 1996.

201

Schock der plötzlichen Katastrophe zurück. Sondern dieser Schock war zugleich auch derjenige einer bestätigten Vorahnung, die das Nicht­ Absehbare, kontingent Hereinbrechende in gewisser Weise erwartbar er­ scheinen ließ. Es wäre entsprechend nicht nur das Ausmaß der Katastro­ phe, das in einer breiten Öffentlichkeit Widerhall fand, sondern die Über­ determinierung an Sinn, mit der das Ereignis auf eine Gesellschaft am Übergang in eine neue, krisenhafte Epoche traf.2 Im Nachhinein, so könnte man sagen, nimmt der Schiffbruch die Struktur einer erfüllten Prophezeiung an, wobei es relativ unerheblich ist, inwiefern es tatsächlich mehr oder minder zutreffende Voraussagen des Unglücks gegeben hat. Von Interesse ist hier die paradoxe Logik eines Vorauswissens, das in dem Moment, in dem es sich bewahrheitet - also durch das Eintreten des Erwarteten bestätigt wird -, zugleich in seiner Gewissheit erschüttert wird. Nichts ist irritierender, schreibt der Philo­ soph Clément Rosset, als eine Prophezeiung, die sich tatsächlich erfüllt: A is announced, A happens, and we are lost, at least to some extent. Be­ tween the event such as it has been announced, and the event such as it was fulfilled, there is a kind of subtle difference that suffices to baffle the very person who has been expecting precisely that what he is witnessing. He recognizes it all right, but no longer recognizes himself in it.3

Das hier benannte Problem betrifft nicht die eminente Unwahrschein­ lichkeit von Vorauswissen und Erfüllung, sondern deren besondere epistemische Struktur. Das vorab schon Erwartete in der bzw. als Realität wiederzuerkennen, bringt demnach eine fundamentale Desillusionierung mit sich: Es lässt eine Wirklichkeit in Erscheinung treten, die differenzlos mit sich selbst koinzidiert, und die derart das illusionäre Bild zerreißt, das wir uns gewöhnlich von der Welt machen. Für gewöhnlich, so jedenfalls Rosset, sind wir einer solchen Illusion bedürftig - wir verdoppeln die Welt um ein Bild von ihr, das uns einen gewissen Spielraum oder Latenz­ schutz gewährt im Umgang mit dem, was wir sonst als „das Reale schlechthin“4 annehmen müssten. Selbst dann also, wenn wir uns wün­ schen, dass eine Voraussage wahrwerden möge, sind wir enttäuscht, wenn sie nicht doch minimal von dem abweicht, was wir erwartet haben.

2

3 4

202

Slavoj Zizek: Liebe Dein Symptom wie Dich selbst! Jacques Lacans Psychoanalyse und die Medien. Berlin 1991, S. 20ff. —Vgl. auch Eva Horn: Zukunft als Katastro­ phe. Frankfurt a.M. 2014, S. 303: „Das katastrophische Wissen von der Zukunft entsteht [...] immer über dem Abgrund eines Ereignisses, das man zugleich ge­ wusst und (doch) nicht erwartet hat.“ Clément Rosset: The Oracular Illusion. The Event and its Double. In: Ders.: The Real and its Double. Chicago 2012, S. 1—27, hier S. 19f. Clément Rosset: Das Reale in seiner Einzigartigkeit. Berlin 1995, S. 18.

Rossets Auffassung des „Realen“ mag fragwürdig erscheinen; sein epistemisches Konzept aber enthält eine Pointe, die sich produktiv wen­ den lässt. Denn ergiebig erscheint die These, dass die erfüllte Prophezei­ ung - erstens - als Chiffre einer epistemischen Spaltung zu lesen ist, sowie zweitens, dass das scheinbar entbehrliche und irreführende Verkennen da­ bei von konstitutiver Bedeutung ist. Gespalten ist das Vorauswissen, weil es in eins mit seiner Bestätigung auch grundlegende Irritation und Zweifel stiftet, und zwar im Hinblick auf die Verfasstheit des Wirklichen selbst. Indem es sich entzweit, initiiert dieses Wissen einen Übergang vom epis­ temischen zum ontologischen Register, der seinerseits erst durch das Verkennen ermöglicht und vermittelt wird; in einer Weise, die im Folgen­ den, mit und gegen Rosset, genauer zu betrachten ist. Die Verunsicherun­ gen des Wissens, wie er sie schildert, sind erklärtermaßen nicht einer Welt geschuldet, die von Kontingenzen durchdrungen und insofern ungewiss wäre. Wenn sich das Rosset’sche Reale dem erkennenden Zugriff entzieht, dann aufgrund seiner bei sich verschlossenen Einfachheit und Singularität, die als solche nur indirekt zu erschließen sind. Darin liegt dann auch die konstitutive Funktion des Verkennens: Es ist der notwendige Umweg zur richtigen Erkenntnis, denn erkennen zu müssen, dass das illusionäre Double der Welt nicht existiert, heißt umgekehrt auch zu erkennen, dass das Reale existiert.5 Nun lässt sich allerdings einwenden, dass gerade Rossets bevorzugtes Beispiel, die erfüllte Prophezeiung, eine andere Schlussfolgerung nahelegt, die diesen Perspektivenwechsel anders justiert. Das Irren und Verkennen wäre dann nicht lediglich die Folge jener unzureichenden Illusionen, die wir uns von der Realität machen; es stellt umgekehrt die Konsistenz die­ ser Realität selbst, ihre ontologische Abgeschlossenheit, zur Disposition.6 In diesem Sinn ließe sich gegenläufig zu Rossets „principle of sufficient reality“7 das Prinzip einer „insufficient reality“ ins Feld führen - das Prin­ zip einer Realität, die nicht vollständig bestimmt ist, die auf der anderen Seite aber auch nicht einfach als kontingent zu beschreiben ist. Um auf das Beispiel der Titanic zurückzukommen: Bemerkenswert ist, dass das Schiff, mit all seinen Insignien des Luxus und des Fort­ schritts, zu einem wirklichen Populärmythos erst dann wurde, als es un­

5

6

7

Ebd., S. 37. —In Anlehnung an die negative Theologie spricht Rosset hier von einer „negativen Ontologie“, der Überzeugung folgend, „daß ,man nur durch Blindheit sehen kann, nur durch Nichtwissen erkennen kann und nur durch Unvernunft ver­ stehen kann‘, wie Meister Eckart sinngemäß sagte“ (ebd., S. 38). Vgl. auch Alenka Zupancic: The Double and Its Relationship to the Real. In: Mar­ kus Klammer und Stefan Neuner (Hg.): Die Figur der Zwei. Zürich 2010, S. 94—99, hier S. 96. Clément Rosset: Reality and the Untheorizable. In: Thomas M. Kavanagh (Hg.): The Limits of Theory. Stanford 1989, S. 76—118, hier S. 78.

203

tergegangen war. Die symbolische Überfrachtung, die der Schiffbruch in der Folge erfahren hat, führt eine eigene Analytik des „katastrophischen Imaginären“8 mit sich: Indem man sich in der Katastrophe wiedererkennt - sie als Zeichen und Botschaft missversteht -, lässt man sie zum Prisma werden, durch das die eigene Gegenwart plötzlich anders entziffert und erkannt werden kann. Die Fäden dafür liegen alle schon bereit, doch erst der unerwartete, völlig kontingente und inkommensurable Vorfall schafft die Bedingungen, sie zusammenzuführen und auf diese Weise so etwas wie Notwendigkeit zu erzeugen.9 Das gesunkene Schiff wird so, qua Ver­ kennung, zum entscheidenden Knotenpunkt, der das Feld der gegebenen Realität neu strukturiert. Denn nicht allein die kollektive Wahrnehmung, die Realität selbst scheint ein anderes Gepräge erhalten zu haben. Es ist dieser eigentümliche, objektivierende Effekt der Verkennung, dem ich im Folgenden weiter nachgehen möchte. Dabei geht es vor allem um die spezifische Form von Kausalität, die hier am Werk ist und die an­ hand von modernen Konfigurationen des Tragischen bzw. des ,Schicksals‘ erhellt werden soll.101Es folgt zunächst ein Blick auf Walter Benjamin, der den Begriff des Schicksals als eine zeitdiagnostische Kategorie der Moder­ ne reformuliert hat. Diesen Begriff möchte ich anhand von Benjamins Aufsatz über Goethes Die Wahlverwandtschaften diskutieren, einem Ro­ man, der den „Schiffbruch [...] auf dem festen Lande“11 in Szene setzt. Gleichermaßen soll auch der Roman selbst herangezogen werden: Denn während Benjamin das schicksalhafte Verkennen als ein Problem falschen Bewusstseins auffasst, das er gegen ein selbstbestimmtes Dasein in Frei­ heit stellt, wird dieser Dualismus, wie gezeigt werden soll, bei Goethe un­ terlaufen. Augenfällig an den Wahlverwandtschaften ist nicht allein der Umstand, dass die Romanfiguren sich in beständigen Fehleinschätzungen ihrer Realität ergehen, sondern dass ihre Verkennungen selbst wiederum auf diese Realität zurückwirken. Was der Roman als ,Schicksal‘ in Szene setzt, wäre insofern weniger als ein unverfügbarer Determinismus zu be­

8 Horn, Zukunft als Katastrophe, S. 255. 9 Vgl. Zizek, Liebe Dein Symptom, S. 29f. 10 Schicksal meint dabei zunächst nichts anderes als die Verbindung von Einzelhand­ lungen zu einem stimmigen und notwendigen Folgezusammenhang. Eben dies be­ sagt auch die aristotelische Konzeption: Anhand der Gefügtheit —der „Zusammen­ fügung der Geschehnisse“ — in der Tragödienhandlung entwirft sie ein Muster dramatischer Konsistenzbildung, das eine ihr eigene Kausalität und damit Schicksal impliziert. Siehe Aristoteles: Poetik. Hg. und übersetzt von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 2005, S. 25f. Vgl. dazu Anselm Haverkamp: Medea, Dea ex Machina. Aristoteles über Euripides. In: Lore Hühn und Philipp Schwab (Hg.): Die Philoso­ phie des Tragischen: Schopenhauer —Schelling —Nietzsche. Berlin 2011, S. 143— 154, hier S. 147f. 11 Johann Wolfgang von Goethe: Die Wahlverwandtschaften. In: Werke. Hamburger Ausgabe [HA]. Bd. 6. München 1982, hier S. 428.

204

greifen, denn als ein kausaler Zusammenhang, dem das subjektive Ver­ kennen gleichsam implementiert ist.

II. Schicksal in der Moderne: Walter Benjamin über Die Wahlverwandtschaften Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts gewinnen Spielarten einer Meta­ physik des Tragischen an Boden, die Begriffe wie „Tragik“ und „Schick­ sal" für eine konservative bis reaktionäre Modernekritik dienstbar ma­ chen. Diese Apologien eines unverfügbaren, von höheren Mächten be­ stimmten Weltlaufs hat Walter Benjamin einer weitreichenden Kritik unterzogen. Zugleich hat er seinerseits einen spezifischen Bezug zwischen Schicksal und Moderne hergestellt: Namentlich den Schuldzusammen­ hang des natürlichen Lebens, seine Verfallenheit an eine mythische, scheinbar vorgeschichtliche Natur, deren paradigmatische moderne In­ stanzen das Recht und der Kapitalismus darstellen.12 Gegen eine „ge­ schichtsfremde Metaphysik“,13 die das Schicksal zu ihrem raunenden O ra­ kel macht, wendet Benjamin den Begriff zum Symptom jener „homoge­ nen und leeren Zeit“,14 als die er den Fortschritt - das eigentliche ideologische Substrat der Moderne - charakterisiert. In Benjamins Analyse von Goethes Wahlverwandtschaften, entstan­ den zwischen 1919 und 1922,15 wird der Roman von 1809 zu einer Art Testfall, der die Errungenschaften moderner Rationalität mit der ihnen immanenten, persistierenden Macht von schicksalhafter Verstrickung konfrontiert. Für eine solche Betrachtung bietet sich Goethes Text in der Tat an: Das Geschehen ist im historischen Kontext der Reformprozesse angesiedelt, die im frühen 19. Jahrhundert den modernen Verwaltungs­ staat auf den Weg bringen, und es exponiert diesen Übergang als krisen­ hafte Zersetzung aller Ordnungsmuster, die das individuelle und soziale Leben organisieren. Dabei liegt eine zentrale Provokation des Romans da­ 12 Vgl. Werner Hamacher: Schuldgeschichte. Benjamins Skizze Kapitalismus als Reli­ gion. In: Dirk Baecker (Hg.): Kapitalismus als Religion. Berlin 2004, S. 77-120. — Ich beschränke mich hier auf die Auffassung, die sich im Kontext von Benjamins Arbeiten der späten 1910er Jahre herausbildet. Zu Benjamins Auseinandersetzung mit dem Schicksalsbegriff insgesamt vgl. Lorenz Jäger: Schicksal. In: Michael Opitz und Erdmut Wizisla (Hg.): Benjamins Begriffe. Bd. 2. Frankfurt a.M. 2000, S. 725— 739. 13 Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. In: Gesammelte Schriften [GS]. Bd. I.1. Frankfurt a.M. 1991, S. 203—430, hier S. 291. 14 Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: GS I.2, S. 691—704, hier S. 704. 15 Vgl. Walter Benjamin: Goethes Wahlverwandtschaften. In: GS I.1, S. 123—201. Der Text wurde 1924/25 erstmals publiziert.

205

rin, dass er einerseits einen weitgehend handlungsarmen und beinahe un­ motivierten Ablauf schildert, diesen jedoch zugleich mit aller Konsequenz auf den Untergang zusteuern lässt - ohne dass sich dies auf einsehbare Gründe, etwa auf schwere Vergehen des Romanpersonals, zurückrechnen ließe. Der Roman lässt bekanntlich vier Figuren - die Eheleute Charlotte und Eduard, sowie deren Gäste, den Hauptmann und Charlottes Nichte Ottilie - auf einem adligen Landgut zusammenkommen; die Neuordnung ihrer amourösen Bindungen, überfällig genug, steht unmittelbar ins Haus. Eduard und Ottilie sind schnell in wechselseitiger Liebe entflammt, zwi­ schen Charlotte und dem Hauptmann bahnt sich eine stille, aber innige Zuneigung ihren Weg. Das berühmte „chemische Gleichnis“, das das Figuren-Quartett mit chemischen Elementen analogisiert, stellt diese Ver­ wicklungen in das sterile Licht einer Laborsituation, in der die unbefragbare, unzweideutige Macht naturgesetzlicher Attraktionen zu regieren scheint.16 Doch anstelle der konstant ausgewogenen Verhältnisse, die das Gleichnis suggeriert, verzeichnet die Bilanz des Romans eine Zerrüttung von tragischen Ausmaßen: Die unschlüssig verfolgten Pläne der Figuren sind gescheitert und das erhoffte Liebesglück nie eingetreten; zwei der Protagonisten sowie das in der Zwischenzeit geborene, rätselhafte Kind O tto sind gestorben; Charlotte und der Hauptmann schließlich, die der Roman überleben lässt, bleiben am Ende wie „Schatten in der Vorhölle“17 zurück. Zugleich bleibt der Text es schuldig, diesem katastrophischen Ausgang eine narrative Plausibilität zu geben. Stattdessen handelt er über weite Strecken von kontingenten und eher belanglosen Begebenheiten man kümmert sich um Schloss und Park, empfängt Gäste und führt zwanglose Gespräche. Dabei lässt man sich von Gewohnheiten ebenso lei­ ten wie von Zufällen oder den jeweiligen Launen. Nachdem die beiden Gäste, Ottilie und der Hauptmann, in das Schloss eingezogen sind, hat man Laune zu umfassenden Umbau- und Modernisierungsarbeiten: Mit Hilfe vor allem des sachkundigen Hauptmanns werden der Park und seine Seen umgestaltet, ein neues Gebäude wird errichtet sowie die gesamte ökonomische Einrichtung des Landguts auf den aktuellen frühkapitalisti­ schen Stand gebracht.18 Dass es ein unheilvolles Schicksal ist, das über die Romanwelt regiert, hat kaum jemand so nachdrücklich herausgestellt wie Benjamin. Sämtliche Vorkommnisse, so Benjamin, alle Schauplätze und selbst noch einzelne Gegenstände sind von einer „verborgene [n] Macht“19 durchdrungen, die 16 Vgl. Goethe, Die Wahlverwandtschaften, S. 270-277. 17 Benjamin, Goethes Wahlverwandtschaften, S. 188. 18 Siehe dazu Joseph Vogl: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Men­ schen. Zürich; Berlin 2004, S. 289ff. 19 Benjamin, Goethes Wahlverwandtschaften, S. 133.

206

dem Roman von Beginn an seinen untergründigen, unaufhaltsam katastrophischen Zug einzeichnet. Getragen wird dieser Zug durch ein weit­ gespanntes N etz „vorverkündender“20 Momente, das alles Tun der Figu­ ren überschattet und selbst noch ihre Anstrengungen, das gemeinsam be­ wohnte Anwesen herzurichten, zu einem implizit unheilvollen Geschehen werden lässt: „So rückt hier im Maße wie das Haus vollendet wird das Schicksal nah. Grundsteinlegung, Richtfest und Bewohnung bezeichnen ebenso viele Stufen des Unterganges.“21 Was immer die Figuren unter­ nehmen, um den Übergang zu einer neuen und besseren Zukunft herzu­ stellen, wird unter der Hand zu einem weiteren Schritt in bodenloses Un­ heil. Sinnfällig kontrastiert Benjamin den festen Grund, den die Figuren in jeder Hinsicht verfehlen, mit dem archaischen Element des Wassers, das schließlich ihr Zugrundegehen herbeiführt.22 Die Verfallenheit an eine mythische Natur indessen, in seinen Augen der Keim des Schicksals, ist nicht allein den Täuschungen des Romanpersonals geschuldet. Ihnen kor­ respondiert eine Durchdringung von Mythos und Rechtsnorm, wie sie hier in der Institution der Ehe bzw. in deren Verfall zutage tritt. Dass die Ehe zwischen Charlotte und Eduard zusehends verfällt, anstatt zur rech­ ten Zeit aufgelöst zu werden, setzt demnach die mythischen Gewalten frei, die dem Recht per se innewohnen.23 Wenn also der Roman keinerlei große Taten oder Fehler erkennend lässt, die unmittelbar tödliche Konse­ quenzen erwarten ließen, so zeigt sich Benjamin zufolge in genau diesem Missverhältnis das moderne Gesicht des hier waltenden Schicksals, oder mehr noch seine abstrakte Gesichtslosigkeit: Das Schicksal lauert in den Fugen der aufgeklärten Rechts- und Sozialstaatlichkeit, die das Leben des Einzelnen unhintergehbar einfasst und konditioniert. Die Protagonisten des Romans jedoch, versunken in die Schein-Autonomie ihrer privaten, hermetischen Welt, lassen sich von diesen Strukturen nur insoweit betref­ fen, als ihre jeweiligen Interessen es erfordern. Unter diesen Vorzeichen präsentiert sich das Leben auf dem Lande zunächst als ein idyllischer Bil­ 20 Ebd., S. 135 21 Ebd., S. 139. 22 Uber die Umgestaltung der Seenlandschaft im Park heißt es: „Das Wasser als das chaotische Element des Lebens droht hier nicht in wüsten Wogen, das dem Men­ schen den Untergang bringt, sondern in der rätselhaften Stille, die ihn zu Grunde gehen lässt. Die Liebenden [Eduard u. Ottilie] gehen, soweit Schicksal waltet, zu Grunde. Sie verfallen, wo sie den Segen des festen Grundes verschmähen, dem Un­ ergründlichen, das im stehenden Gewässer vorweltlich erscheint. Buchstäblich sieht man dessen alte Macht sie beschwören. [...] In alledem ist es die Natur selbst, die unter Menschenhänden übermenschlich sich regt. [...] Die Menschen selber müssen die Naturgewalt bekunden. Denn sie sind ihr nirgends entwachsen.“ (Ebd., S. 133). 23 Ebd., S. 130f.

207

derbogen, dessen lockere, episodische Reihung sich als fortschreitender Untergang erst noch offenbaren muss. Derweil, so der Roman, „scheint [alles] seinen gewöhnlichen Gang zu gehen, wie man auch in ungeheuren Fällen, wo alles auf dem Spiele steht, noch immer so fortlebt, als wenn von nichts die Rede wäre.“24 Das unmerklich waltende Schicksal tritt spätestens dann hervor, als das Kind O tto bereits wenige Monate nach seiner Geburt zu Tode kommt. Der kleine O tto - legitimer Sohn der Eheleute Eduard und Char­ lotte, der das Pfand auf die Zukunft hätte sein können - ertrinkt, als O tti­ lie, seine liebevolle „Pflegerin“25, ihn bei einer Kahnfahrt versehentlich in den See fallen lässt. Ottos Existenz, die eine von Beginn an verworfene ist, wird derart zum Brennpunkt des gesamten schicksalhaften Schuldzusam­ menhangs. O tto wird gezeugt, als die Eheleute aus Versehen des Nachts aufeinandertreffen und imaginär vor allem mit ihren jeweiligen Geliebten, mit Ottilie und dem Hauptmann, beschäftigt sind.26 Das kuriose Resultat dieser Nacht ist, dass das hier entstandene Kind, seinen leiblichen Eltern zum Trotz, das Aussehen von deren imaginären Partnern geerbt hat.27 Anstatt sich in die familiäre Erbfolge einzureihen, treten in Ottos Exis­ tenz die symbolische und biologische Reproduktion des Lebens vor aller Beteiligten Augen auseinander: Das Kind wird zur unmöglichen Verkör­ perung einer „Divergenz von physis und nomos“, die zurückverweist auf die Gebrechlichkeit einer Welt, in der „die Satzung des Rechts und die Setzungskraft des Wortes gleichermaßen versagen“.28 Nach Benjamins Ansicht ist es der Rückfall in einen Zustand der my­ thengläubigen Verblendung, durch den sich die Figuren, blind in ihren Leidenschaften verfangen, zum willfährigen Handlanger jener morschen Einrichtung machen. So zeigt nicht erst der Tod, sondern die bloße Exis­ tenz des Kindes die schuldhafte Verstrickung an, die das Romanpersonal längst schon eingegangen ist: Als ein „Geschöpf der Lüge“ ist O tto dem­ nach bereits qua Zeugung und Geburt „zum Tode verurteilt“, da „es ganz der Schicksalsordnung entspricht, wenn das Kind, das neugeboren in sie eintritt, nicht die alte Zerrissenheit entsühnt, sondern deren Schuld erer24 25 26 27

Goethe, Die Wahlverwandtschaften, S. 331. Ebd., S. 425. Vgl. ebd., S. 321. Dies schildert der Roman in der Szene, in der die —ihrerseits von Zwischenfällen durchkreuzte —Taufe des Jungen bevorsteht: „Die Feier des Taufakts sollte wür­ dig, aber beschränkt und kurz sein. [...] Das Gebet war verrichtet, Ottilien das Kind auf die Arme gelegt, und als sie mit Neigung auf dasselbe heruntersah, er­ schrak sie nicht wenig an seinen offenen Augen; denn sie glaubte in ihre eigenen zu sehen [...]. Mittler, der zunächst das Kind empfing, stutzte gleichfalls, indem er in der Bildung desselben eine so auffallende Ähnlichkeit, und zwar mit dem Hauptmann, erblickte, dergleichen ihm sonst noch nie vorgekommen war.“ (Ebd., S. 421). 28 Vogl, Kalkül und Leidenschaft, S. 299 u. 297.

208

bend vergehen muss.“29 In diesem Sinn hat auch das augenscheinlich harmlose Dahintreiben des Romangeschehens alle Unschuld verloren. Anstatt ihr Geschick durch „Entschluß und Handlung” selbst in die Hand zu nehmen, verspielen die Figuren es, wie Benjamin ihnen vorrechnet, durch „Säumen und Feiern”.30 All ihr planloses Tun stellt nicht lediglich ein beständiges Verfehlen und Unterlassen dar, sondern schuldhaftes Ver­ säumnis. Dass ihre Absichten selbst dann scheitern, wenn sie, wie Eduards Liebe zu Ottilie, mit aller Leidenschaft angegangen werden, liegt demnach an genau dieser falschen Alternative von Antriebsarmut und leidenschaft­ licher Hingabe. Beiden, so Benjamin, fehlt das Moment der Entscheidung und der entschlossenen Tat, die über eine bloße Wahl hinausgehen würden - dies macht das Versäumnis zu einem schuldhaften.31 Und schicksalhaft ist diese Schuld, weil sie zutiefst zweideutigen Prämissen unterliegt: Denn das Schicksal bestraft nicht für begangene Untaten, es verurteilt allererst zur Schuld.32 Somit ist jede Regung, die die Figuren unternehmen, der unauf­ lösbaren Ambivalenz bzw. „dämonischen Zweideutigkeit“ unterstellt, die Benjamin zufolge die Ordnung des Schicksals im Kern ausmacht. Das Dämonische stellt „das vage Zeichen einer Unentschiedenheit und Ungeschiedenheit“ dar, „in der der Mensch sich seiner Freiheit - der Freiheit, die allein in der Entscheidung liegt - noch nicht versichert hat“33 und sich stattdessen einer heteronomen, mythischen Gewalt überantwortet. Benjamin liefert hier die Konzeption einer genuin modernen Form des Schicksals. Anders als in der antiken Tragödie, die den tragischen Konflikt an einen vorausliegenden Mythos bindet und seine Folgen als unausweichliches Verhängnis auftreten lässt, tritt diese Rückbindung in der Neuzeit bzw. Moderne zurück, um den Konflikt als einen geschichtli­ 29 Benjamin, Goethes Wahlverwandtschaften, S. 138. —Die Möglichkeit einer Ent­ sühnung und damit der Auflösung des Banns hat Benjamin dem tragischen Schick­ sal, im Unterschied zum mythischen, vorbehalten. Entsprechend besitzt Goethes Roman für ihn einen entschieden untragischen Charakter (vgl. ebd., S. 177). Dass Benjamin diese Einschätzung daran bindet, wie der Roman ausgeht, ist dem hegeli­ anischen Erbe seiner Auffassung des Tragischen geschuldet. Als tragisch kann der Untergang des Helden nur dann gelten, wenn dieser zuvor den Teufelskreis seiner Verstrickung zu durchbrechen vermag, was zwar ihn selbst nicht mehr retten wird, wohl aber seine Nachwelt. Vgl. dazu Eva Geulen: Das Ende der Kunst. Lesarten ei­ nes Gerüchts nach Hegel. Frankfurt a.M. 2002, S. 94ff. 30 Benjamin, Goethes Wahlverwandtschaften, S. 139. 31 Vgl. ebd., S. 189. —Benjamins strikte Entgegensetzung von Entscheidung und blo­ ßer Wahl hat Spekulationen über eine strukturelle Nähe zum Schmitt’schen Dezi­ sionismus provoziert. Zur Kritik dieses Arguments vgl. Christoph Menke: Recht und Gewalt. Berlin 2011, S. 63 f. 32 Schicksal, so Benjamin, „zeigt sich [...] in der Betrachtung eines Lebens als eines Verurteilten, im Grunde als eines, das erst verurteilt und darauf schuldig wurde.“ Walter Benjamin: Schicksal und Charakter. In: GS II.1, S. 171—179, hier S. 175. 33 Hamacher, Schuldgeschichte, S. 94.

209

chen auszuweisen - als einen sowohl historisch bestimmten, als auch sei­ nerseits den Stand des Historischen bestimmenden. Wie Benjamin zeigt, heißt das nicht, dass ,Geschichte’ jene mythische Gewalt überwunden hätte - sie lässt sie zurückkehren als „zweite Natur“: als eine Verselbständigung etwa der politisch-rechtlichen Sphäre, deren Gewalt darin besteht, „als wie das - Schicksal zu wirken“.34 Das Schicksal im modernen Sinn mar­ kiert demnach jene Wendung, durch die das Normative selbst von natur­ hafter Gewalt, und seine praktische Notwendigkeit vom Kontingenten ununterscheidbar wird. Was sich in diesem Horizont als Fortschritt aus­ gibt, ist nichts als die „ewige Wiederkunft alles Gleichen“35, die bloße Aufrecht- bzw. Selbsterhaltung des Bestehenden um seiner selbst willen. Fraglich aber ist, ob die intrikate Verstrickungslogik, als deren Chiff­ re das Schicksal firmiert, damit erschöpfend beschrieben ist. Mit Benjamin lässt sich eine prägnante Aktualisierung dieser Chiffre gewinnen, die sie an die abstrakte Gegebenheit von quasi-naturhaften, für sich selbst blin­ den Gesetzen rückbindet. Zugleich aber fußt sie auf einem Dualismus von Mythos und Freiheit, der möglicherweise zu kategorisch ausfällt. Benja­ min schildert einen in sich geschlossenen Kreislauf der Wiederholung, der der subjektiven Erfahrung vorausliegt und sie mit Ohnmacht und passiver Verfallenheit schlägt - letztlich also die Totalität einer Immanenz, die als entfremdete Substanz des Sozialen über die Innerlichkeit von Menschen verfügt, die selbst wiederum erst im letzten Moment ihres marionetten­ haften Daseins gewahr werden.36 So verstanden, meint Schicksal eine zwar diesseitige, aber abstrakte Gewalt, die wesentlich negativ und exkludierend auf das menschliche Leben bezogen ist. In Goethes Roman jedoch wird, gegenläufig zu diesem Szenario von Privation, Mangel und Verfall, eine andere Kräftekonstellation ablesbar, die zudem ein Licht darauf wirft, inwiefern die Figuren selbst in die Konstitution der schicksalhaften O rd­ nung investieren. Das wirklich Fatale in den Wahlverwandtschaften, so wä­ re zu zeigen, besteht weniger in der schlechten Unendlichkeit einer nicht überwundenen Naturverfallenheit; vielmehr besitzt das notorische Ver­ kennen, wie der Roman es vorführt, eine positive ontologische Dimensi­ on. Anstatt an den realen Gegebenheiten einfach vorbei zu zielen, werden die Verfehlungen der Figuren als - freilich unabsehbare - Intervention in die materielle Realität wirksam. Sie zeitigen manifeste und irreversible Ef­

34 Menke, Recht und Gewalt, S. 52 (Hervorhebung im Text, A.H.). 35 Benjamin, Goethes Wahlverwandtschaften, S. 137. 36 Vgl. in diesem Sinne auch Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a.M. 1996, S. 18: „Das Prin­ zip der Immanenz, der Erklärung jeden Geschehens als Wiederholung, das die Aufklärung wider die mythische Einbildungskraft vertritt, ist das des Mythos sel­ ber [...]; die Sanktion des Schicksals, das durch Vergeltung unablässig wiederher­ stellt, was je schon war.“

210

fekte, sodass die Weise, in der sich die Figuren erkennend und verken­ nend auf ihre Außenwelt beziehen, dieser selbst nicht äußerlich sein kann. Damit stellt sich auch die Zurechenbarkeit von Schuld weit weniger eindeutig dar, als Benjamin es nahelegt. Zwar lässt der Roman eine ganze Parade an individuellen Missgeschicken und Versäumnissen aufziehen, die in der Gesamtschau allesamt ihren Beitrag zur Bahnung des Unheils leis­ ten. Doch keines davon kann als entscheidender Fehler gelten - auch nicht die „Nachlässigkeit“37 Ottilies, die den Tod des Kindes zur Folge hat -, sodass Scheitern und Schuld, überhaupt die entscheidenden Etap­ pen des Ablaufs keineswegs klar zu lokalisieren sind. Das aber heißt nicht, dass die Figuren alle Handlungsmacht an das Performativ eines anonymen ,Waltens’ abgetreten hätten. Eher zeichnet sich ab, dass der Text jeglichen Dualismus von selbstbestimmten Vermögen und fremdbestimmenden Kräften konsequent untergräbt. Tragisches Unheil, so ließe sich sagen, findet allemal statt, doch es handelt sich um eine Katastrophe im Auf­ schub, die umwegig und retardierend verläuft, und dabei um Übergänge, die sich ihrerseits in der Schwebe von Hemmung und Potenzierung des Geschehens halten.

III. Positivität des Verkennens Benjamins Analyse ist darin überzeugend, dass sie das dämonische Walten aus dem Geflecht der krisenhaften gesellschaftlichen - sozialen, normati­ ven, institutionellen - Beziehungen hervorgehen sieht, in denen die Ro­ manwelt mehr oder minder sichtbar eingebettet ist. In der Immanenz die­ ser Welt befangen zu sein, heißt gleichwohl nicht, sich einer übermächti­ gen, letztlich prädeterminierenden Gewalt ausgeliefert zu sehen, die sich der subjektiven Sphäre von außen bemächtigen würde. Während Benja­ mins Schicksal den Subjekten als renaturalisierte, „vollendete Faktizität der historischen Dinge“38 entgegentritt, scheint Goethe es gerade auf eine wesentliche Unbestimmtheit abgesehen zu haben, die dieser Faktizität in­ newohnt: Auf eine ontologisch inkonsistente Textur des Wirklichen, die Schicksal dort produziert, wo sie mit dem seinerseits inkonsistenten Wis-

37 So die Bezeichnung von W. Menninghaus, der darauf hinweist, dass „in der Gesam­ tökonomie des Werkes“ auch diese Fehlleistung notwendig dämonischen Charak­ ter annimmt. Demnach wird Ottilie ohne Wissen und Absicht zur Agentin des Schicksals, sie ist „nur die Erfüllungsgehilfin, nicht aber der Grund“ für die ab­ schüssige Bahn der Entwicklung. Vgl. Winfried Menninghaus: Schwellenkunde. Walter Benjamins Passage des Mythos. Frankfurt a.M. 1986, S. 84. 38 Walter Benjamin: ,Es mayor monstruo, los celos‘ von Calderon und ,Herodes und Mariamne‘ von Hebbel. Bemerkungen zum Problem des historischen Dramas. In: GS II.1, S. 246-276, hier S. 269.

211

sen der Figuren eine gleichsam kurzschlüssige Verbindung eingeht. Kau­ salität ist dabei keineswegs außer Kraft gesetzt, doch es tritt ein anderes, supplementierendes Moment hinzu, das in die bruchlose Verknüpfung der Ursachen und Wirkungen interveniert. Die dämonische Zweideutigkeit, die Benjamin als die Signatur des Schicksals ausweist, ließe sich in diese Richtung umdeuten. Sie wäre dann der Index einer Ordnung des Seins, in der der Abstand zwischen fakti­ scher’ und ,erkannter’ Wirklichkeit zu einer Frage der inneren Beschaf­ fenheit dieser Wirklichkeit selbst wird. Subjektives Erkennen und objekti­ ve Außenwelt treten hier in eine Binnenrelation, die in die materiellen Phänomene selbst, als erkannten und im selben Zug verkannten, einge­ senkt ist. In einer so verstandenen Immanenz gibt es zwar kein Jenseits der Phänomene, allerdings auch keine Wirklichkeit, die mit sich selbst identisch wäre und so der Gegenstand einer im klassischen Sinn wahr­ heitsfähigen Erkenntnis werden könnte.39 Dass die Welt stets nur bedingt erkennbar ist - also notwendig Verkennungen entstehen lässt -, ist daher nicht allein den begrenzten menschlichen Kapazitäten geschuldet. Sie ist das strikte Korrelat einer in sich ,löchrigen’ Konfiguration, die das unab­ sehbare Enthaltensein des eigenen Selbst in der erfahrenen Wirklichkeit anzeigt. Was Goethes Roman verhandelt, ist die alltägliche oder auch dramatische Tatsache, dass in jedem „Gezählten ein Zählendes schon da ist“40, als eine Form der Selbstimplikation, die hier als schicksalhafte Ver­ strickung ausbuchstabiert wird. Augenfällig im Roman ist zunächst der Zerfall der tradierten sozialen Rituale, wie Grundsteinlegung und Richtfest des neuen Gebäudes oder die Taufe des Jungen, die der Reihe nach spektakulär misslingen und so die fundamentale Zersetzung anzeigen, die die rechtlichen und die symbo­ lischen Institutionen erfasst hat.41 Gleichermaßen jedoch sind es die un­ scheinbaren Bagatellen des häuslichen Alltags, in die der Text den Schau­

39 Es handelt sich um die Struktur einer säkularisierten Immanenz oder auch der „immanenten Transzendenz“. Vgl. Eric L. Santner: Zur Psychotheologie des All­ tagslebens. Betrachtungen zu Freud und Rosenzweig. Zürich; Berlin 2010, S. 19: „Der ,Tod Gottes‘ ist zu einem Gutteil genau dies: der Tod dieses Anderswo, die­ ses ,Jenseits‘ des Lebens, das irgendwie ,höher‘ oder wirklicher wäre als dieses Le­ ben. Was sowohl Freud als auch Rosenzweig zu begreifen helfen, ist, dass mit dem ,Tod Gottes‘ die ganze Problematik der Transzendenz tatsächlich viel stärker auf das Alltagsleben einwirkt. Was mehr als Leben ist, entpuppt sich aus der postnietzscheanischen Perspektive als immanent im und konstitutiv für das Leben selbst.“ 40 Jacques Lacan: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar Buch XI. Olten, Freiburg 1978, S. 42. 41 Vgl. dazu David Wellbery: ,Die Wahlverwandtschaften’. In: Paul Michael Lützeler und James E. McLeod (Hg.): Goethes Erzählwerk. Interpretationen. Stuttgart 1991, S. 291-319.

