Brücken bauen - Kulturwissenschaft aus interkultureller und multidisziplinärer Perspektive 9783839433607

This book supports interdisciplinary bridge building - between Germany and France and East and West - through cultural c

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German Pages 530 Year 2016

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Brücken bauen - Kulturwissenschaft aus interkultureller und multidisziplinärer Perspektive
 9783839433607

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Tabula gratulatoria
Einführung
Comme un pont de lianes
Kultur – Wissenschaft – Kulturwissenschaft – Wissenschaftskultur
I. Interkulturelle Kommunikation und Begegnung mit dem Fremden
Gastlichkeit und Ungastlichkeit in interkultureller Perspektive
Höflichkeit in der interkulturellen Kommunikation
Deutsch-französische Fremderfahrungen und interkulturelle Selbstreflexion in und mit Medien
„Ich verstand weder Pilot, noch Wirthin …“
Expériences d’intégralité interculturelle
Zum Begriff der Selbstentfremdung
Die leiblichen Grundlagen von interkultureller Lebenserfahrung und Fremdsprachenerwerb
(Gesinnungs-)Brücken bauen: Kulturkontakte der besonderen Art
II. Interkulturelle Transferprozesse und vergleichende Kulturgeschichte
Aufklärung vs. Lumières
Autorität und Kritik des französischen Klassiker-Modells
Sturm und Drang: auch ein französisches Phänomen?
Klemperers „Romantik und französische Romantik“
Katholisches oder protestantisches Gebet?
Versuch über eine afrikanische Moderne
Konvivenz und Relationalität im französischen Kolonialreich
III. Selbst- und Fremdwahrnehmungen, Bilder vom Anderen
Körper und Körperinszenierung in Leo Africanus’ Descrittione dell’Africa, einem frühneuzeitlichen Blick auf den afrikanischen Kontinent
Tabuzonen – Kulturkonzepte – „politisch Korrektes“
„Indignez-vous!“ Zur Empörung in den Äußerungen französischer KZ-Überlebender
Die Neue Zeitung, la France, l’idée européenne dans l’immédiat après-guerre
Le Sakharov est-allemand : Robert Havemann à l’aune de la presse française
Sprache als Spiegel des Kulturverständnisses
IV. Kultur als Praxis
Weltbürgerliche Erziehung und interkulturelle Verantwortung bei Hermann Lietz und Kurt Hahn
« La fiction historique et l’apprentissage des valeurs républicaines » : Quatrevingt-treize (Victor Hugo)
Georges Brassens (1921-1981), auteur – compositeur – interprète
Le concept de puissance dans le dialogue franco-allemand
Interpréter à haute voix
Introduction à la pluralité interprétative des récits
Richtig denken lernen: Dominique Joseph Garat und die Vorlesung zur analyse de l’entendement an der École normale de l’an III
V. Identitätskonstruktionen zwischen Engagement und Entgrenzung
„Eine Schande, unter der ein Kulturmensch erbebt.“
„gritos de niños gritos de mujeres gritos de pájaros gritos de flores“
Literatur in Bewegung oder die Schwierigkeiten des Dazwischen
Wenn Ausgeschlossene Ausgeschlossene ausschließen
Philosophische Gefechte in der Weimarer Republik, zu Beginn der Nazi-Ära und im Exil
Erinnerungsort Antifaschismus: Konfigurationen in künstlerischen Texten im Zweiten Jugoslawien
Prof. Dr. phil. habil. Dorothee Röseberg – Akademischer Werdegang
Verzeichnis der Herausgeber
Verzeichnis der Autoren

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Marie-Therese Mäder, Chantal Metzger, Stefanie Neubert, Adjaï Paulin Oloukpona-Yinnon, Louise Schellenberg (Hg.) Brücken bauen – Kulturwissenschaft aus interkultureller und multidisziplinärer Perspektive

Edition Kulturwissenschaft | Band 111

Marie-Therese Mäder, Chantal Metzger, Stefanie Neubert, Adjaï Paulin Oloukpona-Yinnon, Louise Schellenberg (Hg.)

Brücken bauen – Kulturwissenschaft aus interkultureller und multidisziplinärer Perspektive Festschrift für Dorothee Röseberg zum 65. Geburtstag

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutsch-Französischen Hochschule (DFH), der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin e.V., des Institut français d’Allemagne und der Philosophischen Fakultät II der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Jodd von Schaffstein, »MIDORU«; 145 x 175 cm; Asche, Acryl, Staub, Pigmente und Schellack auf Leinwand; Berlin 2015; © Jodd von Schaffstein Satz: Ina Böhme Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3360-3 PDF-ISBN 978-3-8394-3360-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort | 9 Tabula gratulatoria | 12

E INFÜHRUNG Comme un pont de lianes. Hommage à Dorothee Röseberg

Adjaï Paulin Oloukpona-Yinnon | 17 Kultur – Wissenschaft – Kulturwissenschaft – Wissenschaftskultur. Ein Begriffspuzzle

Hubert Laitko | 19

I

INTERKULTURELLE KOMMUNIKATION UND B EGEGNUNG MIT DEM F REMDEN

Gastlichkeit und Ungastlichkeit in interkultureller Perspektive

Hans-Jürgen Lüsebrink | 45 Höflichkeit in der interkulturellen Kommunikation. Gesprächskulturen in Deutschland und Frankreich und ihre differenten Höflichkeitsnormen

Adelheid Schumann | 55 Deutsch-französische Fremderfahrungen und interkulturelle Selbstreflexion in und mit Medien

Christoph Vatter | 67 „Ich verstand weder Pilot, noch Wirthin …“ Bericht von der Produktivität und den Ambivalenzen eines Kulturschocks: Herders Journal meiner Reise im Jahr 1769

Werner Nell | 81 Expériences d’intégralité interculturelle. Mylius, Schubert, Linder et Gelzer dans le Midi de la France (1818-1850)

Françoise Knopper | 97 Zum Begriff der Selbstentfremdung. Historische und kulturpsychologische Aspekte

Uwe Wolfradt | 115 Die leiblichen Grundlagen von interkultureller Lebenserfahrung und Fremdsprachenerwerb

Werner Müller-Pelzer | 123

(Gesinnungs-)Brücken bauen: Kulturkontakte der besonderen Art

Annette Clamor | 145

II INTERKULTURELLE TRANSFERPROZESSE UND VERGLEICHENDE KULTURGESCHICHTE Aufklärung vs. Lumières. Ein deutsch-französisches Projekt

Hans-Otto Dill | 165 Autorität und Kritik des französischen Klassiker-Modells. Zwei Voraussetzungen der ‚deutschen Klassik‘

Daniel Fulda | 183 Sturm und Drang: auch ein französisches Phänomen?

Heinz Thoma | 203 Klemperers „Romantik und französische Romantik“

Horst Heintze | 217 Katholisches oder protestantisches Gebet? François de Sales Introduction à la Vie Dévote in Großbritannien



Sabine Volk-Birke | 227 Versuch über eine afrikanische Moderne

Messan Tossa | 245 Konvivenz und Relationalität im französischen Kolonialreich. Atlantische und pazifische Meerlandschaften im Vergleich

Gesine Müller | 257

III SELBST - UND FREMDWAHRNEHMUNGEN, BILDER VOM ANDEREN Körper und Körperinszenierung in Leo Africanus‘ Descrittione dell’Africa, einem frühneuzeitlichen Blick auf den afrikanischen Kontinent

Mechthild Gilzmer | 273 Tabuzonen – Kulturkonzepte – „politisch Korrektes“. Historische und aktuelle Problemfelder im Umgang des Westens mit Russland

Gabriela Lehmann-Carli | 293

„Indignez-vous!“ Zur Empörung in den Äußerungen französischer KZ-Überlebender

Henning Fauser | 307 Die Neue Zeitung, la France, l’idée européenne dans l’immédiat après-guerre

Dominique Herbet | 321 Le Sakharov est-allemand: Robert Havemann à l’aune de la presse française

Chantal Metzger | 333 Sprache als Spiegel des Kulturverständnisses

Swetlana Mengel | 349

IV KULTUR ALS P RAXIS Weltbürgerliche Erziehung und interkulturelle Verantwortung bei Hermann Lietz und Kurt Hahn

Ralf Koerrenz | 363 „La fiction historique et l’apprentissage des valeurs républicaines“: Quatrevingt-treize (Victor Hugo)

Brigitte Krulic | 377 Georges Brassens (1921-1981), auteur – compositeur – interprète. Bemerkungen zu seinem Standort innerhalb der französischen Chansonkultur

Johannes Klare | 385 Le concept de puissance dans le dialogue franco-allemand

Gilbert Casasus | 405 Interpréter à haute voix

Jean Verrier | 413 Introduction à la pluralité interprétative des récits

Jacques Leenhardt | 419 Richtig denken lernen: Dominique Joseph Garat und die Vorlesung zur analyse de l'entendement an der École normale de l'an III

Marie-Therese Mäder | 427

V IDENTITÄTSKONSTRUKTIONEN ZWISCHEN E NGAGEMENT UND ENTGRENZUNG „Eine Schande, unter der ein Kulturmensch erbebt.“ Der Krieg in Heinrich Manns Publizistik

Wolfgang Klein | 443 „gritos de niños gritos de mujeres gritos de pájaros gritos de flores“. Der Kampf gegen Franco im poetischen Werk Pablo Picassos

Thomas Bremer | 461 Literatur in Bewegung oder die Schwierigkeiten des Dazwischen. Das Beispiel Yvan Golls

Wolfgang Asholt | 475 Wenn Ausgeschlossene Ausgeschlossene ausschließen. Aspekte der Konvivenz ausgehend von Ernst Tugendhats Reflexionen über die Lage der Sinti und Roma

Ottmar Ette | 481 Philosophische Gefechte in der Weimarer Republik, zu Beginn der Nazi-Ära und im Exil. Auseinandersetzungen Siegfried Marcks und Ernst Cassirers mit dem Totalitarismus

Daniel Azuélos | 489 Erinnerungsort Antifaschismus: Konfigurationen in künstlerischen Texten im Zweiten Jugoslawien

Angela Richter | 501

Prof. Dr. phil. habil. Dorothee Röseberg – Akademischer Werdegang | 519 Verzeichnis der Herausgeber | 523 Verzeichnis der Autoren | 525

Vorwort Auf den Spuren einer Grenzgängerin

Brücken bauen, Grenzen überwinden – gibt es ein treffenderes Motto, das nicht nur diese Festschrift charakterisiert, sondern das gesamte Wirken von Dorothee Röseberg? In dieser Perspektive möchten wir, Kollegen 1, Freunde und Schüler, die Jubilarin als Grenzgängerin würdigen, als engagierte Wissenschaftlerin und Persönlichkeit, die mit Mut zum wissenschaftlichen Wagnis traditionelle Grenzen überwunden und Brücken zwischen unterschiedlichen Disziplinen geschlagen hat. Das Themenspektrum der hier versammelten Beiträge spiegelt dieses Anliegen auf wunderbare Weise wider und zeigt zugleich einen Ausschnitt der zentralen Forschungsfelder, denen sich Dorothee Röseberg seit vielen Jahren widmet: Interkulturalität, Theorie und Methoden fremdsprachlicher Kulturwissenschaft sowie Kulturraumstudien zu Frankreich und Deutschland. In diesem Sinne versteht sich die Festschrift nicht allein als akademische Würdigung von Dorothee Rösebergs Schaffen, sondern auch als Beitrag zu einer von ihr stets geforderten kulturwissenschaftlichen Ausrichtung der Romanistik. Kulturwissenschaft, so wie sie von Dorothee Röseberg gedacht und betrieben wird, zielt auf Verständigung und ermöglicht auf diese Weise ganz verschiedene Brückenschläge: den Brückenschlag zwischen Geistes- und Sozialwissenschaften, zwischen histoire culturelle in Frankreich und Kulturwissenschaft in Deutschland, zwischen Literaturbzw. Sprachwissenschaft und Kulturwissenschaft in den Fremdsprachenphilologien. Sie ermöglicht darüber hinaus Verbindungen zwischen dem Eigenen und dem Fremden, zwischen Europa und anderen Kontinenten, zwischen wissenschaftlicher Forschung und gesellschaftlicher Praxis sowie schließlich zwischen Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Prägungen und Sprachen. Die Notwendigkeit dieses Ansatzes hat sich für Europa, auch für den deutschfranzösischen Raum, im Jahr 2015 auf erschütternde Weise bestätigt. Doch während auf internationaler Ebene an die Idee der Wertegemeinschaft appelliert wird, verstärken sich auf nationaler Ebene die Fragen nach der eigenen Identität und dem Umgang mit Fremdheit. Die Anschläge von Paris haben tiefe Risse in der französischen

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Im Interesse einer besseren Lesbarkeit wird in der Festschrift nicht ausdrücklich in geschlechtsspezifischen Personenbezeichnungen differenziert. Die gewählte männliche Form schließt eine adäquate weibliche Form gleichberechtigt ein.

10 | B RÜCKEN BAUEN

Gesellschaft hinterlassen und Zweifel an der Vorstellung von der vielbeschworenen République une et indivisible hervorgerufen. In Deutschland spaltet der eingeschlagene Kurs in der Flüchtlingspolitk und längst ist die schon für beendet erklärte Debatte um die „Leitkultur“ wieder aufgeflammt. Wohl kaum jemand wird also bestreiten, dass es mehr denn je eines konstruktiven Dialogs zwischen den Kulturen und praktischer Lösungsansätze bedarf. Denn während sich auf der einen Seite nationale Bewegungen verstärken, nehmen auf der anderen Seite Prozesse des Austauschs, der Verflechtung und der Bewegung weltweit zu, sowohl auf politisch-ökonomischer als auch auf kultureller Ebene. Die damit einhergehenden Kontaktphänomene sind in der Forschung vielfach aufgegriffen und konzeptuell bearbeitet worden. In der kulturtheoretischen Diskussion reichen sie begrifflich von der Transnationalisierung über die Kreolisierung bis hin zur Hybridisierung. Im Ergebnis richtet sich der Blick dabei stets auf die Erkundung kultureller Zwischenräume und die ihnen eigenen Überlagerungen, seien sie ethnischer, kultureller oder sprachlicher Natur. Vielfach ist in diesem Zusammenhang deshalb auch von der Auflösung kultureller Grenzen und nationaler Identitäten die Rede. Wenn in diesem Vorwort von Dorothee Röseberg als einer Grenzgängerin gesprochen wird, dann nicht, weil sie für die Aufhebung jeglicher Trennlinien plädiert hätte. Im Gegenteil, in ihren Forschungen hat sie immer darauf hingewiesen, dass sich Identitäten und Grenzen ungeachtet der vielfältig stattfindenden Mischungsprozesse nicht einfach auflösen lassen. In dieser Perspektive wird die Grenze von Dorothee Röseberg nicht nur als Trennlinie betrachtet, sondern auch als ein Ort der Begegnung – ein Ort, an dem sowohl Konflikte ausgetragen als auch Identitäten ausgehandelt werden und somit neben Mischungsprozesse auch solche der Abwehr und der Selektion treten. Der Analyse und Vermittlung dieser Prozesse haben sich Dorothee Röseberg und mit ihr die Herausgeber und viele Autoren dieses Bandes verschrieben. Zentrales Anliegen ist das Verstehen der Praktiken, Werte und Normen anderer Kulturräume, um inter- bzw. transkulturelle Verständigung zu ermöglichen. In diesem Sinne vereint die Festschrift nicht nur die oben erwähnten Beiträge zu Frankreich und Deutschland, sondern im weitesten Sinne Kulturraumstudien zu Ost und West, insbesondere zu Transferprozessen und vergleichender Kulturgeschichte (Aufklärung/Lumières, Sturm und Drang, Klassik), zu Erinnerungskulturen, zur Selbst- und Fremdwahrnehmung sowie auch Theorieansätze und Beispiele der Interkulturellen Kommunikation (Höflichkeit, Gastfreundschaft) und der Fremderfahrung, deren Besonderheit im Blick von außen auf die Sprachen und Kulturen liegt. Das Panorama der vertretenen Beiträge verweist darüber hinaus auf Dorothee Rösebergs langjährige und facettenreiche Kooperation mit Wissenschaftlern unterschiedlicher Fächer und auf die hohe Anerkennung, die ihr von diesen entgegengebracht wird. Genannt sei stellvertretend die Zusammenarbeit mit Psychologen zum Thema Fremdheit, mit Historikern und Theologen zum Themenkreis Staat und Religion, mit Wirtschafts- und Politikwissenschaftlern, Historikern und Germanisten bei der Erforschung der Beziehungen und wechselseitigen Wahrnehmungen zwischen Frankreich und der DDR, mit Anglisten und Amerikanisten bei der Herausgabe der Reihe Trennstriche-Bindestriche (Logos Verlag) und, schon sehr früh, mit französischen Literatursoziologen zur vergleichenden Leseforschung. Interdisziplinäres Arbeiten gilt heute zunehmend als selbstverständlich. Dorothee Röseberg gehört gewiss zu jenen, die disziplinenübergreifende Brückenschläge erst zu einer Selbstverständ-

V ORWORT

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lichkeit gemacht haben und diese in besonderer Weise als Grundlage und Voraussetzung ihrer Forschungen verstehen. So war sie beispielsweise als Gastprofessorin an der Université de Nancy maßgeblich an der fachübergreifenden Zusammenarbeit mit dem Bereich Geschichte beteiligt. Das Ergebnis dieser Kooperation ist der Aufbau eines Erasmus-Dozentenaustausches zwischen der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg und der mittlerweile fusionierten Université de Lorraine (Nancy). Dorothee Röseberg hat nicht zuletzt der didaktischen Verwirklichung ihrer fachlichen Anliegen und Prämissen große Aufmerksamkeit und viel Energie gewidmet. Von diesem Brückenschlag zur universitären Praxis, d.h. von der Verankerung der kulturwissenschaftlichen Perspektive in der universitären Lehre, zeugen vor allem die Konzeption und Betreuung des interdisziplinären Studienprogramms IKEAS (Interkulturelle Europa- und Amerikastudien) sowie des binationalen Studiengangs IKEAS-LEA (Langues étrangères appliquées) in Kooperation mit der Universität Paris Ouest Nanterre La Défense. In diesen Studiengängen, die auf die Berufsfelder Kulturmittlung und internationale Zusammenarbeit vorbereiten, spielen die Befähigung zum produktiven Umgang mit Fremderfahrung und die Vermittlung praxisrelevanter Fähigkeiten zur Problemlösung in interkulturellen Situationen eine zentrale Rolle. Eine weitere Brücke zur Hochschulpraxis bildet der interkulturelle Studienführer Studieren in Frankreich und Deutschland. Akademische Lehr- und Lernkulturen im Vergleich 2. Dieser erklärt das implizite Funktions- und Regelwerk der deutschen und französischen Hochschulen und ihre jeweiligen Normen in historischer Perspektive und vermag seinen Adressaten Orientierung und praktische Hilfestellung für einen gelingenden, d.h. produktiven Umgang mit der als fremd und zuweilen undurchschaubar empfundenen anderen Lehr- und Lernkultur zu geben. Er ist, wie so viele Publikationen Dorothee Rösebergs, ein Schlüssel zum Verständnis des Anderen. Dass Dorothee Röseberg im Jahr 2015 mit einer der höchsten Auszeichnungen des französischen Staates geehrt und zum Officier dans l’Ordre des Palmes Académiques ernannt wurde, zeigt die Anerkennung ihrer großen Verdienste um die Erforschung und Vermittlung der französischen Kultur in Deutschland sowie um die Etablierung von deutsch-französischen Forschungs- und Hochschulkooperationen. * Wir danken aufs Herzlichste all jenen, die an der Festschrift mitgewirkt und ihre Herausgabe unterstützt haben: den Autoren, unseren institutionellen Förderern, Herrn Gero Wierichs vom transcript Verlag sowie Frau Ina Böhme für die Erstellung der Druckfassung. Die Herausgeber Halle / Toulouse / Nancy / Lomé im März 2016

2 Mit B. Durand, S. Neubert, V. Viallon 2006, französische Ausgabe 2007.

Tabula gratulatoria

S ARAH A LBRECHT Berlin

B ÉATRICE D URAND Berlin

A LEKSANDRA A MBROZY Halle

J ÜRGEN E RFURT Frankfurt/Main

G ERD A NTOS Halle

J ENNY E TTRICH Halle

N ICOLE B ARY Paris – Berlin

R OBERT F AJEN Halle

F RANÇOISE B ERTRAND Paris

E TIENNE F RANÇOIS Paris – Berlin

K LAUS B OCHMANN Halle

S TEPHAN G EIFES Bonn

J OHANN C HAPOUTOT Paris

P ASCALE G OETSCHEL Paris

E VELYNE C OHEN Lyon

A NDREA G REWE Osnabrück

M ICHEL C ULLIN Wien

M ICHEL G RUNEWALD Metz

C LAUDE D UCHET Paris

A NNETTE K EILHAUER Erlangen

H ENNING K RAUSS Berlin

J ODD VON S CHAFFSTEIN Berlin

E VA L EITZKE -U NGERER Halle

A NNETTE S CHILLER Halle

C HRISTOPHE L OSFELD Halle

L ARISA S CHIPPEL Wien

R ALPH L UDWIG Halle

S USANNE S CHLÜNDER Osnabrück

R EINER M ARCOWITZ Metz

A NNE S TIEBRITZ Jena

H ÉLÈNE M IARD -D ELACROIX Paris

K ERSTIN S TÖRL Berlin

M ATTHIAS M IDDELL Leipzig

J ÉRÔME V AILLANT Köln – Lille

B ERND M ÜLLER -J ACQUIER Bayreuth

P HILIPPE W ELLNITZ Bremen

K ATHARINA N IEMEYER Köln

E DELTRAUD W ERNER Halle

A NNE -M ARIE P AILHES Paris

W ERNER Z ETTELMEIER Paris

C LAUDIA P ERLICK Berlin E RIK R EDLING Halle

CEREG Université Paris Ouest Nanterre La Défense

CRULH Université de Lorraine

H ANS J ÖRG S ANDKÜHLER Bremen

G OETHE -I NSTITUT F RANKREICH

Einführung

Comme un pont de lianes Hommage à Dorothee Röseberg A DJAΪ P AULIN O LOUKPONA -Y INNON

Au commencement était … le hasard qui tisse des liens à l’africaine : quelqu’un connaît quelqu’un, qui connaît quelqu’un, qui connaît quelqu’un etc. … En l’occurrence, ce hasard avait un nom : Catherine Robert, de l’Université Paris-Sorbonne (Paris IV) qui m’avait mis en contact avec Anne-Marie Pailhès, de l’Université Paris Ouest Nanterre La Défense, qui travaillait depuis de longues années avec Dorothee Röseberg, de l’Université de Halle-Wittenberg, dans un programme franco-allemand d’échanges universitaires. C’est bien connu que le hasard n’existe pas, il avait pourtant opéré un petit miracle qui avait valu à la Faculté des Lettres de l’Université de Lomé, le don d’un important lot d’ouvrages de la Bibliothèque Universitaire de Paris X-Nanterre, grâce à Anne-Marie qui me mit en contact avec Dorothee, parce que je nourrissais l’espoir d’arrimer le Département d’Allemand de l’Université de Lomé au programme franco-allemand de Nanterre et de Halle, pour en faire un instrument de coopération triangulaire. Dès ma première rencontre avec Dorothee Röseberg, le projet de coopération triangulaire trouva rapidement son adhésion entière. Dans nos discussions, l’accent fut mis sur la mobilité, non seulement des enseignants-chercheurs, mais aussi et surtout des étudiants de nos trois institutions. Le mérite de Dorothee, c’est d’avoir pris ce projet à bras-le-corps, de l’avoir repensé dans un cadre élargi, incluant toutes les disciplines que pouvaient offrir l’Université de Halle-Wittenberg et celle de Lomé, et d’avoir ensuite investi son temps et son énergie pour le voir aboutir. Elle a pris l’initiative, avec l’accord et le soutien des autorités de son Université, de se rendre personnellement à Lomé pour un voyage exploratoire au cours duquel elle a rencontré presque toutes les composantes de la communauté universitaire : les plus hautes autorités académiques, les enseignants-chercheurs éventuellement intéressés et les étudiants. Après les visites de courtoisie et de travail, elle a présenté dans le Grand Auditorium de l’Université de Lomé, devant un parterre d’autorités administratives, d’enseignants-chercheurs et d’étudiants de toutes disciplines, les atouts de l’Université Martin-Luther de Halle-Wittenberg, ne se limitant pas aux Sciences Humaines et Sociales, mais en insistant aussi sur les domaines de pointe comme la nanotechnologie, la médecine et bien d’autres, dans lesquels l’enseignement et la recherche dans son université offrent beaucoup de possibilités, et surtout beaucoup d’innovations. Sa présentation a assurément séduit l’auditoire. Les discussions qui ont suivi cette pres-

18 | A DJAÏ P AULIN O LOUKPONA -YINNON

tation ont ouvert beaucoup de portes, y compris dans les cœurs des Togolais qui considéraient encore la non-maîtrise de la langue allemande comme un handicap pour des études et des recherches dans les universités allemandes. Ce préjugé a été balayé par la conférencière. Le lendemain, Dorothee a rencontré, en marge d’un de mes cours de littérature allemande, plus de 200 étudiants, ceux et celles pour qui le projet avait été conçu comme un instrument de la mise en application de la mobilité. Elle a parlé, mais elle a surtout écouté : des questions, des avis, des observations, des suggestions. Je pense pouvoir dire que ce fut une rencontre historique, parce que beaucoup de nos étudiants ne savaient pas grand-chose de l’Université de Halle et de l’ancienne RDA. Le résultat de cette démarche offensive fut l’élaboration de l’accord-cadre de coopération signé entre l’Université de Lomé et celle de HalleWittenberg, et dont le premier avenant est déjà ratifié et mis en application. Bien des écueils ont failli faire échouer la signature de cet accord : la tradition universitaire allemande de coopération décentralisée ne cadre pas facilement avec la tradition française et francophone, centralisée. Mais la détermination de Dorothee a permis de franchir aussi cet obstacle. Désormais, les échanges académiques sont effectifs dans les deux sens, même s’ils sont pour le moment un peu déséquilibrés ; il y a déjà eu une soutenance de Thèse en jury mixte ; une Thèse en cotutelle est en voie de finition ; des étudiants en master à Lomé vont désormais fréquemment à Halle pour des séjours de documentation. Un projet de colloque conjoint est en cours d’élaboration. Une « Journée du Togo » a été instaurée à l’Université de Halle, avec une participation encourageante, croissante d’année en année. Le bilan global est donc plus que prometteur. Et pour l’essentiel, il est à mettre à l’actif de l’engagement personnel de Dorothee Röseberg qui a jeté le pont de la coopération entre Halle et Lomé. S’il m’était permis d’utiliser une image africaine, loin de toute connotation, je dirais que c’est un pont de lianes qui a besoin d’un entretien permanent. Beaucoup de gens n’osent pas encore l’emprunter parce qu’ils sont habitués à des ponts de pierre et de fer, sur lesquels ceux qui passent tous les jours ne se soucient guère de ceux qui les ont construits. On se rend compte du rôle de ces derniers uniquement le jour où on ne peut plus passer sur le pont. Le pont de lianes de Dorothee est encore fragile, certes, mais tous ceux qui l’ont déjà emprunté travaillent à l’entretenir ensemble. D’ailleurs, il n’a pas encore atteint sa dimension triangulaire initialement envisagée. Il reste donc la prochaine étape du combat, qui doit être menée ensemble avec elle, et avec Anne-Marie Pailhès, la troisième dimension de l’ouvrage, afin que la boucle soit enfin bouclée. En Afrique, un pont de lianes est toujours construit par des initiés, selon un savoir-faire ancestral secret. Certains pensent même qu’ils sont construits par des génies invisibles. Patrimoine culturel spécifique des populations forestières enclavées, le pont de lianes joue un rôle essentiel dans les relations sociales et intercommunautaires : de sa conservation dépend parfois la survie de toute une communauté, et parfois même, de plusieurs communautés. C’est alors que l’on réalise qu’un pont de lianes est un ouvrage précieux qu’il faut toujours maintenir et entretenir. Espérons que ce sera le cas pour le pont de lianes de Dorothee Röseberg.

Kultur – Wissenschaft – Kulturwissenschaft – Wissenschaftskultur Ein Begriffspuzzle H UBERT L AITKO

1

K ULTUR UND W ISSENSCHAFT . D IE U NENTBEHRLICHKEIT UNSCHARFER B EGRIFFE

Wissenschaft ist seit jeher eine selbstreflexive, hochgradig kontrollierte Aktivität. Im Vokabular ihrer Selbstreflexion ist in den letzten Jahren der Terminus ‚Kultur‘ mit seinen Derivaten sichtlich auf dem Vormarsch. Da ist von Fachkultur, Forschungskultur, Lehrkultur, Widerspruchskultur, Streitkultur, Innovationskultur und vielem anderen sonst die Rede. Natürlich ist es kein Novum, ‚Wissenschaft‘ und ‚Kultur‘ zueinander in Beziehung zu setzen, doch was früher ein Rinnsal war, das ist heute eine Flut. Wir schwimmen förmlich auf einer Woge von Kultur. Meist werden diese Prägungen ohne eine explizite Erörterung darüber gebraucht, was man darunter zu verstehen habe. Man scheut sich, danach zu fragen, denn kaum etwas ist in intellektuellen Diskursen peinlicher, als seine Unwissenheit über eine Sache zu bekennen, die allen anderen anscheinend vollkommen geläufig ist. Seit einiger Zeit erscheinen Publikationen, in denen Wissenschaft programmatisch als eine ‚kulturelle Praxis‘ bezeichnet wird (vgl. Bödeker/Reill/Schlumbohm 1999, Epple/Zittel 2010). Auch von ‚Wissenschaftskulturen‘ (oder ‚Wissenskulturen‘) ist die Rede. Was bedeutet dieser Trend? Wer von ‚Kultur‘ redet, bewegt sich auf schwankendem Grund. Jörg Fisch konstatierte schon für das frühe 20. Jahrhundert „die Schwierigkeiten der Lexikographen, den mittlerweile zum Allerweltswort gewordenen Ausdruck anders als in einer dürren Definition zum Ausdruck zu bringen“ (Fisch 1992: 734). Mit größter Selbstverständlichkeit wird ‚Kultur‘ mit allem Möglichen konnotiert; ‚Willkommenskultur‘ als Bezeichnung für das wünschenswerte Verhalten gegenüber Migranten ist das vielleicht jüngste Zeugnis dieser terminologischen Opulenz. Will man etwa der Beschäftigung mit interkulturellen Fragestellungen einen tragfähigen Kulturbegriff zugrunde legen, so ist man nach Alexander Thomas damit konfrontiert, „daß es Hunderte unterschiedlicher Definitionen von Kultur gibt“ (Thomas 2008: 366) – unter Hinweis auf Alfred Louis Kroeber und Clyde Kluckhohn, die 1951 eine solche Überfülle festgestellt und versucht hatten, sie zu ordnen (vgl. Kroeber/Kluckhohn 1963). Mit dem Wort ‚Wissenschaft‘ verhält es sich

20 | H UBERT L AITKO

nicht wesentlich anders. Bemühungen, die im Gebrauch befindlichen Bedeutungen dieses Wortes aufzuspüren und zu systematisieren, bringen regelmäßig Hunderte von Varianten zutage, die sich nicht ohne Rest aufeinander zurückführen lassen. Dennoch können wir auf diese Begriffe nicht verzichten. Der kognitive Haupttrend der Wissenschaft zielt auf immer größere Präzision und Exaktheit des verwendeten Begriffsapparates. Das würde zum Verlust von Ganzheitlichkeit und Flexibilität des Erkennens führen, würde dieser Trend nicht durch schwach bestimmte Begriffe von hoher Allgemeinheit kompensiert. Sie sind nicht von vornherein näher festgelegt, doch sie werden es kontextual – und da sie in viele Kontexte eintreten können, nehmen sie unterschiedliche Bedeutungen an, die bisweilen kombinierbar, bisweilen aber auch inkompatibel sind. An Versuchen, jeweils einen dieser Kontexte und die darin festgelegte Begriffsbedeutung zur einzig richtigen zu erklären und normativ als verbindlich zu setzen, hat es auch für ‚Kultur‘ und ‚Wissenschaft‘ zu keiner Zeit gefehlt. Sie sind die naheliegende Konsequenz des in der Wissenschaft verbreiteten und zu überzeitlich gültigen ‚Kriterien der Wissenschaftlichkeit‘ hypostasierten Kultes der Präzision und Eindeutigkeit. Aber wenn solche Versuche, etwa infolge der Autorität und der innerwissenschaftlichen Macht ihrer Vertreter, zeitweilig Erfolg haben, dann werden andere Worte, oft aus der Umgangssprache, mobilisiert, um die unentbehrliche Funktion der schwach bestimmten Begriffe als Bindemittel der Kognition und Kommunikation zu übernehmen. Ein besonders interessanter Fall der Herstellung näher bestimmter Bedeutungen ist die gegenseitige Kontextualisierung schwach bestimmter Begriffsformationen. So verhält es sich, wenn die Begriffe ‚Kultur‘ und ‚Wissenschaft‘ zueinander in Beziehungen gesetzt werden. Auf diese Situation passt eine berühmte Anekdote, die Werner Heisenberg berichtet. Bei einem gemeinsamen Skiurlaub übernahm sein Lehrer Niels Bohr, das Haupt der Kopenhagener Schule der Quantentheorie, nach dem Essen in der Almhütte den Abwasch und sagte: „Mit dem Geschirrwaschen ist es doch genau wie mit der Sprache. Wir haben schmutziges Spülwasser und schmutzige Küchentücher, und doch gelingt es, damit die Teller und Gläser schließlich sauber zu machen. So haben wir in der Sprache unklare Begriffe und eine in ihrem Anwendungsbereich in unbekannter Weise eingeschränkte Logik, und doch gelingt es, damit Klarheit in unser Verständnis der Natur zu bringen.“ (Heisenberg 61986: 75)

Bohr besaß die seltene Gabe, schwierigste Sachverhalte in einfachen Bildern so auseinanderzusetzen, dass das Wesentliche getroffen wurde und im Gedächtnis blieb. Aus dem schwach konturierten Bedeutungsfeld von ‚Kultur‘ werden durch die Verknüpfung mit ‚Wissenschaft‘ verschiedene Nuancen fixiert und konkretisiert. Umgekehrt bereichern solche Verknüpfungen das Repertoire der Mittel, mit denen Wissenschaft sich selbst reflektiert. Das Bedürfnis nach einer solchen Repertoireerweiterung habe ich in meiner eigenen Laufbahn kennengelernt. Das Berliner Akademieinstitut für Theorie, Geschichte und Organisation der Wissenschaft (ITW) hatte in seiner Startphase 1969/70 optimistisch angenommen, auf eine einheitliche Theorie der Wissenschaft und ihrer Entwicklung zusteuern zu können. Zunehmende Forschungserfahrung führte jedoch stattdessen zu einer Pluralisierung der theoretischen Perspektiven. Zwei Jahrzehnte später zog der Institutsdirektor Günter Kröber daraus den Schluss, dass zumindest mittelfristig eine einheitliche Theorie nicht zu erreichen

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sei, obwohl er die Orientierung auf eine solche als Fernziel noch nicht ganz aufgeben wollte. Zur Beschreibung des Status quo zog er den von Bohr übernommenen Begriff der Komplementarität heran und meinte, dass das Maximum des derzeit Erreichbaren ein Bündel komplementärer Ansätze sei: „Das komplexe gesellschaftliche Phänomen Wissenschaft wird gleichsam unter verschiedenen Winkeln von Projektoren durchleuchtet, die unterschiedliche Standorte haben und auch unterschiedliche Strahlungsintensitäten. Jede Projektion liefert andere Einsichten; deren Kombination ist wünschenswert und notwendig, bleibt aber so lange partiell, wie das ganze Phänomen nicht voll ausgeleuchtet ist.“ (Kröber 1988: 18-19)

Zu diesen Projektionen gehörte auch die Reflexion der Wissenschaft unter Rekurs auf den Kulturbegriff (vgl. Becher 1984: 165-198, Bargel 1988). Am ITW war diese Richtung noch nicht vertreten, aber ihr Fehlen wurde durchaus als Mangel empfunden. An einem anderen Akademieinstitut, dem Zentralinstitut für Philosophie, entwickelte Herbert Hörz ungefähr gleichzeitig einen alternativen Theorieansatz, für den der Kulturbegriff explizit herangezogen wurde. Anknüpfend an das von Karl Marx herrührende und von Gerhard Kosel 1957 wieder in die Diskussion gebrachte Konzept der Wissenschaft als Produktivkraft (vgl. Kosel 1957), beschrieb Hörz den gesellschaftlichen Ort der Wissenschaft als eine funktionelle Trias: Kulturkraft, Produktivkraft, Human- und Sozialkraft. Die Funktion als Kulturkraft war den beiden anderen Grundfunktionen der Wissenschaft ausdrücklich vorgeordnet (Hörz 1988: 63-80). Die 1990/91 erfolgende Abwicklung der Ostberliner Akademieinstitute beraubte diese wissenschaftstheoretischen Konzepte ihrer institutionellen Basis und verhinderte ihren weiteren Ausbau und, vor allem, den empirischen Test auf ihr heuristisches Potenzial. In den 1990er Jahren vermehrten sich die Perspektiven der Wissenschaftsbetrachtung im internationalen Maßstab inflationär – die konzeptionellen Neuerungen tauchten so schnell und so massiv auf, dass sie als ‚Wenden‘ („turns“) empfunden wurden: „Zuerst gab es nur einen linguistic turn, dann aber begannen sich nach- und nebeneinander Begriffe wie practical, experimental, discursive, relativistic, representational, body, pictorial und cultural turn einzubürgern.“ (Hagner 2001: 7) [Herv.i.O.] Die Liste der „turns“ lässt sich noch erweitern; so wurden ein „communicative turn“, ein „performative turn“ und weitere diagnostiziert. Freilich ist nicht völlig auszuschließen, dass die Präsentation immer neuer, griffiger Termini nicht nur echte methodologische Neuerungen ausdrückt, sondern auch das für die Wissenschaft und ihre Finanzierung lebenswichtige Motiv, Aufmerksamkeit zu wecken (vgl. Franck 2007, Bernardy 2014). Um die Jahrtausendwende erschienen auch Arbeiten, die den Terminus „cultural turn“ im Titel tragen (vgl. Musner 2001, Sedmak 2011, Turk 2003); das Verhältnis dieser ‚Wende‘ zu den anderen „turns“ ist allerdings einstweilen kaum zu beurteilen (Laitko 2008: 267-294).

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2 K ULTUR , N ATUR , W ISSENSCHAFT . F RÜHE B EZÜGE Fisch stellt die Frage, warum der moderne, umfassende Kulturbegriff, „dessen eigentlicher Gegenstand ein zeitloses Phänomen ist“ (Fisch 1992: 680), erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstand. Die Inkongruenz von ‚Begriffsgeschichte‘ und ‚Realgeschichte‘ tritt schon darin in Erscheinung, dass sich im geistigen Erbe der griechischen Antike keine unmittelbare Entsprechung zum Kulturbegriff findet. Niemand werde deshalb „behaupten, die Griechen hätten keine Kultur gehabt. Aber die Griechen haben das Phänomen offenbar nicht in gleicher Weise betrachtet wie die Modernen“ (ebd. 682). Für die Auffassung des Kulturbegriffs ist entscheidend, welche Bedeutung man seiner sprachgeschichtlichen Herkunft aus dem lateinischen „colere“ als Bezeichnung für den Umgang des Menschen mit der äußeren Natur zum Zweck der Sicherung seines elementaren Lebensunterhalts beimisst. Dieser Bezug auf die Natur ist in vielen modernen Verwendungsweisen des Kulturbegriffs vollkommen verschwunden. Im Begriff der Interkulturalität etwa, der in jüngster Zeit enorm an Boden gewonnen hat (vgl. Röseberg/Thoma 2008, Elm 2010, Moosmüller/Möller 2014, Jammal 2014), ist zwar eine Relation codiert, aber nicht mehr die zwischen Mensch und Natur, sondern eine zwischen zwei oder mehreren Bereichen menschlicher Aktivität und deren Ergebnissen. Ist der Ursprung des Kulturbegriffs im Bedeutungsfeld von „colere“ ein bloß etymologischer, oder ist er das genetische Fundament, von dem alle weiter in Betracht gezogenen Inhalte abhängen? Die Existenz der menschlichen Gesellschaft und damit die Möglichkeit aller ihrer Lebensäußerungen – auch und gerade der sublimsten, am weitesten von ihrer stofflichen Basis entfernten – beruht darauf, dass ihr ‚Stoffwechsel‘ mit der Natur ununterbrochen, in jeder Sekunde aufrechterhalten wird, und ‚Kultur‘ bezeichnet in erster Näherung das integrale Vermögen der Gesellschaft, diesen ‚Stoffwechsel‘ erstens grundsätzlich und zweitens auf einem historisch bestimmten und damit wandelbaren Niveau zu realisieren. Das Nachdenken über die globalökologische Krise der gegenwärtigen Gesellschaft und die Probleme ihres Einschwenkens auf einen nachhaltigen Entwicklungspfad hat zu einer Rückbesinnung auf die elementare Bestimmung des Kulturbegriffs durch das Verhältnis von Mensch und Natur geführt. Das zeigt sich deutlich in dem neuerdings von einer Reihe prominenter Naturwissenschaftler vorgetragenen Anthropozän-Konzept (vgl. Ehlers 2008, Kersten 2014). Danach ist das Holozän – in der Periodisierung der Erdzeitalter die seit etwa 11.700 Jahren gerechnete jüngste Stufe des Quartär – bereits in eine neue Stufe, das Anthropozän, übergegangen, in dem der Mensch zum dominierenden geologischen Faktor geworden ist; als Richtwert für diesen Übergang wird vielfach die Zeit um 1800 angenommen. Der Geobiologe Reinhold Leinfelder sagte dazu in einem Interview: „Noch denken wir in Gegensätzen. […] Doch dieser Dualismus ist überholt. Natur und Kultur sind Teile eines Gesamtsystems geworden. Das eine lässt sich nicht ohne das andre begreifen.“ 1 Die Fähigkeit der Gesellschaft, sich gegenüber der Natur zu behaupten und mit ihr umzugehen, besteht zu jeder Zeit aus einem Arsenal unterschiedlicher Kompetenzen. Wenn man diese Kompetenzen auflistet, gelangt man zu einer schlichten, aber 1

Wir Weltgärtner. Gespräch mit dem Geobiologen Reinhold Leinfelder. In: DIE ZEIT Nr. 3, 10.1.2013, S. 32.

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nichtsdestoweniger legitimen inventarisierenden Kulturauffassung. Danach gehört Wissenschaft selbstverständlich zur Gesamtheit der Kultur, neben Politik, Recht, Kunst, Religion, Technik usw. Hier findet die einfachste, am wenigsten problematische und deshalb auch schon recht früh ausgeprägte Begegnung der Begriffe ‚Wissenschaft‘ und ‚Kultur‘ statt. Ein bemerkenswertes Dokument dieser Betrachtungsweise war das von Paul Hinneberg begründete und geleitete vielbändige Projekt Die Kultur der Gegenwart, das von 1905 bis 1926 erschien (vgl. Stöltzner 2008: 11-28, Ziche 2008: 44-57). Die vier Hauptabschnitte des einführenden Bandes hießen „Das Wesen der Kultur“, „Das moderne Bildungswesen“, „Die wichtigsten Bildungsmittel“ und „Die Organisation der Wissenschaft“ (vgl. Hinneberg 1912). Das Gesamtwerk neigte dazu, die Wissenschaft hervorzuheben, war also seiner Tendenz nach szientistisch angelegt. Deutlicher über ein lediglich inventarisierendes Vorgehen hinaus gingen Bestrebungen, jeweils einen Sektor der so aufgefassten Kultur in seinen Wechselbeziehungen mit anderen zu betrachten. Die Verflechtung der Wissenschaft mit anderen Sphären des menschlichen Lebens wurde vor allem – und dabei oft eher episodisch als systematisch – unter dem Stichwort ‚Kulturgeschichte‘ behandelt. Dieser Terminus entstammt schon dem späten 18. Jahrhundert (vgl. Adelung 1782). Bis heute erscheinen alljährlich zahlreiche Bücher, die ihn im Titel tragen. Kulturgeschichten können über nahezu beliebige Gegenstände verfasst werden, von der Aktie bis zur Sonnenbrille (vgl. Athanassakis 2008, Hartewig 2009), und diese ungebändigte Vielfalt ruft wiederum Versuche der analytischen Durchdringung und Systematisierung auf den Plan (vgl. Eichhorn 2002). Im weiten Feld der Gegenstände, die einer kulturgeschichtlichen Behandlung unterworfen werden, befinden sich auch zahlreiche Kulturgeschichten der Wissenschaft bzw. bestimmter ihrer Gebiete oder Aspekte. 2

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Zum Exempel seien hier einige Titel aus den letzten Jahren genannt: Birgit Giesecke, Markus Krause, Nicolas Pethes & Katja Sabisch (Hg.) (2009): Kulturgeschichte des Menschenversuchs im 20. Jahrhundert, Frankfurt/Main: Suhrkamp; Ulrich Grober (2010): Die Entdeckung der Nachhaltigkeit: Kulturgeschichte eines Begriffs, München: Verlag Antje Kunstmann; Dieter B. Herrmann (2009): Der Zyklop: die Kulturgeschichte des Fernrohrs, Braunschweig: Westermann; Martina Heßler (2012): Kulturgeschichte der Technik (Historische Einführungen), Frankfurt/Main u.a.: Campus; Elisabeth List (2007): Vom Darstellen zum Herstellen: eine Kulturgeschichte der Naturwissenschaften, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft; Knut Radbruch (2010): Literatur als Impuls für eine Kulturgeschichte der Mathematik, Paderborn: Universität; Frank Rexroth (2010): Beiträge zur Kulturgeschichte der Gelehrten im späten Mittelalte, Ostfildern: Thorbecke; Myriam Spörri (2013): Reines und gemischtes Blut: zur Kulturgeschichte der Blutgruppenforschung, 1900-1930, Bielefeld: transcript; Hans Wußing (2008): 6000 Jahre Mathematik. Eine kulturgeschichtliche Zeitreise. Bd. 1: Von den Anfängen bis Leibniz und Newton, Berlin/Heidelberg: Springer; Bd. 2 (mit Heinz-Wilhelm Alten) (2009): Von Euler bis zur Gegenwart, Berlin/Heidelberg: Springer.

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3 K ULTURWISSENSCHAFT –

DAS NEUKANTIANISCHE

E RBE

Seit den 1980er Jahren ist der Terminus ‚Kulturwissenschaft(en)‘ – im Singular wie im Plural – sichtlich im Aufwind. Gebiete, die im deutschen akademischen Sprachgebrauch noch vor Kurzem ‚Geisteswissenschaften‘ oder auch ‚Sozialwissenschaften‘ hießen, werden zunehmend als ‚Kulturwissenschaften‘ angesprochen. 1999 konstatierte Klaus Lichtblau: „Keine überkommene Disziplinenbezeichnung hat in den letzten Jahren die wissenschaftsinternen Debatten über die gegenwärtige Orientierungskrise der traditionellen Geisteswissenschaften und die Phantasie der bundesdeutschen Wissenschaftspolitiker so stark angeregt wie der Begriff der Kulturwissenschaften.“ (Lichtblau 1999: 223)

Während Henning Ritter 1997 noch den Eindruck hatte, dass zwischen den beiden konkurrierenden Fächerbezeichnungen ‚Geisteswissenschaften‘ und ‚Kulturwissenschaften‘ eine Pattsituation bestehe (Ritter 1997: N5), scheint die letztere inzwischen die Oberhand gewonnen zu haben. Um 1900 war schon einmal der Versuch unternommen worden, die Bezeichnung ‚Kulturwissenschaften‘ umfassend durchzusetzen (vgl. Hübinger/vom Bruch/Graf 1989). Das 19. Jahrhundert war eine Zeit intensiver disziplinärer Ausdifferenzierung des Wissenschaftssystems (vgl. Stichweh 1984). Für die zunehmende Vielfalt der Gebiete wurden mannigfache Ordnungssysteme (‚Klassifikationen der Wissenschaften‘) entworfen, deren Struktur das wirkliche Verhältnis zwischen den Fächern möglichst getreu abbilden sollte (vgl. Kedrov 1975). Meist wurden sie aus naturwissenschaftlicher Sicht konzipiert und unterstellten, dass alle Wissenschaften ähnlich wie die Physik auf die Erkenntnis des Allgemeinen in ihren jeweiligen Gegenständen und auf dessen Formulierung in Gestalt von Gesetzen gerichtet sein müssten. Demgegenüber machten die aufstrebenden Wissenschaften von der Geschichte und von den unterschiedlichen Facetten der geschichtlichen Welt die epistemische und methodologische Eigenständigkeit ihrer Gebiete selbstbewusst geltend – als Disziplinen, für die die Erkenntnis des Besonderen und Einzelnen nicht nur Mittel und Vorstufe zur Formulierung allgemeiner Gesetze, sondern ein legitimes Ziel sui generis war. Zunächst etablierte sich der Terminus ‚Geisteswissenschaft‘ – seit dem späten 18. Jahrhundert tauchte er sporadisch auf, aber wissenschaftstheoretische Statur gewann er erst mit Wilhelm Diltheys Werk Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883) (vgl. Makkreel 1991). Dabei ist ‚Geist‘ ein noch vagerer und noch schwerer zu fassender Begriff als ‚Natur‘ oder ‚Kultur‘. In Bezug auf den ‚Geist‘, so unbestimmt dieser selbst auch immer sein mochte, führte Dilthey eine klar bestimmte Zweiteilung der Wissenschaften ein – jene von der Natur, die auf der ‚äußeren‘ Erfahrung beruhen, und jene vom Geist und dessen Manifestationen, die von der durch die hermeneutische Methode disziplinierten ‚inneren‘ Erfahrung ausgehen. Das Zentrum des geisteswissenschaftlichen Erkennens bildet demnach das ‚Verstehen‘ – nach Diltheys berühmtem Diktum, der Geist verstehe nur das, was er selbst gemacht habe. So begründete er einen gegenüber den Naturwissenschaften eigenständigen Wissenschaftstypus, für den er die Bezeichnung ‚Geisteswissenschaften‘ vorsah. Eine Achillesferse bildete dabei freilich das Problem des ‚Fremdpsychischen‘ (vgl. Lessing 1984). Es erscheint zwar evident, dass ein bestimmtes Individuum das, was es selbst absichts-

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voll hervorgebracht hat, auch versteht. Auf welcher Grundlage aber versteht es das, was der Geist anderer Individuen ‚gemacht‘ hat? Dilthey hatte diese Probleme jedoch schon in gewissem Maße entschärft, indem er das erkennende Subjekt nicht als abstraktes Geistwesen ansah, sondern lebensphilosophisch als den ganzen Menschen in der Totalität seiner psychischen und physischen Vermögen konzipierte. Er sah den Menschen in vielschichtige makrohistorische Zusammenhänge eingebettet, doch in letzter Instanz blieb für ihn das individuelle Bewusstsein das Zentrum jeglichen Verstehens, und so war es folgerichtig, dass in seiner Sicht die Psychologie als Wissenschaft von der Psyche des Individuums die Basis des Systems der Geisteswissenschaften bilden musste. Das konnte nach seinem Gesamtkonzept nur eine ‚verstehende‘ Psychologie sein, doch gerade zu dieser Zeit zeigte der stürmische Aufschwung der experimentellen Psychologie unübersehbar, dass die menschliche Psyche naturwissenschaftlichen Untersuchungsmethoden durchaus zugänglich war. Sollte es nun über ein und denselben Objektbereich zwei miteinander nicht kompatible Wissenschaften geben? An diesem Punkt setzte die neukantianische Kritik an. 1894 erklärte Wilhelm Windelband in seiner Straßburger Rektoratsrede, „dass zwischen Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft eine empirische Disciplin von solcher Bedeutsamkeit wie die Psychologie nicht unterzubringen ist: ihrem Gegenstand nach ist sie nur als Geisteswissenschaft und in gewissem Sinne als die Grundlage aller übrigen zu charakterisiren; ihr ganzes Verfahren aber, ihr methodisches Gebahren ist vom Anfang bis zum Ende dasjenige der Naturwissenschaften“ (Windelband 1894: 9-10).

Damit erschien die Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften ungeeignet, um eine konsistente Einteilung der Disziplinen zu begründen. Eindeutigkeit könne jedoch erzielt werden, wenn man die (unmittelbaren) Erkenntnisziele und die diesen gemäßen Verfahren als Unterscheidungskriterium wählte: „Das Einteilungsprincip ist der formale Charakter ihrer Erkenntnisziele. Die einen suchen allgemeine Gesetze, die anderen besondere geschichtliche Tatsachen […].“ (Ebd. 11) Ersteres tun die Naturwissenschaften: „Demgegenüber ist die Mehrzahl derjenigen empirischen Disziplinen, die man wohl sonst als Geisteswissenschaften bezeichnet, entschieden darauf gerichtet, ein einzelnes, mehr oder minder ausgedehntes Geschehen von einmaliger, in der Zeit begrenzter Wirklichkeit zu voller und erschöpfender Darstellung zu bringen.“ (Ebd. 10-11)

Schließlich schlug Windelband für die so begründete Einteilung der empirischen Disziplinen neuartige Termini vor: „Das wissenschaftliche Denken ist – wenn man neue Kunstausdrücke bilden darf – in dem einen Falle nomothetisch, in dem anderen idiographisch.“ (Ebd. 12) [Herv.i.O.] In seinem Schema kam der Ausdruck ‚Kulturwissenschaften‘ nicht vor; jene Disziplinen, die er disjunkt von den Naturwissenschaften unterschied, subsumierte er unter ‚Geschichte‘. Vier Jahre später führte ihn Heinrich Rickert programmatisch ein – in seinem Freiburger Vortrag Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, in dem er Windelbands Überlegungen aufgriff und präzisierte. Dabei war die Wahl der Bezeichnung ‚Kulturwissenschaften‘ wohl eher eine Opportunitätsentscheidung – weil

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Rickert nach einem Substitut für das von ihm abgelehnte Wort ‚Geisteswissenschaften‘ suchte – als eine wohlüberlegte Weiterbildung des überkommenen Kulturbegriffs. Der Vortrag eröffnete 1898 die Arbeit der in Freiburg gerade gegründeten Kulturwissenschaftlichen Gesellschaft; die Einigung auf diesen Namen, so bemerkte Rickert, sei nur deshalb erfolgt, „weil Niemand ein besseres vorzuschlagen wusste“ (Rickert 1899: 5). Nachdem dieser Terminus aber gewählt war, wurde er mit einer allgemeineren Reflexion auf den Kulturbegriff näher begründet. Der bloße Hinweis auf die idiografische Methode genügte Rickert nicht, um damit die Existenz eines besonderen Wissenschaftstyps zu rechtfertigen. Wissenschaftliches Erkennen sei auf Wesentliches gerichtet, auch für die Kulturwissenschaft zerfalle die Wirklichkeit in Wesentliches und Unwesentliches. Während für die Naturwissenschaften das Wesentliche mit dem Allgemeinen übereinstimme, würden die Kulturwissenschaften das für sie Wesentliche verfehlen, wenn sie es im Allgemeinen suchten. Der als Wertbegriff verstandene Begriff der Kultur bot hier für Rickert einen probaten Ausweg, denn in allen Kulturvorgängen sei „irgend ein vom Menschen anerkannter Werth verkörpert […]“ (ebd. 20). Welche Einzelheiten jeweils wesentlich sind, ergibt sich aus ihrem Bezug auf allgemeingültige Kulturwerte: „In dieser Hinsicht bleibt es denn doch richtig, dass es von dem Besonderen als solchem eigentlich keine Wissenschaft giebt, insofern nämlich, als das Besondere zugleich von allgemeiner Bedeutung sein muss […].“ (Ebd. 51) Die Exemplare des von ihm definierten Wissenschaftstyps nannte er ausdrücklich „historische Kulturwissenschaften“ – als Kulturwissenschaften beschränkten sie sich auf die „allgemein gewertheten Objekte“, und als historische Wissenschaften stellten sie „deren einmalige Entwicklung in ihrer Besonderheit und Individualität dar“ (ebd. 53). Beide Grundthesen – die Behauptung vom prinzipiell idiografischen Charakter des kulturwissenschaftlichen Erkennens und das Postulat allgemeiner und abstrakter Kulturwerte – bargen genügend philosophischen Sprengstoff, an dessen Entschärfung sich eine Plejade nachfolgender Konzeptionen abarbeitete, beginnend mit Max Webers Gedanken der Idealtypen und der ‚verstehenden‘ Soziologie (vgl. Wagner/Zipprian 1994). Die Schwierigkeiten, die damit verbunden waren, führten zu einer weiteren Aufgliederung der postulierten Wissenschaftstypen. Für Rickert waren die historischen Kulturwissenschaften eben jene Gebiete, die Dilthey Geisteswissenschaften genannt hatte; eine Unterscheidung von Kultur- und Sozialwissenschaften machte er nicht. Bald aber veranlasste die Unverzichtbarkeit gesetzesartiger Allgemeinaussagen auch in der Gesellschaftserkenntnis dazu, neben den Geisteswissenschaften die von diesen unterschiedene Gruppe der Sozialwissenschaften zu postulieren. In der alten Bundesrepublik war die Doppelbezeichnung ‚Geistes- und Sozialwissenschaften‘ ebenso selbstverständlich wie in der DDR das Einheitsetikett ‚Gesellschaftswissenschaften‘.

4 K ULTURWISSENSCHAFTEN –

DIE ZWEITE

W ELLE

Nach dem Ersten Weltkrieg führte der Begriff der Kulturwissenschaften im deutschsprachigen Raum mehrere Jahrzehnte hindurch eine eher marginale Existenz. Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts aber setzte eine Renaissance ein, aus der bald eine unwiderstehliche Bewegung wurde, die das ganze bis dahin bestehende Gebäude der

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Wissenschaften vom Menschen und seinen Verhältnissen erfasste. Die tradierten Disziplinen sahen sich unter dem Zwang, sich selbst umzugestalten, wobei die Geisteswissenschaften am stärksten betroffen waren und sind. In ihnen vor allem spielt sich das ab, was ‚kulturalistische Wende‘, ‚kulturwissenschaftliche Neuausrichtung‘ oder – ganz grob – ‚Verkulturwissenschaftlichung‘ genannt wird (Vowinckel 2007: 393). Diesen Trend könnte man plakativ unter das Motto stellen: Weg von der bloßen Textanalyse und Textinterpretation, hin zum ganzen Menschen! Damit geht eine – offene oder subversive – Diskreditierung der Abstraktion einher; nichts, was auch immer den Menschen betrifft, ist unwesentlich, alles ist irgendwie wichtig und verdient Aufmerksamkeit. Annette Vowinckel verbindet dies mit einer säkularen Verschiebung der philosophischen Fundamente in Richtung einer phänomenalistischen Sichtweise, die Sein und Erscheinung in eins setzt und so in den Geisteswissenschaften einen „antihermeneutischen Reflex“ auslöst (ebd. 397ff.). Damit ist die Gefahr verbunden, dass sich im Zeichen der Überwindung beengender Grenzen jegliche disziplinäre Kohärenz auflöst. So diagnostiziert Bettina Gruber aus Sicht der Germanistik in der gängig gewordenen Auffassung von Kulturwissenschaft einen Akzent „auf ein schwer definierbares Gesamt von Kulturphänomenen und deren Vernetzung, wobei nahezu jede gesellschaftliche Praxis als ‚kulturell‘ firmiert“. Die Einzeldisziplinen erscheinen „plötzlich als geradezu illegitime Verengung gegenüber dieser entgrenzten Perspektive […]. Der Kulturwissenschaftler wäre demnach ein paradoxer Spezialist für alles und nichts […]“ (Gruber 2008: 42). Die Tendenz zur Auflösung wohldefinierter Gegenstände in einem amorphen Brei von ‚Praktiken‘ ruft Gegenreaktionen in Gestalt einer ‚Re-Philologisierung‘ auf den Plan (Birus 2008: 21). Alles in allem scheint das Verhältnis der etablierten Geisteswissenschaften zu dieser Entwicklung ambivalent zu sein, Chancen werden darin ebenso ausgemacht wie Bedrohungen. 2005 sah Reinhard Schulz die Geisteswissenschaften „von den Natur- und den Kulturwissenschaften buchstäblich in die Zange genommen […]“. Auch seitens der Sozialwissenschaften erwartete er wenig Unterstützung, „weil ihr ehemals kritisches theoretisches Potenzial zunehmend vom Methodenzwang der empirischen Sozialforschung oder dem zunehmend auch in die Sozialwissenschaften eindringenden Detailfanatismus kulturwissenschaftlicher Ansätze in Endlosschleifen immer genauerer Fallstudien innerlich ausgehöhlt wird“ (Schulz 2007: 80).

Aufschlussreich sind zwei im Abstand von rund anderthalb Jahrzehnten veröffentlichte Denkschriften prominenter deutscher Geisteswissenschaftler. Die frühere von beiden, 1991 von einem Autorenkreis um Wolfgang Frühwald verabschiedet, hob die neuen Horizonte für die Geisteswissenschaften hervor. Ihre Optik gehe nun „vielmehr auf das kulturelle Ganze, auf Kultur als Inbegriff der menschlichen Arbeit und Lebensformen, naturwissenschaftliche und andere Entwicklungen eingeschlossen, auf die kulturelle Form der Welt“ (Frühwald u.a. 1991: 40-41) [Herv.i.O.]. Dieser „extrem weite und kaum trennscharfe Ensemble-Begriff“ war, wie Hartmut Böhme betont, wissenschaftspolitisch bedeutsam, denn er diente „dem Ziel, die Fächer der philosophischen Fakultät aus der geistphilosophischen Tradition vor allem deutscher Prägung zu lösen“. Damit gewinnen diese Fächer Anschluss an die faktische Internationalisierung des Wissenschaftsprozesses, und der deutsche Sonderweg der Geis-

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teswissenschaften wird beendet (vgl. Böhme 2001). Das 2005 von einer Gruppe um Carl Friedrich Gethmann an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften verfasste Manifest war weniger optimistisch: „Der neuerdings unter dem Titel der Kulturwissenschaften eingeschlagene Weg ist ein Holzweg, wenn – was faktisch der Fall ist – den Begriff der Kulturwissenschaften im wesentlichen die sogenannten Cultural und Areal Studies darstellen“ [Herv.i.O.]. (Gethmann u.a. 2005: 11) Für die disziplinäre Struktur des Systems der Wissenschaften vom Menschen sind verschiedene Denkmöglichkeiten im Gespräch. Eine konventionelle Variante wäre eine durchgehende hierarchische Klassifikation, wie sie der Theologe Arno Anzenbacher 1981 vorschlug; darin wird die Gesamtheit aller Disziplinen in Real- und Formalwissenschaften gegliedert, die Realwissenschaften teilen sich in Natur- und Kulturwissenschaften, die Kulturwissenschaften bestehen aus Geisteswissenschaften auf der einen und Sozial- und Wirtschaftswissenschaften auf der anderen Seite (Anzenbacher 1981: 22). Weniger konventionell wäre die Vorstellung, dass ‚Geisteswissenschaften‘ und ‚Kulturwissenschaften‘ als taxonomische Einheiten nicht ein und derselben Gliederungsdimension angehören, sondern unter jeweils unterschiedlichen Perspektiven als Struktureinheiten aus der Gesamtheit der Wissenschaft hervortreten; damit würden beide Begriffe ihre Bedeutung behalten, ohne einander ersetzen zu können. Aussagekräftiger als eine statische Klassifikation wäre aber ein dynamisches Bild. Vielleicht trifft der oftmals artikulierte Eindruck zu, dass die Geisteswissenschaften (und auch die Sozialwissenschaften) im Begriff sind, sich durch Erweiterung ihrer Gegenstandsbereiche und Diversifizierung ihrer Methodenrepertoires in Kulturwissenschaften umzuwandeln. Es ist aber auch vorstellbar, dass dieser Eindruck nur eine Phase einer insgesamt nicht einseitig gerichteten, sondern oszillierenden Bewegung erfasst. Für das Exempel Literaturwissenschaft bemerkt Gruber, Literatur sei per se ein kulturelles Phänomen, „das nur durch einen Akt methodischer Abstraktion, durch das Ausblenden von Kontexten zu einem Gegenstand rein philologischer Betrachtung wird. Tatsächlich ist die Geschichte der Literaturwissenschaft die eines Wechsels zwischen ‚abgeblendeten‘, immanenten Perspektiven und ‚aufgeblendeten‘ Perspektiven, die Literatur in einer Umwelt ins Auge fassen“.

Sie votiert für einen „Weg, der die Öffnung des Fachs nicht als seine Selbstaufgabe betreibt“ (Gruber 2008: 41-42). Die ungezügelte Ausbreitung kulturwissenschaftlicher Betrachtungs- und Arbeitsweisen verlangt nach reflexiver Vergewisserung darüber, was da eigentlich geschieht. Damit bringt die Prosperität der Kulturwissenschaften (im Plural) das Bedürfnis nach einer disziplinär strukturierten Kulturwissenschaft (im Singular) hervor, in der sich diese Selbstvergewisserung konzentriert. Ein entschiedener Verfechter dieses Desiderats ist Hartmut Böhme: „Kultur ist die Perspektive, die für die Beobachtung von ‚Kulturen‘ im Plural entwickelt wird. Eben dies ist das Definiens von Kulturwissenschaft.“ (Vgl. Böhme 2001) Damit wird der Tendenz zur Entgrenzung (auf der Objektebene) eine Tendenz zur Begrenzung (auf der reflexiven Metaebene) gegenübergestellt, die verspricht, aus dem vitalen Chaos kulturwissenschaftlicher Ansätze neuen Überblick zu gewinnen. Hier könnte die Überlegung von Rickert hilf-

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reich sein, dass keine Disziplin das Monopol auf bestimmte Objektbereiche beanspruchen kann. In der Welt gebe es nichts, „das einer Untersuchung, wie die Naturwissenschaft sie führt, prinzipiell entzogen werden dürfte“ (Rickert 1899: 16-17). Schon früher hatte er formuliert: „Die Wirklichkeit wird Natur, wenn wir sie betrachten mit Rücksicht auf das Allgemeine, sie wird Geschichte, wenn wir sie betrachten mit Rücksicht auf das Besondere.“ Erläuternd fügte er hinzu, dass damit nicht zwei verschiedene Realitäten gemeint seien, „sondern nur dieselbe Wirklichkeit unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten […].“ (Ebd. 38) Die Auffassung eines Objekts als Kultur muss demnach nicht die Illegitimität anderer Betrachtungsweisen des gleichen Objekts bedeuten. Die kulturwissenschaftliche Perspektive verkörpert einen starken Konkretisierungstrend und zieht für ihre Objekte Kontexte in Betracht, die bis dahin kaum berücksichtigt bzw. für relevant erachtet worden waren. Diese Tendenz – das Pendant zur Bildung immer radikalerer Abstraktionen – gab es auch schon in früheren Stadien der Wissenschaftsentwicklung. Sie prägte, wie Hans-Otto Dill nachweist, bereits die Arbeitsweise Alexander von Humboldts, dessen universalistisches und integrierendes Denken mit dem auf Spezialisierung gerichteten Mainstream in der Wissenschaft seiner Zeit kontrastierte (vgl. Werner 2004). Sein „holistisches Zusammenhangsdenken“ ging noch über die Grenzen der Naturwissenschaft hinaus; Dill bezeichnet ihn als „Natur- und Kulturwissenschaftler in Personalunion“ (Dill 2013: 83). Das war er nicht von vornherein. Ursprünglich hatte er für seine Reise nach Lateinamerika ein rein naturwissenschaftliches Forschungsprogramm skizziert; als ihm aber vor Ort die Differenz zwischen den dortigen Verhältnissen und dem aus Europa Vertrauten immer deutlicher vor Augen trat, wurde er „zum Anthropologen, zum Sozial- und Kulturwissenschaftler“ (ebd. 84). Wenn sich eine solche konkretisierende Grenzüberschreitung in gewissen Fällen schon bei der Erforschung der Natur aufdrängt, dann tut sie es bei der Erforschung des ‚Geistes‘ – also bei der Analyse und Interpretation von Texten wie in der Literaturwissenschaft – erst recht. So charakterisiert Anne Stiebritz die für Dorothee Röseberg typische Arbeitsweise als kulturwissenschaftlich orientierte Romanistik (Stiebritz 2012: 5), und Benjamin Paul erläutert dies so: „Kollektive Sinnstiftungen werden nicht nur theoretisch-ideengeschichtlich untersucht, sondern im Hinblick auf deren Verbindungen mit sozialen Praxen und mentalitätsbildenden Folgen. Neben sprachlich-kommunikativen Prozessen rücken Akteure und soziale Netzwerke zwangsläufig in den Blick.“ (Paul 2012: 11)

Die Untersuchung gewisser Objektbereiche geht demnach auf die kulturwissenschaftliche Ebene über, wenn die Genese und Wirksamkeit dieser Objekte im Lebensprozess menschlicher Gemeinschaften in Betracht gezogen wird. Dies macht aber radikalere Abstraktionen weder unnötig noch gar wissenschaftlich illegitim.

5 K ULTUREN IM P LURAL Heute liegen zahlreiche Arbeiten vor, die ‚Wissenschaftskulturen‘ untersuchen. Auch der Begriff ‚Wissenskultur‘ wird mannigfach verwendet (vgl. Pscheida 2010); allerdings ist er nicht auf Wissenschaft beschränkt, selbst von der ‚Wissenskultur Tanz‘

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ist die Rede (vgl. Huschka 2009). Der Kulturbegriff wurde jedoch nicht von vornherein im Plural verwendet. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde das denkmöglich. Die ideengeschichtliche Wendung, die diese Möglichkeit schuf, sieht Fisch in einer säkularen Akzentverschiebung im Verständnis von Kultur weg von der subjektiven Disposition (Bildung) und hin zu den Gegenständen und Prozessen: „Hatte bisher über den verschiedenen Kulturen letztlich doch übermächtig die eine, sich durch alle Nationen hindurchziehende Kultur gestanden, so erreichte nach der Jahrhundertmitte die innere Einheit von Kulturen in der Auffassung der Zeitgenossen eine ausreichende Geschlossenheit, um zum Gebrauch des Plurals zu führen […].“ (Fisch 1992: 747)

In dieser Sicht erschien die Kultur (im Singular) nun als Inbegriff beliebig vieler ‚Kulturen‘ (im Plural), die als qualitativ unterscheidende Charakteristika von Kollektiven verstanden wurden. Wenn einem Kollektiv eine je eigene Kultur zugesprochen wurde, so war dabei zugleich der Unterschied von anderen Kollektiven und den ihnen eigenen Kulturen mitgedacht. Diese generelle Auffassung von ‚Kultur‘ war in ihren Grundzügen schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verfügbar. Eine systematisch betriebene Wissenschaftssoziologie kam jedoch erst um die Mitte des 20. Jahrhunderts auf, als die Wissenschaft unübersehbar zum Massenbetrieb geworden war; dann aber entwickelte sie sich in raschem Tempo. In ihrem Rahmen wurde es üblich, die Kollektivbeziehungen, die sich in distinkten Gesamtheiten wissenschaftlicher Tätigkeiten herausbildeten, als „scientific communities“ (wissenschaftliche Gemeinschaften) zu bezeichnen. Der für die Ausprägung des CommunityBegriffs maßgebliche Schlüsseltext wurde 1965 von Warren A. Hagstrom publiziert (vgl. Hagstrom 1965). Ein tiefgehendes Fazit der seither erfolgten Begriffsentwicklung zieht Jochen Gläser (2006). Der Begriff der wissenschaftlichen Gemeinschaft wurde ohne prinzipiellen Rekurs auf den Kulturbegriff konstituiert, aber er bildet das geeignete wissenschaftstheoretische Fundament, um durch Einbeziehung des letzteren ein brauchbares Konzept der Wissenschaftskulturen zu entwickeln. Dieses Konzept assimiliert das Fazit verschiedener Entwicklungen, die der Kulturbegriff seit Mitte des 19. Jahrhunderts unabhängig von seiner etwaigen Anwendung auf die Selbstreflexion der Wissenschaft durchlaufen hat. Eine wichtige Stufe war seine Ausprägung in der Ethnografie und dann auch in der Ur- und Frühgeschichte. In der Ethnografie wurde es nach Edward B. Tylor schon im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts üblich, die Lebensweisen relativ abgeschlossener Völkerschaften als Kulturen zu bezeichnen (Tylor 1958: 1, zit.n. Fisch 1992: 757). Tylor gilt als Stammvater des deskriptiven ethnologischen (und später auch soziologischen und allgemein sozialwissenschaftlichen) Kulturbegriffs (vgl. Leopold 1980), „durch den aus der Kultur bzw. Zivilisation die Kulturen bzw. Zivilisationen, die alle gleichberechtigt nebeneinanderstehen, geworden sind“ (Fisch 1992: 758). Analog wurden in der Archäologie die zusammengehörigen materiellen Relikte früherer menschlicher Gemeinschaften ‚Kulturen‘ genannt (vgl. Hachmann 1987). Die rezenten wie die ausgestorbenen Kulturen wurden hier von vornherein als kollektive Gegebenheiten untersucht. Deshalb war es folgerichtig, dass sich diese Untersuchungen auf den Alltag im Leben solcher Gemeinschaften konzentrierten, also auf jene ‚Normalität‘, die alle ihre Mitglieder betraf, relativ stabil war und sich nur langsam veränderte.

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Dieser Akzent auf Diversität, Komplexität und Alltag zeichnet auch die begrifflich kaum zu fassende, jedoch überaus lebhafte Bewegung der Cultural Studies aus, die in den 1960er Jahren in Großbritannien ihren Ausgang nahm und heute zu einem Schlagwort für nahezu beliebig variierbare inter- und transdisziplinäre Verbünde und Netzwerke geworden ist. 3 Manchmal wird der Terminus als englische Entsprechung für die deutsche Bezeichnung ‚Kulturwissenschaft‘ verwendet; so heißt Aleida Assmanns Einführung in die Kulturwissenschaft (2011) in der englischen Ausgabe Introduction to cultural studies (2012). Meist bezeichnet er aber eine „undiscipline“, einen flexiblen Modus der Strukturbildung im Wissenschaftsbetrieb, der sich der disziplinären Ordnung entzieht. In Toby Millers Worten handelt es sich um „a tendency across disciplines, rather than a discipline itself“ (Miller 2006: 1). Für die Cultural Studies waren zumindest in ihrer Entstehungszeit Wissenschaftskulturen kein Thema, doch mit ihrem entschiedenen Interesse am Alltag von Gemeinschaften, Gruppen oder Schichten und dem für dessen Beschreibung entwickelten Instrumentarium schufen sie wesentliche Voraussetzungen dafür, den Alltag wissenschaftlicher Gemeinschaften als etwas für das Verständnis der Wissenschaftsentwicklung Wesentliches zu erkennen und zu analysieren.

6 W ISSENSCHAFTSKULTUREN Die Beschäftigung mit den intimen Entstehungs- und Stabilisierungsprozessen von Elementen neuen Wissens war – komplementär zur makrostrukturellen Perspektive – für die Wissenschaftsforschung schon immer interessant, aber erst in den 1980er Jahren war das hier verwendete begriffliche und methodische Instrumentarium weit genug entwickelt, um für Arbeiten in der Art der Cultural Studies günstige Ansatzpunkte zu bilden. Zu nennen sind hier insbesondere die Untersuchung der Rolle von „tacit (implicit) knowledge“ in der Wissenschaft nach Michael Polanyi (vgl. Polanyi 1985, Nye 2011), die (schon ältere, aber lange fast vergessene) Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv nach Ludwik Fleck (vgl. Fleck 1980, Egloff 2005, Zittel 2011) und die von einer konstruktivistischen Erkenntnistheorie geleiteten ‚Laborstudien‘ nach Karin Knorr-Cetina (vgl. Knorr-Cetina 1991) und Bruno Latour (vgl. Latour/Woolgar 1986). Aber schon diese Richtungen sind, vom traditionellen Mainstream der Wissenschaftsforschung her gesehen, in gewissem Maße exotisch, und den Arbeiten, die unter dem Stichwort ‚Wissenschaftskulturen‘ publiziert werden, haftet erst recht etwas Irritierendes an. Sie überfluten das Feld mit einer bis dahin unvertrauten Terminologie – Praktik, Habitus, Performativität, Rhetorik und Überredung („persuasion“), Initiation usw. Manchmal wird damit bereits Bekanntes umbenannt. Dessen sind sich auch die Protagonisten bewusst. So bemerkt Arnold, dass vieles von dem, was heute 3

Vgl. Cultural studies: https://en.wikipedia.org/wiki/Cultural_studies [Zugriff 18.9.2015]; Oliver Marchart (2008): Cultural Studies, Konstanz: UVK/UTB; Rainer Winter & Henning Thies (Hg.) (2011): Die Zukunft der Cultural Studies: Theorie, Kultur und Gesellschaft im 21. Jahrhundert, Bielefeld: transcript; Graeme Turner (2012): What’s become of cultural studies?, London u.a.: Sage; Gilbert B. Rodman (2015): Why cultural studies?, Chichester u.a.: Wiley-Blackwell.

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in der Literatur als ‚Kultur‘ bezeichnet wird, früher unter dem Stichwort „tacit knowledge“ behandelt worden sei (Arnold 2004: 20). Diesen Befund darf man allerdings nicht fehlinterpretieren: Mitunter ist eine terminologische Umkodierung von Vorteil, um einen neuen Erkenntnishorizont zu eröffnen. Die vorliegenden Arbeiten über Wissenschaftskulturen vermitteln einen Eindruck davon, inwieweit das gelingt. Die Identifizierung und Unterscheidung von Wissenschaftskulturen ist entlang verschiedener Dimensionen möglich. Arbeiten, die diese Begrifflichkeit verwenden, beziehen sich beispielsweise auf Geschlechterverhältnisse in der Wissenschaft (vgl. Krais 2000), auf historische Epochen oder Perioden (vgl. Mocek 1990, Ziche 2000, Weisbrod 2002, Lammel 2005, Hübinger 2014), auf Orte, Länder bzw. Regionen (vgl. Rüsen 1993, Breidbach/Ziche 2001) und schließlich auf wissenschaftliche Disziplinen oder Spezialgebiete (vgl. Heintz 2000, Becher/Trowler 2001, Glaser 2005). Die Behandlung von Disziplinen als Kulturen ist besonders gut geeignet, um in die Mikrosphäre des Wissenschaftsbetriebes einzudringen. Im wissenschaftlichen Alltag bildet die disziplinäre Gliederung eine kaum hinterfragte Selbstverständlichkeit. Wer in Forschung und Lehre agieren darf, ist nicht Wissenschaftler schlechthin, sondern hat einen disziplinären Sozialisationsprozess hinter sich und verfügt über dort erworbene Berechtigungen (Titel, Grade). Zugleich wird das Phänomen der Disziplinarität schon seit geraumer Zeit in Wissenschaftsforschung und Wissenschaftsgeschichtsschreibung eingehend untersucht (vgl. Laitko 2002, Laitko/Guntau 2007). Wer sich disziplinären Wissenschaftskulturen als Untersuchungsgegenstand zuwendet, betritt keine Tabula rasa, sondern begibt sich mit neuartiger Ausrüstung auf ein in groben Zügen bekanntes Terrain, sodass sich der diesen Forschungen entspringende Zusatznutzen gut abschätzen lässt. Dazu sei hier exemplarisch auf ein komparativ angelegtes Projekt verwiesen, das unter Leitung von Markus Arnold an der Universität Wien durchgeführt wurde und dessen Ergebnisse 2004 der wissenschaftlichen Öffentlichkeit unterbreitet worden sind (vgl. Arnold/Fischer 2004). Dafür wurden vier Disziplinen ausgewählt. Sie alle gehören zum universitären Grundbestand, und sie erscheinen intuitiv als ausgeprägt unterschiedlich: Physik (vgl. Erlemann 2004), Biologie (vgl. Kastenhofer 2004), Literaturwissenschaft (Germanistik) (vgl. Glaser 2004) und Geschichtswissenschaft (vgl. Schmid 2004). Die auf zwei Jahre (1999-2001) angelegte Erhebung des empirischen Materials richtete sich auf eine zentrale Frage: Wie wird der Eintritt der Studierenden in die Community der von ihnen gewählten Disziplin gestaltet, und wie wird er von diesen selbst und von den Lehrenden erfahren? Vorbereitet durch kritische Literaturstudien, wurde das Material durch teilnehmende Beobachtung von Lehrveranstaltungen für die ersten Semester, leitfadengestützte (aber nicht streng standardisierte) Interviews mit Lehrenden und Studierenden sowie ergänzende Textanalysen von Lehrbüchern und anderen Publikationen gewonnen. Dabei war die komparative Intention von vornherein eingebaut; für jede disziplinbezogene Teiluntersuchung waren zwei Personen verantwortlich – eine, die das jeweilige Fach selbst vertrat und als Autor der entsprechenden Teilstudie zeichnete, und eine, die aus einer komplementären Disziplin kam. Das Wiener Team interpretierte den Disziplinbegriff so, dass eine disziplinäre Gemeinschaft als eine Kultur aufgefasst werden konnte. Eine Kultur ist demnach „eine mit anderen geteilte Art, die Welt zu sehen bzw. mit ihr umzugehen […]“, realisiert in einer Vielzahl von Praktiken, die aber keine ein für allemal feststehende Ge-

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samtheit, sondern ein variabel zusammengesetztes Set bilden (vgl. Arnold 2004: 22). Charakteristisch für die Wissenschaft sind Erkenntnispraktiken, und um dieses Spezifikum kulturwissenschaftlich zu deuten, liegt es nahe, an den symboltheoretischen Mainstream der neueren Kulturwissenschaften anzuschließen. Damit liegt das Wiener Konzept an der Schnittstelle der beiden leitenden kulturwissenschaftlichen Paradigmen: der Auffassung der Kultur als Symbolsystem, mit dem das symbolisch Repräsentierte als ein lesbarer ‚Text‘ erscheint, und ihrer Sicht als Ensemble von Praktiken. Wissenschaftsdisziplinen sind, so gesehen, „jene von der modernen Gesellschaft institutionalisierten Lebensweisen, die mit Hilfe eigener Symbolsysteme die soziale und natürliche Welt in einen ‚lesbaren Text‘ verwandeln sollen“ (ebd. 49). Damit ist die Kultur der Wissenschaften eine ‚Kultur der Schrift‘, wobei ‚Schrift‘ in einem sehr weiten Sinn zu verstehen ist (ebd. 24). Die disziplinären Strukturen der Wissenschaft gehören zu den wichtigsten um die Schrift herum organisierten Institutionen (ebd. 31). Für die Untersuchung einer disziplinären Wissenschaftskultur sind mannigfache empirische Zugänge denkbar. Das Wiener Projekt wählte den Eintritt neuer Kohorten von Studierenden in disziplinäre Gemeinschaften. Damit traf es einen neuralgischen Punkt in den bisherigen Untersuchungen über Disziplinen und Disziplinarität. Hier war immer wieder festgestellt worden, dass der Eintritt von Novizen in eine Disziplin nicht auf den expliziten Kenntniserwerb beschränkt ist, sondern notwendig auch die Aneignung nicht verbalisierter oder nur partiell oder schwach verbalisierter Ansichten, Fertigkeiten, Verhaltensweisen, Umgangsformen, Rituale usw. einschließt, gegenüber denen sich die Novizen nicht in gleicher Weise distanziert verhalten können wie gegenüber expliziten Wissensbeständen, und durch die sie unwillkürlich und irreversibel geprägt werden (vgl. Graesser/Clark 1985, Reber 1993). So erhalten sie den Habitus von Angehörigen ihrer Disziplin, den sie auch dann nicht mehr ablegen können, wenn sie in ein ganz anderes berufliches Umfeld geraten. Diese Phänomene blieben in der Wissenschaftsforschung nicht unbemerkt, doch sie waren hier ein Fremdkörper, solange die Untersuchungen in einem dominant begriffs-, theorie- und sprachorientierten Bezugssystem erfolgten. Das Konzept der Wissenschaftskulturen aber ist von seiner Anlage her geeignet, diese Schicht der Wissenschaftswirklichkeit, die in der bisherigen Wissenschaftsforschung überwiegend randständig positioniert war, in das Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. Um die beim Eintritt von Novizen in eine Disziplin erfolgende Grenzüberschreitung (‚Initiation‘) verfolgen zu können, musste zunächst die Grenze selbst betrachtet werden, die eine Disziplin von ihrer Umgebung bzw. ihren Umgebungen scheidet. Dabei war zu beobachten, dass in verschiedenen (nicht allen) Disziplinen die Lehrenden diese Differenz methodisch überhöhen (‚inszenieren‘), damit die aus dem Schulwissen und der Alltagserfahrung stammenden protodisziplinären Sichten auf den Objektbereich der Disziplin aufgesprengt und Räume für den Aufbau eines fachspezifischen Habitus eröffnet werden konnten. Das wurde sehr detailliert erkundet, und es zeigten sich zwischen den untersuchten Disziplinen sowohl signifikante Unterschiede als auch – teilweise überraschende – Ähnlichkeiten. Solche Ähnlichkeiten ergaben sich beispielsweise zwischen der Textanalyse in der Literaturwissenschaft und dem Mikroskopieren in der Biologie – beides konstitutive Praktiken der jeweiligen Disziplinen (Glaser 2004: 163). Durch die zwischendisziplinären Vergleiche wurden Unterschiede und Ähnlichkeiten in mehreren Dimensionen enthüllt. Eine

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dieser Dimensionen betrifft beispielsweise die Kohärenz des vermittelten Wissensund Methodenkorpus – hier reicht der Fächer von maximaler logischer Aggregation in der Physik, wo die Studierenden „einen linearen, auf objektives Wissen hinzielenden Erkenntnisprozess einüben“ und jede vermittelte Einheit die vorhergehende voraussetzt (Erlemann 2004: 67), über das ‚Setzkastenprinzip‘ in der Biologie, wo die Wissenselemente in eine eindeutig vorgegebene Ordnung eingebaut werden, aber nicht in einer obligatorischen Reihenfolge angeeignet werden müssen (Kastenhofer 2004: 99), über die freie, jedoch subtil regulierte Perspektivenwahl in der Geschichtswissenschaft bei strengster Disziplin in den Basispraktiken des Bibliografierens und Zitierens (Schmid 2004: 179) bis hin zu einer unabschließbaren Pluralität der Textinterpretationen und der in ihnen verkörperten „partikulären Wissensansprüche“ in der Literaturwissenschaft, die eine bis hart an die Grenze der Anomie reichende Individualisierung und Spezialisierung der Arbeitsrichtungen zur Folge hat (Glaser 2004: 133, 135, 148). Eine andere, für das Selbst- wie das Fremdbild der Disziplinen wesentliche Dimension ist durch den „hart/weich-Gradienten“ (Kastenhofer 2004: 100ff.) gegeben usw. Für eine einzelne Disziplin konstituiert ihre Betrachtung als Kultur einen Raum reflexiver Distanz, der ihre Selbsterkenntnis fördert; mit der vergleichenden Gegenüberstellung mehrerer Disziplinen wird dieser Effekt noch vergrößert. Martin Schmid hat das für die Geschichtswissenschaft pointiert ausgedrückt: „Dieser Text versucht einen Reflexionsraum zu erschließen. Einen Schritt zurückgetreten, sollten Historikerinnen und Historiker sich von diesem Raum aus selbst beobachten können, sich fragen, was sie eigentlich tun und warum sie an diese Praktiken als Wege zu Erkenntnissen glauben. Er fordert dazu auf, für begrenzte Zeit das Wagnis der Verfremdung des Eigenen und Vertrauten einzugehen.“ (Schmid 2004: 199)

Für andere Disziplinen gilt das, auf je spezifische Art, gleichermaßen. Der durch den kulturwissenschaftlichen Ansatz ermöglichte Zuwachs an selbstreflexivem Potenzial von Disziplinen äußert sich darin, dass Selbstverständlichkeiten hinterfragt und Routinen ins Bewusstsein gehoben werden. Stillschweigend Hingenommenes wird kritisierbar und steht zur Disposition. Die Wiener Studie beleuchtet zahlreiche Aspekte dieser Problematik. Im Begriff des (disziplinären) Habitus wird das partiell unreflektierte Verhaltensrepertoire von Wissenschaftlern aufgehellt – das intuitive Gefühl für das jeweils Passende, die Disposition zu quasistrategischem Vorgehen, das den Eindruck macht, als wäre es wohlüberlegt, obwohl es ganz spontan erfolgt (Arnold 2004: 23). In einer disziplinären Kultur zu Hause sein bedeutet zu wissen, „wann man was wie wo sagen kann bzw. muss“ (ebd. 37) [Herv.i.O.]. Martina Erlemann bemerkt, das soziale Miteinander in der Wissenschaft sei geregelt von impliziten „Musts und Don’ts“ [Herv.i.O.], die sich die Studierenden anzueignen haben (Erlemann 2004: 76). Derartiges wird in der Regel nicht systematisch gelehrt. „Das sind Sachen, die lernt man beim Kaffee“ – so drückte es ein interviewter Literaturwissenschaftler aus, und eine andere Interviewaussage lautete: „Weil du viele Sachen lernen musst als Literaturwissenschaftler, über die du dir nie Rechenschaft ablegst, die aber sehr wichtig sind: wie einer redet, wie er geht, das ist ganz wichtig, oder

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wo man jetzt drauf was sagt, wo man nichts drauf sagt, auf welche Diskussion man sich einlässt oder nicht“ (Glaser 2004: 153-154).

Schon diese knappe Skizze lässt erkennen, dass die Behandlung wissenschaftlicher Gemeinschaften als Kulturen nicht als eine modische Umbenennung von Wohlbekanntem abgetan werden kann. Sie erschließt systematisch eine Schicht von Produktions- und Funktionszusammenhängen der Wissenschaft, die den Wissenschaftlern zwar intuitiv vertraut sind, aber in der Wissenschaftsforschung – abgesehen von ausgewählten Richtungen wie den ‚Laborstudien‘ – nur episodisch eine Rolle spielten. Entscheidend ist dabei, dass es sich hier keineswegs um belanglose Randerscheinungen handelt, die man getrost der wissenschaftlichen Folklore überlassen könnte, sondern um eine konstitutive Schicht der Wissenschaftswirklichkeit, von der die explizit verbalisierte Erzeugung und Weitergabe von Wissen wesentlich abhängt. Es ist nicht auszuschließen, dass damit das Fundament der Wissenschaftsforschung insgesamt eine Stufe tiefer gelegt wird. Unspektakulär und problemlos geschieht das aber keineswegs. Die Begriffswelten der Wissenschaftsforschung und der Kulturwissenschaft entstammen unterschiedlichen Denktraditionen, und ihre Kompatibilität kann nicht selbstverständlich unterstellt werden. Arnold hebt beispielsweise hervor, dass die Performativität wissenschaftlicher Aussagen – ein zentraler Punkt des kulturwissenschaftlichen Ansatzes – sowohl ihre intendierten als auch ihre nichtintendierten Wirkungen einschließt; da solche Wirkungen auch eintreten, wenn die jeweiligen Aussagen nicht zutreffen, folgert er, dass bei der Untersuchung von Wissenschaftskulturen die Wahrheitsfrage ausgeschlossen werden kann (Arnold 2004: 34). In der gewohnten Perspektive der Wissenschaftsforschung steht aber die Gewinnung und Sicherung zuverlässigen Wissens im Vordergrund. Hier ist noch einiges an theoretischer Integrationsleistung zu erbringen, doch der Ertrag, der der Wissenschaftsforschung durch Einbeziehung kulturwissenschaftlicher Horizonte ins Haus steht, dürfte die Mühe lohnen. Im Schlussabschnitt einer ebenso scharfsinnigen wie unterhaltsamen Besprechung, in der die Jenenser Germanistin Jutta Heinz mehrere kulturwissenschaftliche Einführungen unter die Lupe nimmt, steht der Satz: „Den Diskursdschungel Kultur und Kulturwissenschaft kann man wohl nur durchdringen, indem man seine persönlichen Neigungen und Abneigungen als Buschmesser benutzt.“ (Heinz 2002: 120) Es ist vielleicht eine Temperamentsfrage, ob man gleich zum Buschmesser greift oder sich mit einer schlichten Taschenlampe begnügt, doch man sollte auf keinen Fall vergessen, dass Dschungel die kreativsten Biotope sind, die wir kennen. Wer sich darin mit souveräner Umsicht bewegt, wie es die Adressatin dieses Bandes vermag, verdient allen Respekt, erst recht von einem Autor, der eher an übersichtliches Gelände gewöhnt ist.

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I Interkulturelle Kommunikation und Begegnung mit dem Fremden

Gastlichkeit und Ungastlichkeit in interkultureller Perspektive H ANS -J ÜRGEN L ÜSEBRINK

G ASTLICHKEIT

ALS INTERKULTURELLE I NTERAKTION

Gastlichkeit bzw. Gastfreundschaft ist aus der Sicht der interkulturellen Kommunikationsforschung eine interkulturelle Interaktionssituation. Sie ist in ihren Grundelementen, ihrer Grundstruktur und ihrer Dynamik allen anderen interkulturellen Interaktionssituationen – wie z.B. Verhandlungen zwischen Geschäftspartnern aus unterschiedlichen Kulturen – prinzipiell vergleichbar und stellt doch zugleich in vielerlei Hinsicht eine Ausnahmesituation dar, die buchstäblich aus dem alltäglichen Rahmen herausfällt. „Die Gast/Gastgeber-Dyade ist eine Insel der sozialen Sonderbeziehungen im Sinn der Normalzeit des Alltags. Sie hat den Status einer Institution, ist zumeist religiös fundiert, hat aber unter Umständen ebenso erhebliche juristische Implikationen.“(Lorenzen et al. 2012: 252)

Die Anthropologin Regina Bendix, die zur Beschreibung und Analyse von Gastlichkeitssituationen die Begriffe „rituelle Sequenz“ und „Ritual“ verwendet, betont gleichfalls ihren Ausnahmecharakter, ihre „Anomalität“ im Verhältnis zur „Normalität“ des Alltags. „Vorbereitende Maßnahmen im Haus (Reinemachen), in der Küche und an der eigenen Person können als rituelle Handlungen eingeordnet werden; genau wie etwa bei einem Ritual des Jahreslaufes dienen qualifizierende Handlungen, das Herstellen besonderer Köstlichkeiten und die „Verkleidung“ in Maske und Kostüm auch beim gastlichen Empfang dazu, die eigene Umgebung und den eigenen Körper in einen besonderen Zustand zu versetzen. Die Gäste anerkennen das Außergewöhnliche des Gastseins im komplementärer Weise und bringen zudem ein Gastgeschenk mit, das – in dieser familiären oder freundschaftlichen Situation – als Kompensation für die Mühen akzeptiert wird, die sich die Gastgeber gemacht haben.“(Bendix 2008: 47)

Was ist anthropologisch, d.h. kulturübergreifend, unter ‚Gastlichkeit‘ zu verstehen, deren kulturspezifische Ausprägungsformen wir im Folgenden in den Blick rücken möchten? „Gastlichkeit bezeichnet“, so Wolfgang Fuchs in einer sehr eingängigen Definition, „die Aufnahme primär nicht eines bekannten, sondern eines fremden

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Menschen, um diesem Unterkunft und Verpflegung zu bieten“ (Fuchs 2012: 389). Das Phänomen (genauer: das soziale Ritual) Gastlichkeit kann somit als eine „urmenschliche“, d.h. anthropologisch angelegte „Einstellung gegenüber Fremden verstanden werden“ (Fuchs 2012: 389). Interkulturelle Gastlichkeit wiederum betrifft einen bestimmten Kreis von Fremden – jene, die anderen Kulturen zugehörig sind, aus anderen Kulturen kommen, andere Sprachen sprechen, an andere Alltagsrituale (und damit auch Gastlichkeitsrituale) gewöhnt sind, sich mit anderen Werten identifizieren und andere Identifikationsfiguren zum Vorbild haben. Diese Definition von ‚Kultur‘ als kollektive Handlungs-, Einstellungs- und Wahrnehmungsmuster einer Gemeinschaft (beispielsweise einer Nation), die durch spezifische Werte, Rituale, Identifikationsfiguren und Symbolsysteme (wie Sprache, Kleidung, Essen) geprägt sind, schließt an die Definition von ‚Kultur‘ von Geert Hofstede 1 (vgl. Hofstede 2001: 4) an. Sie liegt zahlreichen Ansätzen der Interkulturellen Kommunikation zugrunde und erscheint mir – trotz aller Kritikpunkte, die gegen sie vorgebracht wurden – heuristisch brauchbar und sinnvoll, auch um interkulturelle Interaktionssituationen wie Gastlichkeit besser zu verstehen. Alois Wierlacher und Wolfgang Fuchs treffen darüber hinaus, was die Definition von ‚Gastlichkeit‘ im anthropologischen, kulturübergreifenden Sinn angeht, die sinnvolle Unterscheidung zwischen „kultureller Gastlichkeit“ (Verpflegung und Bewirtung fremder Menschen) und „politischer Gastlichkeit“ (Fuchs 2012: 390) in Form des Asyls, auf die noch zurückzukommen sein wird. Welches sind die Grundelemente einer interkulturellen Interaktionssituation, wie sie die soziale Situation der Gastlichkeit darstellt, und was macht ihre interkulturelle Dynamik aus? Welche Analyseinstrumente und Analyseraster der interkulturellen Kommunikationsforschung lassen sich auf die interkulturelle Interaktionssituation der Gastlichkeit übertragen? Grundsätzlich handelt es sich bei interkulturellen Interaktionssituationen um Situationen der kommunikativen Begegnung zwischen Angehörigen unterschiedlicher Kulturen – wobei Kultur hier, wie bereits umrissen, im anthropologischen Sinn gemeint ist, das heißt auf signifikante Spezifika und Unterschiede von Werten, Ritualen, Identifikationsfiguren und Symbolsystemen – bei letzteren vor allem die Sprache – zielt, die für eine Gemeinschaft charakteristisch sind und individuelle sowie kollektive Identitäten prägen. Interkulturelle Kommunikationssituationen, wie etwa Gastlichkeitssituationen, sind potentiell komplexer, komplizierter und konfliktgeladener als intrakulturelle (oder monokulturelle) Situationen, da die Grundverhaltensmuster hier deutlich divergenter, verschiedener sind. Der interkulturelle Kommunikationsforscher Bernd Müller-Jacquier (Universität Bayreuth) hat die grundlegende Dynamik interkultureller Interaktionssituationen in einem Schema veranschaulicht, das je nach Verlauf eine eher konfliktäre oder eine eher synergetische (oder harmonische) Entwicklungsdynamik darstellt. Eine interkulturelle Gastlichkeitssituation wird auf Seiten der Interaktionspartner von unterschiedlichen Erwartungen, von unterschiedlichen Fremdwahrnehmungsmustern (über die Kultur des Gegenübers) und schließlich von unterschiedlichem Wissen geprägt, von Wissen über das adäquate Verhalten in einer Gastlichkeitssituation. Zugleich vollzieht sich in jeder interkulturellen Interaktionssituation, auch im Falle von Gastlichkeit und Gast1

Nach Hofstede (2001: 4) ist Kultur „die kollektive Programmierung des Geistes, die Mitglieder einer Gruppe oder Kategorie von Menschen von einer anderen unterscheidet“.

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freundschaft, ein ‚Aushandlungsprozess‘: ein Prozess des aufeinander Zugehens, der Empathie, der Kompromissbereitschaft und damit des situativen interkulturellen Lernens – oder aber (als anderer Extremfall) ein Prozess der Ablehnung, der Befremdung, der Distanzierung und der Nicht-Kommunikation, der grundlegend konfliktär verläuft und im Abbruch der Kommunikation, in Schweigen oder aber in Streit und Gewalttätigkeit enden kann. In der interkulturellen Situation der Gastlichkeit spielen, wie in allen interkulturellen Interaktionssituationen, verschiedene sprachliche und nicht-sprachliche Faktoren eine Rolle (vgl. Lüsebrink (2005) 42016). Diese reichen von sprachlichen Faktoren und der grundlegenden Entscheidung (die häufig in der Situation selbst erst „ausgehandelt“ wird), welche Sprache bzw. welche Sprachen von Gästen und Gastgebern gesprochen werden, über nonverbale Faktoren wie Gestik und Mimik bis hin zu Sprechhandlungen (wie Begrüßungs- und Verabschiedungsformeln) und den zugrundeliegenden Werten bzw. Kulturstandards, die laizistisch oder auch – in den meisten Gesellschaften – religiös geprägt sind. Wichtig für einen harmonischen Ablauf interkultureller Gastlichkeitssituationen ist zunächst die Kenntnis eines adäquaten, korrekten und situationsangemessenen Sprachgebrauchs, in dessen Zentrum Formeln der Begrüßung, der Danksagung und der Verabschiedung stehen. Hiermit eng verbunden sind Sprechhandlungen, also sprachliche Ausdrücke, die mit Handlungen unmittelbar verbunden sind, diese implizieren und nach sich ziehen, wie das Überreichen und Entgegennehmen von Geschenken, das Anbieten, Annehmen und auch das Zurückweisen von Speisen, was gleichfalls – um nicht als unhöflich oder gar als Affront zu gelten – engen und kulturell spezifischen Regeln folgt. Was man schenkt und was man auf keinen Fall schenken sollte und wie die Sprechhandlung des Schenkens sich vollzieht, folgt ‚ungeschriebenen Regeln‘: „So macht man in arabischen Ländern nur den Männern Geschenke, aber keineswegs Alkohol. In Lateinamerika werden Geschenke erwartet, die für die ganze Familie sind.“(BroszinskySchwabe 2011: 168) Zur nonverbalen Dimension gehören die kulturell sehr unterschiedlichen Gesten des Händereichens, des Verbeugens, der Umarmung, der körperlichen Berührung (an Schultern, Händen, am Kopf, durch Wangenkuss), ihre geschlechtsspezifische Verwendung oder aber ihre völlige Vermeidung. Verbale und nonverbale Interaktionen zwischen Gästen und Gastgebern können durch das Essensritual – etwa den Menüablauf oder den mehrfachen Wechsel des Platzes und der Sitzposition wie beispielsweise in Frankreich zwischen Aperitif und Hauptgängen und zwischen der Mahlzeit und dem Digestif – beeinflusst und reguliert werden, ebenso wie durch das kulturspezifische Dispositiv des Runden Tisches, der für die Gastlichkeitskultur in China charakteristisch ist. Er symbolisiert ein „offenes, kohärentes Vertrauensangebot des Gastgebers“ und „dient der Vertrauensbildung unter den Beteiligten und dem Ziel, Gemeinschaft zu stiften und das Gefühl der Zusammengehörigkeit zu kräftigen“ (Liu 2012: 372). Der Runde Tisch verkörpert zudem im chinesischen Kontext, so Wei Liu in einem Aufsatz zur Pragmatik chinesischer Gastlichkeit, „Harmonie und wird mit der Idee der Vollkommenheit der Beziehungen verbunden und als ihr Ausdruck interpretiert“ (Liu 2012: 372). Die japanische Gastlichkeit, die die Berliner Japanologin Irmela Hijiya-Kirschnereit als ein „Gesamtkunstwerk“ (Hijiya-Kirschnereit 2012: 350) bezeichnet, erweist sich hinsichtlich der ihr zugrundeliegenden sprachlichen und nicht-sprachlichen Regelungen als besonders komplex und differenziert. Diese betreffen, so Hijiya-Kirschnereit, den „korrekten

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Sprachgebrauch“, aber auch „zahlreiche Angemessenheitsregeln“, die vom „korrekten Verbeugen über das richtige Abstellen von Schuhwerk beim Betreten des Gastgeberhauses bis zum formvollendeten Hantieren mit einer Vielzahl von unterschiedlichen Essgefäßen und dem richtigen Timing für das Verweilen reichen“ (HijiyaKirschnereit 2012: 348). Die Herausforderung bei interkulturellen Gastlichkeitssituationen und -interaktionen resultiert aus der Asymmetrie zwischen dem kulturellen Wissen und Verhalten der Gastgeber und dem ihrer Gäste. Fremde Gäste, das heißt Gäste aus anderen Kulturen und Kulturräumen, beherrschen häufig die sprachlichen und nichtsprachlichen Regeln der Gastlichkeit ihres Gastgebers wenig und nur fragmentarisch. Dies kann zu Missverständnissen, Irritationen und Verstimmungen führen, bis hin zur Reaktion der Gastgeber, die Gäste – oder überhaupt fremde Gäste – nicht mehr einzuladen. Sie führt häufig jedoch auch zu Prozessen des Aushandelns, des Kompromisses, des aufeinander Zugehens sowie zu Formen des interkulturellen Lernens, die in der interkulturellen Gastlichkeitssituation auch oft thematisiert werden, etwa in Form von Erklärungen zu kulturellen Unterschieden, die mit Entschuldigungen für inadäquates Verhalten einhergehen können. Interkulturelle Gastlichkeitssituationen stellen somit, wie auch die nachfolgenden Beispiele aus Literatur und Film zeigen werden, dynamische Prozesse dar. In ihnen stehen sich nicht zwei (oder mehrere) Gastlichkeitskulturen gegenüber, die der Gastgeber und die der Gäste; sondern es ist durchgehend ein dynamischer Prozess aus Reaktionen und Gegenreaktionen zu beobachten, in dem kulturelles Wissen um Gastlichkeitsregeln und interkulturelle Kompetenzen ebenso eine Rolle spielt wie Selbst- und Fremdwahrnehmungsmuster (vgl. Röseberg 2005: 71-84). Von diesen Faktoren, zu denen Persönlichkeitsfaktoren hinzukommen, hängt es ab, ob eine interkulturelle Gastlichkeitssituation harmonisch und konvivial oder aber konfliktär verläuft. Jenseits kultureller Spezifika, die für den Ablauf und die Dynamik interkultureller Gastlichkeitssituationen entscheidend sind, beruht jede Gastlichkeitssituation auf universal zu nennenden Rollenfestlegungen, Regeln und Normen, deren intuitive Kenntnis bei allen Teilnehmern an interkulturellen Gastlichkeitssituationen vorausgesetzt werden kann. Zu ihnen gehören nach Lorenzen, Strank und Wulff die Rollenunterscheidung von Gast und Gastgeber, die räumliche und zeitliche Begrenzung der Gastlichkeitssituation, Ritualisierungen wie Begrüßung, Verabschiedung und Gastmahl und schließlich normative Komponenten: Dazu zählen das Recht auf Unversehrtheit und Schutz, das aus der Gastsituation resultiert; das „Aussetzen von Aggression“ und die zumindest „vorübergehende Aussetzung von Konflikten“ sowie die „Tabuisierung sexueller Beziehungen zwischen Gast und Partnern des Gastgebers“ (Lorenzen et al. 2012: 251).

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T RANSKULTURELLE E NTWICKLUNGSTENDENZEN : Ö KONOMISIERUNG , K OMMERZIALISIERUNG , NATIONALSTAATLICHE R EGLEMENTIERUNG Interkulturelle Gastlichkeit, das heißt die Interaktion zwischen Gastgebern und ihren anderen Kulturen angehörigen Gästen, ist in allen Gesellschaften und Kulturen anzutreffen, und zwar, wie wir gesehen haben, in je kulturspezifischen Ausprägungen und Verlaufsformen. In zeitgenössischen Gesellschaften und zunehmend auch im globalen Kontext lassen sich in interkultureller Perspektive zum einen markante Unterschiede ausmachen hinsichtlich der Bedeutung, die Gastlichkeit als einem sozialen Wert beigemessen wird; und zum anderen Entwicklungstendenzen feststellen hinsichtlich des sozialen Stellenwerts von Gastlichkeit. Im Gegensatz zu zahlreichen anderen Werten und Kulturstandards (wie Machtdistanz, Unsicherheitsvermeidung etc.) existieren zur Gastlichkeit keine umfassenden statistischen Vergleichsstudien. Die soziale Bedeutung, die der Gastlichkeit in unterschiedlichen Gesellschaften beigemessen wird, lässt sich somit lediglich aus qualitativen kulturanthropologischen Studien erschließen sowie aus den Kulturstandortwerten für Maskulinität und Feminität ableiten, die Hofstede in vergleichenden Studien in den 1970er und erneut in den 1990er Jahren statistisch erhoben hat. Feminine Gesellschaften sind nach Hofstede Kulturen, in denen zum einen die Geschlechterrollen tendenziell egalitär verteilt sind und zum anderen interpersonale Kommunikation, zwischenmenschliche Beziehungen und damit auch Gastlichkeit deutlich valorisiert werden. In der Tat finden wir nach Hofstede unter den Ländern mit hohen Feminitätsindizes zahlreiche Gesellschaften Ost- und Südostasiens, Westafrikas und des mediterranen Raums, wie Portugal, Spanien und Frankreich, die auch ausgeprägte Gastlichkeitstraditionen haben. Japan, das an der Spitze der von Hofstede sogenannten Maskulinitätswerte steht, repräsentiert eine „Gesellschaft, in der die gesellschaftlichen Geschlechterrollen klar festgelegt sind“ (Hofstede 2001:4) und in der auch die – in Japan zweifellos wichtigen – Rituale der Gastlichkeit strikter Rollenteilung und männlicher Dominanz unterworfen sind. Die von der interkulturellen und kulturanthropologischen Forschung hinsichtlich des sozialen Stellenwerts von Gastlichkeit festgestellten Entwicklungstendenzen in zeitgenössischen Kulturen betreffen vor allem zwei Prozesse. Der Rückgang traditioneller Gastlichkeit sei zum einen auf die zunehmende ‚Laizisierung‘ westlicher Gesellschaften, das heißt die zurückgehende Bedeutung von Religion und Religiosität zurückzuführen, die traditionell eine wichtige Motivations- und Wertgrundlage für Gastlichkeit bildete. Zum anderen habe, so unterstreicht Matthias Thiele in seiner Studie zur Inszenierung von Gastlichkeit im Fernsehen, die ökonomische Entwicklung von vormodernen, dominant agrarischen zu modernen, kapitalistischen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften die Wertgrundlagen traditioneller Gastlichkeitsformen großenteils untergraben und grundlegend verändert. Die Konsequenzen dieser Entwicklungen sind die Beschränkung des Gastrechts durch ökonomische Tauschregelungen und nationalstaatliche Begrenzungen, und die zunehmende, geradezu allgegenwärtige Vermarktung von Gastlichkeit im Tourismus, im Dienstleistungsgewerbe und in den Medien, vor allem im Fernsehen. Die „Applikation und Herstellung gastlicher Situationen“ reiche, so Thiele, „im Fernsehen von der Begrü-

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ßung der Zuschauer über die Konzepte des geladenen Studiogastes und des präsenten Saal- oder Studiopublikums bis hin zur spezifischen Gestaltung der Studio- bzw. Bühnendekoration“ (Thiele 2009: 369). Die Entwicklung der modernen Massenmedien und des Massentourismus seit den 1960er Jahren hätten, zunächst in den westlichen Industrieländern und seitdem global, zur Herausbildung einer „hospitality industry“ geführt, die Gastlichkeit simuliere, interkulturelle Unterschiede nivelliere und zugleich kulturelle Spezifika von Gastlichkeitsformen in stereotyper Weise darstelle und vermarkte – wie etwa die stereotypisierende Darstellung französischer oder auch fernöstlicher Gastlichkeit in der Werbung für Air France, Thai Airways oder Singapore Airlines. Diese Formen inszenierter und zugleich kommerzialisierter Gastlichkeit fremder Gesellschaften schließen an einen Faszinationshorizont an, der Europas Blick auf außereuropäische Gesellschaften seit dem Zeitalter der großen Entdeckungen geprägt hat. Zugleich ist die Idealisierung exotischer Gastlichkeit als ein Kompensationsraum zu verstehen, durch den westliche Gesellschaften die zurückgehende soziale Bedeutung von Gastlichkeit in ihren Kulturen, ihre wachsende Ökonomisierung und Kommerzialisierung zumindest symbolisch und mental zu bewältigen und auszugleichen versuchen.

I NTERKULTURELLE G ASTLICHKEIT

IN

K ONFLIKTSITUATIONEN

Interkulturelle Kommunikation, und damit auch interkulturelle Gastlichkeit, verläuft keineswegs durchgehend überwiegend harmonisch, sondern häufig konfliktär. Interkulturelle Konflikte beruhen auf unterschiedlichen Werten, Ritualen, Identifikationsfiguren sowie Kommunikations- und Symbolsystemen der Beteiligten. Sie entwickeln sich, wie eingangs theoretisch dargelegt, indem sich gegebene kulturelle Unterschiede in einem Prozess der kommunikativen Interaktion zuspitzen – etwa, weil keiner der Beteiligten bereit ist, Kompromisse zu schließen, auf den Anderen einzugehen oder interkulturell zu lernen, wodurch sogenannte ‚Critical Incidents‘ entstehen, denen in der interkulturellen Kommunikationsforschung besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird. Zudem existieren Situationen, in denen interkulturelle Konflikte besonders häufig auftreten, in denen sie in gewisser Hinsicht ‚vorprogrammiert‘ sind. Hierzu gehören insbesondere Kriegs- und Okkupationssituationen sowie Migrationskontexte, die im letzten Teil dieses Beitrags anhand theoretischer Überlegungen und einiger Medienbeispiele in den Blick gerückt werden sollen. Eine geradezu emblematische Situation für interkulturelle Ungastlichkeit in Kriegszeiten (vgl. Dossier von Lüsebrink et al. 2013: 99-110) hat der französische Résistance-Schriftsteller Vercors (alias Jean Marcel Bruller) in seiner 1942 erschienenen, im Untergrund veröffentlichten und mehrfach verfilmten Novelle Le Silence de la Mer (1942) geschildert. Erzählt wird hier auf knapp 60 Seiten die Einquartierung des frankophilen, musisch begabten und daher keinesfalls völlig unsympathisch gezeichneten deutschen Offiziers Werner von Ebrennac bei einer französischen ‚Gastfamilie‘ in der französischen Provinz, einem älteren Herrn und seiner etwa zwanzigjährigen Nichte. Diese im Kriegs- und Belagerungsjahr 1941 situierte ‚erzwungene Gastlichkeit‘ ist nicht durch kommunikative Interaktion gekennzeichnet, sondern – ganz im Gegenteil – durch Nicht-Kommunikation: durch die Weigerung

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der Gastgeber, mit dem ungeliebten, aufgezwungenen fremden Gast zu sprechen, um ihm offensichtliche Aufmerksamkeit zu widmen. Und dies, obwohl von Ebrennac Bewunderung für Frankreich zum Ausdruck bringt: für seine Kultur, seine Geistesgrößen, seine Geschichte und vor allem für seine Schriftsteller, deren Werke – von Ronsard bis Rousseau und Balzac – er in den Bücherregalen seiner Gastgeber sieht und bewundernd zur Hand nimmt. Von Ebrennac träumt, in seinen Monologen in Gegenwart seiner stummen Gastgeber, von einer zukünftigen deutsch-französischen Verständigung; er sieht beide Kulturen als gleichwertige, große europäische Kulturgemeinschaften an, bewundert den Patriotismus der Franzosen und zeigt sogar Verständnis für die ablehnende Haltung seiner Gastgeber; schließlich versucht er, durch die Erzählungen über seinen im Ersten Weltkrieg verletzten Vater auch persönliche Brücken zu seinen Gastgebern zu schlagen. Diese paradoxe interkulturelle Kommunikationssituation gewinnt eine neue Dynamik, als von Ebrennac von einem Besuch bei der deutschen politischen und militärischen Führung in Paris zurückkehrt – völlig desillusioniert, da sich seine Hoffnungen auf eine zukünftige deutsch-französische Zusammenarbeit und Verständigung auf Augenhöhe angesichts der Pläne der NSFührung als Illusion erwiesen haben. Zum ersten Mal brechen die Gastgeber nun dies Schweigen, indem sie „Entrez, Monsieur“ und am Ende „Adieu“ sagen und ihrem aufgezwungenen Gast erstmals unmittelbar ihre Blicke zuwenden. Die kommunikative Dynamik dieser singulären Situation entsteht aus der Wirkung der Abschiedsgeste des Offiziers, der sich am Ende nach dreieinhalb Monaten Aufenthalt in der französischen Provinz resigniert zur Ostfront meldet und sich verabschiedet, auf seine Gastgeber. Diese glauben in seiner Reaktion einen ebenso stummen wie nachdrücklichen Aufruf zum Widerstand erkennen zu können: „Seine Lippen öffneten sich, und ich glaubte, dass er ich weiß nicht welchen Aufruf an uns richten würde. Ich glaubte – ja, ich glaubte, daß er uns zum Widerstand ermuntern würde. Doch kein Wort kam über seine Lippen.“ (Vercors (1942) 1999: 63)

Kriegs- und Besatzungszeiten bieten – fast paradoxerweise – ein breites Spektrum interkultureller Gastlichkeitssituationen. Diese reichen von Konfigurationen der aufgezwungenen Gastlichkeit, die zum Bewusstseinswandel und zum offenen Widerstand führen können, bis zu Situationen der heimlichen und häufig sehr gefährlichen Gastfreiheit, die Flüchtlingen, Deserteuren und feindlichen Soldaten gewährt wird. In seinem pazifistischen Filmklassiker LA GRANDE ILLUSION (F 1937, R: Jean Renoir) hat der französische Regisseur Jean Renoir intensiv und eindringlich die Gastfreundschaft einer deutschen Bäuerin gegenüber geflohenen französischen Kriegsgefangenen dargestellt, mit der Zielsetzung, in der sich zuspitzenden politischen Situation der ausgehenden 1930er Jahre zu einer aus seiner Sicht zwischen Zivilgesellschaften noch möglichen deutsch-französischen Annäherung beizutragen. Der italienische Film PIZZICATA (IT 1996, R: Edoardo Winspeare), dessen Titel einen süditalienischen populären Tanz bezeichnet, bei dem die Tanzpartner ihre Leidenschaft zeigen, ohne sich körperlich zu berühren, schildert anhand einer wahren Begebenheit, wie ein US-amerikanischer Pilot, dessen Flugzeug über Apulien abgeschossen wird, überlebt und von einer Bauernfamilie versteckt wird. Die durch die drei Töchter und ihren Vater gewährte Gastlichkeit wird durch die Tatsache erleichtert, dass der abgeschossene US-Pilot italienischer Herkunft ist, fließend und akzent-

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frei Italienisch spricht und als ein ferner Neffe des Gastgebers ausgegeben werden kann. Diese interkulturelle Gastlichkeitssituation in Kriegszeiten entwickelt eine sehr konfliktäre Dynamik, als der Gast grundlegende Regeln des ‚Gaststatus‘ und vor allem kulturelle Werte der traditionellen apulischen Gemeinschaft nicht respektiert: Er nähert sich bereits beim Tanzen der Pizzicata der schönen, jüngsten Tochter seines Gastgebers, Cosima, körperlich an, küsst sie heimlich und respektiert vor allem nicht den Willen des Vaters, Cosima mit dem aus dem Dorf stammenden Prätendenten Pasquale, der um ihre Hand angehalten hat, zu verheiraten. Vor einer möglichen Flucht Cosimas, die sich ihrerseits zu Tony, dem US-Piloten, hingezogen fühlt, aber zugleich den Willen ihres Vaters zu respektieren scheint, wird Tony von Pasquale erstochen. Ein Mantel des Schweigens legt sich über diese Mordtat, da Tony sich als versteckter Gast im Dorf aufhielt und die Dorfgemeinschaft grundlegende Werte ihrer Kultur verletzt sieht. Auch das Problemfeld ‚Migration‘ zeigt eine große Bandbreite konfliktärer Gastlichkeitssituationen, vor allem solcher Konfigurationen, in denen das traditionelle Gastrecht des Fremden in häufig flagranter Weise verletzt wird, vornehmlich in westlichen, zunehmend entchristianisierten und ‚laizisierten‘ Gesellschaften. Abschließend soll, auch wieder anhand eines Filmbeispiels, eine Konfiguration in den Blick gerückt werden, die in interkultureller Hinsicht besonders aufschlussreich erscheint. Die britische Schriftstellerin und Literaturnobelpreisträgerin Doris Lessing schildert in ihrer 2005 erschienenen Erzählung Victoria und die Staveneys, die 2014 in Frankreich von Jean-Paul Civeyrac eindrucksvoll verfilmt worden ist, die Geschichte der aus Ostafrika stammenden Waisen Victoria, die von ihrer Tante in London aufgenommen wird, zusammen mit ihrer Halbschwester Fanny dort in ärmlichen Verhältnissen aufwächst, sich in der Schule als einzige dunkelhäutige Schülerin einem latenten Rassismus ausgesetzt sieht und sich zunehmend zu einer introvertierten Persönlichkeit entwickelt. Ihr einziger Freund ist der aus einer großbürgerlichen, aber zugleich linksintellektuell engagierten Familie stammende Thomas Staveney, dessen Welt sie bei einem kurzen Besuch fasziniert entdeckt. Als sie Thomas über zehn Jahre später wiedertrifft – sie ist inzwischen als Verkäuferin tätig, er ist Student –, erlebt sie eine ebenso kurze wie leidenschaftliche Affäre mit ihm, aus der eine ungewollte Schwangerschaft und ihre Tochter Marie hervorgehen. Durch den Tod ihres Mannes bei einem Verkehrsunfall und als nun alleinerziehende Mutter zweier Kinder – ihr Sohn Sam ist nach ihrer Tochter Marie geboren worden – wendet sie sich in ihrer Verzweiflung an die Familie ihres ehemaligen Freundes Thomas, um diese um Hilfe und Gastfreundschaft zu bitten und sie von der Existenz der unehelichen Tochter ihres Sohnes in Kenntnis zu setzen. Die Staveneys, die sich als links engagiert, fremdenfreundlich und aufgeschlossen verstehen, helfen Victoria bereitwillig, unterstützen sie, geben ihr Geld und integrieren die kleine Marie in ihren Familienkreis. Die Dynamik dieser interkulturellen Gastlichkeitssituation, die Victoria zunächst äußerst dankbar in Anspruch nimmt, läuft jedoch nicht auf ein Happy End, sondern auf eine dramaturgisch-konfliktäre Zuspitzung der Beziehungen hinaus: Marie, die sich als intelligentes und lebhaftes Mischlingskind zeigt, von dem die Familie Staveney entzückt ist und die sie fördern möchte, wird zunehmend ihrer Mutter entfremdet, die der Anziehungskraft der großbürgerlichen Gastgeber ihrer Tochter nichts entgegenzusetzen weiß. Victorias Sohn Sam, der dunkelhäutig ist und dem die Gastfamilie deutlich weniger Aufmerksamkeit widmet als Marie, wird zunehmend verschlossen.

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Am Ende überlässt Victoria resigniert den Staveleys ihre Tochter und lehnt zugleich deren weitere Gastfreundschaft und Unterstützung für sie und ihren Sohn ab. Auf subtile Weise wird hier die konfliktäre Dynamik einer interkulturellen Gastlichkeitssituation deutlich, von der ein harmonisches Ende zu erwarten gewesen wäre. Sie entwickelt sich nicht nur deshalb konfliktär und dramatisch, weil auf europäischer Seite ein latenter Rassismus vorhanden ist, der auf physiognomische Merkmale und die Hautfarbe fixiert ist, sondern auch, weil die kulturellen Werte und Vorstellungen von Erziehung sowie dem Rollenverständnis von Eltern und Großeltern zu sehr auseinanderklaffen. Es ist kennzeichnend und bemerkenswert, dass die britische Schriftstellerin Doris Lessing, die rund 25 Jahre im südafrikanischen Rhodesien gelebt hat, den mangelnden Respekt vor fremden kulturellen Werten, eine falsch verstandene Gastfreundschaft und die mangelnde Bereitschaft zu interkulturellem Lernen Vertretern ihrer eigenen Gesellschaftsschicht zuschreibt: keinen offensichtlichen Rassisten oder Kolonialisten, sondern Repräsentanten des linken Schriftsteller- und Künstlermilieus der britischen Hauptstadt, dem sie selbst angehört.

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Höflichkeit in der interkulturellen Kommunikation Gesprächskulturen in Deutschland und Frankreich und ihre differenten Höflichkeitsnormen A DELHEID S CHUMANN

In den vergangenen Jahren ist Höflichkeit wieder zu einem Thema von hoher gesellschaftlicher Relevanz geworden. 1 Die Internationalisierung des öffentlichen Lebens, wirtschaftliche Globalisierung und wachsende Mobilität haben dazu geführt, dass die Zahl interkultureller Begegnungen ständig zunimmt und Fragen der Höflichkeit im interkulturellen Kontext an Bedeutung gewinnen: An welche Verhaltensnormen und Regeln der Höflichkeit soll man sich halten, wenn die Interaktionspartner aus unterschiedlichen Kulturen stammen und differente Vorstellungen von höflichem Verhalten und einem der Situation angemessenen Kommunikationsstil haben? Gibt es allgemeingültige, universale Höflichkeitsnormen oder sind Umgangsformen grundsätzlich als kulturspezifisch und kontextabhängig anzusehen? Seit den 1970er Jahren hat sich eine umfangreiche Höflichkeitsforschung entwickelt, die diesen Fragen nachgeht und die Besonderheiten höflichen Verhaltens in der interkulturellen Kommunikation näher untersucht. Dabei dominierten zunächst angloamerikanische Modelle wie die von Erving Goffmann (1967) oder Penelope Brown und Stephen C. Levinson (1987), die von einer universalen Struktur gegenseitiger Anerkennungsbedürfnisse in der personalen Interaktion ausgehen. Einerseits sind Kommunikationspartner in jeder Gesellschaft darauf bedacht, ihr Gesicht zu wahren, d.h. sie erwarten, dass man ihre persönliche Würde und Identität respektiert („positive face“), andererseits geht es um die Beachtung der spezifischen Freiräume und Handlungsmöglichkeiten eines jeden Gesprächsteilnehmers („negative face“). Die kommunikativen Strategien, die zur gegenseitigen Gesichtswahrung angewandt werden, wie z.B. Strategien der Zuwendung bzw. Strategien der Vermeidung, werden als Akte der Höflichkeit angesehen („face-work“), wobei sowohl sprachliche als auch nicht-

1

Zur Aktualität von Höflichkeit vgl. Held 2002, Kimmich/Matzat 2008, Lüger 2001, Macho 2002, Schmölders 2005.

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sprachliche Kommunikationsformen zum Einsatz kommen. Ihr zentrales Ziel ist die Herstellung sozialer Harmonie. 2 Gegen diese universalistische Auffassung von Höflichkeit wurden jedoch bald Einwände laut, 3 die auf die Kulturspezifik von Selbstkonzepten („face“) hinwiesen und die Historizität von Höflichkeit betonten. Das, was in einer spezifischen Gesellschaft als Gesicht (persönliche Würde/Ehre) und als höfliches Verhalten gilt, ist im Verlauf umfassender sozialer und historischer Prozesse entstanden und permanentem gesellschaftlichen Wandel unterworfen. Es lässt sich weder aus seinem soziohistorischen Kontext lösen, noch ist es ohne Weiteres von einer Kultur in eine andere übertragbar. Und die Höflichkeitsstrategien, die in den verschiedenen Gesellschaften zur Anwendung kommen, unterscheiden sich auf vielfältige Weise, wobei sowohl kulturelle und soziale, als auch linguistische und pragmalinguistische Faktoren eine Rolle spielen: • • • •

Kulturelle Selbstkonzepte als Formen identitärer Selbstdarstellung und Selbstbehauptung („positive face/negative face“) Soziale Grundeinstellungen und Wertvorstellungen in Bezug auf familiäre und gesellschaftliche Beziehungsstrukturen (individualistisch/kollektivistisch) Verbale und nonverbale Realisierungsmöglichkeiten von Höflichkeit in den verschiedenen Sprachen und Kulturen (Sprache/Mimik/Gestik/Proxemik) Interaktive Diskurskonventionen als Verhaltensnormen im Gespräch (Kommunikationsstil/Gesprächsstrategien/Phasen und Sequenzen/Sprecherwechsel)

Höflichkeit besteht aus dieser Sicht nicht allein aus „face-work“, sondern ist in einen komplexen kulturellen Kontext eingebunden, der für Interaktionspartner aus einer anderen Kultur nicht leicht zu durchschauen ist und ein gewisses Maß an interkultureller Sensibilität und interkulturellen Kenntnissen erfordert. Edward und Mildred Hall (1984) sprechen von „verborgenen Signalen“ und meinen damit vor allem jene im Verlauf des Sozialisationsprozesses erworbenen Verhaltensweisen wie den Umgang mit Zeit und Raum, die Dichte der Informationsnetze, den Informationsfluss oder die Aktionsketten, die den Kommunikationsstil prägen und die Normalitätserwartungen im Gespräch beeinflussen. Wenn diese meist unbewussten Höflichkeitsnormen nicht erfüllt werden, kann es zu Missverständnissen und Irritationen in Form von Fehlinterpretationen kommen. Von der interkulturellen Forschung werden diese Missverständnisse 4 als Indikatoren für kulturelle Differenzen angesehen und für die Analyse von Höflichkeitsnormen in den verschiedenen Kulturen genutzt. Die in der Kommunikation zwischen Deutschen und Franzosen potentiell auftretenden Missverständnisse und Irritationen sowie die entsprechenden Zuschreibungen

2 3 4

Zur Konzeption der angloamerikanischen Höflichkeitsmodelle und ihrer Rolle in der Höflichkeitsforschung vgl. Held 2002, Käuflin 2010. Zur Kritik am universalistischen Ansatz der angloamerikanischen Höflichkeitsmodelle vgl. Blum-Kulka 2002, Held 2010, House 2005. Interkulturelle Missverständnisse werden in der Forschung als „critical incidents“ bezeichnet. Sie werden in interkulturellen Trainingsprogrammen zur Sensibilisierung für kulturelle Differenzen in der Alltagskommunikation eingesetzt (vgl. Erll/Gymnich 2007: 119ff.).

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von Unhöflichkeit sind schon häufig beschrieben und analysiert worden: 5 Der deutsche Kommunikationsstil wird in Frankreich tendenziell als aggressiv und belehrend wahrgenommen und einer alles umfassenden Ernsthaftigkeit und Sachorientierung zugeschrieben, während Franzosen in Deutschland einerseits als oberflächlich und eitel gelten, andererseits aber für ihren lockeren Gesprächsstil und ihr Savoir-vivre, d.h. ihre Fähigkeit, das Leben zu genießen, bewundert werden. Die Grundlage für diese gegenseitige Fremdwahrnehmung legte Germaine de Staël mit ihrem Buch De l’Allemagne (1810), in dem sie, in der Absicht, ihren Landsleuten Deutschland zu erklären, eine Fülle von kulturellen Unterschieden zwischen Deutschland und Frankreich beschrieb und auch die Kommunikationsstile miteinander verglich: „Dans toutes les classes, en France, on sent le besoin de causer: la parole n’y est pas seulement comme ailleurs un moyen de se communiquer ses idées, ses sentiments et ses affaires, mais c’est un instrument, dont on aime à jouer […]. Les idées et les connoissances qu’on peut y développer n’en sont pas le principal intérêt ; c’est une certaine manière d’agir les uns sur les autres, de se faire plaisir réciproquement, […] de manifester son esprit par l’accent, le geste, le regard, enfin de produire à volonté comme une sorte d’électricité qui fait jaillir les étincelles. Rien n’est plus étranger à ce talent que le caractère et le genre d’esprit des Allemands; ils veulent un résultat sérieux en tout […]. [Ils] donnent à chaque chose le temps nécessaire, mais le nécessaire en fait de conversation c’est l’amusement ; si l’on dépasse cette mesure l’on tombe dans la discussion, dans l’entretien sérieux, qui est plutôt une occupation utile qu’un art agréable. […] Ils n’entendent pas un mot sans en tirer une conséquence et ne conçoivent pas qu’on puisse traiter la parole en art libéral qui n’a ni but ni résultat que le plaisir qu’on y trouve.“ (De Staël 1958: 160-161)

Die Konversation als Kunst des geselligen Plauderns auf der einen Seite und die ernsthafte, zielgerichtete Unterhaltung auf der anderen – diese von Germaine de Staël aufgestellten Gegensätze haben die Vorstellungen vom Kommunikationsstil in Frankreich und Deutschland nachhaltig geprägt und wirken bis heute fort. Welche Art von Missverständnissen durch diese Gegensätze hervorgerufen werden können, dazu äußert sich die Autorin allerdings nicht. Sie beschreibt die Normen der höflichen Konversation ausschließlich im gesellschaftlichen Rahmen der jeweiligen Kultur und geht auf Probleme der interkulturellen Kommunikation zwischen Deutschen und Franzosen nicht ein. Ihr geht es vor allem darum, die unterschiedlichen Zielvorstellungen und gesellschaftlichen Umgangsformen zu beschreiben, die den Kommunikationsstil in Deutschland und Frankreich bestimmen, und auf die Traditionen zu verweisen, die die jeweiligen Verhaltensmuster geprägt haben. Konversation als eine Kunst zu begreifen, hat in Frankreich eine lange Tradition. In keinem europäischen Land ist so intensiv über die Kunst des geselligen Gesprächs nachgedacht und geschrieben worden wie in Frankreich. 6 Entwickelt wurde diese Kunst in der höfischen Kultur des 17. und 18. Jahrhunderts. In den Salons, in denen 5 6

Zu deutsch-französischen Missverständnissen und Zuschreibungen vgl. Durand 2002, Hall/Hall 1984, Röseberg 2001, Schumann 2008a, 2008b, Tiemann 1985. Vorbild für die französische Diskussion über die Kunst der Konversation war die italienische Abhandlung Civil conversazione des Stefano Guazzo, die 1579 ins Französische übersetzt wurde (vgl. Fumaroli 1984, Schmölders 1986, Schumann 2008a, Strozetzki 2013).

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sich Aristokraten, Intellektuelle und Literaten sowie Mitglieder der Großbourgeoisie zum regelmäßigen geselligen Gedankenaustausch trafen, wurde sie zu höchster Vollendung entwickelt. Gastgeberin und Organisatorin eines Salons war in der Regel eine gebildete Aristokratin, wie z.B. Madame de Rambouillet, Madame de Scudéry oder Madame Lambert. Sie lud in ihr Stadthaus ein und war für die Zusammensetzung der Gäste und das kulturelle Programm in Form von literarischen Lesungen, philosophischen Diskussionen oder musikalischen Darbietungen verantwortlich. Eines der zentralen Themen der Salongesellschaften war die französische Sprache, ihre spezifische Struktur und ihr regelkonformer, höflicher Gebrauch im täglichen Leben. Als „bon usage“, ein von Favre de Vaugelas in seinen Remarques sur la langue française (1647) geprägter Begriff, wurde das von „cour“ und „ville“, von höfischer Aristokratie und gehobener Bourgeoisie verwendete Französisch zum gesellschaftlichen Modell erhoben. Dabei ging es einerseits um die Beachtung der Regeln der „bienséance“ (Anstand) und des „goût“ (Geschmack), d.h. der Angemessenheit und Stilsicherheit der Rede unter Beachtung des gesellschaftlichen Kontextes wie z.B. sozialer Rang, Alter oder Geschlecht der Gesprächsteilnehmer. Andererseits sollte die Konversation den Regeln des geselligen und unterhaltsamen Gedankenaustauschs genügen: Sie sollte geistreich sein, Freude bereiten und die Gesprächsteilnehmer in Heiterkeit vereinen, wobei das Spiel mit Worten und der Einsatz von Esprit und Witz in Form geistreicher Bonmots bevorzugte Techniken der gegenseitigen Erheiterung darstellten. 7 Der Höflichkeitskodex, der in den Werken über die Kunst der Konversation festgeschrieben wurde, stützte sich vornehmlich auf Verfahren, die man in der heutigen Höflichkeitsforschung als „face-work“ bezeichnen würde, d.h. es ging darum, das Selbstwertgefühl und die Zufriedenheit der Gesprächspartner mit Worten, Gesten und freundlicher Mimik zu stärken und durch gemeinsames Lachen und Scherzen die wechselseitige Wertschätzung zum Ausdruck zu bringen. Ziel war es, auf diese Weise ein positives Gesprächsklima aufzubauen und gegenseitiges Vertrauen zu schaffen. Jean de La Bruyère definiert diese Art von Höflichkeit in Les Caractères. De la société et de la conversation (1696) folgendermaßen: „Il me semble que l’esprit de politesse est une certaine attention à faire que par nos paroles et par nos manières les autres soient contents de nous et d’eux-mêmes.“ (La Bruyere 1696: 32)

Als im Verlauf des 18. Jahrhunderts die Aristokratie schrittweise ihre Geltungsmacht verlor und das Bürgertum in Fragen des gesellschaftlichen Umgangs tonangebend wurde, veränderten sich die Höflichkeitsideale, und an die Stelle einer strengen Reglementierung der Konversation traten Bestrebungen nach mehr Natürlichkeit und Wahrhaftigkeit. 8 Man wollte seine Gefühle zeigen, seine Individualität zum Ausdruck bringen und die Künstlichkeit der höfischen Umgangsformen überwinden. Mit moralischen Wochenzeitschriften wie z.B. The Spectator oder The Tatler (vgl. Schröter 2011: 137-138) gelangte das Ideal von familiärer Zwanglosigkeit und Freundschaft aus England nach Frankreich und veränderte Inhalte und Formen der französi7 8

Zu Witz und Geist in der französischen Konversation vgl. Schumann 2008a. Auf die Entwicklung der Höflichkeit in der Kommunikation im 18. und 19. Jahrhundert gehen insbesondere Schmölders 1986 und Schröter 2011 ein.

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schen Konversation. Dennoch blieben die in der Epoche der Salonkultur gelegten Grundvorstellungen von Wesen und Funktion des geselligen Gesprächs als einem Instrument des gesellschaftlichen Zusammenhalts erhalten, und das Bewusstsein, dass die Sprache und der adäquate Umgang mit ihr ein hohes Kulturgut darstellen, das der permanenten Pflege bedarf, gehört in Frankreich bis in die heutige Zeit zu den Gewissheiten der kulturellen Identität. So konnte sich die „conversation à la française“ im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts zu einem französischen „lieu de mémoire“, einem Erinnerungsort, entwickeln und damit zu einem Grundpfeiler des kollektiven Selbstverständnisses und Selbstwertgefühls werden (vgl. Fumaroli 1984). Charakteristisch für den französischen Kommunikationsstil sind seine dominante Personenorientierung und die häufige Verwendung von Komplimenten, die Freude am schnellen und lebhaften Gedankenaustausch, das Spiel mit der Sprache und das Bedürfnis nach Gemeinsamkeit im Lachen. Raymonde Carroll (1987) fasst diese Besonderheiten in fünf Schlüsselbegriffen zusammen: • • • • •

participation: das Herstellen von Gemeinsamkeit und die Beteiligung aller am Gespräch, intérêt: das Beweisen lebhafter Anteilnahme und gegenseitigen Interesses, esprit: die Freude an der geistreichen Zuspitzung eines Gedankens, vitalité: der Ausdruck eigener Lebensfreude und der Wunsch, sich aktiv ins Gespräch einzubringen, plaisir: die Freude am gemeinsamen Vergnügen. 9

Auch wenn die französische Kultur des 17. Jahrhunderts in ganz Europa als Vorbild galt und auch an den deutschen Fürstenhöfen, insbesondere am preußischen Königshof, bewundert und imitiert wurde, so konnte die Kunst der Konversation in Deutschland jedoch niemals die gleiche Aufmerksamkeit erlangen wie in Frankreich. Zwar gab es eine Reihe von Handbüchern für die politische und die gesellige Kommunikation, 10 in denen das französische Vorbild gepriesen wurde, und es gab auch bereits in der Barockzeit Sprachgesellschaften, die sich der Pflege der deutschen Sprache und dem deutschen Kommunikationsstil widmeten, 11 aber ihr Einfluss war begrenzter als in Frankreich. Alain Montandon (1991: 13) führt das auf die Tatsache zurück, dass es in Deutschland kein in Fragen der Sprachverwendung tonangebendes kulturelles Zentrum gab, das mit der Ausstrahlung von Paris und dem französischen Hof zu vergleichen wäre, sondern stattdessen viele kleinere Fürstentümer und Städte, deren kulturelle Reichweite regional begrenzt war. Hinzu kam, dass die französische Höflichkeit in Deutschland nicht nur Bewunderer hatte, sondern insbesondere im Bürgertum eher kritisch gesehen wurde. Sie galt als übertrieben, schmeichlerisch und unehrlich. 9 Zu den Charakteristika der französischen Konversation vgl. auch Schumann 2010. 10 Juliane Schröter verweist auf zahlreiche Handbücher für die politisch-höfische und die gesellige Kommunikation, u.a. von Christian Weise, Christian Thomasius, August Friedrich Müller, Christian Georg von Bessel, Georg Philipp Harsdörfer (vgl. Schröter 2011: 120ff.). 11 Nach dem Vorbild der italienischen Accademia della crusca (Florenz 1582) wurden in Deutschland zahlreiche Sprachgesellschaften gegründet: Heidelberger Dichterkreis, Fruchtbringende Gesellschaft, Königsberger Kreis, Teutsch gesinnte Genossenschaft, Elbschwanenorden, Aufrichtige Tannengesellschaft u.a.

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Diese Vorstellung verstärkte sich im 18. Jahrhundert, als sich im Zuge der Aufklärung das Ideal der Offenheit und Wahrhaftigkeit in allen deutschsprachigen Ländern durchzusetzen begann, und schließlich erfolgte zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der Zeit des nationalen Aufbruchs während der Befreiungskriege gegen Napoleon eine bewusste Distanzierung von der französischen Kultur und Lebensform (vgl. Schröter 2011: 141). Schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts konnte man im deutschsprachigen Kulturraum erste Anzeichen für eine Aufwertung der Offenheit in der Kommunikation feststellen. Christian Friedrich Hunold spricht in seiner Konversationslehre (1707/13) 12 davon, dass in der geselligen Unterhaltung ein „aufrichtiges Vertrauen“ zwischen den Gesprächspartnern hergestellt werden sollte. Andere Autoren von Sprach- und Kommunikationsbüchern wie Johann Rist und Phillip von Zesen (vgl. Schröter 2011: 139) heben Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit als zentrale Merkmale einer gelungenen Unterhaltung hervor und verweisen dabei auf die bereits von Tacitus gerühmte germanische Wahrhaftigkeit, die bei allen sozialen Kontakten immer schon eine zentrale Rolle gespielt habe. Die Höflichkeit geriet zunehmend in den Verdacht der Verstellung und Unehrlichkeit. „Im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist!“, lässt Johann Wolfgang von Goethe den Baccalaureus im Faust II (2. Akt/Studierzimmer) sagen und greift damit die zu seiner Zeit gängige Kritik an einer auf Anpassung und Schmeichelei ausgerichteten Höflichkeit auf (vgl. Weinrich 1986). Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit wurden, wie Juliane Schröter in ihrer auf der Grundlage von deutschsprachigen Konversations- und Anstandsbüchern breit angelegten Studie zur Offenheit als Kommunikationsideal nachweisen konnte (vgl. Schröter 2011), seit Ende des 18. Jahrhunderts im deutschsprachigen Kulturraum sogar als höherwertig erachtet als Höflichkeit, wobei unter Höflichkeit vor allem das höfische „face-working“ der Barockzeit gemeint war, das einem engen Regelkanon gehorchte und Natürlichkeit und Offenheit nicht zuließ. Erst Freiherr Adolph von Knigge gelangte mit seinem Anstandsbuch Über den Umgang mit Menschen (1788) durch seine Regeln zur „wahren Kunst der Beredsamkeit“ zu einem Ausgleich zwischen dem Gebot der Offenheit und dem der Höflichkeit. Einerseits empfiehlt er, „stets wahrhaftig zu sein in seinen Reden“ (11) 13 und „Lehrreiches und Verbindliches zu sagen“ (16), d.h. bedeutsame Gesprächsinhalte zu wählen und „leeres Geschwätz“ (16) zu vermeiden, andererseits spricht er sich aber auch für ein gewisses Maß an Anpassung aus („Lerne den Ton der Gesellschaft annehmen, in welcher Du Dich befindest“ [22]) und hält das Amüsement mithilfe von Witzen, Komplimenten und der Verbreitung von guter Laune für unabdingbar für eine gesellige Konversation. Für den Freiherrn von Knigge stellten Wahrhaftigkeit und Höflichkeit keine Gegensätze dar, vielmehr glaubte er, individuellen Stil und Offenheit mit einem beziehungsorientierten Eingehen auf den Gesprächspartner durchaus miteinander verbinden zu können: „Ein großes Talent, und das durch Studium und Aufmerksamkeit erlangt werden kann, ist die Kunst, sich bestimmt, fein, richtig, kernig, nicht weitschweifig auszudrücken, lebhaft im Vor12 Christian Friedrich Hunold veröffentlichte unter dem Pseudonym „Menantes“: Von der Conversation (1707/13). 13 Die Ziffern in Klammern beziehen sich auf die von Knigge durchnummerierten Regeln.

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trage zu sein, sich dabei nach den Fähigkeiten der Menschen zu richten, mit denen man redet, sie nicht zu ermüden, gut und launig zu erzählen, nicht über seine eigenen Einfälle zu lachen, nach den Umständen trocken oder lustig, ernsthaft oder komisch seinen Gegenstand darzustellen und mit natürlichen Farben zu malen.“ (Knigge 1788: 43)

Das Anstandsbuch des Freiherrn von Knigge hatte in Deutschland so großen Erfolg, dass das Werk unzählige Auflagen erlebte und vielfach imitiert wurde. Bis in die heutige Zeit zählt es zu den Standardwerken der Anstandsliteratur für die bürgerliche Gesellschaft. Man kann davon ausgehen, dass die Empfehlung des Freiherrn, in der Konversation sowohl individuelle Offenheit als auch soziale Beziehungspflege gleichwertig zu praktizieren, große Beachtung fand und ernst genommen wurde. Dennoch wurde das Gebot der Offenheit und Wahrhaftigkeit in der Gesellschaft immer als vorrangig erachtet (vgl. Schröter 2011: 149ff.). Für die weitere Entwicklung des deutschen Kommunikationsstils sollte sich diese Prioritätensetzung von Offenheit und Wahrhaftigkeit zusammen mit Individualität und Natürlichkeit als richtungsweisend herausstellen. Unter Höflichkeit in der geselligen Konversation wird in Deutschland und Frankreich, wie der kurze Rückblick auf die Traditionen der Gesprächskulturen in beiden Ländern und ihre Entwicklungen bis in die heutige Zeit gezeigt hat, etwas sehr Unterschiedliches verstanden. Das liegt vor allem an einer differenten Gesprächsorientierung. Während in der französischen Konversation der Kontaktaufbau und die Beziehungspflege im Vordergrund stehen und zunächst eine angenehme Gesprächsatmosphäre geschaffen werden sollte, bevor es um Inhalte gehen kann, ist der deutsche Gesprächsstil durch Sachorientierung gekennzeichnet, d.h. Gesprächsthemen werden ohne Umschweife angesprochen und man ist bemüht, sich dem Inhalt mit Offenheit und großer Ernsthaftigkeit zu widmen, wobei das Vertreten einer eigenen Meinung und die Verwendung eines individuellen Sprachstils erwartet werden und auch direkte Kritik zur Sprache kommen kann. Diese differente Gesprächsorientierung hat Auswirkungen auf alle Bereiche der Kommunikation, insbesondere auf die Diskurskonventionen, und führt zu sehr unterschiedlichen Höflichkeitserwartungen in Deutschland und Frankreich, was in der interkulturellen Kommunikation Missverständnisse und Irritationen zur Folge haben kann. Die größte Differenz besteht im Gesprächsstil. In Frankreich wird ein indirekter, eher impliziter Gesprächsstil bevorzugt, während man in Deutschland eine sehr direkte und offene Art der Gesprächsführung gewohnt ist. 14 Diese direkte und explizite Art zu kommunizieren wirkt auf französische Interaktionsteilnehmer häufig recht grob, weil ihnen die personenbezogene Einbettung der Inhalte fehlt. Auch erscheint es ihnen unhöflich, geradeheraus zu sagen, was man denkt und offen Kritik zu üben. In der französischen Kommunikation, wo dank zahlreicher informeller Netze ein hohes Maß an geteiltem Wissen existiert, man also von einem „high context“, einem dichten Informationsnetz, ausgehen kann, 15 bedient man sich im Fall von Kritik eher versteckter Anspielungen oder Ironisierungen. Umgekehrt haben die Deutschen 14 Zum Vergleich zwischen dem deutschen und dem französischen Gesprächsstil vgl. Schumann 2010. 15 Die Begriffe des „high context“ und „low context“ wurden von Edward Hall geprägt (vgl. Hall/Hall 1984).

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Probleme mit der indirekten und impliziten Ausdrucksweise der Franzosen, bei denen manches nur angedeutet und der Interpretation des Gegenübers überlassen wird, denn sie sind es nicht gewohnt, das Gesagte im Geiste zu ergänzen und die Leerstellen auszufüllen. Dazu fehlt ihnen, die in einer „low-context“-Kultur zu Hause und deshalb auf eine explizite Kontextualisierung von Hintergründen angewiesen sind, in der Regel auch das geteilte Wissen und das Informationsnetz, das man dazu benötigt. Deshalb bleibt ihnen vieles unklar und sie ärgern sich über den Mangel an Explizitheit bei den Franzosen. Dabei spielt auch der Gebrauch nonverbaler Signale eine nicht zu unterschätzende Rolle. Während die französischen Sprecher ihre Reden mit Gestik und Mimik begleiten, die das Gesagte unterstützen und zahlreiche Hinweise auf die intendierte Botschaft des Redebeitrags enthalten, gehen deutsche Interaktionspartner mit nonverbalen Signalen eher sparsam um. Die gesamte Botschaft ihres Redebeitrags wird dem Wort anvertraut. Davon fühlen sich französische Gesprächspartner häufig überfordert. Längere Redebeiträge werden als schwerfällig empfunden. Außerdem verstoßen sie gegen das Gebot der „participation“, des raschen Wechsels der Redebeiträge und der Teilnahme aller am Gespräch. Deutsche Gesprächspartner haben ihrerseits Probleme damit, die nonverbalen Signale ihres Gegenübers zu deuten, und häufig beachten sie sie gar nicht, weil sie keine Botschaft in ihnen vermuten. Auch bei den Gesprächsstrategien lassen sich deutliche Unterschiede erkennen, die auf die grundlegend differente Gesprächsorientierung zurückzuführen sind. Während in Frankreich eher adressatenbezogen kommuniziert wird, verläuft die deutsche Konversation vorwiegend sprecherorientiert. Das lässt sich u.a. am Gebrauch von Routineformeln ablesen. Im Französischen gibt es eine Fülle von Ausdrücken und Routineformeln, die in Form der direkten Anrede Personenorientierung signalisieren: „si vous voulez“, „vous comprenez“, „tu sais“, „tu comprends“, „écoutez“ etc. Durch diese Ausdrücke wird die direkte Bezugnahme auf den Gesprächspartner immer wieder aktualisiert. Im Deutschen sind Routineformeln sehr viel seltener, 16 denn eine individuelle Ausdrucksweise gilt als authentisch und natürlich. Stattdessen findet man aber eine Fülle von Abtönungspartikeln, die dem Gesagten eine subjektive Färbung geben und die sprecherbezogene Aussage im Sinne von Bekräftigung, Abschwächung, Zweifel etc. modulieren: ‚doch‘, ‚schon‘, ‚vielleicht‘, ‚aber‘, ‚wohl‘. Ludwig Söll hat festgestellt, dass in deutschen mündlichen Texten etwa zehnmal mehr Abtönungspartikel verwendet werden als in französischen, ein deutlicher Beleg für die höhere Sprecherorientierung in der deutschen Konversation (vgl. Söll/Hausmann 1985: 162ff.). Dem deutschen Sprecher geht es vor allem darum, sich und seine Persönlichkeit in das Gespräch einzubringen und dabei offen und ehrlich zu wirken, während dem französischen Sprecher die Herstellung von Gemeinsamkeit im Gespräch wichtiger ist. Das zeigt sich auch bei dem Aufbau von Gesprächssequenzen und dem Sprecherwechsel. In der französischen Kommunikation ist man bestrebt, den Sprecherwechsel so schnell und so häufig wie möglich zu realisieren. Man kommentiert lebhaft die Aussagen der anderen, verleiht seiner Bewunderung oder seinem Erstaunen 16 Bei ihrer vergleichenden Untersuchung zu Routineformeln im Deutschen und im Englischen kommt Juliane House auch zu dem Ergebnis, dass im Deutschen deutlich weniger Routineformeln gebraucht werden (vgl. House 1993).

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laut Ausdruck und macht dabei reichlich Komplimente, fällt sich gegenseitig ins Wort, um sein Interesse zu bekunden und lässt auf keinen Fall eine Pause entstehen. In der Kommunikation unter Deutschen ist das ganz anders. Es gilt als unhöflich, jemanden nicht aussprechen zu lassen, das Rezipientenverhalten ist deutlich dezenter (‚hm‘, ‚ja‘, ‚aha‘) und alle sind um einen geregelten und fairen Gesprächsablauf bemüht, bei dem jeder zu Wort kommt. In der interkulturellen Kommunikation zwischen Franzosen und Deutschen führen diese Differenzen unweigerlich zu Konflikten. Für deutsche Gesprächsteilnehmer ist es schwierig, die französischen Regeln des Sprecherwechsels zu durchschauen. Zwar gibt es eine große Anzahl von Gliederungssignalen, die die Gesprächssequenzen markieren – „alors“, „eh bien“, „enfin“, „quoi“, „hein“ – und damit Anfang und Ende eines Redebeitrags zu erkennen geben (vgl. Söll/Hausmann 1985), doch sie sind im lebhaften Hin und Her der Redebeiträge für jemanden, der nicht im französischen Sprachraum sozialisiert wurde, nur schwer zu erkennen, und so wird sich der deutsche Interaktionsteilnehmer nach kurzer Zeit resigniert zurückziehen, weil es ihm nicht gelingt, sich in den Gesprächsablauf einzufädeln. Im Deutschen läuft der Sprecherwechsel linear und ‚monochron‘ ab, d.h. einer spricht nach dem anderen und man wartet ab, bis der Vorredner zu Ende ist, ein Verfahren, das französischen Gesprächsteilnehmern langwierig und ermüdend vorkommt. In der französischen Konversation sind dagegen ‚polychrone‘ Gesprächsverläufe die Regel. Die Sprechbeiträge überlappen sich, alle reden gleichzeitig und genießen die Freude an der gemeinsamen Geselligkeit. Dass ein solches Ins-WortFallen von deutschen Gesprächsteilnehmern als grobe Unhöflichkeit gewertet wird, versteht sich von selbst. Schließlich soll noch ein Blick auf die Gesprächsthemen geworfen werden. Da sowohl in Frankreich als auch in Deutschland Privatleben und Berufsleben in der Regel sorgfältig voneinander getrennt werden, gibt es in beiden Gesellschaften ähnlich ritualisierte und tabuisierte Gesprächsthemen. Man spricht in der geselligen Konversation nicht über Geld oder über Krankheit und Tod, man spricht vielmehr über gesellschaftliche und politische Themen, über Bildung und Kultur oder über Sport. Kulturelle Unterschiede sind dagegen in der Art und Weise festzustellen, wie über diese Themen gesprochen wird. Das Gebot der „participation“ in der „conversation française“, die Teilnahme aller am Gespräch und der schnelle Sprecherwechsel, führen dazu, dass die Gesprächsthemen nicht ausführlich erörtert, sondern eher allgemein behandelt werden und dass es vor allem darum geht, sich gegenseitig zu unterhalten und zu amüsieren. Dazu gehört auch ein gut platziertes Bonmot, das die Gesprächsrunde im Lachen vereint. 17 Die Kunst des geistreichen Scherzens kann geradezu als Motor der geselligen Konversation in Frankreich angesehen werden. Sie ist ein Erbe der Salonkultur und zeugt von der ungebrochenen Freude der französischen Gesellschaft am Spiel mit den Worten und den Doppeldeutigkeiten ihrer Sprache. In der deutschen Konversation bestimmen das Gebot der Wahrhaftigkeit und Offenheit sowie das Bedürfnis nach einem individuellen Gesprächsstil den Umgang mit den Gesprächsthemen. Die Qualität des Gesprächs wird, wie Dorothee Röseberg betont (vgl. Röseberg 2001: 163), an der Fülle und Tiefe der ausgetauschten Informationen gemessen. Man diskutiert, vertritt unterschiedliche Meinungen, widerspricht 17 Zur Rolle des Bonmot in der französischen Konversation vgl. Fumaroli 1984, Schmölders 1986, Schumann 2008a.

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sich gegenseitig oder tritt in einen Wettstreit um die besten Argumente und vertieft sich auf diese Weise gemeinsam in den Gesprächsgegenstand, bis man ihn von den verschiedensten Seiten beleuchtet hat. Dabei ist es keineswegs notwenig, einen Konsens zu finden, es geht, anders als in der französischen Konversation, primär nicht um die Erfahrung von Gemeinsamkeit in der Kommunikation, sondern darum, seine Meinungen auszutauschen und sich dabei gegenseitig besser kennen und einschätzen zu lernen. Der Vergleich zwischen französischen und deutschen Höflichkeitsnormen in der Konversation zeigt, in wie starkem Maße gesellschaftliche Zielsetzungen und Orientierungen das Gesprächsverhalten bestimmen. Der geselligen Konversation wird in beiden Kulturen eine andere gesellschaftliche Funktion zugewiesen; dies hat Auswirkungen auf die Höflichkeitsstrategien. Die Frage, wie sich vor diesem Hintergrund Höflichkeit in der interkulturellen Kommunikation zwischen Deutschen und Franzosen realisieren lässt, erscheint also durchaus berechtigt, jedoch zeigen die Erfahrungen eines seit den 1960er Jahren 18 in der politischen Öffentlichkeit und auf allen sozialen Ebenen durchgeführten permanenten Dialogs zwischen Interaktionspartnern aus beiden Kulturen, dass das durchaus funktionieren kann. Grundlage dafür ist zunächst einmal die Erkenntnis, dass Höflichkeitsnormen relativ und kulturabhängig sind, d.h. man darf die eigenen Normen nicht unreflektiert auf das Verhalten des Gesprächspartners anwenden, sondern muss dessen Verhalten sensibel beobachten, ohne vorschnelle Schlüsse zu ziehen. Andererseits ist es notwendig, sich Wissen über die spezifischen Formen von Höflichkeit anzueignen, die in der anderen Kultur im Rahmen eines geselligen Gesprächs üblich sind, um die grundlegende Gesprächsorientierung verstehen und akzeptieren zu können. Dann kann Höflichkeit der jeweiligen Situation entsprechend neu ausgehandelt werden und zum Gelingen der interkulturellen Kommunikation beitragen.

L ITERATUR Abdallah-Pretceille, Martine/Porcher, Louis (1999): Diagonales de la communication interculturelle, Paris: Anthropos. Blum-Kulka, Shoshana (2002): „Fragen der Anwendung und Vergleichbarkeit von Höflichkeit im familialen Diskurs. Eine interkulturelle Betrachtung“, in: Brigitte Felderer/Thomas Macho (Hg.): Höflichkeit. Aktualität und Genese von Umgangsformen, München: Wilhelm Fink Verlag, S. 237-252. Brown, Penelope/Levinson, Stephen (1987): Politeness. Some Universals in Language Usage, Cambridge: University Press. Carroll, Raymonde (1987): Evidences invisibles. Américains et Français au quotidien, Paris: Seuil. Durand, Béatrice (2002): Cousins par alliance. Les Allemands en notre miroir, Paris: Édition Autrement. 18 Der Deutsch-Französische Freundschaftsvertrag von 1963 hat dank der Städte- und Universitätspartnerschaften sowie der Aktivitäten des Deutsch-Französischen Jugendwerkes zu zahlreichen Begegnungs- und Austauschsituationen in allen Bevölkerungsschichten Deutschlands und Frankreichs geführt.