212

platz seiner katastrophischen Entwicklung verlegt. In dem Maße, wie die heimische Welt aus den Fugen gerät, nimmt sie für die Figuren zeichen­ haften und dabei „ahnungsvollen“42 Charakter an, der den Weltbezug ei­ genen Tuns undurchsichtig werden lässt. Insbesondere der abergläubische Eduard zeichnet sich dadurch aus, das eigene Handlungsvermögen be­ ständig an eine höhere, alle Kontingenz absorbierende Fügung zu delegie­ ren - die freilich das hier waltende Schicksal gerade nicht ist. An einem gläsernen Trinkbecher etwa, der sich seit langen Jahren unbeachtet im Haushalt befindet, wird Eduard plötzlich sehend für die eingravierten Buchstaben „E“ und „O “ : In seinen Augen ein unmissverständliches Ora­ kel, das seine Liebe zu Ottilie mit übersinnlicher Providenz ausstattet. Doch es handelt sich um die Initialen seines eigenen Namens, die den selbstgewählten Rufnamen, Eduard, und seinen Taufnamen zusammen­ führen; letzterer wiederum ist, wie bei allen Protagonisten des Romans, O tto.43 Die eklatante Willkür indessen, die an Eduards Zeichengläubigkeit besonders hervorstechen mag, unterscheidet sich ihrer Struktur und ihren Effekten nach kaum von den Sprechakten der anderen Figuren - sei es, dass diese ihrerseits zum Aberglauben neigen,44 oder - schlimmer - dass es in der Bilanz keinen Unterschied macht, ob Vernunft oder Irrglauben das eigene Reden und Tun beherrscht. Das Erschreckende dabei ist weni­ ger, dass die Signifikanz der Begebenheiten sich in vollendeter Beliebig­ keit verlieren würde, sondern die Weise, in der sie sich unter der Hand zu wirksamen Verkettungen reorganisiert. Nicht die Frage, inwieweit die einzelnen Sprechakte die Wahrheit verfehlen oder letztlich doch einen wahren Kern enthielten, ist hier ausschlaggebend, sondern dass sie qua Verkennung zum Konstituens des Wahren werden, dass sie also im buch­ stäblichen Sinn wahr-machen.45

42 Vgl. Goethe, Die Wahlverwandtschaften, u.a. S. 464, S. 466. 43 Auch der Hauptmann heißt mit Vornamen Otto, bei den Frauennamen wurde der Wortstamm jeweils abgewandelt. Eduard hatte in seiner Jugend entschieden, dass ihm „der Name Eduard besser gefiel, wie er denn auch von angenehmen Lippen ausgesprochen einen besonders guten Klang hat.“ (Ebd., S. 259). 44 Auf ihre Weise folgt auch die besonnene Charlotte einer ausgeprägten Neigung, bereits in einer „seltsamen Zufälligkeit eine Fügung des Himmels“ zu erkennen (ebd., S. 358). 45 In einem spezifischen Sinn ist das so instantiierte Wahre fiktional strukturiert; vgl. Alenka Zupancic: Ethics of the Real. Kant, Lacan. London; New York 2000, S. 64 f.: „[T]ruth is to be situated on the level of articulation of the signifiers as such, and not on the level of the relationship between signifiers (‘words’) and things as simply exterior to them. It is precisely this ‘lack of externality’, the non­ existence of a limit, which accounts for the fact that the truth has [...] the struc­ ture of a fiction, and that it is ‘not-whole’ (pas-toute). Yet this fictional character of the truth in no way implies that the truth is arbitrary.”

213

Wenn den Figuren ihre Handlungsmacht entgleitet, dann in diesem Sinne: Ihr beständiges Irren und Fehlgehen wird zur immanenten und unkontrollierbaren Bedingung dessen, was in der Realität objektiven N ie­ derschlag finden, d.h. ein folgerichtiges und sogar notwendiges Gepräge annehmen wird. Insofern ist es auch weniger ein zunehmender Verfall des Symbolischen, ein „Verlust der efficacité symbolique“46, der die Romanwelt verhext, als eine Form der Effizienz, die dem symbolischen Gesetz noch vor aller Einfassung in konkrete Gebräuche und Rituale eignet. Die Signi­ fikanten, die dieses Feld strukturieren, mögen ihrer bestimmten Bedeu­ tungen ledig sein, sie sind indessen völlig intakt in ihrer Funktion der Adressierung, d.h. in ihrem Appellcharakter für diejenigen, die im derangierten Netzwerk der „socialen Verhältnisse“47 interagieren. Produktiv und riskant - ist diese Sphäre darin, dass sie Anrufungsprozesse erzeugt, d.h. einen „Mehrwert von Anrede über Bedeutung“48, der das Personal in nachgerade universale fetischistische Verkennungsschleifen versetzt. Für diese Struktur ihrer Welt sind die Beteiligten notwendig blind, die Welt aber ist es nicht für sie: Sie wird zu einer Art Registratur jener strukturell unbewussten Übermittlungsprozesse, die im impersonalen Raum der psy­ chosozialen Beziehungen, einem Murmeln oder Gerücht ähnlich, zirkulie­ ren. Sinnfällig wird dies in dem Moment, als die Figuren mit dem Tod des Kindes konfrontiert werden. Ottos Tod wird zunächst als „Unfall“49 de­ klariert, doch schon kurz darauf stellt sich die Lage signifikant anders dar. Wie auf geheime Absprache kommen die Figuren darin überein, dass der Tod des Kindes als gemeinschaftsstiftendes „Opfer“50 zu begreifen sei, das ihre zerklüfteten Verhältnisse versöhnen soll. Dieser Blickwechsel ist mindestens erstaunlich. Nicht nur lässt er - Ottilie und vielleicht noch Charlotte ausgenommen - ein gebührendes Maß an Trauer vermissen; er enthält überdies das kollektive Bekenntnis zu einer Tat, die als solche nicht begangen wurde. Und natürlich liegt in der Annahme, dass durch Ottos Opfer eine neue und bessere Zukunft zu erwarten sei, eine weitere gravierende Fehleinschätzung - denn der unerbittliche Lauf der Dinge

46 Wellbery, ,Die Wahlverwandtschaften’, S. 293. 47 Die „Idee“ der Wahlverwandtschaften, so Goethe im Gespräch mit F.W. Riemer am 28. August 1808, sei es, „sociale Verhältnisse und die Conflicte derselben symbo­ lisch gefaßt darzustellen.“ Vgl. dazu Wolf Kittler: Goethes Wahlverwandtschaften. ,Sociale Verhältnisse symbolisch dargestellt‘. In: Norbert W. Bolz (Hg.): Goethes (Wahlverwandtschaften’. Kritische Modelle und Diskursanalysen zum Mythos Li­ teratur. Hildesheim 1981, S. 230-259. 48 Santner, Zur Psychotheologie des Alltagslebens, S. 51. 49 Goethe, Die Wahlverwandtschaften, S. 459, S. 469. 50 Ebd., S. 461.

214

hat, forciert durch diese neuerliche Verkennung, gerade erst Fahrt aufge­ nommen.51 Unfall- und Opferdiskurs treten dabei in eine eigenwillige Konkur­ renz. Zwar verfehlen beide, die archaische Rede vom Opfer ebenso wie das abstrakte Risikokalkül des modernen Unfalldiskurses, den „ungeheu­ e re n ]“52 Fall, den sie bezeichnen sollen. Diese doppelte Verfehlung aber eröffnet genau den zweideutigen Raum, in dem er sich als Ereignis konsti­ tuiert. Denn wenngleich der Roman keinerlei Absichten erkennen lässt, die das Unglück herbeigeführt hätten, so erscheint sein Eintreten und mit ihm die gesamte Vorgeschichte rückwirkend in einem anderen, zutiefst dämonischen Licht. Das Ertrinken des Jungen wurde von den Protagonis­ ten weder geplant noch vorausgesehen, geschweige eigenhändig ausge­ führt, zugleich aber trifft es sie auch nicht ganz unvorbereitet. Vielmehr kommen die Figuren kaum umhin, sich selbst in dem Vorfall wiederzuer­ kennen, insofern dieser - wie zuvor bereits das bloße Aussehen des Kin­ des - an sie als kollektiv Involvierte zu appellieren scheint. Tatsächlich bündeln sich hier, in Ottos Tod, wie in einer dioptrischen Anamorphose zahlreiche Fäden, die sich scheinbar willkürlich über den ganzen Roman verstreuen. So ist von „Opfern“ und vom „Aufopfern“ erstaunlich häufig die Rede; u.a. in dem Dialog zwischen Eduard und Charlotte über den ru­ inösen Stand ihrer Ehe: Charlotte, kaum dass sie dem Hauptmann „rein und völlig“ entsagt hat, möchte sogleich auch ihrem Mann „irgend eine Aufopferung“ abverlangen - zur Rettung der Ehe und für „das Beste sämtlicher Mitglieder unseres kleinen Zirkels“ -, während Eduard sich da­ gegen empört, dass ausgerechnet „Ottilie aufgeopfert“, d.h. weggeschickt werden soll.53 Aus diesem Gespräch folgen weder Entscheidungen, noch überhaupt direkt ableitbare Konsequenzen. Doch wenn einerseits das Ge­ schehen zunächst weiterhin seinen ruhigen Gang geht, so erhalten un­ scheinbare, idyllische Szenen wie die folgende einen eigentümlichen Un­ terton. Eduard und der Hauptmann haben das Weite gesucht, die beiden Frauen sind mit dem Kind allein: Charlotte von ihrer Seite befindet sich munter und wohl. Sie freut sich an dem tüchtigen Knaben, dessen viel versprechende Gestalt ihr Auge und Gemüt stündlich beschäftigt. [...] Von einem eigenen Gefühl belebt steigt sie zur Mooshütte mit Ottilien und dem Kinde, und indem sie dieses auf den kleinen Tisch, als auf einen häuslichen Altar niederlegt, und noch zwei Plätze [der abgereisten Männer] frei sieht, gedenkt sie der vorigen Zeiten und eine neue Hoffnung für sie und Ottilie dringt hervor.54 51 Er „ruhte“, so der Text über den aufgebahrten Leichnam des Kindes, „als das erste Opfer eines ahnungsvollen Verhängnisses“ (ebd., S. 464). 52 Ebd., S. 459. 53 Ebd., S. 340f. 54 Ebd., S. 427.

215

In der Fluchtlinie dessen steht die spätere Identifikation mit dem tödli­ chen Vorfall, der sämtliche Figuren auf ein bislang ungewusstes, allmäh­ lich zutage tretendes Vorwissen zurückzustoßen scheint. Diese Situation inszeniert der Text als eine Zäsur, die an die Koinzidenz von Überra­ schung und notwendiger Einsicht in der antiken Tragödie gemahnt.55 So kann selbst der Hauptmann, der zuvor alle Mühen auf die Unfallvorsorge verwendet hatte, plötzlich als komplizenhafter „Mitwisser“56 erscheinen, so als habe seine Vorsorge nicht der Verhinderung, sondern dem Eintre­ ten des Unfalls - oder Opfers - Vorschub geleistet. Bis zu dieser Zäsur fi­ gurierte der Hauptmann im Roman als die mustergültige Instanz eines modernen Sicherheits- und Präventionsdenkens. Als an früherer Stelle des Textes, noch bevor O tto existierte, ein unbekannter Junge im schlossei­ genen See zu ertrinken drohte, hatte er ihn mutig gerettet und sogleich al­ le Vorkehrungen getroffen, um der Gefahr des Ertrinkens künftig vorzu­ beugen. Dass der kleine O tto später ausgerechnet diesen Tod sterben wird, dessen Risiko der Hauptmann im Sinne des Gemeinwohls zu mini­ mieren suchte, löst nun auch bei ihm weniger Resignation als Zuversicht aus, artikuliert in Begriffen von Recht und Eigentum: Ein solches Opfer schien ihm nötig zu ihrem allseitigen Glück. Er dachte sich Ottilien mit einem eignen Kind auf dem Arm, als den vollkommens­ ten Ersatz für das, was sie Eduarden geraubt; er dachte sich einen Sohn auf dem Schoße, der mit mehrerem Recht sein Ebenbild trüge als der abge­ schiedene.57

Eduard wiederum war bereits jenem ersten Vorfall mit aggressivem N ar­ zissmus begegnet. Er hatte, seinerzeit ohne erkennbaren Zusammenhang, den totgeglaubten Jungen kurzum zum Befreiungsschlag, zur Verheißung seines Liebesglücks mit Ottilie erklärt.58 Ihren eigentlich fatalen Klang er­ halten diese Worte jedoch erst im Nachhinein, bei der Wiederholung des Vorfalls, der nun dasjenige Kind trifft, dessen Vater Eduard in der Zwi­ schenzeit geworden ist. So jedenfalls will es der Fortgang der Geschichte:

55 Letztere, so Haverkamp, bewirkt „nichts anderes [...], als dem im Anfang still be­ schlossenen, von allen vorgewussten Schicksal die innewohnende Zwangsläufigkeit eines in dieser Form unerwarteten Endes einzuzeichnen.“ Haverkamp, Medea, Dea ex Machina, S. 147. 56 Goethe, Die Wahlverwandtschaften, S. 460. 57 Ebd., S. 461. 58 Vgl. ebd., S. 338: „,Nein, Ottilie!4, rief er, ,das Außerordentliche geschieht nicht auf glattem, gewöhnlichem Wege. Dieser überraschende Vorfall von heute Abend bringt uns schneller zusammen. Du bist die Meine! Ich habe dirs schon so oft ge­ sagt und geschworen [...], nun soll es werden.4“

216

„Er wußte bereits von dem Unglück“,59 heißt es im Text doppelsinnig, als Eduard über Ottos Tod informiert wird. Allerdings konnte Eduard zu je­ nem früheren Zeitpunkt noch nicht wissen, was seine Worte bereits mit­ leidslos aussprachen, und was jetzt, als das Unglück tatsächlich tödlich endet, zur providenziell verbürgten Gewissheit zu werden scheint: „[A]nstatt das arme Geschöpf zu bedauern“, sieht er „diesen Fall“ nicht mehr nur als ein Hoffnungszeichen, sondern als vollbrachte „Fügung an, wodurch jedes Hindernis an seinem Glück auf einmal beseitigt wäre.“60 Es ist nicht diese beharrliche Anrufung einer höheren Fügung, die dem Roman das dämonische Gepräge verleiht, sondern umgekehrt der Charakter einer blinden Prophezeiung, der sich in den Sprechakten der Figuren stets schon mit-spricht. Wenn nun die Figuren zuvor nicht nur nichts Verdächtiges getan haben, sondern nicht einmal ein positives Wis­ sen vom lauernden Unheil hatten, so geraten sie gerade dadurch in das Zwielicht eines „halbschuldigen“61 Verbrechens: Indem sie Belangloses sprechen, tun oder auch nur denken, geben sie einer Zweideutigkeit Raum, die das beiläufigste Gerede in einen potenziellen Fluch und noch das besonnenste Wort in eine komplizenhaft vor-wissende Schuld um­ schlagen lässt. „Das Schicksal gewährt uns unsere Wünsche, aber auf seine Weise“,62 so der Roman. Es liegt vielleicht in der Natur der Sache, dass diese „Weise“ des Schicksals, d.h. die Logik der Verstrickung, die Goethes Roman darstellt, zugleich auch die Weise der Darstellung selbst bestimmt. Nicht nur lässt der Text keinerlei Außenstandpunkt zu, von dem aus sich zuverlässig über die Motivierung des Geschehens, über Zufall und N o t­ wendigkeit, Handeln und Unterlassung oder Schuld und Unschuld urtei­ len ließe. Bei einem Handlungsverlauf, der im Einzelnen unabsehbar ist, im Ganzen hingegen zwingend verlaufen sein wird, bleibt auch der Status der Vermittlungen und Übergänge prinzipiell mehrdeutig. Sie sind als Übergänge zunächst nicht einmal identifizierbar, weil sie erst rückwir­ kend - dann, wenn sie Wirkung tun - überhaupt zu solchen werden. In diesem Sinn erscheinen sie unter- und überdeterminiert gleichermaßen: Sie halten gewissermaßen den Raum frei, in dem das unabsehbare und zu­ gleich einschneidende Ereignis stattfinden kann. Im Nachhinein wird man es erwartet haben.

59 60 61 62

Ebd. Ebd. Goethe: Nachlese zu Aristoteles’ Poetik. In: HA 12, S. 342—345, hier S. 344. Goethe, Die Wahlverwandtschaften, S. 428.

217

Jacques Lezra

,Die Unübersetzbarkeit, die nicht eine ist‘. ,This untranslatability which is not one‘

Weder kann noch möchte ich von „dem Unübersetzbaren“ im Singular sprechen, denn, für mein Ohr, verweist das Unübersetzbare im Singular [...] auf das also, womit die literarischen Übersetzter par excellence kon­ frontiert sind, das Unübersetzbare mit einem großen „U “, dem Signifikant als solchem, Klangfülle, Rhythmen, Sprachen, wie man sie vernimmt und spricht, wie sie existieren. Doch wir, als Philosophen, kommen darin über­ ein, dass es ein Plural ist: die Unübersetzbarkeiten zu übersetzen [,..].1

Eine kleine Szene.12 Der prächtige blaue Dom des „Round Reading Room“ der British Library; stellen wir uns Marx bei der Arbeit an den Grundris­ sen vor, wie er über Ricardos Texte debattiert, sein normales, eher ärmli­ ches Leben führt durch die Arbeit von Jenny und die Erbschaft. Er ver­ sucht zu verstehen, wie die „phantasielosen Einbildungen der 18.-Jahrhundert-Robinsonaden“, Phantasien, in denen der homo faber als der „einzelne und vereinzelte Jäger und Fischer“ vorgestellt wird, „womit Smith und Ricardo beginnen“, ersetzt werden können. Anstatt dieser „Phantasien“ schlägt Marx als „Ausgangspunkt“ vor, die in „Gesellschaft produzierende [n] Individuen - daher gesellschaftlich bestimmte Produk­ tion der Individuen“ zu nehmen.3 Von diesem Ausgangspunkt her unternimmt Marx den Versuch, die Urszene der Produktion neu zu beschreiben, die Urszene, die gleicher­ maßen die der Produktion der politischen Ökonomie darstellt. Der „Aus­ gangspunkt“ der „phantasielosen Einbildungen“ der bürgerlichen Ö ko­ nomie korrespondiert, in der Ausdrucksweise der politischen Ökonomie, 1

2

3

Barbara Cassin: L’archipel des idées de Babara Cassin. Paris 2014, S. 192. (Überset­ zung von Sebastian Edinger und Guido K. Tamponi.) Ein kürzlich erschienener Überblick von Definitionen der Unübersetzbarkeit sowie ihre eigene Elaboration des Konzepts die Literaturwissenschaft betreffend, findet sich in: Emily Apter: Untranslatables. A World System. In: New Literary History. 39:3 (2008), S. 581— 598; und dies.: Against World Literature. On the Politics of Untranslatability. New York 2013. Dieser Aufsatz wurde, mit Autorisierung durch Jacques Lezra, aus dem Englischen übersetzt von Sebastian Edinger und Guido K. Tamponi. Jacques Lezra: ,This un­ translatability which is not one’. In: Paragraph. 38.2 (2015), S. 174—188. Karl Marx: Einleitung (zur Kritik der politischen Ökonomie). In: Karl Marx und Friedrich Engels: Werke. Bd. 13. Berlin 1971, S. 615.

219

mit einer gleichermaßen fantastischen Szene - einer, in der, mythologisch, „Produktion [...] unmittelbar auch Konsumtion“4 ist. Seitdem Marx diese Worte niederschrieb (falls es sich dabei tatsächlich um seine Worte han­ delt), kam es zur Universalisierung der Märkte - der Plural ist hierbei wichtig - nach dem lockeren Verständnis, dass die Marktkonversationen geschützt, kodiert in, bezogen auf und abhängig von einem globalen Kredit-Schulden-Markt sind, welcher in einem Abstand zu allen spezifischen Währungen, Zeiten, Transaktionen oder Interessen steht. Beides, Produk­ tion und Konsumtion sowie deren Beziehung zu Identität wie Simultaneität, durchläuft die neutrale Übersetzungsmaschine der globalen Kredit­ Schulden. Meine Mythologie ist eine manichäische, meine Zusammengehörig­ keiten sind binär organisiert, zum Teil wegen Marx’ eigener simultanistischer Mythologie; Produktion ist gleichzeitig Konsumtion; Kredite sind gleichzeitig Schulden; Märkte-jeder-Art, einzelne Märkte, bilden in der Summe das Marktsystem; das Marktsystem des globalen Kreditschulden­ kapitals ist eine Übersetzungsmaschine. Märkte - Systeme der Produkti­ on und Konsumtion, Systeme der Verteilung, des Tausches, der Wert­ schöpfung - arbeiten zwar unter bestimmten Bedingungen bestimmten Zwecken zu, doch sie arbeiten unter Bezugnahme auf einen abstrakten und totalen Markt, ein Marktsystem, auf welches hin alle Tauschaktionen geordnet und von dem sie in letzter Instanz allesamt abhängig sind, ein Marktsystem, welches ihre „Simultaneität“ und ihre Konvertibilität unter­ einander garantiert, eine weite und universelle Übersetzungsmaschine, sozusagen befüllt mit dem, was dem Partikularen bei jedem Tausch, in je­ dem lokalen Markt angehört. Nehmen wir an, dass diese mythologische „Simultaneität“ manches Ungleichgewicht, manche Sackgasse, Fehlmessung oder Inkongruenz beim Schritt von Märkten-jeder-Art zum Marktsystem verdunkelt. Wir werden der Vermutung nachgehen, dass die Übersetzungsmaschine bzw. das Marktsystem um etwas kreist, das Ernesto Laclau in Kontingenz, H e­ „Die Produktion ist unmittelbar auch Konsumtion. Doppelte Konsumtion, subjek­ tive und objektive: das Individuum, das im Produzieren seine Fähigkeiten entwi­ ckelt, gibt sie auch aus, verzehrt sie im Akt der Produktion, ganz wie das natürliche Zeugen eine Konsumtion von Lebenskräften ist. Zweitens: Konsumtion der Pro­ duktionsmittel, die gebraucht und abgenutzt werden und zum Teil (wie z.B. bei der Feurung) in die allgemeinen Elemente wieder aufgelöst werden. Ebenso Kon­ sumtion des Rohstoffs, der nicht in seiner natürlichen Gestalt und Beschaffenheit bleibt, die vielmehr aufgezehrt wird. Der Akt der Produktion selbst ist daher in al­ len seinen Momenten auch ein Akt der Konsumtion. Aber dies geben die Ökono­ men zu. Die Produktion als unmittelbar identisch mit der Konsumtion, die Kon­ sumtion als unmittelbar zusammenfallend mit der Produktion, nennen sie produk­ tive Konsumtion. Diese Identität von Produktion und Konsumtion kommt hinaus auf Spinozas Satz: Determinatio est negatio“. Ebd., S. 622.

220

gemonie, Universalität eine „Leerstelle“, einen „leeren O rt“ nannte, wel­ cher „nur vom Partikularen gefüllt werden kann“.5 Was ist dieser „leere O rt“ ? Der akademische Diskurs im Hinblick auf das globale Handelssystem ist aus Erschöpfung darüber hinweggegangen, auf diese Frage eine Antwort zu geben. Historisch, ja disziplinär zeigt sich, dass die Sprachen der klassischen politischen Ökonomie in Anbe­ tracht der Aufgabe ungeeignet sind, das Kapital in seiner globalen, seiner Kredit-Schulden- und seiner Informations-Waren-Form zu beschreiben, geschweige denn Möglichkeiten zu eröffnen, es zu verstehen. Der genaue Grund dieser diskursiven Erschöpfung, welche die jeweilige Form be­ stimmt, welche die, um Laclaus Metapher zu verwenden, Lücke im Her­ zen der Übersetzungsmaschine oder Marktsystem „füllt“, ist interessanter als ihr philosophisch trivialer Verwandter, das dämmerungsaktive Spiel des Nachholens, das Konzepte im Hinblick auf Zustände allgemeinhin spielen. Nennen wir die Ursachen der diskursiven Erschöpfung und auch, was die Übersetzungsmaschine oder das Marktsystem aus dem Gleichge­ wicht bringt, ein Axiom der Unübersetzbarkeit, die keine ist.6 Wie würde diese aussehen? Einerseits ist es weder ein Axiom im klassischen Sinne noch kommt ihm eine numerische Einheit zu. Und doch, wie ich im Fol­ genden zu zeigen versuche, könnte ein weniger oder nicht einheitliches, weniger oder nicht quantifzierbares, weniger oder nicht simultanes Axiom der Unübersetzbarkeit uns dabei helfen zu begreifen, wie die Universali­ tät, die für das Kapital, für die Übersetzung und für die Produkte, Objek­ te, Texte und Waren im Durchgang durch den Kreislauf des globalen Marktsystems und des globalen Übersetzbarkeit-Unübersetzbarkeits­ Systems beansprucht wird, das produziert, was Laclau „eine Reihe von Ef­ fekten“ bezeichnet, „die für die Strukturierung/Destrukturierung gesell­ schaftlicher Verhältnisse ausschlaggebend sind.“7 Diese schrecklichen „Ef­ fekte“ sind insofern „entscheidend“, als sie die Möglichkeit eröffnen, die Begrenzungen des Kredit-Schulden-Kapitals zu verstehen und den Boden 5

6

7

Ernesto Laclau: Identität und Hegemonie. Die Rolle der Universalität in der Konsti­ tution von politischen Logiken. In: Ders., Judith Butler, Slavoj Zizek (Hg.): Kontin­ genz, Hegemonie, Universalität. Aktuelle Dialoge zur Linken. Berlin 2013, S. 75. Es ist sinnvoll, sowohl Cassins Vorschlag bzgl. der Pluralität von Unübersetzbar­ keiten als auch meinen bzgl. der Nicht-Einheit von Unübersetzbarkeit mit Paul Ricœurs Bericht des langen „Kampfes“ gegen Unübersetzbarkeit, geführt mittels dem Schmieden von „Äquivalenzen“ statt „Identitäten“ zwischen natürlichen Spra­ chen in der Übersetzung, zu kontrastieren. Hinsichtlich seiner suggestiven, wenn auch, meiner Meinung nach, heilsamen Bemerkungen siehe: Paul Ricœur: Sur la traduction. Paris 2004, v.a. S. 53—69. Ernesto Laclau: Identität und Hegemonie, S. 75. (Im englischen Original steht hier, falsch zitierend, „defects“ statt „effects“; dies wurde hier in Absprache mit dem Autor korrigiert, Anm. d. Ü.).

221

bereiten für zwar schwache, aber doch flexible und bestimmende, ethische Beziehungen, die auf Unübersetzbarkeiten fußen. Betrachten wir als Beispiel den berühmten, oben zitierten Satz aus Marx’ „Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie“ in seiner engli­ schen Übersetzung: „Production is simultaneously consumption as well.“ Wir begreifen dies als Ausgangspunkt oder gar als Prinzip der politischen Ökonomie (wie es bei Spinoza oder Hegel in Form des Diktums Determinatio est negatio zu sein scheint), auf das Marx auf den folgenden Seiten starke Lösemittel auftragen wird - aufzeigend, dass diese „Simultaneität" phasenverschoben wird, wenn die instabilen Distributions- und Arbeits­ kosten miteinbezogen werden. In geradezu axiomatischer Weise tendiert die klassische politische Ökonomie dazu, eine abstrakte Zeit zu produzie­ ren (wie sie darüber hinaus und simultan die Warenproduktion und konsumtion betreffenden Konzepte produziert), in welcher Produktion und Konsumtion tatsächlich „simultaneous" sind. Wir können mit guten Gründen sagen, dass dieses mythologische Axiom der Identität zugleich eine Aussage über Übersetzungen darstellt. Die ursprüngliche Behaup­ tung (beispielsweise Marx‘ ursprüngliche Behauptung bezüglich der Ver­ bindung von Produktion und Konsumtion oder die berühmter übersetzte und übersetzbare Aussage, dass die „Proletarier [...] nichts [...] zu verlie­ ren [haben] als ihre Ketten") ist zugleich [simultaneously] seine Überset­ zung, ist zugleich bestimmt, restlos konsumiert zu werden, in einer ande­ ren oder in derselben Sprache, doch unter anderen Umständen der Rezep­ tion. Der mythische Horizont dieser Szene ist: jede Phrase ist beides, ausgesprochen und eingeschrieben, hier und jetzt, im Moment in der Sprache und unter den Umständen seiner Produktion, und übersetzt, in welche Sprache auch immer, in den Moment hinein und unter den Um ­ ständen seiner Rezeption und Interpretation - simultan, ohne Verlust von Moment zu Moment oder Ökologie zu Ökologie. Marx schreibt unter der großen blauen Kuppel der British Library - für eine Leserschaft, für die dieser indexikalische Rahmen bereits abhandengekommen ist: Er schreibt von einem jeden Ort, unter der Bedingung, dass die Signatur die­ ses Orts ins Verborgene fällt, unter der Bedingung, dass sie immer schon auf den Armenfriedhof überführt wurde, wo die Übersetzungsmaschine oder das Marktsystem Märkte und Orte jeder Art begräbt. Wir können nun diesem Gedanken genauer nachgehen. Im Zeitalter des Kredit-Kapitals werten Forschungen zur Kultur innerhalb des N etz­ werks von Institutionen, die der Systematisierung der Kultur und der Ideologie des Kredit-Schulden-Kapitals gewidmet sind (wobei die moder­ ne Universität als genau eine solche fungiert: als ein Armenfriedhof von Orten-jeder-Art, des Indexes), ihre dämmerungsaktive Ökologie, den Umgebungsverlust der mythologischen Identität ihrer Sätze und den Zu­ stand, welchen sie zu übersetzen trachten, als einen Verlust von Kredibilität

222

und von Kredit. (Man denke an den Aufschrei hinsichtlich der Kosten der universitären Bildung in den Vereinigten Staaten; man denke an die kont­ roversen Versuche, die Schulden der Studenten mit dem sinkenden Le­ bensstandard in Beziehung zu setzen; man denke an das Vorhaben der Obama-Regierung, „die Leistung von Colleges durch ein neues Bewer­ tungssystem zu erfassen, sodass Studenten und Familien die Information bekommen, um die Schulen, die die Bestwerte liefern, auszuwählen.“) 8 Was den Weg betrifft, auf dem verschiedene Disziplinen auf die Universa­ lität des globalen Kredit-Schulden-Markt-Systems rekurrieren (und diese wiederum zu naturalisieren verhelfen), so entsteht der „leere O rt“, den Laclau beschreibt, innerhalb der belastbaren Analogie, der die konzeptuelle Basis des globalen Kredit-Schulden-Markt-Systems bildet, einer Analogie, die die Arten der Äquivalenzen und Konvertierbarkeiten, die nötig sind für den marktübergreifenden Import und Export von Gütern, an das Phä­ nomen der linguistischen Übersetzung bindet. Ein universelles Prinzip des Austausches bewegt den Markt der Märkte, der den Kreislauf des globalen Kapitalismus abstrakt zusammenhält; ein universelles Prinzip der Über­ setzbarkeit ist in Kraft zwischen bestimmten Sprachen oder, sogar noch atomarer, zwischen Idiomen oder Idiolekten und Sprachen, und überdies zwischen Sprachen. Die Analogie zwischen diesen beiden Prinzipien, dem Prinzip des glo­ balen Austauschs und der universalen Übersetzbarkeit-Unübersetzbarkeit, bildet eine Art Scharnier und funktioniert nicht nur im Hinblick auf den Kreislauf, in welchem Objekte, Güter und Texte unterschiedlicher Art aus­ getauscht, importiert und exportiert werden - ökonomische Kreisläufe, kul­ turelle Kreisläufe -, sondern auch im Hinblick auf die Konzeptualisierung von Objekten in Bewegung innerhalb dieser Kreisläufe. Traditionelle Gü­ ter werden zu Informations-Gütern, welche zugleich als deskriptive Mit­ tel zum Erfassen vom globalen Kapital dienen; sowie zur normativen Art, dieses zu befördern; sowie als globale Ware, verkauft in Wirtschaftsschu­ len, globalen Universitätsnetzwerken und digitalen Klassenräumen welt­ weit. Ein Widget, sollte so etwas tatsächlich existieren, ist nicht nur ein Widget, sondern ebenso ein Beispiel für ein Gut, produziert, um Wert entstehen zu lassen, sobald es marktübergreifend importiert wird. Diese überschüssige Beispielhaftigkeit fügt dem Objekt einen imaginären Wert hinzu, und es ist dieser addierte Wert, der dann weiteren Grund für die Legitimation des Systems der Wert-Produktion des globalen Markts lie­

8

„FACT SHEET on the President’s Plan to Make College More Affordable: A Bet­ ter Bargain for the Middle Class“, Online abrufbar unter: https://www.white house.gov/the-press-office/2013/08/22/fact-sheet-president-s-plan-make-collegemore-affordable-better-bargain-

223

fert.9 Ein Wort in einer Sprache wird ein Äquivalent finden, wenn es in ei­ ne andere Sprache importiert wird - dies ist immer so gewesen -, aber die Konzeptualisierung eines Wortes als für eine andere Sprache bestimmt, als wertvoll, weil übersetzbar, als immer schon importiert oder importierbar, dies hat sich entlang der durch die globale Ökonomie eingesetzten Ver­ fahren zur Wert-Schöpfung verschoben. Unser Glaube, der von uns plat­ zierte Kredit, daran, dass das Wort einen Wert in einer anderen Sprache besitzt, hat sich entlang der Konsolidierung und Systematisierung des globalen Kredit-Schulden-Systems geändert, wie auch vice versa. Eine Unübersetzbarkeit, die eine ist, ist hierin enthalten. Diese Un­ übersetzbarkeit ist mit universeller Unübersetzbarkeit verknüpft, wie es partikulare Indizes mit Universalien in konventionellen dialektischen Sys­ temen sind. Diese Unübersetzbarkeit stört die Analogie zwischen dem Prinzip des globalen Austauschs unter dem Kredit-Schulden-Kapital und dem Prinzip der universellen Übersetzbarkeit keineswegs. Diese Unüber­ setzbarkeit ist ein anderer Name für das, was konkret vorliegt; es ist der Bereich der Kultur, des Idioms; es geht über, wird übersetzt in das globale Markt-System ohne den Anschein eines Verlusts, ja, mit dem Anschein einer zunehmenden Steigerung, in Form von kulturellem Zusatz-Wert, in eine neue Ware zweiter Ordnung hinein, ,Unübersetzbarkeit‘ oder Partikularität. Falls dies dem (politisch-ökonomischen) Prinzip der Übersetz­ barkeit widerspricht, so tut es dies mittels Affirmation auf einem anderen Level: Man kann sagen, dass diese Unübersetzbarkeit, die eine ist, die be­ stimmte Negation der Übersetzbarkeit ist. Das bestimmte Prinzip der universellen Unübersetzbarkeit hält die imaginäre Figur globaler Kultur zusammen und schafft Einheit und Kohärenz mit dem kulturellen Markt­ System. Bollywood ist nicht das Gleiche wie Hollywood; ein Film, der hier produziert wurde, wird dort kein Publikum finden; doch Kultur, so­ weit sie der Ort der Unübersetzbarkeit wird, und Unübersetzbarkeit, so­ weit sie gleichbedeutend mit kultureller Partikularität wird, fügen univer­ sell Wert hinzu. Sie dienen als Vergleichsindex zur Wahrung davon, dass das Prinzip der universellen Übersetzbarkeit funktioniert. Ein Kunstwerk, sei es Picassos Guernica oder welches auch sonst, ist insofern universell, soweit es und nur soweit es vom Partikularen „gefüllt“ ist: Diese Möglichkeit-gefüllt-zu-werden vom Partikularen ist zugleich mit dem Werk gegeben; sie ist untrennbar mit ihm verbunden; sie konstituiert das Werk. Wir glauben, wir wüssten, was ,Übersetzung‘ bedeutet, und damit auch, was darin zum Ausdruck kommt, wenn gesagt wird, dass etwas, ein 9

224

Ich habe die Beziehung zwischen der Globalisierung und der Übersetzung als einer Frage der politischen Ökonomie literarischer Sätze an einer Vielzahl von Orten diskutiert. Zuletzt in: Jacques Lezra: Translation. In: Political Concepts. A Critical Lexicon. V.2. Hg. von der New School for Social Research. Online abrufbar unter: http://www.politicalconcepts.org/.