H ÖFLICHKEIT

IN DER INTERKULTURELLEN

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Deutsch-französische Fremderfahrungen und interkulturelle Selbstreflexion in und mit Medien C HRISTOPH V ATTER

Reisen bildet – für diese Feststellung müssen heute nicht mehr Geistesgrößen wie Kant oder Goethe bemüht werden, ein historischer Exkurs in die Geschichte der Bildungsreisen ist ebenfalls kaum vonnöten; sie zählt vielmehr zum festen Repertoire der Floskeln und Slogans der Reiseliteratur und der Tourismusindustrie. Auch die Erkenntnis, dass eine Reise und die Begegnung mit dem Fremden immer auch eine Reise zu sich selbst, eine Veränderung des Eigenen mit sich bringt, ist nicht erst seit dem Bestseller eines deutschen Komikers und Showmasters über seine Pilgerwanderung auf dem Jakobsweg bekannt (Kerkeling 2006), sondern verhalf dem Thema lediglich zu einer großen Popularität und Aktualität in Deutschland und animierte viele Menschen dazu, es ihm nachzutun. Auch das Auswandern oder andere Formen zeitlich begrenzter Auslandsaufenthalte erfreuen sich großer Beliebtheit in den Medien, die beispielsweise in Fernsehformaten wie GOODBYE DEUTSCHLAND! DIE AUSWANDERER (VOX, seit 2006), AUF UND DAVON – MEIN AUSLANDSTAGEBUCH (VOX, seit 2007), MEIN NEUES LEBEN (Kabel eins, seit 2006) 1 und anderen, sogenannten Dokusoaps, Menschen mit der Kamera begleiten, die Deutschland mit ihrer Familie auf Dauer verlassen oder für längere Zeit Erfahrungen sammeln und das ‚Abenteuer Ausland‘ erleben möchten. In den Sendungen werden die Protagonisten in der Fremde von einem Kamerateam begleitet, das die Mühen des Neuanfangs dokumentiert, vor allem aber die emotionalen Herausforderungen und Probleme dieser Umbruchsphase in den Vordergrund stellt. Trotz der weiten Verbreitung und der medialen Präsenz der Themen Reisen, Auslandsaufenthalte und Auswanderung sowie der Erkenntnis, dass Fremderfahrungen auf das Eigene zurückwirken, bleibt dieser Zusammenhang in den Bereichen Schule und Hochschule noch relativ unbearbeitet. Es liegen zwar bereits einige einschlägige Studien zu Schüleraustausch und Auslandsstudium (z.B. Thomas/Chang/Abt 2007, Ehrenreich/Woodman 2008, AFS 2006, Nothnagel 2010, Cushner/Karim 2004,

1

Neben diesen auf Unterhaltung ausgerichteten, mit stark dramatisierender Absicht inszenierten Produktionen privater Fernsehsender finden sich auch zahlreiche Beispiele im öffentlich-rechtlichen Programm, z.T. mit differenzierter Darstellung, sowie als wiederkehrende Themen anderer Reportage-Formate wie Spiegel TV oder Stern TV.

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Byram/Feng 2006) 2 und erste methodisch-didaktische Überlegungen und Handreichungen (Hiller/Vogler-Lipp 2010, Vatter/Zapf 2012, Schumann 2012, Weidemann/ Straub/Nothnagel 2010) vor, diese fokussieren jedoch häufig auf Gruppenaustausch oder Vor- und Nachbereitungskurse, während (Selbst-)Reflexion und die emotionale Dimension von Fremderfahrungen, die vor allem beim individuellen Austausch zentral ist, in den Methodenbeispielen kaum explizite Berücksichtigung finden. Trainingsmaßnahmen werden in erster Linie zur Vor- und Nachbereitung eines Auslandsaufenthalts konzipiert – natürlich nicht zuletzt aus praktischen und organisatorischen Gründen, während es für die interkulturelle Betreuung und Begleitung junger Menschen während des Aufenthalts noch einen großen Bedarf an überzeugenden Konzepten gibt. Besonders für das Auslandsstudium gilt häufig noch, dass die internationale Erfahrung allein als ausreichend angesehen wird, um die daran geknüpften Erwartungen und Ziele (Schömann 2011), insbesondere in Bezug auf berufsbezogene Kompetenzen und Kenntnisse, zu erfüllen. Die Erkenntnis, dass Reisen auch mit einer Reise zu sich selbst verknüpft ist und die Begegnung mit dem Fremden auf Eigenes zurückwirkt, und dass die intensive Selbstreflexion von Fremderfahrung zentral für interkulturelle Lernprozesse ist, könnte daher zu den Bereichen zählen, die Michael Byram (2008: 20-21) als „tacit assumptions“ der Austauschforschung zu Auslandsaufenthalten in Schule und Universität bezeichnete, die man zwar als selbstverständlich hinnehme, die aber in der Forschung bislang ziemlich vernachlässigt werden. Dorothee Röseberg hat insbesondere für den deutsch-französischen Kontext immer wieder darauf hingewiesen, dass in der kulturwissenschaftlichen, interkulturell orientierten Romanistik empirische Untersuchungen sowie die systematische, wissenschaftlich fundierte Einbindung von Fremderfahrungen (bei Auslandsaufenthalten) Studierender in die Hochschullehre weitgehend ein Desiderat bleiben und das Potenzial des Gegenstandsbereichs für die disziplinenübergreifende Zusammenarbeit, das der interkulturellen Kommunikationsforschung insgesamt innewohnt, bislang unzureichend genutzt wird (Röseberg/Wolfradt 2014: 58). Daran anschließend soll im Folgenden ein Ansatz zur Förderung interkultureller Selbstreflexion und interkulturellen Lernens in schulischen und universitären Auslandsaufenthalten vorgeschlagen werden, bei dem die Arbeit mit Medien, insbesondere dem Film, im Zentrum steht. Die vorgestellten Methoden können in vielen akademischen Disziplinen eingesetzt und auch auf andere Anwendungsbereiche übertragen werden. Die folgenden Ausführungen sind aber auch als Anregung für eine kulturwissenschaftlich und interkulturell ausgerichtete Romanistik zu verstehen. Denn die Arbeit mit Medien vermag eine Brücke zu schlagen zwischen einem traditionellen, text- und medienbezogenen Kulturverständnis auf der einen Seite, das z.B. für die Analyse von Filmen und anderen Medien vorherrschend ist, und einem „handlungstheoretischen Kulturverständnis“ (Röseberg 2005: 71) auf der anderen Seite, das die Praxisrelevanz von Kultur und die interkulturelle Zusammenarbeit in den Fokus nimmt. Thematisches Bindeglied zwischen beiden sind die Fremderfahrungen, Kulturbegegnungen und interkulturellen Fremdwahrnehmungsprozesse – kurz: Gegenstandsbereiche der Xenologie –, die einerseits in einer analytisch-externalisierten Dimension von Fremdheit in media2

Vgl. insbesondere auch die seit 1995 erscheinende einschlägige Zeitschrift Frontiers: The Interdisciplinary Journal of Study Abroad (http://frontiersjournal.org/).

D EUTSCH - FRANZÖSISCHE F REMDERFAHRUNGEN

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len Repräsentationen wie Filmen und andererseits in individuellen Erfahrungen und deren kreativ-produktiver Bearbeitung mit Medien präsent sind. In einem ersten Schritt wird im Folgenden der Zusammenhang zwischen Fremderfahrung und interkulturellem Kompetenzerwerb vor allem am Beispiel deutschfranzösischer Studiengänge diskutiert. Im Anschluss sollen Perspektiven des interkulturellen Lernens skizziert werden, indem die Analyse der medialen Repräsentation von Austausch und interkultureller Begegnung einerseits und die Analyse der praktischen Arbeit mit Medien zur Förderung der Selbstreflexion der Lerner andererseits verbunden werden. Dabei liegt der Fokus auf der Förderung der Selbstreflexion im Rahmen von Auslandsaufenthalten, insbesondere in deutsch-französischen Studiengängen.

F REMDERFAHRUNG UND INTERKULTURELLES DEUTSCH - FRANZÖSISCHEN S TUDIENGÄNGEN

L ERNEN

IN

Die interkulturelle Kommunikationsforschung unterstreicht, dass der bloße Kontakt zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen nicht automatisch auch zur Ausbildung und Verbesserung interkultureller Kompetenzen führt. Vielmehr können Auslandsaufenthalte sogar vorhandene Stereotype und Vorurteile im Sinne sich selbst bestätigender Erwartungen verstärken. Nicht nur die zwischenmenschliche Interaktion, sondern auch das Wissen über interkulturelle Kommunikationsprozesse und Interkulturalität ist daher ein wesentlicher Faktor für das interkulturelle Lernen (Grosch/Leenen 1998). Neben dem Erwerb dieser Wissensbestände, z.B. als Vorbereitung auf einen Auslandsaufenthalt, müssen aber auch die affektive Seite interkultureller Interaktion und die Selbstreflexion über das Erlebte berücksichtigt werden. Interkulturelle Kompetenz wird somit im Zusammenspiel von Begegnung, Wissen und Selbstreflexion erweitert, wie einschlägige Modellierungen des Konzepts zeigen. Es liegen zahlreiche Ansätze und Modelle vor, um den Begriff ‚interkulturelle Kompetenz‘ zu definieren und operationalisierbar zu machen. Im hier diskutierten Zusammenhang ist der Ansatz von Darla Deardorff (Bertelsmann Stiftung 2006) besonders von Belang, die ein dynamisches Modell interkultureller Kompetenz als Lernprozess entwickelt hat. Ihr Ansatz der ‚Lernspirale‘ interkultureller Kompetenz umfasst vier Komponenten, die in wechselseitiger Beeinflussung stehen: (1.) Haltungen und Einstellungen, (2.) Handlungskompetenzen wie grundlegende kommunikative und soziale Kompetenzen in der Fremdsprache als Voraussetzung für den interkulturellen Austausch, (3.) interne Wirkungen wie Reflexionskompetenz und der Rückbezug von Fremderfahrungen auf das Eigene sowie (4.) externe Wirkungen, d.h. die erfolgreiche Interaktion mit Personen aus anderen Kulturen. Da sich aus der erfolgreichen Interaktion wiederum Auswirkungen auf eigene Einstellungen und Haltungen ergeben und sich auch kommunikative Kompetenzen so weiterentwickeln können, entsteht ein offener Entwicklungs- und Lernprozess, in dem jede theoretische oder praktische Beschäftigung mit interkultureller Kommunikation zu einem Zuwachs an Erfahrung und Kompetenz beitragen kann. Das dynamische Wechselverhältnis zwischen Fremdem und Eigenem und die Selbstreflexion spielen demnach

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als Teil der internen Wirkungen interkultureller Kompetenzentwicklung eine herausragende Rolle. Im Rahmen eines studienbedingten Auslandsaufenthaltes wie in integrierten deutsch-französischen Studiengängen sind weiterhin drei verschiedene Bezugsebenen interkultureller Kompetenzen zu unterscheiden: •





Eine interkulturelle Studierfähigkeit, durch die Studierende einen Studienaufenthalt an einer ausländischen Universität erfolgreich bewältigen können. Hierzu gehören in erster Linie ein Verständnis für unterschiedliche Lehr- und Lernkulturen, studentische Arbeitsformen und akademische Anforderungen sowie Erwartungen an den Studienerfolg, der sich beispielsweise in Noten und dem Erwerb von Leistungspunkten niederschlägt. Kenntnisse über „das implizite Regelwerk der Universitäten in Deutschland und Frankreich“ (Röseberg 2013: 206), das sich über seine historische Genese, aber auch über akademische Stile im Sinne kultureller kommunikativer Stile (Bolten 2007) erschließen lässt, sind in integrierten deutsch-französischen Studiengängen Voraussetzung für ein erfolgreiches Absolvieren der Studienphase im Partnerland, deren Ergebnisse voll für den Abschluss angerechnet werden. 3 Eine deutsch-französische interkulturelle Kompetenz, die sich auf die beiden Partnerländer bezieht und über den universitären Kontext hinausgeht. Damit verbundenen sind neben guten Kenntnissen und kommunikativen Fähigkeiten in der Sprache des Partnerlandes auch die lebensweltlich-alltagsbezogene Ebene, interkulturelle Interaktionsfähigkeiten und das Ziel des erfolgreichen produktiven Transfers auf andere Bereiche, insbesondere in der Arbeitswelt im Partnerland oder einem deutsch-französisch geprägten Berufsfeld. Die Ebene transkultureller Kompetenzen, mit der die Frage der Spezifik oder Generik interkultureller Kompetenz verknüpft ist, d.h. die Frage, inwiefern interkulturelle Kompetenzen spezifisch auf einen Kulturraum begrenzt sind oder einen auf vielfältige Zielkulturen und Situationen übertragbaren allgemeinen Kompetenzbereich darstellen (Rathje 2006). Diese Ebene zielt folglich auf die Übertragung von im deutsch-französischen Studium erworbenen Kompetenzen auf die internationale Zusammenarbeit in anderen kulturellen Konstellationen ab, z.B. in der globalen Arbeitswelt multinationaler Unternehmen mit multikulturellen Teams, und ist in der Regel mit der englischen Sprache als Lingua franca verbunden.

In den skizzierten Ansätzen spiegelt sich wider, dass interkulturelle Interaktion und interkulturelle Kompetenzen mit verschiedenen Bezugsebenen verknüpft sind – von der Mikroebene des beteiligten Individuums über die Mesoebene der Institution bzw. eines spezifischen situativen Kontexts der Interaktion bis zu einer übergeordneten Makroebene der Kultur (Barmeyer 2009, Otten 2007). Ein Studienjahr im Ausland ist daher im Kontext der individuellen Erfahrungen in Bezug auf die akademischen

3

Für den deutsch-französischen Studierendenaustausch liegen hierfür bereits hilfreiche Publikationen vor, die in die jeweiligen akademischen Kulturen einführen: Durand/Neubert/ Röseberg/Viallon 2006, Schlapbach 2009, Rival/Vatter 2009.

D EUTSCH - FRANZÖSISCHE F REMDERFAHRUNGEN

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Kulturen und Gepflogenheiten sowie auf übergreifende deutsch-französische und transkulturelle Kompetenzbereiche zu betrachten. Integrierte deutsch-französische Studiengänge, wie sie unter dem Dach der Deutsch-Französischen Hochschule z.Z. (2015) für ca. 6300 Studierende in 176 Studiengängen verschiedenster Disziplinen angeboten werden, bieten ein ideales Umfeld für den Erwerb interkultureller Kompetenzen und die Erprobung interkultureller Lernszenarien. Denn die Studierenden der integrierten Studiengänge studieren in der Regel in gemischten Gruppen gemeinsam in Deutschland und in Frankreich, z.T. auch in einem dritten Partnerland, und erwerben einen binationalen Abschluss. Auch von institutioneller Seite unterstreicht die Deutsch-Französische Hochschule den ‚interkulturellen Mehrwert‘ ihrer Studiengänge für die Absolventen, der alle drei genannten Bezugsebenen umfasst. Es handelt sich bei deutsch-französischen Studiengängen also um veritable „Laboratorien der Interkulturalität“ (Lüsebrink 1997) mit einem großen Potenzial zum interkulturellen Lernen, für dessen systematische Förderung und Erschließung ein fortwährender Bedarf an neuen Konzepten und Austausch zwischen den Akteuren besteht. Der deutsch-französische Austausch in Schule und Studium, aber auch in den vielfältigen außerschulischen Jugendbegegnungen, bietet schon lange ein fruchtbares Forschungsfeld, das bis heute nicht an Aktualität verloren hat, wie beispielsweise die Neuauflage des bereits 1989 erschienenen Pionierwerks La communication interculturelle von Jean-René Ladmiral und Edmond Marc Lipiansky im Herbst 2015 zeigt. Die dort vorgestellte Arbeit mit jungen Deutschen und Franzosen im Rahmen einer Begegnung, die Methode der ‚recherche-action‘ sowie die maßgebliche Beteiligung des Deutsch-Französischen Jugendwerks gehören zu den Kerndimensionen der Erforschung und Förderung interkulturellen Lernens, zu dem mittlerweile zahlreiche Materialien 4 vorliegen, die jedoch in erster Linie in der schulischen und außerschulischen Jugendarbeit verortet sind. Für Hochschule und Studium wurden ebenfalls viele Ansätze entwickelt, um interkulturelle Lernprozesse zu fördern (Hiller/Vogler-Lipp 2010, Weidemann/Straub/ Nothnagel 2010, Bosse/Schlickau/Kreß 2011, von Helmholt/Berkenbusch/Jia 2013). Allerdings sind Anforderungen und Möglichkeiten zur Umsetzung interkultureller Lernszenarien aufgrund der Vielfalt der an deutsch-französischen Studiengängen beteiligten Disziplinen und Studiengänge – von den MINT-Fächern bis zu den Philologien – sehr unterschiedlich. Es finden sich Beispiele für umfangreiche Vorbereitungs-, Begleitungs- und Nachbereitungsmaßnahmen in Form interkultureller Trainings oder gleich auf Interkulturalität als Gegenstand abzielende Studiengänge ebenso wie reine Sprachkurse oder die Vorstellung eines sich quasi selbst organisierenden Austauschs und Lernprozesses in der Studierendengruppe. So vielfältig die Modelle und Ansatzpunkte der Studiengänge auch sind, hier sollen in erster Linie die Aspekte ‚Fremderfahrung‘ und ‚Medienarbeit‘ diskutiert werden. Denn die vorgestellten Ansätze bieten ein gewisses Transferpotenzial, auch über den universitären Kontext hinaus, und setzen an einer grundlegenden Erfahrung jedes Auslandsaufenthaltes auf individueller Ebene an.

4

Vgl. beispielsweise die Publikationen und pädagogischen Materialien des DeutschFranzösischen Jugendwerks.

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F REMDERFAHRUNGEN

IN

M EDIEN

Die eingangs genannten Beispiele verschiedener Fernsehsendungen, die Fremderfahrungen und Auslandsaufenthalte in der dramatisierenden, bisweilen auch bloßstellenden Art und Weise von Dokusoaps thematisieren, können durch viele weitere mediale Repräsentationen des Themenbereichs ergänzt werden. Vor allem fiktionale Genres wie Spiel- und Fernsehfilme inszenieren häufig interkulturelle Kommunikation und Interaktion und sind Teil unseres alltäglichen Erfahrungsraums. Die französische Kinokomödie L‘AUBERGE ESPAGNOLE (F/ES 2002, R: Cédric Klapisch) kann als prägnantes, breit rezipiertes Beispiel für eine fiktionale filmische Bearbeitung des Erasmus-Auslandsstudiums genannt werden. Sie stellt einerseits eine Art Kondensat von Erfahrungen und Erlebnissen während eines Studienaufenthalts im Ausland dar, andererseits wirkt Klapischs Film auch prägend auf die Erwartungen von Studierenden an ihr Auslandssemester, ihre ‚Erasmus-Erfahrung‘, wie sie sich beispielsweise in Blogs französischer Studierender in Deutschland widerspiegeln (Rival 2011). Es finden sich zwar in vielen Fällen, vor allem in sogenannten Culture-ClashKomödien, auch grobe Stereotypisierungen oder andere Verzerrungen; medialen Repräsentationen von Interkulturalität können aber prägende Funktionen für die Wahrnehmung interkultureller Interaktion und die eigenen Erwartungen an den Kontakt mit Angehörigen anderer Kulturen innewohnen. Filme sind in diesem Sinne besonders geeignet, um interkulturelle Erfahrungen zu analysieren und zu reflektieren, aber auch um sie als pädagogisches Material in der Vor- und Nachbereitung von Auslandsaufenthalten einzusetzen (Lüsebrink 2011: 190ff.). Auf der Ebene der Analyse interkultureller Erfahrungen ermöglichen insbesondere Dokumentarfilme über Kulturkontakt, Fremderfahrung und interkulturelle Begegnung Zugang zu authentischen Materialien – allerdings ist auch hier die fiktionale Dimension des dokumentarischen Genres zu beachten, die z.B. durch Auswahl des Gezeigten und Perspektive des Regisseurs, aber auch durch filmische Mittel wie Kameraeinstellungen und -perspektiven stets präsent ist. Fernsehsendungen und Filme als Artefakte ‚aus erster Hand‘ über die andere Kultur geben darüber hinaus einen direkten Einblick in fremdkulturelle Lebenswelten, die ggf. in interkulturellen Lernszenarien eingesetzt werden können (Gieselmann 2010) – vorausgesetzt, dass ausreichend Sprachkenntnisse und Zeit vorhanden sind. Filme können einerseits auf die interkulturelle Begegnung, häufig auch den ‚Kulturschock‘, das Scheitern interkultureller Kommunikation und Missverständnisse fokussieren, z.B. in interkulturellen Komödien, andererseits auch das individuelle Erleben der Protagonisten, den Umgang mit Fremdheit und emotionale Aspekte in den Vordergrund stellen. Filmszenen mit letzterem Schwerpunkt können im Kontext interkultureller Vor- oder Nachbereitungsmaßnahmen von Auslandsaufenthalten eine wertvolle Anregung zu Diskussion und Gespräch darstellen. Vor der Ausreise können Filme somit als attraktives Medium zur Diskussion eigener Erwartungen und Erfahrungen der Studierenden eingesetzt werden. Dokumentarfilme und Reportagen gehen oft recht sensibel auf die organisatorischen, akademischen, kulturellen und auch emotionalen Herausforderungen ein und eignen sich daher besonders dazu, Reflexionsprozesse zu initiieren und die Erwartungen der Studierenden zu diskutieren. Der französisch-kamerunische Film YAOUNDÉ – LYON: LE VOYAGE D’UNE VIE (F/CM 2014, R: Ferdinand Fokou/Ingrid Franchi) beispielsweise zeigt dies sehr anschaulich

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anhand vier kamerunischer Studierender an einer französischen Grande École. Viele Spielfilme sind dagegen von Genre-Konventionen geprägt, insbesondere Komödien, die im Korpus der Filme über Auslandsaufenthalte und Fremderfahrungen einen großen Stellenwert einnehmen. Dies gilt z.B. für die erfolgreiche Schüleraustauschkomödie FRANZÖSISCH FÜR ANFÄNGER (D/F 2006, R: Christian Ditter), die bereits im Titel ironisch mehrdeutig auf einen Sprachkurs sowie intermedial auf ähnliche Filmproduktionen wie die Comedy-Fernsehserie TÜRKISCH FÜR ANFÄNGER (ARD 20062008) verweist. Die komische Überzeichnung vieler Szenen und die dafür mobilisierten Stereotype sind offensichtlich und laden dazu ein, ihre Funktion im filmischen Kontext zu diskutieren sowie nach ihrer Rolle in einem größeren kulturellen Zusammenhang und in den individuellen Einstellungen und Erwartungen zu fragen. Über ihren Nutzen als Gesprächsanlass hinaus können Filme in interkulturellen Lernszenarien auch zur Sensibilisierung für mögliche Missverständnisse und kulturelle Unterschiede sowie zur Diskussion und Antizipation möglicher Strategien für konstruktives Handeln in interkulturellen Interaktionssituationen, sogenannten ‚Critical Incidents‘, beitragen. Interkulturelle Interaktionssituationen in Filmen 5 illustrieren zum einen häufig interkulturelle Missverständnisse und Differenzen in der Begegnung, z.B. die Begrüßung mit ‚la bise‘ oder Essgewohnheiten in FRANZÖSISCH FÜR ANFÄNGER (Lüsebrink 2011), nonverbale Kommunikation und Proxemik wie in Ridley Scotts A GOOD YEAR (2006), in dem ein Londoner Börsenmakler und ein französischer Winzer aufeinandertreffen, oder auch das Kommunikationsverhalten in multilingualen Kontexten wie in L’AUBERGE ESPAGNOLE. Zum anderen können Filme aber auch über diese recht banal erscheinenden Beispiele hinausgehen und komplexe Interaktionen zeigen. Der deutsch-französisch-spanische Spielfilm UN TAXI POUR TOBROUK (TAXI NACH TOBRUK, D/F/ES 1961, R: Denys de la Patellière) handelt beispielsweise von einer deutsch-französischen interkulturellen Begegnung im Kontext des Afrikafeldzuges im Zweiten Weltkrieg und führt verschiedene Strategien der Annäherung und Möglichkeiten der Gestaltung interkultureller Kommunikationssituationen zwischen den eingangs verfeindeten und misstrauischen Protagonisten vor Augen (Vatter 2013). Als Anregung zu Diskussion und Reflexion in Kursen und Workshops eignen sich in erster Linie Beispiele mit prinzipiell offenem Ausgang – ggf. kann dies auch durch den Abbruch einer Sequenz vor ihrer Auflösung erreicht werden. Allerdings liegen mittlerweile Modelle und Ansätze vor, um auch einfache ‚Critical Incidents‘ als Gesprächsanlass zu nutzen und durch eine vertiefte, kreative Analyse interkulturelle Lernprozesse anzuregen – und damit Transferpotenziale für die eigene Interaktion zu schaffen (Schumann 2012, Kammhuber 2000, Hiller 2009). Grundlage für die Arbeit mit Filmen in Lehrveranstaltungen oder Workshops zur Vor- oder Nachbereitung von Studienaufenthalten im Ausland sind methodische Grundkenntnisse der Filmanalyse, zu der auch technische Aspekte wie Kameraeinstellungen und -perspektiven, Montage oder die Rolle von Musik und Dialog gehören. Diese filmanalytischen Kenntnisse sind in einem Lernszenario, das die Analyse von medialen Repräsentationen von Fremdheit mit praktischer Medienarbeit verknüpft, gleichzeitig wertvolle Anregungen für die filmische Umsetzung von Fremderfahrungen der Studierenden. 5

Neben Spielfilmen liegen mittlerweile auch speziell für den didaktischen Einsatz produzierte Trainingsfilme vor.

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F REMDERFAHRUNGEN ZU O NLINEMEDIEN

MIT

M EDIEN –

VOM

R EISETAGEBUCH

Die Einsatzmöglichkeiten von Dokumentar- und Spielfilmen bzw. Trainingsvideos liegen in erster Linie in Kursen und Seminaren unter Anleitung eines Dozenten oder Trainers. Im Verlauf eines Auslandsaufenthalts muss dagegen auf andere Methoden zurückgegriffen werden, um Studierende dabei zu unterstützen, Fremderfahrung und Erleben in einen „Prozess der situativen Selbstreflexion“ (Röseberg/Wolfradt 2014: 61) zu überführen und so interkulturelle Lernprozesse zu fördern. In methodischer Hinsicht finden sich in der Literatur verschiedene Ansätze, die von Reisetagebüchern über Lernportfolios bis zu internet- und mediengestützten Ansätzen reichen. Da es bei Fremderfahrungen um sehr persönliche und emotionale Dinge gehen kann, ist die Trennung von rein privaten und vertraulichen Aufzeichnungen und auch von für andere Leser bzw. Zuschauer bestimmten Formen notwendig. Dorothee Röseberg (2013: 208) unterstreicht die Rolle des ethnografischen Schreibens für das interkulturelle Lernen und schlägt für Studienaufenthalte daher eine Kombination von Reisetagebuch und Fremderfahrungsbericht vor. Das Reisetagebuch fungiert in diesem in den interkulturell ausgerichteten Studiengängen der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg erprobten Modell als privates Medium, das dann als Grundlage für einen Fremderfahrungsbericht mit eher öffentlichem Charakter dient. Diese Berichte dienen der Auswahl und Reflexion von Erfahrungen und haben damit auch ordnende Funktion. Sie erlauben es z.B., interkulturelle Kommunikationsregeln oder Spezifika der akademischen Kulturen zu beschreiben und mit den in der Vorbereitung des Auslandsaufenthaltes gelernten Inhalten in Bezug zu setzen; außerdem kann die Reflexion dazu beitragen, dass Studierende aus der Beobachterrolle in die des Beteiligten schlüpfen und sich selbst als Teil interkultureller Kommunikationsprozesse wahrnehmen (Röseberg 2001: 181). Die Methode ist eng mit dem Führen eines Lerntagebuchs (Gläser-Zikuda/ Hascher 2007) verwandt; im Bereich des interkulturellen Lernens hat beispielsweise Michael Byram (Europarat 2006) mit der „Autobiografie interkultureller Begegnungen“ einen ähnlich verorteten Ansatz vorgeschlagen. Byrams Methode besteht aus einem Raster für die Dokumentation, Reflexion und Analyse eigener Begegnungen mit Angehörigen anderer Kulturräume, sodass Erfahrungen reflektiert und zur Schulung interkultureller Kompetenz nutzbar gemacht werden. Das Führen eines Tagebuchs während des Auslandsaufenthalts drängt sich als motivierende Aktivität geradezu auf, denn schon immer werden Tagebücher vornehmlich in Krisen oder Übergangszeiten verfasst – oder eben auf Reisen, um neue Eindrücke und Fremderfahrungen festzuhalten. In der Verbindung mit Lernprozessen regt das Schreiben zur vertieften Reflexion an. Lerntagebücher – oder ein wissenschaftliches Journal im Studium – verknüpfen inhaltliche Aspekte mit dem individuell-persönlichen Erleben und der Reflexion des eigenen Lernprozesses. Eine Erweiterung der Kombination von Reisetagebuch und Fremderfahrungsbericht im Studium stellt die Arbeit mit dem Medium Film dar, die als aktivierende und kreative Methode an die Medienerfahrung der Studierenden anknüpft. So werden z.B. auf Computern, Mobiltelefonen und Tablets über das World Wide Web Video-

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clips abgerufen, verschickt oder geteilt, und jeder Nutzer kann ohne großen technischen Aufwand selbst zum Produzenten von Videofilmen werden. Die verwackelte Ästhetik von Handykameras findet inzwischen auch in Fernsehen und Kino Verwendung, z.B. in o.g. Dokusoaps wie AUF UND DAVON – MEIN AUSLANDSTAGEBUCH, in der die Protagonisten ihren Alltag in Form von Videotagebüchern aufzeichnen, um die Zeiträume zwischen den Besuchen des professionellen Kamerateams der Produktionsfirma abzudecken. Kern eines Videotagebuchs im Auslandsstudium sind regelmäßige Aufzeichnungen während des Auslandsaufenthaltes – mit einer Kamera, dem Smartphone oder Computer –, in denen die Studierenden in jeweils nur wenigen Minuten über ihre Erfahrungen und Begegnungen berichten. 6 Sie filmen dazu sich selbst und dokumentieren weniger ihre Umgebung oder interkulturelle Begegnungen etc., sodass bereits während der Aufnahme eine gewisse Auswahl und Reflexion über die Erfahrungen möglich ist. 7 Nach der Rückkehr dienen die Aufzeichnungen im Videotagebuch als Grundlage für die Erstellung eines Kurzfilms, in dem aus Sicht der Studierenden zentrale Elemente herausgearbeitet werden, die in einer Gruppe geteilt und als Anregung zur Diskussion gestellt werden können. Der Montage kommt also eine ordnende Funktion der noch unstrukturierten ‚Tagebucheinträge‘ zu, die in dieser ‚mise en récit‘ in einen Zusammenhang gebracht werden. Bei bestehenden Studierendengruppen, die eine gemeinsame Auslandsphase im Studium reflektieren, bietet es sich an, den Prozess der Auswahl und Montage des Materials in Gruppen zu diskutieren und zu organisieren. Aufgrund des relativ aufwändigen Verfahrens kann in diesem Fall entweder ein Zusammenschnitt aus verschiedenen Videotagebüchern erfolgen – oder alternativ, auf Grundlage der Diskussion der verschiedenen Fremderfahrungen, ein Beispiel exemplarisch herausgegriffen und in der gesamten Lerngruppe zur Diskussion gestellt werden. In Nachbereitungsworkshops sind neben der filmischen Aufbereitung auch andere Bearbeitungsformen denkbar. So können auf Grundlage der Aufzeichnungen z.B. auch einzelne Erfahrungen und Erlebnisse ausgewählt und in Form eines Rollenspiels, eines daraus abgeleiteten ‚Critical Incidents‘ etc. vorgestellt werden. Das Medium Film kann, wie gezeigt wurde, in verschiedener Art und Weise für interkulturelle Lernszenarien im Kontext von studienbedingten Auslandsaufenthalten nutzbar gemacht werden. In der Vorbereitung dienen Filme als Anlass zum Gespräch über eigene Erfahrungen und Erwartungen oder auch als ein Element bei der Behandlung akademischer Lehr- und Lernkulturen sowie übergreifender Aspekte interkultureller Kommunikation. Vorbereitungsmaßnahmen dienen in erster Linie der Orientierung sowie der Vermittlung von Grundlagenwissen, für die Filme thematische Anregungen ebenso wie authentische Einblicke, insbesondere beim Einsatz von Fil6 7

Entwickelt und erprobt wurde die Methode in einem Forschungsprojekt zum deutschfranzösischen Schüleraustausch (vgl. Vatter 2011). Während bei kürzeren Aufenthalten ein täglicher Tagebucheintrag möglich ist, sind bei längerer Dauer größere Abstände zu empfehlen, da sonst die Fülle an Material kaum noch ausgewertet werden kann. Wenn die Studierenden dies wünschen, kann das Videotagebuch auch in Form eines (Video-)Blogs geführt werden – allerdings entsteht so eine öffentliche Textsorte mit möglichen Implikationen für die Auswahl und Gestaltung der Inhalte.

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men aus der Zielkultur, geben können. Die interkulturelle Vorbereitung soll Studierende neugierig auf die andere Kultur machen, sie motivieren und Methodenkompetenzen für eine „forschende Haltung“ (Nothnagel 2010: 450) fördern und gute Voraussetzungen für den Studienerfolg im Ausland im Sinne einer interkulturellen Studierfähigkeit schaffen. Da eine Betreuung während des Auslandsaufenthalts im universitären Kontext häufig schwierig durchzuführen ist 8, können Erfahrungsberichte und Videotagebücher, für die Neugier auf die andere Kultur und Entdeckerfreude ebenso wie methodische Kenntnisse wichtige Voraussetzungen darstellen, die selbstreflexive Auseinandersetzung der Studierenden fördern. In der Nachbereitung gilt es, die Erfahrungen der Studierenden auf Basis ihrer Berichte oder Tagebücher zur vertieften Reflexion nutzbar zu machen, denn Fremderfahrungen führen nicht automatisch zu mehr Selbstreflexion. Hierbei gilt es auch, Erfahrungen und damit verknüpfte Kompetenzbereiche bzw. Fertigkeiten zu identifizieren, die für den Transfer über den spezifischen Rahmen des Gastlandes hinaus geeignet erscheinen, um die eventuelle transkulturelle Dimensionen des Auslandsaufenthaltes herauszuarbeiten. Die Arbeit mit Medien in einer interkulturell und kulturwissenschaftlich ausgerichteten Romanistik erlaubt es, eine Brücke zwischen text- und medienbezogenen sowie praxis- und interaktionsbezogenen Ansätzen zu schlagen und den Blick für Zusammenhänge zwischen Kulturen, Kommunikationssituationen und medialen Repräsentationsformen zu schärfen. Für die praxisorientierte interkulturelle Kommunikationsforschung stellen Medien vor allem bei längeren Aufenthalten in Schule oder Studium neue Herausforderungen dar. Denn neben ihrer erwartungs- und einstellungsprägenden Dimension verändern insbesondere Onlinemedien die Voraussetzungen eines Auslandsaufenthalts. Sie werfen die Frage auf, wie sich die Erfahrung durch die Möglichkeit des ständigen, unmittelbaren und direkten Kontakts mit der Heimat über Onlinemedien verändert. Durch die interkulturellen Vernetzungen über soziale Netzwerke können sowohl ‚alte‘ Freunde aus der Herkunftskultur als auch ‚neue‘ aus dem Gastland an Fremderfahrungen unmittelbar teilhaben, z.B. über Facebook, Twitter, Blogs etc. Im europäischen und deutsch-französischen Kontext ist vor allem an das für 2017 angekündigte Ende der Roaminggebühren zu denken, das dann auch die grenzüberschreitende mobile Kommunikation erleichtern wird. Hier zeichnet sich die Entstehung eines neuen interkulturellen Praxis- und Forschungsfeldes ab, zu dessen zentralen Aufgaben gehört, die Chancen solch neuer medialer Konfigurationen für die Begleitung und Konzeption von strukturierten interkulturellen Lernsettings wie im Kontext deutsch-französischer Studiengänge zu eruieren.

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Zu den Möglichkeiten der Betreuung mit neuen Medien, z.B. Virtual Classrooms oder ePortfolios, vgl. Berkenbusch/Fetscher 2013.

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„Ich verstand weder Pilot, noch Wirthin …“ 1 Bericht von der Produktivität und den Ambivalenzen eines Kulturschocks: Herders Journal meiner Reise im Jahr 1769 W ERNER N ELL

Sein eigenes Werk, die Niederschrift seiner Gedanken, Pläne und Erfahrungen während und nach der Schiffsüberfahrt von Riga an die bretonische Küste im Frühsommer 1769 und die Aufzeichnung seiner Eindrücke von Frankreich im Anschluss an die Landung in Paimbœuf 2 am 4./15. Juli 3, erschienen Johann Gottfried Herder (1744-1803) schon während seiner Arbeit an diesem ‚Tagebuch‘ im Sommer und Herbst 1769 selbst als ein „sonderbares Ding“ (Mommsen 2002a: 187), Ausdruck und Folge einer Unruhe, die er selbst wechselnden Lektüren und allem, „was Geist der Zeit ist“, zuschreibt und unter deren Eindruck er sich „herumgeworfen und umhergewälzt habe“ (ebd. 190). 4 Aus literaturwissenschaftlicher und literaturhistorischer Sicht hat sich diese Selbsteinschätzung bislang vor allem dazu nutzen lassen, auf den unfertigen und zwischen den Gattungen Tagebuch, Autobiographie, Reisebericht und Kulturstudie os-

1

2 3

4

Zit. Johann Gottfried Herder, Journal meiner Reise im Jahr 1769. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Katharina Mommsen. Stuttgart: Reclam 2002: 122. Diese Ausgabe wird im Folgenden abgekürzt fortlaufend mit Seitenzahlen im Text zitiert. Herder schreibt durchweg Painböf (ebd. 122); das heutige Paimbœuf (Dep. LoireAtlantique) hat ca. 3000 Einwohner und liegt 45 km westlich von Nantes. Herder selbst nennt zwei Daten, was auf den Umstand verweist, dass er als russischer Untertan in Riga auch dem dortigen Julianischen Kalender Rechnung zu tragen hatte; die zweite Datierung nennt das Datum nach dem im ‚Westen‘ seit 1582 sich langsam durchsetzenden Gregorianischen Kalender. Also bereits im Blick auf die Koordinaten auch hier ein Leben in zwei Welten, im Falle Rigas vielleicht noch von Erinnerungen an die ‚Rigaer Kalenderunruhen‘ (1584-1598) überschattet, in deren Verlauf die Frontlinien nicht nur zwischen der russisch-orthodoxen Kirche und den Angehörigen westlich-christlicher Bekenntnisse, zwischen einer russischen und einer deutsch-orientierten Bevölkerung verliefen; vielmehr war der z.T. auch gewalttätig ausgetragene Konflikt im Wesentlichen zwischen Anhängern reformatorischer und katholischer Orientierungen angesiedelt (vgl. Ziemlewska 2006). Beide Zitate aus einem Brief an Hartknoch; zit.n. Suphan 1878: XVI.

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zillierenden Charakter der Schrift hinzuweisen (vgl. Critchfield 1990: 98ff., Moser 1996: 37f., Mommsen 2002: 187-188), in deren wechselhafter, bruchstückartiger und uneindeutiger Anlage sich vor allem „die Hast und Unruhe der letzten in Nantes verlebten Wochen und die Ungemächlichkeit […] des zu kurz bemessenen Aufenthaltes in Paris“ (Suphan 1878: XV) wiederfinden lasse; sicherlich auch ein Grund für die späte, erst 1976 erfolgte Ausgabe des Textes in einer historisch-kritischen Fassung. 5 In der Einleitung zu seiner Ausgabe von 1878 berichtet Suphan nicht nur von Herders eigenen Zweifeln und im Einzelnen nicht eingelösten Vorhaben (ebd. XVIIXVIII), sondern auch von der Unschlüssigkeit seiner Vorgänger, wie mit diesem weder abgeschlossenen noch integral überhaupt vorhandenen Text umzugehen sei (ebd. XVII-XXII), nicht zuletzt von den damit verbundenen Versuchen, flüchtige Notizen und Gedankenskizzen von stärker ausgearbeiteten Entwürfen zu unterscheiden und diesen zwischen biographischen Zeugnissen, kritischen Arbeiten und philosophischästhetischen Reflexionen einen Ort zuzuweisen (ebd. XVIII-XXI). Immerhin fand er für seine eigene Entscheidung, das Tagebuch dann doch als ‚Werk‘ in seine Ausgabe aufzunehmen, eine erste wegweisende Leitlinie: „Die Bedeutung des Journals liegt, seiner ganzen Natur nach, mehr in seinem engen Zusammenhange mit den geistigen Schöpfungen des Autors, als in seinem [sic] biographischen Elementen“ (ebd.), der die an ihn anschließende Forschung dann auch weitgehend gefolgt ist (vgl. von Wiese 1963: 52, Mommsen 2002a: 205, Moser 1996: 38, Stockhammer 1991: 180). In diesem Rahmen gilt es auch im Folgenden, Biographie und Werk als sich wechselseitig konstituierende Bezugspunkte des herderschen Denkens, Selbstentwurfes und Schreibens/Planens nicht aus den Augen zu verlieren. Es soll aber nicht darum gehen, die mit Suphans Einsatz vorgegebene Linie weiter auszuziehen, auch nicht darum, die Gegenrichtung einer erneut oder allein auf die Biographie hin ausgerichteten Betrachtung noch einmal aufzunehmen. Vielmehr handelt es sich um den Vorschlag einer Neugewichtung der innerhalb des Journals mitgeteilten biographisch-historischen Erfahrung, insbesondere der bei der Ankunft an der französischen Küste sowohl mitgeteilten als auch reflektierten Verstehens- und Erkenntniskrise im Blick auf das Werk, die Gestalt des Journals, ebenso wie auf die darin enthaltenen, darauf aufbauenden Befunde und Perspektiven. Der von dieser Krise ausgehende Impuls und dessen Auswirkungen lassen sich zum einen in der bereits in der Form der Aufzeichnungen feststellbaren Heterogenität der einzelnen Textpassagen und thematischen Ausführungen feststellen, die auch schon in dem Umstand begründet ist, „dass das ‚Journal’ nicht durchgängig in kontinuierlicher Niederschrift entstanden ist“ (Harder 1976: 392). Gravierender aber noch als die inkonsistente textuelle Grundlage (vgl. Mommsen 2002b: 269) stellt sich zum anderen die gestückelte, unterschiedliche Textsorten, Themen und projektierte Handlungsfelder zusammenwürfelnde inhaltliche Seite des Journals dar. Neben Reflexionen, die mehr oder weniger von Beobachtungen während der Schiffsreise ausgehen, 6 finden sich Bildungspläne und Projektentwürfe, re5

6

Eine erste vollständige Ausgabe aus dem Nachlass erfolgte 1846; eine erste ‚zuverlässige Edition‘ erfolgte 1878 im vierten Band der Sämtlichen Werke, hg. von Bernhard Suphan, Berlin 1878 (vgl. Harder 196: 385, ebenso Stockhammer 1991: 167, Fn. 1). „[…] was gibt ein Schiff, daß zwischen Himmel und Meer schwebt, nicht für weite Sphären zu denken! Alles gibt hier dem Gedanken Flügel und Bewegung und weiten Luftkreis.

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flektierende Selbsterkundungen, literaturkritische Betrachtungen sowie politische und kulturgeschichtliche, ja auch kulturtheoretische Ausführungen, die in loser, z.T. auch bruchstückhafter Weise am Leitfaden der Reisebeschreibung zusammengestellt werden, gegen Ende in den Entwurf des Konzepts eines ästhetisch grundierten, umfassenden Bildungsgangs auslaufen und dann schließlich einfach abbrechen. 7 Widersprüche, Schwankungen und eine Verschärfung des Tones lassen sich dabei vor allem im Blick auf die Wahrnehmung Frankreichs feststellen, dem doch immerhin die Reise gilt. Wird das Erlernen der französischen Sprache zunächst noch hinsichtlich des eigenen Bildungsgangs positiv besetzt („[…] ich müßte Französisch können, um mich geltend zu machen, um Alles zu sehen, zu erfragen, kennen zu lernen“, S. 33) und als Aufgabe bestimmt, nämlich die Aufnahme des Französischen in das nach der Seereise entwickelte Schulprogramm (ebd. 66-67) sowie die Berücksichtigung und Wertschätzung französischer Autoren und Texte (ebd. 68-69), so stellen sich bereits bei den an das Schulprogramm anschließenden kulturhistorischen Skizzen zu unterschiedlichen Ländern und Staaten Europas erste Vorbehalte bei der Schilderung Frankreichs ein: „Der Geschmack an Encyclopädien, an Wörterbüchern, an Auszügen, an [sic] Geist der Schriften zeigt den Mangel an Originalwerken. […] Was hat das Jahrhundert Ludwichs würklich Originelles gehabt? […] was haben die Franzosen gethan? Nichts, als das Ding zugesetzt, was wir ‚Geschmack‘ nennen.“ (ebd. 92-93) [Herv.i.O.] Abschätzige Bemerkungen dieser Art treten im Vor- und Umfeld der lang erwarteten, dann aber als Schockerfahrung geschilderten Ankunft an der französischen Küste nicht nur verstärkt in Erscheinung, sondern werden durch die kontrastive Erörterung von deutschen und französischen Zuständen und Verhaltensweisen auch noch zugespitzt: „[…] da die Deutschen so sehr von den Wendungen und dem Lieblingsstaat der Franzosen abgehen und doch, die so verachteten Deutschen doch gelesen werden – so ist dies ein grosses Kennzeichen von der Armuth, von der demüthigen Herabkunft des Landes. Marmontel, Arnaud, Harpe sind kleine Stoppeln, oder sprossende Herbstnachkömmlinge: die große Ernte ist vorbei.“ (Ebd. 92-93) Wie auch in anderen durch Unsicherheit, Ablehnung und Diskriminierung bestimmten interkulturellen Beziehungen stehen hier nicht nur ‚asymmetrische‘ Gegenüberstellungen 8 im Vordergrund. Vielmehr wird dies, eben auch schon bei Herder, im Spiegel einer vermeintlichen Wertschätzung des ‚Anderen‘ mit der Klage um die darin erkennbare (unnötige) Herabwürdigung des ‚Eigenen‘ verbunden. Damit wird ein Schwanken zwischen „Selbsterniedrigung und Hochmut“ (Reichel 1991: 316) erkennbar, das, gerade vor dem Hintergrund seiner historischen Permanenz (vgl. Emmerich 2003), in

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Das flatternde Segel, das immer wankende Schiff […]“ (S. 11); zusammengefasst wird dies in der Formel „so ward ich Philosoph auf dem Schiffe“ (ebd. 13), eine Wendung, die Benno von Wiese dann zum Ansatzpunkt einer ganzen Ortsbestimmung Herders gemacht hat (vgl. von Wiese 1963). Dass dabei auch Lücken, verlorene Blätter und ggf. eine unzureichend orientierte Bearbeitung eine Rolle spielen, wird bereits von Suphan vermerkt (vgl. Suphan 1878: XX-XXI) „Gegenbegriffe, die darauf angelegt sind, eine wechselseitige Anerkennung auszuschließen. […] Ihr Gegensatz ist auf ungleiche Weise konträr.“ (Koselleck 1979: 213) In diesem Fall, so Koselleck, „fließt eine abschätzige Bemerkung in die Bezeichnungen ein, so dass die Gegenseite sich wohl angesprochen, aber nicht anerkannt finden kann.“ (ebd. 211)

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Herders Fall auf die Irritation der Fremderfahrung an der Grenze zu Frankreich und auf eine darauf beruhende Erschütterung bzw. Verunsicherung zurückzuführen ist. Dabei geht es nicht nur um eine kritische bis abwertende Beurteilung Frankreichs in kultureller Hinsicht, das heißt der französischen Sprache und Literatur (vgl. S. 108115), sondern auch der daran beobachteten Charakterzüge und Verhaltensweisen: „Ihr Lachen ist mit Wohlstand verbunden; daher wenig von dem süßen beseligenden Lachen, das uns den Genuß der Natur zu fühlen gibt. […] Alles wird Spiel, Schluchsen [sic], Händeringen, Deklamieren […]. Und es ist auch in der That nichts als Etiquette des Theaters, woraus sie das Hauptwerk machen.“ (S. 115-116) Oberflächlichkeit, Gefühlskälte und ‚Schein‘ statt ‚Sein‘ heißen hier die stereotypen Zuschreibungen, die natürlich nicht nur und nicht erst hier bei Herder auftreten, 9 sich aber gleichwohl als Resümee seiner Reise und seines Kontakts mit der Fremdheit der französischen Sprache und Gesellschaft verstehen lassen: „[W]enn man schon wählen muss […] und noch nicht reisen gelernt hat“, so heißt es in den Notizen, auf die dann die Schilderung der ersten Eindrücke bei der Landung an der französischen Küste folgt, „muß man da Frankreich wählen? Für die Kunst, für die Wissenschaft, was ist da zu sehen, wo alles in dem grossen Paris versteckt liegt, wo alles mit Luxus, Eitelkeit, und französischem Nichts verbrämt ist?“ (Ebd. 119) Als Ausgangspunkt für die Widersprüche zwischen seinen Bemühungen um einen Zugang zur französischen Sprache und Kultur und der in seinen Notizen erkennbaren Herabwürdigung einerseits, und für die unruhige, widersprüchliche und sprunghafte Anlage seiner diesbezüglichen Notizen und Beobachtungen andererseits, mag zunächst die in Herders Schilderung seiner Ankunft an der französischen Küste erkennbare Erschütterung seines Selbstverständnisses anzusetzen sein, die sich für ihn in der Erfahrung eines völligen Unverständnisses ausdrückt, sei es der französischen Sprache, sei es der damit verbundenen Lebensumstände: „Der erste Anblick von Nantes war Betäubung: ich sah überall, was ich nachher nie mehr sahe: eine Verzerrung ins Groteske ohngefähr.“ (Ebd. 122) Der Schock einer Konfrontation mit dem Unverständlichen, wie er sich in dem im Titel dieser Skizze angesprochenen Ausruf wiederfindet – „Ich verstand weder Pilot, noch Wirthin, noch alte Weiber, mit alle meinem Französischen“ (ebd. 122) –, lässt sich durchaus im Sinne interkultureller Theorien des Verstehens bzw. Missverstehens als „incentive incident“ oder, mit den Worten Walter Kempowskis, als „entscheidendes Bildungserlebnis“ (zit.n. Großkopf 1981: 169) verstehen. Dass es dabei nicht nur um Wahrnehmung geht, sondern um eine existenzielle Erfahrung, wird in der nachgestellten Frage „[…] das ist der Schnitt meines Auges, und nicht auch meiner Denkart?“ (S. 123) angesprochen. Gerade im Verweis auf die anders gelagerte Reaktion eines ihn begleitenden ‚Freundes‘ zeigt sich, dass sich das Individuum angesichts der Grenze des Verstehens gerade in der Abweichung von der ‚Normalität‘ anderer auch noch als defizient erfährt. Diesem stellte sich das Neue zwar auch „vast“, aber als „vaste Regelmäßigkeit, eine große Schönheit“ (ebd. 123) dar, was Herder zur Reaktion veranlasst: „Entweder hat dieser kälter Geblüt, oder wenn ich so sagen darf einen anderen Zuschnitt der Sehart.“ (Ebd. 123) Für ihn stellt sich an dieser Stelle dagegen eine existenzielle Verunsicherung ein, deren Nachbeben auch in den nachfolgenden Überlegungen und (Selbst-)Beobachtungen noch zu spü9

Vgl. zum Gesamtkomplex Florack 2001, Florack 2007.

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ren ist: „Ist in der meinigen der erste Eintritt in die Welt der Empfindung etwa deßgleichen gewesen? Ein Schauder statt ruhiges Gefühl des Vergnügens?“ In dem Maße, wie er sich seines Welt- und Selbstbezugs über die Gegebenheit, Sicherheit und die Möglichkeiten der Sprache zu vergewissern sucht, 10 muss das Erfahren einer grundlegenden Unverständlichkeit, die sich für Herder wie angesprochen an der Grenze zum französischen Sprachraum zeigt, 11 als eine umfassende, tiefgreifende und lähmende Erschütterung erscheinen, 12 welche weit über die Möglichkeiten verschiedener Wahrnehmungen, Sichtweisen und ggf. Interpretationsmöglichkeiten unterschiedlicher Situationen und Erfahrungen hinausgeht und für Herder die existenzielle Seite seiner Weise, Mensch zu sein, angreift. Offensichtlich handelt es sich um die Konfrontation mit einer Erfahrung, in der Fremdheit als „irreduzibles Gewicht“ (Waldenfels 2010: 748) erscheint, deren Produktivität (vgl. Buchenhorst 2015) gerade im Blick auf Herders vielfältige, z.T. sein späteres Werk maßgeblich bestimmenden Projekte ebenso außer Frage steht (vgl. Mommsen 2002a: 209ff.) wie sie wohl seine Reserve, ja Abwehr gegenüber konkreten Erfahrungen und Erscheinungen während seines Frankreichaufenthalts einschränken und ihn in seinen Möglichkeiten des interkulturellen Verstehens inklusive der dazu nötigen, diese begleitenden Reflexivität 13 begrenzen. Gerade weil es sich bei den hier angesprochenen Schilderungen seiner Ankunft in Frankreich – in ihrer Drastik und Ungeformtheit ebenso wie in den darin aufspürbaren Verstörungen – offensichtlich um die ältesten Teile von Herders Reiseaufzeich-

10 Mit Blick auf die Werke des jungen Herder spricht von Wiese hier von einem Leitmotiv, das für die später auszubildende Anthropologie, Geschichts- und Kulturphilosophie prägend sein wird: „Geschichte setzt Sprache und den Menschen als sprechendes Wesen voraus.“ (Von Wiese 1963: 52) 11 Zu Herders Französischkenntnissen: Lesefähigkeit in Maßen, Verständigungsfähigkeiten nur minimal (vgl. Fink 2007: 147-148); er selbst bekennt: „Welche Schande, bei Landräthen und Sekretairen von Wind und Geschmack kein Französisch zu sprechen!“ 12 Nicht zuletzt sind es Zustandsbeschreibungen wie Betäubung, Müdigkeit und Verwirrung, auch mangelnde Konzentrationsfähigkeit, die sich in der Folge auch als Einschränkungen, ja Hemmungen nicht nur des eigenen Schreibens und Tuns, sondern ebenso des Verstehens und der Reflexion, zumal auch im Blick kritischer Überlegungen einstellen. Vgl. dazu den Brief an Hartknoch vom Dezember 1769 aus Paris: „[…] so kann Frankreich nie völlig sättigen und ich bin seiner auch herzlich müde. Indessen wollte ich um vieles nicht, es nicht gesehen zu haben.“ (zit.n. Fink 2007: 169) Im Gegenzug ließen sich von dieser Stelle aus geplante Großprojekte wie die aufgeklärte Reform des Russischen Reiches (ebd. 99-102), die Umgestaltung von Schulorganisation und Bildungsplänen, nicht zuletzt der Entwurf einer auf ästhetischer Bildung gründenden Anthropologie auf den weiteren Seiten des Journals als Impulse und Versuche der Selbstermächtigung eines Größen-Ichs interpretieren, das durch die Niederungen der Erfahrung einer unzugänglichen Fremdheit bei der Landung in Frankreich gegangen ist und nunmehr in solchen Großprojekten nicht nur Kompensation sucht, sondern auch auf die Herstellung eines erneuten Standortes der eigenen Identität zielt. 13 Vgl. dazu die Ausführungen bei Matthes 1999: 424.

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nungen handelt 14, können sie sich nicht nur als Einsatzpunkt dafür nutzen lassen, die im Übrigen durchaus ungleichgewichtige Anlage der Schrift im Ganzen aufzuschließen, sondern auch dafür, die darin angesprochene Erfahrung einer Konfrontation mit Fremdheit in ihrer Zumutung und Unverständlichkeit zum Ausgangspunkt einer durch die Erfahrung der Fremde angestoßenen Verunsicherung und in der Folge Selbstreflexion, ggf. Selbstkonstitution zu nehmen. Hierzu bietet sich der Anschluss an die nordamerikanische sozialanthropologische und sozialpsychologische Diskussion seit den 1960er Jahren an, in deren Rahmen das Modell und Stichwort des ‚Kulturschocks‘ (vgl. Oberg 1960, Adler 1978, Großkopf 1982: 169-176, Wagner 1996: 12-15) entwickelt wurde und in zahlreichen empirischen Studien auch Anwendung fand. Demgegenüber zeichnet sich in einer neueren Debatte auch eine andere Sichtweise ab, nämlich in der Debatte um eine an Bernhard Waldenfels anschließende Möglichkeit, dem Impuls des Fremden unter den Stichworten ‚Stimulus‘ oder ‚Stachel‘ (vgl. Waldenfels 1990) in ihren verunsichernden und zugleich in ihren Erkenntnissen und Erfahrungen anstoßenden Auswirkungen nachzugehen. Diese Sichtweise hebt statt Verlust und Gefährdung von Identität und Subjektivität auch den mit dieser Irritation verbundenen Erfahrungsgewinn und einen Zuwachs an Handlungskompetenzen hervor. Sie geht davon aus, „das psychosoziale Phänomen der Fremdheit als Entwicklungsimpuls hin zu kreativen Konfrontationen mit den eigenen sozialen, epistemischen und ästhetischen Limitationen“ (Buchenhorst 2015: 13) aufzufassen. In den an diese Verunsicherung anschließenden Passagen ist Herder zunächst darauf bedacht, in einer an der antiken Temperamentenlehre orientierten Weise seine eigene Reaktion auf eine ästhetisch-physiologische Disposition zurückzuführen, wobei sich seine charakterlich begründete Anfälligkeit für die Erfahrung des ‚Schauders‘ 15 („Selbst die stärksten Triebe, die in der Menschheit liegen, fangen in mir so 14 „Hervorzuheben ist die Tatsache, daß die ersten drei Abschnitte des dritten Teils gleich nach Ankunft Herders in Nantes Mitte Juli 1769 geschrieben worden sind und das Programm des Aufenthalts Herders in Frankreich enthalten.“ (Harder 1976: 394) Dies bezieht sich auf die oben angeführten Passagen, in der zitierten Ausgabe Mommsens ab S. 117. 15 Katharina Mommsen hat diesem ‚Schauder‘ im Nachwort zu ihrer Edition des Journals eine ausführliche Untersuchung gewidmet. Sie sieht diesen ‚Schauder‘ zunächst in einer psychosomatischen Störung Herders begründet: „Was Herder mit alldem als ‚Schauder‘ bezeichnet, weist auf eine Schwäche seiner Natur, ein hypochondrisches Reagieren, Symptome einer Neurose hin.“ (Mommsen 2002a: 245), um von dort dann aber Herders historische und ästhetische Sensibilität, ja seine geistes- und kulturgeschichtlichen Anregungen zu begründen: „So beruht, dies ist nicht zu verkennen, Herders gesamte reformatorische Wirkung, seine Eigenschaft als der große ‚Beweger‘ und Anreger noch auf dem ‚Schauder‘, der Affinität zum Schreckhaft-Erhabenen. Die daraus hervorgehende Tendenz zu Negieren gab ihm den kritischen Blick, sie schärfte auch jenen Spürsinn für Verfallsund Vergreisungserscheinungen. Die Literatur […] ward von seinem Negieren unendlich gefördert.“ (ebd. 253-254) Damit wird die Erschütterung von Paimbœuf zwar in den größeren Zusammenhang einer mentalen Disposition eingeordnet, es bleiben aber doch zugleich das Faktum der Irritation eben dort und die von ihr ausgehende Erschütterung bestehen, die sich zumal in der schwankenden, dann kippenden Einschätzung der französischen Gesellschaft, Kultur und Literatur wiederfinden lässt (vgl. Fink 2007: 168-169).

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an“ (S. 123)) bis zum Selbstzweifel steigert („[…] breite ich nicht also eine unglücklich verzogene Natur aus? oder ists kein Unglück, diese zu haben?“ [ebd. 123]). Dagegen führen ihn weitergehende Reflexionen über seine uneindeutigen, prekären Erfahrungen und in sich widerspruchsvollen Beobachtungen und Zustandsbeschreibungen allerdings auch wieder zu kulturtheoretischen Erörterungen zurück, in denen er in seiner Eigenart – zu Recht – auch wieder eine Stärke sehen kann: „[…] daher meine Neigung für den Schatten des Altertums und für die Entfernung in verfloßne Jahrhunderte […], meine einsamen Spatziergänge, mein Schauder bei Psychologischen Entdeckungen und neuen Gedanken aus der menschlichen Seele, mein halbverständlicher halbsombrer Styl, meine Perspektive von Fragmenten, […] von Archiven des menschlichen Geschlechts“ (ebd. 124-125). Die von den Schockerfahrungen an der Grenze zur französischen Sprache und Kultur ausgehende Irritation bietet in diesem Schritt sogar einen Anreiz zu weiteren Projekten, zumal aber auch zu der für Herder später charakteristische Möglichkeit eines multikulturellen, relativistischen Einbeziehens fremder Erfahrungen, Sinnwelten und Orientierungsmuster in den weiten Sicht- und Wirkungskreis einer eigenen, universalistisch und relativistisch ausgerichteten Kulturtheorie. 16 In dieser Hinsicht werfen die Befunde an dieser Grenze zum Nicht- und Missverstehen auch weiteres Licht auf die Grundlagen, die Anpassungsfähigkeit und die Reichweite, freilich auch auf die Belastungen und Grenzen der herderschen Kulturkonzeptionen und damit wohl auch auf die daran anschließende Möglichkeiten seiner Aktualisierbarkeit und aktuellen Rezeption (vgl. Barnouw 1994: 57-58). Natürlich ist das psychosoziale Phänomen des ‚Kulturschocks‘ zu weit (und ggf. auch zu abstrakt) gefasst, als dass sich damit – im Sinne einer Ferndiagnose – Herders Irritation und ggf. Zusammenbruch im Juli 1769 an der Küste der Normandie bestimmen ließe. Dieser ‚Kulturschock‘ ergibt sich aus dem als schockhaft erlebten Gefühl vollständiger Unzulänglichkeit in einer als ‚fremd‘ erfahrenen Mit- und Umwelt (vgl. Schütz 1974: 143ff., 282-290). Er korreliert mit der als Verstörung erlebten Unfähigkeit, mit den eigenen Mitteln einen Zugang zu dieser ‚fremden‘ Welt zu finden, und ermöglicht zugleich die Selbstkonstitution des Subjekts zumindest für die Dauer und Reichweite einer intendierten Handlung. Gleichwohl bietet sich das Konzept des ‚Kulturschocks‘ als heuristisches Mittel für eine Deutung der Zusammenhänge und ihrer schriftlichen Niederlegung an, zumal Herders Schilderung die in der Regel entweder induktiv ermittelten (vgl. Adler 1978) oder idealtypisch gefassten Phasen bzw. Komponenten des Phänomens auch noch deutlich erkennen lässt und sie zumindest als Belege in dieser Hinsicht genutzt werden können. Lineare Modelle des ‚Kulturschocks’ sehen dabei die Erfahrung einer unzugänglichen, mit den vorhandenen Mitteln des Subjekts zunächst gänzlich unbewältigbaren Fremdheit in einer Steigerungslinie, die von Stress über Verlust-, Mangel- und Abwehrerfahrungen bis zu Verwirrung, Angst, Empörung und ggf. Verzweiflung (vgl. Wolf 1996: 13-14) angesichts umfassender ‚Ohnmacht‘ reicht und entweder in der

16 Für aktuelle Ansätze, von Herder aus Multikulturalismus zu denken (vgl. Parekh 2000: 6779, Hicks 2004: 110-113).

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völligen Dekomposition des Subjekts oder seiner Pathologisierung enden kann. 17 In dieser Hinsicht knüpfen sie an die Position zwischen Fremd- und Vertrautheit an, wie sie sich in der Metapher eines Lebens ‚zwischen den Stühlen‘ wiederfinden lässt und vielfach auch noch aktuell in migrations- und fremdheitsbezogenen Diskursen wiederzufinden ist (vgl. Badawia 2003). Unter anderen Vorzeichen und auch im Blick auf andere Erfahrungsmuster lässt sich dagegen von einer sogenannten „U- oder auch W-Form“ im Verlauf der als ‚Kulturschock‘ zu bezeichnenden Prozesse sprechen (vgl. Woesler 2009). In diesen Verlaufsformen folgt auf Phasen zunehmender Verunsicherung der mitgebrachten Vermögen und Erwartungen, in deren Verlauf das Selbstbewusstsein im Hinblick auf die Erfahrung von Handlungs- und Verstehenssicherheiten ebenso sinkt wie die Fähigkeit zu handeln, dann aber im Maße weiterer Erfahrungen und einer Aufnahme bzw. Aneignung vordem ‚fremder‘ Inhalte und Formen, eine zunehmende Steigerung der eigenen Fähigkeiten. Ggf. handelt es sich dabei um Anpassungsfähigkeiten an die neuen Gegebenheiten, vielfach aber auch um die Ausbildung pluraler, vielfältiger Möglichkeiten der Reaktion, dann auch der Interaktion und der Verstehensleistungen unter den Bedingungen umgebender Fremdheit im Sinne gesteigerter, dann auch reflektierter, gewachsener Kompetenz (Hamburger 1997). Im Blick auf Herders Journal wäre an dieser Stelle festzuhalten, dass er bei seiner Landung in Frankreich zunächst im Blick auf das konkrete Erlebnis und ggf. Verständnis Frankreichs im Bann eines ‚Kulturschocks‘ in seinem Verständnis beschränkt bleibt. Seine mit der Ankunft in Frankreich als Kulturschock erfahrene Krise lässt sich ebenso in körperlichen Reaktionen, zumal seinen Schilderungen der „Betäubung“ (S. 122) und der Ermüdung fassen, wie sich auch ggf. „sein rätselhaft langes Verweilen in Nantes und das langsame Vorrücken des Tagebuchs“ (Suphan 1878: XVI) von hier aus erklären lässt. In anderer Weise lassen sich dagegen die diversen Projektbeschreibungen, seine Versuche, Bildungsvorgänge ebenso wie die Entwicklung ganzer Staaten in ‚geordneten‘ Bahnen zu entwerfen, als Ordnungsbestrebungen auf einer Ebene zweiter Stufe verstehen, die es ihm ermöglichen können/sollen, die erfahrene und irritierende Verwirrung der Fremdheit an der französischen Küste modellhaft und modellorientiert zu überwinden, der erfahrenen Unruhe Form und damit – gegen Ende der Aufzeichnungen hin – auch reflexive Sicherheit durch ein Modell des Reisens zu gewähren, das dann in gewissem Sinn sogar diätetische Hilfe bieten kann: „Der Magen ist verdorben: die Natur geschwächt: die Seele [hat] keinen wahren Hunger, also auch keinen wahren Appetit zur Speise […]. Wie ist ihm zu helfen? Wenig eßen, viel Bewegung und Arbeit: d.i. ohne Allegorie wenig Lesen, viel Ueberdenken mit einer gewißen Stärke und Bündigkeit, und dann Ueben, Anwenden. Wie wenn dazu meine Reisen dienten!“ (S. 151) Hier wird eine Möglichkeit der ‚U-Form‘ in der Modellierung des Kulturschocks erkennbar, die darauf zielt, aus der erfahrenen Krise zusätzliche Erkenntnis, Reflexivität und auch Kreativität zu gewinnen, die freilich an Konditionen gebunden bleiben, die dem einzelnen 17 Wobei sie in dieser Hinsicht eine Linie ziehen, die sich schon in der Rezeption des auf Robert Park zurückgehenden Konzepts des ‚marginal man‘ bei E.V. Stonequist abzeichnet (vgl. Stonequist 1937), während dieser selbst durchaus Ambivalenzen und damit auch Chancen, Erkenntnisse und Handlungsoptionen hervorhebt (vgl. Park 1928, Grünfeld 2015).

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nur fallweise zur Verfügung stehen und entsprechend weder normiert noch eingefordert, sehr wohl aber in Rechnung gestellt werden können: „Vergleichen und Beobachten“, so hatte es der hallesche Soziologe und Volkswirt Ernst Grünfeld (18831938) in den 1930er Jahren in seiner erst heute wieder entdeckten Untersuchung zur Soziologie der ‚Peripheren‘ formuliert, „führen zu Entdeckungen, und wer sich im Vergleichen und Beobachten übt, sieht mit anderen Augen.“ (Grünfeld 2015: 80) Dies gilt in der Gesamtheit, zumal im Blick auf die späteren Werke und ‚großen‘ Entwürfe, auch für Herders Befunde zu seinen Erfahrungen in Frankreich und auch für die z.T. auf sie bezogenen, auch von ihnen wegführenden Ausarbeitungen und Entwürfe des Journals, deren langfristige und zuweilen durchaus ideologisch besetzte und entsprechend nutzbare Wirkung freilich ebenfalls außer Frage steht (vgl. Fink 2007: 145ff.). Zunächst einmal aber im Speziellen auch im Blick auf die dieser Verunsicherung zugrunde liegenden Eindrücke und dann in Bezug auf den heterogenen Charakter und den durchaus zerrissenen Zustand des Werkes selbst, wobei die dabei erkennbaren Vorstellungen und Anregungen doch wieder an die von Herders Kulturtheorie für spätere Zeiten ausgehenden Impulse, auch Irritationen, angeschlossen werden können. Denn zugleich mit Hinweisen auf den fragmentarischen Charakter 18 der Aufzeichnungen Herders von, über und nach seiner Reise hat die Forschung von Rudolf Haym 19 über Emil Staiger und Benno von Wiese bis zu Christian Moser nicht nur auf die vielen, in späteren Werken dann wieder aufzunehmenden Bezugslinien 20 und Projektideen dieser Schrift hingewiesen, sondern auch auf den innovatorischen, in dieser Hinsicht dann auch ‚gelingenden‘ Charakter dieser Reise ‚zu sich selbst‘, zumindest aber auf die Produktivität der darauf bezogenen Schreibbewegung, wenn auch ggf. in einer paradoxen Ausführung. So sieht Moser in der Abwendung von der in einem Reisejournal im eigentlichen Sinn zu erwartenden Schilderung der Reiseerfahrungen die Bedingung der Möglichkeit, sich als Subjekt – schreibend – zu erleben und somit zugleich zu schaffen: „Schreibend hält sich das Ich Gegenwart und Wirklichkeit vom Leib und erzeugt auf diese Weise die Erfahrungslücke, die Leere, in die der Traumdiskurs des Möglichen hineingelesen und eingeschrieben werden kann. Die autobiographische Schrift ist der paradoxe Ort einer Selbstverfehlung, die das Ich konstituiert.“ (Moser 1996: 56) Auch schon in der älteren, ebenso aber in der neueren Literatur wird darüber hinaus der programmatische Charakter dieser Sammlung von Aufzeichnungen, Entwürfen und Geistesblitzen 21 hervorgehoben, die zwar nahezu nichts von der Reise zu be18 Dieser ist natürlich auch schon dadurch gegeben, dass tatsächlich wohl Blätter fehlen, für später geplante Überarbeitungen nicht vorgenommen wurden und der Text schließlich einfach abbricht (vgl. Suphan 1878: XXf., Mommsen 2002b). 19 Für Haym handelt es sich bei dem Journal um das „bedeutsamste, das aufklärendste Dokument für die innere Geschichte des herderschen Geistes“(zit.n. Moser 1996: 37). 20 Von Wiese nennt Herder „eine jener großen Sammellinsen […], in der die verschiedensten Tendenzen eines Zeitalters aufgefangen, gebrochen und verwandelt werden“ (von Wiese 1963: 43). 21 So bspw. die ggf. auf Vico zurückverweisenden Überlegungen zur Entstehung religiöser Empfindungen und Vorstellungen sowie mythischer Narrative aus der Not der Seeleute, sich in unübersichtlichen Verhältnissen orientieren zu müssen: „Da sie genöthigt sind, auf Wind und Wetter, auf kleine Zeichen und Vorboten Acht zu geben, da ihr Schicksal von

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richten habe, 22 dagegen aber in ihren diversen, z.T. über viele Seiten und detailliert ausgearbeiteten Vorschlägen bspw. zur Verbesserung des Schulwesens in Riga (S. 39-77) oder zu den Möglichkeiten und Grenzen politischer Reformen im Russischen Reich (ebd. 99-102) 23, nicht zuletzt in einem an Rousseau gemahnenden sowie von ihm sich absetzenden Bildungsplan (ebd. 132-152), auf spätere Werke Herders ebenso vorausweise 24 wie auf eine daran anschließende ganze Denkrichtung, den Historismus (vgl. Staiger 1963: 160-161). Emil Staiger sah im Herder des Journals einen „nordischen Seher am Mast, von ungeheuren Gesichten heimgesucht“ (Staiger 1963: 123), während Benno von Wiese auf „den neuen Ton, das neue Lebensgefühl“ hinwies, „das hier fast gewaltsam durchbricht“ (von Wiese [1953] 1963: 45). 25 An späterer Stelle spricht er von einer „Erweckung“, „die das ganze Zeitalter der Klassik und Romantik befruchtet hat“ (ebd. 49). Günter Niggl sieht darin ein „Dokument einer Selbstentdeckung“ (Niggl 1977: 48), einen Befund, den Christian Moser im Blick auf den unfertigen Prozesscharakter des Textes hinsichtlich des Schreibverfahrens als Form der Subjektkonstitution 26 noch einmal weiterführt: „Herder […] konzipiert den autobiographischen Text nicht als Medium der Repräsentation, sondern als Medium der Produktion von Subjektivität.“ (Moser 1996: 38) Freilich kann sich die anvisierte Subjektivität in Herders Fall weder über die Ausführung eines umfassenden, detaillierten oder gar künftige Reisende unterweisenden Reiseberichts darstellen, wie er in der älteren Apodemik und so noch in den Reiseberichten der Aufklärung angestrebt wurde, 27 noch wird das von Herder in seinem Brief an Hartknoch angesprochene Ziel einer „vollständigen Selbstaufklärung“ 28 erreicht.

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Phänomenen in der Höhe abhängt: so gibt dies schon Anlass gnug auf Zeichen und Vorboten zu merken, und also eine Art von ehrerbietigen Anstaunung und Zeichenforschung.“ (S. 20-21). „Kaum hat jemals ein Reistagebuch zuvor und danach so wenige ‚Data‘ (Herders Wort) wiedergegeben.“ (Stockhammer 1991: 168) Herder fühlte sich trotz seiner Zugehörigkeit zur deutschsprachigen protestantischen Minderheit in den baltischen Staaten durchaus als russischer Untertan: „In Riga, das seit Peters des Großen Sieg über Schweden zu Rußland gehörte, entwickelte Herder wirklichen Patriotismus für das große russische Reich und Liebe für seine Herrscherin Katharina.“ (Mommsen 2002a: 217) Mommsen spricht von „zahlreichen Buchprojekte[n] mit ihrem phantasievollen Wechsel der Aspekte“ (ebd. 205), die das Journal enthalte. Dass hier zwischen religiöser Erweckung zum einen und einer literaturwissenschaftlich inzwischen nicht mehr ganz unumstrittenen antiaufklärerischen Aufbruchsstimmung im Sturm und Drang (vgl. Thoma 2015: 73-74) zum anderen ein Kurzschluss gezogen wird, der noch ganz dem älteren, deutschtümelnden Irrationalismus der älteren Germanistik geschuldet ist, kann hier nur angemerkt werden (vgl. D’Aprile/Siebers 2008: 210-211). „Die Entdeckung, die dem Reisejournal Herders zugrunde liegt, ist aber gerade die eines Schreibverfahrens, das die Herstellung einer neuen Form von Subjektivität ermöglicht.“ (Moser 1996: 38) Zum Reisebericht als Form vgl. Brenner 1989: 27-39; zur Apodemik Kutter 1991, Stagl 1989. Brief an Friedrich Hartknoch vom 15. August 1769 (zit.n. Moser 1996: 39, Fn. 14).

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Zum Ersten fehlen Herder subjektive Voraussetzungen und Kenntnisse 29 ebenso wie Erfahrungen mit den bereisten Landschaften, Orten und Ländern, 30 zum Zweiten vermag auch das Schreiben nicht den Raum zu schaffen, um sich selbst im Ganzen zu konstituieren. Es bleibt bei einer Suchbewegung: „Wenn werde ich so weyt sein, um alles, was ich gelernt, in mir zu zerstören, und nur selbst erfinden, was ich denke und glaube!“ (S. 12) Im Verlauf dieser Suchbewegung misslingt der Versuch der Fixierung durch sprachliche Gestaltung, verständige Repräsentation und Selbstfindung auf der Basis einer reflektierten Aufarbeitung des eigenen Lebens- und Bildungsgangs; gegen Ende hin scheint dieses Vorhaben gar unter der Skizzierung anderer Projekte zu verschwinden; letztlich bricht der Text dann ab. 31 Schon hier wird erkennbar, dass es im Kern der Aufzeichnungen – und so auch in der Intention ihrer Darstellung – um einen Bruch geht, um die Erfahrung der Konfrontation mit etwas zunächst Unfassbarem, das die bislang vorhandenen Koordinaten infrage stellt, den Träger der Erfahrungen in seinen Deutungsmöglichkeiten überfordert: „Hätte ich dies gekonnt …“ (ebd. 13) lautet die Formel, die Herders Anspruch und Unvermögen, ein zu seinen Erfahrungen passendes Modell oder Schema zu finden (und beschreiben zu können), bis auf die letzten Seiten seiner Niederschrift weiterführt, wenn er dort sich selbst lediglich die Fähigkeit eines „schwächliche[n], zerstreute[n] Lesens“ zuschreibt: „So geht’s mir. Indem ich mich zu sehr aus meiner Sphäre wage; indem ich nie mit ganzer zusammengenommener, natürlich vollkommener Seele lese, so wird kein Eindruck ganz!“ (ebd. 151) „[…] in dem Bestreben, die Eigentümlichkeiten seiner Denk- und Empfindungsweise zu ergründen, kommt der Verfasser des Journals über die bloße Beschreibung seines Wahrnehmungsverhaltens und die Diagnose seiner Unfähigkeit, in der Gegenwart zu leben, kaum hinaus. Immer wieder konstatiert er seine Neigung zu antizipatorischer Überreflexion […]“ (Moser 1996: 43). Insofern sind die vielen Möglichkeitswerte in der Beschreibung der intendierten, aber eben nicht realisierbaren Deutungsansätze und Erkenntnisse, 32 von Herder 29 „Ich wollte den Reisebeschreiber zu Hülfe nehmen, um an den Küsten jedes Landes dasselbe zu denken, als ob ichs sähe; aber noch vergebens. Ich fand nichts, als Okularverzeichniße und sahe nichts, als entfernte Küsten.“ (S. 28) 30 „Man bildet sich ein, dass man auf Meeren, indem man Länder und Welttheile vorbeifliegt man viel von ihnen denken werde: allein diese Länder und Welt theile siehet man nicht. Sie sind nur fernher stehende Nebel […] Es ist kein Unterschied […] wie unsre Schiffahrt geht, ists überall Meer.“ (ebd. 28) 31 Nicht nur, dass ein Stück offensichtlich fehlt: S. 127 endet abrupt mit einer moralistischen Erwägung eines offensichtlich selbst erfahrenen Trügens und Täuschens, S. 128 setzt mit Überlegungen zu einer christlichen Dogmatik ein, auf die dann ein weiteres Projekt, das einer ästhetischen Bildungslehre folgt, dessen weitere Entwicklung mit einigen Gedanken zur „Diätetik des Lesens“ (Robert Stockhammer) schließlich auf S. 152 abbricht. 32 Vgl. z. B. „[…] siehet man hieraus, wie eine relative Sache die Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit sei. Sie richtet sich nach den ersten Eindrücken: nach ihrer Masse, Gestalt und Vielheit. Sie richtet sich nach der Langwierigkeit und Öfterheit ihrer Bestätigungen: nach Anzahl von Concurrenzen, die ihr die Hand zu bieten schienen: nach Zeiten, Sachen, Menschen. Ein Volk hat sie in dieser Sache anders in andrer Gestalt, und Graden, als ein anders.“ (26)

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gleich unter die Funktionen und Erwartungen eines ‚Lehrens‘ gestellt, 33 nicht nur Anzeichen eines „Scheiterns“ (Moser 1996: 39) der Selbstkonstitution über das Beschreiben einer Reise oder den Gang einer mit der Reiseerfahrung möglicherweise verbundenen Selbstaufklärung. Vielmehr bilden sie die Steigerung von Möglichkeiten ins Unbestimmte und damit auch in ein – im Rahmen der eigenen Reflexion – Unübersehbares ab, stellen sie die Reaktion auf eben jene mit der Reiseerfahrung verbundene Verstörung dar, die sich zum Ersten in einer den Text insgesamt durchziehenden Sprunghaftigkeit der Themen und Vorhaben zeigt, zum Zweiten in einem durchgehend klagenden, auch sich selbst immer wieder anklagenden Ton und zum Dritten in der Abwehr eben jener Zumutungen, die Frankreich, die französische Literatur und Sprache ebenso wie die alltäglichen Zusammenhänge eines Lebens in einem anderen (fremden) Land für einen ‚fremden‘, darauf unvorbereiteten Besucher darstellen. Es ist wohl gerade deren Gegenwärtigkeit und Dringlichkeit, dem sich Herder nicht zuletzt durch eine Flucht in die „Wälder von Nantes“ (S. 125) immer wieder zu entziehen sucht. Bemerkenswert ist auch, dass es sich bei der Schilderung der realen Ankunft um die Schilderung eines Bruchs handelt, um den Einritt von etwas Unfassbarem, der eben auch in der sprachlichen Unruhe fassbar wird, in einer von Herder bereits angesprochenen Gewaltsamkeit der Erfahrung, die auch ein mögliches Scheitern (Moser 1996: 39) der Reisevorhaben, des Sprachenlernens und Fremdverstehens, ja ggf. auch der mit dem Schreibprojekt verbundenen Intentionen der Selbstdarstellung und Selbstaufklärung umfassen kann. Die von der Herausgeberin Katharina Mommsen an Herders Vorlage gemachte Beobachtung: „Gerade das Charakteristische des Reisejournals: das Improvisatorische, Tagebuchartige des Werkes, wird erst deutlich durch Einsicht in die Varianten.“ (Mommsen 2002b: 269) lässt sich aber ebenso wie ihre Befunde zu Herders Handschrift: „Dem stehen […] andere Partien gegenüber, die wesentlich unruhiger, zum Teil nervös und mit merklichen Zeichen der Ungeduld geschrieben sind.“ (ebd.) von der Textgestalt ausgehend nicht nur auf Herders Charakter zurückführen (ebd. 270), seine allgemeinen Lebensumstände oder auch das Nachwirken früher Erfahrung der Missachtung und Demütigung. Vielmehr kann sie auch als Abspiegelung unmittelbarer Verunsicherung und Erschütterung gesehen werden, wie sie dem gerade in Frankreich an Land gestiegenen, sicherlich ebenso ambitionierten wie sensiblen, ggf. auch ‚hochbegabten‘ 25-jährigen Reisenden angesichts einer Welt zugestoßen sind, die er „nicht mehr verstand“. Mommsens Befund: „Die Situation der Reise prägt das Gesicht des Werkes, wie innerlich so auch äußerlich“ (2002b: 270) lässt sich in diesem Sinne sowohl aufrechterhalten als auch nutzen, um von der Form des Journals und von dem aus, was es berichtet und (nicht) thematisiert, die Produktivität der erfahrenen Fremdheit ebenso in den Blick zu nehmen wie die damit ggf. verbundene Gefährdung, deren wesentliche Gefahr freilich nicht in einer Aufhebung des Subjekts durch das Fremde besteht, sondern vielmehr in einer Verhärtung desselben angesichts seiner Ohnmacht, ggf. auch mangelnden Kompetenz im Umgang mit ihm und in der Verweigerung der damit ebenso gegebenen wie gebotenen Dialogizität. In diesem Sinne nimmt Bernhard Waldenfels Bezug auf Michail Bachtins Hinweis, dass jedes „Wort der Sprache ein halbfremdes Wort“ (Bachtin 1979: 185) sei, „das uns 33 „Philosoph der Natur, das sollte dein Standpunkt seyn, mit dem Jünglinge, den du unterrichtest.“ (S. 13)

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veranlasst, ‚Eigenes in der fremden Sprache und Fremdes in der eigenen zu sagen‘ und dies aus einer ‚Antwortlichkeit‘ heraus, die jeder Aneignung vorausgeht.“ (Waldenfels 2010: 748) Wir befinden uns damit durchaus auf Herders Terrain, gerade wenn in seiner Beschreibung des „Schauders“ (vgl. Mommsen 2002a: 244-257) „jene Fremdheit im eignen Haus hervortritt, die an die ‚Wurzeln von allem‘ rührt“ (Waldenfels 2010: 748), und dies nicht nur im Blick auf Herders Werke einen Hinweis darauf bietet, dass der Umgang mit dem Fremden ebenso unaufhebbar wie unverzichtbar ist.

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Expériences d’intégralité interculturelle Mylius, Schubert, Linder et Gelzer dans le Midi de la France (1818-1850) F RANÇOISE K NOPPER

Les quatre relations de voyage qui vont être examinées dans le présent article s’inspirent d’une des pistes suivies par Dorothee Röseberg dans le cadre de son vaste plaidoyer en faveur des recherches à mener sur l’interculturalité (cf. Röseberg 2014a). Il s’agit de la grille de lecture qu’elle a suggérée à propos de comptes rendus de séjours d’universitaires à l’étranger, et du constat qu’elle établit, à partir des carnets de voyage, de l’appréhension globale, « intégrale » (« ganzheitlich ») de l’altérité par ces voyageurs : « Das Festhalten der Befindlichkeiten ist zentral, denn es ist davon auszugehen, dass Fremdes ganzheitlich erfahren wird ». (Röseberg 2014b : 209) Cette « intégralité » résulte de la possibilité qu’a chacun d’eux d’associer son savoir intellectuel à sa sensibilité individuelle, ses perceptions, ses sensations et ses émotions (Röseberg 2014a : 72). À cela s’ajoute la différence, également soulignée par Dorothee Röseberg, entre deux supports textuels, entre le carnet tenu au jour le jour, discontinu, en somme le journal de bord (Reisetagebuch), et le compte rendu synthétique qui en est tiré et qui est, lui, généralement destiné à être envoyé à une institution (Fremderfahrungsbericht). En effet, ces comptes rendus synthétiques impliquent que l’auteur prenne une certaine distance vis-à-vis des objets et des systèmes qu’il a observés durant son séjour, qu’il se livre à une mise en perspective historique, à des comparaisons et à des analyses critiques. Dans ce type de comptes rendus, il ne s’agit plus de simplement poser le constat d’une altérité : un transfert culturel s’opère aussi dans la mesure où, pour représenter cet univers étranger, le narrateur engage sa propre personne, ses valeurs, son savoir, les mesure par rapport à ceux d’autrui, et les renforce ou les nuance selon le cas. Pour analyser des transferts de ce type, nous avons sélectionné des exemples permettant d’étudier des manifestations de transmission générationnelle s’effectuant à propos d’un espace et à l’intérieur d’une même profession. Ce sont quatre relations de voyage s’échelonnant entre 1818 et 1850, à une époque où, en France, le statut légal et l’ancrage économique des protestants se renforçaient mais où on assistait aussi à une revitalisation politique, artistique et littéraire dans les milieux catholiques. Ces quatre voyageurs, même si leurs trajets d’ensemble étaient différents, ont eu pour point commun d’avoir décliné leur identité confessionnelle et séjourné dans le Midi

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de la France afin de se rendre sur des hauts lieux de la mémoire protestante et célébrer la résistance qui avait été opposée à l’hégémonie catholique et absolutiste du régime de Louis XIV (cf. Joutard 1979, Cabanel 2011, Jas 2011). Nous insisterons sur les passages qu’ils ont consacrés aux Cévennes et aux villes de Nîmes, connue pour ses restes romains, et de Montpellier, où ils rencontraient aussi leurs homologues. Ces choix leur facilitaient en outre l’étude de la présence des Romains dans l’antique province de la Narbonnaise et stimulaient la curiosité de savants avides de découvertes épigraphiques. Quant à ce regain d’intérêt pour la France, il avait acquis une actualité supplémentaire depuis que les protestants avaient lancé un appel à la rémigration des huguenots, en particulier depuis la loi du 9 décembre 1790 qui accordait le droit au retour et offrait la nationalité française aux « religionnaires fugitifs » étrangers (cf. Birnstiehl, Cabanel 2006). Le concept d’intégralité interculturelle est d’autant plus opératoire dans le cas de ces auteurs que, vu leur âge et leur statut social, ils n’en étaient ni à leurs premiers écrits ni à leurs premiers déplacements. Leur réflexion sur la relation de voyage en tant que genre est omniprésente dans leurs avant-propos, où la publication du texte est justifiée (cf. Wolfzettel 1996). Ce sont des intellectuels qui confrontent délibérément leurs connaissances littéraires à un environnement étranger. Pour autant, ils ne masquent pas leurs émotions. Autrement dit, dans leur description de la société, des us et coutumes, des édifices et des paysages, ils font converger « le quotidien et le macro historique » : « die Distanz zwischen alltäglichem Erleben und der makrosozialen historischen Perspektive kann – in Grenzen – überwunden werden » (Röseberg 2014b : 210). La question de cette totalité de l’expérience de l’étranger chez des voyageurs est au demeurant complexe parce que la relation de voyage est un genre hybride, certaines pages restant chargées d’implicite tandis que d’autres sont précises à l’extrême, et aussi parce que le ton est généralement celui d’une conversation plaisante, naturelle, plus ou moins humoristique, bien que chacun ait l’ambition d’être le plus exact possible. Le premier exemple est celui du pasteur badois Christian Friedrich Mylius (17621841), Malerische Fussreise durch das Südliche Frankreich und einen Theil von Ober-Italien. Le texte parut en 1818-1819 mais le voyage avait eu lieu en 1812 et duré cinq mois. Mylius était accompagné du peintre bâlois Rudolph Huber. Son ouvrage, de nos jours, n’est plus guère repéré que par les bibliophiles (Marwinski 1998 : 32) et encore est-ce surtout pour ses lithographies : le volume de planches passe pour être l’un des premiers recueils de lithographies qui aient été imprimés à Karlsruhe et ses illustrations avaient été confiées à divers graveurs (Welz 2007 : XLIII). Dans le cas de Mylius, l’intégralité est synonyme de projet encyclopédique, ce en quoi il prolongeait la tradition des voyageurs de la Spätaufklärung : au foisonnement de listes d’ouvrages et de manuscrits, au répertoire et à la copie d’inscriptions latines antiques, qui avaient donné lieu au genre des « recueils d’antiquaires », les représentants de l’élite cultivée des années 1770-1790 avaient ajouté des informations plus générales sur les États visités, les milieux sociaux, l’avancée des Lumières. Le genre avait alors acquis définitivement ses lettres de noblesse. À l’instar du libraire-éditeur berlinois Friedrich Nicolai, ces « Aufklärer » aspiraient à être exhaustifs et Mylius,

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relayant ce type d’écriture, diffuse à son tour une multitude d’informations savantes et culturelles. Cependant il ne se borne pas à s’insérer dans cette République des Lettres qui avait connu son heure de gloire trente ans plus tôt car il s’attribue, quant à lui, un double rôle : celui de transmettre le souci du patrimoine archéologique impulsé par Louis-Aubin Millin (on sait que ce dernier avait conseillé dès 1790 la création d’une « Commission des Monuments ») ainsi que celui de sensibiliser les lecteurs allemands à la cause de la culture et de la pensée historiques. Le transfert culturel consiste ici à s’approprier les paramètres savants des archéologues et des historiens tout en les dépouillant toutefois de l’orientation nationale (cf. Héritier 2003) qui leur était donnée par les Français de l’ère révolutionnaire et napoléonienne. Mylius élargit la perspective bien au-delà. En espérant toucher un large public, il ajoute en effet une composante pédagogique et sociologique qui correspondait à ce qu’il jugeait faire partie de sa vocation ecclésiastique. Cette générosité de pédagogue est fortement soulignée dans son avant-propos : il y indique son souci d’aider le lecteur à s’approcher de la « vérité » des objets décrits, et ce en ajoutant des dessins. Les ouvrages illustrés étant onéreux et seuls quelques particuliers nantis et les bibliothèques publiques pouvant se les offrir, son intention est de publier un ouvrage financièrement accessible 1 : « Der unzähligen Reisebeschreibungen über Italien, die Schweiz, Deutschland, Frankreich, England ungeachtet, haben also mittelmäßig begüterte und besoldete Literatur- und Kunstfreunde zu Tausenden […] nur eine sehr schwache, mangelhafte Idee vom Schönsten und Merkwürdigsten, was die Natur und Kunst in jenen Ländern zum Genusse und zur Bewunderung aufgestellt hat. » (Mylius 1785: II)

Le lectorat qu’il envisage est donc celui qui ne résidait pas près des grandes villes et dont la fortune était modeste. Comment ne pas songer ici au propre milieu de l’auteur, à d’autres pasteurs ou à des instituteurs de campagne ? D’autres textes de lui prouvent que c’était bien là le lectorat auquel il s’adressait. 2 De plus, il avait souhaité, durant ses études, sensibiliser aussi un autre public, moins acquis à la lecture, celui des femmes et des paysans aisés (cf. Mylius 1785). Les deux randonneurs partent de Bâle, suivent le cours de la Saône et du Rhône jusqu’à la Méditerranée, se tournent vers Toulouse et les Pyrénées, reviennent par le canal du Midi, puis rentrent en Suisse après avoir visité Gênes et Turin. Malgré un titre annonçant un accent mis sur le « pittoresque » du voyage pédestre, les quelques instants d’euphorie face aux charmes des paysages restent conventionnels. 3 Le texte 1

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Depuis Montfaucon en passant par Winckelmann, « l’histoire de l’art déborde l’esthétique pour restituer la matérialité d’une civilisation », comme le montre Elisabeth Decultot (2010) : Musées de papier. L’Antiquité en livres 1600-1800, Paris : Musée du Louvre Editions. Deux ans plus tard, on trouve de sa plume un texte destiné aux pasteurs et instituteurs de campagne … Mylius est « saisi » par la « nostalgie du ciel méridional », comme d’autres de sa génération qui « se perdaient, délivrés des chaînes et des pesantes obligations de la vie bourgeoise, dans ses paradis les plus charmants, ses bosquets de lauriers, de myrrhes et d’orangers, dans les magnifiques vestiges d’un monde meilleur qui s’était éteint ici. Ils

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est, dans sa majeure partie, un compendium de longues traductions, que Mylius fait lui-même de la relation du voyage de Millin (cf. Millin 1811) et d’autres travaux d’érudits utilisés par ce dernier, tels Ménard ou Clérisseau. Mylius se réfère une fois à Fischer (dont le voyage était d’ailleurs connu par Millin) (cf. Fischer 1805) et dit citer, sans qu’il en indique les références exactes, des voyageurs allemands. Au demeurant, il ajoute scrupuleusement des guillemets, mais sans systématiquement donner sa source. Si nous comparons ses traductions avec le texte de Millin, nous voyons que Mylius respecte le texte original. Une différence avec Millin découle des innombrables ajouts auxquels procède Mylius, sans doute pour être plus facile à comprendre, moins elliptique, plus « lisible » (lesbar). Par ailleurs, sitôt qu’un personnage auquel Millin fait allusion ne ressort pas nettement, son nom est ajouté par Mylius, qui se montre en cela excellent exégète. La reprise du texte de Millin a néanmoins une importante répercussion : Mylius, en s’effaçant derrière Millin, occulte à plusieurs reprises la dimension confessionnelle de sa propre relation. Par exemple, Mylius reproduit littéralement les commentaires que Millin avait donnés de l’anecdote selon laquelle le poète Edward Young avait soudoyé le gardien du cimetière parce que les catholiques de Montpellier ne l’avaient pas autorisé à y inhumer sa fille (Mylius 1785 : 126). Or Millin estimait que ces catholiques avaient réagi selon leur bon droit, ce qui est répété par Mylius alors que nous aurions pu attendre une autre version de la part de ce pasteur. Ou bien, à propos des dragonnades menées contre les Camisards, Mylius se borne à rapporter les faits dans leur cruauté et à donner le nom des généraux de Louis XIV, comme Millin. Ce dernier avait attribué ces actes, toujours selon son approche française, à une intrigue ourdie par Louvois qui aurait ainsi voulu accroître son influence auprès du roi. Ou encore, à propos de Nîmes, Mylius se contente de qualifier la ville de haut-lieu du calvinisme (Mylius 1785 : 83), mais sans éloge appuyé. Enfin, et c’est là en revanche un changement significatif par rapport à Millin, Mylius fait de temps à autre part de ses états d’âme. Soit pour promouvoir la protection du patrimoine, qu’il estime entrée dans les mœurs 4 puisqu’il n’a plus vu la « canaille destructrice » dont Millin se plaignait, ce qui signale l’éloignement des turbulences révolutionnaires et semble traduire une admiration pour le système napoléonien. Soit pour avouer sa passion pour les voyages et la lecture des textes de voyageurs (Mylius 1785 : VIII). Le paysage est esthétisé par le biais de quelques mises en scène de promenades, de contemplations de ruines au clair de lune, du trouble éprouvé à la vue de la Maison carrée, à laquelle notre voyageur attribue une grâce féminine. Il s’amuse du naturel des lavandières, réprouve la tentation du luxe chez les riches paysans (Mylius 1785 : 212), est fasciné par le déroulement d’une procession (ce qui rappelle les descriptions de plus d’un « Aufklärer » découvrant une terre catholique), admire de belles Nîmoises qu’il compare – dans une veine

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goûtaient les paradis situés près de la Saône, près de Montpellier, de Nice, d’Hyères, […] les paradisiaques vallées où vivent les bergers des Pyrénées, […] les beautés de la mer », note Thomas Grosser, « La perception du paysage chez les voyageurs allemands en France », in : Revue Germanique Internationale, 1997, p. 42. La « canaille destructrice » qui suscitait l’emportement de Millin (p. 219), à savoir les polissons qui abîmaient les restes antiques, ne se donnerait plus à voir (Mylius, p. 47).

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laïque et littéraire – aux soixante-douze vierges du paradis d’Allah (Mylius 1785 : 50, 70-71). Au total, ce texte élargit à l’Europe la perspective de spécialistes français de l’histoire des Antiquités, la transmet à un lectorat germanophone appartenant aux classes moyennes, mais ne mène pas pour autant un discours moralisateur ou strictement confessionnel. La transmission des savoirs se cristallise autour des mécanismes de l’érudition (citations, traductions, gravures), mais une certaine place est donnée aux impressions et à l’esthétisation. Son expérience de l’altérité a servi la cause pédagogique de Mylius, qui relaie des formules immortalisant les sites renommés et les beaux restes de l'architecture antique. Mais les contacts dont il fait état avec la population française sont ténus, il se comporte en simple spectateur, comblé par sa lecture de savants français et par l’observation des monuments et des paysages les environnant. Il ne nous apprend rien sur les débuts de l’émigration militaire ou économique qui amenait de jeunes Allemands vers la France (cf. Grandjonc/Werner 1983, König 2003) et on ne peut pas parler dans son cas de militantisme déclaré en faveur de la confession protestante. Le deuxième exemple que nous avons sélectionné est celui de Gotthilf Heinrich Schubert (1780-1860), Reise durch das südliche Frankreich und Italien (1827-1831). Schubert voyage en 1826 avec son épouse et huit étudiants allemands. Il était à l’époque professeur à l’université d’Erlangen mais son parcours professionnel est tortueux. Après avoir commencé des études de théologie, il s’était tourné vers la médecine. Puis, plutôt que de continuer à exercer le métier de médecin, il avait délaissé la pratique et privilégié des réflexions théoriques, tout en gagnant sa vie grâce à diverses responsabilités pédagogiques, notamment en tant que précepteur des enfants du grand-duc de Mecklembourg. À l’époque du voyage, il était déjà célèbre pour ses recherches sur le magnétisme animal et sur le rêve, ce qui lui avait valu d’être nommé à la chaire d’histoire naturelle à l’université d’Erlangen et d’être élu aux académies de Halle (Leopoldina) puis de Munich (Bayerische Akademie der Wissenschaften). Dans le Midi, il s’entretiendra avec d’autres éminents botanistes et des minéralogistes de Montpellier. Schubert garde une certaine notoriété de nos jours, d’autant que son ouvrage sur la symbolique des rêves avait été très tôt traduit en français et qu’Albert Béguin lui réserve tout un chapitre dans son ouvrage sur L’âme romantique et le rêve (1937). Schubert, dont Tieck, E.T.A. Hoffmann, plus tard Wagner puis Freud, ont lu les écrits, compte aujourd’hui encore parmi les représentants de la philosophie romantique, de la face nocturne de la nature, du magnétisme. Gotthilf Heinrich Schubert avait déjà publié en 1823 Wanderbüchlein eines reisenden Gelehrten nach Salzburg, Tirol und der Lombardey : à la manière de Jean Paul, avec lequel il avait été en contact, il se moquait de la sédentarité de certains Franconiens pour qui le bonheur suprême consistait à consommer bière brune et saucisses de Nuremberg. Mais ce texte montrait aussi qu’il savait valoriser ses échanges avec autrui et en garder des traces durables. En matière de théologie, Schubert a été rapproché de Herder et surtout de son contemporain Schelling (cf. Schubert 1891). Ce qui donne le plus de cohérence à son expérience du voyage en France est son sentiment religieux piétiste : il arrive d’Erlangen, donc d’une partie de la Bavière protestante où des huguenots avaient été accueillis par le margrave de Bayreuth à la fin du XVIIe siècle. Il est venu rendre vi-

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site à des coreligionnaires et le mouvement du Réveil (cf. Encrevé 1986) était ce qui l’intéressait en priorité chez les protestants du Midi de la France. Il dit lui-même être venu, auprès d’eux, se « ressourcer au jardin des Ames » (Schubert 1827 : 186). Présentant le récit de son déplacement comme celui d’un voyage dans le « jardin de Dieu », Schubert décèle la présence divine dans la nature. Il rapporte ses expériences en fonction de tous les moments qui ont contribué à galvaniser son sentiment religieux personnel et en fonction de ce qui est susceptible de stimuler la foi de ses lecteurs. L’orientation de son texte est donc différente de celle de Mylius ; ici, l’aspiration à élargir l’horizon culturel de ses étudiants et lecteurs ne va estomper que les frontières religieuses, pas les autres. Par exemple, Schubert signale la présence d’Allemands et de Suisses qui se sont fixés à Nîmes et il cite les noms de Heimpel (il s’agit sans nul doute du négociant Johann/Jean Heimpel, originaire de Lindau) et Kleffler (aussi originaire de Lindau); il note que les enfants ne parlent que français et que l’assimilation linguistique s’observerait aussi dans les milieux des ouvriers qui travaillent dans le textile de Nîmes. Une première remarque s’impose : ces deux émigrés avaient quitté Lindau pour échapper à la conscription sous l’occupation de Napoléon, de sorte que les commentaires politiques de Schubert, et dont nous ferons état plus loin, résultent probablement de ses conversations avec ces bourgeois devenus Nîmois. Autre remarque : le fait que les voyageurs allemands séjournent chez ces familles nous prouve que, bien qu’assimilés, les germanophones se voyaient entre eux, gardaient un sentiment identitaire, et que l’assimilation linguistique ne suffisait à effacer ni les traditions culturelles ni le sentiment d’appartenance à l’aire culturelle germanique. Aux dires de Schubert, on avait beau être installé à Lyon ou à Vienne, dans la vallée du Rhône, y travailler et parler français, on continuerait malgré tout à être qualifié d’Allemand par les locaux tout comme par les voyageurs. Le domaine où il est le plus explicite est la sociabilité qu’il place sous le sceau de la communauté de valeurs : c’est à cause de cette communauté spirituelle que les échanges sont possibles avec les autochtones. Il rencontre par exemple des cavistes et des botanistes à Montpellier. Il parle longuement de Salzmann et, quoiqu’il ne le précise pas, nous pouvons reconstituer qu’il s’agissait de Philipp Salzmann, botaniste montpelliérain, fils du célèbre pédagogue de Schnepfenthal, établissement philanthropique où l’on éduquait les enfants dans la tradition piétiste ; au demeurant, des philanthropistes, Salzmann avait été l’un des plus convaincus de la supériorité de la confession protestante sur les autres confessions, et cela aussi pouvait être un gage plaidant, aux yeux de Schubert, en la faveur du fils. Il apprécie aussi Lichtenstein, négociant en vins ayant pignon sur rue, qui lui a présenté Marcel de Serres, géologue qui se penchait également sur les relations entre science et religion. Or, ce que Schubert a loué, c’est la délicatesse de leur âme, et non leur savoir ou leur réussite commerciale : Lichtenstein est « un Allemand d’esprit et de manières » (« dem Deutschen an Geist und Art ») et Salzmann composerait avec lui « un bouquet des fleurs allemandes les plus choisies » (Schubert 1827 : 235, 237). Ces expressions sont caractéristiques du message romantique et piétiste de Schubert, à qui il importe d’avoir partagé avec ces anciens exilés la croyance en une relation directe que la nature entretiendrait avec Dieu et en la possibilité de surmonter le clivage entre matière et esprit.

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Le curseur culturel s’étant déplacé, Schubert peut conférer aux informations données par Mylius une tout autre portée dans la mesure où il les cite mais les sort de leur contexte. D’une part, et cela n’a rien de surprenant, on devine qu’il déambule dans les rues tout en ayant à portée de main les détails archéologiques méticuleusement recopiés par Mylius. D’autre part, les endroits où il renvoie nommément à Mylius sont des anecdotes qui n’avaient pas tenu une grande place chez cet autre auteur. Par exemple, Schubert conseille de lire Mylius pour la description des persécutions dont les camisards avaient été les victimes. Or, nous avons vu que Mylius avait résumé l’exposé des faits, mais sans emphase. En conseillant (Schubert 1827 : 184) de se reporter à ce passage de Mylius, Schubert restreint sa perspective : il privilégie des références intra-allemandes, ne s’intéresse donc pas à une histoire purement française et transpose l’intérêt de ces conflits à un niveau religieux ; il s’agit pour lui de conférer un sens sublimé à l’histoire des martyres protestants. Ceci est confirmé par une autre référence allemande qu’il insère plus loin, celle d’un historien de Halle, Eberhard Rambach, pour son Schicksal der Protestanten in Frankreich (id. 210). Plus encore, ce serait la Providence divine qui donnerait un sens à l’histoire politique de la France. Avant de mentionner ces persécutions, Schubert, procédant à rebours, avait souligné les progrès : « Es steht also dort [in Südfrankreich], was die Sicherheit des Lebens, der Freiheit, der Güter betrifft, freilich ganz anders mit unsern Glaubensgenossen, als noch vor wenig Menschenaltern [1703]. » (Schubert 1827: 183) Au lieu, comme le faisait Mylius, de souligner l’éloignement des turbulences révolutionnaires et de s’en tenir au bon fonctionnement des institutions, Schubert insiste donc sur la place des protestants dans la société française et sur l’obtention de la garantie de leurs droits fondamentaux. D’où aussi son sentiment de plénitude face à l’état de la société française, à la différence de ce que nous trouverons chez Gelzer. Sa déduction est que le progrès des idées religieuses est facilité par une situation de diaspora. Pour lui, la ville de Nîmes n’est « plus l’Elysée des dieux de l’Antiquité » (Schubert 1827 : 186) : il abandonne donc l’émerveillement des « voyageurs antiquaires » face aux restes antiques qui persistait chez Mylius. En revanche, voir en Nîmes le « jardin de Dieu » semble être sa manière d’actualiser ici-bas le passage biblique de Genèse 2, 15 (la destination de l’homme serait de « faire fructifier » le jardin) – ce en quoi, après tout, il signale peut-être le succès d’une mission que les émigrés allemands protestants auraient accomplie en fertilisant non seulement l’économie mais aussi la vie spirituelle locales. 5 Du fait des persécutions passées, la foi serait ardente et les théologiens de grande valeur, et Schubert d’avancer les noms de Fléchier et Saurin ; ces deux personnalités avaient connu leur heure de gloire près d’un siècle plus tôt et n’étaient effectivement pas oubliées à l’époque ; c’est peut-être la réédition récente de leurs oraisons qui a incité Schubert à rappeler ces deux noms pour montrer la force et la résistance de leur confession. Au-delà de ces grandes figures, Schubert globalise et recourt à des stéréotypes proto-wébériens : les habitants de confession protestante seraient « les plus érudits, les plus travailleurs, les plus nobles de cœur […] ». Quant aux soldats suisses, qui composeraient la garnison actuelle, ils ne connaîtraient pas de tensions confessionnelles entre catholiques et protestants, et seraient exemplaires. De tels stéréotypes pourraient fort bien aussi corres5

Cette image est récurrente chez les missionnaires du temps, cf. par exemple Monatsschrift für Bibelverbreitung und Missionen, 1, 1822.

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pondre à l’intention de Schubert de critiquer le courant libéral qui émergeait dans les rangs de certains théologiens français et allemands et de manifester, au contraire, sa solidarité avec le mouvement du Réveil. Sous toutes ces formes, c’était un soutien appuyé qu’il apportait à ses amis méridionaux : « Jetzt (!) hat manche Stadt, welche damals nur Hinrichtungen der Protestanten gesehen, in ihrer Mitte Kirchen und Gemeinden, bei denen die Urenkel der ehemaligen so eifrigen Verfolger an der That selber erkennen, daß ein Werk der Erweckung, welches nicht von Menschen, sondern von Gott gewesen, durch Menschenhand, sey sie auch die mächtigste und gewandteste, sich nicht vertilgen lassen, sondern daß es, seit Jahrhunderten, durch die Taufe der Lästerungen, der Gefängnisse, der Martern und Hinrichtungen, immer nur gewachsen und innerlich stärker geworden sey. » (Schubert 1827 : 216)

Ce soutien, Schubert l’apportait également aux royalistes, de sorte que la relation de son voyage prend une tournure plus sociale et plus politique que celle de Mylius. Cette politisation se place sous le signe d’une acception romantique de la politique dans la mesure où les registres s’entremêlent et où la représentation des faits de société, des actes politiques, de la diplomatie, est synthétique et diachronique. Car Schubert établit un lien de cause à effet entre les pratiques absolutistes de Louis XIV, les brutalités militaires de ses dragons et la Terreur des révolutionnaires – et même l’alliance entre la France et l’Empire ottoman, alliance dont il n’est pas précisé si c’est celle qui remonterait aux débuts de l’Empire ottoman, ou si Schubert fait allusion à l’alliance de François Ier avec Soliman le Magnifique, ou bien à l’actualité récente. Il veut donner un sens positif aux persécutions subies par les protestants de France et rejette le scepticisme religieux voltairien avec fougue et pathos : « Der stumme Jammer des zerstoßenen Lebens, welcher lauter gegen die Anfänger des Elendes gezeugt als die Stimme der Geschichte, wäre in ein segnendes Gebet für Frankreich verwandelt worden, welches in diesem keinen Voltaire, keine Revolution mit ihren Schrecknissen hätte aufgehen lassen. Denn nur aus einem auf solche Weise mit Blute gedüngten Boden gehen solche Gewächse hervor. » (Schubert 1827 : 215)

Cette façon d’inverser en imagination le cours de l’histoire trouve peut-être sa légitimité dans l’histoire allemande, par exemple si nous songeons aux solutions qui avaient été trouvées pour mettre un terme à la guerre des paysans de 1525. L’affirmation que la Révolution aurait pu être évitée en France si la foi avait été plus forte relève dans tous les cas d’un discours idéologique contre-révolutionnaire. Nous y retrouvons les convictions religieuses sur lesquelles repose la cohérence de l’argumentation de l’auteur mais nous assistons aussi à leur glissement vers une forme de chauvinisme : la culture de référence, confessionnelle, investit ici le sentiment national. D’autres indices figurent ailleurs dans le texte, par exemple quand Schubert raconte que la langue française lui a été enseignée par un professeur qui n’était jamais allé en France mais dont le professeur du professeur avait été barbier à la cour de Louis XV, ce qui lui inspire le trait d’humour suivant : « Der geneigte Leser muß nemlich wissen, daß jenes Französisch das ich spreche, in gerader Linie, und zwar nur im vierten oder fünften Gliede vom königlichen Hause der Bourbons zu

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Paris herstammt, denn der Schullehrer im Schönburgischen Lande, bei welchem ich es erlernt, hatte es seinerseits von einem Manne, der zwar selber niemals in Paris gewesen, wohl aber sein Lehrer; denn dieser war Friseur am Hofe Ludwigs XV. Mein Französisch ist daher gewiß ein gerechtes, ein royalistisches Französisch , welches frei ist von allen jenen Nasenlauten und von jenem Verschlingen der Buchstaben und Sylben, welche sich das französische Volk wahrscheinlich während der großen Noth und herrschenden Unreinlichkeit der Revolution angewöhnt hat; es ist ein Französisch, das fast so klingt wie Deutsch. Nicht ohne Betrübniß muß ich hierbei bemerken, daß zu der Zeit, als ich in Frankreich reiste, vielleicht kaum sechs Menschen darinnen waren, welche ein wahrhaftes und gerechtes Französisch sprachen und einer von diesen sechsen dessen Nahmen mir die Bescheidenheit zu nennen verbietet, hat jezt jenes unglückliche Land wieder verlassen und lebt in München, […] » (Schubert 1827: 241)

– sachant que la personne dont il tait l’identité désigne forcément sa propre personne, puisque Schubert venait d’être recruté à l’université de Munich. Que ces stéréotypes soient des boutades destinées à faire sourire n’est pas à exclure, et cette dérision fait partie de son expérience d’intégralité intellectuelle, sociale, politique, ainsi que morale, sentimentale et physique. Néanmoins, Schubert hypostasie l’âme allemande comme quintessence du sens spirituel, comme creuset des vertus religieuses. Son discours romantique implique chez lui une politisation de l’histoire des protestants français puisque, pour lui, la logique de la Révolution et de la Terreur s’inscrit dans la continuité de l’absolutisme et des persécutions des protestants. Mysticisme et téléologie ont renforcé sa foi en un Dieu créateur de la nature et son option pour des positions contre-révolutionnaires potentiellement germanocentrées. La relation du troisième voyageur étudié, Bericht von der Reise der Brüder Linder und Mentha in das südliche Frankreich im Frühjahr 1837 6, est due au Suisse Johannes Linder (1790-1853) ; son accompagnateur Jean Mentha avait déjà effectué deux ans plus tôt le rapport d’un voyage dans le nord de la France et à Paris. Ce texte se situe dans la veine du mouvement morave fondé par Zinzendorf, qui reliait mysticisme et piété pratique et se plaçait au-dessus des controverses entre luthériens et réformés. La diffusion de ce texte fut de moindre amplitude que celle des précédents dans la mesure où il s’agit d’une enquête commanditée par la communauté saxonne des frères moraves de Gnadau. 7 Il s’apparente à un rapport de mission et provient sans doute d’un journal tenu durant le voyage et retravaillé en vue de ce compte rendu. Le substrat de cette relation est une chronique que Linder et son compagnon ont tenue au jour le jour dans l’intention de se remémorer plus tard les informations et les événements vécus à l’étranger, autant pour eux que pour d’autres 6 7

Publié dans deux numéros consécutifs du périodique Nachrichten aus der Brüder-Gemeine, Gnadau, Burkhard, 1837, p. 675-719 et p. 786-822. Les récits des voyages des frères moraves sur tous les continents étaient déjà signalés dans les anciennes bibliographies, par exemple dans l’Histoire générale des voyages de Prévost d’Exiles, publiée à partir de 1770, ou dans L’Abrégé de l'histoire générale des voyages par Jean-François de La Harpe de 1786. On trouve également une analyse de tels récits de mission de 1735 à 1792 dans : Otto Teigeler, Die Herrnhuter in Russland: Ziel, Umfang und Ertrag ihrer Aktivitäten, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 2006.

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frères, en y ajoutant leur état d’esprit du moment. Puis, en mettant en forme cette chronique, ils ont ajouté la composante que Dorothee Röseberg nomme le « commentaire critique », le « méta-texte », un travail étant opéré sur leur sélection des personnes et des situations, cette sélection ayant été effectuée à partir de leurs points de convergence, plus rarement de divergence, lors de leurs échanges. Comparé aux autres relations de voyage, leur récit se transforme en la restitution du chemin symbolique que ces deux auteurs ont parcouru avec leurs interlocuteurs français. Il renferme une énumération des personnes rencontrées qui leur ont manifesté de la bienveillance ; le nom de la moindre localité est important pour les identifier et les classer. Les informations sont pour la plupart orientées dans un seule et même but : donner une estimation de l’implantation de l’idéologie piétiste à l’étranger, renvoyer aux conventicules le reflet de leur rayonnement, prouver aux lecteurs que les rédacteurs ont agi en témoins de la Bonne Parole. Dans le cas de ce type de compte rendu viatique, les strates argumentatives et émotives ne peuvent à aucun moment se dissocier : le sentiment religieux est personnel mais la motivation du déplacement est celle de la communauté. Pour ces missionnaires, le passage à l’acte de l’écriture est à qualifier de performatif puisqu’ils ne se limitent pas à la chronique d’un voyage et que leur engagement au service de leur cause s’y manifeste dans son immédiateté, il est vécu par la pensée, l’action et l’écriture. La relation de ce voyage sert à faire le point de l’ancrage de l’élan mystique dans les régions visitées et de lister les moments de son partage. Il s’agit d’une sorte de tournée d’inspection dont la cadence s’avère rapide et exigeante. Les deux frères ont rencontré, en quinze jours, 62 pasteurs réformés et douze luthériens. Bravant maladies et fatigue, ils vont de village en village, en un maillage serré. Le dimanche 30 avril, ils assistent à cinq offices « entre 8 heures du matin et 8 heures du soir ». Du fait de cette cadence, ce document nous en apprend davantage sur la spiritualité des moraves que sur les lieux à proprement parler, si ce n’est par le truchement du portrait des personnes mentionnées, de la description de leur quotidien, des brèves biographies signalant le moment de la conversion de tel ou telle « réveillé » ou « réveillée ». En matière d’interculturalité, ce texte nous fait toutefois entrevoir une autre catégorie de relations franco-allemandes, d’ordre professionnel, social et spirituel. 8 Linder et son collègue présentent en effet les pasteurs qui les ont accueillis, visitent des institutions caritatives comme des orphelinats et des écoles, donnent des détails sur la date des réunions et le nombre de participants, sur les offices et sur la possibilité qu’ils ont eue de prononcer des homélies. On peut en conclure que le nombre des « réveillés » étant réduit à Nîmes, Montpellier, et dans les Cévennes, le texte livre une sorte d’annuaire réactualisé – ce qui s’accompagnait aussi d’une forme de victoire puisque, en 1837, il n’était plus nécessaire de rester dans la clandestinité (cf. Gembicki/Gembicki 2013) 9 et qu’il était licite de se désigner et aussi de désigner nommément les « amis en esprit 10 ». 8

L’étroitesse de ces relations entre la France et l’aire culturelle germanophone ressort du Journal de l’Unité des Frères édité à la même époque à Nîmes, mais ce Journal n’était rédigé qu’en français et son orientation était délibérément supranationale. 9 Une tournée clandestine avait été effectuée par d’autres moraves dans les mêmes régions près de soixante-dix ans plus tôt. 10 « Freunde », « eine Verbindung im Geiste » (Linder, p. 812).

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Sous leur plume, les informations qu’ils obtiennent sont ajustées à leurs propres croyances (Ludwig/Röseberg 2010 : 259). 11 À telle enseigne que le contact avec l’étranger ne les incite jamais à remettre en cause leurs positions de départ. Au contraire, ils cherchent à ne retenir que ce qui apparenterait les valeurs de ces protestants du Midi à celles des moraves. Même le paysage est filtré en fonction de leurs paramètres, par exemple les falaises calcaires des Cévennes, comparées à une région fréquemment décrite par les missionnaires moraves mais inattendue dans ce contexte, le Groenland : « Ohnedies hat St. Hippolyte [Cevennen] in so fern mit Grönland eine Ähnlichkeit, dass das Cevennen-Gebirge, welches hier seinen Anfang nimmt, aus lauter Felsen besteht, die, wenigstens in hiesiger Gegend, ganz nackt und kahl sind. » (Linder : 810)

Ils signalent avec plaisir le fait que quelques personnes attendaient impatiemment leur venue. Tout cantique familier déclenche une agréable surprise. L’allusion à un contact antérieur avec un autre morave, si ténue fut-elle, leur est précieuse : la brève rencontre d’un pasteur et du morave Merillat à la faculté de Montauban semble par exemple correspondre dans leur esprit à une victoire – puisque ledit pasteur a été suffisamment marqué par ce contact pour en avoir gardé le souvenir. Des lieux de la mémoire protestante collective, Linder retient le nom des personnalités qui ont affiché leur foi face à un environnement hostile, comme le pasteur Rabaud qui affronta courageusement le bourreau qui le guillotina. Inversement, les mœurs et les sermons sont parfois critiqués. Des différences sont signalées à plusieurs reprises dans les pratiques de l’homélie : chez ces Français, il y aurait plus d’élan pathétique et moins de références au texte biblique, ce qui serait à déplorer, mais l’incise « cela serait en train de changer » manifeste l’intention de ces missionnaires d’encourager le Réveil (Linder 1837 : 809). Ils s’emportent contre les courses de taureaux : parce que l’animal y susciterait plus d’enthousiasme que les êtres humains, elles seraient des jeux dépourvus de morale et pousseraient au désœuvrement. L’anticatholicisme n’est pas absent : des allusions sont faites à des heurts causés par des catholiques, mais leurs informateurs – allant dans le sens d’un pacifisme piétiste – estiment que le calme serait revenu à Montpellier. Nous déduisons du récit de ces expériences que la difficulté et la préoccupation des deux auteurs ont consisté à trouver des moyens non seulement d’échanger mais aussi de coopérer avec les autres directions prises par le protestantisme. Le concept de « Freund », auquel ils ont eu recours, était une promesse, un espoir de transposer une forme de civilité en un échange spirituel fructueux. C’est à ce niveau que la rencontre leur avait paru fonctionner, mais sans que chacun ne réussisse à convaincre le partenaire. Or, pour des moraves, c’est bien de conversion et de renaissance qu’il se serait agi. La manière dont leur compte rendu s’achève permet de signaler encore quelques caractéristiques intertextuelles. Comme ce qui précédait, la conclusion s’adresse exclusivement aux frères, mais il en ressort plus précisément que ces informations sont écrites pour des moraves germanophones, lesquels sont en définitive appelés à dynamiser le soutien à apporter à leurs homologues français trop isolés : 11 C’est là une problématique récurrente chez de nombreux missionnaires.

108 | F RANÇOISE K NOPPER « So beachtungswerth und gesegnet auch die Thätigkeit anderer religiösen Gesellschaften in Frankreich ist, so bleibe dennoch des Landes noch viel übrig einzunehmen. Und es ist Pflicht der Brüdergemeine, die auch der vorjährige Synodus freudig anerkannt hat, auf einem Felde nicht zurück zu bleiben, das ihr der Heiland schon seit bald hundert Jahren zur Arbeit angewiesen hat, und worauf sie im Stillen schon so manchen Segen geerntet hat. Er aber, der da machen kann, dass allerlei Gabe reichlich bei uns wohne, wolle uns selbst zu seinem heiligen Dienste vollbereiten, stärken, kräftigen und gründen! » (Linder : 822)

Linder et Mentha durent par conséquent trouver un équilibre délicat entre leur vocation et leur bilan, volens nolens négatif, vu le retard qu’ils constatent dans cette partie du Midi. Pour que ce bilan ne puisse en aucune manière être interprété comme un aveu d’échec, ils réitèrent en conclusion leur propre engagement, rendent hommage au fondateur du mouvement, Zinzendorf, et aux instances synodales des moraves. Le fait que Jean Mentha soit venu s’installer à Nîmes 12 peu après son voyage avec Linder est d’ailleurs le signe que la communauté avait tiré les leçons de ce compte rendu. Le quatrième exemple, Protestantische Briefe aus Südfrankreich und Italien (1852), est dû au plus connu de nos auteurs : Johann Heinrich Gelzer (1813-1889), théologien et historien. D’origine suisse, il avait fait ses études à Bâle, Iéna, Halle et Berlin. Il enseigna jusqu’en 1850 à l’université de Berlin et venait de retourner à Bâle à l’époque de son voyage. Il fut le plus prolixe et publia, entre autres, des études sur Luther, sur la littérature, et créa un périodique, Protestantische Monatsblätter (18521853), pour lequel sa relation de voyage a pu lui servir de préparation étant donné la variété et l’actualité des thèmes qui y sont déjà abordés. Le public auquel Gelzer destinait sa relation était en outre sans doute le même que celui de sa revue à laquelle, disait-il, il souhaitait associer le plus grand nombre possible de personnes cultivées, à condition de laisser de côté les athées et les catholiques. Comme ses biographes (cf. Fischer) indiquent que Gelzer avait ses entrées dans les milieux diplomatiques, était ami de Bunsen, fut consulté par le roi Frédéric Guillaume IV après 1848 au sujet des relations à assainir entre la Prusse et la Suisse, il est permis d’examiner si l’expérience intégrale de l’interculturalité, telle qu’elle se présente dans les Protestantische Briefe, a effectivement créé des passerelles – plus nombreuses et plus explicites que dans les trois cas précédents – entre religion, éthique, littérature, politique, histoire. Le choix du titre frappe d’emblée. Si Mylius utilisait la formule souple de la relation de voyage pour publier un compendium agréable à consulter et destiné à accroître le savoir, si Schubert la pratiquait comme un exercice distrayant et renfermant des observations aptes à stimuler la foi religieuse par la qualité des exemples cités et par les informations sur la flore et la géologie, et si Linder et Mentha remplissaient les attentes d’une étude, Gelzer met pour sa part plus précisément l’accent sur le support textuel : presque toutes ses lettres auraient été écrites sur place et seules les dernières auraient été ajoutées plus tard. Il nous semble que l’expérience de l’interculturalité s’enrichit de cet approfondissement. Car le fait de privilégier la forme épistolaire, surtout écrite sur le vif, traduit 12 L’annonce du décès de Jean Mentha figure dans le Journal de l’unité des frères, 1838, p. 288.

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un souhait d’établir une communication directe et familière avec les lecteurs (cf. Golz 2007 : 254, Dufief 2007, Bunzel 2001) et semble célébrer la liberté d’exprimer ses impressions personnelles, ses opinions aussi, la liberté de les diffuser dans la sphère publique. La lettre est plus intime que l’article de journal mais sa publication lui confère les mêmes atouts que ceux du discours journalistique. À la différence des missionnaires moraves, Gelzer ouvre la palette des descriptions. Les pistes les plus prometteuses ne seront pas les restrictions qui paraîtraient résulter du titre – plaçant en exergue l’optique confessionnelle « protestante » – et de l’avant-propos, où Gelzer prétend que son texte ne sera « ni purement esthétique ou politique, ni catholique ni irréligieux » (Gelzer 1852 : VI) ni celles de la filiation qu’il établit avec la relation de voyage de Schubert, laquelle lui aurait donné l’envie d’à son tour relater un voyage. Gelzer se promène, et nous promène, dans le cadre d’un tourisme cultivé comme on va dorénavant le rencontrer fréquemment dans la littérature de voyages de la deuxième moitié du XIXe siècle. La perception est devenue plus ample, ses grilles d’observation permettent à l’auteur d’avoir une vision d’ensemble à tous égards et d’établir toute sorte d’analogies. Les comparaisons de Gelzer entre différentes villes d’Europe modifient beaucoup, par exemple, la représentation de la ville de Nîmes. Il commence par nous faire flâner, en une page et en un premier temps, d’un monument romain à l’autre, sans s’appesantir sur les informations quantitatives. Cette promenade est si habilement structurée que l’énumération n’a rien de pesant, c’est comme si l’on sillonnait un lieu familier, dont on a entendu parler, dont on souhaiterait retrouver ce que l’on sait sous la forme de ce premier aperçu. Ce passage est proche du genre des « Promenades » qui était devenu fort à la mode en Europe (cf. König 1996) ; en cela, Gelzer s’approprie pour ainsi dire l’écriture du voyage en l’associant à une pratique de la sociabilité 13 de son temps. C’est dans le cadre de cette esthétisation de la sociabilité qu’il insère la mobilité de ses réflexions, qu’il laisse vaquer au rythme de ces promenades : « An Stätten wie diese, überlasse ich mich am liebsten dem Zuge der Gedanken, der meinen Geist in die ernstesten Fragen über die Vergangenheit und die Zukunft unseres Geschlechts versenkt, der mich bald in ferne Jahrhunderte zurückführt, bald aber in mein innerstes Wesen eingreift, mit dem unermesslichen Worte ‹ Was willst Du und was bist Du in diesem riesengroßen, so oft verschütteten, so oft erneuerten Bau der Zeiten? › » (Gelzer 1852 : 22-23)

Au demeurant, cette façon de transposer ses émotions est parfaitement maîtrisée et destinée à ce public de gens cultivés auquel Gelzer s’adresse : la preuve en est qu’il greffe sur l’émotion ressentie devant les ruines antiques la même réflexion et les mêmes termes que ceux qu’il avait précédemment utilisés dans une conférence en 1839. 14 Rien n’est perdu de la question théologique du vouloir et de l’être, mais 13 Sur la promenade comme manifestation de savoir-vivre, cf. Alain Montandon, Sociopoétique de la promenade, Clermont-Ferrand, Presses universitaires Blaise Pascal. 14 « Wenn wir davon sprechen, dass wir in unser Inneres eintreten werden, so war damit zuförders nur gemeint : wir wollen unseren Willen kennen lernen. Sind wir erst im Klaren und Gewissen über unsern Willen, so haben wir die Fackel in Händen, welche in all die dunkeln Räume unseres Inneren leuchten kann. Was bist du? heißt so viel als: Was willst

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l’apport de l’intégralité de l’expérience vécue réside dans la relativisation à déduire du spectacle. La perspective intellectuelle, abstraite, de 1839 prend chair et s’empare de la totalité du voyageur qui contemple les restes romains. Gelzer est également plus explicite que ses prédécesseurs sur la biographie des personnes rencontrées. Toute une page est ainsi consacrée à Monsieur « H… », et ces données biographiques nous font remonter sans difficulté à ce Jean Heimpel déjà rencontré par Schubert. La sociabilité a cependant évolué : ce ne sont plus leur partage de valeurs qui est explicité mais plutôt le réseau social franco-allemand tissé par Heimpel, puisque Gelzer signale les visiteurs allemands qui l’ont précédé dans le mazet de cet hôte si prévenant : « Schubert, Tholuck, Linder u. A. » (Gelzer 1852 : 23). La visite de la prison n’est pas due à l’intention de louer des entreprises caritatives, comme c’était le cas chez Linder, mais fait partie de ces nouvelles formes d’enquête prisées par les touristes pour s’offrir des émotions fortes. Gelzer voit dans la prison qu’il visite une fascinante miniature de l’univers et sa description est assez traditionnelle : il médite sur la diversité du genre humain au vu des causes de l’emprisonnement (il voit des prisonniers de droit commun ainsi que des prisonniers politiques, les ouvriers montés sur les barricades de 1848) et du voisinage des quatre religions, qu’il rapproche du Nathan de Lessing. De même, sa contemplation des arènes de Nîmes n’a plus grand chose à voir avec celle de ses prédécesseurs. Elle lui fournit l’occasion de remonter le fil des siècles et de balayer toute l’histoire de France, depuis l’empire romain, sa destruction lors des grandes invasions, ces tribus étant supplantées par l’Église catholique au Moyen Âge, puis les persécutions des protestants, la Terreur, l’ordre rétabli par Napoléon, et sa gloire passée. Cette fresque épique, brillante et souveraine, qui se déroule en guise d’impression de voyage manifeste l’aisance avec laquelle cet épistolier s’émancipe de toute contrainte formelle : il laisse son esprit prendre de la hauteur et intérioriser le cours du temps. D’un édifice antique qui a su résister au passage des siècles, Gelzer déduit la possibilité de se lancer dans une rétrospective de l’histoire de la France, de sorte que son discours parvient à être à la fois personnel et général. Il n’occulte pas la mémoire collective puisqu’il signale au passage le nom d’un protestant guillotiné et courageux, mais cette anecdote, dans un tel contexte, est replacée dans un ensemble si vaste que les registres de la morale, de la politique et du religieux s’y amalgament. Globalement, malgré la nécessaire discontinuité inhérente au récit épistolaire d’un voyage, la structuration du texte est ferme, la qualité de la forme est à la hauteur de celle du contenu. La dernière lettre qu’il envoie le 17 novembre 1850 avant de s’engager sur la route de l’Italie renferme par exemple une synthèse dont nous n’avions pas trouvé l’équivalent dans les textes précédents (Gelzer : 39-55). Les thèmes y sont regroupés et hiérarchisés en fonction des priorités de l’auteur : désignation de l’adversaire catholique ou communiste ; défaut de la désunion dans les propres rangs des protestants ; tableau des mœurs et du caractère national, qui serait resté celui des Gaulois de l’époque de César ; et pour finir l’animosité des Français contre la Prusse. Ces thèmes sont subsumés par le fait que Gelzer, pas plus que ces prédécesseurs, n’envisage de laïcité ; ce sujet n’est visiblement chez lui ni problémadu ? », Die Religion im Leben oder die christliche Sittenlehre. Reden an Gebildete, Zürich : Höhr, 1839, p. 36-37.

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tisé ni problématisable. 15 Il établit, quel que soit l’objet, un lien indissoluble entre société et religion, ou encore entre sphère privée (famille, amis) et publique (Église). Et il conclut que, à force de dissensions politiques, la société française était malade, « très malade », que ses interlocuteurs méridionaux appréhendaient l’avenir politique, qu’ils fussent croyants et orléanistes ou légitimistes, et que les républicains de tous bords, socialistes et communistes, souhaitaient une autre révolution, « cette fois sans le clergé ». Ce tableau, bien que sommaire et présenté sur le ton plaisant d’une conversation épistolaire, n’est pas dépourvu de lucidité quand on connaît le climat social de la fin de l’année 1850. Mais un revirement s’opère dans le tout dernier paragraphe : « Nur in EINEM Punkte fand ich bei sonst sehr verschiedenen Blättern Uebereinstimmung; sie Alle reiben sich die Hände beim Gedanken, daß Preußen, sei es durch friedliche oder kriegerische Niederlagen, durch Schläge auf diplomatischem oder militärischem Gebiet gedemütigt wurde; Orleanisten und Legitimisten sprechen mit scheinheiligem Gesicht von der Zweideutigkeit und Eroberungssucht der preußischen Politik und von den Aufrührern in SchleswigHolstein; ja von einer möglichen Zerstückelung Preußens ! – O ihr Pharisäer ! » (Gelzer 1852 : 55)

La portée de cette flèche – l’accusation de pharisaïsme – décochée à l’ultime instant du départ de France est certes relativisée par le fait que ce soient des journaux, et non des amis, qui se réjouissent de la reculade d’Olmütz et des difficultés de la politique extérieure prussienne. Mais l’emplacement de cette accusation est primordial puisque c’est le mot de la conclusion : autant dire que le séjour de Gelzer à l’étranger a renforcé son sentiment d’appartenance à l’aire culturelle germanique et que c’est au contraire aux monarchistes français qu’il reproche une foi tiède et chauvine. Or, puisque ce sont les journaux monarchistes que Gelzer paraît avoir lus le plus attentivement, il y a probablement ici un message, celui d’unir toutes les forces en Europe pour enrayer la montée de courants politiques démocratiques qui fragiliseraient l’hégémonie culturelle du protestantisme. Le départ en voyage en terres étrangères afin d’exposer son fort attachement au rationalisme et de critiquer la culture catholique fut une tradition à la fin du XVIIe et au XVIIIe siècle (cf. Maurer 2013) 16 depuis que des protestants anglais, allemands et scandinaves entreprenaient, lors d’un Grand Tour, d’inspecter l’Italie via la Bavière et l’Autriche, et cela fut en particulier la motivation de huguenots. Mais les exemples de voyageurs allemands de la première moitié du XIXe siècle étudiés ici découlent d’une autre motivation, celle de rencontrer des coreligionnaires dont la situation était doublement minoritaire, en tant que membre de la diaspora protestante et en tant que piétistes. Le support textuel qu’ils ont choisi met en évidence leur connaissance littéraire préalable, leur maîtrise de la langue française, leurs aptitudes rhétoriques. Ap15 Contrairement à Moritz Hartmann exactement à la même époque. 16 Sur le rôle des voyageurs protestants au XVIIe et XVIIIe à l’échelle européenne, cf. la synthèse de Michael Maurer, « Reisende Protestanten auf der Grand Tour in Italien », in: Uwe Israel, Michael Matheu (Éd.), Protestanten zwischen Venedig und Rom in der Frühen Neuzeit, Berlin, Akademie-Verlag, 2013, p. 251-268.

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portant des informations sur la société, la religion, les arts et l’histoire des lieux visités, les valeurs culturelles dont ils se font les porte-paroles sont celles des personnes cultivées et pratiquantes qu’ils fréquentaient dans des régions dont le passé religieux et le patrimoine archéologique étaient réputés. Ce sont en revanche leurs positions face à l’actualité politique et économique qui les différencient le plus les uns des autres, le témoignage interculturel de ces chroniqueurs étant tributaire des évolutions de l’arrière-plan politique, économique et culturel de la Restauration en France. En 1818, le pasteur philanthropiste Mylius fait circuler son savoir dans un cadre européen et gomme les traces d’une tendance culturelle hégémonique qu’il pouvait déceler dans certaines sources françaises qu’il consultait. Dix ans plus tard, le philosophe romantique Schubert témoigne d’effusions partagées mais la sensibilité religieuse lui semble plus développée dans l’aire culturelle germanique. Dans le cas des frères moraves Linder et Mentha, les jugements sont portés dans le cadre de projets missionnaires. Enfin, après le tournant de 1848, le professeur Gelzer, rompu aux discours diplomatique et journalistique, ajoute des considérations sociologiques et politiques à ses observations, signalant ainsi les possibilités qu’offrait la mobilité pour mener un dialogue entre partenaires qui ne partageaient pas forcément les mêmes convictions : il a donc déploré l’anti-prussianisme qu’il remarquait chez les royalistes français car l’urgence était, selon lui, d’enrayer conjointement les avancées de l’idéologie démocratique républicaine.

S OURCES

ET

B IBLIOGRAPHIE

Sources Fischer, Christian August (1805) : Reisen in das südliche Frankreich in den Jahren 1803 und 1804, Leipzig : Hartknoch. Gelzer, Johann Heinrich (1852) : Protestantische Briefe aus Südfrankreich und Italien, Zürich : Höhr. Linder, Johannes/Mentha, Jean (1837) : Bericht von der Reise der Brüder Linder und Mentha in das südliche Frankreich im Frühjahr 1837, in : Nachrichten aus der Brüder-Gemeine, Gnadau, Burkhard, p. 675-719, p. 786-822. Millin, Louis-Aubin (1811) : Voyage dans les Départements du midi de la France, Paris : Imprimerie Impériale. Mylius, Christian Friedrich (1785) : Nachrichten von einigen in Jena errichteten neuen Literarischen Anstalten nebst verschiedenen frommen Wünschen und guten Vorschlägen, Iéna : Heller. Mylius, Christian Friedrich (1818-1819) : Malerische Fussreise durch das Südliche Frankreich und einen Theil von Ober-Italien, Carlsruhe : bey dem Verfasser. Schubert, Gotthilf Heinrich (1827-1831) : Reise durch das südliche Frankreich und Italien, Erlangen : Palm und Enke.

E XPÉRIENCES D ’ INTÉGRALITÉ INTERCULTURELLE

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Zum Begriff der Selbstentfremdung Historische und kulturpsychologische Aspekte U WE W OLFRADT

E INLEITUNG Selbstentfremdung bildet aus persönlichkeitspsychologischer Perspektive eine unerlässliche Voraussetzung für die Selbsterkenntnis und Identitätsbildung des Menschen. Auch die Philosophie begreift die Selbstentfremdung als eine notwendige anthropologische Konstante in der menschlichen Existenz, die durch den unaufhebbaren Dualismus zwischen Innen (Subjekt) und Außen (Objekt) gekennzeichnet ist (vgl. Schatz 1966/67). In der Eigendistanzierung liegt zunächst ein krisenhafter Zustand, der durch die Infragestellung bisheriger Überzeugungen und Wertauffassungen charakterisiert ist. In verschiedenen psychologischen Identitätstheorien wird diesem Umstand Rechnung getragen. Es ist das wissenschaftliche Verdienst von Dorothee Röseberg, der Fremdheitserfahrung und der Selbstentfremdung im Kontext kultureller Bildungserfahrungen besondere Beachtung geschenkt zu haben (vgl. Röseberg/Wolfradt 2014). Im Folgenden soll die historische Entwicklung des Begriffs der Selbstentfremdung nachgezeichnet werden, der seinen Ursprung u.a. im französischen Kulturraum hat. Zudem soll aus einer kulturpsychologischen Sichtweise Selbstentfremdung im Kontext der gegenwärtigen kulturellen Persönlichkeits- und Identitätsforschung betrachtet werden.

Z UR HISTORISCHEN E NTWICKLUNG DER S ELBSTENTFREMDUNG

DES

B EGRIFFS

Der Begriff der Selbstentfremdung geht auf Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) zurück. Dieser hat in seiner Gesellschaftskritik Selbstentfremdung als das Ergebnis der heteronomen Übernahme sozialer Konventionen verstanden. Die Kultur mache den Menschen mit ihren Normen nicht nur unglücklich, sondern sogar schlecht. Der Mensch dürfe nicht seiner eigenen Natur folgen, so Rousseau, sondern müsse sich der Gleichförmigkeit einer kulturellen Ordnung unterwerfen. Die Kultur schaffe mit ihren Konventionen ein Verhaltensmodell, an das der Mensch sich binden müsse. Damit unterlaufe die Kultur die natürliche ursprüngliche Eigenmächtigkeit des Men-

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schen. Demgegenüber sei der natürliche Mensch (homme de la nature) durch ein wahres Sein bestimmt, nicht durch Schein und Lüge einer Kultur (dépravation réelle). Hierzu hält Rousseau fest: „Tous cherchent leur bonheur dans l’apparence, nul ne se soucie de la réalité. Tous mettent leur être dans le paraître, tous, esclaves et dupes de l’amour-propre, ne vivent point pour vivre, mais pour faire croire qu’ils ont vécu“ (1782, 3. Dialog: 132). Diese Diskrepanz zwischen Sein (natürlichem Zustand) und Schein (kulturellem Zustand) bestimmt auch die politische Philosophie Rousseaus, der sich in einem Gesellschaftsvertrag (contrat social) um einen Ausgleich zwischen Autonomie (natürlicher Selbstbestimmung) und Heteronomie (kultureller Fremdbestimmung) bemüht. Selbstentfremdung bedeutet damit einen Verzicht des Selbstseins in der Kultur. Diese kulturpessimistische Perspektive bei gleichzeitiger Idealisierung des natürlichen Zustandes prägte die Psychologie und Philosophie bis in das 20. Jahrhundert nachhaltig (z.B. Das Unbehagen in der Kultur von Sigmund Freud). Die Selbstentfremdung wird besonders Ende des 19. Jahrhunderts zu einem Thema der akademischen Wissenschaften, vor allem in Frankreich. Unter dem Eindruck historischer Ereignisse, der revolutionären Bewegungen in Frankreich (von dem Sturm auf die Bastille 1789 über die Februarrevolution von 1848 bis zum Aufstand der Pariser Kommune 1871), verkehrt sich allerdings die Idee Rousseaus – nun ist die Aufhebung der kulturellen Ordnung die Quelle für soziale Entfremdung und Selbstentfremdung. In der Massenpsychologie von Gustave Le Bon (1841-1931) werden leichtgläubige Menschen in Gruppen durch Gefühle des Überschwangs (exagération) und der Einseitigkeit (simplisme) bestimmt. Nicht Ordnung, sondern Chaos ist die Folge der Massensuggestion. Die Nachahmung (Imitation) und das unkontrollierte Triebgeschehen rücken in das Zentrum der Betrachtung. Der Mensch handelt nicht autonom, sondern fremdbestimmt (häufig durch die Eingebungen eines Führers). Der Verlust der kulturellen Ordnung führt nach Émile Durkheim (1858-1917) zu einem Zustand der Normlosigkeit (Anomie), in dem der Mensch in Hoffnungslosigkeit verfällt und sich häufig dem Freitod hingibt. Im Zentrum der französischen Psychologie und Psychiatrie stand die Selbstentfremdung als eine klinische Abweichung, von der man Aufschluss über normale Prozesse des Denkens, Fühlens und Erinnerns erhalten wollte. Hierbei nahm man eine Kontinuität zwischen normalem und pathologischem Erleben an – ob es als krank oder gesund bezeichnet wurde, war abhängig von der Quantität mentaler Elemente oder Symptome (Carroy/Ohayon/Plas 2006: 60). Selbstentfremdung ist nach Ribot dadurch charakterisiert, dass sich im Individuum ein anderes Fühlen, Denken, Erinnern und Wahrnehmen entwickelt, das im Gegensatz zu den unbewussten und automatisierten Tätigkeiten des ‚alten‘ Ichs steht: „Das alte Ich ist der neuen Persönlichkeit fremd geworden, d.h. das Individuum hat seine Vergangenheit vergessen und betrachtet frühere Erlebnisse, wenn es an dieselben erinnert wird, objektiv als Vorgänge, die zu seiner Persönlichkeit in keiner näheren Beziehung stehen“ (Ribot 1894: 154). Zwei bestimmende Schulen in Frankreich beschäftigten sich im 19. Jahrhundert mit pathologischen und nichtpathologischen Formen der Selbstentfremdung: die Pariser Schule der Salpêtrière unter den Medizinern Jean-Martin Charcot (1825-1893) und Pierre Janet (1859-1947) sowie die Schule von Nancy unter dem Apotheker Auguste Ambroise Liébeault (1823-1904) und dem Arzt Hippolyte Bernheim (18401919). In der Schule der Salpêtrière dominierte das Interesse an dissoziativen Phänomenen (z.B. psychogene und organische Paralysen, Amnesien), die in Zusammen-

Z UM B EGRIFF

DER

S ELBSTENTFREMDUNG

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hang mit der Hysterie auftraten. Besonders weibliche Patienten zeigten unter dem hypnotischen Einfluss von Charcot spezifische Formen der Lähmung und anderer Symptome, später stellte man allerdings fest, dass es sich dabei auch um willentliche Simulationen handelte, d.h. die vermeintlichen Patientinnen täuschten nur einen hysterischen Anfall vor (vgl. Ellenberger 2005; Braunstein/Pewzner 2005). Es war dann Charcots Schüler Pierre Janet, der in seiner Dissertationsschrift L’automatisme psychologique die dissoziativen Mechanismen der Persönlichkeit und Selbstentfremdung beschrieb. Am Beispiel seiner Patientin Leonie konnte er eine besondere psychische Erscheinung, die Ich-Spaltung, zeigen. Leonie offenbarte unter Hypnose eine öffentliche Seite ihrer Person in der Rolle der Patientin und eine verborgene Seite, welche die Patientin in den Zustand ihrer Kindheit brachte. Basierend auf seinen Fallgeschichten entwickelte Janet eine allgemeine psychodynamische Theorie, welche die désagrégations psychologiques erklären sollte (vgl. Ellenberger 2005). Demgegenüber stand in der Schule von Nancy die Suggestion als nichtpathologische Form der Psychotherapie im Zentrum. Besonders Bernheim nutzte die Suggestibilität (die Eignung, einen Gedanken in eine Handlung umzuwandeln) von Patienten zur Behandlung organischer Krankheiten (z.B. Rheumatismus). Indem er durch Suggestionen den Fokus (Selbstbeobachtung) von den Schmerzen lenkte, bewirkte er nicht nur eine Linderung, sondern sogar eine Heilung. Der französische Psychiater Ludovic Dugas (1857–1943) brachte im Jahre 1898 als erster den Begriff ‚Depersonalisation‘ in den Diskurs ein. Er entnahm ihn dem Tagebuch des Schweizer Philosophen Henri-Frédéric Amiel (1821-1881), als er die sogenannte fausse reconnaissance – auch als Déjà-vu-Erfahrung bekannt – untersuchte (Dugas 1894). Bei Amiel (1927) heißt es an einer Stelle: „Alles ist mir fremd, ich kann außerhalb meines Körpers, von mir als Individuum, sein, ich bin ‚depersonalisiert‘, distanziert, entfernt” (288). Diese Ausführung wurde von Dugas als literarische Beschreibung einer Selbstentfremdung interpretiert, die den oft berichteten Erfahrungen von Patienten ähnelte (vgl. Wolfradt 2003). Dugas (1898) beschrieb Depersonalisation (dépersonnalisation) als ‚Zustand, in dem ein Gefühl auftritt, als seien Handlungen dem Selbst entzogen und würden als fremd erlebt, ich nenne dies eine Entfremdung von der Persönlichkeit oder eine Depersonalisation‘ (”Cet état dans lequel le moi sent ses actes lui échapper et lui devenir étrangers, je l’appellerai une aliénation de la personnalité ou une dépersonnalisation”: 502). Dugas verstand unter Depersonalisation ein Versagen der bewussten Integration psychischer Elemente, verursacht durch Apathie. Diese Defizite nehmen Einfluss auf die Fähigkeit zur Synthese, d.h. die Fähigkeit, psychische Handlungen dem Selbst zuzuordnen (vgl. auch Lieb 1989). Selbstentfremdung blieb auch in der französischen Psychiatrie und Neurologie des 20. Jahrhunderts weiterhin ein Thema. Der Psychiater Marie Joseph Capgras (1873-1950) beschrieb den Fall der Madame M., die ihren Ehepartner und ihre Tochter über zehn Jahre lang als ausgetauschte Doppelgänger erlebte. Das nach Capgras benannte Syndrom ist ein sogenanntes ‚Missidentifikationssyndrom‘, bei dem der Betroffene der festen Überzeugung ist, dass vertraute Personen, obgleich physisch identisch, psychisch verschieden und fremd sind (identische Doppelgänger). Dieses sehr seltene Störungsbild der Entfremdung taucht häufig in Zusammenhang mit Schizophrenie auf (vgl. Brüggemann 2010).

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S ELBSTENTFREMDUNG UND I DENTITÄT DES KULTURELLEN AUSTAUSCHS

IM

K ONTEXT

Der Entwicklungspsychologe James E. Marcia entwickelte auf der Grundlage bisheriger Identitätskonzeptionen eine eigene Theorie der Identitätszustände. Nicht mehr feste, irreversible Phasen wie in der psychoanalytischen Entwicklungstheorie von Erik H. Erikson sollen Ausdruck spezifischer Identitätszustände sein, sondern die innere Verpflichtung gegenüber den gegenwärtigen Beziehungen zur Welt und die konflikthafte Auseinandersetzung (Krise) mit dieser stehen nun im Fokus (Haußer 1995). Jugendliche, bei denen keine Krise auftritt, übernehmen die Normen und Werte der Eltern (übernommene Identität) und zeichnen sich durch eine starke innere Verpflichtung diesen gegenüber aus. Jugendliche ohne diese innere Verpflichtung sind desorientiert und entscheidungsunfähig – sie haben eine diffuse Identität. Kommt ein junger Mensch in einen krisenhaften Zustand (z.B. durch eine einschneidende, neue kulturelle Erfahrung in einem fremden Land – Marcia nennt diesen Lebensabschnitt ‚Moratorium‘), kann er bei Nichtlösung des Konfliktes im Zustand der Diffusität verbleiben oder zu einer Reflexion seiner Erfahrungen finden und durch kritische Distanz zu einer neuen Identität kommen (erarbeitete Identität). Die kulturellen Fremdheitserfahrungen lösen also eine Krise aus, die wiederum erfolgreich gelöst wird, wenn diese diskrepanten Erlebensmuster in die bisherige Identitätsstruktur integriert werden können. Gelingt diese Bewältigung der Krise durch Fremdheitserfahrungen nicht, können unterschiedliche Formen der diffusen Identität die Folge sein. Selbstentfremdung ist also eine notwendige Voraussetzung für Identitätsbildung. Welche Identität aus einem Krisenzustand entsteht, ist abhängig von der individuellen Bewältigung und ihren Voraussetzungen. Insofern steht in der Identitätsentwicklung der Selbstentfremdung stets die Selbstverwirklichung gegenüber. In der Kulturpsychologie sind Entfremdungserfahrungen die Folge der Wahrnehmung kulturdiskrepanter Handlungen im Gastland (jemand macht z.B. eine freundliche Bemerkung, die aber bei dem anderen zu Ärger führt), die nicht adäquat in das bisherige Identitätsmodell integriert werden können. Ting-Toomey (1999) spricht in diesem Zusammenhang von einem Aushandlungsprozess zwischen einer gesicherten Identität (die sich unterstützt und respektiert fühlt) und einer verletzbaren Identität (die sich bedroht fühlt) innerhalb eines fremden kulturellen Kontextes. Innerhalb dieses Prozesses versuchen die Betroffenen „to evoke, assert, define, modify, or challenge, and/or support their own and other’s desired self-images” (ebd. 40). Hierbei möchten sie zum einen ihr Selbstbild gegenüber anderen präsentieren und so über soziale Interaktionen ihre Identität aufrechterhalten, zum anderen suchen sie Sicherheit bezüglich ihrer Identität im vertrauten Umfeld und sind bereit, Veränderungen in ihrem Selbstbild vorzunehmen, wenn dies erforderlich ist. Menschen streben dabei eine Balance zwischen innerem Selbstbild und äußerer Erfahrung innerhalb eines als diskrepant erlebten Umfeldes an. Die Selbstentfremdung ist hierbei die Folge einer Distanzierung vom bisherigen Selbstbild, das durch Adaptation an das kulturelle Umfeld in einen Gleichgewichtszustand gebracht wird. Um das eigene Selbstbild bei Bedrohung durch Fremdheitserfahrungen aufrecht zu erhalten, neigen Menschen dazu, diese Erfahrungen zunächst abzuwehren, indem sie entweder rationalisieren („Vielleicht hatte er einen schlechten Tag“), vermeiden („Ich musste einfach weggehen“) oder

Z UM B EGRIFF

DER

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nur beobachten („Ich schaute nur zu und machte mir meine eigenen Gedanken“, vgl. hier die Studie zu Austauschstudierenden von Young/Natrakan-Tyagi/ Platt 2014). Will man den Prozess der kulturellen Adaptation genauer beschreiben, ist das Konzept des Kulturschocks von großer Bedeutung. Kalvero Oberg (1960) führte 1954 den Begriff ‚culture shock‘ ein („an occupational disease of people who have been suddenly transplanted abroad“ (177)). Dieses Phänomen ist durch sechs Merkmale gekennzeichnet: (1) hohe Belastung durch den Versuch, sich kontinuierlich an die neue Kultur anzupassen, (2) Verlust von Freunden, Familie oder sozialem Status, (3) Gefühl, von den Mitgliedern der neuen Kultur abgelehnt zu werden, (4) Konfusion über die eigene Rolle, Rollenerwartungen, Werte, Gefühle und Identität, (5) Überraschung, Angst und auch Ekel, nachdem man kulturelle Unterschiede festgestellt hat, und (6) Gefühle der Inkompetenz und Unfähigkeit, die Anforderungen der fremden Kultur zu bewältigen. Oberg postulierte die folgenden vier Stufen einer U-Kurve: (1) ‚Honeymoon‘-Stufe: Faszination und Euphorie gegenüber der neuen Kultur dominieren, (2) Krisen-Stufe: Symptome des Kulturschocks wie Heimweh, Einsamkeit und Depression treten auf, (3) Erkundungs-Stufe: eine leichte Anpassung an das neue kulturelle Umfeld beginnt und (4) Anpassungs-Stufe: eine vollständige Anpassung an die neue Kultur findet statt. Während in der frühen Konzeption des Kulturschocks eine klinische Perspektive mit den negativen Aspekten kultureller Austauschprozesse (wie Verluste) dominierte, werden gegenwärtig eher die positiven Aspekte betont, welche im Kontext kultureller Lernprozesse hervortreten. Zhou et al. (2008) nennen in diesem Zusammenhang die folgenden drei Ebenen: (1) ‚Stress und Bewältigung‘ (Affekt), (2) ‚Kulturelles Lernen‘ (Verhalten) und (3) ‚Soziale Identifikation‘ (Kognition). Auf Ebene (1) spielen personale Faktoren (wie Persönlichkeitsmerkmale, Werte, Gründe für die Migration) sowie situative Faktoren (wie soziale Unterstützung, kulturelle Distanz, Dauer und Anzahl der interkulturellen Kontakte) eine Rolle. Auf Ebene (2) gehen kulturspezifische Aspekte wie Wissen über die neue Kultur, Sprache oder Kommunikationskompetenz ein. Auf Ebene (3) finden kognitive Aspekte wie Einstellungen gegenüber den Einheimischen und kulturelle Ähnlichkeit sowie kulturelle Identität Berücksichtigung (vgl. auch Ward/Bochner/Furnham 2001). Insbesondere Persönlichkeitsmerkmale sind ganz entscheidend dafür, ob eine kulturelle Adaption an den neuen Kontext gelingt. Eine niederländische Forschergruppe identifizierte stressminimierende Persönlichkeitseigenschaften, die einen Kulturschock in interkulturellen Begegnungen verhindern. So führen Merkmale wie emotionale Stabilität und Flexibilität zu einer Reduktion von negativem Affekt und zu der Einschätzung, dass eine interkulturelle Begegnung nicht als bedrohlich zu bewerten ist. Soziale Eigenschaften wie Offenheit, kulturelle Empathie oder kulturelle Initiative regen zu Interesse und Kreativität an, die zu der Einschätzung führen, dass eine interkulturelle Begegnung eher als Herausforderung und Abenteuer zu verstehen ist (vgl. Van Oudenhoven/Van der Zee 2002; Van der Zee/Van Oudenhoven 2013). Eine Metaanalyse von Wilson, Ward und Fischer (2013) zeigt sehr eindrücklich, dass besonders die Persönlichkeitseigenschaften Extraversion (z.B. Geselligkeit), Verträglichkeit (z.B. Hilfsbereitschaft) und Gewissenhaftigkeit (z.B. Disziplin) positiv mit soziokultureller Anpassung verbunden sind. Diese Ergebnisse verdeutlichen die zentrale Bedeutung der Beziehung zwischen Persönlichkeit/Identität und interkultureller Kompetenz für die Erforschung interkultureller Begegnungen. Hierbei ist entscheidend, ob Selbstentfremdung nur ein vorübergehender Zustand auf dem Weg zu einer

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interkulturellen Identität ist oder eine Vorstufe einer längerfristigen psychopathologischen Identitätsentwicklung.