Ausdruck oder ein Begriff, übersetzbar sei. Wir haben gezeigt, dass das mythologische Axiom „Produktion ist unmittelbar auch Konsumtion“, Teil einer Umklammerung von Identitätsbehauptungen ist, die ein System (wenn auch keine Sequenz) bilden, welches die politische Ökonomie mit den kulturellen Institutionen verbindet, auf denen Sätze bezüglich der Gegebenheiten der politischen Ökonomie fußen. Das Paar Übersetzbar­ keit-Unübersetzbarkeit bringt, solange beide Begriffe traditionell verstan­ den werden und solange verstanden wird, dass sie beide zugleich wirken, die Simultaneität des Systems der Identitätsbehauptungen hervor. Von all diesem könnte man sagen, dass es aus dem mythologischen Axiom „Production is simultaneously consumption as well“ folgt. Doch Marx beschäftigt sich in „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ nicht mit Simultaneität. Der Begriff „simultaneously“ wird vielmehr von seinem Übersetzer gebraucht, um Marx’ „unmittelbar“ wiederzugeben: „Die Pro­ duktion ist unmittelbar auch Konsumtion“, schreibt Marx. Dies sowie an­ dere Betonungen von Mittel und mittelbar auf den Eingangsseiten legen nahe, dass er von Anfang an Hegels philosophische Bahn streift, um zu zeigen, dies immer noch zusammen mit Hegel, dass die Mythologie des „Unmittelbaren“ die Spuren anderer Abstraktionen, Allgemeinheiten, an­ dere Zeiten, andere Bedeutungen und Gegenstände, die Identitätsbehaup­ tungen jenseits ihrer beanspruchen - sei es, dass das, was „unmittelbar“ erscheint, die Gewissheit ist, derer die Sinne bedürfen; die axiomatische Äquivalenz zwischen Produktion und Konsumtion in der politischen Ökonomie; oder die mythologische Identität des gebildeten Satzes und seiner Übersetzung. So ist Ryazanskayas englisches Wort „simultaneous“, so sehr es eine Fehlübersetzung von Marx’ Deutsch (eines tendenziösen, darin anti-philosophischen) ist, sozusagen die Signatur der Arbeit-jederArt [whatever-labour] und der Distributionskosten-jeder-Art [whateverdistribution-cost] der Übersetzung, wie sie in dem Text von Marx arbeitet, im Voraus ihrer Übersetzung und damit im Deutschen unzeitgemäß. Die Signatur des Übersetzers vollzieht in diesem Maße auch - für Marx’ Text und damit die dem Text eigene und weitläufige Abhandlung vorwegneh­ mend - die Schritte von dessen Argumentation, die sie auf den darauffol­ genden Seiten nehmen wird: die Demonstration, dass die mythologische Identität zwischen Produktion und Konsumtion weder ,simultan‘ noch unmittelbar, sondern immer schon destabilisiert und phasenverschoben durch dazwischenliegende und vermittelnde Kosten ist. Macht sich der Übersetzer, der durch Fehlübersetzen die Kraft des Arguments genauer fasst, als dies eine philosophisch getreuliche Überset­ zung hätte zu erreichen hoffen können, noch immer einer Fehlübersetzung schuldig? Oder sollten wir stattdessen sagen (das Idiom ist Lacanianisch), dass sie übersetzt, wo sie nicht zu übersetzen glaubt? Würden wir dann sagen, dass das Wort unmittelbar, „immediate“, „simultaneous“, unüber­

225

setzbar ist oder dass es nur versehentlich, unbeabsichtigt übersetzbar ist? Auf jeden Fall ist das, was wir ,Übersetzung‘ nennen, nicht eine, wenn sie, simultan, verfehlt und korrekt, unsichtbar und sichtbar, gleichzeitig und phasenverschoben, eine Identität und eine Performanz ist. Würde ,Übersetzbarkeit‘ und ,Unübersetzbarkeit‘ noch immer das bestimmende my­ thologische Paar bilden, dessen wir für unser analoges Scharnier bedürfen, um die politische Ökonomie des Kredit-Schulden-Markt-Systems in ein System zu bringen? Unternehmen wir einen weiteren Versuch, in das allgemeine Ver­ ständnis des Begriffs ,Unübersetzbarkeit‘ vorzudringen und es zurück in Kontakt mit einer Bedeutung von ,Unübersetzbarkeit‘ in einem anderen, markanteren Kontext zu bringen. Folgendermaßen nähert sich Derridas Einsprachigkeit des Anderen dem Begriff in der Übersetzung von Patrick Mensah: N o t that I am cultivating the untranslatable. Nothing is untranslatable, however little time is given to the expenditure or expansion of a competent discourse that measures itself against the power of the original. But the „untranslatable“ remains - should remain, as my law tells me - the poetic economy of the idiom, the one that is important to me, for I would die even more quickly without it, and which is important to me, myself to my­ self, where a given formal „quantity“ always fails to restore the singular event of the original, that is to let it be forgotten once recorded, to carry away its number, the prosodic shadow of its quantum. [...] In a sense, nothing is untranslatable; but in another sense, everything is untranslatable; translation is another name for the impossible. In another sense of the word „translation,“ of course, and from one sense to the other - it is easy for me always to hold firm between these two hyperboles which are fun­ damentally the same, and always translate each other.10

Nun Derrida im Original: N on que je cultive l’intraduisible. Rien n’est intraduisible pour peu qu’on se donne le temps de la dépense ou l’expansion d’un discours compétent qui se mesure à la puissance de l’original. Mais „intraduisible“ demeure doit rester, me dit ma loi - l’économie poétique de l’idiome, celui qui m’importe, car je mourrais encore plus vite sans lui, et qui m’importe, moimême à moi-même, là où une „quantité“ formelle donnée échoue toujours à restituer l’événement singulier de l ’original, c’est-à-dire à le faire oublier, une fois enregistré, à emporter son nombre, l’ombre prosodique de son quantum. [...] Rien n’est intraduisible en un sens, mais en un autre sens tout est intraduisible, la traduction est un autre nom de l’impossible. En un autre sens du mot „traduction“, bien sûr, et d’un sens à l’autre il m’est fa­ 10

226

Jacques Derrida: Monolingualism of the Other. Übersetzt von Patrick Mensah. Stanford 1998, S. 56f.

cile de tenir toujours ferme entre ces deux hyperboles qui sont au fond la même et se traduisent encore l’une l’autre.11

Und zuletzt der exzellente spanische Übersetzer Derridas, Horacio Pons: N o es que cultive lo intraducible. Nada lo es, por poco que uno se tome el tiempo del gasto o la expansion de un discurso competente que rivalice con la potencia del original. Pero „intraducible“ se mantiene - debe seguir siendo, me dice mi ley - la economia poética del idioma, el que me importa, pues moriria aùn mas rapido sin él, y que me importa, a mi mismo en mi mismo, alli donde una cantidad „formal“ dada fracasa, en restituir el acontecimiento singular del original, es decir, hacerlo olvidar una vez registrado, arrebatar su nûmero, la sombra prosôdica de su quantum. [...] En un sentido, nada es intraducible, pero en otro sentido todo lo es, la traducciôn es otro nombre de lo imposible. En otro sentido de la palabra „traducciôn,“ por supuesto, y de un sentido al otro me es facil mantenerme siempre firme entre esas dos hipérboles que en el fondo son la misma y se traducen ademas una a la otra.112

Auf eine mögliche Bedeutung des Begriffs „übersetzbar“ [translatable] weist Derrida mit dem Gebrauch der Übertreibung als einer in der Geo­ metrie und Rhetorik gebräuchlichen Figur hin. Nehmen wir diese Figur ernst und halten uns zunächst an ihre geometrische Bedeutung, so meint ,übersetzen’, einen Punkt oder ein Quantum auf ein anderes gemäß einem Algorithmus abzubilden: Übersetzung wird so verstanden als eine Me­ chanik, eine mathematische Funktion, als Maß oder gemeinsame Maßein­ heit. Diese Art der Übersetzung betrifft natürliche Sprachen, falls diese auf einen mathematischen oder mathematisierbaren oder quantifizierba­ ren Raum abbildbar vorgestellt werden können. Sowohl die Wort-fürWort-Übersetzung als auch die Sinn-für-Sinn-Übersetzung, diese archai­ schen Kain-und-Abel-Brüder des Übersetzungspantheons, können gemäß diesem gewissermaßen mathematischen, funktionalen Paradigma vorge­ stellt werden. Doch was geschieht, wenn wir diese Art der funktionalen Überset­ zung aus der Domäne der quanta in die des Rhetorischen ,übersetzen‘, so­ gar im Falle einer philosophischen Rhetorik, wo die Hyperbel einen durchaus anderen Status innehat? Hier ist kein gleichmäßiger mathemati­ scher Raum ein verbindlicher Referenzrahmen, außer in der Phantasie be­ stimmter Neo-Platoniker. Hier, auf der rhetorisch-poetischen Seite der Hyperbel, ist Übersetzbarkeit der Name, den Derrida hyperbolisch einem Scheitern gibt. Auf dieser Seite findet eine Übersetzung statt, wenn, wie 11 Jacques Derrida: Monolinguisme de l’autre. Paris 1996, S. 100—103. 12 Ders.: El monolingüismo del otro, o la prôtesis de origen. Übersetzt von Horacio Pons. Buenos Aires 1997, S. 80.

227

Derrida in Mensahs Übersetzung sagt, „a given formal ,quantity‘ [...] fails to restore the singular event of the original, that is to let it be forgotten once recorded, to carry away its number, the prosodic shadow of its quan­ tum“13 (Hervorhebung J.L.). Wenn demnach „Übersetzung“ [translation] und „Übersetzbarkeit“ [translatability] keine feststehenden Begriffe sind, sondern mehr als eine Bedeutung haben können, eine dem mathematischen Sinn der Hyperbel und eine ihrem rhetorischen Sinn entsprechende, und wenigstens zwei Arten der Messung und Bestimmung ihres Erfolges, was ist überhaupt „Unübersetzbarkeit“ [untranslatability]? Was ist Unübersetzbarkeit mit/innerhalb/ ohne diesen wunderbar opaken Paragraphen, in welchem Derrida sie beschreibt und in Szene setzt? Nicht eine Sache. Wir sind ge­ neigt, zwei primäre Auffassungen von Unübersetzbarkeit zu unterschei­ den. Erstens, die Unübersetzbarkeit, wie sie zu den Fehlübersetzungen gehört. (Eine Dimension des Konzepts der Unübersetzbarkeit, falls es ei­ nes ist, wird klar, wenn wir es gegen den durchaus verschiedenen, aber da­ rauf bezogenen Begriff der Fehlübersetzung abgrenzen.) Diese mögen Fehler oder Versäumnisse sein, von Interesse sein oder nicht, aber sie sind korrigierbar. Wenn Mensah Derridas „Nichts ist unübersetzbar, wenn man sich nur Zeit zur Verausgabung oder Ausdehnung eines kompeten­ ten Diskurses nimmt, der der Kraft des Originals angemessen ist“14, über­ setzt mit „Nothing is untranslatable, however little time is given to the expenditure or expansion of a competent discourse that measures itself against the power of the original“, macht er zwei Fehler. „Nichts ist un­ übersetzbar“, schreibt Derrida, „wenn man sich nur Zeit zur Verausga­ bung oder Ausdehnung eines kompetenten Diskurses nimmt, der der Kraft des Originals angemessen ist.“ Hier geht es nicht um die Absenz oder Präsenz eines syntaktischen Mehrwerts, sondern um den Effekt ei­ nes Drehsinns. „Nothing is untranslatable“, schreibt Mensah, „however little time is given to the expenditure or expansion of a competent dis­ course [...]“ Es sollte im Englischen lauten: „Nothing is untranslatable, so long as one takes the time to spend, or to expand, a competent discourse 13 Die vollständige Passage in der deutschen Übersetzung lautet: „Aber ,unübersetzbar‘ bleibt —muß bleiben, wie mir mein Gesetz sagt —die poetische Ökonomie des Idioms, diejenige, die mir von Bedeutung ist —denn ich würde schneller ohne sie sterben —und die mir —mir selbst für mich selbst —dort von Be­ deutung ist, eine gegebene formale ,Quantität‘ immer daran scheitert, das einzigar­ tige Ereignis des Originals wiederzugeben, das heißt es in Vergessenheit geraten zu lassen, wenn es einmal aufgezeichnet ist; daran scheitert, seinen Wohlklang [nombre] mit sich zu reißen, das heißt den prosodischen Schatten seines Quantums“. Jacques Derrida: Die Einsprachigkeit des Anderen. Übersetzt von Michael Wetzel. Mün­ chen 2003, S. 112. Hervorhebung im Original. 14 Ebd., S. 11lf.

228

that measures itself against the power of the original.“ Pons übersetzt es richtig („Nada lo es, por poco que uno se tome el tiempo del gasto“), aber Mensah vermischt zwei idiomatische Ausdrücke und macht den Ausdruck unverständlich. Die Übersetzung ist korrigierbar; sie ist ein philosophisch triviales, doch praktisch entscheidendes Zufallsergebnis. (In dieser Weise verhält es sich exakt konträr zu Ryazanskayas Verwendung des englischen „simultaneous“ für Marx’ „unmittelbar“ - eine Fehlübersetzung, die prak­ tisch trivial, aber philosophisch von großartiger Bedeutung und in einem wichtigen Sinne unkorrigierbar ist). Wir mögen ebenso, wenn es um Formen der Unübersetzbarkeit be­ zogen auf oder abgegrenzt von korrigierbaren Fehlübersetzungen geht, an Unter- und Über-Übersetzungen denken. Diese stellen nicht direkt Feh­ ler dar, sondern weisen auf ein Problem in der Ökonomie der jeweiligen Übersetzung hin, genau genommen auf ein Problem der „Zeit, die wir aufbringen, um einen kompetenten Diskurs der Kraft des Originals an­ zumessen“15 - als wäre ein Wort im Original, das zwei Bedeutungen hat, eher in die eine als in die andere Richtung hin geöffnet. Nehmen wir als Beispiel Derridas Satz: „In einem anderen Sinne des Wortes ,Übertragung’ natürlich, und von einem Sinn zum anderen fällt es mir leicht, zwischen diesen beiden Hyperbeln immer unerschütterlich zu bleiben, die im Grunde genommen dasselbe sind und sich sogar noch [encore] gegenseitig ineinander übersetzen lassen.“16 Fokussieren wir nun das Wort encore, dessen doppelte Bedeutung im Französischen, die dem englischen yet/more [noch/mehr] entspricht, zweckdienlich in Mensahs englisches „always“ und Pons spanisches „ademas“ aufgespalten ist, was so viel be­ deutet wie ,even more‘ [mehr sogar], ,yet again‘ [wieder einmal], ,furthermore‘ [darüber hinaus]. Bedenken wir nun, vermutlich mit größeren ar­ gumentativen Konsequenzen, den wichtigen französischen Ausdruck se mesure à [sich anmessen an] in Derridas Text, der die unendliche Möglich­ keit der Übersetzung beschreibt, falls jemand über „eine[n] kompetenten Diskurs[] [...], der der Kraft des Originals angemessen ist“,17 verfügt. Das Französische spielt hier mit der Mehrdeutigkeit von ,measuring’ [abmessend/vermessend/(ab)wägend], es sowohl als einen impersonalen als auch als einen reflexiven Akt auffassend, im Sinne von ,measuring something’ [etwas messen/vermessen/abwägen] und ,measuring oneself up to some­ thing1 [sich mit etwas messen]; diese Sache oder dieser Ausdruck ,can be measured to‘ [kann gemessen werden an] und kann ,measure itself up to‘ [kann sich messen mit] diesem Anderen, dem Original - eine entscheiden­ de Ambiguität, welche das kastilische Spanisch erfassen kann. (Das Kasti15 Wir übersetzen hier nach Lezras englischer Übersetzung von Derrida, die hier von der sonst zitierten deutschen Übersetzung der Stelle abweicht. 16 Ebd., 113. 17 Ebd., 111f.

229

lische würde dann lauten: „que se mida con la potencia del original“) [dt.: der sich mit der Kraft des Originals messen kann], welches allerdings Pons Version nicht erfasst (er entscheidet sich stattdessen für „que rivalice con la potencia del original“) [dt.: der mit der Kraft des Originals rivalisieren kann], worin der reflexive Sinn von „se mesure à“ [sich messen an/mit] nicht erfasst wird, weshalb man hier von einer Unter-Übersetzung des Französischen sprechen könnte). Das Englische kann nicht den syntaktischen Bedeutungsüberschuss der französischen Mehrdeutigkeit wahren, ohne Derridas Satz deutlich in die Breite auseinanderzufalten und damit die Kommensurabilität mit dem Original aufzugeben, die An-gemessenheit [con-measurability] - d.h., ohne eine Art ökonomisches Un­ gleichgewicht oder Inflation im Verhältnis zum Original zu erzeugen. Doch wir haben möglicherweise überdies im Kopf, was wir als Fälle genuiner Unübersetzbarkeit bezeichnen können: unkorrigierbare Fehler. Hier wiederum mögen wir es schwierig finden, bloß ein schlagendes Bei­ spiel oder eine Definition der Unübersetzbarkeit zu finden. Erinnern wir uns daran, wie Ryazanskaya unmittelbar mit „simultaneously" übersetzt. Diese Fehlübersetzung macht letztlich etwas am Begriff unmittelbar sichtbar, was bisher nicht in Marx’ Text zum Vorschein kam, jedoch im Zuge seines Arguments sichtbar wird und was daher an der Stelle der „Einleitung in die Kritik der politischen Ökonomie" einzig übersetzbar ist in Form eines Versagens oder eines Fehlers: an dieser Stelle, und nur da, ist unmittelbar immer nur fehlübersetzbar, da „immediate", auch „im­ mediate", die leicht verfolgte Spur des Übersetzers in seiner Arbeit, seine destabilisierenden Arbeits- und Produktionskosten, nicht offenzulegen vermag; und „simultaneously" vermag das tiefgreifende Echo von Hegels Idiom nicht zu wahren, in welchem Marx’ Ironien ihr Fundament finden. (Eine gute Definition eines unübersetzbaren Satzes: das textuelle Da ist ein Da der Fehlübersetzung; dass das Da dort ist, wo wir beim Überset­ zen immer scheitern werden; dass, im Da, wo Fehlübersetzung stattfindet, keine Korrektur möglich ist.) „Unübersetzbarkeit" ist hier geknüpft an die argumentative Syntax des Originals, wenn nicht gar an die Phäno­ menologie seiner Lektüre: unmittelbar mit „simultaneously" fehlzuüber­ setzend zeigt Ryazanskaya den Lesern, welche mit dem Marx’schen Deutsch vertraut sind, dass die auf den ersten Seiten der Einleitung entfal­ tete Mythologie der Unmittelbarkeit als ein Axiom der klassischen politi­ schen Ökonomie bereits in ihrer damaligen Fassung überholt war. Es ist nicht einmal simultan [simultaneous] mit sich selbst. Wir haben es hier nicht mit einem korrigierbaren Fehler zu tun, einer Fehlübersetzung im ersten Sinn (wie interessant auch immer sie sein mag), oder mit einem schwerwiegenderen Fall einer Über- oder Unter­ Übersetzung. Worum es geht, ist nicht länger ein Prinzip der Maßeinheit

230

und Ökonomie: Vermutlich könnte der Ausdruck oder das Argument nicht semantisch gemacht werden durch eine Steigerung und Minderung der Extension der Übersetzung oder durch die Zeit, die benötigt wird, um eine Übersetzung zustandezubringen. Kehren wir zu den bereits betrach­ teten hyperbolischen Sätzen aus der Einsprachigkeit des Anderen zurück, um tiefer in die Unübersetzbarkeit-die-nicht-eine-ist [untranslatabilitywhich-is-not-one] einzudringen. Dessen eingedenk, dass Derrida eher hy­ perbolisch von einem ,Messen‘ [measuring] mit der ,Kraft‘ des Originals gesprochen hat, und dass wir uns deshalb davor hüten sollten, eine zu scharfe, geradezu Kantische Distinktion zu erspähen, wo Derrida keine im Auge zu haben scheint, fragen wir, wie dieses dynamische Scheitern der Übersetzung - im Unterschied zur einem mathematischen etwa - sich dar­ stellt? Vermutlich folgendermaßen: In seiner Darstellung dessen, was er poetische Ökonomie nennt, lehnt sich Derrida an ein poetisches Bild an: „[I]ntraduisible demeure [...] l’économie poétique de l’idiome, celui qui m’importe, car je mourrais encore plus vite sans lui, et qui m ’importe, moi-même à moi-même.“18 In Mensahs Fassung: „[T ]he poetic economy of the idiom, the one that is important to me, for I would die even more quickly without it, and which is important to me, myself to myself, where a given formal ,quantity‘ always fails to restore the singular event of the original, that is to let it be forgotten once recorded, to carry away its number, the prosodic shadow of its quantum [...]“ Bei Pons heißt es: „Pero ,intraducible‘ se mantiene [...] la economia poética del idioma, el que me importa, pues moriria aùn mas râpido sin él, y que me importa, a mi mismo en mi mismo, alli donde una cantidad ,formal‘ dada fracasa, en restituir el acontecimiento singular del original.“ Hier ist zu beachten, wie viel an der Differenz zwischen einem „Idi­ om“ und einer Sprache hängt - einem „Idiom“ oder einem „idiomatischen Ausdruck“ mit der Tendenz zum Singulären, dem in das Allgemeine ein­ gebetteten Idiolektalen, dem Platz, an dem „eine gegebene formale ,Quantität’ immer daran scheitert, das einzigartige Ereignis des Originals wiederzugeben“.19 Derrida verknüpft die „Restitution des singulären Er­ eignisses des Original“-Idioms mit dreisinnigem phonetisch-semantischen Wortspiel mit dem französischen importer, „jemandem wichtig sein; dies ist mir wichtig“; importer, „etwas importieren oder in etwas hinein trans­ ferieren, sich selbst von sich selbst zu sich selbst transferieren“ (wir sind 18 „Aber ,unübersetzbar‘ bleibt [...] die poetische Ökonomie des Idioms, diejenige, die mir von Bedeutung ist —denn ich würde schneller ohne sie sterben —und die mir —mir selbst für mich selbst —dort von Bedeutung ist [...].“ Ebd., 112. Die Übersetzung findet sich hier, anders als sonst, in Fußnote 13, weil im Haupttext der Vergleich der Originalfassungen von zentraler Bedeutung ist (Anm. d. U.). 19 Ebd., 112.

231

in der Welt der Märkte, der Import-Export-Ökonomien: mit Betonung auf der poetischen Ökonomie des Idioms); und emporter, „etwas wegtra­ gen, herausnehmen, entfernen“. Was Derrida die „poetische Ökonomie des Idioms“ nennt, bringt mich-selbst [moi-même] zu und weg von mirselbst [moi-même], bringt-mich-zu-mir (importer) und zugleich in die Entfremdung (emporter), gewinnt an Bedeutung durch das Wegnehmen und Zu-mir-Bringen zugleich. Betonen wir nun das Moment des Poeti­ schen, da wir annehmen, eine pragmatische „Ökonomie des Idioms“, falls eine solche möglich ist, würde vom Idiom weg- und zur Sprache, die ich mit anderen teile, hintendieren, zur notwendigerweise öffentlichen Spra­ che der Transaktionen, des Geschäfts, der Märkte usw. Pons vollzieht die­ se komplizierte Bewegung im Kastilischen „me importa, a mi mismo en mi mismo“, was etwa bedeutet „es ist mir wichtig“ oder „es trägt mich hinein“, „mich in mich selbst“, womit er die Bewegung des Imports meiner selbst in mich selbst hinein deutlich macht, doch er verwirrt dies zugleich mit dem vorherrschenden Sinn der Kastilischen Präposition en als ,dentro‘ [drinnen] oder ,dentro de‘ [binnen], was in diesem Fall eher ,within‘ be­ deuten würde, als wäre das Idiom, das Selbst [idios], in mich selbst hin nur innerhalb meiner selbst importiert. Erinnern wir uns daran, dass ein anderer Name für die komplexe Be­ wegung der Import-Export-Verfremdung des Idioms, der Bewegung mei­ ner selbst zu mir selbst innerhalb meiner selbst und von einem Ohnemich-Selbst her, in der Tat Übersetzung ist. Die „poetische Ökonomie des Idioms“ ,übersetzt‘ oder ,agiert‘ nicht in der Art, dass das Subjekt eines Satzes als das Prädikat zu Bestimmendes gelten soll, oder in der Art, dass jemand, der etwas misst [measures], nennen wir es die ,Kraft‘ einer Origi­ nalsprache, agiere. Sondern die politische Ökonomie des Idioms‘ ist nicht bloß oder lediglich meine, einzigartig, idiolektal oder eine ,poetische‘ oder einfach und bloß ein ,rhetorischer‘, ein akzidenteller Aspekt des Aus­ drucks einer semantisch transportablen ,Quantums‘, das ,importiert‘ oder von einer Person oder einer Sprache zur anderen ,exportiert‘ werden könnte, sich der unentscheidbaren Verknüpftheit [link] von importer [im­ portieren, bringen-zu] mit emporter [entfernen, wegnehmen] entziehend, die Derridas Französisch poetisch verfügbar macht, vermutlich um seine Leser zu überreden oder zu bewegen, d.h. um einen rhetorischen Effekt zu erzielen. Die simultan-verschobene, mittelbar-unmittelbare Reduzibilität und Irreduzibilität der natürlichen Sprachen und der Momente der Ausdrucksartikulationen in natürlichen Sprachen auf quanta oder seman­ tischen Inhalt, ist die Bedingung, unter welcher Relationen existieren, in­ klusive die Relationen der Analogie und der Äquivalenz: eine Beziehung von einem selbst zu einem anderen (Ich bin wie du, wir teilen ein Interes­ se an diesem oder jenem sozialen, politischen oder ökonomischen Ergeb­ nis), einer natürlichen Sprache zu einer anderen (dieses Wort im Engli-

232

sehen bedeutet das gleiche wie jenes im Französischen), einer Hyperbel zu einer anderen, einer geometrischen zu einer rhetorischen, von mir selbst [moi-même] zu/von [to/from] mir selbst [moi-même] her. Von einer disziplinären Perspektive her scheint Derridas Anspruch zu sein, dass das Denken dieser Irreduzibilität die Bedingung ist, unter welcher genuin philosophische Konzepte und Begriffe existieren: dies ist die genuine Arbeit der Philosophie. Doch nehmen wir stattdessen die Per­ spektive der Kritik der subsistierenden Analogie zwischen der Struktur der generellen Äquivalenz und des Felds des linguistischen Ubersetzens ein - unsere Perspektive. Aus dieser Perspektive behauptet Derridas Satz über die unmögliche, aber stattfindende Übersetzung zwischen den hy­ perbolischen Behauptungen, dass nichts unübersetzbar und dass alles un­ übersetzbar sei. Derridas Satz gibt uns eine profunde Beschreibung der Quellen dessen, was Laclau die „entscheidenden Effekte in der Strukturierung/Destrukturierung der sozialen Beziehungen“ im globalen Kreditka­ pitalismus nennt. Da die Arbeit des Ubersetzens der generellen Äquiva­ lenzen, welche im Markt der Märkte vorherrschen, eine Arbeit ist, die zu einem Quantum wird, doch immer - zugleich und nicht zugleich - etwas anderes wird, etwas, das nicht auf seine Quantität reduziert werden kann, das von der hyberbolischen Form der rhetorischen Präsentation in die hyperbolische Form der mathematischen Repräsentation unübersetzbar ist. Diese Unübersetzbarkeit, die keine einsinnige ist [untranslatability which is not one], die daher nicht eine ist insofern, als sie nicht auf das Quantum gebracht werden kann [cannot measure up to the quantum], markiert diejenige Stelle, an welcher die Universität und die spekulativen Disziplinen in ihrem Kern erfolgreich sind oder ihren Kredit verspielen, und aufhören, Nutzen in Bezug auf die Identitäten, die Objekte und Kreisläufe zu generieren, auf der Arbeit im Markt der Märkte. Der „ent­ scheidende Effekt [···] in der Strukturierung/Destrukturierung von [...] Beziehungen“ tritt gerade hier in Erscheinung, wo die Prinzipien der Ana­ logie, Äquivalenz, des Austauschs und der Abstraktion, die Prinzipien al­ so der Übersetzbarkeit und Unübersetzbarkeit-die-nicht-eine-ist, inso­ weit die Gestalt einer gedanklichen Arbeit annehmen wie diese allgemeinen Prinzipien in der Formierung eines kohärenten Systems versagen, welches das konzeptuelle Prinzip eines Marktes der Märkte im globalen Kapita­ lismus werden könnte. Und Derridas stärkste Suggestion - mit welcher ich schließen möchte - besteht darin, dass dieses Denken, da es das, was unmöglich übersetzbar ist, nicht allein die genuine Arbeit der Philosophie ist; es erscheint nicht nur in den bewachten disziplinären Hainen der Uni­ versität oder der formellen Institutionen, deren Zweck darin besteht, das spekulative Denken zu fördern und zu schützen. Übersetzung und die sie begleitende Übersetzbarkeit-die-nicht-eine-ist sind, um auf Marx’ Worte zurückzukommen, ein „Ausgangspunkt“, lokalisiert in den „in Gesell­

233

schaft produzierenden Individuen - und daher die gesellschaftlich be­ stimmte Produktion von Individuen“. Übersetzung und ihre sie beglei­ tende Übersetzbarkeit-die-nicht-eine-ist sind gleichsam die Erste Politi­ sche Ökonomie. Sie sind gemäß der ethisch-politischen Arbeit, die wir, ich selbst und Sie selbst, tun, in dem Augenblick, in dem wir einander begeg­ nen, wenn jeder von uns ermisst [measures up to], was unmessbar [immea­ surable] für uns am Anderen und im Idiom des Anderen ist; wenn wir aus dem Wägen [speak out of measure] heraus sprechen, um abzuwägen [mea­ sure out], jeder zum anderen, mit Ausdrücken, die wir für unsere eigenen halten, Ausdrücken, die unsere Namen und das, was uns am wichtigsten ist, tragen, ce qui nous importe/emporte, in Derridas Ausdrücken, oder selbst in meinen Ausdrücken, in denen ich Ihnen heute gegenübertrete. Übersetzt von Sebastian Edinger und Guido K. Tamponi

234

Ronja Bodola

Bildstörungen - Zur ästhetischen Produktion von Lebenswissen an Übergängen

Für Uwe

I. Lebenswissen und Bildstörung um 1900 Es gibt beim Höchststand der Bildproduktion massive Störungen. Es gibt Bildstörungen, die das Leben in den Bildern und das Sterben daran enorm zweideutig werden lassen.1

Bereits ein flüchtiger Blick auf die gegenwärtigen life sciences zeigt, dass diese nicht nur analysierend erklären, sondern durch ihre Erkenntnisse und Praktiken direkt auf unsere Lebenswelt und Lebensführung zurück­ wirken. Sogar die biologischen life sciences sind aktiv an der Herstellung ihrer Gegenstände und der Konzepte und Begriffe beteiligt, die wir vom Leben haben. Das gilt insbesondere für die erweiterten Lebenswissen­ schaften.12 Diese transversale Position der Lebenswissenschaften zur tradi­ tionellen Opposition der zwei Kulturen markiert ihre epistemologische Besonderheit. Lebenswissenschaften operieren an epistemologischen, me­ dialen und ästhetischen Übergängen, und das von Beginn an.3 1 2

3

Dietmar Kamper: Bildstörungen. Im Orbit des Imaginären. Stuttgart 1994, S. 7. Das bedeutet vor allem nicht nur eine Reduktion von Leben auf bios, sondern eine Betrachtung von zoe gleichermaßen. Es ist nicht zuletzt einer geisteswissenschaftli­ chen Diskussion, angestoßen durch Ottmar Ette in der Zeitschrift lendemains, zu verdanken, dass sich mittlerweile Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaft so­ wie Philosophie mit lebenswissenschaftlichen Fragestellungen auseinandersetzen, vgl. hierzu Ottmar Ette: Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft - Eine Pro­ grammschrift im Jahr der Geisteswissenschaften. In: Lendemains. Études com­ parées sur la France. Zeitschrift für vergleichende Frankreichforschung. 125 (2007), S. 7-32. Wie Uwe Wirth ausführlich diskutiert, stellt auch die kulturwissenschaftliche Ar­ beit eine „Arbeit an Übergängen“ dar (Uwe Wirth: Vorüberlegung zu einer Logik der Kulturforschung. In: Ders. (Hg.): Kulturwissenschaft. Frankfurt a.M. 2008, S. 9-67, hier insbesondere S. 63-66). Allein vor diesem Hintergrund und angesichts der Tatsache, dass die hier erwähnten ,lebenswissenschaftlichen‘ Theorien und An­ sätze sich zum Teil mit jenen aus Wirths Anthologie überschneiden, stellt sich grundsätzlich die Frage, wie sich diese Art von Kultur- und Lebenswissenschaften zueinander verhalten. Ähnliche Fragen stellen sich auch Projekte des Zentrums für

235

Zwar finden sich vereinzelte Nachweise des ,undisziplinierten‘ Kon­ zepts der life sciences seit Mitte des 19. Jahrhunderts,4 doch die erste ent­ scheidende Phase der Ausbildung einer transdisziplinären Lebenswissen­ schaft findet verstärkt ,um 1900‘ statt. Diese Periode wird für die Geis­ teswissenschaften immer wieder als Umbruch par excellence beschrieben, und wurde auch von den Zeitgenossen so empfunden - ein Grund für Sigmund Freud, seine Traumdeutung vorzudatieren auf das vielverspre­ chende Jahr 1900. In der Tat finden sich an dieser Epochenschwelle zahl­ reiche Projekte, die als lebenswissenschaftlich gelten können und die zeit­ genössische Aufspaltung von ,Erklären‘ und ,Verstehen‘ unterlaufen: Wil­ helm Diltheys Hermeneutik des Lebens,5 Georg Simmels Lebensbegriff,6 Sigmund Freuds Lebenskonzept sowie Ernst Haeckels Interpretation der Evolutionstheorie.7 Um diesen epochemachenden Übergang soll es auch in diesem Bei­ trag gehen. Lebenswissen um 1900, so die These, korreliert mit einem äs­ thetischen Übergangsphänomen, das ich im Folgenden als Bildstörung bezeichne. Als paradigmatisches Beispiel für diesen historischen Zeitraum kann die Entdeckung der Röntgen-,Photographie‘ gelten. 1895 entdeckte Wilhelm Röntgen während seiner Strahlenforschung zufällig ein bildge­ bendes Verfahren, und diese Entdeckung kann als Bildstörung in zweifa­ cher Weise gelesen werden. Das erste Röntgenbild als solches stört den

4

5 6 7

236

Literatur- und Kulturforschung Berlin, vor allem im Schwerpunkt „Lebenswissen“ (vgl. http://www.zfl-berlin.org/forschungsschwerpunkt-lebenswissen.html, 13.04. 16), eine systematische Diskussion bleibt jedoch wünschenswert. Der erste Eintrag im Oxford English Dictionary datiert auf 1861 (vgl. www. oed.com, 13.04.16), und versteht die life sciences als extern der Medizin. Der nächste Zeuge von 1928 streicht bereits deutlich den disziplinären Übergangsstatus heraus: „History can be written adequately only by those who are great scholars and great students of the life-sciences.“ Wegweisend für diesen Beitrag ist auch der Vergleich mit dem Grimm’schen Wörterbuch, das unter Referenz auf Herder „Le­ benswissen“ lapidar als „das Wissen von Leben“ abhandelt, aber den Begriff des „Lebensbilds“ wesentlich differenzierter bestimmt, siehe Punkt II unten. Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 16 Bde. Leipzig 1854— 1961. Quellenzeichnis Leipzig 1971. Online Version vom 07.04.16. Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaf­ ten [1910]. Berlin 2013. Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben [1903]. Frankfurt a.M. 2006; vgl. hierzu Horst Helle: Dilthey, Simmel und Verstehen. Frankfurt a.M. 1986. Zu Virchows Ablehnung Haeckels und dessen ambivalenter disziplinärer Position, vgl. Christian Mehr: Naturalisierte Kulturgeschichte. In: Ulrich Muhlack (Hg.): Historisierung und gesellschaftlicher Wandel in Deutschland im 19. Jahrhundert. Berlin 2003, S. 193-210, insbesondere S. 206. Die oben genannten Beispiele waren von zentralem Interesse auf der Tagung Epistemologien des Lebens, die am ZfL Berlin im Oktober 2014 stattfand. Die folgenden Überlegungen basieren in Teilen auf meinem Beitrag zu dieser Konferenz (unter Ronja Tripp, vgl. http://www.zflberlin.org/veranstaltungen-detail/items/epistemologie-des-lebens.html, 13.04.16).