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Die leiblichen Grundlagen von interkultureller Lebenserfahrung und Fremdsprachenerwerb W ERNER M ÜLLER -P ELZER

D ER ‚ INTERKULTURELLE W ERKZEUGKASTEN ‘ Im Jahr 2015 dürften weltweit ca. vier Millionen Studierende für mindestens ein Semester in einem anderen Land studiert haben (de Wit 2012). Kaum eine der entsendenden und aufnehmenden Hochschulen wird zögern, diesen Studierenden – vor dem Start ins Ausland oder zumindest danach – interkulturelle Kompetenz zu bescheinigen. Aber auch der Lehrkörper der Hochschulen sowie die Verwaltung richten sich zunehmend an diesem Ziel aus. Aus institutioneller Sicht wird interkulturelle Kompetenz heute als ein Set von Fertigkeiten (soft skills), Wissen und Werten (Hiller 2010: 46) mit „kulturübergreifenden Komponenten“ (ebd. 45) verstanden. Dieser tatsächlich transkulturelle ‚interkulturelle Werkzeugkasten‘ wird in Workshops, Trainings und Seminaren mit dem Ziel vermittelt, den eigenen Studierenden an den Partnerhochschulen sowie den Gaststudierenden an der eigenen Hochschule einen möglichst reibungslosen Einstieg in ein unterschiedliches Hochschulsystem und kulturelles Umfeld zu ermöglichen. In der Tat stellt eine mangelhafte Integration in das Hochschulleben das größte Hindernis für den Studienerfolg und die Zufriedenheit der Studierenden dar. Seitens der Hochschulleitungen wird deshalb argumentiert, dass nicht allein das globale Englisch als lingua franca, sondern auch die verstärkte Schaffung englischsprachiger Studienangebote unvermeidlich sei, um für alle Beteiligten die kulturelle und sprachliche Schwelle für Verständigung, sozialen Umgang und Studienerfolg möglichst abzusenken. Die eigentlichen Treiber dieser Maßnahmen sind die bildungsökonomischen Rahmenbedingungen, die von den nationalen Regierungen und der Europäischen Union den Hochschulen vorgegeben werden: In erster Linie wird auf die wirtschaftliche und technologische Globalisierung verwiesen und die damit erforderliche Wahrung bzw. Gewinnung von Wettbewerbsvorteilen im Rahmen der Wachstumslogik 1 der kapitalistischen Wirtschaft. Dazu gehört nach Maßgabe der OECD 2 die deutliche Steigerung von international einsetzbaren Hochschulabsolventen. Deshalb sei sowohl eine deutliche Steigerung internationaler Studierender in Deutschland als auch die 1 2

Zur Kritik dieses Paradigmas s. Paech 82014 und Jackson 22013. http://www.oecd.org/germany/35344382.pdf

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mittelfristige Anwerbung bzw. neuerdings Eingliederung hoch qualifizierter zugewanderter Absolventen unumgänglich. Von den Hochschulen wird erwartet, interkulturelle Kompetenz als einen Faktor bei der Modernisierung des Hochschulraums 3 zu berücksichtigen und dementsprechend die multikulturelle Zusammensetzung ihrer Studierenden effizient zu managen. Die Hochschulen sind dabei nur ein gesellschaftlicher Bereich neben anderen, in denen die fortschreitende soziale und kulturelle Differenzierung durch neue Formen der Integration aufgefangen werden muss, um eine gesamtgesellschaftliche Steuerung sicherzustellen: Interkulturelle (tatsächlich transkulturelle) Kompetenz gehört deshalb inzwischen zum Beschäftigungsprofil in Unternehmen und Verbänden, Pädagogik und Schule, Polizei und Bundeswehr, Sozialarbeit sowie Migrationsämtern von Bund, Ländern, Städten und Gemeinden, Medizin und Pflege, Psychologie, Psychotherapie, Jugend- und Erwachsenenbildung usf. Entsprechend den jeweiligen praktischen Bedürfnissen wird das Set von Verhalten, Wissen und Einstellungen der jeweiligen Lage angepasst und antrainiert, um den gesellschaftlichen Akteuren effizientes Handeln in einem zunehmend multikulturellen Umfeld zu ermöglichen. Unabhängig von speziellen nationalen Zielsetzungen dürfte die institutionelle Einschätzung des Auslandsstudiums weltweit von vergleichbaren strategischen Interessen bestimmt sein. Man kann deshalb davon ausgehen, dass länderübergreifend das englischsprachige Kontaktstudium als standardisierter Typ des Auslandsstudiums besonders stark vertreten ist. Dies entspricht der Interessenlage international agierender Organisationen, die dieses Ziel verfolgen: „Kulturelle Differenz soll minimiert und die Gemeinsamkeiten maximiert werden.“ (Moosmüller 2004: 61) Daran arbeiten ‚Interkulturalisten‘, allerdings immer mit dem Risiko, lebende Kulturen begrifflich einfangen zu wollen, „gewissermaßen im gefrorenen Zustand“ (ebd.). Man hat sich hier in aller Regel damit abgefunden, dass z.B. chinesische Studierende eines internationalen betriebswirtschaftlichen, englischsprachigen Studienganges an einer deutschen Hochschule zwar in der international student community Erfahrungen sammeln und das Gastland kennenlernen, aber kaum tiefer gehende Erfahrungen z.B. mit der deutschen Kultur sammeln; das Gleiche gilt für deutsche Studierende in China. Gegenüber diesem institutionellen Interesse an Standardisierung verfolgen Kulturwissenschaftler und Ethnologen das Programm, Studierende auszubilden, die einzelne kulturelle Kollektive in ihrer Besonderheit in den Blick nehmen, die jeweilige Sprache – nicht selten eine ‚Identitätssprache‘ – auf einem hohen Niveau sprechen, mehrere Semester im jeweiligen Kulturraum bleiben und so die Chance erhalten, den Auslandsaufenthalt für eine individuelle interkulturelle Lebenserfahrung zu nutzen. Dabei ist zu lernen: Mitglieder einer kulturellen Gruppe betonen „ihr Anderssein gegenüber anderen, um damit ihre Identität zu stärken. […] Die Menschen wollen sich unterscheiden und ihre Besonderheit pflegen und sie wollen diese Interessen mit 3

So zählte der Wissenschaftsrat bereits im Jahr 2000 in einem Atemzug folgende ‚Schlüsselqualifikationen‘ für Hochschulabsolventen auf: „Kommunikations- und Teamfähigkeit, Präsentations- und Moderationstechniken, der Umgang mit modernen Informationstechnologien, interkulturelle Kompetenzen und Fremdsprachenkenntnisse, die Fähigkeit, Wissen und Informationen zu verdichten und zu strukturieren sowie eigenverantwortlich weiter zu lernen.“ (Wissenschaftsrat 2000: 12-13)

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Gleichgesinnten teilen“ (ebd.). Zahlenmäßig sind Studierende dieses Studientyps weltweit deutlich in der Minderheit. 4 Betrachtet man abschließend die beiden einander entgegengesetzten Typen von Standardisierung und Kultivierung der Unterschiede, erscheint es durchaus berechtigt, dass Hu/Byram (2009: IX) vom „clash of two quite different ‘philosophies’” sprechen. Die von Fremdsprachenpädagogen vorrangig für den schulischen Erziehungs- und Ausbildungsprozess insgesamt entwickelten Konzeptionen einer „Education for intercultural citizenship“ (Byram 2008) oder der „Herausbildung einer je subjektiven Interkultur“ (Witte 2009: 61) müssen – wenn man von Lehramtsstudiengängen für Fremdsprachen und kulturwissenschaftlichen Studienprofilen absieht – an den Hochschulen mehrheitlich in einer Sackgasse enden: Diese Lernziele fehlen in den allermeisten Hochschulcurricula. Es ist aber auf die Dauer kulturell und politisch inakzeptabel, dass der ganz überwiegende Teil des Studierendenaustauschs weltweit die Studierenden mit einer transkulturellen tool box abspeist und eine subjektive interkulturelle Lebenserfahrung vorenthält. Es ist deshalb die Frage zu stellen, ob es nicht doch eine Möglichkeit für jeden Studierenden gibt, im jeweiligen Land an der „interaction among people of complex cultural and social identities“ (Byram 1997: 4) teilzunehmen und bei der Verständigung in einer Fremdsprache Erfahrungen zu sammeln, die zu einem besseren Verständnis der „ways of living out of which others speak and write“ (ebd.) befähigen. Da ‚Interkulturalisten‘ an diesen Themen nicht vorrangig interessiert sind, ist zu fragen, ob von anderer Seite dazu praktikable Vorschläge gemacht werden können. Bevor ich dazu selbst einen Vorschlag formuliere, möchte ich einige Grundannahmen heutiger interkultureller Debatten beleuchten.

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Zwischen diesen beiden Typen lassen sich englischsprachige Programme platzieren wie z.B. die verbreiteten Studiengänge International/European Business, die trotz eines extensiven Auslandsaufenthaltes (in manchen Fällen bis zu vier Semestern) zum ersten (standardisierenden) Typ tendieren, weil hier das Thema ‚Interkulturelle Kommunikation/ Kompetenz‘ etwa im Modul ‚Intercultural Management‘ angesiedelt, also auf unternehmerische Zwecke beschränkt ist, kulturübergreifend und meist ohne kulturwissenschaftlichethnologisches Interesse gelehrt wird. Studienformate, bei denen die Studierenden hingegen die Landessprache (nicht Englisch) auf studierfähigem Niveau (B2/C1) sprechen, ein Studienjahr an der Partnerhochschule bleiben und ggf. ein berufliches Praktikum bis zu einem Semester in demselben kulturellen Raum absolvieren, wie sie etwa im Rahmen der Deutsch-Französischen Hochschule koordiniert werden, sind deshalb noch keineswegs dem kulturwissenschaftlichen Typ zuzurechnen: Auch hier herrscht in den meisten Fällen der interkulturalistische Pragmatismus. Ohne auf alle weiteren Differenzierungen von Studienaufenthalten im Ausland einzugehen, dürfte klar sein, dass allen Versuchen mit Vorsicht zu begegnen ist, ‚interkulturelle Kompetenz‘ im Hochschulraum als eine etablierte Größe zu betrachten (Müller-Pelzer 2015b).

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S OZIALER K ONSTRUKTIVISMUS PHÄNOMENOLOGISCHE K RITIK

UND

Im Umfeld des Europarats ist in den vergangenen Jahrzehnten eine Reihe von Untersuchungen zur europäischen Mehrsprachigkeitspolitik, der globalen kulturellen Verständigung und ihrer institutionellen Implementierung veröffentlicht worden. Dank der großen Zahl von Beiträgern kann von einer pluralistischen wissenschaftlichen Basis ausgegangen werden, die für das Spektrum Fremdsprachenforschung, Kulturwissenschaft, Literaturwissenschaft, Sozialwissenschaft und Politikwissenschaft eine gewisse Repräsentativität beanspruchen kann. Nach Byram (2008: 5, 17) gebieten der europäische Einigungsprozess, die wirtschaftliche Globalisierung und die zunehmend mehrsprachigen europäischen Gesellschaften ein radikales Umdenken in der Bildungs- und Sprachenpolitik auf nationaler und europäischer Ebene: Der heutige Fremdsprachenunterricht sei durch politische Bildung und „critical cultural awareness“ im Rahmen einer „Intercultural Citizenship“ (Byram 1997: 2008) zu ergänzen. Dieser ehrgeizige, pädagogisch und politisch 5 motivierte Überbau ordnet die Vermittlung der einzelnen Fremdsprachen und Kulturen in den Rahmen einer kulturübergreifenden, ja globalen Handlungskompetenz ein (Byram 2008: 229). Deshalb könne diese auch weltweit unter Verwendung des globalen Englisch verwirklicht werden (Byram 1997: 115). Obgleich Byram eine differenzierte Zergliederung der konstitutiven Faktoren interkultureller Kompetenz sowie Vorschläge für eine gesellschafts- und kulturrelative Progression vorgelegt hat, zieht er die ernüchternde Bilanz, dass weder die EU noch der Europarat das Ziel der „Education for Intercultural Citizenship“ aufgegriffen haben (Byram 2008: 203). 6 Um diesem Widerstand zumindest aus wissenschaftlicher Sicht den Boden zu entziehen, kreisen zahlreiche Untersuchungen in der Fremdsprachenforschung um die Frage der Evaluation interkultureller Kompetenz. Gerade die positivistische Wende in den europäischen Schulpolitiken (Europäischer Qualifikationsrahmen EQR, evidenz-basierte Verfahren) hat hier den Druck erhöht, das Erreichen interkultureller Lernziele möglichst nach dem Vorbild naturwissenschaftlicher Verfahren zu objektivieren und zu messen. Witte hat seinerseits kürzlich einen Vorschlag zur interkulturellen Progression im Fremdsprachenunterricht in neun Stufen vorgelegt, betont aber dabei: „Entsprechend des dynamischen Charakters kultureller Deutungs-

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Byrams Bekenntnis zu Demokratie und Grundrechten teilt aus heutiger Sicht bestimmte Schwächen des deliberativ-argumentativen Demokratieverständnisses. S. dazu die Debatte um den Konvivialismus (Adloff/Heins 2015). Tatsächlich bleiben die in den Lehrplänen formulierten interkulturellen Lernziele weit hinter diesem Ziel zurück. Als Beispiel sei verwiesen auf den Kernlehrplan des Faches Französisch für die Sekundarstufe II Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen 2014: http://www.schulentwicklung.nrw.de/lehrplaene/upload/klp_SII/f/KLP_GOSt_Franzoesisc h.pdf Bezeichnenderweise stellt die zuständige Ministerin Sylvia Löhrmann (Partei „Die Grünen“) ihrem Vorwort folgendes Zitat aus einem OECD-Gutachten von 2002 voran: „Klare Ergebnisorientierung in Verbindung mit erweiterter Schulautonomie und konsequenter Rechenschaftslegung begünstigt gute Leistungen.“ Die OECD vertritt die wirtschaftlichen Interessen von 34 Staaten mit hohem Pro-Kopf-Einkommen.

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muster einerseits und der zyklischen Definition von Progression andererseits handelt es sich hier um fließende Übergänge zwischen den einzelnen ‚Stufen‘, die nur zwecks analytischer Darstellbarkeit als solche bezeichnet werden.“ (Witte 2009: 55) Angesichts der nicht zählbaren Mannigfaltigkeit von Situationen, die von jedem Einzelnen in und außerhalb der Schule erlebt werden können, ist diese Beschränkung einleuchtend. Gleichwohl äußert der Autor das Interesse an weitergehenden Untersuchungen: „Es bleibt jedoch ein Desiderat für die Sprachlehr- und Lernforschung, den Einfluss einer interkulturellen Progression auf die Modifizierung subjektiver Identitätskonstrukte im Rahmen des Fremdsprachenunterrichts genauer zu untersuchen […].“ (Ebd. 64) Inzwischen liegt von ihm der Entwurf eines „Dynamic Assessment“ eines jeden Schülers vor, womit ein individuelles Coaching gemeint ist (Witte 2014: 48-51). Obwohl für die Selbsteinschätzung der individuellen interkulturellen Progression und nicht für den Schulalltag bestimmt, scheint hier das Optimum einer interkulturellen Förderung erreicht zu sein, gleichwohl bleibe „a remainder of implicit constructs that cannot be made explicit“ (ebd. 51). Es bleibt also dabei, dass sich die subjektive Aneignung „affektiver und handlungsorientierter Komponenten“ (Witte 2009: 62) – gleichsam der letzte Beweis einer gelungenen interkulturellen Progression – der Objektivierbarkeit entzieht, der Fremdsprachenunterricht als interkulturelles Lernen also den naturwissenschaftlich geeichten Evaluationsanforderungen nicht bzw. allenfalls im kognitiven Bereich genügen kann. Aus hermeneutischer Perspektive kommt dieses Ergebnis nicht überraschend; ein Stein des Anstoßes wird es aber für den im besagten Forschungsspektrum breit vertretenen, sozialen und kulturellen Konstruktivismus, der sich u.a. auf den symbolischen Interaktionismus (Berger/Luckmann 31972) beruft. Kramsch (2009: 2) bezeichnet die Sprache als „a symbolic system that constructs the very reality it refers to“ sowie als „the historical sedimentation of meanings that we call our ‘selves’”. Die Lernenden werden hier als Individuen gesehen, die sich der Sprache als Instrument bedienen, das die gesamten geistig-körperlichen Sinnoperationen prägt und den Aufbau sozialer „Lebenswelten“ erlaube (Witte/Harden 2015: 1). Interkulturelle Kompetenz bestehe danach darin, dass die Individuen in die Lage versetzt werden, die divergierenden, häufig impliziten kulturellen Bedeutungen ihrer jeweiligen Weltsicht mit ihrem Gegenüber so auszuhandeln, dass eine gemeinsam modifizierte mentale Bedeutsamkeit auf die Welt projiziert werden kann. Dieser Konstruktivismus behauptet also, dass es die Menschen sind, die die Bedeutsamkeit auf die Welt projizieren und, wenn es nach den Verfechtern neurobiologischer Thesen geht, sogar an eine selbst produzierte personale Identität glauben. Dieser Konstruktivismus wird in der Perspektive der kulturanthropologischen Kritik postkolonialer Literaturwissenschaft zum Ausgangspunkt des Dekonstruktivismus: „Die tiefer liegende These lautet: Es gibt keine neue Weltordnung, sondern nur Partikularitäten, Dezentriertheit, Bruchstücke im Prozess der Globalisierung.“ (Röseberg 2010: 41) So richtig es ist, dass die unterschiedliche Ausformung von Gesellschaften und Kulturen durch Menschen geschieht und dabei Machinteressen in Strukturen eingehen, so richtig ist es, dass der Mensch nicht ein restlos gesellschaftlich-kulturelles, sondern auch ein natürliches, leibliches Wesen ist. Die Leiblichkeit setzt der freien Verfügung Grenzen (Böhme 2003: 66f., 86). Dies übersehen zu haben, verleitet den sozialen Konstruktivismus dazu, mehr beweisen zu wollen, als möglich ist. Dass die kulturellen Systeme von Menschen aufgebaut werden, heiße nicht, dass die Welt oh-

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ne Bedeutung sei und erst vom Menschen ihre Bedeutsamkeit erhalte: Schmitz (1999b: 11-20 und öfter) hat nachgewiesen, dass diese Annahme eine über Jahrhunderte tradierte Hypothek des abendländischen Intellektualparadigmas 7 ist. Er hat aus diesem Grund eine eigene Philosophie mit dem Ziel vorgelegt, die Verzerrungen der Überlieferung zu beheben und dem Sichfinden in der Umgebung ein neues, positives Fundament zu geben. Im Ergebnis gruppiert sich sein Denken um die Hauptmotive Subjektivität, Situation, Gefühl und Leib. Der wiederentdeckte Leib wird dabei für die theoretische und praktische Erschließung der interkulturellen Lebenserfahrung zentral, weil er die erste Resonanzebene für vielsagende Eindrücke ist und auch für das entfaltete Leben der Person die unentbehrliche Referenz bleibt, um sich immer wieder der affektiven Bedeutsamkeit von Situationen, Atmosphären und Normen zu vergewissern, die die Person unausweichlich betreffen. Solche vielsagenden Eindrücke, eine Spielart der Situationen, sind keine Konstrukte, sondern gegeben. Dazu gehören auch die Sozialisation in einem bestimmten Kontext, die Muttersprache(n) und die leibliche Disposition (Müller-Pelzer 2014: 242-250). Darüber hinaus verleitet der soziale Konstruktivismus geisteswissenschaftliche Disziplinen dazu, sich am naturwissenschaftlichen Objektivitätsideal (Schmitz 2002: 33-43) auszurichten, was die Illusion nährt, interkulturelle Situationen könnten vollständig in Faktoren und daraus aufgebaute Konstellationen zerlegt werden, um Prognosen zu erlauben. Diese Erwartung treibt die ‚Interkulturalisten‘ an, doch der Preis ist ein kultureller Reduktionismus. Geisteswissenschaftliche Disziplinen tun gut daran, nicht auf ganze Situationen, insbesondere nicht auf vielsagende Eindrücke zu verzichten, weil aus ihnen die unverkürzte Lebenserfahrung besteht (Schmitz 2005: 116). Die phänomenologische Kritik bezieht sich also auf den ‚Interkulturalisten‘ und sozialkonstruktivistischen Kulturwissenschaftlern gemeinsamen ‚Konstellationismus‘. Als ‚Konstellationismus‘ bezeichnet Schmitz (ebd. 11) eine von den Verfahren der modernen Technik geprägte Weltanschauung, wonach sich der unübersehbare, mannigfaltige Weltstoff auf zählbare Faktoren reduzieren lasse: „Konstellationen sind Vernetzungen einzelner Faktoren; wenn die Welt als riesige Konstellation missverstanden wird, liegt das Vorurteil zu Grunde, dass alles Mannigfaltige in lauter Einzelnes durchgegliedert ist oder wenigstens aufgelöst werden kann.“ 8 Die Neue Phänomenologie unterstreicht demgegenüber, dass die primären Gegenstände der

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Der antike Psychologismus bündelt die spürbaren Regungen als Seele und unterstellt sie der zentralen Regie der Person. Der Reduktionismus bezeichnet die Beschränkung der Wahrnehmung auf im zentralen Blickfeld befindliche feste Körper mit wenigen objektivierbaren Qualitäten. Der ‚Introjektionismus‘ ist der Rückzug der nicht quantifizierbaren Erfahrungen wie Gefühle, Leib und gemeinsame Situationen in die Seele. (Schmitz 1999a: 9-10) Der ‚Konstellationismus‘ verleitet dazu, sich Subjekt und Objekt als fertig vereinzelt vorzustellen. Neuerdings wird das Subjekt als „embodied“ und „situated“ vorgestellt, so als ob das Subjekt „schon fertig der eigenen Natur entgegentritt, um sich dann beispielsweise im Leib zu inkarnieren“ (Böhme 2003: S. 212). Vgl. Witte (2015: 2-3): „The embodied aspect of our existence lends subjectivity to our thoughts, experience, memories, actions, interactions and feelings. The culturally situated aspect relates to the fundamental intersubjectivity of our lives, because we are only through (symbolic) interaction with others.“

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Wahrnehmung Situationen sind. Unter deutlicher Abhebung vom üblichen Sprachgebrauch definiert Schmitz die Situation folgendermaßen: „Wesentlich für Situationen in meinem Sinn ist so etwas wie eine Aura, ein Hof oder Hintergrund von Bedeutsamkeit. [Also etwas], das im Inneren mehr oder weniger diffus, aber zusammenhängend, nach außen jedoch abgehoben oder geschlossen ist. Es handelt sich um ein Mannigfaltiges, in dem nicht durchgängig – im Extremfall sogar überhaupt nicht – darüber entschieden ist, was darin womit identisch und wovon verschieden ist, so dass es nicht aus lauter Einzelnem besteht und insgesamt keiner Anzahl fähig ist.“ (Schmitz 1997: 187) 9

Aus Situationen können einzelne Sachverhalte (Was liegt vor?), Programme (Was ist zu tun?) und Probleme (Wie ist vorzugehen?) abgehoben werden. Während bestimmte Tiere gemeinsam mit den Menschen über die kommunikative Funktion der Rede verfügen und z.B. durch Schreie ganzheitliche Situationen bearbeiten, gelingt dem Menschen mit der satzförmigen Rede die explikative Leistung, einzelne Faktoren aus der Situation abzuheben, zu einem Netz zu bündeln und dieses über einen bestimmten Aufmerksamkeitsbereich zu werfen, um das jeweils Relevante als Konstellation festzuhalten und gleichsam in den Griff zu nehmen. Schmitz (2005: 9) bezeichnet dies als „die Grundform menschlicher Situationsbewältigung“. Von hier aus gewinnt der Zweck des ‚interkulturellen Werkzeugkastens‘ ein schärferes Profil: Sofern damit nicht beansprucht wird, interkulturelle Situationen vollständig und abschließend zu erfassen, sondern sofern die jeweilige Konstellation als hilfreiche, eine erste Orientierung verschaffende Abstraktion aus komplexen und diffusen Situationen verstanden wird, hat das Arbeiten mit Konstellationen seine Berechtigung. Interkulturelles Verstehen muss diese Abstraktionen aber immer wieder infrage stellen und auf die zugrunde liegenden diffusen und vieldeutigen Situationen zurückgehen. Der ‚Konstellationismus‘ in Verbindung mit dem globalen Englisch verführt jedoch zu dem Glauben, trotz eines beliebigen Ortswechsels stets eine verlässliche Referenzebene zu besitzen, auf die man sich ohne Beeinträchtigung der Fassung zurückziehen kann. Erst mit dem Versuch, Schritt für Schritt auf dieses Sicherheitsnetz zu verzichten und sich auf die jeweilige Kultur und Sprache einzulassen, beginnt der Prozess der interkulturellen Lebenserfahrung, der ein Prozess der Erfahrung von Grenzen ist. 10 Allein auf eine konstellationistische tool-Basis gestützt, Studierende zu ermutigen, ihre ‚Interkultur‘ ausgehend von Kulturstandards (u.a. Hall, Hofstede, Thomas) zu konstruieren, führt zur Beliebigkeit: Das müssen sich ‚Interkulturalisten‘ sagen lassen.

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Vgl. auch die aktuelle Definition der Situation in Schmitz (2009: 47): „1. Sie ist ganzheitlich, d.h. nach außen abgehoben und in sich zusammengehalten. 2. Sie wird zusammengehalten durch Bedeutsamkeit, die aus Bedeutungen besteht. […] 3. Die Bedeutsamkeit ist binnendiffus, in dem Sinn, dass in ihr nicht alles (eventuell gar nichts) einzeln ist, d.h. eine Anzahl um 1 vermehrt.“ 10 „Die klassischen Normen der sozialen Analyse sind seit den sechziger Jahren erodiert und die kulturellen Grenzen sind von einer Marginalie zu einem zentralen Ort geworden. Darum wäre es nützlicher, statt uns über die kulturelle Identität zu befragen, uns um die Übergänge und Ränder zu kümmern, weil die Subjekte in der Praxis zwischen verschiedenen Traditionen bald geschmeidig, bald mit Brüchen hin- und herwandern.“ (Fuller 2006: 8-9)

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Einen praktikablen Vorschlag, um den ‚Konstellationismus‘ hinter sich zu lassen und in eine andere Kultur verstehend einzudringen, hat Trabant (2011: 257) mit der Idee einer „Adoptivsprache“ für Europäer gemacht, nämlich die affektive Verbundenheit mit einer Sprache, aus der auch die Verbundenheit mit einer Adoptivkultur folgen kann. Das globale Englisch kann diese Verbundenheit nicht erzeugen: Es ist zwar ein unersetzlicher Türöffner für den interkulturellen Vorraum, doch in die einzelnen Räume einzutreten, sich dort zu orientieren, in Gemeinschaften einbezogen zu werden und wechselseitig Zuneigung zu schenken und zu empfangen, verlangt bei der Adoptivsprache (wie bei einem Adoptivkind), dass man sie lange Zeit, u.U. ein Leben lang hegt und pflegt. Byram (2008: 203) beklagt deshalb aus gutem Grund die illusionäre EU-Politik, eine mit universellen Werten aufgeladene europäische Identität top down implementieren zu wollen, ohne dabei die affektive Implikation bottom up, also die subjektive Bedeutsamkeit von Fremdheitserlebnissen oder mitreißenden Begegnungen, zu berücksichtigen. Gerade bei Schülern und Studenten hat der Kontrast zwischen der beanspruchten universellen Geltung bestimmter EU-Prinzipien und der tatsächlichen EU-Politik zu einer Desillusionierung geführt 11 (Müller-Pelzer 2015a). Entsprechend ist bei der Projektierung der interkulturellen Progression im Fremdsprachenunterricht weniger ein affektiv nicht erfahrbarer Idealzustand von Interesse 12, sondern eher die Erkenntnis, dass die verstörende Erfahrung des Nichtkompetent-Seins von niemandem ausgeblendet werden kann (so Alison Phipps in Müller-Pelzer 2015: 262-264). Diese ist vielmehr notwendig, um eine Haltung nicht zur Fassade werden zu lassen. Gerade die Unsicherheit in intellektuell unübersichtlichen und emotional belastenden interkulturellen Situationen führt häufig zur Verhärtung der Persönlichkeit, d.h. des nach außen gezeigten, selbstbeherrschten „Gesichts“. Um dieser Fassadenbildung entgegenzuwirken, ist ein Menschenbild gefragt, das von der grundsätzlichen Labilität der Person ausgeht und insofern nicht ein höchstes, unerschütterliches Niveau personaler Emanzipation in Aussicht stellt: „Der Mensch muss auf etwas stoßen, dessen er nicht Herr ist, um ganz er selbst zu sein und der Verstiegenheit in einseitiger personaler Emanzipation zu entgehen.“ (Schmitz 2005: 94) Böhme identifiziert diese Haltung mit der Bereitschaft, „sich etwas gegeben sein zu lassen, und das heißt für uns: mit der Bereitschaft, Natur zu sein“ (Böhme 2003: 368). Hier kommt der zentrale Gesichtspunkt zum Tragen, den die neuere Phänomenologie zum Thema der interkulturellen Lebenserfahrung beisteuern kann: die subjektive Perspektive des Betroffenen, nicht das Subjekt als Selbstkonstrukt. Es macht einen grundsätzlichen Unterschied, ob von dem Betroffe11 Die ‚Überqualifizierung‘ der 18- bis 24-Jährigen soll inzwischen zur Norm geworden sein: http://www.euractiv.fr/sections/europe-sociale-emploi/la-surqualification-des-jeunesdevient-la-norme-en-europe-317879 12 Witte (2009: 62) formuliert als anspruchsvollstes Lernziel, „dass die Lernenden sich souverän zwischen verschiedenen kulturellen Deutungs- und Verhaltensmustern bewegen und sich die ihnen gemäßen Verhaltensangebote situationsgerecht auswählen können“. Um Missverständnisse zu vermeiden, sollte ergänzt werden, was Böhme (2003: 368) zur Lebensführung des modernen Menschen gesagt hat: „Ich sage Souveränität und nicht Autonomie, weil es gerade nicht um das selbstherrliche Subjekt geht, sondern um einen Menschen, der souverän ist in dem landläufigen Sinne, dass er sich auch etwas geschehen lassen kann.“

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nen in der Ich-Perspektive die Rede ist oder vom Ich aus der Beobachterperspektive eines Dritten. Interkulturelle Lebenserfahrung gibt es nur in der Ich-Perspektive eines Betroffenen.

K ÖRPER , L EIB , AFFEKTIVES B ETROFFENSEIN , LEIBLICHE K OMMUNIKATION Man kann über interkulturelle Erfahrung in zweierlei Weise sprechen: entweder in konstruktivistischer Weise oder in phänomenologischer Weise. Im ersten Fall geht es um die Behauptung objektiver Tatsachen, die aus der Perspektive eines unbeteiligten Dritten empirisch über unterschiedliche Kulturen und kulturell geprägte Verhaltensweisen feststellbar sind, sodass jeder gesunde Mensch diese Behauptungen nachvollziehen kann und als tatsächlich zugeben muss. Im zweiten Fall geht es um subjektive Tatsachen, die ein Betroffener im Umgang mit unterschiedlichen Kulturen zu einem bestimmten Zeitpunkt für sich als Tatsachen feststellt (Schmitz 2002: 36-37). Da jeder Mensch für sich subjektive Sachverhalte feststellen und als subjektive Tatsachen aussagen kann, ist es zweckmäßig, ausgehend von subjektiven, also perspektivischen Erfahrungen zusammen mit anderen Menschen nach begrifflicher Verallgemeinerungsfähigkeit zu streben und so die größtmögliche Stichhaltigkeit gegen Irrtümer zu erreichen. Seit der Begründung der Neuen Phänomenologie (Schmitz 19641980=22005) und ähnlich gelagerter phänomenologischer Ansätze (die Genetische Phänomenologie von Böhme und die Interkulturelle Ethik von Rappe) sind die Situationen, in denen einem etwas zustößt und ihn betroffen macht, mit großer Präzision ausgeleuchtet und begrifflich systematisiert worden. Beschränkte man die Beschäftigung mit anderen Kulturen allein auf eine Klassifikation wie die des Europäischen Qualifikationsrahmens (EQR), würde ein weiterer Lebensbereich der Denkform naturwissenschaftlicher Methodik unterworfen. Subjektive interkulturelle Eindrücke würden auf ein Maß reduziert, „durch das sie übereinstimmen bzw. übereinstimmend gemacht werden. In diesem Sinn reduziert das Messen die Subjektivität und stellt Objektivität her; damit kann es als basales Abstraktionsverfahren verstanden werden“ (Rappe 2012: 14). Vor dem von vielsagenden Eindrücken abstrahierenden naturwissenschaftlichen Blick auf die Wirklichkeit gibt es den phänomenologischen Blick, der hinter die unausgesprochenen Vorannahmen der Naturwissenschaften zurückgeht, um „eine Art phänomenologischer Basiswissenschaft zu betreiben“, die subjektives Erleben nicht auf etwas anderes reduziert (ebd. 11). Schmitz (2002: 37) präzisiert: „Der wichtigste Ertrag phänomenologischer Objektivität ist die Öffnung des Blickes für Zusammenhänge, die durch einseitig gerichtete Einstellungen, oft schon durch eine zu hoch über der unwillkürlichen Lebenserfahrung angelegte Abstraktionsbasis, verdeckt werden. Weil viele Differenzen zwischen Beurteilern auf die Verhärtung von Einstellungen zurückgehen, ist die Chance recht groß, [dass man von guter Phänomenologie] begreifende Sensibilität im Sichherantasten an naheliegende, aber dem Begreifen entfremdete Erfahrungen lernen [kann].“

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Von dieser Art entfremdeter Erfahrung ist auch die Erfahrung des leiblichen Sichspürens als Ausgangsebene für die Entfaltung interkultureller Kontakte. Während für den distanzierten Blick des Naturwissenschaftlers der Körper ein sicht- und tastbares Objekt ist, teilbar und im dreidimensionalen ‚Ortsraum‘ durch Lage und Abstände bestimmbar, ist der Leib nur in der Perspektive des affektiven Betroffenseins (durch leibliche Regungen wie Hunger, Durst, Schmerz, reißende Schwere bei drohendem Absturz, Entspanntheit oder affizierende Atmosphären) im eigenleiblichen Spüren ganzheitlich oder in Leibesinseln präsent, unteilbar und von absoluter Örtlichkeit (Ich-Hier-Jetzt). „Im Zentrum der Neuen Phänomenologie steht das affektive Betroffensein. Es ist insofern das Wichtigste im Leben, als es darüber entscheidet, was Menschen wichtig nehmen, wofür und wogegen sie sich mit Wärme einsetzen.“ (Schmitz 2003: iii) Das eigentümliche, in monokulturellen Situationen häufig überdeckte ‚sich selbst Spüren‘ macht sich bei interkulturellen Begegnungen für z.B. Studierende deutlich bemerkbar (etwa als Eindruck der Befremdung oder Abweisung bzw. der Leichtigkeit oder Beschwingtheit 13) und manifestiert sich bisweilen auch heftig durch ergreifende Gefühle (z.B. Scham, Zorn, Begeisterung). Darüber hinaus ist auch das entfaltete personale Leben immer wieder auf das leibliche Sichspüren bezogen, so im Fall von Austauschstudierenden, die im Umgang mit Kontaktpersonen der Partnerhochschule vielsagende Eindrücke gewinnen, die sich so zusammenfassen lassen: „Der meint es gut mit mir.“ Oder: „Mit dem ist nicht gut Kirschen essen.“ Damit werden Situationen beschrieben, die die von Schmitz genannten Bedingungen erfüllen (vgl. Anm. 8), insbesondere die Bedingung, dass sie nicht in zählbare Elemente zerlegt werden können. Alle Erfahrungen des Arbeitens bzw. der Mediation in multinationalen Projektteams, die Atmosphäre in einer Vorlesung oder die Konzentration bei Prüfungen sind Anlässe, die ohne die Berücksichtigung leiblicher Präsenz nicht angemessen erfasst werden können. „[…] der Leib ist keine abgesonderte Provinz, sondern der universale Resonanzboden, wo alles Betroffensein des Menschen seinen Sitz hat und in die Initiative eigenen Verhaltens umgeformt wird; nur im Verhältnis zu seiner Leiblichkeit bestimmt sich der Mensch als Person.“ (Schmitz 32007: 116) 14 Warum aber ist das philosophische Nachdenken über den Leib im Verlauf des 20. Jahrhunderts ein zunehmend kommentiertes Thema geworden, sodass es heute die Kulturwissenschaft erreicht hat? Die Erklärung ist darin zu sehen, dass es der Philosophie des 20. Jahrhunderts unmöglich geworden war, von einem eigenständigen Subjekt als Seele, Geist oder Bewusstsein im Unterschied zur Welt der Objekte zu sprechen: Der Zuwachs des wissenschaftlichen Wissens über den Menschen als biologisches und kulturelles Wesen hatte dazu geführt, dass sich die traditionelle Kon-

13 Zwar sind diese Erfahrungen bereits häufig kommentiert worden, doch das vorherrschende psychologische Schema der kognitiven, affektiven und verhaltensorientierten Dimension einer privaten Innenwelt behandelt sie als Bewusstseinsinhalte. 14 Der Ausdruck „leibliche Ökonomie“, in Verbindung mit dem des „vitalen Antriebs“ (Schmitz 1999a: 203-204), deutet an, dass über den Leib nicht phantastisch gesprochen wird, sondern die strikte „analytisch-rekonstruktive, nachbuchstabierende Methode“ verwandt wird. Eine eingängige Darstellung der Statik und Dynamik des Leibes findet sich in Schmitz 2003: 24-31.

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zeption des Subjekts in einen Reflex objektiver Tatsachen auflöste. 15 Schien damit die philosophische Beschäftigung mit der Subjektivität seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als obsolet, verflüssigte sich in den Kulturwissenschaften das Konzept der personalen Identität immer mehr, um zu einer verhandelbaren Größe zu werden. Die konkurrierenden soziologischen, psychologischen, semiotischen, ethnologischen, genderspezifischen, bioanthropologischen und interaktionistischen Formulierungen von Identität erfolgten stets aus der Perspektive einer dritten Person, d.h. von außen, konnten also nicht die subjektive Lebenserfahrung des Einzelnen erreichen. Zusätzlich regte sich bei den ‚Interkulturalisten‘ weltweit der Widerstand gegen westliche Grundannahmen bei der Analyse z.B. asiatischer Kulturen, sodass der akademische Diskurs im Bereich der interkulturellen Wirtschaftskommunikation sich (ein wenig resigniert)verstärkt den good practice-Beispielen zuwendet (Bolten 2011). Angesichts dieser Lage bietet die Leibphänomenologie die Aussicht, trennende Kulturschwellen durch eine Revision der abendländischen Abstraktionsbasis zu überwinden und zu einer den unterschiedlichen Kulturen gemeinsamen Lebenserfahrung angenäherten Begrifflichkeit zu gelangen (Schmitz 2002: 23-32). Die Phänomenologie ist hierfür die „genuine Erkenntnisweise“ (Böhme 2003: 47), weil sie bei der subjektiven, leiblichen Betroffenheit im Medium des Sichspürens einsetzt. Die Neue Phänomenologie hat einen Weg gewiesen, wie auf der Basis leiblicher Intelligenz (als Oberbegriff für leibliche Kommunikation, basierend auf leiblicher Ökonomie und leiblicher Dynamik im leiblichen Richtungsraum) die jeweilige interkulturelle Begegnungssituation vorstrukturiert und erschlossen wird. Das subjektive Erleben als Leitfaden zu nehmen bedeutet, die maßgebliche abendländische, auf Verdeckung und Verdrängung des Leibes basierende Tradition in vielen Punkten infrage zu stellen, und zwar als erstes bei der Wahrnehmung, die nach dem Modell der Zuwendung des Subjekts zu einem klar umrissenen Gegenstand (Sachen, Menschen, Signale) aufgefasst wird. Die sensualistische Reduktion auf das, was die fünf Sinne als Schleusen für die Eindrücke dem Bewusstsein zuführen, wird verworfen. Die Zerschlagung der Eindrücke wird rückgängig gemacht, sodass Wahrnehmung in der unverkürzten Lebenserfahrung bedeutet, zu erfassen, „was los ist“ (Schmitz 2010: 42). „In Wirklichkeit ist Wahrnehmen nicht so sehr ein Registrieren von Objekten oder Sinnesdaten wie vielmehr eine Subjekt und Objekt im Sich-einspielen [sic] oder Eingespieltsein auf einander umgreifende Kooperation, die ich […] als leibliche Kommunikation bezeichne.“ (Schmitz 2007: 66) „Die leibliche Kommunikation tritt als Modell des Umgangs mit den Anderen an die Stelle des Modells der Signalübertragung durch physikalisch definierte Reize zwischen abgeschlossenen Innenwelten in der Außenwelt über Sinnesorgane.“ (Schmitz 2003: 156)

Ein kurzer Blick auf die Struktur (leibliche Ökonomie) und den vitalen Antrieb (leibliche Dynamik) soll den Begriff der leiblichen Kommunikation erläutern. Nach Schmitz (2003: 24ff.) besitzt der Leib eine Struktur, die in erster Linie durch die Di15 Das deutlichste Symptom, Subjektivität als metaphysisches Relikt zu entzaubern, ist heutzutage der Rückgriff auf die Neurobiologie, die glaubt, die Wahrnehmung insgesamt kausal als Leistung des steuernden Gehirns ausgeben zu können (Schmitz 2003: 34-43).

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mensionen der Enge und der Weite bestimmt ist. Die Enge des Leibes, die sich besonders deutlich im Erschrecken-Können und im Schmerz aufdrängt, ist der Ausgangspunkt subjektiven Spürens. Die leibliche Richtung bildet den Übergang aus der Enge zur Weite, etwa als Entzücken oder Erleichterung, unter Abstreifen der leiblichen Enge. Selbst für Studierende, die schon die Sprache des Landes gelernt haben, beginnt die interkulturelle Lebenserfahrung nicht mit der Wechselrede, den die Diskursanalyse als Normalfall betrachtet. Beim Besuch einer unbekannten Stadt, einer unbekannten Landschaft, eines unbekannten (oder wenig bekannten) Landes z.B. dringen vielsagende Eindrücke auf den Besucher ein: bestimmte atmosphärische Anmutungen (Helle, Weite, Hektik, Verträumtheit, Farbigkeit), bildliche und architektonische Motive, das kollektive Verhalten der Menschen, Bilder, Laute und Gerüche etc. im Sinn von Sachverhalten, aber auch als vorschwebende Ankündigungen dessen, womit man zu rechnen hat (Schmitz 32007: 20). Die im Normalfall latente Dynamik des Leibes erfährt in dieser Situation den Anstoß zur Verarbeitung der Eindrücke und wird unmittelbar spürbar. Die Dynamik artikuliert sich vorwiegend aufgrund der Entgegensetzung von leiblicher Enge und leiblicher Weite: „In diesem entgegengesetzt gerichteten Zusammenwirken bezeichne ich die Engung als Spannung, die Weitung als Schwellung, und ihren Verbund – die Spannung gegen Schwellung zusammen mit der Schwellung gegen Spannung – als den vitalen Antrieb.“ (Schmitz 2011: 15) Leibliche Kommunikation beginnt als die Spreizung des leiblichen Dialogs, d.h. als „Drama mit verteilten Rollen“ (2009: 38), z.B. im Schmerz, bei dem man Ziel und Widersacher zugleich ist. Leibliche Kommunikation greift auf den menschlichen Ausdruck wie auf leiblose, bewegte und unbewegte Gestalten aus, an denen Gestaltverläufe leiblich spürbar erfahren werden, etwa als bedrückende, imposante oder schnittige Bewegungssuggestionen. Akustische Gestalten wie der Rhythmus einer Musik springen unmittelbar auf den Leib über (etwa als hüpfend, gleitend oder stoßend gespürt). Andere Brückenqualitäten sind synästhetische Eindrücke, wenn man z.B. von einem warmen Rot, einem grellen Pfiff oder einem schleppenden Gang spricht. Diesen ausgreifenden Impuls nennt Schmitz (32007: 13) ‚Einleibung‘. Diese einseitige Exteriorisierung des innerleiblichen Dialogs von Engung und Weitung wird wechselseitig, sobald vor allem Menschen ins Spiel kommen, aber immer noch vor und dann auch während des Gesprächs. Die Dramatik der Wechselrede wird gleichsam vorbereitet und begleitet durch den Austausch von Blicken, mit denen Partner aneinander Maß nehmen (dank der konkurrierenden leiblichen Tendenzen von Spannung und Schwellung); dann handelt es sich um antagonistische ‚Einleibung‘. Daneben gibt es den Typ der solidarischen ‚Einleibung‘ ohne Zuwendung zu einem Partner, z.B. beim chorischen Singen (d.h. durch Zusammenschluss eines gemeinsamen vitalen Antriebs). Letztere, die Gemeinschaft schaffende Variante leiblicher Kommunikation ist darüber hinaus beim gemeinsamen Tanzen und Musizieren wie auch bei sportlichen Wettkämpfen (z.B. beim gemeinsamem Rudern) anzutreffen. Während monokulturelle Kontakte von der Einübung in diese leiblichen Praktiken zehren und habituell eine unauffällige Fassung beim Individuum ausprägen, die ‚Einleibung‘ also latent bleibt, wird diese bei interkulturellen Kontakten schnell zu patenter ‚Einleibung‘, bei der einem aufgrund unvorhersehbarer Anforderungen (Verstehen, Tun, Unterlassen) schnell warm ums Herz bzw. unwohl, angespannt, beklommen zumute werden kann, und die bis hin zur Destabilisierung der habituellen

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Fassung führen kann. 16 Nimmt man das oben über die Situationen Gesagte hinzu, so wird auch der Fremdsprachenerwerb von Zuständen der ‚Einleibung‘ (als Gestalt leiblicher Kommunikation) begleitet, insofern sich den Lernenden vor, neben und nach dem Sprechen beständig vielsagende Eindrücke aufdrängen, die Momentaufnahmen eines aktuellen Zustandes sein, aber ebenso charakteristische Züge des Partners, ja der Kultur vermitteln können. Ein Professor z.B. wird von internationalen Studierenden primär durch seine leiblich-sprachliche Präsenz erfahren und als eher zugänglich oder unzugänglich empfunden. Das größte Hindernis, die leibliche Intelligenz zum Zuge kommen zu lassen, ist allerdings die traditionelle Herrichtung des Körpers als Instrument: Seit Platon die Seele (das Bewusstsein) als das Bestimmende und den Körper als das zu Gebrauchende bezeichnet hat, gehört die Instrumentalisierung des Körpers zum Begriff des autonomen Selbst; beginnend mit Bacon und Descartes wird er dann auch die Grundlage der Weltbeherrschung. Als bloß physisch Existierendes wird der Körper eine Sache, mit Descartes ein Fall physikalischer Mechanik und mit der modernen Biologie und Medizin ein Abgrund chemischer und elektrischer Prozesse. Die Instrumentalisierung des Körpers findet sich heute nicht nur in allen Lebensvollzügen, die auf Leistung aus sind, sondern schlägt ebenfalls auf die Weisen des Lebensgenusses, des Wohnens und Kommunizierens durch, also auf Lebensvollzüge, „bei denen man gerade auf die Selbsttätigkeit des Leibes angewiesen ist“ (Böhme 2003: 31). Insofern stellt sich für den Fremdsprachenerwerb die ungewohnte Forderung, erst einmal leibliche Kompetenz für interkulturelle Begegnungssituationen zu gewinnen: ungewohnt, weil ein weitgehend unbekannter, vorsprachlicher Erfahrungsbereich gemeint ist. 17 Im folgenden Abschnitt soll ein Vorschlag erörtert werden, wie leibliches Sichspüren und Fremdsprachenerwerb in der interkulturellen Praxis zusammengebracht werden können.

S ZENISCHES S PIEL

UND FREMDSPRACHLICHE

R EDE

Die phänomenologische Wiederentdeckung leiblichen Sichspürens in der technischen Welt lässt sich nicht durch institutionelle Entscheidungen unmittelbar auf Dauer stellen, etwa über eine „performative Wende“ des Fremdsprachenunterrichts (Schewe 2010: 40, Kriechbaumer 2014). Jeder (Studierende) kann aber diesen Schritt für sich tun. Die leibliche Intelligenz kommt nur zum Zug, sofern die Betreffenden auf die Kanäle leiblicher Kommunikation eingehen. Leibliche Intelligenz ist keine objektive anthropologische Ausstattung, sondern nur in der Leib-phänomenologischen Einstel16 Schon frühzeitig drängt sich in der Regel den Gesprächspartnern der leiblich spürbare Eindruck auf, ob ein Gespräch gelingen oder scheitern wird, was Diskursanalysen nicht erfassen können (Müller-Jacquier 2004). Aus den sogenannten „diskursiven Reziprozitätsspiralen“ (Laing/Philipson/Lee 1965: 171) gibt es meist nur den Ausweg, wenn auf die Erschütterung der Fassung (personale Regression) ein neues Niveau personaler Emanzipation erprobt wird. 17 Die in der Literatur üblichen Verweise auf affektive Faktoren, Empathie und Sensibilität kranken daran, dass sie den in der Psychologie vertretenen psychophysischen Dualismus fortsetzen und vom Leib nichts wissen.

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lung aktivierbar, die aber auch dann nicht in universell gleicher Weise präsent, sondern biographisch-kulturell gebrochen ist. Die kulturellen Deutungsmuster, bedingt durch familiäre und soziale Herkunft sowie geschichtliche Umstände wie auch die individuelle leibliche Disposition, die zur charakterlichen Formung beigetragen haben, filtern die Verarbeitung der Eindrücke und die Resonanz darauf (Rappe 2012: 215ff.). Um einen Zugang zum leiblichen Spüren zu bekommen, sind für internationale Studierende gleichwohl günstige Arrangements denkbar, die „Fremdsprache inszenieren“ (Schewe 1993, Byram/Fleming 1998), d.h. vielfältig erfahrbar machen: Auf der Grundlage des oben erläuterten begrifflichen Rahmens lassen sich in Kursen (Trainings und Workshops) in szenischem Spiel kombiniert mit handlungsorientierten Methoden der Fremdsprachenvermittlung Anlässe der leiblich-kulturellen Sensibilisierung schaffen. Das Personal des szenischen Spiels besteht aus einem theaterpädagogisch geschulten Spielleiter und Teilnehmern des Gastlandes sowie internationalen Studierenden in etwa gleichem Zahlenverhältnis; analog werden die fremdsprachlichen Übungen durch einen geschulten Mediator betreut. Es ist darauf zu achten, dass die internationalen Studierenden pro Gruppe über ein annähernd gleiches fremdsprachliches Niveau verfügen, d.h. es sind Gruppen mit unterschiedlichen Niveaus einzurichten, von echten/unechten Anfängern bis hin zu Teilnehmern mit dem Niveau B2/C1. Es handelt sich nicht um ein ästhetisch motiviertes Schauspieltraining, das auf die Aufführung eines Dramas zielt, sondern um eine Spieltätigkeit, die dem eigenen, verstehenden Eindringen in eine andere Kultur dient. Entsprechend gibt es keine sprachliche Progression mit vorgegebenen Lernzielen; es sind die Teilnehmer, die nach ihren Interessen und Fähigkeiten den Ablauf der Kurse strukturieren. Szenisches Spiel kann als anthropologische Konstante angesehen werden, doch die Organisation und Art der vorsprachlichen und sprachlichen Übungen werden je nach Kulturkreis unterschiedlich ausfallen, aber auch von Land zu Land, ja von Spielleiter zu Spielleiter. Beginnend mit sprachfreien Übungssequenzen (Körperübungen) werden für die internationalen Studierenden kulturell aufgeladene, vielsagende Eindrücke vermittelt, die für den Fremdsprachenerwerb hintergründig wirksam werden, weil „die Bahnen des motorischen Körperschemas […] den Umgang mit den eigenen Gliedern führen, etwa in der Gebärde“ (Schmitz 2003: 27). Schon Gehen, Stehen, Laufen oder Sitzen transportieren habituelle Normen, die für die internationalen Studierenden leiblich spürbar werden, und dementsprechend auch motorische Abläufe bei sozialen Kontakten wie Sichbegrüßen und -verabschieden, Bitten oder Sichentschuldigen (insbesondere unter Berücksichtigung hierarchischer Unterschiede). Das Sicheinstimmen auf interaktive Situationen begünstigt das Entstehen spezifischer Atmosphären, insbesondere weil die Interaktion keine grundsätzliche Trennung von Spielern und Zuschauern kennt: Turnusmäßig werden Spieler zu Zuschauern und umgekehrt. Insofern handelt es sich um einen geschlossenen Raum, der den Beteiligten den Schutz vor Bloßstellung und Fassungsverlust gewährt. In der Begegnung können sich gemeinsame Situationen bilden, mit mehr oder weniger starker affektiver Implikation. Aus dem konventionellen schauspielerischen Training können bestimmte Übungsformen übernommen werden, mit denen, ausgehend vom tastbaren und sichtbaren Körper, eine leibliche Sensibilisierung eingeleitet werden kann: Entspannungsübungen bei geschlossenen Augen mit und ohne musikalische Begleitung (gesamt-

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leibliche Affizierung über leibliche Kommunikation), Übungen mit der reißenden Schwere beim abgefangenen Fall des eigenen Körpers (Aktivierung der leiblichen Dynamik durch Zusammenschrecken), Atemübungen (Ansprechen der Leibesinsel in der Brustgegend), Verbinden der Augen, Masken, Verkleidung etc., wodurch bestimmte Bewegungsabläufe ausgelöst werden (leibliche Bewegungssuggestionen wie tasten, torkeln, stolpern, sich beugen, sich verkrampfen, tänzeln, situationstypische Drehbewegungen ausführen). Auf diesem Wege kann auch der Übergang vom leiblichen Ausdruck zur Ausdrucksrede erfolgen, etwa indem man die dann in den ersten Spielsituationen verwandten Wörter beschränkt, etwa auf ein Wort, zwei oder drei Wörter. Damit entwickelt sich der Umgang mit ganzheitlichen Spielsituationen über warnende oder anfeuernde Zurufe, zunächst ohne Abheben von Faktoren, dann aber in gleitendem Übergang, bei dem Einzelnes expliziert wird. Insgesamt ergibt sich auf dieser Ebene eine Nähe zum populären Improvisationstheater. So öffnet sich die Spielsituation dem Unvorhersehbaren, weil das Spiel über die Handlungen der Spieler hinausgeht: „Sie tun etwas, damit etwas mit ihnen geschieht.“ (Hofmann 2015: 143) Es ist die spielerische Bereitschaft, nicht krampfhaft an einem individuell und kulturell verhärteten Niveau personaler Emanzipation festzuhalten, das verspricht, Erschütterungen der Fassung zu verhindern. In spielerischer Identifizierung 18 entwirft sich der Betreffende auf etwas und erprobt neue Niveaus der persönlichen Fassung, die das bisher sich selbst zugeschriebene Niveau personaler Emanzipation unterbieten (Schmitz 2003: 155), z.B. ein Kind, ein Tier zu sein, jemand, der etwas verloren oder sich verlaufen hat. Die erworbene Erfahrung mit tragenden Situationen in leiblicher Kommunikation erlaubt diese personale Regression und trägt zur Flexibilisierung der Fassung bei. Als Gesprächspartner übernimmt man diese Flexibilität für das Gespräch, durch das sich – neben den Zwecken der Kommunikation – ebenfalls in wechselseitiger ‚Einleibung‘ neue gemeinsame Situationen mit binnendiffuser Bedeutung bilden (Wen habe ich vor mir? Was spricht mich an, was stört mich? Kann ich auf die Art des Umgangs eingehen?) bzw. bestehende Situationen umbilden können (Warum ist die Stimmung eine andere geworden? Warum habe ich keine Schwierigkeiten, Probleme mit ihm zu besprechen? Warum habe ich eine bestimmte Eigenart am Anfang gar nicht wahrgenommen?). Zahlreiche freie Theater, wie z.B. die ‚théâtres de proximité‘ in Frankreich, sind nicht in erster Linie auf eine ästhetische Wirkung aus; sie verstehen sich vielmehr als bürgerschaftliches Angebot. Sie wollen unterhalten, aufklären, kritisieren, integrieren, Stand verleihen; d.h. sie greifen auch gesellschaftlich kontroverse Themen auf, inszenieren soziale Spannungen und versuchen, die in den jeweiligen sozialen Habitus eingelassenen Machtverhältnisse sichtbar zu machen. 19 Entsprechend ihrem 18 „Der Entwurf ist kein Betrug, sondern spielerische Identifizierung von etwas mit etwas ohne Rücksicht auf Tatsächlichkeit, daher ohne Verwechslung und ohne Fiktion. Das einfachste Beispiel spielerischer Identifizierung ist die unbefangene Bildnahme, wobei man das Bild nicht als Bild sieht, sondern als das Abgebildete […]“ (Schmitz 1999a: 104) 19 Die „Compagnie de la Tasse de Thé“ aus La Rochelle umschreibt ihr Ziel folgendermaßen: „La compagnie œuvre à la transmission d’un théâtre de proximité pour Rêver, Rire, Résister! Nous travaillons sur l’énergie et sur la dynamique collective que le théâtre fait émerger. Nous cherchons à préserver cette énergie, à la développer au sein de projets fédérateurs ou à la restaurer chez des personnes fragilisées.“

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Sprachniveau kommen die internationalen Studierenden hier schrittweise in Kontakt mit unterschiedlichen emotionalen Stilen der Alltagskultur 20, die sich nicht allein über Argumente, sondern über Gefühlslagen, Stimmungen, Leidenschaften und Hoffnungen ausdrücken. Damit öffnet sich das spannungsreiche Verhältnis zwischen subjektivem, leiblichem Spüren und milieubedingten, sozial-affektiven Habitualisierungen, die die Emotionssoziologie untersucht (Adloff 2015). Das szenische Spiel ist nun mit handlungsorientierten Methoden der fremdsprachlichen Vermittlung zu kombinieren, die Register der leiblichen Kommunikation nutzen und in spielerischer Artikulation unterschiedliche sozial-affektive Stile spürbar werden lassen. Zunächst wird der Zugang zu ‚authentischer‘, d.h. normativer Intonation gesucht, aber nicht im Sinn eines behavioristischen Drills, sondern unter Nutzung der leiblichen Brückenqualität der Stimme des Mediators. Einerseits erkennt man einen Menschen in seiner leiblich grundierten Eigenart an der individuellen Stimme. Andererseits betont das chorische Sprechen und Singen das leibliche Sicheinlassen auf fremdsprachliche Diktion und Intonation, neben der normativen durchaus auch auf affektiv stärker markierte Soziolekte. Beides vermittelt den internationalen Studierenden vielsagende Eindrücke von spezifischen kulturellen Ausprägungen der Leiblichkeit. Die am eigenen Leib gespürte Anmutung entscheidet weitgehend über spätere Sympathie oder Antipathie gegenüber einer Sprache: Nur eine angenehme oder anregende Anmutung wird in leiblicher Resonanz aufgegriffen und zum Anlass einer individuellen Verstärkung (Müller-Pelzer 2015b), z.B. anlässlich chorischen Singens oder Sprechens, beides eine Form solidarischer ‚Einleibung‘: Die Intonation und die Art der leiblichen Präsenz, nicht so sehr die Bedeutung des gesprochenen Textes sind es hier, auf die es ankommt. Das Ziel ist die Inklusion aller Akteure in eine Atmosphäre, sei es eine rituell vorgegebene oder eine neu kreierte. Eine affektiv aufgeladene Atmosphäre nutzt dem lebensnahen Fremdsprachenerwerb, denn das analytische Erkennen von sprachlichen Regelmäßigkeiten und die affektive Tönung treiben einander voran: Wer eine Fremdsprache liebt, will sie möglichst korrekt sprechen, und wer die sprachliche Performanz verbessert, verstärkt die affektive Bindung an die Sprache. Gelingt die Verstetigung der sich im zwischenmenschlichen Kontakt bildenden und auflösenden gemeinsamen Situationen durch einen atmosphärischen, sprachlich-interaktiv erzeugten Gruppenrahmen, lässt sich von „includierenden gemeinsamen Situationen“ (Schmitz 1997: 89) sprechen. Selbst bescheidene affektive ‚Erlebnisinseln‘ können eine fortgesetzte Wirkung entfalten und sich je nach späterer biographischer Entwicklung des Betreffenden für ihn zu einem Mosaik subjektiver Bedeutsamkeit zusammenfügen. Dieses Wissen nutzen unterschiedliche Methoden der fremdsprachlichen Vermittlung, welche den Fremdsprachenerwerb nicht als schulisches Pensum auffassen, sondern als spielerische, aber durchaus ernsthafte „Entfaltung der Gegenwart“ (Schmitz 2007: 49), wie z.B. die ‚Psychodramaturgie linguistique‘ (PDL) 21. Wie eine Reihe anderer Initiativen (Schewe 1993) ist diese Sprachlehr- und Lernmethode vorrangig 20 Vgl. die vom französischen Historiker Pierre Rosanvallon angestoßene Initiative „Raconter la vie“. 21 Die theoretischen Annahmen wie die Einteilung des Menschen in Psyche, Intellekt und Körper sowie das Konzept des Psychodramas können hier außer Betracht bleiben (Dufeu 2003: 54-74, Dufeu 2008: 54).

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an einer Begegnung zwischen lebendigen Personen interessiert, die ihre Bedürfnisse formulieren, statt wie in der Schule Kommunikation lediglich zu mimen. Dies impliziert aber, dass den Gesprächspartnern aneinander gelegen sein muss: Wer etwas sagt, wie er es sagt und in welcher Situation, all das ergibt erst die volle Bedeutsamkeit der Aussage. Insofern zielen die Sprachtrainings auf affektiv nuancierte, ganzheitliche (d.h. nicht pädagogisierte) und zuständliche Beziehungen zwischen den Teilnehmern der Gruppe (nach Schmitz eine includierende gemeinsame Situation). Nach Dufeu entspringt die Rede einer körperlichen „pression intérieure“, die den „besoin de s’exprimer“ hervorbringt. Insofern ist für ihn die Sprache zunächst „langue du corps“ (1982: 277), also neben dem Wortwechsel im Gespräch immer auch ein subjektiver Ausdruck durch Artikulation, Gestik, Mimik und Proxemik. Das Wie der sprachlichen Intonation und Wiedererkennung rangiere noch vor dem Was, denn das Wie bringe die affektive, subjektive Bedeutsamkeit und die Atmosphäre des Kontakts zum Ausdruck. Deshalb wird das Nichtverstehen in der mündlichen interkulturellen Kommunikation von den Betroffenen als besonders schmerzliche Klippe erfahren (Harden 2015). Gerade die sogenannte ‚phatic communion‘, d.h. die kulturell-situativen Äußerungen ohne unmittelbar erkennbares Denotat (Harden nennt das Beispiel „Nice day, today.“, 2015: 105), stellt den Fremdsprachenlerner nicht allein vor erhebliche Verständnisprobleme, sondern schneidet ihn von der leiblichen Kommunikation ab. Diese Lücke situationsadäquaten Sprechens möchte Dufeu schließen, indem er den mündlichen Ausdruck vor der schriftlichen Form fördert und – stellvertretend für andere Autoren – die Körperlichkeit des Kommunizierens in den Vordergrund rückt: „Plus la langue remplit sa fonction expressive, communicative et symbolique, plus l’importance de la signification du message apparaît. L’intonation joue dans cette approche de la langue un rôle essentiel, car elle donne vie et résonance à la langue. Elle exprime le contenu émotionnel du message, sa coloration subjective, ses connotations. Elle permet de ne pas rester à la surface des mots, elle leur confère leur poids et leur portée.“ (Dufeu 2008: 6)

Offenkundig geht es Dufeu nicht um den physiologischen Körper, sondern um den gespürten körperlichen Leib und seine Regungen: Ausgehend vom tast- und sichtbaren Körper zielen die zahlreichen Übungen teils auf das gesamtleibliche Spüren, teils auf die Aktivierung unterschiedlicher Leibesinseln: die anfängliche Entspannung oder Aufwärmung (privative Weitung), die Atmung (das Spüren des Antagonismus von Spannung und Schwellung in der Leibesinsel der Brustgegend), die Aktivierung der leiblichen Kanäle der Stimme und des sprachlichen Rhythmus (leibliche Bewegungssuggestionen), das resonante Eingehen auf Eindrücke, die von anderen Personen ausgehen (atmosphärische Anmutungen, körperlicher Ausdruck), die spielerische Dramatisierung durch Spiegel- und Rollenübungen sowie resonantes Verstehen („écoute empathique“, Dufeu 2003: 148). Das in der Schule übliche Aussprachetraining lehnt Dufeu ab: Das naturwissenschaftlich verstandene, phonetische Artikulieren fremdsprachlicher Laute aktiviert einen Organbereich des tast- und sichtbaren Körpers, während Dufeu das Ineinandergreifen von leiblichen Regungen und Artikulationen gleichsam von ‚innen‘ anstrebt: “Comme elle [la langue étrangère] est vécue de l’intérieur, les barrières linguistiques peuvent être réduites, de sorte qu’une proximité et une familiarité avec la langue étrangère peut s’établir. Ceci favorise une ou-

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verture pour ce qui est nouveau, étrange et étranger.” (Dufeu 2008: 7; s. ferner das Zitat von Didier Anzieu in: Dufeu 2003: 54)

R ÉSUMÉ Studienaufenthalte im Ausland werden von den Hochschulen weltweit als politisch, wirtschaftlich und kulturell nützliche Dimension der Ausbildung gefördert. Doch in den meisten Fällen gelingt es den Studierenden nicht, subjektiv bedeutsame interkulturelle Lebenserfahrungen im Sinn der „convivialité“ zu sammeln. Dies liegt einmal am globalen Englisch, das in den meisten Fällen als einzige Kontaktsprache dient und in der Regel nur rudimentäre und flüchtige gemeinsame Situationen mit Menschen des Gastlandes entstehen lässt, auch wo Englisch lediglich offizielle Landessprache ist. Erschwerend kommt hinzu, dass ein weltanschaulicher Filter die leibliche Verankerung des Individuums in gemeinsamen Situationen verdeckt und es mit kulturell vorgefertigten Konstellationen abgespeist wird. Damit allen Studierenden – sei es während eines Kurzzeitaufenthaltes, sei es während eines Intensivstudiums im Ausland – die Chance eröffnet wird, „d’être un sujet historique en devenir par les langues, par le langage“ (Molinié 2006: 10), schlage ich anstelle der traditionellen Fremdsprachenkurse Arrangements für szenische Spielsituationen in gemischten Gruppen aus Gaststudierenden und Studierenden des jeweiligen Hochschulstandortes vor – auf der Basis eines phänomenologisch begründeten Konzepts. Es geht dabei um die Erfahrung der ‚Einleibung‘ als Grundmodus des Umgehens mit widerfahrenden Eindrücken. Im szenischen Spiel werden Anlässe für einseitige und wechselseitige, solidarische und antagonistische ‚Einleibung‘ gestaltet und die Voraussetzungen für den Übergang zur Rede in der Fremdsprache geschaffen. Je nach den fremdsprachlichen Voraussetzungen der Teilnehmer wird es Gruppen mit unterschiedlichen Niveaus geben. Im Ergebnis sollen die Kurse die subjektive leibliche Kompetenz für interkulturelle Situationen entwickeln helfen und in der fremdsprachlichen Rede die Explikation von includierenden, gemeinsamen Situationen (Stichwort: Ich habe das und das erlebt.) sowie die Implikationen in inkludierende, gemeinsame Situationen (Stichwort: Ich habe einen bestimmten Umgang miteinander kennengelernt.) ermöglichen. Der Fremdsprachenerwerb kann insofern als Lebensform verstanden werden, in der der „Spielraum der Gegenwart“ (Schmitz 1999a: 175-180) durch spielerischernsthafte Erfahrungen personaler Regression (Labilität, affektives Betroffensein, Ergriffenheit, Grenze) erweitert wird – Erfahrungen, die ihrerseits das Niveau und den Stil personaler Emanzipation (Stichworte: interkulturelle Situationskompetenz durch leibliche Resonanz, leibliche Kommunikation, spielerische Identifizierung) individuell umprägen.

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(Gesinnungs-)Brücken bauen: Kulturkontakte der besonderen Art A NNETTE C LAMOR „En ce printemps 1941, l’Allemagne est toujours juridiquement en guerre avec la France. Six cents Français se baladent dans les rues de Leipzig, d’autres sont invités à Dresde […], d’autres à Berlin. Dans les brasseries, on rencontre des Français et des Allemands chantant de vieux refrains populaires, buvant la bière et le vin du Rhin.“ SAINT-LOUP [MARC AUGIER] / J’AI VU L’ALLEMAGNE

Analog zum 19. Jahrhundert, nachdem Madame de Staël in De l’Allemagne (1813) ihren Landsleuten das bis dato unbekannte Bild vom rechtsrheinischen Nachbarn als „kontemplative[s] und sentimentalische[s] Land[…] der Dichter und Denker“ (Leiner 1989: 97/98) erschlossen hatte, erleben auch die 1930er und frühen 1940er Jahre einen „nicht abbrechende[n] Strom von französischen Reisenden […] in das wunschhafte Land“ (ebd. 98) und damit eine Renaissance jener kulturellen „voyages d’étude“ von einst. Und wieder gilt es, ein neues Deutschland zu entdecken: das unter nationalsozialistischer Herrschaft. Ramon Fernandez spricht gar von einer „terra incognita […] même pour un habitué, comme moi-même, de l’Allemagne d’autrefois“ 1 (Fernandez, 06.11.1941) [Herv.i.O.]: „J’ai regardé vivre les Allemands, dans cette Allemagne transformée, avec la curiosité du voyageur […].“ (Gorceix 1937: 5) „Et j’aborde le sujet qui travaille la curiosité des Français. Comment vit-on en Allemagne?“ (Saint-Loup 1991: 26)

Diese Form des ‚(Alltags-)Kultur-Tourismus‘ wird vom Regime nicht nur toleriert, sondern im Gegenteil gezielt unterstützt und gefördert. Seien es die staatlich konzipierten (und gelenkten!) „Botenfahrten“, wie z.B. die Deutschland-Rundreise europä-

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Siehe auch: „Ce qui est neuf est difficile à voir. […] Je reviens de ce monde absolument inconnu en France, et qui n’a pas eu de précédent.“ (Chardonne, 13.11.1941).

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ischer Schriftsteller im Vorfeld des Weimarer Dichtertreffens von 1941 2, oder die offiziellen Einladungen zu spektakulären Großereignissen, wie den als „opéra colossal“ inszenierten Reichsparteitagen in Nürnberg, oder auch die eher als ,privat‘ deklarierten Individualreisen, wie Septime Gorceix’ Petit voyage sentimental en Rhénanie et en Bavière zu den Stätten seiner fast 20 Jahre zurückliegenden Kriegsgefangenschaft: Die Einreise nach „Hitler-Deutschland“ erscheint als „einfachste Sache der Welt“ 3, da der Tourismus und somit auch jene offiziell sanktionierten Kulturkontakte Teil der NS-‚Außenwerbung‘ sind. Nicht von ungefähr spricht Goebbels im Zusammenhang mit der erwähnten Dichter-Rundreise von „praktische[m] Anschauungsunterricht“ 4 und schreibt am 25. Oktober 1941, überaus zufrieden mit den euphorischen Reaktionen der ausländischen Besucher, in sein Tagebuch, die „beste Propaganda“ sei „doch die eigene Inaugenscheinnahme“ 5 – ein Konzept, das offensichtlich nicht nur der ebenfalls zur „voyage jusqu’au bout de la collaboration“ (Loiseaux 1983: 18) geladene Literaturkritiker Ramon Fernandez regelrecht verinnerlicht zu haben scheint: „L’Allemagne de 1941 […] a jugé que, si tous les démocrates du monde prêchent la transparence de peuple à peuple tout en dressant hypocritement entre les peuples des verres dépolis, il fallait prendre le contre-pied des démocrates : il fallait ne rien annoncer, mais simplement faire voir. Il fallait inviter les commerçants, les ouvriers, les journalistes, les intellectuels à voir, à observer, à comparer, à interroger, à conclure par eux-mêmes.“ (Fernandez, 06.11.1941)

Dementsprechend verfolgt diese besondere Form der „eigene[n] Inaugenscheinnahme“ zwei komplementäre Ziele: Zum einen sollten die Faschismus-Touristen in der direkten Begegnung mit den neuen Deutschen die meist überwiegend negativen Vorgaben ihres jeweiligen Heimatdiskurses als obsolet erkennen und im zweiten Schritt

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Vgl. dazu die ebenso detail- wie kenntnisreiche Dokumentation dieser Rundreise durch Frank-Rutger Hausmann: „Dichte, Dichter, tage nicht!“ Die Europäische SchriftstellerVereinigung in Weimar 1941-1948. Hausmann sieht diese und andere in erster Linie ideologisch motivierte Reisen in der Tradition der nach dem Ersten Weltkrieg initiierten „Botenfahrten“, bzw. als dem „Modell ähnlicher, von der Sowjetunion zuerst veranstalteter Kontrollfahrten“ nachempfunden (Hausmann 2004: 107). „Comment entre-t-on en Hitlérie? C’est la chose du monde la plus facile […] On encourage le tourisme.“ (Claudet, 03.08.1935). „Zum ersten Male haben wir in diesem Jahre mitten im Kriege die führenden Autoren befreundeter Nationen zu uns geladen. Auf meine Bitte hin haben sie eine Reise durch das Reich gemacht. Alles ist ihnen gezeigt und nichts ist ihnen vorenthalten worden. […] Sie sollten mit offenen Augen Volk, Land und Leute studieren […] Ihre eben abgeschlossene Reise war sozusagen ein praktischer Anschauungsunterricht […].“ (Goebbels 1941, zit.n. Hausmann 2004: 110). „Ich empfange eine Delegation ausländischer Autoren […] Sie haben eine Reise durch das Reich gemacht und kehren voll der tiefsten Eindrücke nach einem noch bevorstehenden Besuch auf der Weimarer Buchwoche in ihre Heimat zurück. Solche Reisen ausländischer Prominenten [sic] wirken sich immer sehr segensreich aus. Die beste Propaganda ist doch die eigene Inaugenscheinnahme.“ (Goebbels, 23.10.1941).

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revidieren, zum anderen konnten positive Vor-Bilder und Erwartungen durch die ‚reale‘ Anschauung um ein Vielfaches verstärkt werden. Die Vorgabe an die Reiseberichterstatter ist demnach klar umrissen: „voir“ – „comprendre“ – „faire comprendre“. Eine Vorgabe, die sich die meisten voll und ganz zu eigen machen, was sich sowohl an den Titeln 6 als auch an den beinahe unisono zu Protokoll gegebenen Absichtserklärungen ablesen lässt: „Je n’ai d’autre intention que de rapporter ce que j’ai vu et entendu, ce que j’ai cru comprendre.“ (Batault 1935) „Ce que je rapporte est uniquement de la chose vue, entendue, fidèlement inscrite sur mon carnet de voyage.“ (Saint-Loup 1991: 20)

Diese Selbstverpflichtungen zur Authentizität, die sich nicht nur bei Saint-Loup (hinter diesem Pseudonym verbirgt sich der Schriftsteller Marc Augier) fast leitmotivisch durch den gesamten Text ziehen, geraten mitunter zu pathetischen Wahrheitsschwüren: „Je ne dis peut-être pas toute la vérité, […] mais je ne dis rien que la vérité … Sous la foi du serment.“ (Saint-Loup 1991: 11) „Alors, mon devoir est d’exprimer cette certitude et cette vérité, même si je devais dresser contre moi trente-neuf millions d’ennemis.“ (Ebd. 14)

Saint-Loup geht sogar so weit, sich, seiner vermeintlichen „vieille intuition de flâneur européen“ folgend, zum einzigen ‚wirklichen‘ Gesprächspartner der französischen Kriegsgefangenen zu stilisieren und daher zum alleinigen „Zeugen“ jener, so seine Anklage, von Frankreich „vergessenen Männer“: „De tous les journalistes présents à la Foire de Leipzig, je suis le seul qui se soit librement et longuement entretenu avec des prisonniers français. Affaire de chance et vieille intuition de flâneur européen. […] Je suis un témoin, je rapporte scrupuleusement ce qui m’a été dit […].“ (Ebd. 20, 23)

Ein solcher Duktus der Zeugenschaft impliziert immer auch den eigenen Anspruch auf das Korrektiv, den richtig(-stellenden) Blick auf die ‚Wahrheit‘. Im Falle der „voyageurs en Hitlérie“ heißt das, das in Frankreich vorherrschende ‚Schreckensbild‘ vom neuen Deutschland (Alphonse de Châteaubriant spricht in diesem Zusammenhang von „vérités françaises“ 7) durch eigene Erfahrungen und, somit der ‚rechten‘ 6

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Siehe dazu z.B. Jean Fontenoys vierteilige Kolumne „Le Reich vu de près“ in der Wochenzeitschrift Je suis partout vom 29.04.1938, 06.05.1938, 13.05.1938 und 20.05.1938. Des Weiteren u.a.: Saint-Loup: J’ai vu l’Allemagne; Fernandez: „Ce que je viens de voir en Allemagne“; Chardonne: „L’Allemagne vue par des écrivains français“; ders.: „Voir l’Allemagne“. „Quelle raison me décida de partir pour l’Allemagne? […] j’ai voulu aller voir, en fouillant de mes propres yeux dans le secret de la pensée germanique, de quoi étaient faites les vérités françaises dans les pays d’outre-Rhin […].“ (S. 7) [Herv.i.O.] 1937 veröffentlicht Châteaubriant seinen religiös verbrämten und ideologisch überformten Reisebericht unter

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Wahrheit verpflichtet, durch eigenes ‚Zeugnis‘ zu widerlegen. Eine Intention, die in Marcel Jouhandeaus mit Témoignage betitelter Rechtfertigung seiner Teilnahme an der „kulturellen Pilgerfahrt“ (Rémond 1981: 6) nach Weimar ihre konkrete literarische Umsetzung erfährt. Jouhandeau greift dabei einige der „Behauptungen“ über das Leben der rechtsrheinischen Nachbarn auf, die ihm vor seiner „Inaugenscheinnahme“ zugetragen wurden („on m’avait promis […]“; „[o]n m’annonçait […]“), und kontrastiert sie mit seinen gegenteiligen Eindrücken, mit dem, was er stattdessen „gesehen“ hat: „Oui, je suis venu en Allemagne. J’ai voulu voir; j’ai vu […] J’ai vu un peuple discipliné et quand on m’avait promis des esclaves, je vois des hommes libres. […] On m’annonçait une monotonie universelle et j’ai vu […].“ (Jouhandeau 1941: 649)

Letztlich führt ihn diese vorgebliche ,Richtigstellung‘ zu der rhetorischen Frage, ob es nicht an der Zeit sei „de comprendre l’Allemagne, de comprendre que l’Allemagne n’est pas ce qu’on nous a prêché […]“ (ebd. 650-651). Damit spricht er ein weiteres, im Grunde sogar das zentrale Anliegen an, das sich alle Deutschland-Reisenden zu jener Zeit ‚auf die Fahne schrieben‘. Sie alle zeigen sich ihrer Aufgabe bzw. „Mission“ bewusst, die im Übrigen genau derjenigen entspricht, die ihnen, wie erwähnt, auch der Reichspropagandaminister zugedacht hatte: als Multiplikatoren der „nouvelle Allemagne“ zu fungieren, in der direkten Begegnung mit Land und Leuten alte Denkmuster zu überwinden, Vorurteile zu entkräften und auf diese Weise (Gesinnungs-)Brücken zu bauen, um zur gegenseitigen Annäherung beizutragen. So stellt Jean Fontenoy schon 1938 fest: „Je l’écris comme je le pense. Il faut enfin nous affranchir d’idées préconçues qui nuisent, autant que des intérêts mal compris, à la bonne intelligence entre nations. […] En dépit de nos préjugés, l’Allemagne est de bonne humeur et le montre.“ (Fontenoy, 13.05.1938)

Und auch der frühere Kriegsgefangene Septime Gorceix sieht seinen Petit voyage sentimental als „œuvre de bonne foi“ und „modeste contribution aux études du problème franco-allemand“ (Gorceix 1937: 6) [Herv.i.O.]. Die Annäherung fällt zunächst umso leichter, als die Reisenden (und zwar sowohl die der 1930er Jahre als auch die von 1941, zur Zeit der Okkupation) auf vertrautes Terrain treffen, auf ‚ihr‘ Deutschland: „l’Allemagne telle que la dépeignait madame de Staël“ (Quinet 1839: 44), „cette Arcadie légendaire“ (Saint-Victor 1871: 176). Das gilt vor allem für den Rhein, „le plus romantique des fleuves“, in dem nicht nur Chateaubriand „das alte Germanien in all seiner Schönheit“ („la vieille Germanie dans toute sa beauté“) wiederzuerkennen glaubt: „Les paysages dont le Rhin est entouré sont superbes presque partout; on dirait que ce fleuve est le génie tutélaire de l’Allemagne; ses flots sont purs, rapides, et majestueux comme la vie

dem Titel La Gerbe des forces. Nouvelle Allemagne. Schon ein Jahr später erscheint die leicht gekürzte deutsche Übersetzung, die sich einer derartigen Wertschätzung des Regimes erfreut, dass sie von offizieller Seite zu Propagandazwecken eingesetzt wird.

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d’un ancien héros […] Ce fleuve raconte, en passant, les hauts faits des temps jadis, et l’ombre d’Arminius semble errer encore sur ces rivages escarpés.“ (Staël 1852: 14)

Seit Madame de Staël ist der Rhein als Inbegriff mittelalterlicher Burgen und Legenden, gleichsam als Hort der „germanischen Seele“ fest im französischen Kollektivimaginarium verankert. 8 Entsprechend erleben die Teilnehmer der Tour d’Allemagne ihr ‚Rhein-Märchen‘ auch 1941 noch als Eintauchen in eine zwar wohlbekannte, aber zugleich irreal anmutende Welt aus fernen Zeiten. 9 Ihr Landsmann Gorceix erweist sich auf seiner Rheinfahrt im Sommer 1935 ebenfalls als ausgewiesener ‚Kultur-Tourist‘: Die typische Landschaft mit ihren Burgruinen und den „collines basaltiques […] hantées par les vieilles légendes“ weckt in ihm sowohl die Erinnerung an jene „puissantes images romantiques“, zu denen sich Victor Hugo knapp 100 Jahre zuvor inspirieren ließ, als auch an dessen Rezeption durch Maurice Barrès: „Les collines basaltiques, abruptes qui dominent les burgs en ruines sont hantées par les vieilles légendes … Il y a presque cent ans, Victor Hugo est venu dans cette contrée pour buriner de puissantes images romantiques. Et Maurice Barrès a noté justement que le grand poète avait vu le pittoresque des châteaux-forts, senti la rêverie profonde des rives du fleuve […].“ (Gorceix 1937: 14)

Doch nicht nur die französische Literatur, auch die deutsche ist, so lässt er seine Leser wissen, „außerordentlich reich“ an Rheingedichten und -liedern; offensichtlich, so seine Vermutung, seien die Bewohner Germaniens von der dort herrschenden Lebensfreude „unter südlicher Sonne“ dazu verführt worden. 10 Und da er an Bord seines Schiffes der „Kölner-Dusseldorfer-Rheindampfschiffhart [sic]“ (ebd. 13) so-

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So verweist Gorceix darauf, dass z.B. die „germanische Legende“ vom Mäuseturm zu Bingen zum Übersetzungsrepertoire aller französischen „Oberschüler“ gehört und somit eine feste Größe im Kollektivgedächtnis darstellt: „À la hauteur de Bingen […] se dresse la Maüseturm [sic] (la tour des souris). Tous les collégiens ont traduit cette légende germanique.“ (Gorceix 1937: 28) Ebenso stellt Dufay in seinem Bericht über die „Herbstreise“ 1941 fest: „D’emblée, le Rhin déploie pour eux [i.e. les écrivains français] ses sortilèges. […] Le train spécial […] glisse comme dans un rêve le long de la vallée mythique. […] Chaque site, chaque paysage réveille ainsi des réminiscences de Victor Hugo, du Barrès du Génie du Rhin, des gravures enchantées de Gustave Doré. […] Monde immémorial, sorti tout droit d’un Moyen Âge des contes […].“ (Dufay 2008: 23f., 26). 9 Jouhandeau z.B. fühlt sich am Loreley-Felsen direkt in die „tragische Kulisse“ einer nahezu perfekten Theaterinszenierung versetzt: „Juste à ce moment, dans son voisinage [i.e. du rocher], pour que rien ne manquât à notre émotion devant ce décor tragique, une seule barque voguait où un homme ramait à demi perdu dans le brouillard.“ (Jouhandeau, zit.n. Dufay 2008: 24). 10 „La poésie allemande est extraordinairement riche en lieds et en chansons d’inspiration rhénane. Le peuple de Germanie a été séduit par la joie de vivre dans cette contrée de vignobles et de belles filles où pénètre l’influence du soleil méridional.“ (Gorceix 1937: 14)

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gleich Die Schönsten Sagen des Rheins und auch die Rheinfart Lieder [sic] erworben hatte, lässt er einige Zeugnisse dieser Unbeschwertheit inklusive Übersetzung folgen: „A la bibliothèque du bord, j’ai acheté deux petits volumes: les Rheinfart Lieder [sic] […], et Die Schönsten Sagen des Rheins […]. […] Wenn Zwei am Rhein von Liebe trâumen … (Lorsque deux rêvent d’amour au bord du Rhin, dans le mois de mai d’or, près du vin d’or, ils croient sur terre être dans le paradis.) Rheinischer Sângergruss [sic] (Allemande la chanson et allemand le vin, allemand cœur au bord du Rhin allemand.) Ein Glâschen Wein [sic] … (Un petit verre de vin du Rhin allemand, en plus une blonde fille, quand le Seigneur Dieu t’accorde les deux, c’est la preuve qu’il t’aime.).“ (Ebd. 13-14) [Herv.i.O.]

Wie Margarete Zimmermann am Beispiel von Brasillachs „Erinnerungsbuch“ (Zimmermann 1983: bes. 15-16) Notre avant-guerre überzeugend nachweist, vollzieht sich die Einreise in das neue Deutschland generell über Impressionen, Gefühle und vor allem über (altbekannte) Bilder – ganz so wie der Eintritt in ein gigantisches Landes- und Freilichtmuseum: „Ce sont des images en effet, que nous offre tout d’abord l’Allemagne. Ces petites villes, ces villages bavarois que traversent le train et l’automobile, ils sont posés, au milieu de paysages charmants et verts, comme des objets enfantins et comme des décors. Les toits pointus ou ronds […], les fleurs à toutes les fenêtres, c’est l’Allemagne chère aux romantiques et à Jean Giraudoux qui nous accueille la première. Parfaitement propre, gracieuse comme un jouet de Nuremberg, médiévale et féodale, elle installe au long des routes le cadre ravissant de ses fêtes énormes […].“ (Brasillach 1937: 55-56)

Franken präsentiert sich Brasillach im Vorfeld des Nürnberger Reichsparteitags 1937 als eine Art mittelalterliches ‚Legoland‘: Spielzeuglandschaften mit entzückenden Dörfern und Städtchen, Fachwerkhäusern und Blumenschmuck, „comme des objets enfantins et comme des décors“. Als jenes vermeintlich ‚wahre‘ Deutschland, das in seiner Ursprünglichkeit geradewegs den Bilderbögen früherer Jahrhunderte entsprungen sein könnte: „l’Allemagne chère aux romantiques […], médiévale et féodale“. Bezeichnenderweise entspricht auch Blonds Beschreibung von Weimar im Oktober 1942 noch exakt jenem ‚bildhaft-musealen‘ Sprachduktus: „Ces maisons sont belles, conservées dans leur couleur et dans leur vie, les tuiles des toits sont cuites à point, comme des croûtes appétissantes. […] L’hôtel où nous allons vivre une semaine est une espèce de musée. Du moins devrons-nous a priori le considérer comme tel. JeanSébastien Bach, Schiller, Gœthe [sic], Liszt passèrent dans cette maison. Les salons, les chambres, sont remplis de meubles charmants. […] Rien n’a été changé depuis le départ de l’hôte illustre, nous dit-on. […] Ici encore, rien n’a changé dans les proportions, dans les couleurs, dans la lumière.“ (Blond 1942) [Herv.i.O.]

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Abgesehen davon, dass Blond ebenfalls das „Charmante“ und Idyllische betont, insistiert er vor allem auf der Unberührtheit der seiner Meinung nach im Urzustand belassenen Stadt und bezeichnet sie bzw. das Hotel als „une espèce de musée“. 11 „Rien n’a changé.“ Nichts hat sich verändert, bis hin zu den noch immer schnurgerade aufgereihten roten Geranien auf dem Holzbalkon der bereits 1915 verstorbenen „vieille demoiselle Krakov“. 12 Selbst der Spielzeug-Aspekt fehlt nicht. Empfand Brasillach ganz Deutschland als „gracieuse comme un jouet de Nuremberg“ (Brasillach 1937: 55), so assoziiert Blond (und das noch 1942!) die Weimarer Freigänger mit ‚Spielzeugsoldaten‘: „Nous nous arrêtâmes devant la petite maison de Gœthe [sic], la campagnarde, véritable bicoque rustique. […] C’était l’heure où les permissionnaires de la garnison se promenaient avec leurs fiancées. Astiqués, brossés, corrects, gantés, neufs comme jouets sortant d’une boîte …“ (Blond 1942).

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die französischen Reisenden im vermeintlich neuen Deutschland zunächst im Wesentlichen das alte Germanien vergangener Zeiten suchten und fanden, jenen Gegenpol zum heimischen ‚Demokratie-Debakel‘, mithin das Zukunftsmodell für das in ihren Augen der Dekadenz und damit dem Untergang geweihte Frankreich. Das ‚Deutschland-Museum‘, das sie besichtigen, spart Problemregionen weitgehend aus und trägt alle Zeichen der Vor-Moderne: In jenem neuen alten Deutschland scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Besonders deutlich zeigt sich das bei einer Freilichttheateraufführung von Schillers Wallenstein, die Gorceix im „décor gothique“ des Frankfurter Römerbergs erlebt. Erinnern ihn die Szenerie und vor allem das Lager noch an die Radierungen Jacques Callots, so fühlt er sich nach dem Ende der Vorstellung geradezu um 200 Jahre zurückversetzt: „Sur la place du Römerberg, trois maisons à curieuse façade forment un décor gothique. […] La scène est installée devant le Palais du Römer. […] Sous le ciel étoilé, dans ce cadre historique, cette tragédie violente prend un relief saisissant. […] Le camp des soldats […] rappelle les eaux-fortes de Callot. […] Après l’extinction des projecteurs, ces soldats en costumes pittoresques sont assis pour se reposer, au rebord des trottoirs. On a l’impression d’être transporté

11 Besonderes Augenmerk legten die französischen Gäste auf die „schönen“ Ziegeldächer. So schwärmt Blond (wenn auch mit einer weniger gelungenen Metapher) von den Weimarer „tuiles des toits […] cuites à point, comme des croûtes appétissantes“ (Blond 1942). Sein Landsmann Châteaubriant, wie gewohnt ungleich pathetischer, vermag beim Blick auf Bamberg sogar ihr „deutsches Lied“ zu hören: „[…] un champ accidenté d’étonnants vieux toits de tuiles, tuiles sombres et chaudes qui font chanter sous la lumière, dans ce pays de Bayreuth, je ne sais quel lied allemand […]. ,La ville est, comme un lied, comme un éternel lied, le lied du cœur de l’Allemagne‘.“ (Châteaubriant 1937: 315-316). 12 „[…] la petite maison de la vieille demoiselle Krakov, morte en 1915, et où pas un objet n’a été déplacé depuis le temps où, enfant, elle jouait sur les genoux de Gœthe [sic]. Rien n’a changé, ni les couleurs, ni l’alignement des géraniums rouges sur le balcon de bois […].“ (Blond 1942).

152 | A NNETTE C LAMOR deux siècles en arrière, dans une ville prise d’assaut par des bandes de reîtres.“ (Gorceix 1937: 33, 36)

Deutschland als Theater- oder Opernkulisse in natura: Schon Hugo hatte auf seiner Rheinreise von alten Straßen gesprochen, „wie man sie in Paris allenfalls noch als Opernkulisse sehen“ könne 13, und auch Blond und André Fraigneau meinen, in Weimar „durch eine große Opernkulisse“ zu laufen, inklusive heraufziehenden Unwetters. 14 Um den Lesern ihre Erfahrungen unmittelbar und möglichst authentisch zu übermitteln, beziehen sich die französischen Reiseberichterstatter des Öfteren, wie Gorceix auf die Werke Callots, auf konkrete literarische Vor-Bilder oder Gemälde, die im kollektiven Kulturgedächtnis Frankreichs nach wie vor präsent und somit jederzeit abrufbar sind: „La nouvelle Allemagne“ zeigt sich also auch weiterhin in gewohnter (Bildungs-)Kulisse. So erkennt Blond im „reizenden Gärtchen“ des Fräulein Krakov ein Bühnenbild im Stile Jean Anouilhs und Brasillach seinerseits genau jenes Deutschland, das sowohl „den Romantikern“ als auch „Jean Giraudoux lieb und teuer“ war – auch das wiederum ganz in der Nachfolge Hugos, der seinerzeit in Häusern übernachtete, deren Inneneinrichtung ihn an die Gemälde Rembrandts denken ließ. 15 Ebenso wie sich all diese Eindrücke vorrangig über visuelle Wahrnehmungen und „images“ vollziehen, animieren sie die Reisenden zugleich selbst zur bildhaften Darstellung des Gesehenen und Erlebten. Blond z.B. erinnert die herbstliche Landschaft des Thüringer Waldes metonymisch an einen „Dürer“; folgerichtig mutet seine eigene Landschaftsbeschreibung geradezu impressionistisch an und ähnelt eher der eines Gemäldes: „C’est peut-être le meilleur instant pour entrer dans le paysage de la Thuringe. On est frappé d’abord par une particulière netteté des lignes et une particulière qualité de la lumière. L’ombre des forêts est mauve, le mauve se mêle à tous les verts puissants de ces hauteurs. […] Des maisons délabrées, des villages croulants formeraient une lèpre sur ce Dürer; tout est ici entretenu, propre, comme neuf. En arrière-plan, sur un fond de ciel champagne, dans une déchirure des sapins, un château ruiné, romantique; au bas des pentes, les beaux rectangles des champs cultivés.“ (Blond 1942)

Eine Steigerung gelingt da nur noch Saint-Loup, der eine AEG-Industrieanlage in der Umgebung von Berlin in den Landschaftsdiskurs Norddeutschlands integriert und somit das Fabrikgelände in ein idyllisches ‚Stück Natur‘ überführt:

13 „[…] on aperçoit tout à coup […] une belle ville féodale […] avec d’anciennes rues comme nous n’en voyons à Paris que dans les décors de l’opéra […]“ (Hugo 1884: 250). 14 „Le ciel s’était couvert, le vent chassait de grands nuages déchirés, la pluie menaçait. André Fraigneau et moi, qui étions en retard, nous courions comme à travers un grand décor d’opéra, nous entendions les arbres du parc bruisser et se tordre.“ (Blond 1942). 15 „Je suis en ce moment dans les vieilles villes les plus jolies, les plus honnêtes et les plus inconnues du monde. J’habite des intérieurs de Rembrandt […]“ (Hugo 1884: 255).

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„Une des quatorze usines de l’A.E.G. dans la banlieue de Berlin. La forêt de pins s’est entr’ouverte pour escamoter dans ses perspectives sombres les halls de montage, les bureaux, les centrales. Les cheminées alertes tentent l’escalade du ciel pâle. Elles se dressent par groupes ou isolément comme des pins géants oubliés par le bûcheron. Plus loin, vers les baraquements réservés aux ouvriers, encore des pins, un lac avec des joncs, des sables. Toute l’Allemagne du Nord avec ses terres ingrates qui repoussent l’homme vers les manufactures, tient dans ce paysage.“ (Saint-Loup 1991: 34)

Während in all diesen Beschwörungen des alten Deutschlands als ‚heile‘, von den vermeintlichen Errungenschaften der Moderne unberührte Welt die jeweilige Negativfolie, von der es sich abzugrenzen gilt, allenfalls implizit zum Tragen kommt, werden in der Begegnung mit den neuen Deutschen die Antagonismen explizit benannt: auf der einen Seite des Rheins nationale Größe durch Ordnung, Disziplin und dem Festhalten an den „vertus universelles“, auf der anderen Seite Freiheit und Individualismus, von den französischen Faschismus-Touristen als ‚Totengräber‘ der einstigen Grande Nation empfunden: „Cela conservait un caractère populaire […]. Et, cependant, cela prenait une noblesse par la piété patriotique, la ferveur et le silence recueilli des foules. C’était énorme et colossal, et cela restait grandiose. Pas trace de vulgarité, rien qui rappelât le débraillé, la grossièreté bruyante de nos réunions démocratiques.“ (Bertrand, 01.02.1936) „Nous étions là quelques Français qui regardions, le cœur serré et pourtant bouleversés par la beauté d’un tel spectacle. Et nous nous disions: ‚Pourquoi ne voit-on rien de pareil chez nous? … Ces multitudes, cette discipline, cette unanimité surtout […]‘.“ (Bertrand 08.02.1936)

Was genau der erhofften „renaissance française“ entgegensteht, darüber herrscht offenkundig Einigkeit: „Mais c’est à la France que nous pensons. […] Est-ce que vraiment on nous fera croire que désormais les grands sentiments sont incompréhensibles à la France […] que nous ne pourrions pas les subir chez nous, à notre mode à nous? C’est une sorte de regret qui nous poursuit, à chaque instant, quand nous pensons à ce que la démocratie a fait de la France.“ (Brasillach 1937: 65)

„[…] ce que la démocratie a fait de la France.“ Gemeint ist damit die von Polit- und Finanzskandalen in ihren Grundfesten erschütterte Dritte Republik, „celle de la vaine petite coquetterie individualiste […]“ (Châteaubriant 1937: 184). Um diese Herrschaft der (nach einhelliger Überzeugung jeder demokratischen Staatsform inhärenten) Dekadenz, Mittelmäßigkeit und Selbstsucht 16 zu überwinden, biete sich, so der Konsens, allein die ‚Demokratie‘ nach nationalsozialistischem Vorbild an, jene vorgeblich glückhafte Verbindung von demokratischem und aristokratischem Prinzip:

16 „La démocratique politique moderne a apporté sur le tapis vert de la discussion toutes ses convoitises et ses hypocrisies, tout ce qu’il y a de moins élégant, tout ce qui est au suprême degré insatiable appétit et rancune intraitable.“ (Châteaubriant 1937: 184)

154 | A NNETTE C LAMOR „[…] les deux principes indispensables l’un à l’autre: le principe démocratique et le principe des aristocraties. Le National-Socialisme est une démocratie, contrôlée et dirigée par une aristocratie tirée de son sein et qui se renouvelle constamment. […] ‚La conscience populaire, élevée à son plus haut degré d’aristocratisme‘.“ (Ebd. 267) [Herv.i.O.]

Entsprechend fordert Cousteau seine Landsleute dazu auf, endlich ebenfalls wieder ein „peuple de maîtres“ zu werden und die trostlose Gegenwart unwiderruflich hinter sich zu lassen: „[…] pour que les Français […] redevinssent ce qu’ils n’auraient jamais dû cesser d’être, non point un conglomérat anarchique d’individus systématiquement moyens, mais un peuple de seigneurs, un peuple de maîtres.“ (Cousteau 1937)

Doch das Gelingen einer solch ‚aufklärerischen Mission‘, der sich die meisten Deutschlandreisenden verschrieben hatten, erfordert nicht allein die Umdeutung des Demokratiebegriffs; es scheint vielmehr unerlässlich, auch den der „liberté“, seit der Revolution eine Conditio sine qua non im Selbstverständnis der Franzosen, neu zu definieren und ihnen ihren freiheitlich-demokratischen ‚Irrweg‘ aufzuzeigen. Freiheit, so Jouhandeau, bedeute nicht, die eigenen Launen und Wünsche über das ‚große Ganze‘ zu stellen und willkürlich die gesellschaftliche ‚Harmonie‘ und damit auch das Gemeinschaftswerk zu gefährden: Disziplin und Freiheit schlössen sich keineswegs aus – ebenso wenig wie militärische Ordnung und Individualität, „comme on le prétend depuis deux siècles“: „J’ai vu un peuple discipliné et quand on m’avait promis des esclaves, je vois des hommes libres. La liberté n’est pas ce qu’on croit chez nous. […] Ici, elle se confond avec la joie, avec l’enthousiasme d’adhérer à quelque chose de grand […] Être libre ici, c’est se mouvoir avec aisance dans le monde auquel on appartient et sans en déranger l’harmonie […] On m’annonçait une monotonie universelle et j’ai vu un peuple en uniforme en effet, mais les figures originales y surabondent à merci: la diversité des caractères ne s’obtient pas non plus, comme on le prétend depuis deux siècles, par le désordre ni dans le désordre.“ (Jouhandeau 1941: 649)

Nicht nur Jouhandeau entdeckt die Originalität als vermeintlich charakteristischen Wesenszug des neuen Deutschen in Uniform, auch sein Weggefährte Chardonne sieht im nationalsozialistischen Deutschland „das Land starker Persönlichkeiten mit eigenständigen Gedanken und Ideen“: „Ces hommes-là, c’est l’Allemagne. […] Très différents les uns des autres – car nous sommes dans le pays des puissantes individualités et de l’indépendance d’esprit […]“ (Chardonne 13.11.1941). Analog dazu versucht Brasillach, die französischen Ängste vor einem Wiedererstarken Deutschlands, jenes ‚tumben‘ Militarismus preußischer Prägung, zu relativieren, indem er die unbekümmerte Offenheit der Hitlerjungen betont, deren Verhalten kaum auf einen „sec caporalisme“ schließen lasse 17:

17 Vgl. dazu auch Georges Batault, der zwar die perfekte Ordnung und militärische Disziplin der Marschierenden rückhaltlos bewundert, zugleich jedoch unmissverständlich klarstellt:

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„Mais là encore, ce qui me frappe, c’est le caractère de la discipline. La militarisation de 1’enfance, en Allemagne, n’est pas du tout ce que l’on croyait. Ceux qui viennent nous parler nous abordent joyeusement, sans crainte, et d’eux-mêmes. J’avoue que je trouve cela beaucoup plus important, au point de vue de la puissance allemande, qu’un sec caporalisme.“ (Brasillach 1937: 64)

Ähnlich beschwichtigend äußert sich Thierry Maulnier. Wie schon Paul Bastid in einem Artikel der Dépêche von 1933 argumentiert auch er, dass Hitler bzw. der Nationalsozialismus zwar der legitime Nachfolger des Kaiserreichs sei, jedoch den preußischen „esprit militaire“ mit dem romantischen vereint und somit den ersten nachhaltig „entschärft“ habe 18: „[…] ouvert à l’âme véritablement allemande et seulement allemande. […] Hitler, ce n’est pas seulement l’Allemagne politique, guerrière, conquérante, c’est aussi l’Allemagne dans sa sentimentalité, son amour de la musique, des enfants, des animaux, des fleurs […]“ (Maulnier 1940: 251).

Das Bild des „wahrhaftigen“ Deutschlands, jener „âme véritablement allemande et seulement allemande“ (ebd.) liegt, wie im Folgenden ersichtlich, den meisten Berichten über persönliche Begegnungen mit den neuen Deutschen zugrunde. Nicht nur das Land selbst, auch seine Bewohner erscheinen durchweg im alten Gewand, genauer gesagt: im Gewand alter Tugenden bzw. Nationalstereotype. Als vorrangig, da unabdingbar für die vermeintlich notwendige ‚Gesundung‘ ihrer von inneren Konflikten zerrissenen Heimat, erachten die französischen Reisenden die nationale Einheit und die Kameradschaft, die sie jenseits des Rheins nicht nur geradezu weihevoll zelebriert, sondern vor allem ‚gelebt‘ sehen 19 – und zwar sowohl im Privat- als auch im Berufsleben. So lässt der selbsternannte „Zeuge“ Saint-Loup einen französischen Zwangsarbeiter zu Wort kommen, der selbst seine deutschen Kollegen als „copains“ bezeichnet, da es untereinander weder Konkurrenzdruck noch Neid gebe, so wie ‚zu Hause‘: „Oh, très copains. Ici, ce n’est pas du tout comme en France. […] En France, c’est la rogne entre compagnons, contre-écrou, patrons. Ici on ne connaît pas. […] personne ne cherche à tirer la couverture. […] C’est tellement différent de la France, tellement mieux. Oui, tellement mieux qu’on a du mal à s’habituer.“ (Saint-Loup 1991: 37-38)

„[…] et cette foule de jeunes hommes […] en chantant […] dans un ordre parfait. Une troupe disciplinée, pas un troupeau.“ (Batault : 1935). 18 „L’Allemagne hitlérienne est peut-être même plus la véritable Allemagne que celle de Guillaume II, dans la mesure où elle allie à l’esprit militaire de la race cette vieille fermentation romantique qui a joué lui aussi dans le passé national un rôle considérable.“ (Bastid 1933, zit.n. Gilzmer 1998: 105). 19 „Voici des gens de toutes classes qui s’assemblent, qui se mêlent, sans morgue chez les uns, sans haine chez les autres, comme des camarades, comme des frères. Et cela aussi fait penser à la France qui est devenue la patrie de la haine, des poings tendus, de la rancune et de l’envie, le pays dont les enfants se détestent […].“ (Cousteau 1937)

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„L’Allemagne est communautaire dans ses plaisirs comme dans son travail“, stellt Saint-Loup angesichts des Gedränges in einem Leipziger Lokal fest und fragt sich dann, ob diese Geselligkeit (er spricht wenig stimmig von „socialisme“) eine „Sache der Erziehung“ oder doch eher des „rassischen Instinkts“ sei. 20 Sein Landsmann Jean Fontenoy hatte es drei Jahre zuvor noch neutraler formuliert: „Cette fraternité évidente et sans apprêts est-elle dans le caractère allemande? Répond-elle plutôt aux modes du régime nouveau? Je ne saurais le dire. Je sais qu’elle m’a plu.“ (Fontenoy, 13.05.1938)

Der Stil seiner Reportage, im Mai 1938 im Rahmen der Kolumne Le Reich vu de près erschienen, erinnert an den einer Studienreise; sein fünfwöchiger Aufenthalt ist eine Art ‚Feldforschung‘ zur deutschen Befindlichkeit: „J’ignorais l’Allemagne joyeuse …“ (ebd.). Ausgehend vom ‚typischen‘ Bild des „mürrischen“ und besserwisserischen „Professeur Knatschke“, des Protagonisten der populären antideutschen Satire von JeanJacques Waltz alias Hansi, macht sich Fontenoy auf, die Stimmung der „kleinen Leute“ zu ergründen, und findet zu seiner eigenen Überraschung ein „fröhliches Deutschland“ vor: „Cinq semaines durant, de la joie“ (ebd.) [Herv.i.O.]. In der Folge schwärmt er in den höchsten Tönen von der „spontanéité“, der „jovialité d’enfant“, die ihm überall begegneten. Besonders „berührt“ habe ihn der „élan familier“, jene Offen- bzw. Unbefangenheit, mit der ihn seine Tischnachbarn in ihren Freundeskreis integriert hätten. Sein Fazit: „[…] j’ai vécu une expérience qui m’eût été impossible en France“ (ebd.); entsprechend scharf fällt seine Bestandsaufnahme des heimischen Standardverhaltens gegenüber Touristen aus. So beklagt er die „renfrognés que nous connaissons trop“ und die „torpeur morose du Français moyen“ ebenso wie den Mangel an Kontaktfreudigkeit (ebd.). Über weite Strecken stimmt Fontenoys Artikel darin mit Saint-Loups „Une soirée de bière“ von 1941 überein. Auch er zeigt sich von der überschäumenden Lebensfreude der vermeintlich so sturen Deutschen beeindruckt: „Une énorme joie, une folle joie submerge tout.“ (Saint-Loup 1991: 29) Sein direkter Vergleich von deutscher und französischer Lebensart spiegelt exakt den Prozess der Umwertung jener auf Tacitus zurückgehenden, negativen deutschen Heterostereotype der Schlichtheit, des Fehlens jeglicher Kultur und jedweden (nicht nur ästhetischen) Raffinements. Deren positive Besetzung begann in der Mitte des 18. Jahrhunderts u.a. mit Élie Fréron, dem Gegenspieler Voltaires, der die ursprünglich übel beleumdete deutsche Naivität und Einfachheit als Zeichen unverdorbener Natürlichkeit sah, „die er einem frivolen Frankreich als positives Vorbild entgegenhielt“ (Jurt 2003: 75-76). Genau diese Umkehrung vormals als negativ bewerteter Heterostereotype in positive bzw. auf französischer Seite die Denunziation einstmals gerühmter Autostereotype findet sich ebenfalls bei Saint-Loup. Wiederholt stellt er der französischen

20 „Et je me demande si le sens du socialisme s’acquiert, si la montée vers le socialisme est affaire d’éducation ou si c’est d’instinct purement racial.“ (Saint-Loup 1991: 28)

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„mesure“ 21 und der „hypocrisie bourgeoise“ das Ungekünstelte des deutschen Verhaltens und die nicht-korrumpierte ‚Echtheit‘ der Gefühle gegenüber, um dann endgültig im biologistischen Diskurs (nicht nur) des Faschismus anzukommen: „[qui] rappellent ces beaux fruits luisants et sains qu’aucun ver n’a rongés“ (Saint-Loup 1991: 29): „Ce qui se passe dans ce cabaret de Leipzig est tout différent. Le Français ou l’Anglais seraient choqués tout net. Cependant la joie de mes voisins, leur absence de retenue, ne sont que l’expression d’une franchise, d’une attitude peu compliquée de gens qui abordent la vie tout de go et ne savent pas tricher avec elle. […] Oui, ils ont une belle attitude devant la vie, les innombrables voitures d’enfant qui roulent sur les trottoirs des grandes villes en témoignent.“ (Ebd.)

Oder in den Worten Blonds: „[…] pas de frivolité sur les visages, mais la vie, parfois la joie, les libres voix rieuses des jeunes filles et des jeunes gens. Une vie puissante continue: nombreux enfants, gaillards à cuisses musclées dans les culottes courtes, visages sans fard des jeunes femmes.“ (Blond 1942)

Die überschäumende Lebensfreude, die zusammen mit einer unbändigen Lebenskraft die Zukunft der Nation garantiert: „les innombrables voitures d’enfant“ als Lebensaufgabe, und zwar „sans apprêts“ (Fontenoy), jenseits aller „frivolité“ (Blond) und „hypocrisie“ (ebd.): „Là-bas on ne fait pas de chichis […]“ (Saint-Loup 1991: 28). Ebenso ‚ungeschminkt‘ und natürlich-direkt erleben auch die meisten anderen französischen Reisenden ihr Zusammentreffen mit den überwiegend jungen Deutschen. Entsprechend schildert Gorceix eine seiner typischen Reisebekanntschaften: „En face de moi, deux jeunes personnes rieuses s’agitent et bavardent. […] Très librement, elles m’invitent à excursionner en leur compagnie. Toutes ces jeunes Allemandes sont communicatives et sans malice. […] on les trouve disposées à prolonger cette camaraderie imprévue. Pour le moment, je profite sans vergogne des fruits qu’elles ont l’amabilité de m’offrir car il fait très chaud.“ (Gorceix 1937: 67)

Großzügig, freigiebig, offen: Ob es sich nun um eine Jugendgruppe mit „cheftaine“ handelt (ebd. 18) oder eine Studentin aus Heidelberg (ebd. 56) oder „une jeune Allemande d’une vingtaine d’années“, die ihm im Zug gegenübersitzt (ebd. 60): Sie alle begegnen ihm ungezwungen und mit großer Herzlichkeit. Und doch wirken ihre Äußerungen mitunter weit weniger spontan, als es ihr Verhalten vermuten ließe. So schreibt ihm seine Nürnberger Begleiterin zur Erinnerung auf eine Postkarte: „J’espère que la France et l’Allemagne, dans l’avenir, entretiendront de bons rapports, comme je peux le faire avec un camarade français“ (ebd. 58) – und die junge Sekretärin später im Zug ergänzt: 21 „Rien de ce qui est français n’est à l’échelle de ce qui se passe ici. Nous avons nos qualités de finesse et de mesure, nos joies sont des essences précieuses qui brûlent dans une atmosphère raffinée. […] Nous prenons avec la femme des détours, des sentiers fleuris […] Nous sommes insidieux, compliqués […]“ (ebd. 29).

158 | A NNETTE C LAMOR „‚Je vous souhaite un bon voyage et je souhaite aussi que l’Allemagne et la France vivent ensemble amicalement.‘ Vraiment, le ministre de la propagande peut compter, dans ce pays, sur le zèle spontané de la population féminine!“ (Ebd. 60)

Noch klingt der Kommentar im letzten Satz eher belustigt 22, doch nicht nur Gorceix, auch seine Landsleute sehen sich, teils mit Unbehagen, immer wieder mit den gleichen Aussagen konfrontiert, geradezu einem Standardrepertoire an Fragen und Bemerkungen, die eindeutig der offiziellen Propaganda zuzuschreiben sind, wie z.B.: „C’est la vérification de tout ce que j’ai entendu précédemment: ,Ah! cette France! Ah! ces Français! Nous voudrions tellement être amis ensemble! Ce sont les maudits Juifs qui excitent les Français contre nous.‘“ (Ebd. 45)

Zum einen sind diese stereotyp wiederkehrenden Äußerungen symptomatisch für das Bemühen, den französischen Gästen das ‚wahre Gesicht‘ der „nouvelle Allemagne“ zu präsentieren und somit der vorgeblich feindlichen Propaganda ‚von außen‘ entgegenzuwirken. Zum anderen dokumentieren sie, wie der immer stärker zutage tretende Antisemitismus von vielen Reisenden wahrgenommen und vor allem den daheimgebliebenen Lesern vermittelt wird: nämlich, wenn überhaupt, eher beiläufig, als eine Art weiteres Charakteristikum deutscher Städte oder Alltagskultur: „De grandes banderoles, ici et là, nous souhaitent la bienvenue […] Pas d’autres inscriptions, sauf celles que l’on peut voir à l’entrée des villages et de quelques auberges, où il est simplement déclaré, avec une politesse contenue: ‚Les Juifs ne sont pas souhaités ici.‘ A l’extérieur […] rien autre que les fleurs et les drapeaux.“ (Brasillach 1937: 56) [Herv.i.O.]

Gorceix und Saint-Loup hingegen räumen dieser Thematik mehr Raum ein: So berichtet Gorceix, u.a. nach einem Besuch im jüdischen Viertel Frankfurts, von den unterschiedlichen Ausdrucksformen der zunehmenden Judenfeindlichkeit, die er als „violent, agressif [et] ostentatoire“ einstuft. Saint-Loup wiederum macht sich die antisemitischen Parolen nicht nur zu eigen, sondern integriert sie sogar unmittelbar in seinen Wortschatz: „L’homme français est bien malade. Libre dans sa patrie ou prisonnier du vainqueur, il accueille […] le bobard […] Il fait sa vie politique avec la fausse monnaie que le Juif lui refile en douce depuis cinquante ans. Ah, qu’il m’est difficile de changer l’attitude de tout un peuple devant la vie!“ (Saint-Loup 1991: 22-23)

Im Gegensatz dazu reagiert die Mehrheit der „voyageurs“ wie erwähnt sehr verhalten und spart ähnliche Erfahrungen entweder vollständig aus oder streift sie nur am Ran22 Ungleich besorgter resümiert Gorceix am Ende seiner Reise „en manière de conclusion“: „On est surpris de retrouver les mêmes réflexions, inlassablement répétées, comme si aucun Allemand n’était plus capable d’une pensée personnelle sur les hommes et sur les événements. L’esprit grégaire germanique, depuis si longtemps dénoncé, se révèle non seulement dans la conformité des propos, mais encore dans l’amour des parades.“ (Gorceix 1937: 83).

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de. Entsprechend dominiert, trotz jener temporären ‚Eintrübungen‘ des Reiseklimas, nach wie vor der Eindruck des Idyllischen, der ‚heilen‘ Welt bei der (Wieder-) Entdeckung des neuen alten Deutschlands: „l’Allemagne dans sa sentimentalité, son amour de la musique […] des fleurs“ (Maulnier 1940: 251). So geraten Brasillach und Cousteau bei ihrem Besuch der ‚Gesangsstunde‘ in einem Lager des Arbeitsdiensts förmlich ins Schwärmen, z.T. sogar in wortwörtlicher Übereinstimmung. Beide versichern, dass weder der Sinn für Musik noch der für Blumen etwas „Geziertes“ oder gar „Feminines“ an sich habe, sondern dass die deutsche Jugend darin vielmehr uneingeschränkt zu bewundern sei: „[…] la „leçon de chant“. Ce mot, là-bas, n’évoque certes aucune mignardise, mais la gravité, la virilité, le calme et puissant amour de la patrie, le dévouement total, tout cela exprimé dans cette langue des sons et du chœur qui est la vraie langue maternelle de l’Allemand. […] la jeunesse allemande, sa camaraderie, son goût de la musique et des fleurs (et ce goût n’est jamais ridicule, jamais féminin), ses rires, sa façon si vivante de vous aborder, nous semblent tout de suite la chose la plus admirable.“ 23 (Cousteau 1937)

Die Musik als „vraie langue maternelle de l’Allemand“: auch das ein beliebter Topos zur Beschreibung der deutschen Wesensart, jenes „goût inné qu’ont les Allemands pour la musique“ (Batault 1935), den Châteaubriant gar zum zentralen Element der deutschen „âme collective“ erklärt (Châteaubriant 1937: 184). Für Brasillach selbst gerinnt diese Lagerszene, der Anblick des Chors von 80 oder 100 19-Jährigen unter (bezeichnenderweise) „hohen Birken“, zu einem „tableau de l’Allemagne éternelle“ (Brasillach 1937: 63). Diese Formulierung kann mit Fug und Recht als programmatisch für die französischen Erkundungsreisen der 1930er und frühen 40er Jahre gelten. Zum einen zeigt sie sehr deutlich, dass die „voyageurs en Hitlérie“ trotz allen Bekundens weniger in das neue Deutschland fuhren als vielmehr in das vertraute Land all jener noch immer im französischen Kollektivgedächtnis virulenten Bilder. Zum anderen setzt die These von einem „ewigen Deutschland“ eine ungebrochene historische Kontinuität voraus, die wiederum nur bedeuten kann, dass, wie Fernandez es metaphorisch ausdrückt, „die Fackel [immer] weitergegeben worden“ und der Hitler-Deutsche folgerichtig der einzig legitime Nachfahre des alten Germanen sei: „L’homme historique français a changé souvent de voie, alors que l’hitlérien est simplement superposé, surimpressionné sur l’ancien Germain“ (SaintLoup 1991: 17). Eine superposition d’images, die zumindest für Brasillach schon ganz konkrete Züge angenommen hat – fügt sich doch das NS-Fahnenmeer derart harmonisch in die Beschaulichkeit der malerischen Bilderbuch-Städtchen ein, dass es von nun an, quasi als Blumenschmuck der neuen Zeit, gleichermaßen konstitutiv ist für „la ‚bonne‘ Allemagne“, für jenen Projektionsraum „qui a attiré les croyants du temps passé […]“. 24 23 Siehe auch Brasillach (1937: 63). 24 „Dans les petites rues pavées de Nuremberg et de Bamberg […] auprès des cathédrales et des admirables statues de pierre, c’est l’ancienne Allemagne du Saint-Empire qui se marie avec le Troisième Reich. […] Le drapeau devient une parure, si joyeuse sous ce ciel gris,

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Diese allem Anschein nach einhellige Überzeugung von der Verschmelzung der „nouvelle Allemagne“ mit dem alten Germanien zum „ewigen Deutschland“ verleiht dem Nachbarn jenseits des Rheins zugleich den Nimbus eines überzeitlichen, da ahistorischen Raums. Offensichtlich verschließt die überwiegende Mehrheit der Reisenden nur allzu gern den Blick vor der tagespolitischen Realität und lässt sich stattdessen in eine Art „rêve culturel intemporel“ (Heller 1981, zit.n. Dufay 2008: 44) entführen. Nicht nur der französische Historiker und Politologe René Rémond sieht in genau dieser Haltung letztlich einen Grund für die „Neigung“, mit dem Deutschland der 30er Jahre „gemeinsame Sache zu machen“: „[…] cette disposition a pour conséquence de réduire la spécificité du phénomène nationalsocialiste et de le ramener à des données que l’opinion française croit bien connaître et qu’elle tient pour constitutives d’un ‚éternel germanique‘ qui s’appelle tantôt le pangermanisme, tantôt le militarisme prussien ou encore le romantisme d’outre-Rhin. Ce processus d’assimilation de Hitler à Bismarck ou Guillaume II comme cette propension à voir dans le IIIe Reich l’héritier naturel des régimes précédents ont eu une responsabilité majeure dans l’incompréhension de la situation et dans l’inclination à pactiser avec l’Allemagne en 1938 ou 1939.“ (Rémond 1981: 4) 25

L ITERATUR Bastid, Paul (1933): „Réflexions sur l’Allemagne hitlérienne“, in: La Dépêche vom 5. Mai 1933, zit.n. Gilzmer (1998). Batault, Georges (1935): „Le Congrès de Nuremberg“, in: Je suis partout vom 21.09.1935. Bertrand, Louis (1936): „Hitler et l’Allemagne d’aujourd’hui“, in: Je suis partout vom 01.02.1936. Bertrand, Louis (1936): „Hitler et l’Allemagne d’aujourd’hui“, in: Je suis partout vom 08.02.1936. Blond, Georges (1942): „Les repos de Weimar“, in: Je suis partout vom 23.10.1942. qui s’allie au baroque attendrissant des sculptures, aux maisons anciennes, et aux fleurs sur les balcons. Ce peuple aime les fleurs […] C’est même toujours cela qui a attiré les croyants du temps passé, les amoureux de la ‚bonne‘ Allemagne […].“ (Brasillach 1937: 55-56) 25 Eine weitere Ursache, so Rémond, liege in der anhaltenden Bewunderung für die kulturelle Leistung der deutschen Dichter und Denker, der auch die verstörenden Kriegserfahrungen der Vergangenheit à la longue nichts hätten anhaben können – was wiederum von der NSPropaganda geschickt als eine Art „Köder“ genutzt worden sei: „Tout ne disparaît pas cependant de l’image de cette Allemagne qu’a chérie Romain Rolland […] ce sera l’un des atouts du groupe ‚Collaboration‘. La référence à ce passé prestigieux servira d’appât auprès des artistes et des intellectuels: elle poussera quelques-uns à faire le voyage de Weimar en pleine guerre, sans toujours s’aviser de la signification que les circonstances conféraient à ce pèlerinage culturel. Elle servira aussi d’alibi à certains intellectuels pour légitimer le concours qu’ils apporteront consciemment à la cause de la collaboration avec le nationalsocialisme.“ (Rémond 1981: 6)

(G ESINNUNGS -)B RÜCKEN BAUEN

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II Interkulturelle Transferprozesse und vergleichende Kulturgeschichte

Aufklärung vs. Lumières Ein deutsch-französisches Projekt H ANS -O TTO D ILL

F RANZÖSISCHES ‚ SIÈCLE DES DEUTSCHE ‚AUFKLÄRUNG ‘

LUMIÈRES ‘ UND

Viele Historiker untersuchen durch Vergleiche zwischen Frankreich und Deutschland die Unterschiede zwischen den beiden Nachbarländern, was auch auf die Aufklärung zutrifft. Werner Krauss in Einführung in das Studium der französischen Aufklärung (1959) und Werner Bahner in Aufklärung als europäisches Phänomen (1985) erkennen nur sozialgeschichtliche und politische Sachverhalte als Ursachen der unterschiedlichen Entwicklungen und klammern in sozialwissenschaftlichem Geist natürlich-terrestrische, sozusagen antehumane Ursachen von vornherein aus: „[…] die Gunst einer geographischen Lage allein hat selten einen entscheidenden Einfluss auf das Schicksal der begünstigten Völker [wie Frankreich, H.O.D.] genommen“, zumal „abseits von den bisher in der westlichen Geschichtsschreibung vorgesehenen Schwerpunkten der Geschichte der sowjetische Nationenverband […] die Spitze der Weltentwicklung erreicht hat [sic].“ (Krauss 1959: 193) Die Differenzierungen setze ich früher an, nämlich bei den von vielen Sozialwissenschaftlern verpönten erdgeschichtlichen Unterschieden, denen Alexander von Humboldt, Geograf, Naturwissenschaftler und letzter klassischer Aufklärer, größte Aufmerksamkeit widmete. Er begründete im Kosmos die kulturelle Superiorität der Griechen aus ihrer Geografie, woraus er a posteriori die nachmalige Dominanz des Okzidents über die restliche Weltableitete. Dieses Privileg erklärte er weder mit angeborener Begabung noch mit Rasse, sondern aus der terrestrischen Lage der Griechen zwischen Land und Meer mit ihrem odysseischen Hang zu Seefahrt, Seeräuberei und Kolonisierungen: Für ihn war Geografie Vorbedingung der sozialen und kulturellen Entwicklung der Populationen. Als Weltreisender und Erdwissenschaftler in Personalunion besaß er genügend Kompetenz zu solchen Schlüssen. Frankreich war wie England und Spanien am Vorabend der Moderne – wie einst Griechenland am Anfang der Antike – ein maritim-terrestrisches Gebilde, dessen Küstenbewohner gleichsam ‚von Natur aus‘ Argonauten waren, übers Meer Handel, Piraterie, Welteroberung und Kolonialismus betrieben, was Binnenländern und Anrainern solcher Nebenmeere wie der Ost- und Nordsee erschwert war, zumal der

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weltentscheidende Ozean, der Atlantik, nach der Entdeckung Amerikas im Westen Europas lag. Die atlantischen Nationen, Spanier, Portugiesen, Engländer, Franzosen und Holländer, wurden weltbeherrschende Seeleute, Händler und Kolonisatoren. Noch ein anderer terrestrisch-politischer Umstand: Während Frankreich, England (und auch Spanien) Einheitsstaaten wurden, die ihre naturhafte Zersplitterung durch Zusammenfügung beseitigten, blieb die kleinstaatliche Fragmentierung in deutschen Landen bestehen. Diese war auch die politische Folge ihrer Lage im Zentrum des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, aus der die Kaiser lange die Illusion schöpften, dieses Reich wiederherzustellen – was angesichts der ethnischen, linguistischen und Kommunikationsverhältnisse jedoch unmöglich war. Selbst zu Kolonisierungen, diesen unabdingbaren Attributen zivilisatorischer Hochentwicklung, waren sie nicht imstande, wie das Scheitern der abenteuerlichen Kolonial- und Sklavenhandelspolitik des Brandenburger Kurfürsten und seines Sohnes, König Friedrich I., zeigt, mit der Friedrich Wilhelm I. klugerweise Schluss machte, noch nachdem Colbert Frankreichs überseeisches Kolonialreich schuf.

F RANZÖSISCHER E INHEITSSTAAT FRANZÖSISCHE AUFKLÄRUNG

UND

Seine geografischen Prämissen begünstigten Frankreichs Entwicklung zu einem ökonomisch florierenden, gut administrierten Staat mit einem wirtschaftsflankierenden Kolonialregime, aktivem Einstieg in den Welthandel und einträglicher Sklavenarbeit in der Kolonie Saint-Domingue. Die französische Aufklärung hatte großen Anteil an dieser Entwicklung. Im 18. Jahrhundert als protobürgerliche Bewegung entstanden, votierte sie für eine wissenschaftlich und professionell gebildete Bevölkerung, denn ihre führenden Denker wussten, dass nur mit dieser die angestrebte moderne Gesellschaft funktionieren konnte. Die Aufklärer betrieben weniger wissenschaftliche Forschung als vielmehr die Verbreitung ihrer Ergebnisse zwecks ‚Aufklärung‘ ihrer Landsleute. Ihnen haftete – mehr im deutschen Begriff ‚Aufklärung‘ als im französischen „lumières“ – eine belehrende, pädagogische, belästigend agitatorische Grundtendenz an. Dieser fast religiöse Proselytismus war ihrem Wesen inhärent, weil sie das neue Denken ohne oder gegen die offiziellen Institutionen ad hominem verbreiten mussten. Sie propagierten Vernunft, Empirismus und Wissen anstelle obsoleter Mythologie, Aberglauben, Magie, Esoterik und scholastischer Theologie. ‚Aufklären‘ meinte nicht einfach ‚belehren‘, sondern ‚jemanden eines Besseren‘ belehren, von ‚falschem‘ Denken abbringen. Das französische Verb ‚désabuser‘ heißt, ‚sich oder jemanden von einem Irrtum oder Vorurteil‘ befreien. ‚Vorurteil‘ war für die Aufklärer Inbegriff und Ursprung allen Irrens, von Aberglauben, Mythos, Magie und Intoleranz. Damit nicht genug: Die alte Welt setzte sich mit allen Mitteln zur Wehr, schreckte weder vor dem Mundtotmachen noch vor physischer Vernichtung der Kontrahenten zurück. Die Aufklärung zählt ebenso viele Märtyrer wie einst das Urchristentum unter Diocletian; man denke nicht nur an die notorischen Schicksale Galileis, Giordano Brunos, Campanellas, auch im aufklärerischen, aber nicht aufgeklärten 18.

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Jahrhundert wurden in Neapel, Turin, Genf und Lissabon moderne Denker aus Intoleranz lebendig verbrannt. Aufgeklärt werden bedeutete hingegen ‚zur Vernunft kommen‘, das „âge de la raison“ erreichen, „majorenn“, erwachsen werden, das Ablegen der von den Eltern bzw. Autoritäten auferlegten ‚Unmündigkeit‘, wovon Kant seine Definition der Aufklärung als „Ausgang des Menschen aus selbstverschuldeter Unmündigkeit“ ableitete. ‚Unmündigkeit‘ meinte Beherrschtwerden durch außermenschliche Instanzen, weshalb die Aufklärer ihre Mitmenschen aufforderten, sich von diesen Fesseln zu befreien und zu „citoyens éclairés“ zu werden. Von der Aufklärung übernahm die Französische Revolution 1789 ihre staatsbürgerlichen Maximen Freiheit und Gleichheit. Aufklärung äußerte sich sowohl in rationalistischer, materialistischer oder sensualistischer Philosophie als auch, was oft übersehen wird, als lebenspraktischpolitischer Diskurs. Diese Zweiteilung etablierte Paul Henri Thiry d’Holbach im Kapitel VIII seines von Dumarsais übernommenen Essai sur les préjugés: „Halten wir also zwei Arten von Philosophie auseinander: die eine ist spekulativ, die andere ist praktisch.“ (d’Holbach/Dumarsais 1972: 134) Er unterschied damit wohl erstmals in der Geistesgeschichte zwischen Aufklärung als Philosophie sensu stricto (Erkenntnistheorie, Ontologie, Anthropologie, Logik) und Aufklärung als praktischer, auf alltägliche Lebenswelt und Politik abhebende ‚Bewegung‘. In einer Fußnote benutzt er als Synonyme für letztere die Begriffe ‚Lebensführung‘, ‚Lebenskunst‘ und ‚Lebenswirklichkeit‘ (ebd. 129), Vorwegnahmen des von Max Weber, Edmund Husserl, Alfred Schütz und Ludwig Wittgenstein verwendeten ‚Lebenswelt‘-, bzw. ‚Lebensform‘-Begriffs. Nur von der lebensweltlichen Aufklärung handelt meine Studie. Zwischen lebensweltlich-politischer ‚Bewegung‘ und Aufklärungsphilosophie existierte notabene ein Zusammenhang: Sie entstanden gleichzeitig, hatten inhaltliche Gemeinsamkeiten und dieselben Protagonisten bzw. Autoren. Französische Aufklärungsphilosophie weist einen den spekulativen Philosophien abgehenden, grundlegend neuen, lebenspraktisch-politischen Bezug auf. Sie entsprang nämlich überhaupt nicht philosophischer Spekulation, sondern dem realen politischen und Alltagsleben. Ihre Existenz korrespondiert konkret mit der Aufhebung des von Heinrich IV. 1598 erlassenen Edikts von Nantes, das einst den Religionsfrieden zwischen Katholiken und Protestanten hergestellt hatte. Diese Revokation bedeutete Verfolgung und Exil für letztere. Sie rief die protestantische Toleranz- und Protestbewegung hervor. In Deutschland dagegen sicherte der Westfälische Frieden von 1648 die Toleranz, weshalb dort keine toleranzbewegte Aufklärung entstand – ein wesentlicher deutsch-französischer Unterschied. Der mehrmals zwischen Katholizismus und Protestantismus wechselnde Philosophieprofessor Pierre Bayle (1647-1706) begründete die Toleranzidee, die er primär von der machthabenden katholischen Seite einforderte, in seinen Réflexions sur la tolérance des livres hérétiques (1685) und im Dictionnaire historique et critique (1697), was ihm Verfolgung und Berufsverbot eintrug. Als Grund für Intoleranz machten die Aufklärer tradierte, auf Unkenntnis beruhende Vorurteile aus, so auch d’Holbach und Dumarsais in ihrem Essay über die Vorurteile. Letztere wurden als störrisches Festhalten an von der Wissenschaft längst als falsch entlarvtem esoterischem Glauben an jenseitige Mächte, an Aberglauben, Mythologie und Magie, an weder empirisch noch experimentell nachweisbare Mächte denunziert und daher der Aufklärung überantwortet. Auch die Geschichte der Antike und des Mittelalters wur-

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den nüchtern betrachtet, vom Ballast der für Historiografie gehaltenen Mythologien entrümpelt: Der Historiker Voltaire ersetzte die Mythen der Kreuzfahrer durch den unparteiischen Bericht eines byzantinischen Augenzeugen. Dieser Entmythisierungsprozess vollzog sich im Namen des Cartesianismus, auf den sich Bayle berief, als er die Trennung von Wissen(-schaft) und Glauben zur Hauptlosung der Philosophie erklärte. Die Aufklärung war also nicht nur Vorläuferin und Vorbereiterin der Französischen Revolution von 1789, obwohl diese ohne sie nie hätte stattfinden können, sondern eine kopernikanische Wende in der Geschichte des menschlichen Denkens. Sie betrieb laut Adorno und Horkheimer, die sich auf Max Weber beriefen, „die Entzauberung der Welt, sie wollte die Mythen auflösen und Einbildung durch Wissen stürzen.“ (Adorno/Horkheimer 1988: 9) Habermas spricht vom „Zerfall der religiösen Weltbilder, die eine profane Kultur aus sich entließen.“ ‚Mythos‘ war für die Aufklärer das schwergewichtigste Reizwort, der Konterbegriff zu ‚Aufklärung‘, Oberbegriff für falsches Denken, für alles Märchenhafte, Sagenhafte, Fantastische, Irrationale und Spekulative. „Alle Mythologie überwindet und beherrscht und gestaltet die Naturkräfte in der Einbildung und durch die Einbildung, verschwindet also mit der wirklichen Herrschaft über dieselben“, meinte der Rationalist Marx mit Blick auf die griechische Mythologie (Marx 1974: 30). Doch sie verschwand nicht mit höherer Naturbeherrschung, sondern lebte laut Roland Barthes als Mythologisierung gesellschaftlicher Phänomene fort (Barthes 1957). „Das mythische Grauen der Aufklärung gilt dem Mythos. Sie gewahrt ihn nicht bloß in unaufgehellten Begriffen und Worten, wie dies semantische Sprachkritik wähnt, sondern in jeglicher menschlichen Äußerung, wofern sie keine Stelle im Zweckzusammenhang jener Selbsterhaltung (des Menschen) hat.“ (Ebd. 35) Diese grundsätzliche Ablehnung alles vorherigen Denkens als Mythos verlangte mehr als nur den von Descartes angemeldeten methodischen Zweifel, nämlich Kritik, vor deren Richterstuhl die Aufklärung laut Kant alle bisherigen Instanzen zerrte.

D ER MENSCHHEITLICH - PROLIFERIERENDE C HARAKTER DER AUFKLÄRUNG Durch die Aufklärung wurden Krauss zufolge „die Blicke der Menschheit von neuem auf Frankreich gezogen“ (Krauss 1959: 191). Wichtiger als diese Dignifikation Frankreichs ist jedoch das Objekt dieser Aufmerksamkeit selbst, die Aufklärung, der Krauss ihren menschheitlichen Charakter bescheinigt. Eine solche Bewegung existierte nicht in voraufklärerischen Zeiten; die Aufklärung selbst war die erste wirklich menschheitliche Bewegung, die von Frankreich ausgehend seit Beginn des 18. Jahrhunderts den die übrige Welt dirigierenden Okzident sukzessiv erfasste, auch die ‚altkultivierten‘ Völker des Nahen und Fernen Ostens. Sie ist das erste Globalprojekt. Kants berühmte Definition der Aufklärung als Ausgang des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit meint diese totale geistige Befreiung des Menschen nicht ohne hintergründigen Bezug auf Descartes‘ demokratisch-anthropologisches Postulat, wonach das Denken, das den Menschen von anderen Lebewesen unterscheidet, allen Mitgliedern der Gattung Mensch gegeben sei: „La chose du monde la mieux partagée […] ce qu’on nomme le bon sens, ou la raison, est naturel-

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lement égale en tous les hommes“ (Descartes 1995: 16), was doch erst den von Krauss postulierten gesamtmenschheitlichen Bezug der Aufklärung ermöglichte. Hier setzte auch der ins Politische verlagerte „égalité“-Mythos an. So überstieg die Aufklärung von vornherein den lokalen Rahmen Frankreichs und den zeitlich- historischen der Revolution von 1789. Ihr Ziel war nicht die Ablösung einer Gesellschaft durch eine andere, sondern die Etablierung der modernen Zivilisation, die definitive Befreiung der Menschen von archaischen, lähmenden Mythologien und Hierarchien aller vorherigen Kulturepochen: von Wildheit über Barbarei bis zum Feudalismus. Bereits Hegel hatte in seinen Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie die Befreiung des Menschen durch die französische Aufklärung von „jahrtausendalter“ Unterwerfung – diese temporale Milleniumsvokabel ist wörtlich und nicht als Metapher zu nehmen – emphatisch betont (Hegel 1971: 438). Bei den Franzosen bewundernswert sei „diese erstaunliche Energie und Kraft des Begriffes gegen die Existenz, gegen den Glauben, gegen alle Macht der Autorität seit Jahrtausenden.“ [Herv.d.d.Verf.] „Die Hauptmomente alles dieses Philosophierens sind, dass der Mensch bei allem Erkennen dabei sein müsse, indem sie aller Autorität des Staates und der Kirche […] den Krieg machten.“ (Ebd. 454) Dem „menschenbeherrschenden Mythos“ – diesen Terminus verwenden in gleichem Sinne wie Adorno/ Horckheimer auch Georg Lukács und Roland Barthes – setzten die Aufklärer die Wissenschaften als Mythenbrecher entgegen. Ohne Aufklärung konnte kein Land die moderne Zivilisation erreichen. Nur ihre konsequente Durchsetzung garantierte Aufnahme in den Verbund der fortgeschrittenen Nationen, ihre Hinderung verzögerte sie, sodass wir von Westeuropa bis zur sogenannten „Dritten Welt“ einen ganzen Fächer von Entwicklungsstadien entsprechend dem jeweils erreichten Aufklärungsgrad sich öffnen sehen. Frankreich übernahm vom hochentwickelten England die wissenschaftlichen, philosophischen und politischen Errungenschaften, deren bloße Existenz dort so überzeugend war, dass eine binnenbritische Aufklärungskampagne nicht so nötig erschien wie auf dem Kontinent, wo noch statt der englischen Bankiers, Manufakturisten, Industriellen und Handelskompagnons Verwaltungsbürokraten und Finanzbeamte die eigentliche politische bürgerliche Klasse stellten: „Längst war aber die erstarkende Bourgeoisie zur faktischen Lenkung der Geschicke des französischen Staates befähigt: nur in ihren Reihen fand sich die juristische Intelligenz, nur sie konnte die Verwalter und die finanziellen Experten stellen.“ (Krauss: 194). Und „zu den verbliebenen Feudalabgaben traten nun noch die unerträglichen Steuern, die der Staat für seine administrativen Zwecke rücksichtslos von Bauern und Bürgern erpreßte“. (Ebd.) Infolge der Steuerverpachtung und des Intendantensystems kamen diese Abgaben eher den bürgerlichen Bürokraten zugute, die jedoch im Unterschied zu den Briten mehr konsumierten als akkumulierten, was zu Frankreichs Rückstand gegenüber England beitrug. Diese protobürgerlichen Klassen nutzten die Emeuten von 1789 für die Errichtung der eigenen Herrschaft, wozu auch die postrevolutionär institutionalisierte Aufklärung in Form umfassender Volksbildungssysteme gehörte. Unter den von der französischen Aufklärung im Zuge ihrer Proliferation erfassten Populationen war die erste und wichtigste das deutsche Nachbarland, bevor sie sich sukzessive über den Okzident – West- und Mitteleuropa, den Apennin, die Pyrenäen, den Balkan, Skandinavien – und über eine transatlantische Brücke auf Nord-, Mittelund Südamerika erstreckte (vgl. Dill 2015). Sie wurde ein sich über Jahrhunderte er-

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streckendes Weltprojekt: Noch heute sind die wenigsten Erdbewohner von ihr erfasst. Außer England, das infolge seiner Insellage kaum aktiv aufklärerisch in die kontinentaleuropäischen Prozesse eingriff, und das von der Wirtschaft bis zum Rechtswesen sozusagen „avant la lettre“ die vollendeten Tatsachen eines ‚aufgeklärten‘ Gemeinwesens geschaffen hatte, nahm die deutsche Aufklärung als Juniorpartnerin der Franzosen eine herausgehobene Position ein, auch wenn sie mit letzteren in Bezug auf Originalität der Gedanken wie Einfluss auf den Weltaufklärungsprozess in keiner Weise vergleichbar ist. Hegel geht so weit, die deutsche und französische zu den beiden einzig authentischen Aufklärungen zu erklären und alle anderen Länder auszuschließen. Das ist erstaunlich, bedenkt man die chronologische Priorität der Franzosen und das SchülerLehrer-Verhältnis der deutschen zur französischen Aufklärung. Er schrieb: „An dieser großen Epoche in der Weltgeschichte […] haben nur diese zwei Völker teilgenommen das deutsche und das französische Volk, sosehr sie entgegengesetzt sind oder gerade weil sie entgegengesetzt sind. Die anderen Nationen haben keinen Teil daran genommen.“ (Hegel 1971: 464)

D IE

FRANZÖSISCHE

F RAKTION

DER

AUFKLÄRUNG

IN

B ERLIN

Meinte Hegel mit der deutschen die friderizianische Aufklärung? Doch diese war Teil der französischen und hing mit der Person Friedrichs II. zusammen, der kulturell kein Deutscher, sondern Franzose war, besser Französisch als Deutsch sprach und schrieb und für die sich mit Karl Philipp Moritz, Klopstock, Lessing, Goethe und dem Sturm und Drang herausbildende deutsche Literatur nur Verachtung übrig hatte. Berlin/Potsdam wurde in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts neben Paris zum zweiten Zentrum der französischen Aufklärung. Prominente französische Aufklärer wie La Mettrie und Voltaire lebten längere Zeit dort. Des Weltumseglers Cooks Schiffskapitän Pernety war Vorleser Friedrichs II. und Berliner Akademiemitglied. Die von Ottmar Ette wiederentdeckte Berliner Debatte um die neue Welt wurde von frankophonen Exilanten bestritten, die am Berliner Hof gut dotierte Stellungen als Kammerherren oder Mitarbeiter hatten (vgl. Ette 2013). Friedrich selbst hatte sich seit seiner Jugend mit der französischen Aufklärung identifiziert. Die frühe Prägung durch die Toleranzideen Bayles hielt ein Leben lang an. Das zeigt seine Kontroverse mit seinem Vater Friedrich Wilhelm I., der nach dem Fluchtversuch des Kronprinzen alle verdächtigen Bücher aus dessen Bibliothek vernichten ließ, darunter die Originalausgabe von Bayles Dictionnaire historique et critique von 1730, dieses Urdokument aller Aufklärung. Friedrichs II. Bindung an Bayle materialisierte sich in seiner Neubearbeitung und Edition in zwei Bänden dieses Wörterbuches. Es war also nicht nur ein Generationenkonflikt zwischen tyrannisch-autoritärem König/Vater und rebellischem Prinzen/Sohn, sondern ein Geschehen mit philosophischem Hintergrund. In Voltaires Nachlass fand sich als einziges Handexemplar von Bayles Hauptwerk die zweite, zweibändige, von Friedrich II. in Zusammenarbeit mit dem Marquis d’Argens in Berlin herausgegebene Auflage, die Extraits du dictionnaire historique et critique. Der britische Aufklärungsforscher H.T. Mason hat im einstigen Lenin-

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grad die Bibliothek Voltaires in Ferney, die die Russische Akademie aus dem Nachlass gekauft hatte, genauestens durchforscht und fand dort diese beiden Bände. Hauptquelle für Voltaire war also statt der Originalausgaben Bayles Friedrichs Anthologie, in der Mason viele Handzettel Voltaires zu Stichworten fand, die er mit Bayle-Zitaten in Voltaires Werken – so im Traité de la Tolérance – korrelieren konnte. Dieser kannte den Rotterdamer folglich nur aus der Auswahl des Königs von Preußen. Auch Voltaires Dictionnaire (philosophique) portatif ou la raison par alphabet (1752, 1770) beruht wohl auf Friedrichs Vorarbeiten. Mason sieht in der Übersiedlung Voltaires nach Berlin, genauer genommen im direkten Einfluss von Friedrich II. und La Mettrie, der beiden führenden Geister der berühmten Tafelrunden von Sanssouci, den Grund für dessen politische Radikalisierung: „Voltaire’s arrival in Berlin brought him into close contact with people more radical than he, such as La Mettrie and Frederick himself.“ (Mason 1963: 16) Friedrich hatte Mason zufolge großen Anteil an der Verinnerlichung der Toleranzidee durch Voltaire, der anfänglich nicht deren engagierter Anwalt war und erst unter seinem Einfluss zum Gegner jedweder Intoleranz wurde. Hatte Voltaire einst den Kronprinzen in dessen Toleranzpolitik anhand des Essays und des Dictionnaire philosophique et historique Bayles bestärkt, so hielt dieser seinerseits den deistischen Franzosen bei der Stange, als dieser zum Begründer der Toleranzbewegung wegen dessen libertiner Laxheit und angeblichem Atheismus auf Distanz ging. Voltaire sei vor seinem Aufenthalt in Berlin wenig begeistert von Bayle gewesen, „at a time when Frederick is still full of enthusiastic encomions for the Rotterdam thinker“ (ebd. 24). Mason schließt aus den Erinnerungen an Berlin von Cosimo Alessandro Collini in dessen 1807 erschienenem Buch Mon séjour auprès de Voltaire, dass aus Friedrichs „petits dîners philosophiques“, also den berühmten Tafelrunden von Sanssouci, die Idee zu Voltaires Dictionnaire portatif geboren worden sei (ebd. 32). 1 Wie eng Friedrichs Verbindung zu französischen Aufklärern war, zeigt die Berufung seines ständigen Briefpartners und ersten Chefredakteurs der Encyclopédie, d’Alembert, zum Präsidenten der Berliner Akademie der Wissenschaften, die dieser zwar ausschlug, der jedoch als Gutachter bei der Berufung neuer Akademiemitglieder mitwirkte. Statt seiner berief er den renommierten französischen Physiker und Mathematiker Maupertuis in dieses Amt. Dieser regte u.a. das Preisausschreiben der Berliner Akademie zum Thema „Ist es nützlich, das Volk zu täuschen“, wie auch das von dem in Berlin verstorbenen Rivarol gewonnene Preisausschreiben der Berliner Akademie über die Überlegenheit der französischen Sprache an. Ganz weg von der französischen Aufklärung war Friedrich II. also nicht, obwohl er als absolutistischer Monarch nie über seinen Schatten sprang. Letzteres zeigt seine Replik zu d’Holbachs und Dumarsais‘ Essay über die Vorurteile, in der er gegen die staatsrechtlichen Auffassungen der Aufklärer protestierte und das monarchistische, den Feudalismus perpetuierende Erbfolgerecht der Adligen auf führende Positionen im Staat mit schwachen Argumenten und schlechtem Gewissen verteidigte. Friedrich unterhielt Korrespondenzen mit vielen französischen Aufklärern. Es ist deshalb absurd, einen Mann, der wohl als einziger Potentat mit allen fortschrittlichen Geistern Europas gute Beziehungen unterhielt, wie eine Zeit lang üblich, als finsteren 1

Adolph Menzel hat La Mettrie in den Mittelpunkt seines gleichnamigen Gemäldes gestellt.

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Reaktionär darzustellen wenngleich die Heroisierung und gar Mythisierung durch Wilhelminen und Nationalsozialisten des intellektuellen Wahlfranzosen Friedrich II., der eher Sympathien für den ‚Erbfeind‘ hatte, ebenso verfehlt waren. Wie ich in Aufklärung als Weltprojekt zeige, ist die Rolle aufgeklärter Monarchen wie Friedrichs II., Maria Theresias und ihres Sohnes Josephs II., Katharinas der Großen, des spanischen Bourbonen Karls III. und auch des libertinen Regimes der Régence unter Philipp II., Herzog von Orléans, positiver zu bewerten als dies gemeinhin geschieht, und sei dies nur deshalb, weil sie die Aufklärer vor dem Rädern, dem Galgen und dem Feuertod schützten und ihnen Arbeits- und Publikationsmöglichkeiten boten, wie dies etwa die Habsburger in Mailand, Florenz und Siebenbürgen praktizierten. Man denke auch an das Asylangebot Friedrichs für seinen ideologischen Gegner JeanJacques Rousseau, das dieser sogar akzeptierte. 2 Die preußisch-französische Aufklärung steht am Anfang praktischer Menschenrechtseinforderung in Gestalt der keineswegs, wie manche Darstellungen insinuieren, mit der Abreise Voltaires abgebrochenen Kooperation zur Rettung der von Intoleranz Verfolgten. Diese setzte sogar erst nach dem persönlichen Zerwürfnis ein. Friedrich verschaffte den von Voltaire empfohlenen Opfern der Intoleranz Anstellungen, meist in der Armee. Voltaire schrieb 1775, ein Vierteljahrhundert nach seiner ‚Flucht‘ aus Berlin, an Friedrich: „Sire, ich lege Ihnen heute zu Ihren Füßen als Ihren künftigen braven und klugen Offizier Herrn d´Etalonde de Morival, dessen Schicksal Sie mir seit 18 Monaten anvertraut haben. Ich versichere Ihnen, dass man an ihm in Potsdam keine der Eitelkeiten unserer angeblichen französischen Marquis finden wird. Sein Verhalten und sein ständiger Fleiß beim Studium der Taktik und des Pionierwesens, die Umsicht in seinen Vorkehrungen und seinen Worten, sind starke Gegenbeweise gegen die ebenso abscheuliche wie absurde Tollheit des Urteilsspruchs von drei Richtern, die ihn vor zehn Jahren zusammen mit dem Chevalier de la Barre zu einer Strafe verurteilten, die sich nicht die Busiris auszudenken gewagt hätten. Nach den Busiris von Abbeville findet er in Ihnen einen Solon. Europa weiß, dass der Held von Preußen auch sein Gesetzgeber ist, und als solcher haben Sie die den Henkern durch den Fanatismus ausgelieferte Tugend beschützt. Es bleibt zu hoffen, dass man in Frankreich niemals wieder diese schrecklichen Greuel erleben wird, die bis jetzt einen so seltsamen wie häufigen Gegensatz zur Leichtigkeit unseres Gemüts gebildet haben. Man wird jetzt zu sagen aufhören: das fröhlichste Volk der Welt (also das französische, H.O.D.) ist auch das barbarischste.“

Nun das Gegenstück, Friedrichs Nekrolog auf Voltaire im Brief an d’Alembert: „Was Voltaire anbetrifft, garantiere ich Ihnen, dass er nicht mehr im Fegefeuer ist. Der Haß der Theologen wird es nicht verhindern können, dass er in den Champs Elisées, den Elysäischen Feldern [das Elysium als Paradies der Griechen und nicht die Pariser Prachtstraße ist hier gemeint, H.O.D.] lustwandeln wird in der Gesellschaft von Sokrates, Homer, Vergil und Lukrez. Auf der einen Seite auf die Schulter von Bayle gestützt, auf der anderen auf die von Montaigne [dem berühmten humanistischen Renaissance-Essayisten und Vorläufer der Toleranzbewegung, H.O.D.], und seinen Blick in die Ferne geheftet wird er die Päpste, die Kardinäle, die Spürhunde, die Fanatiker sehen, wie sie im Tartarus die Qualen der Ixion, Tantalus, Prometheus und aller berühmten Verbrecher des Altertums erleiden.“ 2

Man lese die kenntnisreiche Darstellung Brunhilde Wehingers.

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Doch das Bündnis zwischen aufklärerischen Intellektuellen und aufgeklärten Monarchen mit der politischen Radikalisierung der ersteren zerbrach. Die positive Rolle von Friedrich II. erschöpfte sich mit dem Kampf für Toleranz und Menschenrechte, gegen Vorurteile und für eine empirisch-sensualistische Philosophie, während er politisch kompromisslos eine absolutistisch-feudalistische und damit antiaufklärerische Haltung vertrat. Hegel stellte einen Zusammenhang zwischen seinen Regierungsmaximen und der politischen Unreife seiner Untertanen fest: „Es war kein anderes Bedürfnis in seinem Volk vorhanden (außer den ‚Grundsätzen der Religion und des Staates‘), man kann nicht verlangen, daß er der Reformator, der Revolutionär desselben hätte werden sollen, da kein Mensch Landstände, Öffentlichkeit der Gerichte forderte. Er führte ein was Bedürfnis war, religiöse Toleranz, Gesetzgebung, Verbesserung der Gerechtigkeitspflege, Sparsamkeit mit der Staatskasse.“ (Hegel 1971: 447)

D EUTSCHE AUFKLÄRUNG Der Friderizianismus konnte also keineswegs die von Hegel gemeinte deutsche Aufklärung sein. Laut Hegel war „das letzte Resultat der Kantischen Philosophie die Aufklärung“ (ebd. 484). Damit vollzog er den geistesgeschichtlichen Anschluss des deutschen Transzendentalismus an die französische Aufklärung: „Die Kantische Philosophie ist theoretisch die methodisch gemachte Aufklärung.“ (ebd. 485) Noch deutlicher schreibt er über die „neueste deutsche Philosophie“ von Kant, Fichte, und Schelling (sich selbst eingeschlossen): „In diesen Philosophien ist die Revolution als in der Form des Gedankens niedergelegt und ausgesprochen, zu welcher der Geist in der letzten Zeit in Deutschland fortgeschritten ist […] In Deutschland ist dies Prinzip als Gedanke, Geist, Begriff, in Frankreich in die Wirklichkeit hinausgestürmt.“ (Ebd. 464)

Diese Behauptung in den Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie, die Hegel zwischen 1817 und 1830 hielt, ist indes keine originale Erkenntnis des Philosophen, sondern wurde zuerst in Frankreich ausgesprochen. In der Gazette Nationale ou Le moniteur universel vom 3. Januar 1794 heißt es über den Königsberger Philosophen: „Der berühmte Kant, der in Deutschland eine geistige Revolution zustande gebracht hat, die derjenigen gleicht, die die Gebrechen des Ancien régime mußten geschehen lassen […].“ (Kant 1984: 63) Der Lektüre der französischen Aufklärungsschriften durch die Deutschen folgten obligate Studienreisen nach Frankreich: Herder fuhr nach Nantes; Joachim Heinrich Campe, Wilhelm von Humboldt, Johann Reinhold Forster, Georg Forster und Alexander von Humboldt wallfahrteten nach Paris, der Stadt der Aufklärung und der Französischen Revolution, und brachten ihre Begeisterung nach Deutschland zurück. Es blieb jedoch in Deutschland politisch und sozial beim Ancien Régime. Schon die Beschränkung aufs Geistige war ein Produkt der archaischen Verhältnisse. Die Verzögerung des Einheitsprozesses wurde erst mit der Gründung Deutschlands 1870/71 nachgeholt. Wie Dorothee Röseberg in ihren Arbeiten zeigt, spielt die rationalistische

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Aufklärung für die Herausbildung des modernen Frankreichs, in Sonderheit des Bildungs- und Persönlichkeitsideals des „citoyen éclairé“, bis heute eine ausschlaggebende Rolle, im Unterschied zum preußischen Ideal des gehorsamen Untertanen. Die Rückentwicklung auf diesem Feld führte laut Tenorth zur Verweisung des ‚Rousseauismus‘ von den Schulen und zu seiner Diskriminierung in kernigen Aussprüchen des Kaisers Wilhelm II. (vgl. Tenorth 1992). Dennoch haben deutsche Philosophie und Theorie an der Herausbildung der französischen Aufklärung mitgewirkt, nach meiner Kenntnis auf folgenden fünf Feldern: 1. Staats- und Rechtstheorie 2. materialistisch-geologische Fundierung der Aufklärungsphilosophie 3. Enzyklopädismus 4. Kritik am Kolonialismus 5. infrastrukturelle Hilfe bei der Kommunikation zwischen den Aufklärern ad 1) Der staatsrechtlich-staatspolitische Einfluss deutscher Frühaufklärer auf Frankreichs Aufklärung Deutsche Adaptationen der Staats- und Rechtsdoktrin der Schule von Salamanca brachten die Emanzipation des Naturrechts vom kanonischen Recht und die Laisierung der Justiz, ohne welche das französische Staatsrechtsdenken von Montesquieus Esprit des Lois bis zu Rousseaus Du contrat social nicht möglich gewesen wäre. Die Rechtsbegriffe der Aufklärung, so die Menschen- und Bürgerrechte, wurden unter Rückgriff auf die naturrechtlichen Vorstellungen von Samuel Pufendorf, Althusius (Johannes Althaus), Christian Wolf und Christian Thomasius verweltlicht und umfassten die Gewaltenteilung zwischen der legislativen, exekutiven und judikativen Gewalt, die Montesquieu nach Hobbes und Locke entwarf und auf den Antagonismus Legislative–Exekutive reduzierte, und die Volkssouveränität, die Legislative, deren Funktion Rousseau in Du contrat social unter Einfluss von Althusius skizzierte. Rousseau übernahm die zentralen Begriffe des Contrat social, „Zivilgesellschaft“, „Volkssouveränität“ und „Gemeinwille“, laut Robert Derathé von Pufendorf (1632-94), mitsamt den Kommentaren des französisch-schweizerischen Übersetzers Barbeyrac aus dem Deutschen, sowie vom Herborner Professor und späteren Bremer Stadtsyndikus Althusius (1557-1638) (vgl. Derathé 1995). Pufendorf fällt laut Derathé das für Rousseaus Denken relevante Verdienst zu, zwischen Staatsrecht und Moraltheologie einen definitiven Trennstrich gezogen und die lex naturalis, jene, die sich der Mensch seiner eigenen menschlichen Natur entsprechend gab, von der lex divina und dem Römischen Recht emanzipiert zu haben. Schon 1740 hatte Rousseau Pufendorfs aus dem Lateinischen ins Französische übersetzte Schrift Le droit de la nature et des hommes gelesen und Diderot zur Lektüre weiterempfohlen, der die darin enthaltenen Vorstellungen in seine EnzyklopädieArtikel einarbeitete (ebd. 81). Gleich nach Ankunft in seinem Asyl in Chambéry hatte Rousseau als erstes Buch in seinem Zimmer Pufendorfs Hauptwerk vorgefunden und studiert (ebd.). Trotz aller Polemik gegen Pufendorf im „Gesellschaftsvertrag“, die sich gegen dessen Sanktionierung der Übertragung der seiner Ansicht nach allein dem Volk gehörenden Souveränität an den Herrscher richtete, bewahrte Rousseau zu ihm „die Gefühle eines Schülers für seinen Meister“ (ebd. 84). Scharf kritisierte

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Rousseau Grotius wegen dessen Befürwortung von Eroberung und Sklaverei, folgte dagegen Althusius, von dem er das Widerstandsrecht des Volkes gegen Tyrannei sowie die trinitarische Formel vom „droit indivisible, inaliénable et incommunicable“ des Volkes übernahm, die Rousseau mit allen ihren drei Bestandteilen im zweiten Buch des Contrat social aufnahm. (Ebd. 94-95) Angesichts seiner gegenaufklärerischen Entwicklung ist es erstaunlich, dass Deutschland entscheidende Anstöße zur Genesis aufklärerischen Rechtsdenkens in Frankreich lieferte. Vielleicht wurde die dortige Entwicklung des Staatsrechts von der Kleinstaaterei gefördert, weil jede Region des Heiligen Römischen Reiches auf ihre Rechtstitel beharrte und beim Reichskammergericht zu Wetzlar horizontale Klage erheben konnte, und ferner die freien Reichs- und Hansestädte ein starkes bürgerlich-demokratisches Element darstellten. ad 2) Der naturwissenschaftliche Materialismus der Franzosen und Deutschen Auch auf den für den tendenziellen Materialismus der Aufklärung wie für die moderne Wissenschaft und Wirtschaft entscheidenden Gebieten der Mineralogie und Geologie, welchen grundlegende Bedeutung für die Erschließung der Minerale in den Bergwerken als industrielle und technische Rohstoffe und damit für die nachmalige Industrialisierung zukam, arbeiteten deutsche Autoren der Aufklärung vor, obwohl Deutschland selbst mit dieser Entwicklung industriell nichts anzufangen wusste. Marx, der sich anhand zufällig ausgewählter, oft zweitklassiger Werke ein Urteil über diese Wissenschaften zutraute, schrieb von der „Voraussetzungslosigkeit der Deutschen“ auf diesem Gebiet. Doch in Wirklichkeit waren umgekehrt die Deutschen infolge ihres entwickelten Bergbaus und der Forschung an der Bergakademie Freiberg führend, an der berühmte Geologen wie Lomonossow, Humboldt und Friedrich von Hardenberg (Novalis) studierten und wirkten. Die Franzosen hingegen waren auf diesem Gebiet zurückgeblieben. Dies bescheinigte ihnen kein Geringerer als der Pfälzer Baron d’Holbach, der in Leyden Naturwissenschaften studiert hatte. D’Holbach sicherte das hohe Niveau der Enzyklopädie durch seine professionelle Kenntnis der Natur- und Erdwissenschaften, in Sonderheit der deutschen Geologie und Mineralogie. Er übersetzte ein Dutzend deutscher Werke zu diesen Gebieten, schrieb eigene Bücher und an die 400 Enzyklopädie-Artikel. Er selbst hob die Nützlichkeit seiner eigenen Übersetzungen aus dem Deutschen unter Hinweis auf die Unwissenheit der Franzosen gegenüber ihren Bodenschätzen und den wissenschaftlichen Vorsprung der Deutschen hervor: „Trotz der großen Vorteile, die daraus resultieren könnten, hat sich das doch von der Natur so begünstigte Frankreich nur wenig mit den Schätzen beschäftigt, die in seinem Schoße ruhen. […] Den Deutschen hingegen, die seit mehreren Jahrhunderten die Mineralogie mit größter Emsigkeit kultivieren, fehlt es nicht an Werken dieser Art. Dieser Geschmack, der sich auf den Vorteilen gründet, die sie [die Deutschen, H.O.D.] daraus ziehen, scheint, weit entfernt davon, sich zu verlangsamen, einem ständigen Wachstum zu unterliegen.“ (Zit.n. Stenger: 145)

Der Kommentar von Stenger zu d’Holbachs basaler Rolle als für die Industrialisierung Frankreichs werbender Fachautor der Enzyklopädie:

176 | H ANS-OTTO DILL „Neben vielen reinen Wörterbuchdefinitionen sind manch andere Artikel, so die über Fossilien und Erdschichten, von allergrößter Wichtigkeit, weil sie Grundfragen der Naturwissenschaften, insbesondere die Geologie betreffen, die in dieser Epoche die erste Herausforderung für die (menschliche und terrestrische) Genesis darstellte.“ (Ebd.)