Forscher und lenkt die Aufmerksamkeit um - „a surprising fact C is ob­ served“.8 Um dieses Ergebnis unbekannter Ursache erklären zu können, fordert diese Störung eine neue Experimentalanordnung, sie führt zur Verschiebung der Forschung und Fragestellungen. In diesem Fall wirkt dieses Bild zudem entscheidend auf unser Wissen vom Leben ein. Doch damit nicht genug, denn mit diesem Bild, das Unsichtbares sichtbar macht, werden auch ganz überraschend die Grenzen menschlicher Wahr­ nehmung und ihre Medialisierungen neu verhandelt. In diesem Sinne stört das Bild - als ästhetisches Gebilde - auch das Verständnis unserer kogniti­ ven und epistemologischen Kategorien und zwingt zu einer Neubewer­ tung. Gleiches galt zum Beispiel auch für die zeitgenössischen Fotoreihen von Eadweard Muybridge, die Bewegungsabläufe sichtbar machten, wel­ che für das bloße Auge ,unsichtbar‘ sind, so zum Beispiel den Galopp ei­ nes Pferdes. In beiden Beispielen, Röntgenbild und Fotoreihen, funktionierte das Medium reibungslos und gab nur etwas Neues und Überraschendes zu sehen. Sie initialisierten potentielle epistemologische Übergänge. Doch Bildstörungen können freilich auch einen genuinen medialen Störfall an­ zeigen. Diese Störungen sind jedem Medium inhärent - insbesondere der Photographie im 19. Jahrhundert - 9 und Bildstörungen entstehen dann schlichtweg als ,Übertragungsfehler‘. In diesen Fällen, die ebenfalls eine plötzliche überraschende Wende anzeigen, indem die zuvor noch transpa­ rent-wirkende Medialität opak wird und hervortritt, ist der Rezipient stärker am Übergangsprozess beteiligt. Diese Art von Übergangsphäno­ men changieren zwischen ästhetischen und kognitiven Prozessen, und sind bestimmt durch die Dialektik von Unterbrechung und Weiterverar­ beitung, oder, mit Ludwig Jäger gesprochen, durch den Prozess von „Stö­ rung“ und „Transkription“:10 Störung soll also [...] jeder Zustand im Verlauf einer Kommunikation hei­ ßen, der bewirkt, dass ein Medium (operativ) seine Transparenz verliert und in seiner Materialität wahrgenommen wird und Transparenz jeder Zu­ stand, in dem die Kommunikation nicht ,gestört‘ ist, also das Medium als Medium nicht im Fokus der Aufmerksamkeit steht, etwa in dem Sinne, in

8

Charles S. Peirce: Collected Papers. Hg. von Charles Hartshorne et al. Cambridge 1931-1958, Abschnitt 5.189. Die Collected Papers im Folgenden mit Kurznotation CP. 9 Vgl. Peter Geimer, „Bild und Bildstörung.“ In: Lachmann, Renate; Rieger, Stefan (Hg.): Text und Wissen. Technologische und anthropologische Aspekte. Tübingen 2003, S. 91-104. Text und Wissen. Technologische und anthropologische Aspekte. Tübingen 2003, S. 91-104. 10 Ludwig Jäger: Störung und Transparenz. Skizze zur performativen Logik des Me­ dialen. In: Krämer, Sibylle (Hg.): Performativität und Medialität. München 2004, S. 35-74.

237

dem Luhmann davon ausgeht, dass im mterdependenten Verhältnis von Medium und Form die Form sichtbar ist und das Medium unsichtbar bleibt.11

Entscheidend dabei ist, dass nicht einfach ein Prozess aussetzt, der nach­ folgend wieder in Gang gesetzt wird. Diese „Störung des Verstehens“112 lässt nicht nur die Symptome der Störung beobachten, sondern macht die Notwendigkeit einer „transkriptiven Weiterverarbeitung“13 selbst evident. Und diese transkriptiven Weiterverarbeitungen operieren nicht an Über­ gängen, sie verkörpern diese Übergange, an und mit denen neue Wissens­ formationen erst entstehen. Somit oszillieren Bildstörungen zwischen Sichtbarkeit und Evidenz, Ansicht und Einsicht, Nicht-Verstehen und Erkenntnis, Aspekt sehen und Sinn be/deuten.14 „Die Penetranz der Störung“, schreibt Peter Geimer in Bezug auf die Photographie, „ist mithin nichts Negatives, kein D e­ fizit, kein Unfall [...]“, und das nicht nur, ließe sich hinzufügen, weil Bild und Bildstörung „Effekte des selben Systems sind“:15 Dem Wissen, das sich in den Bildstörungen manifestiert, eignet ein „Modus der Aufdring­ 11 12 13 14

Jäger, Störung, S. 62. Jäger, Störung, S. 42. Jäger, Störung, S. 46. Ich habe an anderer Stelle Bildstörungen hinsichtlich ihrer „Logik des Unfalls“ dis­ kutiert, und bin dabei ausführlich auf den Unterschied von ikonischem Sinn, Bild­ verstehen und Bedeuten als Deuten eingegangen. Vgl. zum Beispiel Ronja Tripp: Konstellation, Diagrammatik, Dialektisches Bild. In: Igor Hartung et al. (Hg.): Lernen und Erzählen interdisziplinär. Wiesbaden 2011, S. 83—100; auch Ronja Tripp: Mirroring the Lamp. Trier 2013, hier S. 56—68. 15 Geimer, Bildstörung, S. 102. Es ist bemerkenswert in diesem Zusammenhang, das im Jahr des vielzitierten „pictorial turn“ Mitchells und des „iconic turns“ Böhms ebenfalls zwei Bände zur „Bildstörung“ erscheinen. Einerseits Kampers oben zitier­ te Sammlung, die Bildstörungen ähnlich wie Geimer als revolutionäres Potential ei­ ner visuellen Negativität liest. Andererseits argumentiert Jean-Pierre Dubost für eine Politisierung der Ästhetik, welche die Störung unserer Wahrnehmung durch die Ubiquität der Bildern kritisch freilegen soll. Dies fordert mit Dubost Ethik der Wahrnehmung. Vgl. Vorwort. In: Ders. (Hg.): Bildstörung. Gedanken zu einer Ethik der Wahrnehmung. Leipzig 1994, S. 9—13, hier 10 und 12. Dieser Beitrag wie meine Argumentationen an anderer Stelle verbinden diese zwei nur auf den ersten Blick gegensätzlichen Positionen, vgl. auch Ronja Bodola: Per­ ceiving the Pattern of Life. Lebensform, Vorstellungsbild, and Visual Ethics. In: Dies. und Karsten Schoellner (Hg.): Picturing Life. Wittgenstein’s Visual Ethics. Würzburg 2016, S. 115—137. Wie auch Viola hervorhebt hätte sich eine gewinn­ bringende Verbindung von Peirce zu Wittgensteins „ikonischen Ansätzen“ herstel­ len lassen —zumindest über das verstandene Lebensbild, möchte ich hinzufügen, welches das ,neutralere‘ Aspekt-sehen und den Aspektwechsel um eine ethische Komponente erweitert. Vgl. Tullio Viola: Pragmatism, Bistable Images, and the Serpentine Line. In: Franz Engel et al. (Hg.): Das bildnerische Denken. Charles S. Peirce. Berlin 2012, S. 116-138.

238

lichkeit“.16 Es wird dabei nicht nur die „Unverwendbarkeit“ des „Zeugs"17 ausgestellt, es macht gleichzeitig unsere Erwartungen explizit, und damit das Wissen um blinde Flecken des Mediums und der Wahrnehmung. Was sich uns ,aufdrängt‘, ist (neues) Lebenswissen. Bildstörungen medialisieren epistemologische Übergänge, die direkt auf unsere Lebens­ welt zurückwirken. Sie sollen in ihrem Zusammenhang mit Lebenswissen und Lebenswissenschaften im Folgenden an zwei Beispielen diskutiert werden, die ,lebenswissenschaftsgeschichtlich‘ für die Epochenschwelle ,um 1900‘ relevant sind, da sie nicht zuletzt an der Schnittstelle von N a­ tur- und Geisteswissenschaften angesiedelt sind. Die Betrachtung von Charles S. Peirces „bildnerischem Denken“18 einerseits, und H.G. Wells’ Skeptizismus andererseits sollen zu einem Verständnis zeitgenössischer Reflexionen spezifischer ästhetischer Formationen beitragen, in denen Lebenswissen verhandelt bzw. zugänglich gemacht wird und in denen sich Epistemologien des Lebens parametrisieren. Als Grundierung dieser D is­ kussionen dient das ästhetische Konzept des „verstandenen Lebensbilds“. Es ist, so möchte ich zeigen, das vermittelnde tertium comparationis - ge­ wissermaßen das Leitmotiv -, der bildtheoretisch geleiteten, lebenswis­ senschaftlichen Debatten sowohl bei Peirce als auch bei Wells. Da es zu­ dem mit den anderen, weiter oben genannten wissenschaftshistorischen Positionen verknüpft und damit für die Lebenswissenschaft um 1900 von besonderer Bedeutung ist,19 möchte ich es im Folgenden als eines der ers­ ten lebenswissenschaftlichen Konzepte lesen, da es beim „verstandenen Lebensbild“ im Kern darum geht, jenseits kategorialer Erklärungsmuster Lebenswissen durch Bildstörungen hervorzubringen.

II. Das Leben in Bildern, oder: Das „verstandene Lebensbild“ Der Begriff des „verstandenen Lebensbilds“ geht auf Friedrich Theodor Vischer zurück. In seiner Kritik meiner Ästhetik (1873) sowie an zentralen Stellen in den Kritischen Gängen (1844) beschreibt er eine Form literari­ schen Schreibens, die, schreibt Müller-Tamm „die Mitte hält zwischen Ä s­ 16 So Geimers Untertitel. 17 Diese Begriffe werden im Sinne Heideggers (Sein und Zeit) verwendet, den Geimer für sein Argument heranzieht, vgl. Geimer, Bildstörung, S. 102. 18 Franz Engel et al. (Hg.): Das bildnerische Denken. Charles S. Peirce. Berlin 2012. 19 Dieser Begriff erfuhr jüngst einige Aufmerksamkeit, nicht zuletzt durch die gleichnamige Anthologie, herausgegeben von Jutta Müller-Tamm (Hg.): Verstan­ denes Lebensbild. Ästhetische Wissenschaft von Humboldt bis Vischer. Berlin 2010. Der Begriff wurde aber auch jüngst für die Dilthey-Forschung stark ge­ macht, insbesondere im Zusammenhang mit der sich herausbildenden Geisteswis­ senschaft um 1850 und der ,Geistesgeschichte Diltheys‘, vgl. Gregor Kanitz: Kör­ per und Häuser des Geistes. Lebens-Arbeit mit Wilhelm Dilthey. Paderborn 2015.

239

thetik und Wissenschaft“.20 Es handelt sich also um eine Textgattung, die von einer programmatischen disziplinären „Ortlosigkeit“ geprägt ist und sich zwischen Literatur, Philosophie und wissenschaftlicher Abhandlung bewegt.21 Diese Mittlerposition ist programmatisch, da es weder darum geht, absolute Unterschiede von Naturwissenschaft und Ästhetik auf das Leben zu konsolidieren, noch zu amortisieren: Vielmehr stellt diese Gat­ tung eine Aushandlungsbühne für Ausdifferenzierungsprozesse bereit. Un­ terschiedliche ,lebenswissenschaftliche‘ Herangehensweisen, „Darstellungs­ konventionen und divergierende Interessen“22 sind nachgerade konstitutiv für das Lebensbild. So erklärt sich auch, folgt man Müller-Tamms Textaus­ wahl (und ihrem Argument), warum das „verstandene Lebensbild“ als Textgattung während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts für die Ab­ handlungen von Philosophen, Botanikern und Ärzten, für Carus, die Humboldts, Vischer oder Ritter, um nur einige zu nennen, gleichermaßen prägend war. Um das Konzept des „verstandenen Lebensbilds“ für bestimmte Epistemologien des Lebens um 1900 fruchtbar machen zu können, soll es kurz in seinen wesentlichen Merkmalen vorgestellt werden. Aus litera­ turwissenschaftlicher Sicht interessant ist Vischers Entwurf der „Literatur als Wissens- und Kulturgeschichte der Lebenserscheinungen in ihrer Sichtbarkeit“.23 Der Begriff der Sichtbarkeit sollte gleich stutzig machen, doch bevor der Bildbegriff geklärt werden kann, zunächst zum Leben: Im Unterschied zu, beispielsweise, positivistischen, objektivierenden Klassi­ fizierungsversuchen wird im Lebensbild die Relationen zwischen mensch­ lichem Betrachter und Natur bzw. Wissenschaft stets mitreflektiert. Es geht um die „Vernetztheit aller Naturphänomene“24 (8), um das relationa­ le Gefüge von Dingen, aber auch um die epistemische Gebundenheit der Darstellung. Epistemologische Hierarchisierungen gilt es damit ebenso auszuhebeln, wie es darum geht, die selbstreflexive Geste hervorzuheben. Darüber hinaus geht es beim „Lebensbild“ um kontextuelle und temporal­ dynamische Aspekte der Darstellung, um eine extensive Totalität, in die der Gegenstand eingebettet werden soll: Das „verstandene Lebensbild“ zielt darauf ab, ein Ding in seinem natürlichen und kulturellen Umständen und Wechselbeziehungen, in seiner Entwicklung und seinem Lebensraum

20 Jutta Müller-Tamm: .Verstandenes Lebensbild‘. Zur Einführung. In: Müller-Tamm (Hg.): Verstandenes Lebensbild. Ästhetische Wissenschaft von Humboldt bis Vi­ scher. Eine Anthologie. Berlin 2010, S. 7—28, hier S. 7. Im Folgenden beziehe ich mich auf ihre Einleitung, so nicht anders vermerkt. 21 Vgl. auch Kanitz, Einleitung. 22 Müller-Tamm, .Verstandenes Lebensbild‘, S. 17. 23 Ebd., S. 8. 24 Ebd.

240

oder überhaupt einen gesamten Lebensraum als komplexes Ineinanderwir­ ken unterschiedlichster Phänomene darzustellen.25

Entsprechend der eben beschriebenen relationalen Vernetztheit, ist der Gegenstand nicht ,die Natur‘ oder das Naturschöne, sondern ,das Leben‘, und entsprechend dieser Offenheit sind diverse Disziplinen beteiligt. In Vischers Worten: Dieses ,Genre‘, diese Art zu schreiben „knüpft sich zwar durch starke Fäden an diese und jene Disciplin, aber sie stehet für sich, denn sie vereinigt die Standpunkte, die sie aus den verschiedenen Gebieten entlehnt, auf ihre Weise zu einem Ganzen“.26 Doch das ist nicht alles: Das Wissen ist rückgekoppelt an die sinnli­ che Wahrnehmung. Damit komme ich zu den Begriffen der Sichtbarkeit und des Bildes. Die mediale Metaphorik des ,Bildes‘ erschöpft sich nicht repräsentationslogisch als Abbild, etwa als gegenstandsnahe, mimetische Ekphrasis. Vielmehr stehen Bild und Leben im direkten Interaktionsver­ hältnis: „das Leben wird nicht nur als Bild gestaltet, es wird auch als Bild [...] wahrgenommen“.27 Das Bild deutet nicht nur auf das Leben, das Le­ ben selbst wird als bedeutend wahrgenommen - es macht ein Verstehen jenseits von Erklären erforderlich. Das Lebensbild als Präsentation von Leben verbindet also die natur­ wissenschaftliche Repräsentation mit der ästhetischen Erfahrung. Nur zu­ sammen wird das Lebensbild zu einem Bild des Lebens. Doch was heißt es nun für die Epistemologien des Lebens, etwas - nämlich Leben - als Bild wahrzunehmen? Muss man sich am äquivoken Bildbegriff in diesem Fall überhaupt abarbeiten? Ein Blick auf die zeitgenössische Verwendung des Begriffs - also das Grimm’sche Wörterbuch - verrät doch: „ein bild, wel­ ches man vom leben im allgemeinen oder von dem eines einzelnen be­ kommt; vorzugsweise von einer schilderung durch die feder“.28 Ganz offensichtlich handelt es sich schon im 19. Jahrhundert nicht um ein materielles Bild. Auch kommen dem Lebensbild nicht die „sammelnd­ registrierenden und schematischstrukturierenden [...] Ordnungsleistun­ gen“29 zu, wie den Tabellen Linnés zum Beispiel. Ob mit oder ohne Lite­ rarisierung spielt keine Rolle, denn das Lebensbild steht als Textgattung vielmehr zwischen pragmatischer Literatur und Dichtung, das heißt: Die besondere Bildlichkeit, vielleicht auch die ,Tableauhaftigkeit‘ des Lebens­ bilds, gründet nicht in einer piktorialen Sichtbarkeit, es gibt keine ,Ab­ 25 Ebd., S. 18. 26 Friedrich Vischer: Kritik meiner Ästhetik. Stuttgart 1873. Wiederabdruck: Kriti­ sche Gänge. Bd. 4. (1922), S. 222-419, hier S. 245. 27 Müller-Tamm, (Verstandenes Lebensbild‘, S. 19. 28 Lemma „Lebensbild“, Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 16 Bde. Leipzig 1854-1961. Quellenzeichnis Leipzig 1971. Online Version vom 07.04.16. 29 Müller-Tamm, (Verstandenes Lebensbild‘, S. 15.

241

bildhaftigkeit‘, keine ausschließliche, objektivierende Referenzialität; es gilt nichts zu erklären, sondern das Lebensbild schafft erst durch seine äs­ thetische Kombinationen und Konstellationen etwas Neues. Dem geht naturgemäß eine „hermeneutische Operation“30 voran und deshalb ist das Lebensbild auch ein „verstandenes“: Das Lebensbild erklärt nicht, es ver­ steht und gibt zu verstehen. Und wie gibt es zu verstehen? Indem es das Leben, oder Teile des Lebens, als komplexes, relationales Zusammenspiel präsentiert oder mate­ rialisiert. Das bedeutet, das Lebensbild ist ikonisch im Sinne einer „Diagrammatikalität“ im Ausgang von Peirce, und das auf eine Art, die man als „asymmetrische Konstellation“ bezeichnen kann.31 Die asymmetrischen Konstellationen folgen keiner konventionalisierten Repräsentationslogik und werden so zwangsläufig Anlass zur „transkriptiven Weiterverarbei­ tung“, Interpretation, im Sinne Jägers. Lebenswissen wird dann im verste­ henden, transkribierenden Nachvollzug der Bildstörung generiert. Die sinnliche Wahrnehmung dieses Bilds vom Leben sieht sich mit einem aus­ zudeutenden Sinn-Bild des Lebens konfrontiert. Die inhärente Störung, die in Form einer Deutung transkribiert werden muss, liegt in der Asym­ metrie begründet, also darin, dass das verstandene Lebensbild etwas zu­ sammenfügt, was bislang nicht zusammengehörte bzw. zusammen ge­ dacht wurde - „the idea of putting together what we had never before dreamed of putting together“,32 mit Peirce die einzige Möglichkeit, eine neue Erkenntnis zu haben.

III. Icon, Diagramm, Epistêmy - Peirces ,„bildnerisches Denken‘“ Peirce war ausgebildeter empirischer Naturwissenschaftler. Einige Jahre lang arbeitete er im „Museum of Comparative Zoology“. „Hierbei“, weiß John Krois, „hat er jahrelang mit Louis Agassiz [zusammengearbeitet], einem der größten Kenner naturwissenschaftlicher Klassifikation, nicht

30 Ebd., S. 19. 31 Asymmetrische Relationen oder Konstellationen sind ikonische, diagrammatische Gebilde, die „asymmetrisch“ sind, erstens, weil diese aus dem bisherigen Deutungs­ rahmen des Lesers fallen, damit auf die konstitutive Asymmetrie zwischen Text und Leser verweisen; zweitens, sind sie im Sinne einer ,Deformierung‘, einer „Ent­ stellung“ (Freud) zu verstehen, vgl. Tripp, Konstellation, S. 89-90. Vgl. auch Kamper, Bildstörung, S. 9, und Punkt VI unten. 32 „The abductive suggestion comes to us like a flash. It is an act of insight [...]. It is true that the different elements of the hypothesis were in our minds before; but it is the idea of putting together what we had never before dreamed of putting to­ gether which flashes the new suggestion before our contemplation“ (CP 5.181).

242

nur von Fossilien sondern von Lebewesen überhaupt“.33 Agassiz war der einflussreichste zeitgenössische Kritiker Darwins, und Peirce teilte mit ihm unter anderem die anti-darwinistische Haltung sowie einen gewissen Skeptizismus. Doch Peirces ,Skepsis‘ richtete sich - im Unterschied zu Agassiz - gegen jegliche Klassifikationen und Form, obwohl er selbst von der Logik und Mathematik aus argumentierte, und dies war für seine Auf­ fassung von Wahrnehmung, Ikonizität und deren Zusammenhang mit Le­ benswissen zentral, und somit auch für sein „verstandenes Lebensbild“: Wenngleich Peirce den Begriff selbst nicht verwendete, möchte ich im Folgenden an seinem „ikonisches Denken“ die Überschneidungen und Anknüpfungspunkte herausarbeiten. „This is Platonism turned inside out“34 kommentiert Krois die Peirce‘sche Annahme, dass Ideen verkörpert sind, also sinnlich-materiell ma­ nifestiert werden, und dass die Wahrnehmung und auch der ästhetischer Affekt bei Erkenntnisprozessen mit berücksichtigt werden müsste. So wird Bildlichkeit, oder „iconicity“ bei Peirce, die Wurzel allen Wissens. Wie Engel, Queisner und Viola seine zum Teil recht unsystematischen und verstreuten Bemerkungen zusammenfassen, ist dabei das [...Ikon] in seinen Qualitäten oder möglichen Relationen, die es verkörpert, [...] potentiell unendlich [, ...] grundsätzlich mehrdeutig und unbestimmt. [...] Es ist ein Hauptmerkmal des Ikons, dass durch direkte Beobachtung Wahrheiten über das Objekt entdeckt werden können, die über jene hinaus­ reichen, die seine Konstruktion bestimmen. Auf dieser Dynamis des Ikons basieren alle Vorgänge, die insofern kreativ sind, als sie einen Erkenntnisge­ winn erzeugen. Dies kann sogar auf die allgemeine Inferenz zu treffen. Eine anikonische Erkenntnis ist Peirce zufolge nicht möglich.35

Peirce etabliert das Ikon als grundlegende Kategorie seiner Erkenntnis­ theorie. Dabei geht es nicht um Ähnlichkeitsbeziehung zu einem Referen­ ten (allein schon deshalb, da es seine referentielle Funktion durch die Verkörperung einer Qualität erhält, unabhängig davon, ob sein Objekt tatsächlich existiert oder nicht). Keine Ähnlichkeiten, aber analoge Rela­ tionen. So überrascht es nicht, dass das zentrale Beispiel für Peirce nicht das Portrait, sondern das Diagramm ist. Ein Beispiel hierfür wäre eine Skizze von Peirce selbst (Abb. 1). Hierbei handelt es sich nicht um ein Bild einer Giraffe, sondern um ein 33 John Michael Krois: Eine Tatsache und zehn Thesen zu Peirce’ ,Bildern‘. In: Franz Engel et al. (Hg.): Das bildnerische Denken. Charles S. Peirce. Berlin 2012, S. 54­ 64, hier S. 59. 34 Krois, Image Science, S. 195. 35 Franz Engel, Moritz Queisner und Tullio Viola: Einleitung. Viertheit: Peirce’ Zeichnungen. In: Franz Engel et al. (Hg.): Das bildnerische Denken. Charles S. Peirce. Berlin 2012, S. 39-50, hier S. 44-45.

243

Abbildung 1

Abbildung 2

244

schematisches Arrangement von Körperteilen bestimmter Formen und Proportionen und dies „[may] be taken as a diagram of the concept or ty­ pe ,giraffe.‘ [L]ike most of Peirce’s drawings it presents itself less as a no­ tation of things observed than an idea illustrated.“36 Die Bildlichkeit selbst, das zeigt die Abbildung 2,37 wird bei Peirce zum Erkenntnis- und Denkwerkzeug. „Epistêmy“ ist dabei die Wortneu­ schöpfung, die eine neuartige Form materialisierten, modernen Wissens zum Ausdruck bringen soll. Dieses Wissen stützt sich nicht auf ein de­ duktives, korrelatives Erklären, sondern wurzelt in diagrammatischen Schlüssen. Und dieses diagrammatische Schließen geht über Definitionen hinaus, da es „ein zusätzliches Element einführt, das nicht den Prämissen entstammt“.38 Das Ikon wird so zum zentralen Element des Peirce’schen Pragmatizismus, und es gibt durch seine relationale Analogiebildung mehr zu verstehen: analog dem „verstandenen Lebensbild“ ist die sich daran an­ schließende „Theorie der Verkörperung, wonach [Zeichen] in ihrer kon­ kreten sinnlichen Verkörperung eine Eigendynamik entwickeln“.39 Diese anti-platonische Kritik abendländischer Philosophie wird be­ sonders deutlich in einer Vorlesung mit dem Titel „Philosophy and the Conduct of Life“,40 die Peirce auf Einladung von William James in Har­ vard hielt. In seinem Vortrag verknüpft Peirce diese Kritik mit Fragen nach der Relevanz für das Leben, und entfaltet so eine lebenswissen­ schaftliche Fragestellung.41 Für Peirce hat Philosophie erst einmal über­ haupt nichts zum Leben zu sagen, jedenfalls nichts zum praktischen. In seiner Vorlesung macht er schnell klar, dass die Philosophie (insbesondere Religionsphilosophie und Ethik) irrte in dem Glauben, auf das Leben po­ sitiv einwirken oder Hinweise zum gelingenden Leben geben zu können. Warum? Offenbar scheitern die Philosophen genau an ihrem An­ spruch, eine solche Leistung erbringen zu können, denn es gibt einige 36 Michael Leja: Peirce, Visuality, and the Semiotics of Pictures. In: Franz Engel et al. (Hg.): Das bildnerische Denken. Charles S. Peirce. Berlin 2012, S. 139-148, hier 144. 37 Beide Abbildungen sind Bildzitate aus Engel et al. Das Bildnerische Denken. Ab­ bildung 1 ist ein Ausschnitt aus Tafel XVI („Sog. ,Rebus‘“, Feder, schwarze Tinte auf Papier, 253x203 mm [Original], undatiert, MS 1538). Abbildung 2 ist ein Aus­ schnitt aus Tafel XXa („Epistêmy“, Feder, schwarze Tinte auf Papier, 77-127 mm [Original], ca. 1902, MS 1538). 38 Franz Engel: Epistêmy und andere Grotesken. In: Franz Engel et al. (Hg.): Das bildnerische Denken. Charles S. Peirce. Berlin 2012 S. 149-174, hier S. 172. 39 Krois, Eine Tatsache, S. 41. 40 Charles S. Peirce: Philosophy and the Conduct of Life. In: Kenneth Laine Ketner (Hg.): Reasoning and the Logic of Things. The Cambridge Conference Lectures of 1898. Cambridge 1992, S. 105-122. Im Folgenden wird direkt aus diesem Text im Fließtext zitiert. 41 Auch bezieht er sich explizit auf Carus, vgl. ebd. S. 112, der in der Anthologie Mül­ ler-Tamms zentral vertreten ist.

245

Wissenschaften - Peirces Beispiele sind Physiologie und Chemie - die „unmittelbar anwendbar“ sind, diese zeichnen sich in ihren Forschungen gerade durch eine Selbstvergessenheit aus. Die Zweckmäßigkeit jedoch verstelle den Blick des Forschenden und man müsste diese „aus dem Blickfeld“ rücken (vgl. 107). „Do you think“, fragt er rhetorisch, „that the physiologist who cuts up a dog reflects while doing so, that he may be saving a human life? Nonsense. If he did, it would spoil him for a scien­ tific man; and then the vivisection would become a crime.“ (107) Besser wäre es, ohne „feste Sicherheit der Arbeitsmethode“,42 die nur bestimmte Ergebnisse zuließe, also möglichst ergebnisoffen zu forschen. Auch sind der Verstand oder die logischen Schlussfolgerungen zwar wich­ tig, diese sind aber nicht für lebenswichtige Dinge, die „matters of Vital Importance“ (110) - man beachte die Großschreibung - von Belang. Stattdessen ist es der Instinkt, der den Philosophen auf die Spur der wirk­ lich wichtigen Dinge bringt: Once you become inflated with that idea [i.e., Platonism], vital importance seems to be a very low kind of importance, indeed. But such ideas are only suitable to regulate another life than this. Here we are in this workaday world, little creatures, mere cells in a social organism itself a poor and little thing enough, and we must look to see what little and definite task circum­ stances have set before our little strength to do. The performance of that task will require us to draw upon all our powers, reason included. And in the doing of it we should chiefly depend not upon that department of the soul which is most superficial and fallible, - I mean our reason, - but upon that department that is deep and sure, - which is instinct. Instinct is capa­ ble of development and growth, - though by a movement which is slow in the proportion in which it is vital; [...] N o t only is it of the same nature as the development of cognition; but it chiefly takes place through the in­ strumentality of cognition. (121)

Diese Aspekte sind interessant sowohl unter einem wissenschaftslogi­ schen als auch einem bildtheoretischen Gesichtspunkt. Denn die Idee des Instinkts geht hier offensichtlich über Darwin hinaus und ist geknüpft an das Konzept der Abduktion, „which is, after all, nothing but guessing.“43 Es ist der „Rate-Instinkt“, der kulturelles oder empirisches Vorwissen vorsprachlich und prälogisch verarbeitet, und dieser wiederum ist aufs Engste mit dem diagrammatischen Schließen verknüpft. „All knowledge whatever comes from observation“, formuliert Peirce aristotelisch, doch geht es um mehr, als nur Erkenntnis durch die Sinne. 42 Max Weber: Wissenschaft als Beruf [1919]. In: Wissenschaft als Beruf/Politik als Beruf, Studienausgabe. Tübingen 1994, S. 6. Dieser Aspekt ist entscheidend für die „Arbeit an Übergängen“, vgl. Wirth, Vorüberlegungen, S. 10. 43 CP 7.219.

246

„Bei Peirce ist die Wahrnehmung von Sinn in den Erscheinungen auf einer rein dynamischen und einer vorsprachlichen Ebene lokalisiert.“44 Zudem liegt die Betonung auf der Beobachtung, sowohl des Gegenstands - es sol­ len vor allem Relationen wahrgenommen werden (observation of relations) - als auch der Beobachterposition selbst. Dieses Wissen ist zunächst an konjizierte Hypothesen gebunden. Doch diese Hypothesenbildung ist, von Störmomenten abgesehen, nicht wahrnehmbar. Genau hier liegt, so Peirce, die Aufgabe des Philosophen, der einen relevanten lebenswissenschaftlichen Beitrag leisten will: Es ist seine Aufgabe dabei zu helfen, das wahrzunehmen, was stets vor Augen ist und gerade aus diesem Grunde nur schwer erkannt wird - jedenfalls für das „untrained eye“ - Peirce gibt ein Beispiel: „just as a man who never takes off his blue spectacles soon ceases to see the blue tinge“. Es geht da­ rum, zu realisieren, dass man, erstens, eine getönte Brille trägt, und man zweitens, diese von Zeit zu Zeit abnehmen und „anders“ sehen kann. Statt mit Hilfsmitteln wie Apparaturen - Peirce nennt explizit „telescope“ and „microscope“ -, Methoden oder Theorien soll das Auge selbst trainiert werden. In Peirces „Sehschule“ wird das „Wissen um“ operative Prozesse nicht nur sichtbar, sondern überhaupt erst zugänglich gemacht.45 Auf die konjekturale Hypothesenbildung übertragen heißt das: der Rate-Instinkt wird als solcher entlarvt und klar erkennbar, und damit kann man auch den jeweiligen Prämissen auf die Spur kommen - das er­ öffnet die Möglichkeit zur (auto-reflexiven) Erkenntnis. Krois spitzt dies auf die Formel zu, der „Pragmatizismus denkt ope­ rativ, nicht klassifizierend“.46 Nur so wird die Grundlage für neue Er­ kenntnisse geschaffen, auch, wenn man Peirce glauben darf, über das Le­ ben. Es kann nicht darum gehen, eine „Klasse“, zum Beispiel von icons, definieren zu können, um diese von anderen Zeichenklassen abzugrenzen. Es geht vielmehr um die prozessualen Dynamiken relationaler Gefüge. Das heißt, es geht nicht nur um die daraus resultierenden Prozesse, zum Beispiel jene der Transkription, sondern für Peirce auch gerade um jene vorangehenden Prozesse, die der Formation ikonischer Phänomene zu­ grunde liegen.47 Diese komplexen ikonischen Dynamiken sind schließlich auf das Engste mit dem Rate-Prozess verkoppelt, und beide sind Phäno­ mene des Übergangs wie ich im Folgenden näher ausführen möchte, oder wie es der zeitreisende Wissenschaftler aus H.G. Wells’ Time Machine

44 45 46 47

Engel et al., S. 59. Vgl. Krois, Eine Tatsache, S. 53. Krois, Eine Tatsache, S. 59. John Michael Krois: Image Science and Embodiment. Or: Peirce as Image Scien­ tist. In: Ders.: Bildkörper und Körperschema. Schriften zur Verkörperungstheorie ikonischer Formen. Hg. von Horst Bredekamp und Marion Lauschke. Berlin 2011, S. 195-209, hier S. 195.

247

formuliert: „[M ]y mind was already in revolution; my guesses and impres­ sions were slipping and sliding to a new adjustment“.48

IV. O f Microscopes and Men - H .G . Wells’ „The Scepticism of the Instrum ent“ H.G. Wells ist bekannt als Autor zahlreicher Science-Fiction-Novellen oder romances, wie er sie nannte. Vor seinem Durchbruch als Schriftsteller stand jedoch eine fundiert naturwissenschaftliche Ausbildung, und das ist nicht die einzige Parallele zu Peirce, wie sich im Folgenden zeigt. Wells studierte Biologie, Zoologie und Medizin bei einem der renommiertesten Protagonisten der viktorianischen Wissenschaftsgesellschaft. Die Arbeit mit T.H. Huxley, der den Spitznamen „Darwin’s Bulldog“ hatte, da er lei­ denschaftlicher Verfechter von dessen Theorien war, führte jedoch ähn­ lich wie bei Peirce und Agassiz zu einer Abkehr vom Darwinismus. Und schließlich galt Wells‘ Skepsis und späterer logisch-mathematischer Skep­ tizismus ebenso den Klassifikationen und der Form. Wells war mit seinem Debüt The Time Machine (1895) schlagartig Bestseller-Autor und wurde in den darauffolgenden drei Jahrzehnten ei­ ner der produktivsten Autoren seiner Zeit. Dennoch hielt er weiterhin re­ gelmäßig wissenschaftstheoretische und -kritische Vorlesungen. Auch wenn schon seine frühen Novellen wissenschafts- und erkenntniskritische Fragen verhandelten, wurde er dennoch immer wieder, und gerade im Vergleich mit seinen Zeitgenossen Joseph Conrad und Henry James, zum Sprachrohr naturwissenschaftlicher Forschung und Vertreter des spätvik­ torianischen Fortschrittsoptimismus gemacht. Doch die kurzschlüssige Parallelisierung dieser Autoren und ganz konkret der so genannten „Conrad-Wells-Debatte“ mit C.P. Snows two cultures,1'9 die Wells zum Verfechter einer exakten naturwissenschaftlichen Arbeits- qua Schlussmethode macht, greift viel zu kurz. Seine Kritik gilt vor allem den positivistischen Naturwissenschaften, der formalen Logik und deren Schlussverfahren. In einer Vorlesung „Scepticism of the In­ strument“,50 die Wells 1903 vor der Oxford Philosophical Society hielt, wendet er sich explizit von Huxley ab und macht seinen epistemologischen Skeptizismus an drei Punkten fest: (1) die Ungenauigkeit jeder Klassifizierung, (2) das Unvermögen, Negativität als solche zu denken 48 H.G. Wells: The Time Machine [1895]. London 2002, S. 55—56. 49 Vgl. Leon Edel und Gordon Ray (Hg.): Henry James and H. G. Wells. A Record of their Friendship, their Debate on the Art of Fiction, and their Quarrel. West­ port 1979. 50 H.G. Wells: Scepticism of the Instrument. In: Mind. New Series. 13.51 (1904), S. 379-393.

248

und (3) die buchstäbliche Zweidimensionalität eines synthetisierenden Schlusses.51 Ausgehend von Ferdinand Schillers Pragmatismus entwickelt Wells in seinem Vortrag eine programmatische Basis für sein Schreiben:52 Die ethischen Handlungen, um die es ihm geht, werden im Gegensatz zu Huxley jedoch nicht durch eine von wissenschaftlicher Arbeit geförderten Systematik des Denkens erzielt.53 Die „knowledge of things“54 ohne die „knowledge of words“55kann keinen Sinn für (richtiges) Verhalten ausbil­ den. Dies kann nur über eine Konstellation aus beiden Wissensformen ge­ schehen, wenn sie wie im Lebensbild zusammentreten. Doch geht es Wells ebenso wenig um die Kenntnisse der belles lettres wie um einen „sense for beauty“ (ebd.), geschweige denn um eine (alt-) philologische Praxis, sondern um eine bestimmte Art des Wissens um „Wörter“. Um welche Art von Wissen geht es hier? Das zeigt sich, wenn man Wells‘ generelle Begriffs- und Klassifizierungskritik in „Scepticism of the Instrument“ betrachtet. Er zweifelt zunächst an der „objective reality of classification“,56 also auch jedweder Gattungszuschreibungen, und kri­ tisiert, dass damit individuelle und graduelle Unterschiede nicht berück­ sichtigt werden. Sie seien platonische „ideas“, die nur der Ausdruck des Versuchs sind „to comprehend an otherwise unmanageable number of unique realities“57 - kurzum: Es gibt also keine Gattungen, sondern nur Konstrukte, die auf „vagueness and instability“58 der individuellen Phä­ nomene fußen; bestenfalls bestimmen sie sich durch Kontinuität. Diese Überlegungen erinnern stark an Nietzsches Ausführungen in „Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“ :

51 Wells trennt dabei strikt zwischen lebensweltlicher Praxis und Theorie, wenngleich sein Skeptizismus kein radikaler, sondern hauptsächlich ein logisch-methodischer und ethischer ist, der sich am Pragmatismus, Humanismus und vor allem antiintellektualistischen Voluntarismus Ferdinand Schillers orientiert. Schiller war für Wells auch deshalb so attraktiv, da jener mit den zeitgenössischen darwinistischen Auffassungen übereinstimmte und hinter seinen Überlegungen eine „Evolutions­ metaphysik“ stand. 52 Vgl . vor allem Wells: The Contemporary Novel. In: Leon Edel und Gordon Ray (Hg.): Henry James and H.G. Wells. A Record of their Friendship, their Debate on the Art of Fiction, and their Quarrel. Westport 1979. 53 Vgl. die Gegenüberstellung und Diskussion der Debatte von T.H. Huxley („Science and Culture“) und Matthew Arnold („Literature and Science“) bei Thomas Kühn: Two Cultures, Universities and Intellectuals. Tübingen 2002, S. 42-50. 54 Ebd., S. 48. 55 Ebd. 56 Wells, Scepticism, S. 383. 57 Ebd., S. 385. 58 Ebd., S. 384.