D’Holbachs Beiträge gingen also über fachliche Einzelwissenschaft hinaus, behandelten ‚Grundfragen‘ der für die französische Aufklärung wichtigen Naturwissenschaften (ebd. 46). Sie fundierten die Diesseitigkeit, den Sensualismus, Empirismus, Materialismus und letztlich die Wissenschaftlichkeit der Enzyklopädie. ad 3) Deutscher, französischer und englischer Enzyklopädismus Das literarische Genre ‚Enzyklopädie‘ fordert zum Vergleich mit der deutschen Aufklärung auf, insofern das erste deutsche Werk dieser Art noch vor der französischen erschien, obgleich dieser Literaturtyp seinen Namen von dem französischen Wörterbuchunternehmen herleitet. Dies lexigrafische Projekt, das darin bestand, das gesamte Wissen der Zeit in alphabetisch geordneten Artikeln aufzulisten, begründete eine neue Diskursart auf der Basis eines umfassenden Wissensbegriffs: Bayles, Pierre Corneilles und Voltaires Wörterbücher waren thematisch begrenzte Vorläufer. Ein Speicher alles vorhandenen Wissens konnte von keinem Fachwissenschaftler erarbeitet werden, sondern nur von einer interdisziplinären Equipe. Die Idee zu einem solchen Werk musste von einem universellen, in Zusammenhängen denkenden Geist kommen. Dieser universelle Kopf war Gottfried Wilhelm Leibniz. Der englische Enzyklopädie-Forscher Terence M. Russell hebt ihn als Vater des Enzyklopädismus hervor: „The eighteenth-century impulse to compile encyclopedic works of reference, the purpose of which was to explain the achievements of mankind to a wide readership is well exemplified in the intellectual aspirations of the polymath and sistematic thinker Wilhelm Gottfried [sic!] Leibniz who conceived a project to extract the quintessence of the best books, to add to them the unwritten observations of the most tried in every profession, and in this manner to build systems of knowledge, based upon experience and demonstration for the further progress of mankind.“ (Russell 1997: XV)

In Leibniz‘ Geburtsstadt Leipzig entstand auch die erste deutsche UniversalEnzyklopädie, ediert vom Buchhändler Johann Heinrich Zedler, 1961 als Reprint in der Akademischen Druck- und Verlagsanstalt Graz nachgedruckt. Der letzte der 67 Bände dieses 1733 begonnenen ‚Monstrums‘ mit 284.000 Artikeln und 276.000 Verweisen erschien 1750, genau in dem Jahr, in dem der erste Band der französischen Enzyklopädie herauskam. Die Autoren waren nicht wie die französischen Enzyklopädisten Fachwissenschaftler, sondern in der Buchstadt in großer Zahl vorhandene schriftstellerische Lohnarbeiter, Leipziger ‚Literaturproletarier‘, also Wissenskompilatoren. Dennoch atmet das Werk in der Programmatik Zedlers wie in den Inhalten der Artikel aufklärerischen Geist. Zedler forderte in dem von Löppenberg bezeichneten absolut „aufklärerischen Programm“ den Leser auf, den Text selbst zu korrigieren, mit den neuesten Erkenntnissen abzugleichen und dabei „seinen eigenen Verstand zu

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gebrauchen“ – eine fast kantische Formulierung –, die auf „Mündigkeit“ des Benutzers setzt und in dieser Interpretationsoffenheit die französische Edition an explizit aufklärerischem Geist übertraf (Löppenberg 2013: 71). Zedler ging es wie den Enzyklopädisten um die „Demythologisierung des Wissens“ (ebd. 75), die Tilgung vom Ballast der für wahr gehaltenen Fantastereien, der „Mythen“, die Horkheimer, Adorno und Barthes meinten. Der geografisch orientierte „Zedler“ tilgte als erstes Werk alle mythologisierenden Angaben über fremde Länder und führte deshalb die „weißen Flecken“ im Kartenwerk ein, die also wirklich und nicht nur metaphorisch andeuteten, dass es über die betreffenden Gegenden kein gesichertes Wissen gab. Der „Zedler“ trennte erstmals rigoros „fact(-ion)“ und „fiction“ (ebd.), Tatsachen und Erdichtungen, Glauben und Wissen. Dennoch war er kein Vorläufer der Enzyklopädie, wie ein Vergleich der Titeleien beider Herausgeber erweist. Zedler rühmt die „geographische Beschreibung des Erd-Kreyses nach allen Monarchien, Kaysertümern, Königreichen, Fürstenthümern, Republiken, freien Herrschaften, Ländern, Städten, See-Häfen, Festungen, Schlössern, Flecken, Ämtern, Gebirgen, Pässen, Wäldern, Meeren, Seen, Inseln, Flüssen und Canälen […] samt allen Gestirnen, Planeten, Thieren, Pflantzen, Metallen, Mineralien, Salzen und Steinen […]“, zum anderen „das Leben und Wirken der Kayser, Könige, ingleichen von allen Staats-, Kriegs-, Rechts-, Polizey- und Haushaltungsgeschäften“. (Zit.n. Dill 2015: 220-221)

Gegenüber dieser mittelalterlich anmutenden Aufzählung von Reichen und Potentaten demonstriert die Enzyklopädie die ökonomischen, technischen, produktions- und berufsbezogenen Künste und Wissenschaften und damit den Unterschied zwischen dem ‚fortgeschrittenen‘ Frankreich und dem ‚zurückgebliebenen‘ Deutschland. Ihr Vorbild war nicht Zedler, sondern das britische Universallexikon von Ephraim A. Chambers von 1728, dessen Titelei frappierend dem Discours préliminaire Diderots und d’Alemberts zur Encyclopédie raisonnée des arts et métiers ähnelt: „Cyclopaedia: or an universal dictionnary of arts and sciences (and) accounts of the things signify by thereby in rhe several arts both liberal and mechanical about rhe Several Sciences, Human and Divine. The Figures, Kinds, Proper Productions, Preparations, and Uses, of Things Natural and Artificial.“ ( Zit.n. Russell 1997: 35)

Die Unterschiede beider Lexika zum „Zedler“ sind gewaltig, insofern sie sich weniger auf Fürsten und Reiche als auf Warenproduktion, Industrie, Handwerke, Wissenschaften und Technik bezogen. Die Enzyklopädie erschien zwischen 1751 und 1780 in 35 Bänden, in Stuttgart erschien ab 1966 die von mir benutzte Faksimile-Gesamtausgabe. An diesem ein modernes Weltbild verbreitenden interdisziplinären Kollektivwerk waren die führenden Köpfe der Natur- und Geisteswissenschaften Frankreichs beteiligt: Buffon, Condillac, Duclos, Marmontel, Montesquieu, Voltaire. D’Alembert forderte im Discours préliminaire die Unterwerfung unter die von der Aufklärung zur höchsten Instanz des Denkens erhobene Vernunft, die Bekämpfung von Vorurteilen und Aberglauben, dieser Hauptfeinde der „philosophes“, und eine Geschichte der menschlichen Erkenntnis auf sensualistisch-empiristischer, naturwissenschaftlicher und stochastischer Grund-

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lage. Er brachte den geschichtsphilosophischen Zentralgedanken der Enzyklopädie, den Fortschritt, zum vollendeten Ausdruck. Ohne Zweifel ist die französische Enzyklopädie die bei weitem bedeutendste der drei Universallexika. Aber in der nachfolgenden Epoche emsiger Spezialisierungen wurde der Enzyklopädismus als genuines Ausdrucksmittel des Wissenschaftsfortschritts für immer außer Kurs gesetzt und hat nie mehr eine solche Bedeutung wie einst in der Aufklärung erreicht, erfüllt aber durchaus unersetzliche Funktionen bei der Verbreitung und Popularisierung von Wissen und Wissenschaft, betreibt also Aufklärung im engeren Sinn. ad 4) Kolonialismus im Spiegel deutscher und französischer Aufklärung Durch seine geografische Orientierung hat der „Zedler“ die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit geradezu gezielt auf die damals blühenden Forschungsreisen, auf Eroberungen und Kolonien gelenkt, die den Expansionismus der europäischen Zivilisation und den Zeitgeist formten. Thomas Raynals (1711-96) und Denis Diderots (1713-84) mehrbändige Histoire philosophique et politique des établissements et du commerce des européens dans les deux Indes (1770) bestimmte mit 30 Auflagen in vielen Sprachen wesentlich das Bild der Europäer von den Völkern der Tropen. Dieses Monument der Kolonisierung der restlichen Welt durch die Europäer, die „Erfinder des Kolonialismus“ (Ronald Daus), ist auch Aufklärung über die kolonialen Eroberungen und Kriege. Schon die verbale Zusammenziehung „beide Indien“ zum gemeinsamen geografischen Namen ist eine begriffliche Vergewaltigung, die es ohne den Kolonialismus nie gegeben hätte: Ost- und Westindien lagen zehntausende von Seemeilen voneinander entfernt, getrennt durch den Riesenkontinent Afrika und zwei gewaltige Meere; ihre Bevölkerungen gehörten ganz verschiedenen Sprachfamilien und Kulturen an; ihre ‚Namen‘ waren imperiale Erfindungen der europäischen Kolonisatoren, onomastischer Kolonialismus, der auf Kolumbus‘ Annahme beruhte, er habe Indien entdeckt. Diderot und Raynal listeten erstmals sämtliche europäischen Kolonien auf: Ostindien, Südamerika, Mexiko, die Karibik und „Guinea“, wobei sie Afrika in seinem Hauptwirtschaftszweig vorführten, als Lieferant von Sklaven für beide Amerika. Raynal und Diderot klärten über die Machenschaften der Europäer, die Korrumpierung und Entzweiung der einheimischen Herrscher untereinander auf. Sie folgten aber allein europäischen Quellen, kolportierten haarsträubende eurozentrische Vorurteile und betrachteten die europäische Expansion als „Aufklärung“ sowohl der Ureinwohner über ihren Aberglauben als auch der Europäer über die ‚Wilden‘. Auf die entscheidende Frage „Hatten die Europäer das Recht, Kolonien in der neuen Welt zu errichten?“ antworten sie nicht unerwartet: „Vernunft [sic] und Billigkeit erlauben Kolonien.“ (Ebd. 161) Die politische und polizeiliche Bevormundung der Eingeborenen war für sie akzeptabel. Doch von ‚Selbstverschuldung‘ der Unmündigkeit im kantischen Sinn konnte bei diesen Opfern des westeuropäischen Kolonialismus keine Rede sein. Der Kolonialismus war eigentlich Verrat an der Aufklärung, weil diese doch das Abwerfen aller Unmündigkeit und den Kampf um die Menschenrechte, der Rechte aller Menschen, auch der ‚Wilden‘, auf ihre Fahnen schrieb. Der Larousse universel, Nachfolger der Encyclopédie, beschreibt im 19. Jahrhundert bereits als Zweck der Kolonisierung „le profit du commerce & de la culture“ entsprechend der

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„convenance de la domination“ der „mère patrie“. Kolonien seien „pour les grandes nations européennes une nécessité de premier ordre“. Die deutschen Aufklärer Campe, Rousseauanischer Pädagoge und Ehrenbürger der französischen Revolution, Herder, Kant und Alexander von Humboldt waren dagegen entschiedene Gegner kolonialistischer, menschenrechts- bzw. aufklärungswidriger Entmündigung der Außereuropäer im Zeitalter des „Ausgangs aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“, die im Falle der Kolonien doch schlicht fremdverschuldet war. Humboldt wiederholte Herders Diktum, dass sich die Europäer vor den übrigen Völkern wegen ihrer Kolonialverbrechen zu entschuldigen und die diesen geraubten Werte zurückzuzahlen hätten, zumal sie dadurch deren Eigenentwicklung bewusst verhindert hätten. Kant denunzierte polemisch scharf das „inhospitale Betragen der gesitteten, vornehmlich Handel treibenden Staaten unseres Weltteils. So geht die Ungerechtigkeit, die sie in dem Besuche fremder Länder und Völker (welches ihnen mit dem Erobern derselben für einerlei gilt) beweisen, bis zum Erschrecken weit. Amerika, die Negerländer, die Gewürzinseln, das Kap etc. waren bei ihrer Entdeckung für sie Länder, die keinem angehörten, denn die Eingeborenen rechneten sie für nichts. In Ostindien (Hindostan) brachten sie unter dem Vorwande bloß beabsichtigter Handelsniederlagen fremde Kriegsvölker hinein, mit ihnen aber Unterdrückung der Eingeborenen, Aufwiegelung der verschiedenen Staaten desselben zu weitausgebreiteten Kriegen, Hungersnot, Aufruhr, Treulosigkeit und wie die Litanei aller Übel, die das menschliche Geschlecht drücken, weiter lauten mag.“ (Kant 1984: 25-26) [Herv.i.O.]

Der kubanische anticastristische Schriftsteller Jesús Díaz würdigte in der Berliner Humboldt-Konferenz im Jahr 2000 Humboldts bedingungslosen Antikolonialismus: „Die frühzeitige Wahrnehmung einer […] [deutschen, H.O.D.] Gesellschaft, die anders als England, Frankreich oder Spanien nicht über ein Kolonialreich verfügte, verlieh Humboldt einen bemerkenswerten Ausgangspunkt für die Beurteilung der außereuropäischen Welt.“ (Díaz 2001:. 74-75) Waren Humboldts wie auch Herders und Kants dezidierte Ablehnung des Kolonialismus nur Ausdruck der Kolonielosigkeit der Deutschen? Sie erfolgte jedenfalls, wie es Humboldts (in den USA verbotenes) Kapitel über die Sklaverei auf Kuba zeigt, aufgrund genauer empirischer Kenntnis und Kritik der Verhältnisse, und ist im ideologischen Kontext der deutschen Aufklärer, dieser kompromisslosen Gegner von Krieg, Sklaverei und ‚Unmündigkeit‘, also kolonialer Bevormundung, zu lesen. Doch mit der Reichsgründung 1871 und der schnellen ökonomischen Entwicklung Deutschlands, die begierig nach Rohstoffen verlangte, schwenkten auch die Deutschen in den Kolonienerwerb voll ein. Genau besehen hatte schon der „Zedler“ Ambitionen artikuliert, die „weißen Flecken“ durch Kolonisierung zu tilgen. Ein Hauptprodukt waren „die Karten über die neu entdeckten und kolonisierten oder noch zu kolonisierenden Gebiete in Übersee“ (ebd. 69) [Herv.d.d.Verf.]. Zedlers Ziel war kein „globaler Wissensaustausch“ bzw. die „Begründung eines kulturellen Austausches mit fremden Völkern“, wie Löppenberg suggeriert–- von gegenseitigem Austausch war keine Spur – sondern eine Wissensmonopolisierung durch die Europäer, denn „Wissen über Gebräuche und Sitten, Religionen, geografische Begebenheiten, Geschichte und Sprache der anderen Kontinente flossen nach Europa und wurden dort von den Gelehrten, Händlern und Missionaren und Beamten aufgenom-

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men und verarbeitet“, deren Zweck die Suche nach „ökonomisch Verwertbarem“ gewesen sei (Löppenberg 2013). ad 5) Infrastrukturen aufklärerischer Kommunikation Lieferten die französischen Aufklärer die umstürzlerischen Ideen, so sorgten deren deutsche Nachbarn für die Infrastruktur, das Netzwerk einer Gegenkultur, ohne welche sich ein so subversives Denkgebäude wie die „lumières“ als Vorausabteilung einer neuen Zivilisation niemals hätte durchsetzen können. Hauptmerkmale der deutschen Beteiligung an der Aufklärung waren neben ihren Inhalten ihre organisatorische und kommunikative Rolle in der aufklärerischen Bewegung. Hegel schreibt von d’Holbach, „einem Deutschen, welcher der Mittelpunkt aller jener Philosophen war. Montesquieu, Alembert, Rousseau waren eine Zeitlang in seinem Zirkel“ (Hegel 1971: 449). D’Holbach war der geniale Organisator der 28 Enzyklopädisten, die er bei Abendessen auf dem Landgut Grandval seiner Maitresse regelrecht schulte. Den zwischenpersönlichen Zusammenhalt der Pariser Aufklärer untereinander – bis zum Arrangieren von Versöhnungsszenen zwischen verfeindeten Enzyklopädisten – sicherte hingegen der aus Regensburg gebürtige, nach der Revolution im Gothaer Exil verstorbene Melchior Grimm. Mit seiner Correspondance littéraire unterhielt er auch die Verbindung zum europäischen Ausland, besonders zu den Sympathisanten unter den gekrönten Häuptern. Die Rolle aufgeklärter Monarchen darf in diesem Zusammenhang nicht unterschätzt werden. Da die meisten Länder Monarchien waren, ist es nicht verwunderlich, dass Friedrich II., Katharina die Große, Maria Theresia, Joseph II., der spanische Bourbone Karl III. und, während der Régence, Philipp II., Herzog von Orléans, die Aufklärer beschützten und unterstützten oder doch unbehelligt ließen. Das Wettern mancher antiroyalistischen Historiker und Literaten kann nicht in Abrede stellen, dass ohne sie die Aufklärung gescheitert, vielleicht nicht einmal entstanden wäre. Friedrich II. blieb der Toleranz für Andersdenkende stets mit Wort und Tat verbunden. Er gewährte Rousseau politisches Asyl, im vollen Wissen um dessen gegen ihn geschürten Hass wegen seiner Kriegstreiberei; Rousseau nahm das Angebot an, ohne seine grundsätzliche Kritik am König zurückzunehmen. In Friedrichs Briefroman Reisebericht Phihihus, des geheimen Abgesandten des Kaisers von China in Europa berichtet ein aus Portugal vor einem Autodafé geflohener Jude, in dessen Rolle gleichsam Friedrich II. schlüpft, einem reisenden Chinesen über die Schrecken der Inquisition. Postmodernes Negieren der Aufklärung mag für die Philosophie und Literatur seine Berechtigung haben, aber als lebensweltlich-politische Bewegung, die die Toleranz, den Friedensgedanken, die Menschen- und Bürgerrechte und die Demokratie in den öffentlichen Diskurs einbrachte, sind die „lumières“ nach wie vor eine Herausforderung für die Politik. Von aktuellem Belang ist auch die Begründung der Tradition deutsch-französischer Zusammenarbeit durch die Aufklärung, wie sie nicht einmal zu Zeiten von Nicolaus von Cues, Albertus Magnus, Agrippa von Nettesheim oder Gottfried Wilhelm Leibniz bestanden hat.

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Autorität und Kritik des französischen Klassiker-Modells Zwei Voraussetzungen der ‚deutschen Klassik‘ D ANIEL F ULDA

I

K LASSIK UND K LASSIKER IM DEUTSCH - FRANZÖSISCHEN V ERGLEICH

Verglichen mit Frankreich, sind ‚Klassiker‘ in Deutschland eine eher schwache Institution. Das gilt für den öffentlichen Umgang mit Literatur und anderen herausragenden schriftsprachlichen Leistungen ebenso wie für die Rolle des Begriffs in der Literaturwissenschaft. 1 Eine Sammelausgabe klassischer Autoren, die den Rang der in sie Aufgenommenen durch editorische Sorgfalt ebenso wie durch gediegene Aufmachung beglaubigt und nicht nur für Bibliotheken, sondern auch für Literaturliebhaber bestimmt ist, gibt es in der Bundesrepublik erst seit 1981. Der Deutsche Klassiker Verlag wurde damals als Tochter des Suhrkamp-Verlags gegründet; bis heute sind 190 Bände erschienen. Das sind weniger, als geplant war, eine ganze Reihe angekündigter Bände kam nicht zustande, während allein 40 auf die Goethe-Ausgabe entfallen. Mit der „Bibliothèque de la Pléiade“, ihrem ein halbes Jahrhundert älteren französischen Vorbild, kann sich die „Bibliothek deutscher Klassiker“ nicht messen: In der Pléiade, die nicht ausschließlich, aber zu 80% französische Autoren enthält, ist für den 15. Oktober 2015 der 606. Band angekündigt (das Romanwerk von Georges Bernanos). Ihre Bände sind fast immer deutlich umfangreicher und hochwertiger ausgestattet (Lammleder!); gleichwohl sind sie preiswerter und haben gewiss höhere Auflagen.

1

Mein Beitrag geht zurück auf einen Vortrag in französischer Sprache, den ich am 31.10.2014 in Paris bei der zweiten Rencontre Sorbonne-Halle gehalten habe, die dem Thema Comment devient-on classique? gewidmet war. Für die fruchtbare Diskussion danke ich den französischen ebenso wie den deutschen Kollegen. Behandelt wird ausschließlich der auf bedeutende und vor allem literarische Autoren bezogene Klassikerbegriff. Nicht einbezogen wird der Klassiker-Diskurs in anderen Künsten – vor allem die Musik wäre hier zu berücksichtigen – oder in der Alltagssprache, mit metaphorischer Anwendung des Klassiker-Begriffs auf Speisen, Sportveranstaltungen und dergleichen.

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Vermutlich ist das Gefälle zwischen den beiden Reihen symptomatisch für die jeweilige Rolle der Institution Klassiker in Deutschland bzw. Frankreich: Literarische Klassiker sind hierzulande vornehmlich Autoren des späteren 18. und des 19. Jahrhunderts, die eigentlich nicht mehr gelesen werden, höchstens in der Schule oder Universität. Der jüngste Autor einer in der Bibliothek deutscher Klassiker edierten Ganzschrift ist Gottfried Keller, geboren 1819! Zwar suggeriert der Begriff Klassiker auch im Deutschen langfristige Wertigkeit. Etwas Altes, das ‚klassisch‘ genannt wird, wird dadurch als nach wie vor lohnender Gegenstand der Auseinandersetzung gekennzeichnet. In unserer Zeit noch ‚gegenwärtig‘, ‚lebendig‘ oder ‚produktiv‘ sind die Klassiker der deutschen Reihe jedoch nicht: Autoren des 20. Jahrhunderts oder gar noch lebende Autoren sind, anders als in der Bibliothèque de la Pléiade, ohnehin nicht darunter, 2 und es wird keine Kontinuität zwischen den Autoren vergangener Jahrhunderte und denen der Gegenwart erkennbar, erst recht kein Traditionszusammenhang, der Wirkung hätte auf das gegenwärtige literarische Leben oder Reden über Literatur. Man geht wohl nicht zu weit, wenn man schließt, dass das KlassikerEtikett des Deutschen Klassiker Verlags mehr dem Marketing dient, als auf eine für die Beschäftigung mit Literatur, sei es alter oder neuer, relevante Kategorie zu verweisen. Zur mäßigen Strahlkraft des Klassiker-Begriffs in der deutschen Öffentlichkeit passt, dass in der hiesigen Literaturwissenschaft kaum mit dem Begriff gearbeitet wird. Wichtiger ist der Epochenbegriff ‚Klassik‘, der im maßgeblichen Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft als „Höhepunkt[] in der Geschichte der Literatur“ expliziert wird (Thomé 2000: 266). Selten ist allerdings von ‚deutscher Klassik‘ die Rede; 3 ‚französische Klassik‘ geht der deutschen Literaturwissenschaft erheblich leichter von den Lippen (vgl. Nies/Stierle 1985, Galle 1988, Grimm 2005), obwohl sich dies mit dem Begriffsverständnis von ‚klassisch‘ in der damit bezeichneten Epoche (der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts bzw. der Regierungszeit Ludwigs XIV.) nicht vereinbaren lässt, war es damals doch gänzlich undenkbar, Gegenwartsliteratur als ‚klassisch‘ zu bezeichnen (vgl. Stenzel 2000: 888). Wie im Folgenden gezeigt werden soll, wäre dieser Einwand für das späte 18. Jahrhundert, die Zeit der (selten so genannten) ‚deutschen Klassik‘, nicht zu erheben. Trotzdem spricht man in Bezug auf die eigene Literaturgeschichte in Deutschland seit längerem fast nur noch von der ‚Weimarer Klassik‘, um nationalistische Anklänge zu vermeiden. Der kleinen Residenzstadt Weimar lässt sich nicht bestreiten, dass sie den bereits zu Lebzeiten anerkannten Klassiker Goethe beheimatete und zusammen mit der benachbarten Universitätsstadt Jena den Schauplatz der deutschen Klassizitätsanstrengungen um 1800 bildete. Da Weimar erst dadurch nationale Ausstrah2

3

Das galt auch für die ebenfalls Bibliothek Deutscher Klassiker benannte Reihe, die zur DDR-Zeit im Aufbau-Verlag erschien. Der jüngste hier aufgenommene Autor ist Ludwig Anzengruber (1839-1889). Die weniger aufwendig edierten, relativ schmalen Bände dieser Reihe mit einer Gesamtauflage von mehr als 7 Millionen Exemplaren bei gut 150 Bänden hatten vornehmlich den Zweck, die ‚Klassiker‘ an weniger elitäre Leserschichten zu vermitteln. Ausdrücklich gegen die germanistische Konvention spricht Conrad Wiedemann (1993) von ‚deutscher Klassik‘. Vor 1945 war ‚deutsche Klassik‘ dagegen der gängige Epochenbegriff, vgl. Strich 1922, Kommerell 1928.

K LASSIKER -M ODELL | 185

lungskraft gewann und ansonsten keine herausgehobene Stellung hatte, insbesondere keine politische, fällt die ‚Hochstufung‘ der Weimarer Klassik zur ‚Deutschen Klassik‘ den meisten Germanisten schwer. Die Gründe für die Nachrangigkeit des ‚Klassikers‘ in der heutigen deutschen Literaturwissenschaft (und auch Öffentlichkeit) können hier nur angedeutet werden: In der deutschen Tradition gibt es kaum die Institution des von der ‚guten Gesellschaft‘ anerkannten vorbildlichen Schriftstellers, an dem sich zu orientieren ein aussichtsreicher Weg wäre, um selbst als Schriftsteller zu reüssieren. 4 Das Fehlen eines sozial und kulturell gleichermaßen maßgeblichen Zentrums, wie es in Frankreich Versailles und Paris darstellten bzw. darstellen, ist dafür ebenso verantwortlich wie das Misstrauen gegen poetologische Normen, das in Deutschland bereits um 1770 mit dem Sturm und Drang einsetzt und durch die Romantik noch verstärkt wurde. Diese Gründe gehören seit langem zur spezifisch deutschen Situation; nach 1945 hinzugekommen sind antiautoritäre Impulse und ein starkes Misstrauen gegen alles Nationale, auf das die Kategorie des Klassikers seit dem 18. Jahrhundert bezogen war. Klassikerverehrung wird in Deutschland seit jeher von Spott und Kritik begleitet. Dagegen gibt es in Frankreich seit dem 19. Jahrhundert eine durch die Schule institutionalisierte affirmative – und, wie Dorothee Röseberg betont, relativ ungebrochene – Beschäftigung mit den Klassikern. Literarische Texte anspruchsvoll erklären zu können (explication de texte) gehört dort nach wie vor zur höheren Bildung, besonders für die Elite in allen Bereichen der Gesellschaft (vgl. Röseberg 2012: 109-112). Beklagen möchte ich nur eines: ein Forschungsdefizit, das mit der deutschen Zurückhaltung gegenüber dem ‚Klassiker‘ einhergeht. Was Klassiker auszeichnet und wie man zum Klassiker wird, interessiert die deutsche Literaturwissenschaft wenig. Die Frage danach scheint sich auch deshalb zu erübrigen, weil der Begriff vorwiegend vom Epochenbegriff Klassik abgeleitet wird: Klassiker sind danach die Repräsentanten der jeweiligen nationalen Klassik, im deutschen Fall: der Weimarer Klassik. So definieren es jedenfalls die germanistischen Begriffslexika. 5 Historisch allerdings verhielt es sich umgekehrt: Im 18. Jahrhundert hat sich zuerst ein Verlangen nach klassischen Autoren deutscher Sprache etabliert und erst danach die Wahrnehmung eines klassischen Zeitalters oder einer Klassik. Historisch geht das Konzept des ‚deutschen Klassikers‘ der deutschen (oder Weimarer) Klassik voraus. Und was vielleicht noch wichtiger ist: Der Eindruck, die deutsche Literatur sei am Ende des 18. Jahrhunderts in ihr klassisches Zeitalter eingetreten, konnte sich erst auf der Grundlage einer viele Jahrzehnte älteren Erwartung klassischer deutscher Autoren einstellen und in der Folge verfestigen – einer Erwartung, die dadurch befeuert wurde, dass man sich in einem Wettstreit mit den Dichtern anderer Nationen und besonders mit den Franzosen sah. Diese Erwartung wurde fast das ganze 18. Jahrhundert hinweg gehegt, lange Zeit jedoch immer wieder enttäuscht. Goethe war der erste Autor, der sie nicht nur dem ephemeren Urteil nach, sondern dauerhaft erfüllte (vgl. Willems 2003). An ihm kristallisierte sich dann die Konstatierung eines ganzen ‚klassischen Zeitalters der deutschen Literatur‘. 4 5

Als Reflexion dieser Absenz vgl. Hofmannsthal 2000 [1927]. Z[abka] 2007: 386: „Klassiker. 1. Künstler, der einer als ‚Klassik‘ bezeichneten Epoche oder Richtung zugerechnet wird“, Rosenberg 2000: 274: „Verfasser von Texten, die einer literarischen Klassik zugerechnet werden; […]“.

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Diesen für den Verlauf ebenso wie für den Diskurs der deutschen Literatur- und Kulturgeschichte zentralen Vorgang versuche ich in vier Schritten knapp nachzuzeichnen. Mein Fazit wird am Ende lauten, dass der deutsche Klassik(er)diskurs genuin aufklärerisch disponiert war. Die Kanonizität der französischen Spitzenautoren aus der Zeit Ludwigs XIV. fungierte dabei zunächst als Muster, das im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts jedoch als überholt und untauglich bestritten wurde und durch eine der eigenen Zeit und der eigenen Kultur angemessenere Klassizität ersetzt werden sollte. Auf die französische Begriffsentwicklung bezogen, wäre die These, dass das Verständnis des ‚Klassischen‘ wesentlich von Intentionen der Aufklärung geprägt wurde, keineswegs originell. Martin Fontius (1971) hat vor Jahren schon die Prägung des französischen Verständnisses von „classique“ durch das 18. Jahrhundert nachgewiesen: Damals wandelte sich die Wortbedeutung von ‚antiker Schulautor‘ zu ‚Spitzenautor einer Nation, nicht zuletzt der eigenen‘. In Frankreich handelt es sich allerdings um eine der nationalen Blütezeit nachfolgende und damit auf bereits vorliegende Werke bezogene Begriffsentwicklung. In Deutschland verlief die semantische Entwicklung zwar in beträchtlichen Teilen parallel mit der französischen. Ihre Besonderheit ist jedoch, dass das eigene klassische Zeitalter in Deutschland dem Begriff nicht vorangeht, sondern ihn voraussetzt. Wenn im 18. Jahrhundert in Deutschland von (eigenen) klassischen Autoren oder Zeitaltern die Rede war, handelte es sich um einen hoch projektiven Diskurs.

II D AS SPÄTE 17. UND 18. J AHRHUNDERT : I N E RWARTUNG DEUTSCHER K LASSIKER Den motivierenden Kontext der deutschen Klassiker-Erwartung bildet der Vergleich der eigenen Literatur mit derjenigen anderer Nationen, der seit dem späten 17. Jahrhundert in den Poetiken üblich wird. Dabei wendet sich der Blick vor allem nach Frankreich, dessen Literatur als Beleg dafür wahrgenommen wird, dass nicht bloß die alten Griechen und Römer vorbildliche Werke hervorzubringen vermochten, sondern die neuzeitlichen Nationen prinzipiell in der Lage sind, ihnen an die Seite zu treten. Umstritten ist, ob auch die deutsche Literatur schon so weit ist. Der Konrektor des Halle’schen Gymnasiums und Poetiker Albrecht Christian Rotth neigt 1687 dazu, die Frage zu bejahen: „Insonderheit aber ist durch die glückselige Feder unsers Opitzens / Flemmings / Buchners / Schottels / Rists / und letzlich des berühmten Hoffmanns und Caspars […] die deutsche Dichter-Kunst so weit gebracht / daß der Griechen und Lateiner Geschickligkeit sich kaum wieder uns rühmen würde / wenn sie die anmuthigen Geister etlicher noch ietzt lebenden Dichter schauen solten.“ (Rotth 1687: A4r, Vorrede)

Zehn Jahre später warnt Benjamin Neukirch hingegen vor der Selbstüberschätzung, „daß es um die deutsche Poesie sehr wohl beschaffen / und wenig zu ihrer vollkommenheit mehr übrig wäre“. Weder Martin Opitz (1597-1639) noch die späteren schlesischen Autoren Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau (1616-1679) und

K LASSIKER -M ODELL | 187

Daniel Casper von Lohenstein (1635-1683) hätten „die Poesie so hoch erhoben / daß ih[nen] alle die andern nur folgen müssen“: „wir haben noch einen grossen berg vor uns / und werden noch lange klettern müssen / ehe wir auff den gipfel kommen / auff welchem von denen Griechen Homerus und Sophocles, von denen Römern Horatius und Maro gesessen.“ (Neukirch 1961 [1697]: 17, 9, 6) Obschon sich um 1700 und fast das ganze 18. Jahrhundert über kein Konsens etabliert, dass dieser oder jene deutsche Autor unter die Klassiker gerechnet werden kann und also auch die Deutschen ihre Klassiker haben, bleibt die Frage auf der Tagesordnung. Immer wieder neue Kandidaten für den Klassikerstatus werden genannt – nach den Schlesiern ist es der heute sogar den Germanisten kaum bekannte Freiherr von Canitz (1654-1699), ein brandenburgischer Diplomat, der sich eng an Boileau anlehnte. Danach unternimmt es der Leipziger ‚Literaturpapst‘ Gottsched (17001766), sich selbst als klassisch-vorbildlichen Autor zu etablieren. Jedoch dringen die versuchten Erhebungen zum Klassiker nie ganz durch und bleiben ephemer. Gottfried Willems hat die daraus folgende immer neue Verschiebung und Erneuerung der deutschen Klassikererwartung treffend als „poetologischen Irredentismus“ bezeichnet (Willems 2003: 109). Weitere Nahrung erfuhr die deutsche Klassikererwartung durch Klopstock (1724-1803). In seinem Auftreten erkannte Bodmer 1748 ein Zeichen, dass „uns hienächst ein golden dichterisches Alter“ blüht. 6 In dieser Formulierung deutet sich zugleich an, dass es eine Steigerungsform des klassischen Autors, nämlich das klassische Zeitalter gibt (wie zitiert meist als „goldnes Alter“ bezeichnet). 7 Als Erwartungshorizont, wenn auch noch nicht als Begriff, finden wir das Epochenkonzept ‚Klassik‘ bereits Mitte des 18. Jahrhunderts. Das bekannteste Dokument der deutschen Klassiker- und Klassik-Erwartung des 18. Jahrhunderts ist Friedrichs II. Traktat De la littérature allemande von 1780. Bekannt ist allerdings kaum mehr als die sehr kritische, an Goethes Götz von Berlichingen exemplifizierte Beurteilung der deutschen Literatur durch den König, der nur wenige Autoren von seinem Verdikt ausnimmt, kurioserweise u.a. den eben erwähnten, 81 Jahre zuvor verstorbenen Canitz. 8 Weniger bekannt ist der diskursive Kontext, in dem Friedrich seine Einschätzung abgibt, nämlich dass es sich um einen Beitrag zur Debatte über die klassischen Zeitalter der alten wie der neuen Nationen handelt, mit besonderer Berücksichtigung der Frage, warum die Blüte der deutschen Literatur so lange auf sich warten lässt. Wenig bekannt ist auch die optimistische Einschätzung, mit der Friedrich schließt: „Toutefois ceux qui viennent les derniers, surpassent quelquefois leurs prédécesseurs; cela pourra nous arriver plus promptement qu’on ne le croit, si les souverains [gemeint sind die souverains allemands, D.F.] prennent du goût pour les lettres, s’ils encouragent ceux qui s’y appliquent, en louant et récompensant ceux qui ont le mieux réussi: que nous ayons des Médi6 7 8

Zit.n. Wieland 2003 [1782]: 627 [Herv.i.O.]; Hinweis auf die Stelle bei Willems 2003: 109. Ein mit Klopstock einsetzendes „goldenes Zeitalter“ diagnostiziert auch [Meister] 1777: 28. Vgl. [Frederic II, roi de Prusse] 1780: 47/9. Meist übersehen wird, dass Friedrich gar nicht über die (deutsche) Literatur im modernen Verständnis des Begriffs (Belletristik) urteilt, sondern über die gesamte deutschsprachige Schriftkultur, wie es dem seinerzeit noch geläufigen, aber veraltenden alteuropäischen Literaturbegriff entsprach, vgl. Fulda 2014a.

188 | D ANIEL FULDA cis, et nous verrons éclore des génies. Des Augustes feront des Virgiles. Nous aurons nos auteurs classiques; chacun, pour en profiter, voudra les lire; nos voisins apprendront l’allemand; les cours le parleront avec délice; et il pourra arriver que notre langue polie et perfectionnée s’étende, en faveur de nos bons écrivains, d’un bout de l’Europe à l’autre. Ces beaux jours de notre littérature ne sont pas encore venus; mais ils s’approchent. Je vous les annonce, ils vont paraître […].“ ([Frédéric II, roi de Prusse] 1780: 79)

In Friedrichs Schrift ist dieser Optimismus freilich schlecht begründet, hat der Autor zuvor doch klarsichtig dargelegt, dass eine Literaturblüte nach französisch-ludovizianischem Vorbild vor dem strukturellen Hindernis steht, dass die deutschen Höfe nichts zur Verfeinerung der deutschen Sprache beigetragen haben. Erklären lässt sich der Optimismus von Friedrichs Schlusssätzen nur von dem Diskurs her, dem sein Traktat zuzurechnen ist, denn dort gehören hohe Zukunftserwartungen ebenso dazu wie das Ungenügen am Erreichten. Zwar viel kenntnisreicher und daher differenzierter, aber in den Grundzügen identisch äußerten sich Sulzer 1771 und Wieland noch 1784. Sulzers Urteil nach haben „bis itzt noch so wenig deutsche Schriftsteller sich hervorgethan […], von denen man vermuthen kann, dass sie, sowol bey der deutschen Nachwelt, als auch bey andern Nationen als claßische Schriftsteller werden angesehen werden.“ (Sulzer 1771: 208) Ähnlich Wieland: „Unsre Litteratur hat seit 40 Jahren unläugbar, in Vergleichung mit dem was sie vor dieser Zeit war, große Schritte vorwärts gemacht: Aber, wer kann sagen, daß sie den Punct schon erreicht habe, wo sie sich der Französischen entgegen stellen könnte? Wo sind unsre Boileau, unsre Moliere, unsre Corneille, unsre Racinen u.s.w.“ (Wieland 2003 [1782]: 629).

Hier wird zugleich noch einmal deutlich, dass es ein Jahrhundert lang französische Autoren waren, an denen alle deutschen Kandidaten für den Klassikerstatus gemessen wurden.

III H ERDER : ABKEHR VOM K LASSIKERMODELL

FRANZÖSISCHEN

Die Intensität der deutschen Klassiker-Erwartung vor allem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts belegt auch ein Abschnitt in Herders Aufsatzsammlung Über die neuere deutsche Literatur in der Umarbeitung von 1768. „Überall höre ich klassisch nennen“, konstatiert Herder, aber er ist unzufrieden mit dieser Konjunktur (Herder 1985: 595). Zum einen weil dieses „Ehrenwort“ zu oft und ohne reflektierte Kriterien verwendet werde, zum anderen weil es mit einer einseitig akademischen Auffassung von Sprach- und Dichtkunst verbunden sei (ebd.). Das Verlangen seiner Zeitgenossen nach klassischen Werken und Autoren schaue zu sehr auf die Einhaltung von Regeln und die Nachahmung ausländischer Vorbilder. Einige Jahre später, nach seiner Frankreich-Reise, hat Herder seine Kritik noch verschärft. Sarkastisch expliziert er „unsre klassische“ als „sylbenzählende Litteratur“ (Herder 1993 [1777]: 557). Als „klassisch gebildet“ gelte, wer „französische Lieder singen, wie französische Menuets tanzen, oder gar allesamt Hexameter und

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horazische Oden schreiben“ kann (ebd. 558). Motiviert ist diese Kritik durch ein grundsätzlich anderes Verständnis von literarischer Blüte(zeit): Diese erwartet Herder nicht vom kultivierten Sprachgebrauch und Kunstinteresse einer kleinen Elite, die sich am Hof des Herrschers konzentriert, und erst recht nicht von der Propagierung der dort festgesetzten poetologischen Normen im höheren Schulwesen oder durch Rezensenten. Entscheidend sei vielmehr der Volksbezug, womit Herder die Aufnahme von Impulsen der ‚Volkspoesie‘ meint und die Adressierung eines nichthöfischen und außerakademischen Publikums: „Und doch bleibts immer und ewig, daß der Teil von Litteratur, der sich aufs Volk beziehet, volksmäßig sein muß, oder er ist klassische Luftblase. Doch bleibts immer und ewig, daß wenn wir kein Volk haben, wir kein Publikum, keine Nation, keine Sprache und Dichtkunst haben, die unser sei, die in uns lebe und wirke. Da schreiben wir denn nun ewig für Stubengelehrte und ekle Rezensenten, aus deren Munde und Magen wirs denn zurück empfangen, machen Romanzen, Oden, Heldengedichte, Kirchen- und Küchenlieder, wie sie niemand versteht, niemand will, niemand fühlet. Unsre klassische Litteratur ist Paradiesvogel, so bunt, so artig, ganz Flug, ganz Höhe und – ohne Fuß auf die deutsche Erde.“ (Ebd. 557)

Herders Berufung aufs Volk war neu im Klassikerdiskurs und kann irritieren, weil Volkstümlichkeit nicht recht zu formaler Vollendung als herkömmlichem Klassizitätskritierium passt – der scriptor classicus war ursprünglich (bei Gellius, Noctes Atticae XIX 8,15) der wegen vorbildlicher Sprachbehandlung in der Schule gelesene Autor (vgl. Curtius 1954: 255). Im Fremdwort ‚Nation‘ steckend, ist das Volk gleichwohl von Beginn an präsent im Klassikerdiskurs des 18. Jahrhunderts: In der eigenen Sprache klassische Schriftsteller zu haben heißt, in der „Querelle des nations“ mithalten zu können (vgl. Fohrmann 1989: 74-83). Bis zu Herder galt das als Aufgabe der Eliten und wurde als von oben nach unten durchzusetzende Kultivierung gedacht; bezeichnenderweise beziehen sich die Adjektive „classicus“ und „classique“ lange Zeit vornehmlich auf die im Schulunterricht behandelten Autoren (vgl. Fontius 1971: 99-103, 112). Friedrich II. propagierte dieses Modell noch 1780, was ihm aber heftige Kritik der selbstbewusst gewordenen bürgerlichen Öffentlichkeit eintrug. Wenn Herder den Spieß umdreht und auf Impulse ‚von unten‘ setzt, gibt er also durchaus einem für die kommenden Jahre kennzeichnenden Ansatzwechsel Ausdruck. Mit seiner vagen Volksemphase war sein Ansatz allerdings nur partiell zukunftsweisend; Herder selbst relativierte seine Hoffnung auf eine wiederbelebte Volkspoesie bald (vgl. Grimm 1994). Die wenige Jahre später einsetzende, rasch allgemein anerkannte Blütezeit der deutschen Literatur in Weimar verdankte sich nicht Impulsen, die sich dem Volk zurechnen ließen, nicht einmal im Sinne eines besonders engen Verhältnisses Goethes oder Schillers zum bürgerlichen Lesepublikum; Schiller schrieb vielmehr an Goethe: „Das einzige Verhältniß gegen das Publicum, das einen nicht reuen kann, ist der Krieg“ (Brief an Goethe vom 25.06.1799, Schiller 1961: 64). Maßgeblich für den weiteren Verlauf des deutschen Klassikerdiskurses wurde jedoch Herders Bruch mit dem französischen Modell der Einheit von Hof, Künstlern und Publikum und ebenso der Einheit von poetologischen und sozialkommunikativen Normen. ‚Bruch‘ bedeutet dabei nicht, dass Herder jegliche Klassizitätsambition aufgegeben hätte, im Gegenteil; diese wird aber von der Beachtung von „Gesetz und

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Regel“ gelöst: „Lasset uns also nur idiotistische Schriftsteller, eigentümlich für unser Volk, für Materie und Sprache sein: ob wir klassisch sind, mag die Nachwelt ausmachen!“ (Herder 1985: 597)

IV D IE ALTERNATIVEN K LASSIKER -M ODELLE G OETHES UND S CHILLERS Das Klassikerverständnis Goethes und Schillers formuliert Herders Unabhängigkeitserklärung gegenüber älteren Klassiken und deren Normen weiter aus, ohne den Bezug auf das tradierte Deutungsmuster historisch gestaffelter nationalliterarischer Blütezeiten ganz zu kappen. So in Schillers Gedicht Die deutsche Muse von 1800: Kein Augustisch Alter blühte, Keines Medizäers Güte Lächelte der deutschen Kunst, Sie ward nicht gepflegt vom Ruhme, Sie entfaltete die Blume Nicht am Strahl der Fürstengunst. Von dem größten deutschen Sohne, Von des großen Friedrichs Throne Ging sie schutzlos, ungeehrt. Rühmend darfs der Deutsche sagen, Höher darf das Herz ihm schlagen, Selbst erschuf er sich den Wert. Darum steigt in höherm Bogen, Darum strömt in vollern Wogen Deutscher Barden Hochgesang; Und in eig’ner Fülle schwellend, Und aus Herzens Tiefe quellend, Spottet er der Regeln Zwang. (Schiller 1996: 201)

Der Vergleich mit Augustus und den Medici als Schutzherren der ‚klassischen‘ lateinischen und italienischen Poesie impliziert nichts Geringeres als einen Klassizitätsanspruch für die deutsche Literatur der eigenen Zeit. Zwar haben sich Schiller und Goethe nie selbst als Klassiker bezeichnet, wie in der Germanistik gerne betont wird (vgl. Baeumer 1971, Alt 2000: 33). Die Ambition auf den Status eines klassischen Autors – Schiller bekundet bereits 1788 die Hoffnung, „ein vertrauter Umgang mit den Alten“ möge ihm „Classicität geben“ 9 – und sogar auf Eröffnung eines klassi-

9

Schiller: Brief an Körner vom 20.08.1788 (1979: 97). In der Germanistik dient diese Stelle meist als Beleg dafür, dass man die Weimarer Klassik von ihrem Antikebezug her definieren sollte und nicht den mit den Begriffen Klassik bzw. Klassizität verbundenen Rangansprüchen. Jenes lässt sich jedoch schwerlich gegen dieses ausspielen, da sich die Autoren

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schen Zeitalters war ihnen aber durchaus geläufig und integraler Bestandteil ihres auktorialen Selbstverständnisses. Berücksichtigt man, dass die Erwartung ‚deutscher Klassiker‘ seit dem späten 17. Jahrhundert ein immer wichtiger werdendes Leitmotiv des deutschen literarischen Diskurses bildete, so kann diese Ambition kaum überraschen. Angesichts dieses Vorlaufs wäre es vielmehr erstaunlich, wenn sich die Spitzenautoren um 1800 keine Gedanken darüber gemacht hätten, ob und, wenn ja, in welchem Sinne die Literatur ihrer Zeit als klassisch qualifiziert werden könnte und was sie selbst dazu beizutragen vermögen. Goethes Stellungnahme zu dieser Frage ist ein unter Germanisten bekannter Text, der leider meist in verkürzender Weise zitiert wird, nämlich mit der Mahnung, man solle „die Ausdrücke: klassischer Autor, klassisches Werk höchst selten gebrauchen“, und mit Goethes Bekenntnis, er wolle „die Umwälzungen nicht wünschen, die in Deutschland klassische Werke vorbereiten könnten“ (1988 [1795]: 240-241). Gemeint sind politische „Umwälzungen“, und zwar nicht nur analog zur Französischen Revolution. Goethe wünschte sich keine Einheit von Nation und Staat mit einem gesellschaftlichen und zugleich politischen Zentrum, wo die Autoren in so engem Kontakt mit einem kultivierten Publikum stehen, dass ihre ebenso kultivierten Werke Denken und Wollen der Nation ausdrücken. Denn Goethe konnte sich weder für eine das ganze deutsche Sprachgebiet umfassende Monarchie noch für eine solche Republik erwärmen. Das aber hieß zugleich: Er distanzierte sich vom französischen, unter Ludwig XIV. realisierten Modell eines klassischen Zeitalters. Vorschnell wäre es hingegen, aus Goethes Distanzierung von dem im 18. Jahrhunderts üblicherweise vorausgesetzten Klassikmodell zu folgern, er interessiere sich prinzipiell nicht für die mit der Qualifizierung als ‚klassisch‘ verbundene Wertzuschreibung oder er schließe die Möglichkeit eines „klassischen Nationalautors“ (ebd. 240) aus. 10 Vielmehr präsentiert er im letzten Drittel seines Aufsatzes ein alternatives Bild davon, wie die Literatur einer Nation ihre Qualität steigern kann: Nicht durch einen fürstlichen Mäzen, sondern durch einen lebhaften Buch- und Zeitschriftenmarkt, auf dem man sich gegenseitig studiert, kritisiert, Vorbild ist und zu übertreffen sucht. Einen zentralen Hof macht, so Goethe, diese „unsichtbare Schule“ entbehrlich (ebd. 243). Indem er den vorletzten Absatz seines Aufsatzes mit dem emphatischen Ausruf enden lässt: „der Tag ist angebrochen, und wir werden die Läden nicht wieder zumachen“, bezieht er sich vermutlich direkt auf den 15 Jahre älteren Traktat Friedrichs II. und auf dessen prophetische Attitüde („ces beaux jours de notre littérature ne sont pas encore venus; mais ils s’approchent. Je vous les annonce, ils vont paraître“). Die Metapher vom bereits angebrochenen Tag wendet sich doppelt gegen den preußischen König: unmittelbar indem die von Friedrich an die Zukunft gerichtete Erwartung als erfüllt dargestellt wird und mittelbar gegen dessen hofzentrierte Auffassung eben deshalb an der antiken Dichtung zu schulen versuchten, um (mindestens) denselben Rang beanspruchen zu können. Das klassizistische Interesse an der Antike war nicht unabhängig von der Ambition auf einen klassischen Rang als Autor. 10 Letzteren Schluss zieht Barner 1993: 62. Ebenso Rosenberg 2000: 275: Goethe „hatte die Möglichkeit eines ‚klassischen Nationalautors‘ in Deutschland für seine Zeit ausgeschlossen (‚Literarischer Sansculottismus‘, 1795), weil er die ihm dafür notwendig erscheinenden objektiven Voraussetzungen (geglückte Nationbildung, hoher Stand der Kultur, bedeutende Vorleistungen) nicht gegeben sah.“ Sowie Stenzel 2000: 889.

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kultureller Blütezeiten. Was Friedrich erwartete, waren aber nichts anderes als „klassische Nationalautoren“! Als Beispiel nennt Goethe Christoph Martin Wieland (1733-1813). Indem er dabei besonders auf dessen wiederholte Revision und Verbesserung seiner Publikationen abhebt, wird klar, dass die Formulierung „unsichtbare Schule“ auf den deutschen Literaturbetrieb der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zielt. In diesem Betrieb und auf dem Literaturmarkt war Goethe bekanntlich – wovon er in seinem Aufsatz aber nicht spricht – selbst mit viel Geschäftssinn engagiert – und zunehmend in einer Weise, die von der Germanistik als eine „Strategie der Etablierung als Klassiker“ charakterisiert worden ist (Nutz 1994: 611). An die Kritik am höfischen Klassikmodell, die Herder formuliert hatte und Schiller u. a. im zitierten Gedicht aufgriff, schließt sich Goethe nicht nur an, sondern er verschafft ihr zusätzliche Überzeugungskraft, indem er auf Modi des Klassischwerdens verweist, die den soziokulturellen Bedingungen der eigenen Zeit entsprechen, insbesondere ihrer buchmarktgestützten Öffentlichkeit. Weder gibt er sich damit zufrieden, wie Herder mehr Volksbezug zu verlangen, noch verharrt er beim aus Frankreich bekannten, im sechsten Jahr der Revolution aber historisch überholten Modell von Klassizität. Hinsichtlich dieses letzten Punktes ist es wichtig, zwei Phasen zu unterscheiden: Das ältere, dem „grand siècle“ im Nachbarland abgelesene Modell hatte die deutsche Klassikererwartung während des gesamten 18. Jahrhunderts geprägt. Die Autoren, die schließlich das dauerhaft als klassisch anerkannte Zeitalter der deutschen Literatur trugen, haben sich hingegen explizit davon abgewandt. Eine historische Begründung dafür, warum sich hochrangige deutsche Autoren um 1800 durch andere Eigenschaften auszeichnen müssen als die französischen Klassiker zur Zeit Ludwigs XIV., hat Schiller gegeben, als Goethe eine selbst angefertigte Übersetzung von Voltaires Mahomet auf die Weimarer Bühne brachte. Nachdem die Aufklärung Freiheit und Natur zu höchsten Werten erhoben hat, seien sowohl die Zentrierung der Gesellschaft auf einen Monarchen als auch die Unterwerfung der menschlichen Gefühle unter Anstandsregeln obsolet geworden: Denn dort, wo Sklaven knien, Despoten walten, Wo sich die eitle Aftergröße bläht, Da kann die Kunst das Edle nicht gestalten, Von keinem Ludwig wird es ausgesät; Aus eig’ner Fülle muß es sich entfalten, Es borget nicht von ird’scher Majestät, Nur mit der Wahrheit wird es sich vermählen, Und seine Glut durchflammt nur freie Seelen. Drum nicht in alte Fesseln uns zu schlagen Erneuerst du dies Spiel der alten Zeit, Nicht uns zurückzuführen zu den Tagen Charakterloser Minderjährigkeit, Es wär’ ein eitel und vergeblich Wagen, Zu fallen ins bewegte Rad der Zeit;

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Geflügelt fort entführen es die Stunden, 11 Das Neue kommt, das Alte ist verschwunden.

Schätzenswert bleiben, so Schillers für den Anlass eigentlich zu kritischer Prolog, die Dramen der französischen Klassiker als Kunstwerke, während ihr Menschen- und Gesellschaftsbild einer glücklicherweise überwundenen Epoche angehören. An ihnen lasse sich formale Meisterschaft studieren; sie nachzuahmen würde jedoch nicht zu eigener Klassizität führen, denn die müsse den Leitideen der eigenen Zeit gerecht werden. 12

V D IE K ANONISIERUNG DEUTSCHER K LASSIKER UND IHRES Z EITALTERS BEGANN BEREITS UM 1800 Goethe war nicht nur der erste deutsche Autor, der dauerhaft als ‚klassischer Schriftsteller‘ kanonisiert wurde (vgl. Willems 2003: 115-120), sondern auch Katalysator für die Deklaration eines ganzen „Zeitalters klassischer Litteratur“. In dieser Begrifflichkeit findet man die Vorstellung einer klassischen, d.h. zur höchsten Blüte gelangten Epoche der eigenen Literatur zuerst 1811 bei Theodor Heinsius (1770-1849), damals Rektor des Berliner Gymnasiums zum Grauen Kloster. 13 Seine Literaturgeschichte ist ein Werk für den Schulunterricht und erlebte vier Auflagen, zuletzt 182530; sie wirkte also bis ins Vorfeld von Gervinus’ Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen (1835-42), die die Weimarer ‚Dioskuren‘ kanonisierte. Der Aufbau vorwiegend aus Charakteristiken der einzelnen Autoren mit vielen Daten, Titeln und Literaturangaben bezeugt die Herkunft des Werks aus der Tradition der Historia litteraria. Doch fügt Heinsius allgemeinere Einschätzungen der einzelnen „Zeiträume“ hinzu, auch in politik- und kulturgeschichtlicher Hinsicht, sodass seine Epochengliederung mehr ist als eine chronologische Phrasierung; die von ihm abgeteilten Epochen sind vielmehr Sinneinheiten. Überdies verfolgt er Entwicklungen, Konflikte sowie deren antreibende Wirkung, sodass wir es zumindest partiell mit einer Geschichtsschreibung modernen Typs zu tun haben. „Das Zeitalter klassischer Litteratur“ konzipiert Heinsius als Großepoche, deren Anfänge um 1740 liegen, als sich überzeugende Gegner des an Frankreich orientierten Klassizisten Gottsched formierten. Klopstock, Lessing, Schiller – und Goethe allen voran – seien die größten Autoren der Epoche. Die Verengung auf die ‚Weimarer Klassik‘ mit den Zeitgrenzen 1786 (Goethes Aufbruch nach Italien) oder 1794 (sein Freundschaftsbund mit Schiller) und 1805 (Schillers Tod) erfuhr der germanistische Epochenbegriff Klassik erst viel später. Eine Teleologisierung auf den Weimarer Klassiker Goethe ist dem um

11 Schiller 1996 [1800]: 156-159, hier Vv. 17-32. Schiller konzipiert Klassik also nicht als „Mittel gegen alle ‚Geschichte‘“, d.h. gegen die im späten 18. Jahrhundert neuartig wahrgenommene Dynamik historischen Wandels (so Voßkamp 1988: 249). 12 Vgl. ebd. die Schlussstrophen 9 und 10. Ausführlicher zu Schillers kritischer Bezugnahme auf den französischen Klassizismus vgl. Fulda 2014b. 13 Heinsius 1811: II, 102-289: Das Zeitalter classischer Litteratur. Auf Heinsius hat zuerst Becker 1970: 354f. hingewiesen.

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1800 endlich ‚entdeckten‘ klassischen Zeitalter der deutschen Literatur jedoch von Anfang an eingeschrieben. Im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft lesen wir dagegen: „Die Vorstellung einer deutschen Klassik mit Goethe und Schiller als Mittelpunktsfiguren bildete sich erst um die Mitte des 19. Jh.s“ (Rosenberg 2000: 275). Das ist ebenso falsch wie die übliche Ansicht, der Epochenbegriff Klassik finde sich zum ersten Mal 1839 in der Literaturgeschichte Heinrich Laubes (1806-1884), die während der ‚Haft‘ dieses ‚jungdeutschen‘ Tausendsassas auf dem Schloss des Fürsten Pückler entstand (Voßkamp 2001: 295). Die zuerst zitierte ist eine zu späte, die zweite hingegen eine zu frühe Datierung, denn Laube bezeichnet mit ‚Klassik‘ eher eine Stil- und Welthaltung als eine Epoche; den Zeitraum von Lessing bis Goethe nennt er „Das KlassischDeutsche“ (1839-1840: II, 53; III, 126: „die Klassik der Goethe, Schiller, Herder und Wieland“,78, 143, 439; IV, 77). So spät also der Epochenbegriff Klassik genau in dieser Form auftritt, so entscheidend älter ist jedoch die heute damit verbundene Vorstellung: Die zur Klassik gehörenden Klassiker sind fast ein halbes Jahrhundert früher, d. h. von ihren Zeitgenossen, als solche identifiziert worden, zuerst als ‚klassische Schriftsteller‘ oder ‚klassischer Nationalautor‘ und bald auch als „Klassiker“. Zunächst stellte das Athenäum den „Klassiker“ Goethe neben Dante und Shakespeare als engste „Auswahl der Klassiker der neuern Dichtkunst“, wenig später (1810) kam die Fügung „deutsche Klassiker“ als Sammelbegriff für die bedeutenden Autoren von Klopstock bis August Wilhelm Schlegel in Gebrauch. 14 Die Summierung der einzelnen deutschen Klassiker zum ‚klassischen Zeitalter‘ ist ebenfalls kein spätes Rezeptionsprodukt, 15 sondern geschah, wie wir sahen, zur Leb- und Schaffenszeit des Kristallisationsautors Goethe. Dass die Epoche der Klassiker ‚erst‘ in der Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Neubildung ‚Klassik‘ belegt wurde, besagt nichts darüber, wann sich die „Vorstellung“ (RLW) einer ‚deutschen Klassik‘ gebildet hat. Denn es ist ohne Weiteres möglich, dass sich eine heute gebräuchliche Bezeichnung (Klassik) erst nachträglich mit einer bereits etablierten ‚Vorstellung‘ verbunden hat, die zunächst anders benannt wurde (bei Heinsius als „Zeitalter klassischer Litteratur“). ‚Klassik als Epoche‘ hat eine Konzeptgeschichte, die deutlich früher einsetzt als die Wortgeschichte. Ebenso wenig entscheidend ist der Umstand, dass von Heinsius bis heute fast alles an diesem Konzept umstritten geblieben ist: Welche Autoren sind der Blütezeit der deutschen Literatur zuzurechnen, wie treffend ist für sie die Bezeichnung ‚klassisch‘ und wie ist diese ‚Klassik‘ zu bewerten (z. B. in ihrem Verhältnis zu den Romantikern oder in politischer Hinsicht)? Denn die ihrerseits nicht bestrittene Grundlage des Streits über diese und ähnliche Fragen bildet die um 1800 sich durchsetzende Einschätzung, die deutsche Literatur erlebe nun endlich ihr eigenes klassisches Zeitalter.

14 Schlegel/Schlegel 1798: 244, vgl. Sauer/Neuhofer 1810. In Friedrich Schlegels ForsterEssay von 1797 ist „deutsche Klassiker“ noch nicht (erkennbar) auf Autoren eines bestimmten Zeitraums gemünzt, vgl. Schlegel 1972: 195. 15 „Spät konstruierte nationale ‚Klassik‘“, heißt es bei Barner 1993: 76.

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VI N ACHTRÄGLICHE R EZEPTION UND VORGÄNGIGER E R WARTUNGSHORIZONT : D IE AUFKLÄRERISCHE D ISPOSI TION DER DEUTSCHEN K LASSIK ( ER ) KONSTRUKTION Dieser von der Lehrmeinung abweichende Befund fordert zu einer grundsätzlichen Bemerkung zum in der Germanistik herrschenden Verständnis von Klassik, Klassikern und Klassischem als Rezeptionskonstrukten heraus (vgl. Schmalzriedt 1971: bes. 28, Nutz 1994, Manger 2000). Zu betonen, dass jegliche Klassizität eine Zuschreibung darstellt, halte ich für völlig richtig. Es ist dementsprechend nicht nur nach Qualitäten des Klassischen zu fragen, 16 sondern auch danach, wer diese Qualitäten zuschreibt, wann dies geschieht, in welchem kulturellen und politischen Kontext, mit welchen Absichten und aufgrund welcher Voraussetzungen. Das ist im Prinzip Konsens in der deutschen ebenso wie in der französischen Literaturwissenschaft. 17 Die germanistische Klassik(rezeptions)forschung hat in diesem Sinne vor allem das Interesse der deutschen Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts an einer zu nationalem Stolz berechtigenden Klassik herausgestellt. 18 Die Klassikerund Klassik-Erwartung des 18. Jahrhunderts hat dagegen fast keine Beachtung gefunden. Dieses Manko ist keine notwendige Folge des rezeptionsorientierten Ansatzes, im Gegenteil, denn die Klassikererwartungen vor der später sogenannten Klassik sind als wichtige, ja unabdingbare Voraussetzungen für die rasch erfolgte Kanonisierung Goethes und seiner Zeitgenossen einzuschätzen, verdienen also gerade unter rezeptionstheoretischen Vorzeichen Beachtung. 19 Verkürzend wirkt der rezeptionsorientierte Ansatz dann, wenn allein die Nachträglichkeit jeder Rezeption gesehen wird, 20 nicht aber auch die vorgängigen oder dem Rezipierten gleichzeitigen Erwartungen berücksichtigt werden, die Rezeptionen so oder so disponieren. Da die Germanistik die rezeptive Konstruktion von Klassikern und Klassiken fast ausschließlich als nachgoethezeitliches Phänomen untersucht hat, konnte sich der

16 In einer substantialisierenden Weise hat das die ältere Forschung getan, vgl. Burger 1972. 17 Vgl. Mandelkow 1982, Génetiot 2005 mit der bezeichnenden Kapitelüberschrift „Un objet construit par la réception“ (9-50) sowie Darmon/Delon 2006: 5f. 18 Vgl. Berghahn 1971, Voßkamp 1988: 259-266 sowie, referierend und bekräftigend, Wiedemann 1993: 542. Aktuell tun dies z. B. Dörr 2007: 9 und Tausch 2011: 17. Eine differenzierte Untersuchung, wie Stéphane Zékian (2012) sie hinsichtlich der in sich hoch konfliktuösen Kanonisierung der großen Autoren des späten 17. Jahrhunderts als französische Klassiker unternommen hat, fehlt auf germanistischer Seite. 19 Vgl. Jauß 1967. Entgegen seinem Titel behandelt der kurze Aufsatz von Gille 2008 nicht die „Vorgeschichte“, d. h. die vorausliegenden Voraussetzung von Goethes Kanonisierung, sondern deren frühe Phase. 20 Vgl. die von den hier dargelegten Befunden widerlegte Behauptung Peter-André Alts: „Das Wort ‚klassisch‘ kann […] niemals zur Selbstbezeichnung einer kulturellen Epoche geraten, bleibt vielmehr eine aus zeitlichem Abstand gewonnene Fremdbestimmung, die unter dem Gesetz der historischen Perspektive steht. Es ist ein Qualitätssiegel, mit dem die Nachgeborenen kulturelle Phasen oder ästhetische Werke versehen, die sich im wechselvollen Prozeß ihrer Wirkung als vorbildlich und beispielgebend erwiesen haben.“ (Alt 2000: II, 30).

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Eindruck einstellen, der deutsche Klassik(er)diskurs sei genuin nationalistisch infiziert im Sinne des 19. Jahrhunderts. Was die Entstehung und Formierung dieses Diskurses angeht, muss man jedoch weit eher von einem Phänomen der Aufklärung sprechen. Nicht nur, weil der Klassik(er)diskurs seinen genuinen Ort im langen 18. Jahrhundert hat und dort seine Transformationen zu einer Gestalt erfuhr, an die der nicht mehr ‚literaturbetriebliche‘, sondern literaturgeschichtliche Klassikdiskurs des 19. Jahrhunderts nahtlos anschließen konnte. Vielmehr sind es typische Vorstellungen der Aufklärung von Literatur, die wir im seinerzeitigen Bild des Klassikers wiedererkennen: Formal von vollkommener Meisterschaft, sprachlich tadellos, ethisch vorbildlich, publikumsnah und zugleich autoritativ, insgesamt ein sich einfügendes Element einer als allumfassend gedachten Ordnung. 21 Typisch aufklärerisch sind auch das Streben nach Verbesserung, die Vorstellung eines kulturellen Wettstreits der Nationen sowie die von Jean-Baptiste Dubos (1670-1742) entwickelte Theorie vier herausragender Kulturzeitalter (antikes Griechenland, augusteisches, mediceisches und ludovizianisches Zeitalter), denn sie geht von der Möglichkeit menschlicher Höherentwicklung durch bewusste Kultivierung aus und schließt die „Blüte“Phasen von Antike und Neuzeit zu einem sinnvollen, wenngleich noch kaum dynamisch gedachten Gesamtzusammenhang der (Kultur-)Geschichte zusammen (vgl. Fontius 1971: 106). Die Autoren dieser Blütezeiten belegt der einflussreiche und vielfach aufgelegte Ästhetiker Dubos bereits im frühen 18. Jahrhundert mit dem Adjektiv „Classiques“, wenn auch nur vereinzelt (1719: 463). Zwar setzte das deutsche Vergleichen der eigenen literarischen Leistungen mit den Spitzenwerken der Antike und der Franzosen nicht erst im Anschluss an Dubos ein. Seine Idee nationaler Blütezeiten, „dont les productions ont été admirées par tous les siécles suivans“, 22 gab im weiteren 18. Jahrhundert jedoch den Rahmen ab, in dem sich die deutsche Erwartung eigener Klassiker, ja eines ganzen klassischen Zeitalters der deutschen Literatur entwickelte. Bei Dubos’ schön regelmäßiger Vierzahl der Blütezeiten (je zwei antike und neuzeitliche) sollte es aus deutscher Perspektive natürlich nicht bleiben. Also musste das Schema dynamisiert werden, sodass sich im deutschen Klassikerdiskurs relativ früh ein Fortschritts- oder genauer: ein Überbietungsdenken ausbildete, das selbst einem so Großen wie Leonardo da Vinci das Bewusstsein zumutete, „daß er und worinn er übertroffen werden könne.“ (Wieland 2003 [1782]: 629) Für Friedrich Schlegel gehörte es zu einem zeitgemäßen Begriff des „klassischen Schriftstellers“ dazu, dass er „einmal veralten und überschritten werden“ muss (Schlegel 1972 [1797]: 194). Selbst der bei den germanistischen Fachhistorikern nicht sehr anerkannte Laube charakterisiert die deutsche Literatur, die er als nationalen Gipfel beschreibt, in diesem relativierenden Sinne als „eine romantische Klassik, die allerdings nicht vollendet ist.“ (Laube 1839-40: II, 57) Auf französischer Seite lag eine derart progressistische Sicht weniger nahe, da die eigene Blütezeit in der Dubos’schen Vierzahl bereits enthalten war. Überhaupt war die eigene Position am Ende der Blütezeiten-Reihe nur teilweise bequem: Zwar rückte Frankreich in der Kulturgeschichte dadurch an die Stelle, die in der traditionellen 21 Vgl. die Erläuterung, „was zu einem klassischen Schriftsteller gehöret“, bei Adelung 1785: 405-407. 22 [Dubos] 1746: 134. In der Erstausgabe heißt es ([Dubos] 1719: 127): „par les autres siècles“.

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Ordnung der Universalhistorie, dem Vier-Monarchien-Schema, dem Römischen Reich vorbehalten war. Der Fortschrittsidee folgend, wurde dem Zeitalter Ludwigs XIV. sogar die Sonderstellung eines Höhepunktes noch unter den vier Blütezeiten zugeschrieben, etwa von Voltaire: „c’est peut-être celui des quatre [siècles] qui approche le plus de la perfection. enrichi des découvertes des trois autres, il a plus fait en certains genres que les trois ensemble.“ (1751: 4) Jedoch lag dieser Höhepunkt unabänderlich in der Vergangenheit. War die französische Blütezeitkonstruktion also wenig futurisch orientiert – weshalb Diderot und die jüngeren französischen Aufklärer dem Wort „classique“ reserviert gegenüberstanden (vgl. Fontius 1971: 113f) –, so dürfen wir in der deutschen Klassikererwartung des 18. Jahrhunderts eine Spielart des Zukunftsoptimismus erkennen, der eine der epochekennzeichnenden ‚Erfindungen‘ der Aufklärung bildet (vgl. Hölscher 1999: 34-55). Nun betonte ich eben die doppelte Emanzipation, die Herder im deutschen Klassik(er)diskurs anstößt und Goethe und Schiller ausführen: die Emanzipation vom französischen Vorbild, die zugleich eine Emanzipation vom Ideal einer gesellschaftlich dienstbaren und kontrollierten, über Regeln lehrbaren Literatur sein sollte. Ist auch das noch als genuin aufklärerisch zu rubrizieren? Emanzipation kann prinzipiell gewiss als aufklärerisches Prinzip gelten. Mehr Vertrauen auf den Buchmarkt als auf die politische Einheit der Nation, wie Goethe es äußerte, ist ebenfalls typisch für die deutsche Aufklärung. Ob aber die Emanzipation des Individuellen und seine Vorordnung vor die Gesellschaft und damit vor das Allgemeine, wie die Argumentation Herders, Goethes und Schillers sie voraussetzt, noch als aufklärerisch gelten kann, darüber lässt sich trefflich streiten.

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Sturm und Drang: auch ein französisches Phänomen? H EINZ T HOMA

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LITERATUR - UND KULTURTHEORETISCHE

P ROBLEM

Im Jahr 1934 erschien eine Habilitationsschrift mit dem Titel Das antiphilosophische Weltbild des französischen Sturm und Drang 1760-1789 (Wais 1934). Ihr Verfasser Kurt Wais hatte offensichtlich zum Ziel, den Nachweis einer antirationalistischen Strömung im Zeitalter der französischen Aufklärung zu führen und damit eine Parallele zur deutschen Geistesgeschichte aufzuzeigen. Dies mochte zunächst schon deswegen nicht gelingen, weil sich der Verfasser dieser zeitgeistigen Schrift mit Chassaignon, Gilbert und Ramond auf heute in keinem Handbuch erscheinende Autoren vierter Ordnung stützte, die mit religiöser Lyrik auftraten und sich wegen mangelnden Erfolgs von der Hofpartei finanziell unterstützen lassen mussten, vor allem aber auch deswegen, weil der Blick der Untersuchung gar nicht darauf gerichtet war, die tatsächlichen literarisch-kulturellen Verhältnisse in Frankreich zu erschließen. Ihr kam es nur auf den Nachweis an, diese zum Lager der „Antiphilosophes“ gehörenden Dichter seien durch ihre Semantik von „chaleur“ und „enthousiasme“ zugleich Vertreter einer ästhetischen Avantgarde. Wais‘ vergleichendes Vorhaben stand zu seiner Zeit ganz im Gleichklang mit einer Germanistik, welcher der Sturm und Drang als Geniezeit galt und noch im Brockhaus der 1950er Jahre als Überwindung der angeblich vernunftkalten und trockenen Aufklärung interpretiert wurde. Heute wird die nach einem Theaterstück des gleichen Namens von Friedrich Maximilian Klinger benannte literarische Strömung weniger in den Vordergrund der deutschen Literaturgeschichte gestellt. Eine neuere Darstellung zur Aufklärung nennt den Namen Klingers, vermeidet aber die Erwähnung des Sturm und Drang (Alt 1996), was die hermetische Trennung beider Epochen bzw. ihre strikte Gegensätzlichkeit immer noch zu beinhalten scheint. Der Sturm und Drang bleibt insofern gesonderter Prüfungsstoff, auch Gegenstand einzelner Abhandlungen und Handbücher (u.a. Luserke 1997, Bertram 2000, Karthaus 2000, Frank 2002). In unsere Problematik spielt ebenfalls die Klassikkonstruktion der jeweiligen Literaturgeschichtsschreibung hinein (Voßkamp 1993). Wer wie Frankreich seinen Gipfelpunkt der Nationalliteratur in der Epoche des Absolutismus zur Regierungszeit Ludwigs XIV. ansiedelt, steht selbstverständlich vor ganz anderen Voraussetzungen als die deutsche Klassik, der ein nationalpolitisch bedeutsamer Hintergrund fehlt,

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was ihr im Übrigen vorerst nicht zum Nachteil gereichte, zumal die gesteigerte Komplexität der Epochenwende durch die Französische Revolution den Perspektivenreichtum ihrer Weltanschauung und ihrer Ästhetik erhöhte. 1 Die französische Literaturhistorie, speziell die des frühen 19. Jahrhunderts, neigt hingegen dazu, die nationale Klassik und auch den Klassizismus des 18. Jahrhunderts als den wesentlichen Parameter der Bewertung zu nehmen, was ihr den Gedanken an eine eigenständige literaturhistorische Phase in Analogie zum deutschen Sturm und Drang verwehrte und im Übrigen auch die Akzeptanz der Romantik erschwerte. Während die deutsche Art der Periodisierung der Nationalliteratur von einem antiaufklärerischen und antifranzösischen Affekt durchdrungen ist und oft als Steigerungsprogramm hin zur nationalen Klassik verstanden wird, welche den ästhetisch-politischen Ausgleich findet, mündet die französische Literaturhistorie in Debatten (Thoma 1976, 2008 und neuerdings Zékian 2012), die um den Primat des 17. oder 18. Jahrhunderts kreisen, in denen gefragt wird, ob die Philosophie (sc. der Aufklärung) die klassizistische Ästhetik und Literatur stärke oder schwäche und in denen sich allenfalls noch das Problem stellt, ob Rousseau in einer präromantischen Perspektive zu lesen sei. Im Folgenden will ich in einem ersten Schritt die These aufstellen und begründen, dass es gleichwohl Sinn ergeben kann, von einem französischen Sturm und Drang als literarischkultureller Strömung des 18. Jahrhunderts zu sprechen. In einem zweiten Schritt will ich die These am Beispiel Diderots näher überprüfen. Wo sich die französische Forschung auf eine Binnenperiodisierung der Aufklärungszeit einlässt, zieht sie sich, nimmt man die letzten dreißig Jahre in den Blick, zunächst auf eher unverbindliche chronologische Abfolgen zurück (Delon/Mauzi/ Menant 1984), gibt in der Darstellung im Einzelnen aber doch Indikatoren, die auf qualitativ neue Entwicklungen hinweisen; so die Bedeutung des Begriffs der Energie, so der Hinweis auf die „tentation illuministe“. Vor rund 20 Jahren trennte die Forschung auch in „lumières naissantes“ und „lumières militantes“ (Delon/Malandin 1996), was den Weg zu einer Rubrizierung im Sinne unserer Darlegung immerhin offen ließ. Neuerdings hingegen versucht sie unter dem Etikett einer ‚Pluralität von Klassizismen‘ das 17. und 18. Jahrhundert als (widersprüchliche) Einheit zu sehen (z.T. befördert durch wissenschaftsorganisatorische Entscheidungen auf zentraler staatlicher Ebene), wodurch der Terminus „Lumières“ an den Rand gedrängt und eine Periodisierung unter dem Gesichtspunkt einer Differenzierung der Aufklärung erschwert wird (Dagen/Roger 2004 und vor allem Darmon/Delon 2006). Eine Analogie zum deutschen Sturm und Drang findet man, soweit ich sehe, in der französischen Literaturhistorie nicht, jedenfalls nicht an markanter Stelle. Hinzuweisen ist ferner darauf, dass, wie schon angedeutet, sowohl in Deutschland als auch im französischen Sprachraum noch eine andere, ältere Periodisierung unsere Fragestellung überlagern kann: die der Vorromantik, unter die sich natürlich auch der Geniekult subsumieren ließ (vgl. hierzu Schröder 1966). Wird dieser Standpunkt eingenommen, geht die metapolitische Bedeutung der deutschen Strömung des Sturm und Drang in der Tendenz ebenso verloren, wie sich in einer solchen Sicht die französische Entwicklung auf einen Gegensatz Klassik-Romantik zu reduzieren beginnt, bei der die Problematik der Aufklärung in der zweiten Jahrhunderthälfte ebenfalls

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Die Eliten des später das zweite Reich begründenden Preußentums erreichte sie indes nicht.