249

Denken wir besonders noch an die Bildung der Begriffe. Jedes Wort wird sofort dadurch Begriff, daß es eben nicht für das einmalige ganz und gar individualisierte Urerlebnis, dem es sein Entstehen verdankt, etwa als Er­ innerung dienen soll, sondern zugleich für zahllose, mehr oder weniger ähnliche, das heißt streng genommen niemals gleiche, also auf lauter un­ gleiche Fälle passen muß. Jeder Begriff ist die Gleichsetzung des Nicht­ gleichen [...] Das Ubersehen des Individuellen und Wirklichen gibt uns den Begriff, wie es uns auch die Form gibt, wohingegen die Natur keine Formen und Begriffe, also auch keine Gattungen kennt, sondern nur ein für uns unzugängliches und undefinierbares X .59

Der „echte Nominalist“60 Wells sieht die Wissenschaft „unaufhaltsam an jenem großen Kolumbarium der Begriffe, der Begräbnisstätte der An­ schauungen“,61 also ein Theoriegebäude gegen die „immediate impressi­ ons“ und schließlich auch gegen das Leben bauen: Wie für Peirce haben diese Begriffe, notorischerweise „cloudy at [their] the edges“,62 rein gar nichts mit Leben zu tun.63 Denn gleiches gilt auch für zeitgenössischen äs­ thetische Praktiken wie den Roman, der nicht wie die „Novel with a Pur­ pose of the earlier nineteenth century“64 in einem festen Wertesystem ent­ steht, sondern Teil eines sich im Ubergang befindlichen Werte- und Normensystems ist. Hier zeigen sich deutlich schon die Parallelen zu Peirce: Gegen Identität und Differenz wird hier Kontinuität und Diskon­ tinuität gesetzt als Teil einer „great intellectual revolution“. „[T]hat revo­ lution of which the revival and restatement of nominalism under the name of pragmatism is the philosophical aspect, consists in the reassertion of the importance of the individual instance as against the generalisation.”65 Zur Illustration führt er im Anschluss an seine Kritik eine aufschlussrei­ che, buchstäbliche „Figuration“66 hierfür an, und ich schlage vor, diese als ,Arbeit am Lebensbild‘ zu lesen.

59 Friedrich Nietzsche: Uber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn. In: Ders.: Werke III. Hg. von Karl Schlechta. Frankfurt a.M. 1979. S. 309—322, hier S. 313. 60 Vgl. Stegmüller, der den „echten Nominalisten“ als denjenigen definiert, der diese Position für sinnvoll, aber falsch hält. Wolfgang Stegmüller: Das Universalienprob­ lem. Darmstadt 1978, S. 8. 61 Nietzsche, Lüge, S. 319. 62 Wells, Scepticism, S. 386. 63 Vgl. Wells, Scepticism, S. 385. 64 Vgl. Wells, Digressions about Novels, in: Edel; Ray, Henry James and H.G. Wells, S. 215-233: 222f. Großschreibung im Original. 65 Wells, The Contemporary Novel, 147f. 66 Vgl. Wells, Scepticism, S. 385.

250

Die Reproduktion von Photographie geschehe über eine Rasterung, sagt Wells, über ein „net-work picture“,67 was aus einer Vielzahl von klei­ nen Vierecken besteht, in Form und Größe absolut identisch. Für Wells ist die Entsprechung zu alltäglichen Wahrnehmungs- und Denkprozessen der „man [...] with a telescope“: Für diesen scheint dieses Bild zweiter Ordnung eine wahrheitsgetreue Abbildung des Originals. Hingegen sehe der „man with a microscope“ kein Ganzes, sondern nur seine Teile. Das Aufschlussreiche dieser Metapher, abgesehen davon, dass Peirce dieselben optischen Instrumente bemüht, um bestimmte methodische Zugänge zu illustrieren, weist jedoch über das Teil-Ganzes-Problem hinaus, denn es ist nicht das Zerstückeln des Bildes in seine Einzelelemente, was für Wells den „Fehlerquotienten“ verstärkt. Es ist auch keine bloße Vergrößerung, die zu einem Verfremdungseffekt führt - das hätte noch einen Mehrwert. Er kritisiert vielmehr das Gleichsetzen des Nichtgleichen durch die iden­ tische Rahmung, die keinen Platz für Unschärfen lässt: „Every species is vague, every term goes cloudy at its edges.“ Deshalb ist das Anlegen eines Rasters, eines Schemas nach einer „unaufhaltsamen Logik“ nichts anderes, meint Wells, als „another phrase for a stupidity“, die den Konzeptualismus der Begriffe und Gattungen, wie auch die Unschärfe der Methode ig­ noriert und damit einen „Wahrheitsverlust“ zugunsten gesicherter Ergeb­ nisse in Kauf nimmt. Dass Wells en passant beiden Beobachterpositionen, der alltäglichen und der des Detailforschers, jeweils eine medial gerahmte Perspektivierung unterstellt, ist bemerkenswert, insofern es „das Aufbrechen der Seh­ gewohnheiten“68 impliziert. Rekurriert er für das „telescope“69 auf die aufmerksamkeitslenkende Wahrnehmung der Rahmenschau - „for the rough purpose of every day use [it] will do“ -, geht das Argument für das Mikroskop jedoch noch einen Schritt weiter, wenn er sagt: „[t]he more earnestly you go into the thing, the closer you look, the more the picture is lost in reticulations.“ Die mediatisierte Schau durch das Mikroskop und die Methode stehen hier in einem Interferenzverhältnis, denn das immer enger gezogene Netz der Syllogismen oder Analysekategorien wird mit dem Vergrößerungsgrad des optischen Geräts gleichgesetzt. Das Bildob­ jekt, das Lebensbild und damit das Lebenswissen, verschwinden hinter der Rasterung, die nun selbst sichtbar hervortritt. Der medialisierende Rah­ men als notwendiges epistemologisches Prinzip der Aufmerksamkeitslen­ kung und Kohärenzstiftung, der sich gewöhnlich der Betrachtung ent­ zieht, tritt hier als Vernetzung in den Vordergrund. 67 Ebd., S. 386. Die folgenden Zitate und Paraphrasen beziehen sich ebenfalls auf die­ sen Ort. 68 Friedrich Kittler: Optische Medien. Berliner Vorlesung 1999. Berlin 2002, S. 157. 69 Wells, Scepticism, S. 386. Die folgenden Zitate und Paraphrasen beziehen sich ebenfalls auf diesen Ort.

251

Genau deshalb haben auch H.G. Wells’ frühe Science- Fiction- N o ­ vellen wie The Time Machine, The Invisible Man oder The Island of Dr. Moreau, in Elmar Schenkels Worten „always [...] an eye-opening qua­ lity“ :70 Sie machen das wissenschaftliche Sujet selbst zum kognitiven Me­ dium, stellen die Relativität von Wahrnehmung aus. Sie verhandeln die oben genannten methoden- und theoriekritischen Aspekte auf eine Weise, die wichtige Anhaltspunkte für die Epistemologien des Lebens „um 1900“ liefert, oder anders formuliert: Sie bringen Lebensbilder an epistemologischen Übergängen ins Visier.

V. „Slipping and Sliding“ - Epistemologische Übergänge in The Time Machine71 The Time Machine ist Science-Fiction über das Sujet hinaus und weit mehr als eine „Technikfolgeabschätzung“,72 sondern eine Reflexion auf erkenntnistheoretische Probleme. In Wells’ Debütnovelle treten episte­ mologische Krise zeitgenössischer Wissensordnungen und Lebenswissen in ein Spannungsverhältnis, das prozessual ein Lebensbild entfaltet. Ein Wissenschaftler erzählt befreundeten Experten von seiner Reise mit einer Zeitmaschine, die ihn weit in die Zukunft gebracht hat. Dort findet sich der Zeitreisende mit einer fremden Kultur konfrontiert, die er Schritt um Schritt entschlüsseln muss. Dabei ist er auf das Entziffern von Spuren oder An-Zeichen und konjekturale Schlüsse angewiesen, um diese Welt für sich lesbar zu machen. Die zugrunde liegende Methode ist mit­ hin eine fundamental signal- und symptomdeutende. Wie Freud in „Trie­ be und Triebschicksale“ bemerkt, geht es dabei darum, „bedeutsame Be­ ziehungen“73 herzustellen, die das „Geheime und Verborgene“74 zum Vor­ schein bringen. 70 Elmar Schenkel: Ghostly Geometry. The Fourth Dimension in Literature. In: J. Mildorf et al. (Hg.): Magic, Science, Technology, and Literature. Münster 2006, hier S. 179-190, hier S. 184. 71 In der folgenden Analyse wird direkt aus o.a. Ausgabe als Seitenzahl im Text zi­ tiert. Diese Analyse ist in Auszügen auch erschienen in „unsichtbares lesen. Strate­ gien der Visualisierung als mediale Krise der Literatur um 1900“. In: S. Scholz und J. Griem (Hg.): Medialisierungen des Unsichtbaren um 1900. München 2010, S. 193-219, vgl. hier S. 207-213. 72 Robert Stockhammer: The Techno-Magician. A Fascination Around 1900. In: J. Mildorf et al. (Hg.): Magic, Science, Technology, and Literature. Münster 2006, S. 167-177, hier S. 175. 73 Sigmund Freud: Triebe und Triebschicksale. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 10. Frankfurt a. M. 1999, S. 210-232, hier S. 211. 74 Vgl. Sigmund Freud: Der Moses des Michelangelo. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 10. Frankfurt a.M. 1999, S. 172-201; 186. Dieser wissenschaftsgeschichtliche und wissenstheoretische Zusammenhang ist ausführlich erörtert in dem herausra-

252

Dies zeigt sich im Verlauf seiner weiteren Ausführungen. Als Au­ ßenstehender zielen seine Beobachtungen auf das re-konstruierende Ver­ stehen einer Gesellschaftsordnung, die sich durch das Lesen von An­ Zeichen erschließen soll. Die Geschichte des Zeitreisenden ist eine dieses Lese- und Verstehensprozesses, wobei auch sein ethnographischer Blick wiederholt mit Unsichtbarkeiten in Form von Leerstellen konfrontiert wird, die sich gleichermaßen aus seiner Unkenntnis und den epistemischen blind spots seiner eigenen Deutungsrahmen speisen. Er formuliert es an einer Stelle so: [S]omething, I knew not what, had taken [the time machine] into the hol­ low pedestal of the White Sphinx. Why? For the life of me I could not im­ agine. [...] I felt I lacked a clue. I felt - how shall I put it? Suppose you found an inscription, with sentences here and there in excellent plain Eng­ lish, and interpolated therewith, others made up of words, of letters even, absolutely unknown to you? Well, on the third day of my visit, that was how the world of Eight Hundred and Two Thousand Seven Hundred and One presented itself to me! (48)

Der Zeitreisende sieht sich also mit einem Rätsel konfrontiert und er sucht gemäß seiner darwinistischen Interpretationen einen missing link, welcher die Zusammenhänge der Einzelphänomene erhellen könnte. Doch das Wissen dieses „[e] minent [s]cientist“ (15) - ein ausgewiesener Physiker, Kenner der naturwissenschaftlich geprägten Psychologie und durch seine „seventeen papers“ (79) ein Experte der Optik - kann die Phänomene nicht erklären. Gerade letztere Expertise wertet er anlässlich des Besuchs einer verrottenden Bibliothek zusammen mit dem Organ der Naturwissenschaft - den Philosophical Transactions of the Royal Society als „waste of labour“ (78), da diese epistemologischen Praktiken nicht nur offenkundig keine Relevanz mehr besitzen, sondern auch in dieser „neu­ en“ Welt keinen Nutzen haben. Eben deshalb muss er vor dem naturwissenschaftlichen Erklären erst einmal verstehen. Er registriert vorerst nur Indizien, die er aufgrund von Ähnlichkeitsbeziehungen in seinem Deutungsrahmen zu verorten ver­ sucht. Auch ergänzt er Leerstellen vor dem Hintergrund seines eigenen lebensweltlichen Horizonts: „In the matter of sepulture, for instance, I could see no signs of crematoria nor anything suggestive of tombs. But it occurred to me that, possibly, there might be cemeteries [...] somewhere beyond the range of my explorings“ (47). Die hierbei aufgestellten, als solche explizit gemachten Hypothesen gelten so lang, bis sie sich als genden Aufsatz von Uwe Wirth: Die Konjektur als blinder Fleck einer Geschichte bedingten Wissens. In: C. Welsh und St. Willer (Hg.): Interesse für bedingtes Wis­ sen. Wechselbeziehungen zwischen den Wissenskulturen. München 2008, S. 269­ 294.

253

falsch erweisen und daraufhin revidiert werden. Seine eigenen Verstehens­ vorgänge und seine (falschen) wissenschaftlichen Prämissen werden dadurch zutage gefördert und beobachtbar gemacht. Indem die Sachen aus dem Erklärungsrahmen fallen, kann der Time Traveller einen Rahmenwechsel vornehmen: „my mind was already in re­ volution; my guesses and impressions were slipping and sliding to a new adjustment“ (55f.). So wird nicht nur auf die eigene Hypothesenbildung und wissenstheoretischen Prämissen reflektiert, der Protagonist wird zum Spuren lesenden Detektiv („follow up the new-found clue“, 59). Durch gezielte Signale des Zeitreisenden, etwa, indem er immer wieder auf die Vorläufigkeit seiner Thesen verweist und sein Nicht-verstehen zu einem bestimmten Zeitpunkt betont („This, I must warn you, was my theory at the time“, 57), wird somit der epistemologische Prozess als vorläufig, po­ tentiell falsch und (re-)konstruierend gezeigt, oder kurz: als im perma­ nenten Übergang begriffen. In dieser Form des Verstehens treffen, im Gegensatz zu einem blo­ ßen fact collecting einer induktiven Methode, mehrere wissenstheoretische Prämissen zusammen. Die hermeneutische Praxis, die uns vorgeführt wird, wird zu einer eminent philologischen.7576Dieser konjekturale Über­ gang („slipping and sliding into a new adjustment“), der in einer Grauzo­ ne des Wissens stattfindet, ist auch deshalb „mysteriös“, da er mit Peirce auf einem „Rateinstinkt“ beruht, der wiederum auf „Intuition“76, als eine Form des Vorwissens zurückgreift, welches noch nicht innerhalb eines Deutungsrahmens verortet werden konnte. Dieses Raten zielt auf eine Ähnlichkeitsbeziehung zwischen einer überraschenden Beobachtung und der zu konjizierenden Ursache und erfordert einen Rahmenwechsel, a new adjustment. Denn im Gegensatz zu induktiven und deduktiven Schlüssen muss die Regel, die bedeutsame Beziehung, erst hergestellt werden - die Konjektur, oder mit Peirce: die Abduktion ist vergleichbar mit dem Aspektwechsel und hat deshalb oft die Qualität eines „Geistes­ blitzes“:77 And suddenly there came into my head the memory of the meat I had seen in the Under-world. It seemed odd how it floated into my mind: not stirred up as it were by the current of my meditations, but coming in al­ most like a question from outside. I tried to recall the form of it. I had a vague sense of something familiar, but I could not tell what it was at the time.“ (67)

75 Wie diskutiert in Tripp, unsichtbares. 76 Vgl. CP 5.265. 77 Vgl. Wirth, Konjektur, S. 282.

254

Sein Raten führen den Wissenschaftsdetektiv zum Abstieg in die Unter­ welt, „boldly penetrating these underground mysteries“ (60). Streichhöl­ zer, sein einziges Reisegepäck, können nur sehr kurzlebig, schlaglichtartig erhellen, was er noch nicht versteht. Genau in dieser Situation wünscht er sich seine Kodak herbei. Jedoch nicht, um später den Ungläubigen den indexikalischen Beweis für seine Geschichte liefern zu können, sondern er möchte sich buchstäblich wie uneigentlich ein Bild von der Situation ma­ chen: „I could have flashed that glimpse of the Under-world in a second, and examined it at leisure“ (63). Ein behavioristisches, empiristisches Le­ sen, das in einem glimpse der Oberflächenphänomene verhaftet bleibt und das Objekt auf Distanz hält (hier auch auf zeitlicher), wird in der Ge­ schichte selbst kontrastiert mit einer notwendigen, kontextualisierenden, dichten Beschreibung des Ethnographen,78 dem sich das Sinnganze wäh­ rend dieses Prozesses verschließt. Bildstörungen werden hier als Verste­ hensprozess vorgeführt, nicht als Auslöser und Ursache für ein Nicht­ Verstehen. Die Elemente müssen nicht nur als bedeutungsvoll aufgefasst und gedeutet werden, sie müssen neu arrangiert und erst überhaupt zu ei­ nem Bild zusammengefügt werden. Dass dabei die alten ,bildgebenden‘ Methoden, die Kodak oder Streichhölzer, nicht greifen, ist hierfür symp­ tomatisch: die einzige Methode, die dem Zeitreisenden weiterbringt, ist das Dilthey'sche Erleben selbst, den Einfühlens in den sozialen und his­ torischen Kontext (auch wenn dieser in der Zukunft liegt).

VI. Schlussbemerkungen Aber die Folgerungen sind schwer, wegen der Asymmetrie und wegen der Rückkopplungen.79 Wie Kamper in der eingangs zitierten Passage schreibt, erscheine das „Le­ ben in den Bildern und das Sterben daran“ durch Bildstörungen in einem neuen Licht. Dieser Beitrag schlägt vor, den Grund dafür in dem durch die Störung hervorgebrachten Lebenswissen zu sehen. Die Störung in ih­ rer Asymmetrie, die aus den begrifflichen und konzeptuellen Rahmen

78 Nach Clifford Geertz dient die „dichte Beschreibung“ ebenfalls einer kontextuellen Hermeneutik, und er stellt sie explizit einer „photographischen“ Wahrnehmung gegenüber: „eine Kamera, ein radikaler Behaviorist oder ein Anhänger von Proto­ kollsätzen“ würden alle nur ein und dieselbe Bewegung registrieren, die allerdings ein „Zucken, Zwinkern, Scheinzwinker, Parodien und geprobte Parodien“ sein kann. Vgl. Clifford Geertz: Thick Description. Toward an Interpretive Theory of Culture. In: Ders. The Interpretation of Cultures. New York 1973, S. 3—30, hier S. 6ff. 79 Kamper, Bildstörung, S. 9.

255

fällt, fordert eine (im weitesten Sinne) transkribierende Neubewertung des Zusammenspiels von Bild und Leben. Statt einem „Sterben daran“ ent­ steht neues Lebenswissen, das außerhalb der „Begräbnisstätte der Begriffe“ operiert, wie es im obigen Nietzsche-Zitat heißt, nicht zuletzt aufgrund des rekursiven Dynamik der „Rückkopplungen“ des verstandenen statt des erklärenden Lebensbilds. Vischers Konzept des „verstandenen Lebensbildes“ eignet sich nicht nur auf einer metaphorischen Ebene dazu, die lebenswissenschaftlichen Bei­ träge und die Verortung lebenswissenschaftlicher Reflexion um 1900 zu diskutieren. Zwar lassen sich der anti-platonische, anti-klassifikatorische Impetus und die programmatische Offenheit einerseits, und die genuin interdisziplinäre Qualität des „Lebensbild“ andererseits leicht bei den „Epistemologien des Lebens um 1900“, die ich bei Wells und Peirce disku­ tiert habe, auffinden. Auch werden entgegen der Favorisierung der Leitka­ tegorien ,Identität‘ und ,Differenz‘ stattdessen singuläre, individuelle Phänomene als Ausdruck des Lebens - sie sind „of Vital Importance“ verstanden. Ebenso handelt es sich bei der hermeneutischen Operation des Verstehens gegenüber der des naturwissenschaftlichen Erklärens und damit bei der konstitutiven Partizipation am Gegenstand, so könnte man sagen, um den wissenschaftstheoretischen Zeitgeist. Und dies gilt, schließlich, in ähnlichem Maße für die selbstreflexive Geste auf den Be­ obachter als Teil des Lebensbildes (ganz zu schweigen von der sinnlich­ ästhetischen Erfahrung, die daran geknüpft ist und die ebenfalls für das „Bild“ konstitutiv ist). Doch damit ist die volle Implikatur dieser piktorialen ,Metapher‘ nicht eingelöst, denn sie ist nicht nur Metapher. Das Bild in Lebensbild betont ein „vernetztes“, ein relationales Wissen, das nicht auf Ähnlich­ keitsbeziehungen fußt, sondern sich durch homologe Strukturen, oder in der Terminologie Peirce‘scher iconicity, in diagrammatischen Strukturen manifestiert. Das Lebensbild ist eine bestimmte Art des diagrammati­ schen, das heißt ikonischen Denkens über Leben, was gleichzeitig be­ stimmte Epistemologien des Lebens zutage fördert. Das Aufregende an Vischers „Gattung“ - als solche versteht er das Lebensbild - ist, dass es deutlich ikonische Relevanz besitzt und in seiner Verkörperung von Leben im ,Bild‘ und in dessen Ästhetik in die Richtung verweist, in der laut Krois „die Zukunft der Bildwissenschaft“80 liegt. Ob sich die iconicity, oder wie Krois sogar schreibt die „image science“, die gesamten Bildwissenschaften, also auch dazu eignen, eine potentielle Plattform für das Erforschen von Leben bereitzustellen, möchte ich mit diesem Beitrag zur Diskussion stellen.

80 Krois, Image Science, S. 209.

256

Jakob Christoph Heller

Eine ,vollkommene schöne Kette‘? Übergänge und Spannungen in Johann Georg Sulzers Naturbegriff

I. Das „wirkungsvollste[ ] Schlagwort der europäischen Aufklärung“1 sei, so Helmut J. Schneider, ,Natur‘ gewesen: „Es gab der Vernunft, im Vorfeld philosophischer Klärung, Anschaulichkeit, ,Offensichtlichkeit£; etwa so, wie die über einer Frühlingslandschaft aufgehende Sonne das Selbstver­ ständnis der Epoche verbildlichte.“12 Das 18. Jahrhundert stellt die Epoche dar, in der „die Natur als Naturzustand von Welt und Mensch zum Prin­ zip aller moralischen Werte wird.“3 Das Schlagwort ,Natur‘ diente somit zur Formulierung einer soziopolitischen Alternative: Als Selbstbehaup­ tung des Bürgertums leistete die regulative Idee der Natur eine Kritik am Adel, genauer: an der Verbergungsleistung, die der aristokratischen Le­ bensform unterstellt wurde.4 Zugleich sollte über den Rekurs auf Natur eine nicht-aristokratische Ordnung an Anschaulichkeit gewinnen.5 1

2 3

4 5

Helmut J. Schneider: Naturerfahrung und Idylle in der deutschen Aufklärung. In: Peter Pütz (Hg.): Erforschung der deutschen Aufklärung. Königstein/Ts. 1980, S. 289-315, hier S. 289. Schneider, Naturerfahrung und Idylle, S. 289. Heinrich Schipperges: Natur. In: Otto Brunner; Werner Conze; Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Bd. 4. Mi-Pre. Stuttgart 1978, S. 215— 244, hier S. 234. Zur Politisierung des Naturbegriffs am Beispiel des Naturstands (und seiner kritisch-polemischen Konstruktion) vgl. Günther Bien: Zum Thema des Naturstands im 17. und 18. Jahrhundert. In: Archiv für Begriffsgeschichte 15:2 (1971), S. 275—298. Vgl. Nikolaus Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Ge­ fühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1988, S. 65—66. Jörg Zimmermann sprich etwa davon, dass „dem bis zum 18. Jahrhundert vorherr­ schenden, einer ständischen Gesellschaftsordnung entsprechenden hierarchischen Naturbegriff im Zeitalter der Aufklärung ein egalitärer Naturbegriff gegenüber[tritt], der eine ursprüngliche ,Gleichheit unter den Menschen4 postuliert“ (Jörg Zimmermann: Vorwort. In: Jörg Zimmermann (Hg.): Das Naturbild des Menschen. München 1982, S. 7—9, hier S. 7). Natürlich diente ,Natur‘ bereits in ei­ ner ständisch gegliederten Ordnung zur Legitimation eines Herrschaftsanspruches, wie es etwa in der Metapher des Bienenstaates oder des Körpers zum Ausdruck kommt (vgl. Dietmar Peil: Untersuchungen zur Staats- und Herrschaftsmetapho­ rik in literarischen Zeugnissen von der Antike bis zur Gegenwart. Fink 1983). Zu­ gleich aber war der Rekurs auf Natur bereits im Zeitalter einer ständischen Ord­

257

Mit dieser Kritik an der Hofkultur ging eine Kritik der (neuzeitli­ chen) Rhetorik einher. Grundlage dieser und zugleich Problem des Bür­ gertums war dabei ein erweitertes Verständnis von Rhetorik, wie es der Antike und der Frühen Neuzeit eigen war,6 mit der Aufklärung an Bedeu­ tung verlor, und im 20. Jahrhundert von Hans Blumenberg wieder promi­ nent in die Diskussion eingebracht wurde. Für Blumenberg ist Rhetorik eine Technik, die nicht nur Rede, sondern die Gesamtheit der Lebensform affiziert - Rhetorik ist ein herausgestelltes Beispiel für die Formgebung, die notwendige Schaffung einer Lebensform: Die Technik der Rede erscheint dabei als der spezielle Fall von geregelten Weisen des Verhaltens, das etwas zu verstehen gibt, Zeichen setzt, Über­ einstimmung bewirkt oder Widerspruch herausfordert. [...] Rhetorik ist, auch unterhalb der Schwelle des gesprochenen oder geschriebenen Wortes, Form als Mittel, Regelhaftigkeit als Organ.7

6

7

258

nung ein Instrument der Kritik an der Hofkultur, die mit Verstellung identifiziert wurde (vgl. Helmuth Kiesel: ,Bei Hof, bei Höll‘. Untersuchungen zur literarischen Hofkritik von Sebastian Brant bis Friedrich Schiller. Tübingen 1979). Das 18. Jahr­ hundert nahm somit keine dezidierte Neuerung vor, sondern nahm in seinen Natur­ analogien den soziopolitischen Überschuss auf, wandte ihn nur —als Bürgertum — gegen den Adel. Verwiesen sei in der Kürze nur auf die Tradition der Rednerausbildung bei Quinti­ lian, Cicero und ebenso noch bei Gottsched. Bis in die Aufklärung hinein ist Rhe­ torik auch eine Lehre von der rechten Lebensform. Für Cicero muss der Redner in seiner praktischen Tätigkeit zumindest den „Eindruck eines rechtschaffenen, eines charaktervollen, eines tüchtigen Ehrenmannes erweck[en]“ (Marcus Tullius Cicero: De Oratore. Über den Redner. Hg. von Theodor Nüßlein. Düsseldorf 2007, S. 215) —insofern gehört auch eine Ausbildung der Lebensform zur Ausbildung des Redners. Quintilian geht noch einen Schritt weiter als Cicero, für den das Cato’sche vir bonus dicendi peritus-Ideal mindestens scheinbar —in der Selbstdarstel­ lung nach Außen —erfüllt sein muss: „[I]ch sage nämlich nicht nur, daß, wer ein Redner ist, ein Ehrenmann sein muß, sondern daß auch nur ein Ehrenmann über­ haupt ein Redner werden kann“ (Quintilian: Ausbildung des Redners. Zweiter Teil. Buch VII-XII. Hg. von Helmut Rahn. Darmstadt 1975, S. 687). Auch bei Gott­ sched liegt die Verbindung zwischen Rhetorik und Lebensform auf der Hand; wah­ re Beredsamkeit ist jene, die „allezeit das beste ihrer Zuhörer zur Absicht“ hat. Entsprechend versteht er unter einem Redner einen „gelehrten und rechtschaffe­ nen Mann, der die wahre Beredsamkeit besitzt“ (Johann Christoph Gottsched: Ausführliche Redekunst. Erster, allgemeiner Theil. Ausgewählte Werke 7,1. Hg. von P.M. Mitchell. Berlin, New York 1975, S. 93, 102). Zur moralischen Dimensi­ on von Ciceros Forderung an den Rhetor —handelt es sich um die Ausbildung von Instrumenten zur Überzeugung des Gegenübers oder um eine Anleitung zur Le­ benspraxis? —vgl. Carl Joachim Classen: Ciceros orator perfectus: ein vir bonus dicendi peritus? In: Die Welt der Römer. Studien zu ihrer Literatur, Geschichte und Religion. Berlin, New York 1993, S. 155—167. Hans Blumenberg: Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik. In: Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede. Stuttgart 1986, S. 104—136, hier S. 106.

Wenn aber Rhetorik ein Verfahren der Formgebung ist und die Hofkultur rhetorische Verfahren in guter Tradition auf die Gesamtheit der Lebens­ form anwandte, so wird empfindsam-aufklärerische Rhetorikfeindlichkeit auf eine Schwierigkeit treffen: die Frage, welche konkreten Techniken an­ stelle der Rhetorik die Bildung und Erhaltung einer Lebensform garantie­ ren können. Empfindsamkeit und Aufklärung wählen ,Natürlichkeit‘ als regulative Idee und Orientierungspunkt - auf ebendies macht etwa auch Helmut J. Schneider im anfänglichen Zitat aufmerksam. Jedoch ist die einfache „Anschaulichkeit“ der Natur, von der Schneider spricht, nicht so einfach zu erwirken. Wird Natur verstanden als Formverfahren für eine Lebensform, so hat jede Repräsentation von Natur einen zweifachen In­ dex: Einerseits muss sie zeigen, was Natur ist und andererseits, wie Natur ist. Das heißt: Welches Formverfahren für eine Lebensform ist aus ihr ab­ zuleiten? Welche generalisierbare Ordnung ist ihr eigen? Natur wird nicht nur um ihrer selbst willen repräsentiert, die Darstellung hat vielmehr ei­ nen pädagogischen bzw. moralischen Impetus: Ihre Beispielhaftigkeit führt zu einem Wissen (hat zu einem Wissen zu führen), das auch auf an­ dere Fälle bzw. Gegenstände angewandt werden kann. Es gibt somit eine generalisierbare Regel, die aus der Darstellung abzuleiten ist. Natur muss aus dieser Perspektive also exemplarisch verstanden werden. Dieses Problem des Übergangs von der Naturdarstellung zur exemp­ larischen Darstellung eines ,natürlichen‘ Verfahrens ist in Johann Georg Sulzers Schriften allenthalben anzutreffen. Nichts anderes kündigt etwa der Titel des Versuchs einiger Moralischen Betrachtungen über die Werke der Natur an. In diesem Text ist Sulzers erklärte „Hauptabsicht [...] über diese Naturbegebenheiten einige moralische Betrachtungen [zu] ma­ chen.“8 In den Moralischen Betrachtungen findet der Übergang von der na­ türlichen Ordnung zur gesellschaftlichen Ordnung über die behauptete Beispielhaftigkeit der beschriebenen Naturphänomene statt; dieser Über­ gang wird expliziert. Die physikotheologische Prägung Sulzers ist in den Moralischen Betrachtungen, die erstmals 1745 erschienen, und in den 1750 veröffentlichten Unterredungen über die Schönheit der Natur noch offen­ sichtlich. Dort ist die Ordnung der Natur ein Beleg für die Güte Gottes, „die verschiedenen Arten natürlicher Dinge [sind] einzele Glieder, woraus die oberste Weisheit ein vollkommenes Ganzes zusammen gesezt hat.“9 Prekärer stellt sich die Frage nach der Darstellung von Natur dann 1771

8

9

Johann Georg Sulzer: Versuch einiger Moralischen Betrachtungen über die Werke der Natur. In: Unterredungen über die Schönheit der Natur. nebst desselben mora­ lischen Betrachtungen über besondere Gegenstände der Naturlehre. Berlin 1770, S. 147-232, hier S. 178. Johann Georg Sulzer: Unterredungen über die Schönheit der Natur. In: Unterre­ dungen über die Schönheit der Natur. nebst desselben moralischen Betrachtungen über besondere Gegenstände der Naturlehre. Berlin 1770, S. 1-144, hier S. 62.

259

in seiner Allgemeinen Theorie der schönen Künste. Sulzer empfiehlt dort dem Künstler die Nachahmung der Natur, wobei ,Nachahmung‘ - bereits aus darstellungslogischen Gründen - nicht die Abbildung realer Entitäten meint, sondern die Befolgung eines Verfahrens, welches die Natur selbst zur Anwendung bringt. Somit steht Sulzer vor der Aufgabe, dieses Ver­ fahren anzugeben: Er muss einen Übergang vom Evidenzeffekt natürli­ cher Entitäten zu einem daraus ableitbaren Verfahren für die Produktion von Kunstwerken schaffen. Es gilt mithin, eine positive, propositionale Regel zu formulieren, die dem Künstler zum Leitfaden werden kann, will dieser in der natürlichen - also richtigen - Darstellung reüssieren. Mir geht es im Folgenden darum, Sulzers Weg hin zu diesem Verfah­ ren - und die diesem eigenen internen Spannungen - zu rekonstruieren. In einem ersten Schritt gilt meine Aufmerksamkeit Sulzers Unterredungen über die Schönheit der Natur, anhand derer sich die Schwierigkeit des N a­ turbegriffs skizzieren lässt. Im zweiten Schritt behandele ich die Anwei­ sungen, die Sulzer dem angehenden Künstler in seiner Allgemeinen Theo­ rie der Schönen Künste gibt. Meine Lektüre will zeigen, wie Sulzers Natur­ begriff in dem Moment, da er eine Produktionsästhetik formulieren will, widersprüchlich wird. Zugespitzt lautet meine These, dass der Übergang von der Betrachtung der Natur zur produktionsästhetischen und damit normativen Fassung des natürlichen Verfahrens‘ scheitern muss, da damit Natur negiert wird als ein Phänomen, das laut Sulzers Konzeption not­ wendig und ausschließlich ,im Übergang‘ ist. Sulzers Überlegungen fol­ gen implizit noch der Regelpoetik des frühen 18. Jahrhunderts; (auch) aus diesem Grund denkt er Natur als Maschine, was es ihm unmöglich macht, sie als „unauflösliche[s] Band“10 zu konzipieren - das freilich hindert ihn nicht am Versuch, Natur als ein solches Band zu denken. Sulzers Misslin­ gen ist in den beiden widerstreitenden Naturkonzepten vorgezeichnet.

II. Sulzers Unterredungen über die Schönheit der Natur schließen inhaltlich an seine Moralischen Betrachtungen an; auch hier steht die Schönheit und Nützlichkeit der Naturbetrachtung im Mittelpunkt. Der Erzähler Charites begleitet seinen Freund Eukrates auf Spaziergängen und unterhält sich mit ihm über Landschaften, die zweckmäßige Ordnung der Natur und den Nutzen naturgeschichtlicher Forschung. Der Anfang bei Morgenröte, erster Spaziergang und erster Eindruck der Natur, enthält bereits die ent­ scheidenden Charakteristika von Sulzers Naturkonzept:

10 Sulzer, Unterredungen, S. 54.

260

Eukrates führte mich durch seinen Garten auf einen nahe gelegenen H ü­ gel, auf dessen Höhe wir eben ankamen als die Sonne im Aufgehen war. [...] Vor uns lag eine ziemlich weite Ausdähnung von Land in dem Grun­ de, darauf wir manche Dörfer oder einzelne Wohnungen, weit fortgehende Wälder, auch hin und wieder einzelne Büsche im Schatten sahen. Die ganze Gegend war durch verschiedene Teiche vermannigfältiget. Ein so schöner Schauplatz rührete mich[.]11

Rahmung (als Schauplatz) und mannigfaltige, harmonische Abwechslung konstituieren die Landschaft, die dem Erzähler im ersten Moment - in der ersten Betrachtung - aufgrund ihrer Neuheit ein interessanter Anblick ist. Es ist die Inszenierung als ästhetische Landschaft, die Naturbetrachtung ermöglicht. Jedoch, so Charites’ Einwand: „[I]ch kanns nicht leugnen, er [i.e. der Schauplatz, J.C .H .] gefällt mir sehr wohl, weil er mir neu ist. Aber da du dieses so ofte gesehen, so wundere ich mich, wie du dich im­ mer an derselbigen Schönheit ergezen kannst. Du läufst immer nach dem Morgen, als wenn es das erstemal wäre, daß du ihn siehest.“*12 Eukrates widerspricht scheinbar.13 In seinen weiteren Ausführungen wird jedoch deutlich, dass dem Betrachter der Natur nicht die bloße Ungekünsteltheit des Anblicks Vergnügen bereitet. Es ist der Wert des Neuen, der jedem wiederholten Naturgenuss eingeschrieben ist: „Es sind da [i.e. in der N a­ tur, J.C .H .] nicht nur unzählige ganz verschiedene Gegenstände des Ver­ gnügens, sondern in einer Sache ist die Verschiedenheit fast unendlich.“14 Eukrates führt Charites seine These daraufhin vor: Er zeigte mir hierauf die Schönheiten in dem Gemählde der vor uns lie­ genden Landschaft Stückweise. Er machte mich die Majestätische Pracht der Sonne, als der Hauptfigur, betrachten, nach diesem die reizenden Far­ ben der Wolken zu beyden Seiten des Morgenhorizonts, [...] die unendli­ che aber harmonische Verschiedenheit der Farben, womit die Hügel und Felder belegt waren [...]. Ich fing an einzusehen, daß es mir bis dahin nur an Aufmerksamkeit gefehlet, denn izo ward ich in der That von diesem vollkommenen Gemählde gerühret.15

Natur offenbart sich als unendliche, doch harmonisch gestaltete Mannig­ faltigkeit, die jedem - auch wiederholtem - Blick des Subjekts neue und interessante Eindrücke liefert. Voraussetzung für diese Qualität der sinn­ lichen Eindrücke ist die selektive Betrachtung, das heißt: die Betrachtung von Teilen der Totalität ,Natur‘. Schon die ästhetische Landschaft, dieses 11 Sulzer, Unterredungen, S. 2-3. 12 Sulzer, Unterredungen, S. 4. 13 „Dies ist die allgemeine Eigenschaft eines natürlichen Vergnügens, daß wir dessen niemals müde werden“, Sulzer, Unterredungen, S. 6. 14 Sulzer, Unterredungen, S. 7. 15 Sulzer, Unterredungen, S. 8.

261

„vollkommene[ ] Gemählde“, ist selbst nur gerahmter Ausschnitt von Natur - wie es schon darstellungslogisch auch nicht anders möglich ist. Dass gerade im Rokoko auf Natur metonymisch Bezug genommen wird, entspricht dem Forschungsstand. Unter anderem verweist Christoph Perels auf die Konvention des 18. Jahrhunderts, in „Abkürzungen und Verweisen zu reden“, wenn Natur und Natürlichkeit vermittelt werden sollen: „Es ist alsbald möglich, in Einzelbezügen der Beschreibung, der Handlungsführung, der Rollenrede im Leser unvermutet die gesamte idea­ le Welt des Standes der Natur zu evozieren.“16 Dies gilt ebenso für die Darstellung von Natur selbst. In der Darstellung von Landschaften ist der Anspruch, die regulative Idee ,Natur‘ vor Augen zu stellen, realisierbar: „Landschaft [erscheint] als ein Feld des Gegebenen, auf dem sichtbar prä­ sentiert wird, was zur Repräsentation und damit erst indirekt und vermit­ telt zu einer Präsenz gelangen kann.“17 Sie ist so verstehbar als ,praktische‘ Antwort auf eine Verlegenheit: Wie kann die von Sulzer behauptete und für Bürgertum und Aufklärung zentrale Evidenz der Natur und ihrer Ver­ fahren vor Augen gestellt werden?18 Wie gesagt, greift Sulzer in diesem Zusammenhang auf das Verfahren der Landschaftsdarstellung zurück. Jedoch steht diese Landschaft nicht für sich als „Feld des Gegebenen“. Vielmehr wiederholt ,Landschaft‘ bei Sulzer in sich selbst das strukturelle Verhältnis, das sie mit der Totalität ,Natur‘ unterhält. Auf nichts anderes verweist des Erzählers Formulie­ rung, Eukrates zeige ihm die „Landschaft Stückweise“: Jedes Detail, jeder Ausschnitt verweist auf die Totalität wie auch auf einen weiteren Partiku­ larbereich, ein Detail des Details. In einem Vergleich der menschlichen Kunst mit jener der Natur macht Eukrates dies deutlich: Eine Uhr bestehet aus Rädern, die Räder wieder aus verschiedenen künstli­ chen Theilen: seze die Theile der Räder aus einander, so bleibt dir nichts, als eine rohe Materie übrig. Weit anders ist es mit den natürlichen Maschi­ nen. Nim jede Pflanze, oder jedes Thier, und lege die Theile aus einander, du wirst niemahl auf die rohe Materie kommen, die Theile eines jeden Theils, sind wieder eben so künstliche Maschinen, als das Ganze war.19

16 Beide Zitate: Christoph Perels: Studien zur Aufnahme und Kritik der Rokokolyrik zwischen 1740 und 1760. Göttingen 1974, S. 187. 17 Thomas Forrer: Schauplatz/Landschaft. Orte der Genese von Wissenschaften und Künsten um 1750. Göttingen 2013, S. 24. 18 Das ist die Komplementärthese zu Joachim Ritters Kompensation verlorener Tota­ lität in der Landschaft, vgl. Joachim Ritter: Landschaft. Zur Funktion des Ästheti­ schen in der modernen Gesellschaft. In: Subjektivität. Sechs Aufsätze. Frankfurt a.M. 1974, S. 141-163 und, mit anderer Wendung, Forrer, Schauplatz/Landschaft, S. 199-214. 19 Sulzer, Unterredungen, S. 45.

262

Zugespitzt: Um in der Natur einen neuen sinnlichen Reiz zu entdecken, braucht es somit nicht mehr als Skalierung.20 Entscheidend für Sulzers Naturbegriff ist dabei das Verhältnis, das die Teile zum Ganzen und zu den Teilen des Teils unterhalten: Gleichwie alle Glieder unsers Leibes zusammen genommen ein einziges sehr weise eingerichtetes Ganzes ausmachen, so sind die verschiedenen Ar­ ten natürlicher Dinge einzele Glieder, woraus die oberste Weisheit ein vollkommenes Ganzes zusammen gesezt hat. [...] Also ist ein unauflösli­ ches Band zwischen den Dingen dieser Erde.21

Natur ist eine Art mise en abyme, genauer: Sie folgt einer fraktalen Struk­ tur. Dass diese auf einen obersten Urheber, den Schöpfergott verweist, ist in diesem physikotheologischen Argument eine Selbstverständlichkeit. Jeder Schnitt, der in dieser Totalität gesetzt wird, jede Auswahl von Teilen beinhaltet implizit die (göttlich garantierte) Struktur der Totalität, ist ein Verweis auf sie. Der Schnitt bewahrt die impliziten Verweise auf die Totalität jedoch einzig, solange das Ausgeschnittene in der Totalität eingebettet bleibt. „Nim [...] jedes Thier, und lege die Theile aus einander, du wirst niemahl auf die rohe Materie kommen“, so Eukrates in seinem Beispiel. Die Zerle­ gung des Lebewesens vermittelt diesen Effekt aber nur, wenn die Zerle­ gung eine rein gedankliche Abstraktion bleibt. Andernfalls wird die „voll­ kommene schöne Kette von der todten Erde durch das Mineralreich und das Pflanzenreich hindurch bis auf den Menschen“22 unterbrochen, ausei­ nandergerissen, die harmonische Ordnung destruiert. Die Ganzheit ist analog zu jener der großen Kette der Wesen, wie Sulzer sie konzipiert.23 Denn auch hier muss die Kette nicht als Ganzes bekannt sein, es genügt, wenn der lückenlose Fortgang nur virtuell gegeben ist, doch: Die „fürtrefliche[ ] Kette [...] [würde] unvollkommen seyn [...], wenn der geringste dieser Ringe fehlte.“24 Anders gesagt: Das sinnliche Vergnügen, das ein jeweilig aktualisier­ ter Teil der Gesamtheit bereitet, ist nur gegeben, solange die nicht­ aktualisierbare Totalität virtuell gewahrt bleibt. Sulzers eigene Maschi­ nenmetaphorik, der Vergleich des organischen Lebens mit dem Uhrwerk, kommt genau an dieser Stelle an ihre Grenzen: Maschinell ist Leben mit Sulzer eben nicht zu denken. Als potenziell unendliche Mannigfaltigkeit bleibt es nur gewahrt, wenn alle Übergänge und Bezüge jener niemals in 20 Dafür spricht auch die argumentativ bedeutende Rolle, die optische Medien in Sul­ zers Unterredungen einnehmen, vgl. Sulzer, Unterredungen, S. 47—53. 21 Sulzer, Unterredungen, S. 62—63. 22 Sulzer, Unterredungen, S. 87. 23 Vgl. Sulzer, Unterredungen, S. 26— 28. 24 Sulzer, Unterredungen, S. 27.

263

Gänze zu aktualisierenden Struktur namens ,Natur‘ virtuell gegeben blei­ ben.

III. Soweit die Rezeption des Phänomens ,Natur‘. Natur bietet hier die Mög­ lichkeit von potenziell unendlich wiederholbaren Akten der Rezeption qua Aufmerksamkeitslenkung auf Ausschnitte der Natur. Aus und mit dieser Möglichkeit heraus wird Natur als Totalität gesetzt, denn erst durch unendlich wiederholte Akte ist diese Totalität denkbar. Anders sieht die Situation dagegen aus, wenn Natur von Seiten künstlerischer Produktion betrachtet wird. Ziel künstlerischer Darstellung wäre es - in guter rhetorischer Tradi­ tion -, das Künstliche zu verbergen: „[A]m wirkungsvollsten ist jene Re­ dekunst, die sich nicht als solche erkennen lässt. Oder: am kunstvollsten ist das, was nicht künstlich ist; und damit in höchstem Maße persuasiv.“25 Die ,natürliche‘ Darstellung von Natur kann im Diskurs des 18. Jahrhunderts so zu einem ausgezeichneten Übungsfeld werden: Naturdarstellung ermög­ licht es, den - auch bei Sulzer zentralen26 - prodesse-et-delectare-Grundsatz umzusetzen, demzufolge die Darstellung des Natürlichen Vergnügen be­ reitet und zugleich als natürliche Darstellung ein Wissen vermittelt, das eine dezidiert soziopolitische Dimension hat. Das bedeutet: Die der Aufklärung eigene Repräsentation des Sinnli­ chen nimmt sich die ,bloße‘, unverstellte und unverfälschte Natur zum Vorbild. Natürlich sei, so Johann Georg Sulzer, das, „was keinen Zwang verräth, was nicht nach Regeln, die man durch die That entdeken kann, ab­ gepaßt, sondern so da ist, oder so geschieht, daß es das gerade, einfache Verfahren der Natur zu erkennen giebt“27 - jenes Verfahren, das das Feld der Natur in seiner Gesamtheit strukturiert. In der Rezeption eines Aus­ schnitts von Natur sind so die Übergänge eingezeichnet, die zur Mikro- wie auch Makrostruktur der natürlichen Welt führen sollen. Für die von der Normpoetik noch nicht restlos befreite Ästhetik, die Sulzer in seiner All­ gemeinen Theorie der schönen Künste dem Kunstschaffenden als Produkti­

25 Jan Dietrich Müller: Decorum. Konzepte von Angemessenheit in der Theorie der Rhetorik von den Sophisten bis zur Renaissance. Berlin 2011, S. 85. 26 Vgl. Winfried Eckel: Sulzer, Johann Georg (1720-1779). In: Monika SchmitzEmans; Uwe Lindemann; Manfred Schmeling (Hg.): Poetiken. Autoren - Texte Begriffe. Berlin 2009, S. 393-394. 27 Johann Georg Sulzer: Natürlich. In: Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzelnen, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt. Zweiter Theil, von K bis Z. Leipzig 1775, S. 306-309, hier S. 306.

264

onsanweisung an die Hand gibt, stellt das ein nicht zu unterschätzendes Problem dar. Sulzers produktionsästhetische Lösungsstrategie setzt nicht bei der Totalität an, sondern beginnt dort, wo er die Frage nach ,Natur‘ in seinen Unterredungen verhandelt hat - mit der Landschaft: [D]ie Schönheiten der Natur [haben] eine ganz nahe Beziehung auf unser Gemüth [...]. [I]n jeder Landschaft [machen] tausend verschiedene, un­ endlich durch einander gemischte Formen, ein Ganzes aus, darin sich alles so vereiniget, daß von der unbeschreiblichen Mannichfaltigkeit der Vor­ stellungen keine der andern widerspricht, obgleich jede ihren eigenen Geist hat. Dabey lernet der Mensch zuerst fühlen, daß eine nicht blos thierische Empfindsamkeit für die erschütternden Eindrücke der gröbern Sinnen; sondern ein edleres Gefühl, das Innere seines Wesens durchdringet, und eine Würksamkeit in ihm rege macht, die mit der Materie nichts gemein hat.28

Der Eindruck, den die als Ganzes wahrgenommene Mannigfaltigkeit auf den Menschen macht, hat eine erzieherische Funktion. Der Mensch ,erwacht‘ dadurch zu nicht-triebhaften Bedürfnissen. Es ist „ein edleres Ge­ fühl“, welches „das Innere seines Wesens durchdringet“ - ganz so, wie es die Unterredungen in ihrer Darstellung begleiteter Naturlektüre vorführen. Bei der Bestimmung des produktionsästhetischen Verständnisses von Natur - welche Natur also wie ,nachzuahmen‘ ist - gibt sich die Allgemei­ ne Theorie der schönen Künste relativ dunkel. Schon die ersten Zeilen des Artikels ,Natur‘ beginnen mit einer Kapitulation: „Es ist schwer, die ver­ schiedenen Bedeutungen dieses Worts in einen einzigen Begriff zu fas­ sen.“29 Die Mehrdeutigkeit des Begriffs ist ebenso in den Argumenten des Artikels sichtbar. Den Positionen der aufklärerischen Poetik entspre­ chend, spricht sich Sulzer dezidiert für die Nachahmung der Natur aus, wenn seine Ausführungen dazu auch noch deutlicher als Gottscheds30 da­ rauf zielen, nicht die Gegenstände der Natur nachzuahmen, sondern ihre Verfahren: Das „Verfahren der Natur“ sei die „eigentliche Schule des

28 Johann Georg Sulzer: Landschaft (Zeichnende Künste). In: Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzelnen, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt. Zweiter Theil, von K bis Z. Leipzig 1775, S. 114-121, hier S. 114. 29 Johann Georg Sulzer: Natur. In: Allgemeine Theorie der Schönen Künste in ein­ zelnen, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Ar­ tikeln abgehandelt. Zweiter Theil, von K bis Z. Leipzig 1775, S. 302-306, hier S. 302. 30 Vgl. Jürgen H. Petersen: Mimesis - Imitatio - Nachahmung. Eine Geschichte der europäischen Poetik. München 2000, S. 161-183.

265

Künstlers“,31 präzisierend heißt es im Artikel ,Nachahmung‘: Zur rechten Nachahmung der Natur [...] gelanget man nicht durch unüberlegtes Abschildern einzeler Werke; sie ist die Frucht einer genauen Beobachtung der sittlichen Absichten, die man in der Natur entdeket, und der Mittel, wodurch sie erreicht werden. [...] [D]ie Natur ist die wahre Schule in der er [i.e. der Dichter, J.C .H .] die Maximen seiner Kunst lernen kann, und wo er durch Nachahmung ih­ res allgemeinen Verfahrens, die Regeln des seinigen zu entdeken hat.32

Sulzer richtet sich mit seinem Nachahmungskonzept explizit gegen die imitatio: „Es giebt Künstler, welche die Natur nur durch die zweyte Hand kennen; weil sie sie nicht in dem Leben selbst, sondern in den Werken andrer Künstler beobachtet haben. Diese werden [...] allemal nur schwa­ che Nachahmer bleiben“,33 gelungener Ausdruck sei durch die Nachah­ mung künstlicher und künstlerischer Vorbilder nicht zu erreichen.34 Nachahmung der Natur ist für Sulzer also gleichbedeutend mit der Befolgung ihres allgemeinen Verfahrens, aus dem der Künstler Regeln für seine Kunst ableitet.35 Was diese Regeln besagen, definiert Sulzer nicht 31 Sulzer, Natur, S. 302. 32 Johann Georg Sulzer: Nachahmung. In: Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzelnen, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgen­ den, Artikeln abgehandelt. Zweiter Theil, von K bis Z. Leipzig 1775, S. 283—287, hier S. 285. 33 Sulzer, Natur, S. 305. 34 Die Ablehnung gilt bei Sulzer recht offensichtlich der Rhetorik im Allgemeinen, der Topik im Besonderen. Eindrücklich zeigt dies ein Beispiel aus seinem Artikel ,Nachahmung‘. Er unterscheidet darin unter anderem gelingende, da ,freie‘ Nach­ ahmung (insbesondere der Natur) von der „Nachäffung“ kulturell als vorbildlich anerkannter Autoren. Sein Beispiel verurteilt jedoch gleichermaßen imitatio wie — klassisch verstandene —Topik: „Die schlechtesten [Nachahmungen, J.C.H.] aber sind nothwendig die, welche aus kindischer Nachäffung entstehen, da Menschen ohne alles eigene Gefühl fremde Werke zum Spiel nachahmen, deren Absicht sie einzusehen, und deren Geist und Kraft sie zu fühlen nicht im Stande sind. So wur­ den in den Schulen der spätern griechischen Rhetoren, Reden über Staatsangele­ genheiten gehalten, als kein Staat mehr vorhanden war.“ (Sulzer, Nachahmung, S. 286-287). 35 Entsprechend kann Sulzer den klassisch-mimetisch verstandenen Begriff der Na­ turnachahmung erweitern und - Gottsched vergleichbar - entleeren: Nachdem er die aufmerksame Beobachtung der Natur empfohlen hat, schließt Sulzer seinen Ar­ tikel folgendermaßen: „Man [der Künstler, J.C.H.] nehme aber seinen Gegenstand aus der Natur, aus dem Ideal, oder man bilde ihn durch die Phantasie; so muß er, wenn er volle Würkung thun soll, durch die Geschicklichkeit des Künstlers, wie ein natürlicher Gegenstand erscheinen. Es muß darin, wie in der Natur selbst, alles passend, ungezwungen, genau zusammenhangend und wahr seyn“ (Sulzer, Natur, S. 306). Naturnachahmung ist Adaption der Verfahren der Natur, nicht Nachah­ mung ihrer Inhalte.

266

explizit. Stattdessen verweist er auf die aufscheinende, ,schwache‘ Evi­ denz, die den Verfahren der Natur eigen ist. Es bedarf der übenden, wie­ derholten Betrachtung der Natur, um ihre verborgenen Strukturen bzw. Verfahren aufzudecken: Unaufhörlich muß er [i.e. der Künstler, J.C .H .] seine äussern und innern Sinnen gespannt halten; jene damit ihm von allen Werken der Natur, die ihm vorkommen, keines unbemerkt entgehe; diese, damit er allemal genaue Kenntnis von der Würkung bekomme, die jeder beobachtete Gegenstand unter den alsdenn vorhandenen Umständen auf ihn machet[.]36

Einige Ausführungen des Artikels - und verwandter Schlagworte - geben jedoch eine vage Vorstellung vom nachzuahmenden Verfahren. So gilt laut Sulzer das als natürlich, „was keinen Zwang verräth, was nicht nach Regeln, die man durch die That entdeken kann, abgepaßt, sondern so da ist, oder so geschieht, daß es das gerade, einfache Verfahren der Natur zu erkennen giebt.“37 Der Gegenstand gilt Sulzer als ,natürlich‘, der keine Regelfolge verrät - und damit die im Kunstwerk befolgten Regeln latent hält und im Schein eines Verfahrens verdeckt. Den zweckhafte Anord­ nung garantierenden Regeln folgt, der Natur gleich, auch die natürliche Darstellung: Die Natur handelt nie ohne genau bestimmte Absicht, weder in Hervor­ bringung eines ganzen Werks, noch in Darstellung irgend eines einzelen Theiles. Wol dem Künstler der ihr darin folget, und jeden einzelen Zug seines Werks aus dem Zwek des Ganzen herleitet. [...] Eben darum nennet man auch künstliche Werke natürlich, wenn darin alles vollkommen, unge­ zwungen und auf das Beste zusammenhängend ist, als wann die Natur selbst es gemacht hätte.38

Als natürlich gilt somit, was einem Zweck, einer Absicht folgt und damit (als Handlung, als Ereignis) aus sich selbst heraus - ,intrinsisch‘ - moti­ viert ist. Das Kunstwerk ,Landschaft‘ ist dann natürlich, wenn es wirkt, als hätte es die Natur selbst gefertigt. ,Natur als Verfahren‘ scheint somit Sulzers Definition von ,Natur‘ zu sein. Jedoch verwirrt sich der Begriff im weiteren Verlauf des Artikels. Sulzer bietet eine zweite Definition von Natur: Wir müssen nun auch die Natur als das allgemeine Magazin betrachten, in welchem der Künstler den Stoff zu seinem Werk, oder doch etwas findet, nach dessen Aehnlichkeit er sich selbst seine Materie bildet. Der allgemei-

36 Sulzer, Natur, S. 304-305. 37 Sulzer, Natürlich, S. 306. 38 Sulzer, Natur, S. 302, 306.

267

ne Zwek aller schönen Künste ist [...] vermittelst lebhafter Vorstellung gewisser mit ästhetischer Kraft versehener Gegenstände, auf eine v o r te il­ hafte Weise auf die Gemüther der Menschen zu würken. Da dieses offen­ bar auch eine von den wolthätigen Absichten der Natur, bey Hervorbrin­ gung und Ausschmükung ihrer Werke gewesen; [...] so finden sich auch unter diesen Werken alle Arten der Gegenstände, die zu jenem Zwek dien­ lich sind. Der Künstler hat also nur für jeden besondern Fall zu wählen, was ihm dienet[.]39

Als Magazin verstanden ist Natur ein Vorrat an Nachzuahmendem. Sie liefert nicht Verfahren, sondern Vorbilder, denen der Künstler in seinem Werk nacheifert. Als Magazin besteht sie aus einem Archiv, aus dem Ele­ mente zu entnehmen und anzupassen sind - aus der in sich durch Ver­ weise strukturierten Ganzheit wird so ein Sammelsurium abgetrennter und abtrennbarer Elemente.40 Wenn Natur aber „allgemeine[s] Magazin“ und zugleich paradigmati­ sche Verfahrensweise für die Erkenntnis ist, so setzt sie ebenjene Ambiva­ lenz fort, die - insbesondere im 17. Jahrhundert - der Topik eigen war. Topoi sind, darauf hat Peter Hess hingewiesen, auf zweifache Art zu ver­ stehen. Zum einen ist die Topik eine Vorratskammer von Argumenten so das laut Hess ,falsche‘, wenn auch bis in die Antike zurückverfolgbare41 Verständnis von Topik. Zum anderen - für Hess das korrekte Verständnis - ist die Topik eine Art von Epistemologie: Topoi, loci bezeichnen die Quellen der Argumente, und nicht die konkre­ ten Argumente selbst. Diese Unterscheidung ist wichtig, denn sie verdeut­ licht die Erweiterung des Toposbegriffs in der Barockzeit, wo Topoi als vorformulierte poetische Versatzstücke in Florilegien, Wörterbüchern und

39 Sulzer, Natur, S. 304. 40 Diese doppelte Definition von Natur als zu studierendes Verfahren und ,bloßes‘ Magazin übersieht etwa Dietmar Till in seiner Sulzer-Lektüre und schlägt ihn da­ rum gänzlich der ,wirkungsästhetischen‘ Seite zu, die Natur als formales Prinzip versteht (vgl. Dietmar Till: Transformationen der Rhetorik. Untersuchungen zum Wandel der Rhetoriktheorie im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2004, S. 528­ 531). Ich dagegen will darauf aufmerksam machen, dass in Sulzers Allgemeiner Theorie ein bezeichnendes Schwanken zwischen einem formalen und materialen Verständnis vorliegt. 41 Vgl. Peter Hess: Zum Toposbegriff der Barockzeit. In: Jahrbuch Rhetorik. 10 (1991), S. 71-88, hier S. 76-78. Zur Kritik von Hess vgl. Lothar Bornscheuer: „Toposforschung? Gewiß! Aber im Lichte des zu Erforschenden: im Lichte der U ­ topie“. Zum topikgeschichtlichen Paradigmenwechsel bei Vico und Baumgarten. In: Thomas Schirren; Gert Ueding (Hg.): Topik und Rhetorik. Ein interdisziplinä­ res Symposium. Tübingen 2000, S. 275-306.

268

Sammlungen ähnlicher Art gelistet und dem Textproduzenten als Argu­ mentationsrepertoire angeboten werden.42

Die Topik ist demzufolge primär eine Lehre der „Methodik, die zur Auf­ findung von Inhalten führt“,43 nicht ein Magazin von Argumenten. Sie ist eine Erkenntnislehre, die Mannigfaltigkeit - genauer: die mannigfaltigen, vorbegrifflichen und virtuellen Aspekte an einer Sache, einem Gegenstand der Rede - nicht nur ordnet und systematisiert, sondern im Durchlaufen eines Fragenkatalogs und Verfahrens erst intelligibel macht. Indem Natur von Sulzer als Verfahren und Magazin gleichermaßen bestimmt wird, übernimmt sie - so meine These - die Funktion und die Ambivalenz, die zuvor die Topik einnahm.44 Natur ist einerseits von dem einen, dem ,natürlichen‘ Verfahren durchwirkt. Andererseits aber ist sie eine Vorrats­ kammer, aus der sich der Künstler bedienen kann. Der die Natur be­ obachtende Künstler kann sich an ihrem Verfahren schulen und es in sei­ nen Werken anwenden - sei es als Nachahmung, sei es als Erkenntnis einer Verfahrensweise, mit der auch nicht in der Natur vorkommende Gegenstände und Ereignisse als natürlich dargestellt werden können. Bleiben wir für den Moment bei der Definition von Natur als Verfah­ ren: Natur als „wahre Schule“ des Dichters ist der Ort, „wo er durch Nachahmung ihres allgemeinen Verfahrens, die Regeln des seinigen zu entdeken hat“,45 die „Theorie der Kunst“ ist somit „das System der Re­ geln, die durch genaue Beobachtung aus dem Verfahren der Natur abge­ zogen worden.“46 Die Regeln der Kunst sind Derivate der Verfahrenswei­ se der Natur; für die Produktion von Kunst ist die natürliche Strukturie­ rung der Mannigfaltigkeiten das Vorbild. Natürliche Darstellung wäre somit Ergebnis einer Technik, die sich an der Totalität namens Natur ori­ entiert und aus dieser das einzig - laut Sulzer - für die Repräsentation 42 Peter Hess: „Ein Lusthauß der Nimfen und Feldtgötter“. Zur Rolle der Topik in der Erzählprosa des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Daphnis. 19 (1990), S. 25-40, hier S. 28. 43 Hess, Zum Toposbegriff der Barockzeit, S. 74. 44 Eine vergleichbare Doppelstruktur zeigt das Konzept Natur auch in Kants Meta­ physischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft von 1786: Natur ist verstehbar ei­ nerseits als das „erste, innere Princip alles dessen [...], was zum Dasein eines Din­ ges gehört“ - damit als den natürlichen Dingen inhärentes Gesetz - und anderer­ seits als „der Inbegriff aller Dinge, so fern sie Gegenstände unserer Sinne, mithin auch der Erfahrung sein können, worunter also das ganze aller Erscheinungen, d.i. die Sinnenwelt mit Ausschließung aller nicht sinnlichen Objecte, verstanden wird“ (Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Prolegomena. Grundlegung zur Me­ taphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft. Ge­ sammelte Schriften, Abtheilung I: Werke. Bd. 4. [s.l.] 1963, S. 467 [Reprint De Gruyter]). 45 Sulzer, Nachahmung, S. 285. 46 Sulzer, Natur, S. 302.

269

Anwendbare abzieht: ihre Verfahren. Ihre Kennzeichen sind die Unter­ ordnung aller Elemente unter einen Zweck, fehlender Zwang und U n­ sichtbarkeit der (künstlerischen) Regelfolge bei gleichzeitiger Evidenz des zugrundeliegenden Verfahrens der Natur. Für die natürliche Darstellung ergibt sich damit eine Spannung zwischen der Erkennbarkeit des Verfah­ rens als natürlich und der Unsichtbarkeit der Regeln, die - aus der Natur gezogen - das Kunstwerk erst strukturieren: Das natürliche Verfahren (wie es am künstlerischen Gegenstand sichtbar wird) ist das Ergebnis der latent gehaltenen Regeln, die in ihrem Verschwinden das Verfahren der Natur als erkennbar zur Darstellung bringen. Die Verfahren der Natur haben - Sulzer spricht das explizit aus - eine in ihrer Betrachtung auf­ scheinende, ,schwache‘ Evidenz; es bedarf der übenden, wiederholten Be­ trachtung der Natur, um ihre verborgenen Strukturen bzw. Verfahren aufzudecken.47 Sulzer weicht der Schwierigkeit aus, die Verfahren der Natur und die daraus abzuleitenden Regeln der Kunst in seinen Artikeln zu konkretisie­ ren. Stattdessen verweist er einerseits auf den Evidenzeffekt, den seine Lexikonartikel im Zusammenspiel mit der Betrachtung der Natur beim Künstler erzeugen sollen. Andererseits springt der Begriff des ,Magazins‘ an eben jener Stelle ein, da ,Natur als Verfahren‘ propositional nur unge­ nügend gefasst werden kann. Die Wiederholung der deiktischen Geste, das hinzeigende Ver- und Vorweisen, ist der Punkt, der durch die Defini­ tion von Natur als Magazin weniger supplementiert, als vielmehr ersetzt wird. Wenn für den Künstler gilt, dass er zur angemessenen Naturnach­ ahmung „nicht durch unüberlegtes Abschildern einzeler Werke“ gelangt, sondern die Regel studieren soll, die die Gesamtheit der Natur struktu­ riert - dann ist der Rückgriff auf das Magazin problematisch. Dieser Rückgriff ist aber auch notwendig, da ,Natur als Verfahren‘ aufgrund ih­ rer Gliederung als organische Ganzheit, als Phänomen, das von Übergän­ gen und Verweisen geprägt ist, nicht im Sinne einer Regelpoetik proposi­ tional fassbar ist. An diesem Punkt, an dem Natur als Verfahren, als lebendige Ganz­ heit, nicht im Rahmen eines Lexikonartikels zu einer produktionsästheti­ schen Anweisung verkürzt werden kann, bleibt Sulzer stehen. Literaturge­ schichtlich gesehen verharrt Sulzer damit selbst an einem Übergang: Er steht zwischen den Finde- und Schauplatzbüchern der frühneuzeitlichen Poetik und der Absage an die Sammelbarkeit des Wissens, die zugleich die Geburt der Ästhetik als Lehre sinnlicher Erkenntnis markierte.

47 Vgl. die bereits zitierte Stelle: Sulzer, Natur, S. 304-305.

270

Carmen Bartl-Schmechel

Der Übergang von der Physiologie zur Ästhetik bei Friedrich Schiller

I. Einleitung Die Ästhetik Friedrich Schillers wurde oft als Hauptteil seiner Lehre an­ gesehen. Seine physiologische Lehre dagegen geriet in den Hintergrund; ihr Beitrag zur Ästhetik wurde heruntergespielt, wenn nicht zugunsten des Argumentes vom kantischen Einfluss geradezu verleugnet. Gegen eine solche Annahme argumentiere ich, dass die Grundstruktur der Schiller‘schen Ästhetik auf demselben Modell beruht, das bereits in den 1780ern innerhalb seiner Physiologie Anwendung gefunden hatte. Es handelt sich dabei um die duale Struktur zweier Triebe, die in einem Drit­ ten vermittelt werden. Die Triebe sind bei Schiller im polaren Paar von ,Schmerz und Lust‘, ,Selbsterhaltungs- und Vorstellungstrieb‘ oder in ih­ rer literarischen Form ,Hunger und Liebe‘ wieder zu finden. Dieses polare Modell bildet eine methodologische Brücke von den ,physiologischen‘ Schriften vor 1791 (einschließlich der Philosophischen Briefe) bis zu den späteren ,ästhetischen‘ Schriften. In den physiologischen Schriften insze­ niert Schiller diese Polarität nicht nur zwischen den zwei Trieben (,Hunger‘ und ,Liebe‘),1 sondern auch zwischen der ,tierischen‘ und ,geistigen‘ Natur des Menschen. Diese duale Struktur, die es abzumildern galt, war spätestens seit der Mitte des 18. Jahrhunderts ein konstitutives Merkmal anthropologischen Denkens. Auch für Schiller gilt es, diese Polarität ab­ zumildern, oder - in seinen eigenen Worten - zu ,vermitteln‘. Schiller strebt damit konsequent nach einem Gleichgewicht, das ihm bis zuletzt doch verwehrt bleiben würde. In diesem Artikel bin ich bemüht, die Suche Schillers nach einem sol­ chen Gleichgewicht innerhalb verschiedener Polaritäten zu beleuchten. Ich argumentiere, dass bei Schiller die ontologische Gewichtung und die ethische Wertung bereits im physiologischen Bereich auseinandergehen:

1

Bei ,Hunger‘ und ,Liebe‘ muss man im Blickfeld behalten, dass diese nicht einzelne Triebe darstellen, sondern gedankliche Abbreviaturen für komplexe Begrifflichkeiten, ähnlicher jeweils einem Cluster oder Bündel von Trieben als einem einzigen Trieb. Somit werden von Schiller unter dem Oberbegriff ,Hunger‘ auch Egoismus, Hass, oder Neid subsumiert (beispielsweise in den Philosophischen Briefen); wäh­ rend ,Liebe‘ sowohl eine platonische als auch eine sexuelle Seite aufweist.

271

Der Selbsterhaltungstrieb ist als primär anerkannt, der Vorstellungstrieb dagegen höher bewertet. Ähnlich wird später das Erhabene, in seiner Spannung mit dem Schönen, als das Wertvollere ausgelegt. Wie in der physiologischen Dissertation der Geist die Macht der tierischen Natur zügelte, so zügelt auch in den späteren Schriften zur Theorie der Ästhetik das Erhabene die Macht des Schönen. In dieser Dynamik, vielmehr als et­ wa in den Konsequenzen des Schiller-Turns von 1791, sehe ich die primä­ re Ursache für das letztendliche Scheitern Schillers, eine kohärente Theo­ rie der ,schönen Seele‘ zu produzieren, innerhalb derer das Schöne min­ destens genauso wichtig wäre wie das Erhabene. Auf diese Weise soll im Übergang von der Physiologie zur Ästhetik am Beispiel Schillers die Relevanz des polaren Modells zweier Triebe und ihres geschichtsträchtigen Zusammenspiels für das noch weitgehend in­ terdisziplinäre anthropologische Denken im ausgehenden 18 Jahrhundert hervorgehoben werden.

II. Schillers Wende von der Physiologie zur Ästhetik: Ein retrospektiver Trugschluss? Gewöhnlich hat man in der Lehre Schillers einen thematischen Wende­ punkt ausgemacht und diesen um 1791 zeitlich lokalisiert. Während der frühe Schiller der Karlsschul-Schriften seine Gedanken hauptsächlich auf der Ebene der Physiologie entfaltet, wende sich Schiller nach 1791 The­ men aus dem Bereich der Ästhetik zu; die frühe Beschäftigung mit Medi­ zin trete also in den Hintergrund.2 Nach 1791 soll Schiller sich von seiner ursprünglichen anthropologischen Einstellung distanziert haben und in Richtung der kritischen Philosophie Immanuel Kants, mit ihrer Emphase auf eine direktere Beherrschung der Triebe durch die Vernunft, gesteuert sein. Kritiker wie Wolfgang Riedel erkennen aber, bei aller Unbestrittenheit einer solchen Wende, dass der „Schiller der klassischen Periode“3 Spuren des medizinischen Denkens auch innerhalb seiner ästhetischen Theorie beibehält. Auch neuere Stimmen, wie die von Cornelia Zum­

2

3

272

„Chez le Schiller de l’époque classique, l’orientation est à nouveau légèrement dif­ férente. La médecine ne joue désormais presque aucun rôle. Schiller se tourne vers la philosophie et se met à étudier les Critiques de Kant (à partir de 1791).“ Wolf­ gang Riedel: Anthropologie et littérature à l’époque moderne. Le paradigme Schiller. In: Revue germanique internationale. Friedrich Schiller. La modernité d’un clas­ sique. 22 (2004), S. 208. Ebd.

busch, sprechen sich für eine solche Auslegung am Beispiel der ,Inokulation des Schicksals“4aus. In diesem Zusammenhang würde ich nicht nur den Forschungser­ gebnissen zustimmen, die besagen, dass die medizinische Sichtweise noch in den ästhetischen Schriften enthalten sei, sondern auch eingehender un­ terstreichen wollen, dass Schillers Hauptprojekt insgesamt existenziell ausgerichtet ist und dass sowohl Kunsttheorie als auch Physiologie die­ sem Hauptprojekt untergeordnet sind, nämlich letztendlich als Mittel. Während Physiologie und Ästhetik an sich verschiedene Bereiche darstel­ len, so weisen sie hinsichtlich ihrer Funktion als Mittel mehr Ähnlichkeit auf, als gemeinhin angenommen wurde. Die genaueren Details einer Entsprechung zwischen den physiologi­ schen und den ästhetischen Begriffen Schillers möchte ich im Folgenden an den Texten untersuchen. Um ein inhaltsgerechtes, werkimmanentes Verständnis zu sichern, wird im Falle Schillers allerdings gerade der gele­ gentliche Rückgriff auf kontextuelles Wissen, auf die zeitgenössischen, ihm wichtigen Beiträge zur Ästhetik unerlässlich. Denn es ist nicht die Entsprechung zwischen Physiologie und Ästhe­ tik, die die Einzigartigkeit von Schillers Position ausmacht. Einzigartig ist bei Schiller dagegen sein eigentümliches Schwanken, was die relative Wer­ tung des Schönen und des Erhabenen angeht. In Hinsicht auf die metho­ dologische Entsprechung zwischen Physiologie und Ästhetik an sich folg­ te der Denker vielmehr dem Geiste seiner Zeit. In den kurzen (aber für die Geschichte der Philosophie extrem dich­ ten) letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts fand nämlich ein mehrfa­ cher Transfer von Wissen statt. Aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts betrachtet ist man versucht zu sagen, dass der Transfer von einem Bereich in den anderen stattfindet. Das ist aber eine Täuschung des retrospektiven Blicks, denn die meisten dieser Bereiche konstituierten sich als solche erst durch diesen Transfer. Nur die Physik gab es bereits in ihrer neuzeitlichen mechanistischen Gestalt; die Biologie und die Ästhetik erlebten dagegen gerade ihre interdisziplinäre Geburt. Die Philosophie war - wie immer bis ins spätere 19. Jahrhundert - der Rahmen und das dynamische Feld, auf dem sich das Wissen organisierte. Eines der wichtigsten Modelle, die von einem solchen Wissenstrans­ fer profitierten, war die Polarität zweier Triebe. Die Ästhetik, die im übergreifenden Rahmen der Philosophie entstand, teilte das Schema ihrer Grundbegriffe - das Schöne und das Erhabene - bereits mit der Kant’schen Kosmologie, innerhalb derer das Schöne der Anziehung, das Erhabene der Zurückstoßung entsprach. Nachdem dieselbe kosmologi­

4

Vgl. Cornelia Zumbusch: Die Immunität der Klassik. Berlin 2011. Zweites Kapitel: „Inokulation des Schicksals, Immunität der Kunst (Schiller)“, S. 110-239.

273

sche Vorlage der zwei Urkräfte von Anziehung und Zurückstoßung von Physiologen (wie u.a. J.H . Blumenbach und C.F. Wolff) auf ihr eigenes Gebiet, die Physiologie, übertragen wurde, wird sie in theoretischen Mo­ dellen eingesetzt, die das Funktionieren lebendiger Körper erklären. Ästhetik und Physiologie (später: Biologie) teilen somit eine gemein­ same Basis, und zwar erstens, weil beide Bereiche sich auf eine Vorlage zweier regierender Kräfte bzw. Triebe zurückführen lassen und zweitens, weil sie in dieser Zeit ein gemeinsames Ziel anstreben: die Erkundung der Gesetze, denen physische lebendige Körper sowie Kunstprodukte unter­ worfen sind. Denn die Untersuchung der Natur als physische Materie spiegelt sich in dieser Zeit in der Untersuchung der ,Körper‘ von Kunst­ produkten wider. Gehörten Kunstwerke allein einer geistigen Dimension an, hätte die Vernunft keine weiteren Schwierigkeiten, über sie Urteile zu fällen. Aber da Kunstwerke eine materielle Seite haben, da sie auf einer sinnlichen Ebene existieren, müssen sie zuerst als sinnlich wahrgenom­ men werden; erst danach wird es möglich, mit Hilfe der Vernunft über sie zu urteilen. Die Ästhetik schlägt somit eine Brücke zwischen dem Sinnli­ chen und der Vernunft. Gegen Ende des Jahrhunderts kommt es somit zu einem Konfluenz­ plan, auf dem die Ästhetik und die Physiologie dank der gemeinsamen philosophischen Gedankenmodells (im Sinne des „mental model“ von Jürgen Renn)5 eine Synergie entwickeln. Von jetzt an - im Sinn habe ich dabei die 1790er Jahre - beschreiten die nun verflochtenen Disziplinen der Ästhetik und der Physiologie einen gemeinsamen Entwicklungsweg: Sie werden sich mehr als ein Jahrhundert lang gegenseitig beeinflussen, Erklä­ rungsmodelle voneinander entlehnen und gegenseitige Begriffsübertra­ gungen vornehmen.

III. Die Konzeption von Polaritäten in Schillers Physiologie und Ästhetik Im Folgenden untersuche ich die Polarität der Triebe zunächst in der Physiologie des jungen, ,frühen‘ Schiller, danach in der ästhetischen Lehre 5

274

Jürgen Renn: Mentale Modelle in der Geschichte des Wissens. Auf dem Weg zu ei­ ner Paläontologie des mechanischen Denkens. In: Dahlemer Archivgespräche 6 (2000), S. 83-100, hier S. 89. Wie Georg Toepfer erklärt: „Mentale Modelle werden von Renn als vereinfachte Vorstellungen von Vorgängen in der Welt bestimmt; sie umfassen die für ein bestimmtes Problem jeweils relevanten Elemente und deren funktionale Zusammenhänge und sie sind als Instrumente des Schlussfolgerns im Kontext vorgegebenen Wissens konzipiert.“ Georg Toepfer: Transformationen der Lebendigkeit —Kontinuitäten und Brüche in biologischen Grundkonzepten seit der Antike. In: Georg Toepfer und Hartmut Böhme (Hg.): Transformationen an­ tiker Wissenschaften. Berlin; New York 2007, S. 319.

des späten Schiller (nach 1791). Argumentiert wird, dass beide Bereiche Physiologie wie Ästhetik - sich aus einer polaren Grundstruktur mit ähn­ licher Dynamik speisen und beide einem übergeordneten, anthropolo­ gisch-existenziell ausgerichteten Projekt dienen sollen. Untersucht wird, wie Schiller ein Gleichgewicht auch innerhalb der ästhetischen Polarität festzumachen bemüht ist, und warum sein Versuch letztendlich scheitert.

III. 1. Die Physiologie III. 1. 1. Schillers Ansatz des ,ganzen Menschen‘ in den Karlsschul-Dissertationen Ende der 1770er Jahre schreibt der 20jährige Schiller unter der Leitung seines lediglich zehn Jahre älteren Lehrers und Freundes Johann Friedrich Abel drei Dissertationen als Krönung und Abschluss seines Studiums an der Karlsschule. Diese Schriften sind als ,Schillers medizinische Abhand­ lungen’ in die Geschichte eingegangen. Der rote Faden, dem Schiller in allen drei Karlsschul-Dissertationen folgt, ist der anthropologische Ansatz des ,ganzen Menschen’6 - eine der akzeptierten Grundstrukturen innerhalb der zeitgenössischen Anthropo­ logie.7 Der ,ganze Mensch‘ soll in sich eine physikalische, körperliche Sei­ te mit einer ,geistigen Natur’ verbinden. Damit schreibt sich Schiller in eine lange anthropologische Tradition ein, die Psyche und Soma als dy­ namische Einheit auffasst.8 1772 hatte Ernst Platner im Vorwort zu sei­ nem Hauptwerk die Anthropologie als diejenige Wissenschaft definiert, welche „Körper und Seele in ihren gegenseitigen Verhältnissen, Ein­ schränkungen und Beziehungen zusammen“9 betrachtet. Den Hinter­ grund dieser Definition bildet vor allem das seit der Renaissance beste­

6

7 8 9

Zum ,ganzen Menschen‘ Schillers vgl. u.a.: Holger Bösmann: ProjektMensch. Anthropologischer Diskurs und Moderneproblematik bei Friedrich Schiller. Würzburg 2005. Zum größeren Kontext des anthropologischen Ansatzes vgl. vor allem Hans-Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Litera­ tur im 18. Jahrhundert. Stuttgart; Weimar 1992. Eine detaillierte Bibliographie fin­ det sich in: Wolfgang Riedel: Die Anthropologie des jungen Schiller. Zur Ideenge­ schichte der medizinischen Schriften und der „Philosophischen Briefe“. Würzburg 1985. Vgl. auch Mareta Linden: Untersuchungen zum Anthropologiebegriff des 18. Jahr­ hunderts. Bern; Frankfurt a.M. 1976. Zum Thema von der Einheit der Seele und des Geistes in der Tradition der deut­ schen Aufklärung s. Riedel, Die Anthropologie des jungen Schiller, ab S. 11. Ernst Platner: Anthropologie für Aerzte und Weltweise. Erster Theil. Leipzig 1772. Vorrede, S. III-XXVIn, hier S. XVII.

275

hende Konzept einer doppelten Natur des Menschen (natura gemina)10 sowie die Theorie des leibseelischen Zusammenhangs (commercium men­ tis et corporis). Für die Erklärung „gegenseitiger Verhältnisse und Bezie­ hungen“ gab es die karrieremachende Hypothese eines influxus physicus ^natürlichen Einflusses’), nach Riedel „die dritte prominente Hypothese über die Leib-Seele-Verbindung“ im 18. Jahrhundert, „neben Leibnizens prästabilierter Harmonie und dem Okkasionalismus“.11 Ein Grundriss der Ideengeschichte des influxus physicus würde - trotz seiner Relevanz für die Dynamik der Triebe - den Rahmen der vorliegenden Arbeit spren­ gen;12 es sei nur darauf hingewiesen, dass es das Konzept bereits in der Antike bei Aristoteles gab und dass, nachdem es eine Zeitlang durch die cartesisch-mechanische Lehre verdrängt worden war, es sich im 18. Jahrhundert wieder einer wachsenden Popularität erfreute, hauptsäch­ lich dank der Entwicklung der Anthropologie als einer Wissenschaft von der doppelten Natur des Menschen.

III. 1. 2. Der anthropologische Ansatz der ^vernünftigen Ärzte‘: Materialismus, Animismus, Vermittlung Der anthropologische Ansatz des jungen Schiller ist in der germanisti­ schen Fachliteratur weitgehend untersucht worden, insbesondere im kul­ turhistorischen Kontext der ,vernünftigen Ärzte‘ der Spätaufklärung,13 zu

10 Die ersten Beispiele für die Verwendung von ,Anthropologie‘ als Wissenschaft über den Menschen als ein Wesen doppelter Natur finden sich bei dem Gelehrten Magnus Hundt („Antropologium de hominis dignitate, natura et proprietatibus“ (1501)) sowie später bei Otto Casmann: „Anthropologia est doctrina humanae na­ turae. Humana natura est geminae naturae mundanae, spiritualis et corporeae, in unum hyphistamenon unitae, particeps essentia“. Casmann: Psychologia anthropologica, sive animae humanae doctrina. 1594. 11 Riedel, Die Anthropologie des jungen Schillers, S. 23. Riedel spürt einer maßge­ benden Definition des influxus im 18. Jahrhundert in Zedlers Universal Lexicon nach (J.H. Zedler: Universal Lexicon. Bd. XXIII. 1740, Sp. 980). 12 Siehe dazu Wolfgang Riedel: Influxus physicus und Seelenstärke. Empirische Psy­ chologie und moralische Erzählung in der deutschen Spätaufklärung. In: J. Bark­ hoff und E. Sagarra (Hg.): Anthropologie und Literatur um 1800. München 1992. 13 Wolfgang Riedel hat dem Thema mehrere einschlägige Texte gewidmet. Vor allem Die Anthropologie des jungen Schiller enthält eine hervorragend verarbeitete Biblio­ graphie zum Thema. Aus Platzgründen werde ich hier auf einen Gesamtüberblick dieser Fachliteratur verzichten, den Leser aber auf die wertvolle Bibliographie hin­ weisen, die in Riedels Studie zu finden ist. Riedels Studie ergibt ein Gesamtbild bis 1985, Hinweise auf spätere Forschungsbeiträge finden sich beispielsweise in: Holger Bösmann: ProjektMensch. Anthropologischer Diskurs und Moderneproblema­ tik bei Friedrich Schiller. Würzburg 2005.

276

denen auch Schiller selbst gezählt wurde.14 Im deutschsprachigen Raum galt Platners Anthropologie für Arzte und Weltweise (1772) lange Zeit als einer der ersten Versuche der Aufstellung einer physiologisch grundierten Anthropologie; man pflegte deswegen, von einer 1772 ansetzenden anth­ ropologischen Wende‘ der Spätaufklärung zu sprechen. Carsten Zelle und andere haben jedoch diese anthropologische Wende‘ präziser um 1740/50 datiert;15 sie sei „im interdisziplinären Dreieck von Philosophie, Theologie und Medizin“16 vollzogen worden. Für die Zwecke der vorliegenden Ar­ beit ermöglicht diese Vordatierung eine exakte Kontextualisierung der frühen Werke Schillers in einem Ideenumfeld, das lange schon unter den Zeichen anthropologischen Denkens stand. Für die Anthropologen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts be­ stand eine der wichtigsten selbstauferlegten Aufgaben darin, auszu­ machen, wie man die Natur der Seele in einer Epoche des philosophischen Materialismus neu zu denken habe und was der Mensch hinsichtlich sei­ ner Selbstauffassung aus diesem neuen Wissensstand zu gewinnen habe. Was konnte man noch von der menschlichen Seele behaupten, ohne den Erkenntnisgewinn vonseiten der experimentell-materialistischen Physio­ logie zu ignorieren (und ohne diesem gleichzeitig zu verfallen, indem man den Materialismus als einzige Quelle der Wahrheit ansieht)?17 Bezeich­ nend bleibt, dass diese Wissenschaftler (Platner, Sulzer), zu denen sich auch Schiller mit seinen Dissertationen thematisch gesellt, bemüht waren, eine Brücke zwischen den Einflüssen des französischen Mechanismus so­

14 Siehe u.a. Walter Hinderer: Friedrich Schiller und die empirische Seelenlehre. Be­ merkungen über die Funktion des Traumes und das ,System der dunklen Ideen‘. In: Barner et al. (Hg.): Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft. 47. Jg. (2003), S. 187-213, hier S. 189. 15 Siehe dazu Carsten Zelles Beitrag: Erfahrung, Ästhetik und mittleres Maß: Die Stellung von Unzer, Krüger und E. A. Nicolai in der anthropologischen Wende um 1750 (mit einem Exkurs über ein Lehrgedichtfragment Moses Mendelssohns). In: Jörn Steigerwald und Daniela Watzke (Hg.): Reiz, Imagination, Aufmerksamkeit. Erregung und Steuerung von Einbildungskraft im klassischen Zeitalter, 1680-1830. Würzburg 2003, S. 203-224. Siehe auch im Nachwort von Alexander Kosenina zur Reprintausgabe der Anthropologie Platners (Hildesheim; Zürich; New York 1998, S. 303-318): „Gegenwärtig bemüht sich die Forschung verstärkt um eine Rückda­ tierung der .anthropologischen Wende‘ um eine Generation, also von Platner 1772 zu dem Hallenser Kreis um 1750.“ S. 309. 16 Zelle, Erfahrung, Ästhetik und mittleres Maß, S. 203. 17 Dieses Problem bildet den theoretischen Hintergrund einer anderen, allgemeineren Fragestellung, die existenziell zu denken ist und die den letztendlichen Motor wis­ senschaftlicher Neugierde für viele der .vernünftigen Ärzte‘, einschließlich Schiller, darstellte: Was für eine Lebensphilosophie ließ sich nun aus einer neuen Lehre des Körpers und der Seele ableiten?

277

wie Materialismus18 und der entgegengesetzten Position des Animismus, etwa im Sinne Georg Ernst Stahls, zu schlagen. Jedoch muss betont wer­ den, dass sie weder auf der einen noch auf der anderen Seite standen, son­ dern dass ihre Vermittlerposition eine radikal dritte war, die nicht auf eine Auflösung der Gegensätze (wie später in der Romantik) zielte, sondern diese Spannung der Gegensätze qua Spannung, in ihrer Dynamik, erhalten und verhandeln wollte.

III. 1. 3. Schillers ,Vermittlung‘ durch die ,Mittelkraft‘ Auch für Schiller bleibt der Gedanke der Vermittlung zwischen den bei­ den ,Naturen‘ des Menschen tragend. Die Formel des Menschen als „Mit­ telding zwischen Vieh und Engel“ entnimmt Schiller dem philosophischen Lehrgedicht Albrecht von Hallers, Uber den Ursprung des Übels (1734): Als gleichzeitig der materiellen wie der immateriellen Welt angehörend, ist der Mensch ein „Zweideutig Mittelding von Engel und von Vieh, [...] es stirbt und stirbet nie.“19 Das Ideal des ganzen Menschen besteht in ei­ ner Synergie beider Naturen, die es erlaubt, dass weder das körperliche (von Schiller genannt „tierische“) Leben noch das geistige Leben des Menschen in der Ausübung seiner spezifischen Aktivitäten leidet. Es ist ein schwer zu erhaltendes (und zu behaltendes) Gleichgewicht, ein Mit­ telweg, den der junge Schiller auf dieser physiologischen Ebene in einer sogenannten ,Mittelkraft‘ theoretisch fassbar machen möchte. Mit seinem Begriff der Mittelkraft situiert sich Schiller im Zentrum der zeitgenössischen Debatte zwischen Mechanismus und Animismus, zwischen den Wissenschaftlern, die die Welt in der Folge der Newtonianer durch mechanische Gesetzlichkeiten erklären wollten, und denen, die in der Nachfolge von G.E. Stahl die Seele als ultimative Wahrheit betrach­ teten. Wie bereits mehrere Kritiker bemerkt haben, ist Schiller keiner der zwei Fronten zuzuordnen,20 da weder die tierische, noch die geistige Seite 18 John Neubauer unterstreicht in diesem Kontext den Bedarf einer Differenzierung zwischen Materialismus und Mechanismus im 18. Jahrhundert; siehe dazu John Neubauer: The Freedom of the Machine. On Mechanism, Materialism, and the Young Schiller. In: Eighteenth-Century Studies. Vol. 15, No. 3 (1982), S. 275-290. 19 Albrecht von Haller: Uber den Ursprung des Übels. In: Ders.: Die Alpen und an­ dere Gedichte. Stuttgart 1965, S. 63, Z. 107f. 20 Bemerkenswert ist das Echo der Schiller’schen Position in der Rezeption vor allem der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der die Ideologen zweier Richtungen Schiller zur Unterstützung ihrer eigenen jeweiligen Agenda heranzogen. Die geo­ graphisch und kulturell im damaligen Westen angesiedelten Kritiker haben Schillers Vermittlerrolle, als Psychosomatiker (Reinhard Buchwald, Hans-Jürgen Schings, Hans Martin Sutermeister, Wolfgang Riedel, etc.) oder auch tendenziell seine idea­ listische Seite unterstrichen; die im Osten, die einer marxistisch-leninistischen Leh-

278

des Menschen nach ihm ohne Schaden für das Gesamtprodukt aufgegeben werden kann. Schillers ,Mittelkraft‘ gehört zu einer Familie von Begriffen, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Blüte ihrer Verwendung er­ lebten. Begünstigt wurde dies durch eine Wiederbelebung der Mesoteslehre im neuen Kontext, innerhalb der Anthropologie um 1750. Carsten Zel­ le führt hierzu aus: „Das Konzept der Mittellage [prägt] nicht nur die Ordnungsvorstellung der Sinnes- und Affektmodellierung, es gliedert vielmehr die Gesamtstruktur der Anthropologie um 1750, insofern der Mensch als ein Mischwesen aufgefasst wird, das zwischen den Extremen von (körperlosem) Engel und (seelenlosem) Tier in der Mitte steht“.*21 Zusammen formen Schillers ,Mittelkraft‘ und die Ebenen, zwischen denen diese vermittelt (die tierische und die geistige Natur des Menschen), eine Triade, die in mehreren analogen22 Varianten immer wieder in Schillers theoretischen Texten zur Geltung kommt - sowohl in der Physiologie als auch, nach 1791, in der Ästhetik. Die Triade ist die bei Schiller übliche Form des Auftretens einer - in ihrem dritten Element dynamisch vermit­ telten, aber nie aufgelösten - Polarität. Schiller setzt somit die Polarität als methodologischen Interpretationsschlüssel ein; sie ist hier eine Funktion, eine Sache der Methode, ein Verhältnis, das jeweils mit verschiedenen polarisierten - Inhalten gefüllt wird. (Tierisches Leben‘, ,geistiges Leben‘ und ,Mittelkraft‘ bestimmen den chronologisch ersten Inhalt dieser Tria­ de, der in der Philosophie der Physiologie zum Vorschein kommt. re durch das System der ideologischen Zensur verpflichtet sein mussten, haben Schiller tendenziell als Materialisten betrachtet (Benesch, Mette u.a.) Dahinter ste­ cken hoch entwickelte Strategien der Kontrolle über die kulturelle Produktion: Es werden unter totalitaristischen Bedingungen solche Forschungsprojekte durchge­ führt, die ideologisch in die Richtung gehen, die systematisch auf allen Ebenen ge­ fördert wird —und es werden im Gegenteil selten solche Forschungsvorhaben un­ ternommen, mit denen Risiken einhergehen —von denen das Risiko, die Karriere zu beenden, noch das harmloseste sein kann. Die Schiller-Rezeption der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist somit stark politisiert und die stark in dem politi­ schen Diskurs befangenen Befunde lassen sich am besten historisch kontextualisiert, cum grano salis interpretieren. 21 Zelle, Erfahrung, Ästhetik und mittleres Maß, S. 216. 22 Das Verfahren einer solchen Umformulierung gründet auf Analogie, was aus heu­ tiger Perspektive Zweifel hinsichtlich der Wissenschaftlichkeit erregen könnte; al­ lerdings ist diesen Analogien ein epistemischer Wert zuzuschreiben. Denn, wie Pe­ ter Hanns Reill zeigt, stand gerade die Analogie als epistemologische Methode zur Zeit Schillers hoch im Kurs. Reill schreibt: „It is true that many of Schiller’s images of nature and its processes were founded upon analogy; yet given the extremely high value attached to analogical reasoning within this discursive model —which Schiller affirms and to which he resorts again and again —analogical relationships meant a great deal.“ Peter Hanns Reill: Anthropology, Nature and History in the Late Enlightenment. The Case of Friedrich Schiller. In: Otto Dann et al. (Hg.): Schiller als Historiker. Stuttgart; Weimar 1995, S. 243—265, hier S. 264.

279

Entscheidend bleibt aber die Frage: Wie gewichtet Schiller die ersten zwei Elemente der Triade, wie organisiert er ihre Dynamik? Stellt man die Frage in den Kontext der damaligen Anthropologie, so scheint die Ant­ wort darauf eher auf der Seite einer Gleichwertigkeit dieser zwei Aspekte zu finden sein. So warnt uns Carsten Zelle: „Zwischen den Extremen von Engel und Vieh und den diesen Wesen zugeordneten Vermögen steht der Mensch in der Mitte. Weder eignet ihm ausschließlich ,Vernunft‘, noch ausschließlich ,Sinn£ - der Interpret, der das eine gegen das andere Ver­ mögen ausspielt, verfehlt die Wertbesetzungen, die die anthropologische Disposition mit dem Mesotesschema verteilt“.23 Die normative Ausrich­ tung der Mesoteslehre deutet auf Gleichwertigkeit. Es bleibt aber noch in jedem Einzelfall die Frage offen, inwiefern der jeweilige Autor, den man untersucht, dieser normativen Ausrichtung auch treu bleibt. Im Falle Schillers bleibt die ,Mittelkraft‘ ein Abstraktum, das rheto­ risch an eine konzeptuelle Leerstelle gesetzt wird.24 Was diese Mittelkraft genau ist, wie sie agiert, wessen ,Interessen‘ sie vertritt, hängt davon ab, welche ,Affinität£ ihr - explizit oder nicht - zugeschrieben wird. Steht die Mittelkraft eher der geistigen Natur nah oder der tierischen? Da diese beiden Elemente, zwischen denen sie vermittelt, ihre einzigen Referenz­ punkte darstellen, kann sie auch nur derivativ ihnen gegenüber stehen und bei aller Treue gegenüber dem Gedanken der ^vollkommenen Vermi­ schung'25 beider Naturen bleibt es für Schiller eine Herausforderung, die 23 Zelle, Erfahrung, Ästhetik und mittleres Maß, S. 218. 24 Bemerkenswert bleibt die prometheische Rhetorik, durch die Schiller sein Konzept der Mittelkraft einleitet. Nachdem er festgestellt hatte, dass dem Menschen diese zwei verschiedenen Dimensionen der Existenz innewohnen - die physikalische (materielle) und die geistige - postuliert er die Mittelkraft in einer rhetorisch ge­ wagten Geste: „[E]ndlich muß eine Kraft vorhanden sein, die zwischen den Geist und die Materie tritt und beede verbindet. Eine Kraft, die von der Materie verän­ dert werden und die den Geist verändern kann.“ Friedrich Schiller: Philosophie der Physiologie (1779). In: Friedrich Schiller: Sämtliche Werke. Hg. von Wolfgang Riedel. Bd. V. Erzählungen und theoretische Schriften. München 2004, hier S. 253. Schiller geht hier bewusst nicht etwa empirisch vor, sondern deklariert: Es muß diese Kraft vorhanden sein. Die Natur dieses Müssens erklärt er nicht; es bleibt auch unklar, ob es muss, weil die Observation darauf hindeutet, oder ob es ein Ausdruck reiner Vermutung ist. Denn die Kraft, die Schiller im Sinn hat, ist nicht nur nicht beobachtbar, sondern auch nicht denkbar: „und läßt sich ein solches den­ ken?“ schreibt der junge Autor weiter; „Gewiß nicht!“ antwortet er sich selbst, um nur kurz danach performativ aufzutreten: „Ich nenne sie Mittelkraft.“ Schiller, Phi­ losophie der Physiologie, S. 253. Die performative Geste ist instituierend - mit die­ ser Geste, in dieser Geste, die der hervorgehenden Negation (dem „Gewiß nicht!“) den Boden unter den Füßen wegreißt, wird der Begriff der Schiller’schen Mittel­ kraft geboren. 25 „Genug, däucht es mich, ist es nunmehr bewiesen, daß die thierische Natur mit der geistigen sich durchaus vermischet, und daß diese Vermischung Vollkommenheit ist“, schreibt Schiller im Versuch über den Zusammenhang der tierischen Natur des

280

Neutralität der Mittelkraft (und somit die Gleichwertigkeit der zwei Ele­ mente) durchgehend aufrechtzuerhalten.

III. 1. 4. Das Auseinandergehen von ontologischer Gewichtung und ethischer Wertung In den frühen physiologischen Schriften wird von Schiller immer wieder die Oberhand veranschaulicht, die der Körper über den Geist besitzt und ausübt. So erklärt Schiller, dass „[...] die thierischen Empfindungen mit unwiderstehlicher und gleichsam tyrannischer Macht die Seele zu Leiden­ schaften und Handlungen fortreißen und über die geistigsten selbst nicht selten die Oberhand bekommen“.26 Diese Oberhand der „thierischen Empfindungen" nennt Schiller das „Gesetz der Nothwendigkeit“, dem der Mensch gar nicht entkommen kann: „[es] schützt [uns] weder die höchste Tugend, noch die tiefste Philosophie, noch selbst die göttliche Religion vor dem Gesetz der Nothwendigkeit“.27 Der Körper bedingt das Denken indirekt, indem der Körper nicht nur das Denken an sich ermöglicht, sondern auch dessen Inhalte be­ stimmt und lenkt. „Es mag sein“, schreibt Julius in den Philosophischen Briefen, „daß ich [...] Wallungen meines Blutes, Ahndungen und Bedürf­ nisse meines Herzens für nüchterne Weisheit verkaufe“.28 Schiller nimmt ein System von Korrespondenzen zwischen bestimmten Körperprozessen und bestimmten Inhalten des Denkens an. Man denkt eines, wenn man ruhig ist; ein (inhaltlich) anderes aber, wenn die ,Wallungen des Blutes‘ den Körper in Aufregung versetzen. Der Mensch als die vermittelnde In­ stanz zwischen seiner eigenen physischen und geistigen Dimension ist für Schiller nicht immer imstande, zwischen den Ursprüngen seiner Ideen zu unterscheiden und somit zu wissen, was „Weisheit“ und was nur Regung des Körpers ist. Die Physiologie schleicht sich bis in die Metaphysik, oft ihre eigenen Spuren au f dem Weg verwischend: das ist die vielleicht wichtigste Implikation des menschlichen Status als ,unselige[s] Mittelding zwischen Vieh und Engel‘. Die Aufmerksamkeit, die der tierischen Seite des Menschen beim frühen Schiller zukommt, sorgte immer wieder für Kontroversen, wenn

Menschen mit seiner geistigen (1780). Zit. nach der ,Riedel-Ausgabe‘: Friedrich Schiller: Sämtliche Werke. Hg. von Wolfgang Riedel. Bd. V. Erzählungen und the­ oretische Schriften. München 2004, hier S. 316. 26 Schiller, Versuch über den Zusammenhang, S. 295f. 27 Schiller, Versuch über den Zusammenhang, S. 296. 28 Friedrich Schiller: Philosophische Briefe (1786). Ebd., S. 296. In: Friedrich Schiller: Sämtliche Werke. Hg. von Wolfgang Riedel. Bd. V. Erzählungen und theoretische Schriften. München 2004, hier S. 356f.

281

sie nicht geradezu die Schuld dafür trug, dass die medizinischen Schriften vonselten der Germanisten lange ignoriert wurden - jedenfalls vor der Er­ scheinung von Dewhursts und Reeves’ Monographie29 zum medizinischen Schiller. Da Schiller immer wieder der ,tierischen Natur‘ deutlich mehr Macht als der ,geistigen‘ einräumt, haben manche Kritiker argumentiert, dass Schiller einer „Rehabilitation der Sinnlichkeit“30 verpflichtet war. Die Idee bleibt allerdings umstritten. Im spezifischen Kontext gelesen, in dem Schiller argumentiert, ist diese Bemühung des Philosophen - in seiner ex­ pliziten Selbstdarstellung jedenfalls - lediglich als Korrektiv zu lesen. Gleich zu Beginn der sogenannten ,Dritten Dissertation‘ - Versuch über den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen - erklärt Schiller: „Schon mehrere Philosophen haben behauptet, daß der Körper gleichsam der Kerker des Geistes sei [...] Wiederum ist von man­ chem Philosophen [...] die Meinung gehegt worden, daß [...] sich alle Vollkommenheit des Menschen in der Verbesserung seines Körpers ver­ sammle“.31 Schiller selbst will sich explizit auf keiner dieser Seiten verorten, denn: Mich deucht, es ist dies von beiden Theilen gleich einseitig gesagt. [...] Da aber gewöhnlicher Weise mehr darin gefehlt worden ist, daß man zu viel auf die eigene Rechnung der Geisteskraft [...] geschrieben hat, so wird sich gegenwärtiger Versuch mehr damit beschäftigen, den merkwürdigen Beitrag des Körpers zu den Aktionen der Seele, den großen und reellen Einfluß des thierischen Empfindungssystemes auf das Geistige in ein helle­ res Licht zu setzen.32

Dadurch relativiert sich die Wertung, die Schiller der Sinnlichkeit tatsäch­ lich einräumt. Der Philosoph unterlässt es auch nicht, selbst zu bemerken, dass sein Unternehmen keinesfalls mit einer Apologie der Sinnlichkeit verwechselt werden sollte.33 Andererseits könnte es sich meiner Meinung nach doch um mehr als ein Korrektiv handeln, wenn man bedenkt, dass Schiller dieser Mittelkraft bereits in der vorangehenden Philosophie der Physiologie einen materiellen Sitz zuspricht: Die Mittelkraft „wohnet im Nerven“. Was in der Selbst­ 29 S. Kenneth Dewhurst und Nigel Reeves: Friedrich Schiller. Medicine, Psychology and Literature. With the first English edition of his complete medical and psycho­ logical writings. Berkeley; Los Angeles 1978. 30 Federführend in dieser Argumentation ist Wolfgang Riedel. S. bspw. Riedel, Die Anthropologie des jungen Schiller, S. 10. 31 Schiller, Versuch über den Zusammenhang, S. 290f. 32 Ebd. (meine Hervorhebung). 33 „Aber darum ist das noch gar nicht die Philosophie des Epikurus, so wenig es Stoicismus ist, die Tugend für das höchste Gut zu halten.“ Schiller, Versuch über den Zusammenhang, S. 290f.

282

darstellung als Korrektiv präsentiert wurde, könnte durch eine innersys­ temische Wahl der Begriffe und ihrer Einbettung in Frage gestellt werden: Der Materialismus der Vorgehensweise - der Mittelkraft einen materiellen Sitz zuzusprechen - würde eher auf eine, wenn auch nicht explizite, Favorisierung der Sinnlichkeit hindeuten, die sich nicht auf die Wahl eines Themas beschränkt, sondern systembildend ist. Dieses Vorgehen passt eher zu Schillers philosophischem Profil, als lediglich ein thematisches Korrektiv vorzunehmen. Denn, wenn die Mittelkraft „im Nerven woh­ net“ (und mit dieser Haller’schen Aussage hatte Schiller etwas durchaus Physisches im Sinn), so gehört diese entscheidende Kraft, die das Wesen des Menschen ausmacht, letztendlich doch in den materiellen Bereich. Sie mag selbst nicht materiell sein, „ein Fluidum“; aber sie ist im Materiellen eingebettet und von dieser materiellen Basis abhängig, sogar in ihrer Exis­ tenz (ohne Nerven keine Mittelkraft). Auch ist nicht nur das Ja oder Nein der Existenz der Mittelkraft mit dem physischen Fortbestehen der N er­ ven verbunden, sondern auch die spezifische Weise, in der sich die Mittel­ kraft entfaltet: Ich selbst bin durch tausend Zweifel einmal zu der festen Überzeugung gekommen, daß die Mittelkraft in einem unendlich feinen, einfachen, be­ weglichen Wesen wohne, das im Nerven, seinem Kanal, strömt und wel­ ches ich nicht elementarisches Feuer, nicht Licht oder Äther, nicht elektri­ sche oder magnetische Materie, sondern den Nervengeist heiße. Und also heiße in Zukunft die Mittelkraft.34

Die „feste Überzeugung“, gewonnen am Ende eines Weges von „tausend Zweifel[n]“, erzählt die Geschichte des schwierigen Erlangens einer unsi­ cheren Erkenntnis, einer These ohne empirische Basis, die sich aber trotz­ dem der Gunst ihres Autors erfreut. War die Postulierung einer nicht nachweisbaren Kraft vor dem Hintergrund des zu dieser Zeit weit verbrei­ teten Mechanismus gewagt, so bleibt Schiller doch seiner Ausbildung als Mediziner seines Jahrhunderts treu, wenn er die Mittelkraft „im Nerven“ verortet. Wohnt die Mittelkraft für den Schiller des Versuchs über den Zusam­ menhang „im Nerven“, so ist auch für den Schiller der Philosophischen Briefe der Sitz der Vernunft ein physischer: Die Vernunft ist nämlich im Gehirn lokalisierbar. Diese These wird explizit, als Julius seiner Frustrati­ on dadurch Ausdruck verleiht, dass er sich nun allein auf die Vernunft verlässt, die jedoch in eine anfällige Physikalität eingebettet ist: „Glaube niemand als Deiner eignen Vernunft, sagtest Du weiter. [...] Wehe mir

34 Schiller, Philosophie der Physiologie, S. 256.

283

von nun an, [...] wenn ein zerrissener Faden in meinem Gehirn ihren Gang verrückt!“35 All dies würde die These unterstützen, dass die materielle Seite des Menschen für Schillers System wichtiger ist, als er explizit zugibt. Dies al­ lerdings bedeutet noch keine Gleichwertigkeit mit der geistigen Seite. Dass die Sinnlichkeit für Schiller als Mittel zum Zweck zweitrangig ist, kann nicht bestritten werden. Wertung und Gewichtung, muss man fest­ stellen, sind in diesem Falle stark voneinander zu trennen. Wertvoller ist die Freiheit, entscheidend aber die Notwendigkeit;36 wertvoller der Geist, gesetzgebend aber der Körper. Das Gesetz der Notwendigkeit und die Schwierigkeit, diesem Gesetz zu entkommen, stellen eine Problematik dar, die Schiller bis in seine spä­ ten Jahre beschäftigen wird. Wir werden gleich sehen: Nicht nur, dass die ethische Aufwertung des Geistes in keinerlei Widerspruch mit der ontologi­ schen Gewichtung des materiellen Körpers steht - sie folgt geradezu daraus.

III. 1. 5. Freiheit bedeutet Freiheit von der Körperlichkeit In den Philosophischen Briefen nimmt Schiller eine eindeutige Wertung der verschiedenen Wissensstände des Menschen vor. Mehr Wissen ist immer besser, auch dann, wenn kurzsichtige Erwägungen die langfristigen Vor­ teile vernebeln. Das philosophische Wissen ist aber nicht nur um seiner selbst willen anzustreben, sondern auch deswegen, weil es eingesetzt wer­ den kann, um die Freiheit des eigenen Geistes zu fördern - die Freiheit des Geistes von den Einflüssen eines kranken Körpers: Philosophie und noch weit mehr ein muthiger und durch die Religion er­ hobener Sinn sind fähig, den Einfluß der thierischen Sensationen, die das Gemüth des Kranken bestürmen, durchaus zu schwächen und die Seele gleichsam aus aller Cohärenz mit der Materie zu reißen.37

Das Wissen, das der Zweck an sich sein sollte, wird also doch als Mittel eingesetzt, um die (temporäre) Ablösung vom Körper zu ermöglichen.38

35 Schiller, Philosophische Briefe, S. 339f. (meine Hervorhebung). Ein Jahrhundert später, als Freud seine Karriere als Neurologe beginnt, wird man an Schiller zu­ rückdenken müssen: Freud studiert die Fäden im Gehirn, die, zerrissen, den Gang der Vernunft verrücken. 36 Zum Problem der Notwendigkeit im Werk Schillers s. Thomas Stachel: Der Ring der Notwendigkeit. Friedrich Schiller nach der Natur. Göttingen 2010. 37 Schiller, Versuch über den Zusammenhang, S. 315. 38 Dabei ist die Krankheit kontingent; der Körper, qua Körper, ist immer bereits krank, denn er ist für Krankheit anfällig, gleich ob nun im gegebenen Augenblick

284

Freiheit bedeutet immer Freiheit von etwas; es gibt keine Freiheit im Lee­ ren, ohne jeden Zwang; wenn es eine solche gäbe, dann hieße sie vielleicht Begeisterung oder Freude oder (je nach Wertung) auch Angst. Schiller geht es offensichtlich um die Freiheit von dem Körper, von der Materiali­ tät, wie im oben genannten Beispiel - von der Krankheit. Das beeinträch­ tigt keineswegs die Wichtigkeit des Materiellen. Vielmehr gerade dadurch, dass dem Materiellen so viel Macht inne wohnt, macht sich das Bedürfnis nach Freiheit erst deutlich spürbar. Die Freiheit kann man bei Schiller nur im Kontext, im dynamischen Zusammenhang mit der Notwendigkeit des Körperlichen verstehen. Nur wegen unserer Körperlichkeit (weil sie nottut) sind wir, laut Schiller, dazu verurteilt, immer wieder mit unserem Geist in Regionen der Abstraktion emporzusteigen; oft mobilisieren wir die Kräfte unseres Geistes auch nur, um einer Krankheit zu trotzen, um uns von ihr nicht überwältigen zu lassen. Die Freiheit hätte ohne den Kontext einer nötigenden Notwendigkeit kaum noch Sinn und Schwung. Der Schritt in die Freiheit kann aber geübt werden, und zwar noch bevor eine kritische Lage eintritt. Denn um im kritischen Moment die ge­ dankliche Manöver der Ablösung vom Körper vollziehen zu können, hilft es, wenn man in ähnlichen Manövern bereits geübt ist: „Freilich wohl wird derjenige, der gewohnt ist, in einem Zustand dunkler Ideen zu exis­ tieren, weniger fähig sein, sich in dem kritischen Augenblick des sinnli­ chen Schmerzens zu ermannen, als der, der beständig in hellen deutlichen Ideen lebt“.39 Es zeichnet sich hier eine Diätetik des Geistes ab, die sich im Großen und Ganzen an einem stoischen Modell orientiert.40 Hier liegt vielleicht das zentrale Lebensprojekt Schillers: Antworten auf die Frage zu finden, wie man ,sich in dem kritischen Augenblick des sinnlichen Schmerzens zu ermannen‘ hat. Es ist eine Frage, die existenziell, als Aufga­ be gestellt ist - und die Schiller in seiner Ästhetik zu beantworten ver­ sucht.

III. 2. Ästhetik III. 2. 1. Ästhetik als Therapie menschlicher Existenz Die neuzeitliche Ästhetik - aus dem griechischen ,aisthànesthai‘, ,sinnlich wahrnehmen‘ - wurzelt in der Philosophie, als derjenige Teil der Philoso­

eine Erkrankung besteht oder nicht. Der Körper bleibt für den Menschen Träger von Krankheit und Verwundbarkeit, von Zerrissenheit und Tod. 39 Schiller, Versuch über den Zusammenhang, S. 296. 40 Zur Rezeption und Rolle der stoischen Lehre für die deutschen Aufklärer des 18. Jahrhunderts siehe u.a. Zumbusch, Die Immunität der Klassik, S. 28-36.

285

phie, der sich allgemein mit Sinnesempfindungen beschäftigt.41 Mitte des 18. Jahrhunderts wurde der Akzent auf die Untersuchung des Schönen in seinem Gegensatz zum Erhabenen verlegt. Die von Schiller nach 1791 entwickelte Ästhetik trägt die Spuren ei­ nes anthropologischen Denkens und einer medizinisch-therapeutischen Ausrichtung - im Sinne einer Therapeutik menschlicher Existenz.42 Dabei spielt auch bei Schiller die Dynamik zwischen dem Schönen und Erhabe­ nen eine zentrale Rolle. Als Schiller ab 1791 beginnt, seine Untersuchungen der Ästhetik zu widmen, beantwortet er im Grunde genommen mit den Mitteln, die er in­ nerhalb der Ästhetik entwickelt, die alte Frage, die er bereits in den phy­ siologischen Schriften gestellt hatte: Wie kann der Mensch eine erfolgrei­ che Vermittlung zwischen seinen Trieben erreichen, eine Instanz in sich bewahren, die über diese Triebe herrscht, ohne sie zu unterdrücken? Schillers Ästhetik birgt eine praktische Aufgabe: den Menschen auf unvermeidliche Schläge des Schicksals mit den Mitteln der Kunst vorzu­ bereiten. Waren es in den physiologischen Schriften die tierische und geis­ tige Natur, die ,vermittelt‘ werden sollten, so geht es in den ästhetischen Schriften um die Dynamik zwischen dem Schönen und dem Erhabenen: Beide Elemente erheben einen Anspruch darauf, das Wichtigere oder Wertvollere zu sein. Ist es in Vom Erhabenen noch das Schöne, dem zu­ gemutet wird, die bedeutsame Rolle der Vermittlung einnehmen zu kön­ nen, so wird diese Aufgabe in Uber das Erhabene vom Erhabenen über­ nommen. Das Erhabene versteht Schiller in kantischer Tradition als eine Erfah­ rung, die grundsätzlich zwei Momente enthält: erstens, das des Überwältigt-Werdens, oder in Schillers Worten, der „Ohnmacht“ des Menschen gegenüber einer wahrgenommenen Gefahr (auch wenn die Gefahr fiktiv ist, etwa im Theater); zweitens, das Moment der „Übermacht“, in dem sich der Mensch geistig über diese Erfahrung erhebt: Das Gefühl des Erhabenen besteht einerseits aus dem Gefühl unsrer Ohnmacht und Begrenzung, einen Gegenstand zu umfassen, anderseits aber aus dem Gefühl unsrer Übermacht, welche vor keinen Grenzen er­ schrickt und dasjenige sich geistig unterwirft, dem unsre sinnlichen Kräfte unterliegen.43 41 Siehe dazu Andrew Bowie: Aesthetics and subjectivity from Kant to Nietzsche. Manchester; New York 1990, S. 2. 42 Entlang der Idee der „ästhetische [n] Erziehung als ästhetische Therapeutik“ argu­ mentiert auch Cornelia Zumbusch. Vgl. Zumbusch, Die Immunität der Klassik, S. 131ff. 43 Friedrich Schiller: Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen (1792). In: Friedrich Schiller: Sämtliche Werke. Hg. von Wolfgang Riedel. Bd. V. Erzählungen und theoretische Schriften. München 2004, hier S. 362.

286

Auf dem Gebiete der tragischen Kunst lautet die „Übersetzung“ dieses Phänomens folgendermaßen: Zum Pathetischerhabenen werden also zwei Hauptbedingungen erfodert. Erstlich eine lebhafte Vorstellung des Leidens, um den mitleidenden Affekt in der gehörigen Stärke zu erregen. Zweitens eine Vorstellung des Wider­ standes gegen das Leiden, um die innre Gemütsfreiheit ins Bewußtsein zu rufen. N ur durch das erste wird der Gegenstand pathetisch, nur durch das zweite wird das Pathetische zugleich erhaben. Aus diesem Grundsatz fließen die beiden Fundamentalgesetze aller tragischen Kunst. Diese sind erstlich: Darstellung der leidenden Natur; zweitens: Darstellung der moralischen Selbständigkeit im Leiden.44

Hier wird die Brücke zwischen dem physiologischen und dem ästheti­ schen Modell noch einmal ersichtlich: Es ist die geistige Natur des Men­ schen (ein Erhabenes), die sich darin übt, sich von der tierischen Empfin­ dung zu lösen, wenn diese tierische Ebene - sei es auch nur in effigie - an­ gegriffen wird. Durch die Begegnung mit fremdem Leid (wie auf der Theaterbühne dargestellt) wird der Mensch dank seiner Empathiekräfte in den Zustand versetzt, in dem er dieses dargestellte Leiden mitempfindet stark genug, um das damit zusammenhängende praktische Wissen abzulei­ ten und gleichzeitig distanziert genug, um nicht auf einer Weise betroffen zu sein, in der die Angst um das eigene Leben ihn überwältigen und die Lernerfahrung dadurch verhindern würde. Die Erfahrung des Patheti­ scherhabenen wird als eine „Inokulation des unvermeidlichen Schicksals“ beschrieben, „wodurch es seiner Bösartigkeit beraubt und der Angriff desselben auf die starke Seite des Menschen hingeleitet wird“.45 Diese Funktionszuweisung des Erhabenen enthüllt die Verbindung zwischen der Physiologie und der Ästhetik - eine Verbindung, die über mehrere Dekaden des 20. Jahrhunderts wenig beachtet blieb.46 Erst seit kurzem er­

44 Friedrich Schiller: Vom Erhabenen (1793). In: Friedrich Schiller: Sämtliche Werke. Hg. von Wolfgang Riedel. Bd. V. Erzählungen und theoretische Schriften. Mün­ chen 2004, hier S. 512. 45 Friedrich Schiller: Über das Erhabene (1804). In: Friedrich Schiller: Sämtliche Werke. Hg. von Wolfgang Riedel. Bd. V. Erzählungen und theoretische Schriften. München 2004, hier S. 805f. 46 Von dieser Behauptung möchte ich Wolfgang Riedel ausschließen, der wiederholt diese Verbindung unterstrichen hat. Siehe u.a. Riedels Beiträge: Der Spaziergang, Anthropologie et littérature, sowie sein Meisterwerk Die Anthropologie des jungen Schiller. Im englischsprachigen Raum hat Peter Reill dazu beigetragen - u.a. mit seinem Buch Vitalizing Nature in the Enlightenment (Berkeley; Los Angeles 2005) sowie dem bereits zitierten, Schiller gewidmeten Artikel „Anthropology, Nature and History in the late Enlightenment“. Hier sollte man übrigens nicht die Literatur über diese Verbindung mit der Litera­ tur über den medizinischen Schiller an sich verwechseln. Der medizinische Schiller

287

lebt diese Verbindung eine erhöhte Aufmerksamkeit dank der aktuellen Hochkonjunktur eines Interesses an anthropologischen Aspekten in der Philosophie. In diesem Zusammenhang ist Cornelia Zumbuschs Habilita­ tionsschrift „Die Immunität der Klassik“ zu nennen, die den medizini­ schen Diskurs der Goethezeit rekuperiert. Hinsichtlich der Verbindung zwischen den früheren und den späteren Schriften behauptet die Autorin: Die Remodellierung der tragischen Katharsis als einer Immunisierung ge­ gen das Schicksal erschließt sich aber vor allem über Schillers Frühschrif­ ten: Schillers tragisches Erhabenes [...] ist das Derivat seiner medizini­ schen Arbeiten und eine[s] dort mitlaufenden stoizistischen Diskurs[es].47

Tatsächlich deuten auch Schillers eigene Ansichten aus den physiologi­ schen Zeiten auf die Existenz einer Gedankenbrücke hin, da in der Dritten Dissertation Überlegungen zu finden sind, die sich auf das Theatrale und seine Wirkung auf den Zuschauer beziehen. Der junge Schiller hatte be­ reits 1780 geschrieben: „Auch die Illusion des Zuschauers, die Sympathie mit künstlichen Leidenschaften hat Schauer, Gichter und Ohnmachten gewirkt.“48 Die Bemerkung erfolgt zwar im Kontext der Physiologie, sie lässt allerdings ein frühes Interesse an den Mechanismen erkennen, die die Rezeption von theatralischer Kunst steuern, und sie nimmt auch zum Teil Schillers Überlegungen zum Phänomen des Zuschauer-Mitleids aus Uber die tragische Kunst vorweg, das erst zwölf Jahre später erschien.

III. 2. 2. Das Schöne als mäßigendes Element für das Erhabene In den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen argumentiert Schiller, dass die „Natur“ sowie der „natürliche Charakter“ des Menschen der Ebene der Materie entsprechen, während die Ebene des Geistes den „sittlichen Charakter“, also seine „Vernunft“, beherbergt. In der Dritten Dissertation hatte Schiller bereits den Menschen als ein Wesen geschildert, das sich zwischen diesen zwei Ebenen - Materie und Geist - zu bewegen hat; nun ergänzt Schiller sein duales Schema mit dem parallelen Paar zwei­ er „Legislationen“, wie er sie nennt: Natur und Vernunft.49 Im Falle dieses

erfreute sich auch im 20. Jahrhundert gemäßigter, aber steter Aufmerksamkeit, zumindest im deutschsprachigen Raum. Man trennte ihn aber gerne vom Philoso­ phen und vor allem vom Dichter. Siehe dazu auch Frederick Beiser: Schiller as Phi­ losopher. A Re-Examination. Oxford; New York 2005. 47 Zumbusch, Die Immunität der Klassik, S. 112. 48 Schiller, Versuch über den Zusammenhang, S. 310. 49 Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795). Im Folgenden als Ästhetische Erziehung. In: Friedrich Schiller:

288

Gegensatzes ist für Schiller die Bildung das dritte Element, das dafür sorgt, dass die beiden Prinzipien ihre Individualität behalten, auch wenn sie sich „vermischen“. Wichtig in diesem Zusammenspiel bleibt aber in dieser früheren Pha­ se, dass beide „Legislationen“ zur Sprache kommen - ansonsten ist das Ergebnis, die erzeugte „Vermittlung“, qualitativ nicht hochwertig genug: „Daher wird es jederzeit von einer noch mangelhaften Bildung zeugen, wenn der sittliche Charakter nur mit Aufopferung des natürlichen sich behaupten kann.“50 Hierin ist ein sehr spezifischer Beitrag Schillers zu se­ hen: Für ihn reicht es - zumindest zu diesem Zeitpunkt - nicht, wie für (besonders den späten) Kant, dass die Vernunft über die Sinne triumphiere. Schiller will, dass sie es auf einer Weise tue, die die sinnliche Ebene doch einbezieht statt sie restlos zu unterwerfen. Wie soll dies aber gelingen, wie soll eine solche „Aufopferung des na­ türlichen“ Charakters vermieden werden? Hier tritt Schillers theoretische Innovation zutage. Nachdem er feststellt, „daß sich der Mensch auf zwei entgegengesetzten Wegen von seiner Bestimmung entfernen könne“51 schlägt er vor: „Von dieser doppelten Verwirrung soll es [unser Zeitalter] durch die Schönheit zurückgeführt werden.“52 Eine „schöne Kultur“ würde laut Schiller „beiden entgegengesetzten Gebrechen zugleich begegnen und zwei widersprechende Eigenschaften in sich vereinigen“,53 somit eine Art Versöhnung der Vernunft mit der Sinnlichkeit ermöglichend. Allerdings bleibt an dieser Stelle der Begriff der Schönheit eher regulativ - vielmehr das Ergebnis einer theoretischen Vermutung als der Erfahrung oder Be­ obachtung, da er, wie Schiller schreibt, „aus keinem wirklichen Falle ge­ schöpft werden kann, vielmehr unser Urteil über jeden wirklichen Fall erst berichtigt und leitet“.54 Die Existenz eines solchen Begriffs steht bis auf Weiteres unter Fragezeichen: Dieser reine Vernunftbegriff der Schönheit, wenn ein solcher sich auf zeigen ließe, müßte also [...] auf dem Wege der Abstraktion gesucht und schon aus der Möglichkeit der sinnlich-vernünftigen Natur gefolgert werden können: mit einem Wort: die Schönheit müßte sich als eine notwendige Bedingung der Menschheit aufzeigen lassen.55

50 51 52 53 54 55

Sämtliche Werke. Hg. von Wolfgang Riedel. Bd. V. Erzählungen und theoretische Schriften. München 2004, hier S. 577 (Vierter Brief). Ebd. Schiller, Ästhetische Erziehung, S. 596 (Zehnter Brief). Ebd. Ebd. Ebd., S. 600. Ebd.

289

Die Nutzung des Konjunktivs untermauert auch auf grammatischer Ebe­ ne den hypothetischen Charakter eines solchen Begriffs der Schönheit, der für Schillers theoretische Zwecke eingesetzt werden könnte. Anderer­ seits drückt sich hier wieder Schillers rhetorische Neigung aus, neue Be­ griffe einzusetzen, deren Charakter möglicherweise paradox sein kann, deren Existenz aber performativ behauptet wird - wie bereits zuvor im Falle der „Mittelkraft“. Ein Restzweifel an der Möglichkeit einer solchen „Schönheit" als „reine[m] Vernunftbegriff“ lässt sich jedoch nicht auflö­ sen. In diesen früheren ästhetischen Schriften neigt Schiller allerdings e­ her dazu, den Fokus auf das Schöne (und somit die Sinnlichkeit) zu set­ zen: Die anzustrebende „Freiheit der zweiten Art“ ist eine Freiheit, die die sinnliche Seite des Menschen integriert hatte.56 Auch in Kallias oder über die Schönheit findet man sogar eine Apologie des Schönen in Verbin­ dung mit einer relativen Devaluierung solcher „Härte“ der Vernunft, die der „Natur“ Gewalt antut.57 Anders als bei Kant spricht sich Schiller eher dafür aus, dem „weiblichen“ Charakter das letzte Wort zu überlassen. Dem Anmutigen, dem Schönen fällt es an, sozusagen als „Synthese“ zu wirken (wenn mir diese geschichtsphilosophisch anachronistische Be­ zeichnung erlaubt ist); das Prinzip des Schönen besetzt die „dritte Stelle“, wo die Vermittlung zwischen den zwei ursprünglichen Neigungen - zur Sinnlichkeit und zur Sittlichkeit - geschieht. Das Schöne und die Schön­ heit gehören für Schiller in dieser Phase zu einer Strategie, die potenzielle Herrschsucht der Vernunft (die sich u.a. im Erhabenen ausdrückt) zu mäßigen.58 56 „Dadurch, daß der Mensch überhaupt nur vernünftig handelt, beweist er eine Frei­ heit der ersten Art, dadurch, daß er in den Schranken des Stoffes vernünftig und unter Gesetzen der Vernunft materiell handelt, beweist er eine Freiheit der zweiten Art.“ In: Schiller, Ästhetische Erziehung, S. 631 (Neunzehnter Brief). 57 „Alles, was man gewöhnlich Härte nennt, ist nichts anders als das Gegenteil des Freien. [...] Der gute Ton verzeiht auch dem glänzendsten Verdienst diese Brutali­ tät nicht, und liebenswürdig wird die Tugend selbst nur durch Schönheit. Schön ist aber ein Charakter, eine Handlung nicht, wenn sie die Sinnlichkeit des Menschen, dem sie zukommen, unter dem Zwang des Gesetzes zeigen oder der Sinnlichkeit des Zuschauers Zwang antun. [...] Daher rührt es, daß uns oft bloß affektionierte Handlungen mehr gefallen als rein moralische, weil sie Freiwilligkeit zeigen, weil sie durch die Natur (den Affekt), nicht durch die gebieterische Vernunft wider das Interesse der Natur vollbracht werden —daher mag es kommen, daß uns die milden Tugenden mehr als die heroischen, das Weibliche so oft mehr als das Männliche ge­ fällt; denn der weibliche Charakter, auch der vollkommenste, kann nie anders als aus Neigung handeln.“ Friedrich Schiller: Kallias oder Uber die Schönheit (1793). In: Friedrich Schiller: Sämtliche Werke. Hg. von Wolfgang Riedel. Bd. V. Erzäh­ lungen und theoretische Schriften. München 2004, hier S. 424f. 58 S. Lesley Sharpe: Schiller's Aesthetic Essays. Two Centuries of Criticism. Colum­ bia 1995, S. 74.

290

III. 2. 3. Der Vorrang des Erhabenen im späten Aufsatz Über das Erhabene Doch blieb Schiller nicht ganz bei einer Favorisierung des Sinnlichen auf Kosten des Sittlichen. In späteren Jahren neigte er immer mehr dazu, sei­ ne Position zugunsten der Sittlichkeit eingehender zu revidieren; im Auf­ satz Über das Erhabene (1802) sehen die Machtverhältnisse vollkommen anders aus. Hier entspricht das ästhetische Paar des Schönen und Erhabe­ nen dem physiologischen Paar der tierischen und geistigen Natur des Menschen. Das Schöne waltet nur noch in der sinnlichen Welt; seine Rol­ le ist dabei deutlich eingeschränkt, da es nun innerhalb der Triade nur noch eine chronologische Antezedenz genießt, nicht aber - wie früher das letzte Wort hat: Zwei Genien sind es, die uns die Natur zu Begleitern durchs Leben gab. Der eine, gesellig und hold, verkürzt uns durch sein munteres Spiel die mühvolle Reise, macht uns die Fesseln der Notwendigkeit leicht und führt uns unter Freude und Scherz bis an die gefährlichen Stellen, wo wir als rei­ ne Geister handeln und alles Körperliche ablegen müssen, bis zur Erkennt­ nis der Wahrheit und zur Ausübung der Pflicht. Hier verläßt er uns, denn nur die Sinnenwelt ist sein Gebiet, über diese hinaus kann ihn sein irdischer Flügel nicht tragen. Aber jetzt tritt der andere hinzu, ernst und schweigend, und mit starkem Arm trägt er uns über die schwindlichte Tiefe. In dem ersten dieser Genien erkennet man das Gefühl des Schönen, in dem zweiten das Gefühl des Erhabenen.59

Das Schöne erscheint also gerade als Vorstufe, und das Erhabene als das, was es zu erreichen gilt. Die Funktion der „Synthese“ fällt nun dem Erha­ benen zu. Mehr noch - auch jetzt beschreibt Schiller zwei Arten von Freiheit: eine Freiheit im Schönen und eine Freiheit im Erhabenen. Doch anders als in den Briefen über die ästhetische Erziehung ist nun die Freiheit im Schönen in ihrem Wert herabgesetzt: Wir fühlen uns frei bei der Schönheit, weil die sinnlichen Triebe mit dem Gesetz der Vernunft harmonieren; wir fühlen uns frei beim Erhabenen, weil die sinnlichen Triebe auf die Gesetzgebung der Vernunft keinen Ein­ fluß haben, weil der Geist hier handelt, als ob er unter keinen andern als seinen eigenen Gesetzen stünde.60

Die Situation, in der „die sinnlichen Triebe auf die Gesetzgebung der Vernunft keinen Einfluß haben“, hatte genau den Gegenstand von Schil­ lers Kritik in Kallias ausgemacht: Es war die „Härte“ ohne Anmut, die sich einer Assoziation mit der Freiheit nicht erfreuen konnte („Alles, was 59 Schiller, Über das Erhabene, S. 796. 60 Ebd., S. 797.

291

man gewöhnlich Härte nennt, ist nichts anders als das Gegenteil des Freien“,61 hatte er geschrieben). Zwischen der Position in Kallias und der in Uber das Erhabene könnte die Kluft nicht größer sein: Während Schil­ ler 1793 der Auffassung war, dass die Unterwerfung der Sinnlichkeit das Gegenteil von Freiheit sei (eine schiere „Brutalität“62), so sieht er 1802 die höchste Freiheit gerade darin, dass der Geist völlig autonom, in komplet­ ter Unabhängigkeit von der sinnlichen Ebene handelt. Das als ob („als ob er [der Geist] unter keinen andern als seinen eigenen Gesetzen stünde“63) wirkt abmildernd, die Konsequenz lässt sich aber nicht mehr verhindern.64 Nicht nur ist das Schöne der schwächere Teil, es befindet sich nun gera­ dezu im antagonistischen Verhältnis zum Erhabenen: „Das Erhabene ver­ schafft uns also einen Ausgang aus der sinnlichen Welt, worin uns das Schöne gern immer gefangen halten möchte.“65 Diese Stelle zeigt, dass hier ein Zusammenwirken des Erhabenen und Schönen nicht mehr in Fra­ ge kommt. Die Kontinuität ist gebrochen. Das Erhabene wird zur eigent­ lichen Krönung, die dann, wie alle „Synthesen“ bei Schiller, folgerichtig als „gemischtes Gefühl“66 definiert wird. Dass innerhalb des Schiller’schen Diskurses über das Erhabene die zwei Haupttexte zum Thema, Vom Erhabenen und Uber das Erhabene, unterschiedliche philosophische Standpunkte einnehmen, wurde kaum beachtet. Welche Faktoren zu Schillers Auffassungsänderung beigetragen haben, kann man nur vermuten. In der traditionellen Germanistik hat man immer wieder die Relevanz des Kant-Studiums für Schillers spätes Werk unterstrichen; aber die „Wende“ wurde um 1791 lokalisiert.67 Wie ich vo­ rangehend gezeigt habe, besteht dieser grundlegende Widerspruch zwi­ schen den Texten von 1793-1795 und dem von 1802; beide widersprüchli­ chen Seiten befinden sich also nach der vermeintlichen Wende. Meiner Meinung nach wird man eher fündig, wenn man über die Idee der Kant’schen Wende Schillers hinaus forscht. Wolfgang Riedel beispielswei­ se suggeriert, dass die stoisch-heroische Position, die dem Erhabenen in­ newohnt, in Schillers letzten Lebensjahren auch aufgrund seiner körperli-6123457

61 62 63 64

Schiller, Kallias, S. 424f. Ebd., S. 424f. Schiller, Über das Erhabene, S. 797. Auch Cornelia Zumbusch bemerkt, dass die Kalokagathie der schönen Seele „im Ernstfall versagt“ und die Seelenschönheit von der Seelenstärke abgelöst werden muss. Zumbusch, Die Immunität der Klassik, S. 131. 65 Schiller, Über das Erhabene, S. 799. 66 Ebd., S. 796. 67 Siehe Peter-André Alt: Die Griechen transformieren. Schillers moderne Konstruk­ tion der Antike. In: Walter Hinderer (Hg.): Friedrich Schiller und der Weg in die Moderne. Würzburg 2006, S. 340.

292

chen Leiderfahrungen stärker an den Tag treten musste;68 zeitlich fiele seine Erkrankung mit der Kant’schen „Wende“ sehr eng zusammen. Die Bedeutung des Kant-Studiums als sea-change in Schillers Philo­ sophie ist nicht zu bestreiten. Aber warum Schiller sich überhaupt von Kant - als Philosophen, mit dem er in vielen Punkten ansonsten nicht übereinstimmte - beeinflussen ließ, wieso er sich einen solchen sea-change in seiner eigenen Philosophie überhaupt erlaubte: Diese Frage sollte eben­ so gestellt werden.69 Denn Schiller wurde alles andere als passiv von Kants Philosophie beeinflusst.70 Möglicherweise trug gerade die Erfahrung der Krankheit dazu bei, dass Schiller sich nach 1790 dem Studium von Kants Philosophie überhaupt zu widmen geneigt war.71 Hinzu kommt aber meiner Meinung nach, dass bei Schiller das Schö­ ne aufgrund seiner doppelten Loyalität zum Sinnlichen und Sittlichen ei­ nen Ausnahmestatus genießt. „Die Schönheit“, schreibt Schiller, „ist da­ her als die Bürgerin zweier Welten anzusehen, deren einer sie durch Ge­ burt, der andern durch Adoption angehört; sie empfängt ihre Existenz in 68 Riedel ist in seiner Diagnose eindeutig: „Daß hier im übrigen auch massiv Biogra­ phisches auf die Theoriebildung durchschlägt, wird man nicht von der Hand wei­ sen wollen. Seit 1791 schwer und chronisch krank, mit wiederkehrenden Entzündungsanfallen und heftigen Fieberschüben, steht Schiller selbst in eben der Situati­ on der Todesdrohung, von der er hier schreibt.“ Wolfgang Riedel: Die Freiheit und der Tod. Grenzphänomene idealistischer Theoriebildung beim späten Schiller. In: Georg Bollenbeck und Lothar Ehrlich (Hg.): Friedrich Schiller. Der unterschätzte Theoretiker. Köln; Weimar; Wien 2007, S. 59-71, hier S. 69. Auch an anderer Stelle stellt er einen solchen kausalen Zusammenhang eindeutig fest: „ce stoïcisme héroïque, ce repli sur ce qui ,en nous n’est pas la nature‘ ne doit pas être mal inter­ prété. Schiller était mortellement malade (depuis 1791, il souffrait régulièrement d’inflammations d’organes, graves et mal soignées) et, le sachant, il lui fallait trou­ ver des moyens pour ne pas se laisser submerger par l’angoisse de la mort. D ’où la nécessité d’être radical.“ Riedel, Anthropologie et littérature, S. 208f. 69 Eine überzeugende Hypothese darüber, „was Schiller an Kant faszinierte“, liefert auch Anne Pollok: „Kants Rede von der Urteilskraft als eines Übergangs muss Schiller wahrhaft elektrisiert haben. Die ,Mittelkraft‘ war es, nach der er schon in der ersten und dritten Karlsschuldissertation gefragt hatte“, schreibt die Kritikerin. In: Anne Pollok: Schillers sentimentalische Erziehung und die popularphilosophische Aufklärungsästhetik. In: Jürgen Stolzenberg und Lars-Thade Ulrichs (Hg.): Bildung als Kunst. Fichte, Schiller, Humboldt, Nietzsche. Berlin; New York 2010, S. 87-102, hier S. 101. 70 Anne Pollok schreibt von den „niemals unkritisch aufgenommenen - Einflüssen Kants [...]“. Pollok, Schillers sentimentalische Erziehung und die popularphilosophische Aufklärungsästhetik, S. 88. 71 Dass Schillers Konfrontation mit chronischer Krankheit zu seiner stoischen Auf­ fassung des Erhabenen wesentlich beigetragen hat, habe ich an anderer Stelle aus­ führlicher zu zeigen versucht. Vgl. Carmen Bartl: Sublime Illness. Friedrich Schil­ ler’s Chronic Lung Disease and the Concept of the Sublime. In: Zhenyi Li und Sara Rieder Bennett (Hg.): Chronicity Enquiries. Making Sense of Chronic Illness. Oxford 2013, S. 13-21.

293

der sinnlichen Natur und erlangt in der Vernunftwelt das Bürgerrecht“.72 Gerade diese doppelte Affiliation bringt aber meines Erachtens die Positi­ on des Schönen ins Wackeln. Ohne eine abgesicherte theoretische Situie­ rung pendelt das Schöne zwischen beiden „Welten“. Auffällig ist, dass diese theoretische Unabgesichertheit des Schönen zusammen mit einer umfassenden doppelten Loyalität gelesen werden kann. Denn auch Schiller selber pflegte eine doppelte philosophische Lo­ yalität, wie Anne Pollok zeigt: einerseits zum Kant-Studium, andererseits zu seiner eigenen anthropologischen Ausbildung.73 Pollok argumentiert, dass „Schillers philosophische Schriften nach der Kant-Lektüre immer noch auch aus popularphilosophischer Sicht betrachtet werden müssen, um ihre Komplexität und ihr eigentümliches Schwanken zu verstehen“.74 Einerseits orientiert sich Schiller an den regulativen Ideen von Vernunft, Freiheit und Autonomie (die ein kantisches Erbe darstellen), andererseits muss er auch das realisierbare Maß dieser Ideen in der wirklichen Welt, in der Menschen leben (das Erbe des anthropologischen Denkens) einbezie­ hen. Pollok stellt dies folgendermaßen pointiert dar: „Schiller schwankt also zwischen zwei philosophischen Konzepten. Vereinfacht gesprochen: Kant gibt ihm das Ziel vor, Mendelssohn zeigt das Maß auf.“75

IV. Schlussfolgerung Die Konvergenz des ästhetischen und physiologischen Projektes bei Schil­ ler erfolgt also, wie ich gezeigt zu haben hoffe, in einem existenziellen, anthropologischen Projekt, innerhalb dessen es um eine holistische „Erzie­ hung“ des Menschen geht. Das Bildungsideal Schillers setzt zwar Kunst ein, doch bleibt diese hauptsächlich ein Mittel zur Erlangung der Sittlichkeit. In diesem Sinne wird Kunst als technë, Technik, verwendet: eine Technik (im Sinne der Foucault’schen ,Technik des Selbst‘), eine ,künstliche‘ Vorge­

72 Friedrich Schiller: Uber Anmut und Würde (1793). In: Friedrich Schiller: Sämtli­ che Werke. Hg. von Wolfgang Riedel. Bd. V. Erzählungen und theoretische Schrif­ ten. München 2004, hier S. 442. 73 Pollok schreibt, dass „Schillers Idee einer ästhetischen Erziehung und ihre Einbin­ dung in sein poetologisch-geschichtsphilosophisches Konzept der 1790er Jahre besser verstanden werden kann, wenn man es nicht nur als eine Frucht des Kantund Fichte-Studiums versteht, sondern auch als einen Rückgriff auf Altvertrautes, welches in der damaligen Diskussion durchaus noch vorhanden war. Es ist damit Schillers popularphilosophischer Prägung seit der Karlsschulzeit geschuldet, dass er zu seinem Modell der Balance und gleichzeitigen Strebsamkeit griff.“ Pollok, Schil­ lers sentimentalische Erziehung und die popularphilosophische Aufklärungsästhe­ tik, S. 88. 74 Pollok, Schillers sentimentalische Erziehung, S. 98. 75 Ebd., S. 100.

294

hensweise, um den Menschen zu ,erziehen‘ oder zu ,bilden‘. Für Schiller eignet sich besonders die Tragödie als Mittel zur sittlichen Bildung des Menschen. Trachtete Schiller in den physiologischen Schriften eher danach, innerhalb einer Auseinandersetzung der tierischen und geistigen Natur des menschlichen Wesens die Autonomie des Menschen als Entscheidungskraft gegen die tierische Natur zu behalten, so beschäftigt ihn in den ästhetischen Schriften die Frage, wie man den Menschen mit Hilfe der Kunst auf einen Stand der Bildung bringen kann, auf dem er von seiner Selbstbestimmung Gebrauch machen kann. Man könnte zusammenfassend sagen: Innerhalb der Ästhetik formuliert Schiller die Lösung eines Problems, das er auf dem Gebiet der Physiologie zuerst ausgemacht hatte. Bezeichnend ist aber, dass diese Lösung bis zum Ende zweideutig bleibt: Wir haben gesehen, wie in Schillers ästhetischen Schriften das Schö­ ne und das Erhabene um den „ersten Platz“ konkurrieren - den hierarchisch ersten Platz der „Synthese“, des „vermischten“ Status. Wir haben auch fest­ stellen müssen, wie in diesem Wettbewerb zur Zeit der Ästhetischen Erzie­ hung, also um 1793-1795, das Schöne überwog (oder zu überwiegen schien), während im späteren Aufsatz Uber das Erhabene (1802) der Vorrang des Erhabenen herausgestellt wird. Das Schwanken des Schönen zwischen sinn­ licher Natur und Vernunft spiegelt das Schwanken Schillers zwischen seiner lebenslangen anthropologischen Ausbildung und der schulphilosophischen Neigung seiner letzten Jahre wider. Meiner Meinung nach hat die Trennung zwischen dem „physiologi­ schen“ und dem „ästhetischen“ Schiller allerdings mehr mit einer retro­ spektiven Täuschung als mit einer radikalen Entwicklung von Schillers Denken zu tun. Es ist eine von den Denkern des 20. Jahrhunderts ana­ chronistisch angewendete Trennung der Wissensbereiche (Medizin vs. Kunst, Physiologie vs. Ästhetik), die es so erscheinen lässt, als würde Schillers theoretisches Anliegen nach seiner Kant-Rezeption um 1791 ein grundsätzlich anderes werden. Diese Trennung, sogar Kluft zwischen den zwei Wissensbereichen bildet sich aber dauerhaft erst im 19. Jahrhundert, nach Schillers Tod, heraus. Das, was mehr als ein Jahrhundert später in Folge solcher Verschiebungen der Fachgrenzen als eine Wende erscheint, stellt sich als Kontinuität dar, wenn man Schillers Projekt in seinem eige­ nen historischen Kontext betrachtet und von der späteren Trennung der Wissensbereiche im 19. Jahrhundert absieht. Schillers Hauptziel, sein Ideal, das jeder Mensch seiner Meinung nach anzustreben hätte, war weder der gesunde Mensch noch der Künstler oder Philosoph, sondern ,der morali­ sche Mensch‘ (der „sittliche“ Mensch), so wie das späte 18. Jahrhundert Schiller selbst mit inbegriffen - ihn konstruiert. Das lebenslange Anliegen des Philosophen, wie auch des Dichters Schiller, bleibt somit weder ein rein medizinisches, noch ein ästhetisches, sondern ein ethisch-anthropo­ logisches.

295