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aus dem Gesichtsfeld zu verschwinden droht. Rousseau wird in dieser Sicht zum Romantiker, auch zum Gegenaufklärer stilisiert. In diese hier erörterte, nicht leicht zu lösende Frage der literaturgeschichtlichen Periodisierung des Zeitalters der Aufklärung ist, dies sei hier betont, zugleich eine kulturwissenschaftliche Problematik eingelassen. Etwas knapp formuliert war die deutsche Art und Weise der Positionierung des Sturm und Drang innerhalb des Jahrhunderts der Aufklärung lange Zeit stark geprägt von einem antifranzösischen Affekt, genauer einem Affekt gegen die sprachliche und kulturelle Dominanz des höfischen Klassizismus Frankreichs in Europa, woraus so etwas wie ein antihöfisches, später als ‚Deutschtum‘ reformuliertes Kulturmuster entstand, 2 während umgekehrt in Frankreich der höfische Klassizismus und das mit ihm verbundene Verhaltensideal der Politesse bereits um 1750 beginnen, sich als (proto-)nationales französisches literarisches Ideal und als Kulturmuster einer Elite zu etablieren, woran Voltaire und sein kulturelles Umfeld keinen geringen Anteil haben. Dieses Kulturmuster reicht bis in die Wissenskultur hinein (Röseberg 2012). Die beiden jeweiligen Selbstinterpretationen stehen interkulturell gesehen in einem Gegensatz, der das Erkennen von Parallelströmungen evident behindert. Die chronologische und sachliche Distanz zwischen der in Deutschland und Frankreich jeweils als Klassik bezeichneten Epoche tut ein Übriges, um hier Einsichten zu erschweren. Jedenfalls ist die Periodisierung der Aufklärungsepoche ein beiderseits des Rheins vermintes Terrain. 3 Herder ist, ideologiegeschichtlich gesehen, einer der wesentlichen Stammväter des Sturm und Drang, den er als Gegenkultur zu den französischen Denk- und auch Verhaltensmustern artikuliert. Diese Haltung erscheint im Journal meiner Reise im Jahre 1769 besonders prononciert, wo er gegen die aus seiner Sicht unphilosophische Sprache der Franzosen jene „des Sturms der Wahrheit und der Empfindung“ mobilisieren will und Frankreich bescheinigt, es lebe auf Ruinen (Herder 1997, IX/2: 1089). Seine prinzipielle Ablehnung der französischen Kultur unterstellt ihr Unnatur, Künstlichkeit, Konventionalität, Anstand, überheblichen Rationalismus. Scheinbar lobend spricht er davon, „es wäre eine vortreffliche Sache, vom Geist, vom Wohlstande, von der Ehre, von der Höflichkeit der französischen Sprache und ihrer Kultur zu schreiben“, um fortzufahren: „Aber nun umgekehrt: wo ist Genie? Wahrheit? Stärke? Tugend?“ Symptomatisch ist, dass Herder Diderot, den er sehr wohl kennt, in der Hauptsache als geistig leeren, enzyklopädischen Sammler darstellt, um seine völkerund kulturpsychologische Sicht plausibel machen zu können. 4 Ist Herder der ideologische Vertreter der Strömung des Sturm und Drang, so ist Goethes Werther dessen literarisches Paradebeispiel. En passant sei gesagt, dass der Goethe der 1780er Jahre Diderot sehr schätzte, er nannte Jacques le fataliste eine „sehr köstliche und große Mahlzeit“, die mit „großem Verstand für das Maul eines einzigen Abgottes zugerichtet und aufgetischt“ zu sein scheine (zit.n. Riemer 1849: 641), und hat den Neveu de 2

3 4

Ein probates Beispiel ist Ernst Moritz Arndt, der in Abwandlung dieses antihöfischen Affekts in seinem Gedicht „Was ist des Deutschen Vaterland?“ von 1813 verächtlich vom „franschen Tand“ spricht, dem er den festen Händedruck und das treue Auge des Deutschen gegenüberstellt. Im späten 19. Jahrhundert kommt die sogenannte „Lessinglegende“ (Mehring 1963) hinzu, die Lessing als Gründungsautor eines neuen Reichs unter preußischen Vorzeichen feiert. Vgl. hierzu van Stockum 1960: 14f., dort auch das Zitat.

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Rameau ins Deutsche übertragen. Goethes Werther, dem Lotte trotz der gemeinsamen Vorliebe für Klopstocks Naturlyrik letztlich aus Konventionsgründen den nüchternen Amtmann Albert vorzieht, fährt, als er aus der Adelsgesellschaft hinauskomplimentiert wird, mit der Kalesche in die Natur. Hierbei führt er (damals sehr teure) Zuckerschoten mit sich sowie seinen Homer und betrachtet, mit diesem materiellen und geistigen Proviant versehen, von erhöhter Stelle aus den Sonnenuntergang. Man kann an diesem Beispiel (und durch einen Vergleich etwa mit dem Blick von Chateaubriands melancholischem Helden René in den Sonnenuntergang, der in Frankreich Epoche machte) sehr gut den Unterschied zur Romantik erkennen. Werthers Suizid ist keinem unbestimmten Leiden an einem „mal du siècle“ geschuldet, vielmehr ist er das deutlich sichtbar gemachte Resultat einer doppelten Ausgrenzung aus den sozialen Verhältnissen. Der Held gewinnt weder Lotte, die Frau aus dem Volk, noch hat er Aussicht auf eine feste Beziehung zu einer Dame aus dem Adel. Zudem leidet seine Poesie des Herzens ganz grundsätzlich an der „Prosa der bürgerlichen Verhältnisse“, um mit Hegel zu sprechen. Dies sind die wesentlichen Chiffren seines Außenseitertums, das er mit anderen Stürmern und Drängern teilt, jedoch hat er auch selbst eine gewisse Tendenz zum elitären Überschwang, dies in einer Verbindung von literarisch-künstlerischer (Halb-)Bildung und Naturkult. In einem individualisierenden und zugleich totalisierenden Entwurf sucht Goethe mit seiner Figur eine neue Wirkmöglichkeit für das Subjekt sowie eine neue Synthesis jenseits ständischer Spaltung und jenseits der Nüchternheit (klein-)bürgerlicher Verhältnisse. Im Quiproquo erscheinen Natur, Kunst und ein im Weiblichen mythisiertes Volk als Formen dieser Synthesis. Insofern befinden wir uns, ex post gesehen, in einer neuen Phase der Aufklärungsepoche, 5 nicht jedoch in einer zu dieser Epoche strikt gegensätzlichen Entwicklung. Zugleich versucht sich Werther als eine Art Räuber der Person Lottes im Namen einer literarischen Seelenverwandtschaft (Klopstock) und mittels der Konstruktion einer symbiotischen Zweiergemeinschaft gegen den Rest der Welt. Diese Liebessemantik, die Goethe aus Rousseaus Nouvelle Héloïse beziehen konnte, bildet ein Langzeitmuster des Liebesverhaltens jenseits der Problematik literaturhistorischer Periodisierung. Nimmt man das Beispiel des jungen Schiller und etwa das von Jakob M. Lenz hinzu, oder auch das von Karl Philipp Moritz, ergibt sich für den deutschen Sturm und Drang folgende, in verschiedenen Schwerpunktsetzungen auftretende Merkmalsreihe: Geniekult, radikalisierte Empfindsamkeit, Enthusiasmus, totalisierendes Naturgefühl, ästhetisch ein Hang zum Erhabenen, schließlich eine meist verdeckte, aber bisweilen offen mitgeführte Freiheitsproblematik, die sich mit Ungeduld, Gereiztheit und Aufgeregtheit auflädt, sich aber auch perspektivisch mit der Mythisierung des Volkes verbinden kann. Es sind kulturelle Erscheinungen, welche vorherige Tendenzen, etwa der Empfindsamkeit, fortsetzen, radikalisieren, z.T. auch politisieren. Ergänzend zur Analyse dieser Gestimmtheit zur Revolte, deren Widerpart die Melancholie darstellt (Lepenies 1969, Schings 1977), gehört in ein Forschungsmodell für den Sturm und Drang auch die Einbeziehung der sozialen Stellung der literarischen 5

Allenfalls am Rande erscheint eine Polemik gegen eine bestimmte gelehrte, theologische Strömung derselben, so in der Episode der auf Geheiß der neuen Pfarrersfrau gefällten Nussbäume, die, wie Werther kritisch vermerkt, für die neumodisch, moralisch-kritische Reformation des Christentums eintritt.

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Intelligenz der zweiten Jahrhunderthälfte, deren Vertreter sich oft als Hauslehrer verdingen müssen, oder die, wie Robert Darnton für Frankreich gezeigt hat, als Literaten im Untergrund ihr Dasein fristen. Eine solche, auf die Verbindung mit der Aufklärung achtende Zusammenschau des Sturm und Drang findet sich, soweit ich sehe, in der deutschen Forschung eher selten. Ältere Darstellungen heben überproportional häufig auf den Geniebegriff ab. Eine neuere Darstellung, die das auch noch tut, gliedert den Sturm und Drang nach Gattungen und verstellt so zusätzlich den Zusammenhang dieser Epoche mit der Aufklärungsbewegung (Karthaus 2000). Auf der französischen Seite spielt sich ein ähnliches, ebenfalls von einem Kulturmuster implementiertes Drama ab, nur unter umgekehrten Vorzeichen. Hier ist es zunächst kein interkulturell dominiertes Paradigma, sondern eine kulturelle Selbstbezüglichkeit, die sich aus der Dominanz des Klassizismus innerhalb der europäischen Kultur dieser Zeit nähren kann, welche bis heute die literaturhistorische Periodisierung prägt. Eigentlich hätten wir mit Diderot und Rousseau zwei Genies vor uns, die, getrennt wie zusammengenommen, genug von den oben genannten Merkmalen des Sturm und Drang in sich vereinigen. Das in Frankreich geläufige Bild von den „frères ennemis“ (Kremer 2006) zeigt die geistige Verwandtschaft der beiden Autoren an, verrät aber auch zugleich den Grund, warum man es sich mit einer Betonung der Gegnerschaft ebenso erlauben konnte, diese Gemeinsamkeiten zu übersehen oder herunterzuspielen. 6 Wir hätten mit diesen beiden Autoren, die sich in den mittleren und späten 1740er Jahren anschicken, in Paris einen Platz im kulturellen Feld zu erobern, reichlich Material, um eine Zäsur zu rechtfertigen, welche das Bild eines Aufklärungsjahrhunderts, das kontinuierlich einer Ästhetik des Klassizismus huldigt, ebenso revidieren würde wie das Bild eines isolierten Präromantikers namens Rousseau. Diderot und Rousseau zusammen zu sehen, würde es auch verbieten, eine Jahrhundertzäsur in der Hauptsache mit der Verbreiterung der Aufklärung bzw. des Wissens durch die Encylopédie zu begründen. Diderot, der darin mit seiner Definition des Eklektikers als einem, der alle Vorurteile mit Füßen tritt, keineswegs eine enge gnoseologische oder etwa eine protopositivistische Position vertritt, vielmehr mit dieser Definition kämpferisch gegen leeres Systemdenken zu Feld zieht, ist es zugleich, der Rousseau zu seiner zivilisationskritischen Antwort auf die Preisfrage der Akademie von Dijon animierte und noch am Ende seines Schaffens eine Glückwunschadresse an die aufständischen Kolonien der künftigen Vereinigten Staaten niederlegte, mit welcher er zugleich die Despoten Europas warnte. Und spricht Diderot im Brief an die Prinzessin Dashkoff vom 3. April 1771 von einem Jahrhundert der „Gedankenfreiheit“, so ist Rousseau, der zu Beginn mit dem wichtigen Artikel zur politischen Ökonomie an der Enzyklopädie mitwirkt, der Freiheitstheoretiker par excellence; allerdings der einer zwangsbewehrten Freiheit des Kleinbürgers gegenüber einer schrankenlosen des Großbürgers, welcher hierzu die Antike ebenso mobilisiert wie er sein Naturempfinden mit einer zivilreligiösen Haltung legiert und so die Geschichte der „sensibilité“ um eine wesentliche, politische Qualität bereichert. 6

Genauer zu untersuchen wären die Trennlinien, welche Rousseau und Diderot an jeweils bestimmte Milieus binden, sowie insgesamt die kulturelle Kohäsionskraft der französischen Eliten und ihrer Institutionen.

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Zu den Paradoxa unserer Fragestellung gehört auch, dass Diderot, geboren 1713, und Rousseau, geboren 1712, chronologisch vor dem deutschen Sturm und Drang liegen, von den deutschen Autoren aber nicht umstandslos als Geistesverwandte wahrgenommen werden. Jedenfalls zunächst nicht Diderot (Mortier 1986), der in der Regel vorsichtig auftritt, um die der Verfolgung ausgesetzte Encyclopédie nicht zu gefährden. Einen Sonderstatus besitzt Rousseau, der sofort im europäischen Maßstab Gehör findet und den auch die deutschen Stürmer und Dränger als Einflussgeber verstehen (Wuthenow 1978). Näher als Diderot an den eigenen Positionen angesiedelt wird im deutschen Sprachraum der 1740 geborene Louis-Sébastien Mercier und sein antiklassizistisch ausgerichteter Nouvel essai sur l’art dramatique (1773), ein nachhaltiges Beispiel für die Position eines Stürmers und Drängers, zu der sich mutatis mutandis auch Rétif de la Bretonne (geboren 1734) zählen ließe. Der Einfluss dieser Autoren in Deutschland war umgekehrt in Frankreich kein Anlass, die Verfahren der nationalen Literaturhistorie zu überdenken. Wie die bisherigen Ausführungen zeigen, geht es hier nicht um eine Umdeutung der französischen Aufklärung nach einem deutschen Beispiel, vielmehr geht es um den Nachweis jener Aspekte des deutschen Sturm und Drang, die ihn als Reaktion auf den französischen Klassizismus lesen lassen, sowie andererseits um jene Aspekte in der Kultur Frankreichs, die bewirkten, dass die eigene antiklassizistische Reaktion innerhalb der Aufklärung ebenso übersehen oder als Präromantik simplifiziert wurde, wie man auch weitgehend die Moderne-kritische Transformation der Antike vernachlässigte, die sich im selben Zeitraum qua Zivilisationskritik von einem Ort der ästhetischen Nachahmung zu einem entfremdungsfreien intakten Geschichts- und Sehnsuchtsraum entwickelte. 7 Wo man im klassizistischen Gesamtbild die Antike nicht nur als ästhetischen, sondern auch als gesellschaftlichen Entwurf wahrnimmt, wird sie mit Rom in eine republikanische Perspektive gestellt, während in der deutschen Entwicklung Griechenland als Sehnsuchtsort dominiert. Dieser Gesamtvorgang ist selbstverständlich in diesem Rahmen nicht detailliert darzustellen, sondern kann nur Gegenstand einer größeren Studie sein (vgl. Thoma 2008). Eine solche hätte auch ein zweites Gegenstandsfeld zu bearbeiten, jenes der zweiten Generation der französischen ‚Stürmer und Dränger‘, die zeitgleich mit der deutschen Bewegung operieren und diese wie gesagt auch beeinflussen, sei es auf dem Gebiet der Theaterreform oder auf dem einer moralisierenden Stadtkritik. 8 Mercier und Rétif machen stärker noch und z.T. soziologischer als Rousseau und Diderot das Volk zum Gegenstand ihrer Werke, Mercier etwa in Le tableau de Paris (1781) oder Rétif in Tableau de Paris ou le spectateur nocturne (1788-1794), was ihnen ein europaweites Publikum beschert. Hier wirken allerdings auch schon kulturindustrielle Marktmechanismen, welche die Aufklärungsintentionen zu überlagern beginnen. In einer ganz anderen Perspektive als jener der hier näher erörterten literaturhistorischen Periodisierung kann man die Epoche der Aufklärung mit Pope auch als anthropologisches Suchverfahren („The proper study of Mankind is Man“ [Pope 1734]) verstehen, mittels dessen die gesamte Aufklärungsbewegung operiert; ein Suchver7 8

Dieser Prozess vollzieht sich auch im deutschen Sprachraum. Rétifs Stadtkritik wird trotz ihrer ausgestellten moralischen Intention nicht selten als verführerisch empfunden. Vgl. hierzu neuerdings: Quester/Yong-Mi 2006: Frivoler Import, die Rezeption freizügiger französischer Romane in Deutschland 1730-1800, Tübingen.

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fahren, das sich in der zweiten Jahrhunderthälfte wissenschaftlich verfestigt, politisiert und radikalisiert. Empirisierung, Naturalisierung und Historisierung können als Merkmale einer anthropologischen Wende begriffen werden, in der ab 1750 zur stärkeren Wissenschaftlichkeit des Denkens auch die Erkenntnis von dessen Geschichtlichkeit tritt. Hierbei findet eine Selbstaufklärung der Aufklärung statt, in der sich die politischen, gesellschaftlichen und ästhetischen Optionen stark ausdifferenzieren. Sturm und Drang ist in diesem Sinn eine Heuristik, um eine plebejisch tingierte Strömung innerhalb dieser Optionen auszumachen, welche die kulturellen Bastionen einer selbstgenügsamen Richtung der Aufklärung wie jene einer nach den Regeln der Elite kodifizierten Ästhetik und Verhaltenslehre („honnêteté“, „politesse“) zu schleifen beginnt. Wenn hierzu eine Revolutionierung in der Anordnung des Wissens tritt, wie bei Diderot, der als ersten Urgrund des Denkens die Erfahrung setzt, können Emphase und Nüchternheit, so auch im Geniebegriff, nicht selten überraschende und paradoxale Verbindungen eingehen. Um ein ganz Anderes als Aufklärung geht es aber hierbei nicht.

D AS B EISPIEL D IDEROT Meine These vom französischen Sturm und Drang soll hier nur an einem Beispiel näher überprüft werden, an Denis Diderot, einem Autor, der nicht leicht zu fassen ist. Einmal wegen der ihm von der Regierung mit der Genehmigung zur Erstellung der Encyclopédie auferlegten Botmäßigkeit und Rücksicht und zweitens, weil ihn sein Materialismus und Determinismus zunächst zu allem anderen als einem Stürmer und Dränger zu machen scheinen. Und doch ist er auch ein Autor, der von sich sagt, sein Roman von Herr und Knecht sei eine „rhapsodie de faits“ 9 und sein Schreiben mache insgesamt mehr Wolken, als dass es sie zerstreue. Jedenfalls ist Diderot aus ganz anderem Holz geschnitzt als sein etwas trockener Mitherausgeber der Enzyklopädie, der Mathematiker d’Alembert, den er im Rêve de D’Alembert ins Fieber versetzt, um ihm mehr als kalt-nüchterne Einsichten zu entlocken, wie sie bei diesem ansonsten eher üblich waren. Laurent Versini spricht in der Einleitung zu seiner Korrespondenz 10 von Diderot als einem „exemple magnifique de liberté et d’audace d’esprit“ (Œuvres, Bd.5, XVI). Nach der zu seiner Zeit weithin noch geltenden Humoralpathologie war Diderot ein cholerischer Charakter. Sein Theorieansatz, alles Denken auf Erfahrung zurückzuführen, schließt ein, dass Empfindung und Moral als wesentliche Subjekteigenschaften hiermit konform gehen können. So präsentiert sich Diderot in seiner Korrespondenz in der Tat als ein Muster an Impulsivität, als Unruheherd, ja als unsteuerbares Genie, und dies in Termini, welche die Kultur der Empfindsamkeit im Namen der Tugend nicht selten auf die Spitze treiben. Dem ist bei der folgenden Analyse der Korrespondenz nachzuspüren. Sie wird jene habituellen und sachlichen Bezirke aufsuchen, welche Diderot als Stürmer und Dränger vorführen können. Sammeln wir zunächst einige besonders markante Stellen zum Lebens- und Verhaltensstil, die Diderot als potenziellen Übertreter der Normen im gesellschaftlichen 9 Jacques le Fataliste et son maître, S. 248. 10 Ich zitiere die Korrespondenz nach der Werkausgabe von Laurent Versini, Band V, Paris, Robert Laffont 1999.

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Verkehr und in der Schreibart zeigen. So benennt er, sicher nicht ohne Selbstironie, seine Schreibart in einem Brief vom 20. Juli 1762 an Madame d’Épinay als holprig, weitschweifig, dunkel, barbarisch, ungeschliffen. An Sophie Volland, seine Geliebte, schreibt er am 26. Oktober desselben Jahres, er sei wenig tauglich für die Gesellschaft und ihre Umgangsformen. Oft sieht er sich in seinem Benehmen an der Grenze des Lächerlichen, schreibt er am 31. Juli 1769 an Grimm, gegenüber dem er sich als jemanden bezeichnet, der in alle Fettnäpfchen tritt. In einem der zahlreichen Briefe an Sophie präsentiert er sich auch als Verteidiger starker Leidenschaften (31. Juli 1762). An dieselbe Adressatin schreibt er, er ziehe den Ziegengeruch dem Duft von Moschus und Ambra vor und nennt sich einen „rustre“, d.h. eine Art bäurischen Grobian (17. oder 18. August 1759). Was Diderot offensichtlich auch abgeht, ist die körperlich-mentale Balance. So unterstreicht er eine gewisse Gefräßigkeit in den Essgewohnheiten, hebt aber an anderer Stelle wiederum auf seine Bedürfnislosigkeit ab, da er sich mit der Einfachheit von Wasser und Brot bescheide. Er scheint also, zusammengefasst, weit entfernt vom Ideal der Klarheit im Schreiben wie von jenem der Feinheit der Manieren nach den Regeln der Politesse, die François-Vincent Toussaint, ein Mitstreiter Diderots, in Les moeurs von 1748, das in der zweiten Jahrhunderthälfte zum Bestseller wurde, schon vor dem Erscheinen von Rousseaus erstem Discours als unecht und als Instrument der Lüge der herrschenden Oberschicht denunziert hatte. In den Ausführungen zu Natur, Naturgefühl und Erhabenem scheint Diderot bereits eine dem späteren Werther eigene Stimmung zu bedienen. So mag er Gewitter (Brief vom 28. Oktober 1760 an Sophie), spricht von der Wildnis des Hains, die ihm gefällt, von der Erhabenheit der Natur, welche die Hand des Menschen nur gefällig machen kann. Er betont seine Empfänglichkeit für die unberührte Natur (17. und 18. August 1759). Die Asymmetrie eines Lustwäldchens bezaubert ihn, Kühle und Einsamkeit findet er in Langres (5. August 1759), seiner Heimat, schreibt er an Sophie Volland, der er bereits am 10. Mai desselben Jahres mitteilte, dass sich empfindsame Gemüter wortlos verstehen. Auch in der Liebessemantik gibt es Passagen, welche auf Rousseaus Nouvelle Héloïse und den Werther vorausweisen. So schwärmt er im Brief vom 15. Oktober 1759 an Sophie Volland: „O ma Sophie, il me resterait donc un espoir de vous toucher de vous sentir, de vous aimer, de vous chercher, de me confondre avec vous, quand nous ne serons plus! S’il y avait dans nos principes une loi d’affinité, s’il nous était réservé de composer un être commun, si je devais dans la suite des siècles refaire un tout avec vous, si les molécules de votre amant dissous venaient à s’agiter, à se mouvoir et à rechercher les vôtres éparses dans la nature! Laissez-moi cette chimère; elle m’est douce; elle m’assure l’éternité en vous et avec vous.“

Unterschiede gibt es schon, wie man sieht, schreibt doch Werther nur, ohne Lotte würde für ihn alles zu nichts. Diderots interpersonale Verschmelzungsfantasie hingegen ordnet sich, bereits vor Goethes Wahlverwandtschaften, auch nach naturwissenschaftlichen Bezügen. Wie in allen Sphären, so gilt auch auf dem Feld der Tugend das Gesetz der Unbedingtheit. An Sophie Volland notiert er am 18. Oktober 1760:

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„Si le spectacle de l’injustice me transporte quelquefois d’une telle indignation que j’en perds le jugement, et que, dans ce délire, je tuerais, j’anéantirais, aussi celui de l’équité me remplit d’une douceur, m’enflamme d’une chaleur et d’un enthousiasme où la vie, s’il fallait la perdre, ne me tiendrait à rien.“

Auch in der hypothetischen Formulierung bleibt dies eine starke Empfindung, die sich im Fortgang der Beschreibung seiner erregten Verfasstheit noch steigert: schwerer Atem, Beben am ganzen Körper, Zucken auf der ganzen Haut, tränenschwimmende Augen. Freiheit ist für Diderot ein Charakteristikum seines Jahrhunderts. Der Wunsch nach ihr zieht politische Erhebungen nach sich, so lautet Diderots Feststellung im Brief vom 3. April an Fürstin Daschkova, die Freundin der künftigen Katharina II., anlässlich des Staatstreiches Maupeou: „L’esprit du nôtre [sc. siècle, H.T.] semble être celui de la liberté […] Dès qu’ils [sc. les hommes, H.T.] ont tourné des regards menaçants contre la majesté du ciel, ils ne manqueront pas, le moment d’après de les diriger contre la souveraineté de la terre.“ Was hier noch analytisch ruhig daherkommt, liest sich am Ende von Diderots Werk, wie bereits angedeutet, emotional und politisch drängend. Im Essai sur les règnes de Claude et de Néron von 1778 heißt es in einer „Apostrophe aux insurgents d’Amérique“, unmittelbar anschließend an das Lob der „retraite du sage“: „Après des siècles d’une oppression générale, puisse la révolution qui vient de s’opérer au de la des mers, en offrant à tous les habitants de l’Europe un asile contre le fanatisme et la tyrannie, instruire ceux qui gouvernent les hommes, sur le légitime usage de leur autorité.“ (Œuvres complètes 1986, Bd. XXV: 355) Das Thema der Mythisierung des Volkes schließlich erscheint in der Erörterung um die Gestaltung einer Skulptur in Reims, die auf einem öffentlichen Platz einen um sein Vaterland verdienten Citoyen hatte darstellen sollen. Diderot kritisiert die fehlende Kohärenz der Gestaltung und hätte sich als Sujet gewünscht, den Monarchen als Freund der „conditions basses“ darzustellen „qui forment le peuple et qu’on écrase, quoiqu’elles fassent la force d’un État, le commerce, l’agriculture et la population“ (Brief an Sophie Volland vom 27. Januar 1766). Aufrührerisch ist das nicht, aber es zeugt von einem deutlichen Widerstand gegen die herrschenden Verhältnisse und einer umstandslosen Parteinahme für den dritten Stand. Man sieht bereits an diesen ausgewählten, keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebenden Auszügen, dass der Briefwechsel es erlaubt, Diderot als eine Schriftstellerpersönlichkeit zu konstruieren, die sich ohne Weiteres in das Bild eines Stürmers und Drängers fügt. Bleibt noch der Nachweis der Geniesemantik, zu der wir den einschlägigen Artikel Encyclopédie von Saint-Lambert heranziehen dürfen, der in der früheren Forschung Diderot zugeschrieben wurde. Bereits der Abbé Dubos hatte in seinen Réflexions sur la poésie et la peinture (1719) die normzerstörende und normschaffende Kraft des Genies im 18. Jahrhundert positiv hervorgehoben. Das Genie ist im Artikel der Enzyklopädie definiert durch die große Amplitude seines Geistes, die Kraft der Imagination und die intensive Tätigkeit seiner Seele. Es sei aufs Universelle angelegt, von großer Empfindungsstärke, es empfinde getrennt vom herrschenden Geschmack, habe die Neigung zum Sublimen, zur Natur und zum Pathos. Es verströme einen Sturzbach an Ideen, sei aber auch nüchterner Beobachter. In der Politik tendiere es zum Umsturz.

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Der Artikel schließt wie folgt: „Dans les Arts, dans les Sciences, dans les affaires, le génie semble changer la nature des choses; son caractere se répand sur tout ce qu’il touche; & ses lumieres s’élançant au-delà du passé & du présent, éclairent l’avenir: il devance son siecle qui ne peut le suivre; il laisse loin de lui l’esprit qui le critique avec raison, mais qui dans sa marche égale ne sort jamais de l’uniformité de la nature. Il est mieux senti que connu par l’homme qui veut le définir: ce seroit à lui-même à parler de lui; & cet article que je n’aurois pas dû faire, devroit être l’ouvrage d’un de ces hommes extraordinaires qui honore ce siecle, & qui pour connoître le génie n’auroit eu qu’à regarder en lui-même.“ [Herv.i.O.]

Diese Beschreibung zielt aller Vermutung nach auf Diderot, suggeriert möglicherweise dessen Koautorschaft, der damit auch den letzten Aspekt des Stürmers und Drängers in sich vereint. Gewisse Einschränkungen an diesem Bild erscheinen im Briefwechsel lediglich in der Rolle des Familienvaters und einer daraus ableitbaren Hausväterlichkeit bzw. Überfürsorge gegenüber der Tochter. Weniger hemmend ist hingegen, wie schon das Beispiel der Liebessemantik zeigte, Diderots Nähe zum naturwissenschaftlichen Denken. Zwar hindert der „esprit observateur“, der für Diderot notwendig zum Genie gehört, dieses an willkürlicher Spekulation, was auch der Artikel unterstreicht, jedoch nicht und gerade deswegen nicht an kühnen Visionen. Abschließend sei noch ein knapper Blick auf den Werkkontext geworfen, der ebenfalls in Sache und Stil den Gestus eines Stürmers und Drängers erkennen lässt (vgl. Thoma 2004). Man kann an die Anfänge erinnern, die uns einen Diderot zeigen, der eine kirchliche Laufbahn in der Provinz ausschlägt, sich in Paris zunächst in einer Art Proto-Bohème durchschlägt, der mit Toussaint einen skandalmachenden Protegé um sich hat, der selbst seine schon argwöhnisch von der Zensur beobachteten Pensées philosophiques (1747) noch durch einen scheinbar pornografischen philosophischen Roman überbietet, die Bijoux indiscrets (1748). In diesem Roman bringt im Traum des Sultans Mangogul die Allegorie der Erfahrung bei ihrem Eintritt in den Saal der Hypothesen alle philosophischen Systeme leichter Hand zum Einsturz. Diderot gestand seine Autorschaft zwar nicht ein, diese war dem Publikum und den Behörden aber bekannt. Bevor Diderot eine erzwungene Botmäßigkeitserklärung unterschrieb, um seine Herausgeberschaft der Encyclopédie zu retten, war er jedenfalls so etwas wie ein aufrührerischer Aufklärer mit einem Skandalpotential, ähnlich dem Rousseaus, mit dem gemeinsam er, aus olympischer Perspektive gesehen, ein unübertroffenes polemisch-emotives Gespann abgab, das um 1750 die von Fontenelle repräsentierte cartesianische Generation abzulösen begann und das sich anschickte, Voltaire die Führungsposition in der französischen und europäischen Aufklärungsöffentlichkeit streitig zu machen. Verfolgt man Diderots weiteres, meist unveröffentlichtes, z.T. aber zirkulierendes Werk, folgt der äußeren keineswegs eine innere Botmäßigkeit. Dies zeigt sich etwa an der Verteidigung des Abbé Raynal bzw. von dessen Histoire des deux Indes, an der Diderot mitwirkte, gegenüber Grimm, den er hierbei zum ersten Mal als Fürstengünstling demaskierte. Dies offenbart vor allem Diderots in der Correspondance littéraire publizierter Roman Jacques le fataliste et son maître, in dem der Autor nicht nur seinen Materialismus auf die Gesellschaftsanalyse zu übertragen sucht, sondern mit der Unterscheidung von Besitz und Eigentum auch eine revolutionäre Perspektive für die Bauernschaft in Aussicht stellt. In

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der Figurengestaltung dieses Romans mit seinem furios-reflexiven Stil zeigt sich auch die Kontinuität einer Haltung, welche das Bizarre zum Prüfstein für einen deterministischen Materialismus heran- und das Genialische dem Gewöhnlichen vorzieht (Thoma 2000).

F AZIT Was letztlich die französische Literaturhistorie daran gehindert hat bzw. hindern konnte, eine eigene Periodisierung analog zum Sturm und Drang vorzunehmen, liegt u.a. an Rousseaus Tendenz zur Selbstisolierung innerhalb der Aufklärungsbewegung, die an dieser Isolierung manchen Anteil hat. Ein weiterer Grund liegt im wissenschaftlichen Materialismus der ihn von Rousseau in der Denkart entfernte, wiewohl er dessen soziale Positionen bis in sein Spätwerk hinein immer reflektierte. Ein dritter Grund liegt schließlich im Niveauverlust der Epigonen, wiewohl deren inhaltliche Gemeinsamkeiten mit ihren Vorgängern eigentlich nicht zu übersehen waren. Letztlich sind es die ordnungspolitischen Vorstellungen der nachrevolutionären Literaturhistorie, welche die Einsicht in den Qualitätssprung der Aufklärung um und nach 1750 verstellen. Diese ordnungspolitischen Vorstellungen sind jene der Klassik und des Klassizismus. Für Désiré Nisard, den ersten Vertreter der bürgerlichen Nationalgeschichte der Literatur der 1840er Jahre, fallen bekannterweise französischer Geist und menschlicher Geist in der nationalen Klassik zusammen (Thoma 2006). Descartes ist der philosophische Ziehvater dieses Geistes, Corneille und Racine sind Schöpfer seiner literarischen Helden, Voltaire ist ein akzeptierter Epigone. In einer solchen Ahnenreihe hat es Rousseau mehr als schwer, noch schwerer aber Diderot, uneingeschränkt zum nationalen Erbe zu gehören. Das Kulturmuster der „formation de la raison“ (Röseberg 2012) erzeugt nicht nur Nationalstolz, sondern tendiert auch zur Expatriierung des Nichtkonformen. Charles-Augustin Sainte-Beuve brachte es in einem Artikel in Le Globe vom 20. September und 5. Oktober 1830 mit der zu dieser Zeit von seiner Seite aus wohlwollend gemeinten Formulierung, Diderot sei „la tête la plus allemande“ der französischen Literatur, auf eine prägnante und später oft wiederholte Formel.

L ITERATUR Quellen Diderot (1999): Œuvres, hg. von Laurent Versini, Bd. V, Paris: Robert Laffont. Diderot (1986): Essai sur les règnes de Claude et de Néron, éd. critique et annotée, présentée par Jean Deprun, Jean Ehrard, Annette Lorençeau, in: Dieckmann, H./Varloot, J. (Hg.): Œuvres complètes, Bd. XXV, Paris: Hermann. Herder, Johann Gottfried (1997): Journal meiner Reise im Jahre 1769, in: Werke in 10 Bänden; IX/2, Frankfurt: Deutscher Klassiker Verlag. Mehring Franz [1893] (1963): Die Lessing-Legende: zur Geschichte und Kritik des preußischen Despotismus und der klassischen Literatur, Bd. 9, Berlin: Dietz. Pope, Alexander (1734): Essay on Man, London: Printed by John Wright.

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Klemperers „Romantik und französische Romantik“ 1 H ORST H EINTZE Ich denke an den Satz im Werther, den der Professor seinem Assistenten ins Gedächtnis rief: „Sei ein Mann und folge mir nicht nach.“

Ein seltsames Motto für einen Lehrer, das seinen Schüler in Verwunderung setzte. Wie sollte er sich ihn nicht zum Vorbild nehmen, da er doch um seinetwillen von der Germanistik zur Romanistik gewechselt war? Wo Klemperer doch selber einen Lehrer hatte, von dem er, wie er später gestand, nicht los kam? Für den er ja nicht nur an einer Festschrift mitwirkte, sondern dem er in Dresden den Ehrendoktor verleihen ließ, bei dem er auf der Flucht Aufnahme fand und dessen Arbeiten er regelmäßig besprach? Dem er zuvor auch die Berufung auf den Lehrstuhl für Romanische Philologie an der Technischen Hochschule in Dresden verdankt hatte – kein eigentlicher Universitätskatheder, aber immerhin war er arriviert. Dieses stolze Gefühl hatte er gehabt, als er 1920 als Ordinarius am Neuphilologenkongress in Halle teilnahm und bei der Gelegenheit gegen den Positivismus und für eine Philologie plädierte, die sich als idealistisch verstand. So sollte sich auch die Festschrift nennen, deren Organisation er dem Münchener Mitschüler überließ: „Lerch kämpft um die Vossler-Festschrift … Ich müsste an Winter schreiben, der die Behandlung eines bestimmten gemeinsamen Themas durch alle Mitarbeiter wünscht. Ich schlug vor: Idealistische Neuphilo2 logie und darunter Freiheit für alle Einzelnen.“ Darauf kam es ihm an, auf die Freiheit für alle Einzelnen, jeder auf dem eigenen Sonderweg. Was sich heute als ‚Teamwork‘ versteht, wäre seine Sache nicht. Als man in Halle die Institute aufforderte, ein kollektives Thema zu bearbeiten, verweigerte er sich. Dass Klemperer ein schwieriger Kollege sei, stand für die meisten, mit denen er zu tun hatte, außer Frage. Werner Krauss, mit dem er die Romanistik der DDR repräsentierte, beklagte das „egozentrische Wesen“, und dass er durch „Verachtung der alten Feinde […] die Abneigung der neuen Freunde“ erwerbe. Wie leicht entsteht aber 1 2

In: Costadura, E./Di Maria, D./Klemperer, V./Lerch, E. (Hg.) (1926): Idealistische Neuphilologie. Festschrift für Karl Vossler, Heidelberg: Carl Winters Universitätsbuchhandlung. Tagebuchnotiz vom 25. April 1921. Dass die Idee der Festschrift nicht von Klemperer stammte, verrät die Notiz vom 1. April 1921: „Brief von Lerch. Ein Prof. Pfandl regt eine Vossler-Festschrift zu seinem 50. Geburtstag – Sept. 1922 – an. Ich bin dabei.“

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Rivalität, wenn sich einer am gleichen Ufer niederlässt. „Die unbändigste und am schwersten zu befriedigende Menschenklasse“, so klagte Wilhelm von Humboldt bei 3 der Errichtung der Berliner Universität über die Gelehrten. Seinen Studenten und Mitarbeitern in Halle und Berlin ist der angesehene Professor stets mit bildungsbürgerlicher Liberalität entgegen getreten, und manche Sentenz aus dem Schatz des jüdischen Humors vermochte die Lage zu entspannen. Er ließ seine Studenten nie so lange auf sich warten wie sein jüngerer, philosophisch versierterer Leipziger Kollege, von dem er einmal bemerkte: „Wir sprechen dasselbe Französisch, aber nicht dasselbe Deutsch.“ Er selbst nahm Vosslers leicht spöttisches Urteil über seine moderne französische Prosa von 1923 nicht als geringstes Lob: „Ein Zwittergebilde aus einem Vademecum für sehr vorsichtige gebildete und feine Diplomaten und einem halben Beitrag zur Literaturgeschichte.“ Unterstellte es ihm doch die publizistische Aufgabe, für die Verständigung unter den Nationen beizutragen, was in Bezug auf Frankreich für gebildete Deutsche so kurz nach Versailles nicht leicht war. Doch darum ging es auch bei der Unterscheidung von ‚Romantik‘ als Reaktion auf die Aufklärung und ‚französischer Romantik‘ als deren Ausprägung auf dem romanischen Meridian. Die Studie sollte ihm die Grundlagen für seine Literaturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart bereiten, die 1925 und 1932 in zwei Bänden erschien. Als sie 1956 noch einmal im VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften zu Berlin veröffentlicht wurde, rechtfertigte der Autor die späte Neuauflage unter Berufung auf seine fortschrittlichliberale Haltung während der Weimarer Republik und mit dem Hinweis auf die „eigene Wohnung der Literaturhistorie im Hause der Gesellschaftswissenschaften“, wobei er Autoren wie Ehrenburg und Aragon anführte und deren Hochschätzung des dichterischen Sprachgefühls betonte. Unverändert lag ihm die Wertung des Privaten am Herzen, „das man auch das Allgemeinmenschliche nennen kann“, und wie Lenin und Stalin den Sozialismus mit ihrer Persönlichkeit prägten, „so ist auf dem Felde der Dichtung zweifellos die Persönlichkeit des Dichters entscheidend“, möge sie noch so abhängig von dem gesellschaftlichen „milieu“ und dem historischen „mo4 ment“ sein. Ohne ihre Individualität gäbe es keine Literatur. Doch darum ging es im Jahr vor dem Erscheinen der Festschrift noch nicht. Liest man das Tagebuch von 1921, so scheint es über Monate vom Schatten des DanteJubiläums überlagert, das dem Dresdener Ordinarius schwer zu schaffen machte, mihi colli expandit. In Bezug auf die Romantik war ein Dresdener Vortrag Walzels von Gewicht, zu dem sich der Schreiber die Stichworte notierte: „19. Jh. (Fichte) schiebt Collectivum, Staat ein. (Nein! Montesquieu! Aber gerade bei dem Mann des Gefühls, Rousseau, wird Tradition zunichte und die allgemeine Menschheit vorgeschoben. Das gute alte Recht Uhlands und Savignys (1818) ist bei Montesquieu berücksichtigt und doch wohl auch über Herder nach Deutschl. gedrungen. (Dies gab Walzel gestern im Gespräch zu, brachte mich selber auf Herder). Nicht formlos ist die Romantik. Sie prägt Leben, wo es Form werden will (Simmel). Schlussgedanke W.s: ‚Der Deutsche kann nur im Werden leben, der Romane im Sein.‘“ [Herv.i.O.]

3 4

Brief an Karoline. Berlin den 27. Mai 1810. Im Hinterkopf blieb ihm Taines berühmte Formel von race, milieu et moment.

K LEMPERERS „R OMANTIK UND FRANZÖSISCHE ROMANTIK“

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Am Rande steht markiert: „Unmittelbar mit Frankreich vergleichen!“ (11. September 1921) Schließlich die Notiz vom 23. Dezember 1921: „Ich saß gestern länger an der Reinschrift der Romantikstudie, die ich ganz u. gar corrigiere und durchdenke.“ Im Ergebnis ist keine leichte Lektüre herausgekommen. Reich an Assoziationen richtet sie den Blick nach den Regeln der discretio sowohl auf das jeweils Besondere als auch auf höchst allgemeine Unterscheidungen von Menschentypen, die sich einerseits zu allen Zeiten finden und andererseits unter bestimmten historischen Bedingungen ihre Epoche dominieren. Gehen Zusammenfassungen „im Literarischen wie im Staatlichen“ immer auf Kosten des Einzelnen, so scheint eine Gruppierung angesichts der europäischen Literaturgeschichte doch angebracht: „Denn ungemein deutlich hebt sich eine dreitaktige Bewegung heraus: der Anstieg der romantischen Welle, ein Wellental, das man Realismus zu nennen gewohnt ist […] und eine neue Woge der Romantik, die mit den neunziger Jahren ansteigend noch heute als Neoromantik, Expressionismus, Futurismus usw. mächtig einherflutet.“

Das Bild allein ist imponierend. Vergleicht man seine ozeanischen Metaphorik (vgl. Janowski 2015) mit der Beschreibung, die ein Gustave Le Bon in seiner Psychologie des foules von 1895 von der öffentlichen Rolle der Romantik und des Naturalismus im Bewusstsein der Massen gibt, zeigt sich der Unterschied zwischen rhetorischer Steigerung des Ideellen und abmindernder Litotes einer positivistischen Analyse: „So wandelbar wie die Mode wechseln sie wie die kleinen Wellen, die auf der Oberfläche eines Sees unaufhörlich entstehen und vergehen.“ (Le Bon 2014) Man kann den Streit der zeitgenössischen Richtungen auch von der hohen Warte eines klassischen Humanitätsideals aus betrachten, wie es Wilhelm von Humboldt in der Phase der ansteigenden Welle in einem Brief an seine Karoline getan hat. Im Jahr der Gründung der Berliner Universität schrieb der Freund von Schiller und Goethe, dass er „hübsche gotische Gefühle“ gehabt habe, als er in einer dunklen und ärmlichen Schulstube die Buben beim Lateinunterricht vom Soracte und Tiber lesen hörte, Orte, die er aus eigener Anschauung kannte. Das Schöne und Erhebende müsse den Menschen immer berühren, sei es im Genuss oder im sehnlichen Verlangen: „Und ob mit dem Klassischen und Romantischen, dem Antiken und Gotischem, dem Vollgenuß an der gegenwärtigen Unendlichkeit in einer schönen, reichen, südlichen Natur und dem Brüten über einer idealen Unendlichkeit in der Klosterzelle oder einer nordischen Gegend ist es immer, wie es in der Resignation heißt: Wer dieser Blume eine brach, begehre die (andere) Schwester nicht! Doch vollenden immer nur beide den Menschen …“

Natürlich kannte mein Lehrer seinen Schiller und wusste eine schöne Landschaft zu genießen, doch wenn es um die Literatur und ihre Geschichte ging, faszinierte ihn (dem das Modewort aus ‚beschreien‘ oder ‚behexen‘ völlig fremd erschien) in Bezug auf die Romantik die Fülle der Gegensätzlichkeiten in dem „ungeheuren, funkelnden Reichtum des Begriffes“. Unmittelbar aktuell trat ihm das Problem der nationalen Zuordnung entgegen, das der Anglist Max Deutschbein in seinem Buch über das Wesen der Romantik gestreift hatte. Danach wären die sich wunderbar ergänzende deutsche und englische Romantik für die Franzosen „im wesentlichen fremder Export“

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(Deutschbein 1921) gewesen. So meinten es auch französische Kritiker, die von eingeschmuggeltem Opium sprachen. Einspruch Klemperers: „Historisch falsch!“ Sie hätten Rousseau übersehen, „ohne den die Werke der Romantik nicht gut denkbar“ seien. Auch setzten sie ihre Romantik erst ab 1830 an, obwohl Atala, René, das Génie du christianisme usw. früher erschienen seien. Der Grund würde sich später zeigen, wenn der Begriff geklärt und Frankreichs Anteil gewürdigt sei. Ansonsten ließe sich Romantisches doch zu jeder Zeit erkennen. Bei dem damals aktuellsten Extremfall wimmelte es in der (einzig zugelassenen) Presse der Münchner Räterepublik 1919 von Bildern und Worten der „neoromantischen Schwabinger Künstlerschaft“. Ein anderer Extremfall wäre die Jugenddichtung Klemperers, die eine spätere Kritik für „romantisch-verklärt“ befand (Richter 1989/6). Er selbst ist nie darauf zurückgekommen, obwohl er meinte, man müsse es schon einmal mit der Literatur versucht haben, wenn man darüber schreiben wolle. Jedenfalls fragte er mich einmal, ob ich auch gedichtet hätte. Dem Historiker freilich musste es auf die großen Momente ankommen, die ‚Markscheiden der Weltgeschichte‘, von denen David Friedrich Strauß, der Autor von Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet in seinem tendenziös gemeinten Buch Der Romantiker auf dem Thron der Cäsaren (1847) spricht. Ein (romantisches) Übermaß an Gefühlskräften kommt zum Ausbruch, wenn „der sehnsüchtig rückwärts Gewandte wider eigenen Willen von seiner Zeit, vom Neuen, bereits ergriffen ist“. Dergleichen habe es in der Romania zweimal gegeben, führte der Romanist den Gedanken weiter aus, in der italienischen Renaissance und der französischen Revolution. Aber beide Male sei ein bewusst formender Vernunftwille stärker gewesen, ob in Michelangelos Meisterwerken oder in dem Willen zum Staatlichen, wie er in Napoleon zum Ausdruck kam. Zu einem solchem Schluss ist der literarhistorische Außenseiter jedoch erst gelangt, nachdem er die Begriffsverwirrungen geklärt hatte und das Romantische philologisch bei der Wurzel packte. In der Kritik sollte es ihm zum Triumph gereichen, dass er die „Skizzensammlung“ zu Walther Küchlers Die Französische Romantik von 1908 ad exemplum vorführen konnte. Hatte der Kollege den Satz aus Diderots Paradoxe sur le Comédien zitiert, der für die Auffassung der Aufklärung charakteristisch war – „Les grands poètes, les grands acteurs […] sont les êtres les plus insensibles […]“ – um ihm dessen Widerspruch in der Romantik entgegenzusetzen, wie er am Beispiel von Alfred de Vignys romantischem Drama Chatterton belegen wollte, so sind ihm die Worte des sterbenden Künstlergenies im dritten Akt entgangen: „Les Passions des poètes n’existent qu’à peine … franchement ils n’aiment rien; ce sont tous des égoistes. Le cerveau se nourrit aux dépens du cœur.“ Das Hirn nährt sich auf Kosten des Herzens. Wie könnte es anders sein, bemerkt der Kritiker, wo der „mächtigste Urahn des romantischen Helden“, der aus des Dichters Erleben hervorgegangene Werther, mit kühlem Kopfe gestaltet wurde: „Wenn ein Zittern in den Gestalten ist, so ist es in den Gestalten, der Künstler hat es absichtlich hineinmodelliert, und die formenden Finger sind vollkommen ruhig gewesen.“ Mit dem Gefühl allein könne man „nichts machen“, das heißt gestalten. Gestaltung setze voraus, dass ein Erlebtes – wozu nicht allein „die körperhaft unmittelbare Erfahrung“ gehöre, sondern auch „das zeitlich und räumlich Entfernteste“ – kühl geformt werde. Es scheine darum nicht angängig, die Stärke des Gefühls zum Merkmal des Romantischen zu machen, was der Neigung zum Zergrübeln, die Curtius in sei-

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ner Barrès-Monografie hervorhebt, zuwider liefe: „[…] il faut sentir le plus possible en analysant le plus possible.“ Noch einmal: „Es kann auf keine Weise die romantische Weltanschauung als rein gefühlsmäßige, noch romantische Kunst als reine Gefühlskunst definiert werden.“ Es scheine vielmehr der innere Widerspruch zu sein, aus dem diese Gefühle sich ergeben. Man könne vielleicht an Leopardi und seine zwiespältige Haltung zur Romantik denken, bei dem es nach der modernen Auffas5 sung zu einer „inszenierten Selbsttäuschung in der Krise des Bewusstseins“ gekommen sei. Wenn indes Klemperer die Verknüpfung von Gefühl und Vernunft hervorhob, kam es ihm wohl eher darauf an, den geliebten Aufklärern, vor allem seinem Voltaire, einen Platz in der Poesie zu sichern. Eines der wichtigsten Kapitel über ihn lautet „Der dichterische Journalist“ (Klemperer 2004). Dem Kritiker musste es als ein Gebot der Vernunft erscheinen, dass man die Romantik nicht auf Wesenszüge festlegt, die ihr nicht allein zukommen. So nahm ein Deutschbein, dessen feine, auf phänomenologische Betrachtungsweise gestützte Differenzierungen auch Klemperers Anerkennung fanden, den Begriff der ‚Synthese‘ für seinen Romantikbegriff in Beschlag. Doch dagegen spreche schon die romantische Neigung zum Fragmentarischen, die Klemperer allerdings nicht als „Ausdruck der Unmöglichkeit“ verstand, „abgeschlossenes Wissen und inneren Zusammenhang 6 vorzutäuschen, da nur einzeln beobachtete Phänomene möglich seien“. Dasselbe gelte im Prinzip auch für den Anspruch, das Individuum als Typus des Romantischen festzulegen. Verstehe man darunter die Selbstbestimmtheit des Willens, ließe sich auch der Cornelianische Held dafür einsetzen. Hier verfuhr mein verehrter Lehrer offenbar nach dem Prinzip von ‚Ockhams Rasiermesser‘– Condorcet nannte es „le rasoir des nominaux“: Wenn die Romantik ‚Synthese‘ oder ‚Individualität‘ als sogenannte entia für sich beanspruche, was solle für die anderen Epochen übrig bleiben? Dasselbe mochte für Deutschbeins „fancy-imagination“ oder Schmidt-Dorotićs „Okkasionalismus“ gelten, die dem Skalpell des begrifflichen Sparsamkeitsprinzips zum Opfer fielen. Sind die Systeme eingespart, bleibt nur das Wort als Kristallisationspunkt der Begriffsbestimmung. Küchler sei dem Romanisch-Romantischen nicht bis in die Wurzel nachgegangen. Er hätte berücksichtigen müssen, dass Madame de Staël erst durch Schlegel auf die romantische Literaturgattung aufmerksam gemacht worden sei und dass bei den Brüdern Schlegel, die „den Blick auf den romanischen Westen und Süden gerichtet hatten, offenbar die Verwandtschaft der Worte ‚romanisch‘ und ‚romantisch‘ noch stark im Bewusstsein lebte“. Schlägt man das etymologische Wörterbuch von Meyer-Lübke auf, findet man unter dem altfranzösischen Begriff ‚romans < romanice‘ „die Volkssprache im Gegensatz zum Lateinischen“, ein Volgare als Massenidiom, vulgär, regellos, unwahr, unumgrenzt und dreifach romanhaft, denn alles, was verstandesmäßig gefügt war, fand seinen Ausdruck im klassischen Latein. So galten später unregelmäßige Parkanlagen als ‚romanesk‘, und als sich in Frankreich die romantische Schule bildete, verlockte es diese Bohemiens, sich wie die Geusen mit dem Namen ‚romantique‘ zu drapieren. Ein Rest von Deutschbeins Synthese und

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Thema der Leopardi-Tagung der deutschen Leopardi-Gesellschaft 2015 in Weimar. Siehe auch die „paradoxe Praxis“, von der Walter Benjamin in Blick auf Leopardi sprach. Unter Berufung auf Francis Bacon zit.n. Di Maria 2015.

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von Schmitt-Dorotićs Ausweichen vor jeder Entscheidung sollte sich in diese Auffassung von Entgrenzung und Fessellosigkeit fügen: „So nenne ich romantisch einen Menschen, der sein Ich ständig entgrenzt, der um sein körperliches, sein bürgerliches, sein fühlendes Ich keine Grenzen duldet. Der aber zu einer Aufgabe seines Ichs, zu einer wirklichen Hingabe niemals kommt, denn das wäre ja eine Unterwerfung, ein Umgrenztsein […].“

Dieses romantische Ich ist nur mit sich selber beschäftigt und schlingt alle Außenwelt in sich hinein. Ein pathologischer Fall, möchte man sagen, der massenhafte Züge annimmt. Man kann an der Sprache erkennen, dass sich hier ein Homme de Lettres von der Kraft seiner Argumente hinreißen lässt. War schon dem Gymnasiasten in Landsberg erfreuliche Formgewandtheit bescheinigt worden, so hört man nun den vir bonus dicendi peritus auf dem Katheder, wenn er von Zustand und Folgen der Entgrenzung des Ich spricht. Da ist von der organischen Beseelung der Welt die Rede, von der scherenhaltenden Parze der Ironie und der fragmentarischen Auflösung alles Geschlossenen. Es wäre immer noch viel zu sagen, wenn alles gesagt ist: „Oh me lassa! Ch’io non son possente / Di dir quel ch’odo della donna mia!“, wie sich Dante dazu anführen lässt. Darüber hinaus (für Klemperer eine charakteristische Bildung der LQI) räumliche Entgrenzung, Offenheit für die rückwärts führende Zeit und die subjektive Vereinnahmung des Fremden: „[U]nd bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt: „Ging die Assimilierung nicht zwanglos vonstatten, so wurde mit mehr oder minder Erfolg Gewalt angewendet. Den unromantischen Dante gewann man nicht: sein Werk und seine Gestalt wurden verbogen“. Es sind Töne, die wir in Klemperers Der fremde Dante wiederfinden. Und wie Quintilian lehrte, dass der Tadel umso gerechter erscheint, wie er das Lobenswerte zugesteht, wird die Entgrenzung dem eigenen Volk gegenüber als ein schönes Zeichen gewürdigt. Doch auch dafür gibt es den französischen Wurzelstock, Montesquieus L’Esprit des lois, das Münchener Habilitationsthema Klemperers. Die Vision des Entgrenzens ließ sich in vielen Bezügen erkennen, in den gotischen Bauten des Mittelalters so gut wie in Caspar David Friedrichs Hochgebirge oder den Urwaldriesen, im Gott eines Chateaubriand und dem rastlosen Übermaß an Weltgier und Weltflucht, in der Abneigung gegen den Philister und der Verherrlichung des Künstlers. Auch die feinere Darstellung des Ichs mit den Mitteln der Synästhesie verdankt sich einer Einbindung des Entgrenzenden. Erstaunlich, wie viel Literaturgeschichte dieses Spannungsfeld umfasst, von Petrarca zu Machiavelli und von Montesquieu zu Rousseau. Als Prinzip aber gilt: „Nicht der Subjektivismus, nicht die Macht des Gefühls, nicht der religiöse Aufschwung fehlen dem Romanen; aber ein Drang zur Begrenzung, zur Ordnung, zum Festen, zur geschlossenen Form ist immer in ihm.“ Wollte ich dem Vorbild meines Lehrers folgend weiteren romanischen Gestaltungen des Romantischen in der Literatur nachgehen, könnte ich an Leopardi denken, dessen Canto L’infinito vom Unendlichen („L’infinito, 1819) dem eingeschränkten Blick, „veduta ristretta“, die Aussicht auf eine Unendlichkeit eröffnet, in deren Meer zu versinken den Denkenden beglückt: „Così tra questa / immensità il pensier mio: / e il naufragar m’è dolce in questa mare.“ Auf den Zusammenhang mit der deutschen Frühromantik hat jüngst Arnaldo Di Benedetto in seinem Beitrag zur Jenenser Romantiktagung von 2013 hingewiesen, wobei es Leopardi vermocht hätte, das Sublime

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oder Erhabene des 18. Jahrhunderts romantisch zu erneuern (vgl. Di Benedetto 2015). „Der Dichter ahmt die Natur nicht nach“, heißt es im Zibaldone. Er lausche, wie sie in ihm spricht, und erscheine so zuletzt als „Nachahmer seiner selbst“. So komme es zu einer Verbindung zwischen dem formenden Willen und der empfundenen Natur im Innern des Dichters, so wie sich sein ausschweifendes Denken mit der Hecke auf dem einsamen Hügel vereine, die den fernsten Horizont dem Blick entzieht: „[C]he da tanta parte / Dell’ultimo orizzonte il guardo esclude.“ Es ist, als ob die Poesie der coincidentia oppositorum entspräche, die Nikolaus von Kues mit Gott gleichsetzte. Sieht man bei Klemperer nicht auf das ständig zu „corrigierende“ literarhistorische Wissen, sondern würdigt den journalistisch begabten Philologen oder philologisch gebildeten Journalisten, so verrät die kleine Romantikstudie die Klaue des Löwen, der mit seinen Vorlesungen Hörer aller Fakultäten aufhorchen ließ. Auch ermutigte ihn die Überredungskraft zu der Anlage seiner Bücher, die sich dank seiner großen Belesenheit in allen Variationen des Romantisierens erging, sei es der stoische Objektivismus und Skeptizismus Flauberts oder die neurasthenischen Gehetztheit eines Baudelaire oder der Brüder Goncourt oder die sich entromantisierende Neoromantik. Es mag sich lohnen, die klemperersche Literaturgeschichtsschreibung als Kunstwerk eines Außenseiters zu betrachten, der sich öfters in seinen späteren Jahren an den Wuppdich erinnerte, mit dem er früher einmal, vor 1933, geschrieben habe, wenn es ihn auch kränkte, im abschätzigen Sinn für einen Journalisten gehalten zu werden. Vosslers Vademecum-Verfasser für Diplomaten lag es am Herzen, den Reichtum der Formen aufzuweisen, den die Franzosen zum Prozess der Romantisierung beitrugen. Da schien es bemerkenswert, dass sie bei sich die Romantik erst mit Victor Hugos Dramen beginnen ließen, deren Helden sich in Willenskraft und Selbstbeherrschung mit jenen von Corneille messen konnten. Mir fällt in diesem Zusammenhang die ironische Bemerkung Nietzsches ein, die auf sein Lob der französischen Bildung folgte: „Zwei Jahrhunderte psychologische und artistische Disziplin zuerst, meine Herren Germanen! … Aber das halt man nicht ein“ (Nietzsche 2007). Ganz so wie Nietzsche (nach 1871) meinte es Klemperer nicht, als er seine Studie von 1922 mit politischer Leidenschaft abschloss: „Man kann diesen Teil der Geistesgeschichte nicht betrachten, ohne das feindselige Ringen der beiden derart verflochtenen Völker als etwas sinnlos Ungeheuerliches zu empfinden.“ Dem Patrioten ging es um Verständigung angesichts eines gemeinsamen Erbes, und um eine ‚deutsche‘ statt einer ‚teuschen‘ Romantik, welche die gemeinsamen Wurzeln abschlug. Heute lässt sich Klemperers Verbindung von Literatur- und Zeitgeschichte nicht ohne die Tagebücher von 1933 bis 1945 und seine „LTI“ von 1947 denken, die mahnend gegen die Sprache des „Ungeheuerlichen“ gerichtet war. Mir ist die Romantikstudie Klemperers als bescheidener Sonderdruck in die Hände gefallen, mit dem Vermerk von unbekannter Hand: Für Horst Heintze. Sie sollte mich an eben jenen Teil von Klemperers Werk erinnern, der angesichts seiner Aufklärungsforschung in den Hintergrund geraten schien. Mit Voltaire, dem Herrn von Ferney und „Homme aux Callas“, konnte er sich jederzeit identifizieren, vor allem in den Zeiten, da sein Freigeist nichts gelten durfte. Im Zeichen der Verdunkelung leuchtete das „siècle des lumières“ umso heller. Seine älteste Schülerin, Rita Schober, hat es sich angelegen sein lassen, an diesen Teil seines Schaffens zu erinnern

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(vgl. Klemperer 2004). Die Romantik aber war noch keine Vergangenheit und „audessus de la mêlée“. In dieser Gegenwart musste sich der streitbare und umstrittene Romanist ins Freie wagen und seine eigenen Thesen aufstellen und verteidigen, gewissermaßen von der Außenseite in die Innenseite. Die Schüler mögen es auf ihre Weise versuchen, denn so weit war auch er ein Zeitgenosse der Romantiker, dass er es für unmöglich hielt, das Reich des Geistes einem bindenden System zu unterwerfen, so wissenschaftlich es sich auch darstellen mochte. „Helf er sich“, hätte er gesagt. Du musst Dir selbst etwas einfallen lassen.

L ITERATUR Costadura, E./Di Maria, D./Klemperer, V./Lerch, E. (Hg.) (1926): Idealistische Neuphilologie. Festschrift für Karl Vossler, Heidelberg: Carl Winters Universitätsbuchhandlung. Costadura, E./Di Maria, D./Neumeister, S. (Hg.) (2015): Leopardi und die europäische Romantik: Akten der 23. Jahrestagung der Deutschen LeopardiGesellschaft in Jena, 7.-9. November 2013. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, S. 69. Deutschbein, Max (1921): Das Wesen des Romantischen, Cöthen: Otto Schulze. Di Benedetto, A. (2015): „Leopardi und die Romantik“, in: Costadura, E./Di Maria, D./Neumeister, S. (Hg.) (2015): Leopardi und die europäische Romantik: Akten der 23. Jahrestagung der Deutschen Leopardi-Gesellschaft in Jena, 7.-9. November 2013, Heidelberg: Universitätsverlag Winter, S. 69. Di Maria, D. (2015): „Leopardis Poetiken des Unvollendeten. Vom romantischen Fragment zum unendlichen Aphorismus“, in: Costadura, E./Di Maria, D./ Neumeister, S. (Hg.): Leopardi und die europäische Romantik: Akten der 23. Jahrestagung der Deutschen Leopardi-Gesellschaft in Jena, 7.-9. November 2013, Heidelberg: Universitätsverlag Winter, S. 69. Janowski, Franca (2015): „Das Wehen der Geschichte“, in: Costadura, E./Di Maria, D./ Klemperer, V./Lerch, E. (Hg.): Idealistische Neuphilologie. Festschrift für Karl Vossler, Heidelberg: Carl Winters Universitätsbuchhandlung. Auch in „Romanische Sonderart“ 1926. Klemperer, Victor (1956): Geschichte der französischen Literatur im 19. und 20. Jahrhundert, in zwei Bänden, 1800-1925. (I. Bd.: Wege zur Romantik, Die Romantik, Der Positivismus. II. Bd.: Herausbildung einer neuen Klassik), Berlin: Deutscher Verlag der Wissenschaften. Klemperer, Victor (2004): Voltaire. Mit einem Nachwort von Rita Schober, Berlin: Verlag Walter Frey, edition tranvía. Le Bon, Gustave (2014): Psychologie der Massen, Hamburg: Nikol. Nietzsche, Friedrich (2007). Ecce homo. Wie man wird, was man ist, Köln: Anaconda. Richter, Sabine (1989/6): „Victor Klemperer 1898-1913: Gymnasiast, Student, Literat, Bohemien, Wanderredner und promovierter Germanist“, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin, Reihe Gesellschaftswissenschaften.

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Seidel, Gerdi (2005): Vom Leben und Überleben eines Luxusfaches. Die Anfangsjahre der Romanistik in der DDR (Studien zur Wissenschafts- und Universitätsgeschichte), Heidelberg: Synchron.

Katholisches oder protestantisches Gebet? François de Sales’ Introduction à la Vie Dévote in Großbritannien S ABINE V OLK -B IRKE

Als Teil der Kulturwissenschaft sind die Übersetzungswissenschaften ein wichtiges Forschungsgebiet im Rahmen der Studien zur Aufklärung geworden. Stephanie Stockhorst hat in der Einleitung zu ihrem Sammelband Cultural Transfer through Translation (2010) darauf hingewiesen, dass intellektuelle Netzwerke mit ihrem wechselseitigen Einfluss die Epoche der Aufklärung geradezu definieren. 1 Es ist in der Übersetzungswissenschaft heute eine Selbstverständlichkeit, dass der Transfer von einer Sprache in eine andere immer auch eine Veränderung des Ursprungstexts mit sich bringt. Denn es wird eine auf die Zielkultur gerichtete Adaptationsleistung nötig, deren Anliegen es ist, das Fremde zur Kenntnis zu bringen, es aber gleichzeitig auch in der neuen Umgebung vertraut und nützlich erscheinen zu lassen. Wenn die Übertragung nationale Grenzen überschreitet, führen diese Prozesse teils zu einer Standardisierung von zentralen Konzepten, Werten und Texten, teils aber auch zu nationalen Spezifika (vgl. ebd. 8). Wenn religiöse Texte nicht nur sprachliche, sondern auch konfessionelle Grenzen überschreiten, kann man vermuten, dass die jeweiligen Anpassungsprozesse deutlicher sichtbar sind als bei philosophischen oder naturwissenschaftlichen Texten. Die Forschung hat sich in Ansätzen mit solchen transnationalen Rezeptionsprozessen von Frömmigkeitsliteratur befasst. Allerdings fordert Carlos Eire in seinem Aufsatz über die Übersetzungen katholischer Andachtsliteratur in der frühen Neuzeit mehr komparatistische Arbeiten über die rivalisierenden Reformationen: „Devotional life develops as much from discontinuities as from continuities, and identities are forged as much by antagonism and conflict as by axiomatic instruction“ (Eire 2007: 99). Er geht davon aus, dass solche Forschungsansätze in der Lage sein würden, z.B. die „master narrative“ zu modifizieren, die von der Entwicklung des modernen Katholizismus auf dem Kontinent erzählt wird. Diese geht von einer mehr oder weniger direkten Linie aus, deren Ursprung in einer mittelalterlichen rheinischflämischen Tradition zu suchen sei, die ihrerseits Spanien beeinflusst und von dort nach Frankreich wandert. Inwiefern der englische Katholizismus in dieses Bild passt, wäre sicher eine Untersuchung wert, da die besondere Situation dieser bis 1829 offiziell verbotenen Konfession in Großbritannien einen intensiven Austausch von Lite1

„[T]he notion of a discursive community based on networking and reciprocal stimulation constitutes the very self-image of the Enlightenment“ (Stockhorst 2010: 7).

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ratur und Personen mit dem Kontinent, vor allem mit Frankreich und Spanien, unverzichtbar machte. Dabei kam es aber nicht nur zur katholischen Rezeption französischer Texte, sondern auch zu signifikanten Grenzüberschreitungen zwischen katholischer und protestantischer Frömmigkeit. Ein besonders aufschlussreiches Beispiel für solche transnationalen Prozesse sind zwei protestantische (anglikanische) Adaptionen von Franz von Sales’ Introduction à la Vie Dévote. Dieses Werk ist seit seinem Erscheinen 1609 ein Klassiker der Frömmigkeitsliteratur in Europa und Amerika (vgl. Mellinghoff-Bourgerie/Mellinghoff 2007, Boenzi 2013). In viele Sprachen übersetzt und in den unterschiedlichsten Formaten nachgedruckt und bearbeitet, übte es einen großen Einfluss auf Katholiken wie Protestanten aus. Seine Rezeption in Großbritannien läuft über zwei unterschiedliche Wege und in zwei unterschiedlichen Formen; einmal in Übersetzung für katholische und einmal in Übersetzung (und Bearbeitung) für protestantische, d.h. anglikanische Gläubige. Im Folgenden möchte ich zeigen, welche Transformationen der Text erfuhr und welche Schlüsse daraus gezogen werden können in Bezug auf die mentale Haltung, aus der das Phänomen Gebet entspringt bzw. welche materiellen sowie spirituellen Voraussetzungen die Rezeption des Textes jeweils beeinflussen. Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf der jeweiligen Rahmung liegen. Hier müssen die biografischen Prägungen der jeweiligen Bearbeiter ebenso Beachtung finden wie die Einleitungen, Widmungen, Kommentare und Frontispize. Alle diese Aspekte tragen insgesamt zu einem differenzierten Bild dessen bei, was Katholiken und Anglikaner im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert als gemeinsame Basis betrachten konnten, aber auch welche Vorstellungen von Vernunft, Gefühl und Identität ihre Einstellung zum Gebet prägten. Zunächst werde ich kurz auf den französischen Ursprungstext eingehen, um dann einige Aspekte der komplexen Überlieferungsgeschichte bis 1762 zu skizzieren. Im Hauptteil stelle ich die zwei bedeutendsten protestantischen Bearbeitungen vor und erläutere die Veränderungen gegenüber dem Ursprungstext. Ich konzentriere mich dann auf die Rahmung eines dieser Texte im Vergleich zum Ursprungstext. Daraus ziehe ich einige Schlüsse für die Unterschiede zwischen der katholischen und den anglikanischen Versionen und ihrem Einfluss auf ihr jeweiliges Publikum. Die Anleitung zum Gebet, die Franz von Sales in seiner Introduction à la Vie Dévote gibt, richtet sich an ein breites Publikum von Laien beiderlei Geschlechts, die ein frommes Leben führen wollen, während sie ihren säkularen täglichen Pflichten nachkommen. Das Werk legt besonderen Wert auf Gebet und tätige Liebe. Sein Stil ist schnörkellos, ohne gelehrte Zitate, seine Metaphern sind vorwiegend aus dem praktischen Leben und mit seinen zahlreichen freundlichen und ermutigenden Leseranreden ist der Ton herzlich, ohne sentimental oder herablassend zu werden. Das Buch setzt sich in der ersten Auflage aus drei, in den weiteren aus fünf Teilen zusammen: Der erste enthält Ratschläge und Übungen, die die Seele von ihrem ersten Impuls, ein frommes Leben zu führen, bis zum gereiften Entschluss, dies zu tun, geleiten. In gewisser Weise ist dieser Teil die Essenz des ganzen Werks, denn er führt die Leser durch eine Reihe von Reinigungen und Meditationen zu einer Generalbeichte bis zur wohlüberlegten und gut vorbereiteten Entscheidung, die den Beginn des frommen Lebens darstellt. Der zweite Teil greift das Problem aus einer anderen Perspektive auf: Er will lehren, wie man durch Gebet und Sakramente (vor allem die Eucharistie) mit Gott in Kontakt tritt. Dieser Teil ist bereits durch Querverweise mit

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dem ersten Teil verwoben: Wer nicht weiß, wie man betet oder meditiert, soll den zweiten Teil lesen. Der dritte Teil richtet sich an eine weitere Fähigkeit der Gläubigen, die mit dem Weg, den der erste Teil aufzeigt, eng verknüpft ist. Hier sollen die Leser lernen, wie man die Sünde meidet und tugendhaft lebt (in der fünfteiligen Struktur gibt es ein Kapitel zu den Tugenden, eines zu den Versuchungen und eines zur erneuten Stärkung der Seele). Man kann also das Werk konsekutiv, einen Teil nach dem anderen, lesen, aber man kann auch hin- und herspringen und es wie ein Nachschlagewerk oder eine Gebrauchsanweisung nutzen, in der man Lösungen für einzelne Probleme findet, die im mentalen und spirituellen Trainingsprogramm auftauchen. Diese kleine Skizze des Buchs lässt allerdings dessen spezifisch katholische Aspekte außer Acht, wie z.B. Verweise auf die Jungfrau Maria, auf das Wesen und die Bedeutung der Ohrenbeichte und der Kommunion, Ratschläge über Körperhaltungen während des Gebets, Hinweise auf andere Texte der Frömmigkeitsliteratur oder Argumente und Beispiele, die sich auf verschiedene Heilige oder die Kirchenväter beziehen. Viele solcher Passagen des Ursprungstexts würden anglikanische Leser befremden, und nicht wenige würden – vor allem in der frühen Neuzeit – als häretisch, blasphemisch oder abergläubisch verurteilt werden. Bevor wir uns den protestantischen Adaptionen zuwenden können, müssen wir einen kurzen Blick auf die Übersetzungsgeschichte werfen. Es gibt einen kontinentalen Strang und einen englischen Strang, wobei sich beide auch teilweise überlappen. Kommen wir zunächst zum kontinentalen Strang. Die erste englische Übersetzung wurde bereits 1613 angefertigt. Sie stammt von einem Benediktiner namens John Yakesley oder Yaworth, und wurde in Douai publiziert (vgl. de Sales 1613). Im Jahr 1617 erschien die zweite Auflage, gedruckt von John Heigham (mit Imprimatur; vgl. de Sales 1617), und 1637 wurde die sogenannte ‚letzte‘ Auflage in Paris gedruckt. Eine weitere englische Übersetzung wurde von den Priestern des Collège de Tournai in Paris im Jahr 1648 besorgt und in einem sehr kleinen Format gedruckt. Diese wurde 1669 in London nachgedruckt, und es könnte diese Übersetzung sein, die in London sowohl 1675 als auch 1686 von Henry Hills 2 nachgedruckt wurde. Die Übersetzung, die 1616 von Nicholas Okes in London gedruckt wurde, erwähnt auf dem Titelblatt weder einen Übersetzer noch einen Herausgeber. Es handelt sich eindeutig um die Übersetzung von Yakesley, aber eine beträchtliche Anzahl von sehr katholischen Stellen wurde getilgt (vgl. de Sales 1616). Dieses Buch scheint von niemandem beanstandet worden zu sein. Anders die Ausgabe, die Okes im Jahr 1637 druckte (vgl. de Sales 1637). Okes hatte das Buch dem Zensor (einem Kaplan im Dienste des Erzbischofs von Canterbury, William Laud) vorgelegt, der, wie es heißt, einige Stellen gestrichen sehen wollte, im Übrigen aber das Werk für den Druck frei2

Henry Hills gehört zu den schillerndsten Gestalten der „Stationers‘ Company“ im 17. Jahrhundert, da er eine herausgehobene Rolle in einigen religiösen Kontroversen seiner Zeit spielte und sich – je nach politischer Situation – mit wechselnden Regierungen zu arrangieren wusste. Er druckte die King James Bibel, war aber zuvor auch offizieller Drucker der Regierung von Oliver Cromwell, und druckte später wichtige Schriften für die Baptisten. Auf dem Titelblatt des Druckes der Introduction von 1686 weist er sich zu Recht aus als „Printer to the Kings [sic] most excellent Majesty, for his Household and Chappel [sic]“. (vgl. dazu Kreitzer 2011: http://www.campbellsville.edu/).

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gab. Allerdings stellte sich dann heraus, dass die katholischen Passagen nach wie vor Teil der Ausgabe waren. Die Konsequenzen bekam Okes umgehend zu spüren: Eine Proklamation des Königs rief alle Bücher zurück, sie wurden verbrannt, und Okes kam ins Gefängnis. Zwei Exemplare dieses Drucks haben sich dennoch erhalten; sie befinden sich in den USA in der Huntingdon Library und in der Folger Library. 3 Soweit die kontinentalen Übersetzungen ins Englische. Im Jahr 1762 erschien eine ganz neue, englische Übersetzung von Richard Challoner, der seit 1758 apostolischer Nuntius für den Distrikt London und (seit 1741) Bischof von Debra war. Challoner stellt auf dem Titelblatt ausdrücklich klar, dass sich seine Übersetzung an der französischen Fassung letzter Hand (das ist für ihn die dritte Auflage) von Franz von Sales orientiert (vgl. de Sales 1762), und im Vorwort erläutert er, dass er seinen englischen Lesern eine vollständige, originalgetreue Fassung vorlegen will, ohne die Veränderungen, die vorherige Übersetzer oder Herausgeber durch Auslassung oder Hinzufügungen am Text vorgenommen hatten. Seine Übersetzung wurde wiederholt nachgedruckt, sie galt lange als verbindlich. Alle diese Übersetzungen sind katholischen Ursprungs bzw. deren anonyme Adaptionen für einen Leserkreis in England, dem auch Anglikaner angehören könnten. Diese Werke geben allerdings kaum Informationen über ihren Ursprung preis. Auf der anderen Seite gibt es zwei distinktiv anglikanische Versionen, deren Urheber namentlich bekannt sind. Eine Bearbeitung, erschienen 1673 (vgl. de Sales 1673), stammt von Henry Dodwell, einem humanistisch gebildeten Wissenschaftler und Theologen. Er nimmt die bereinigte Übersetzung von Yakesley aus dem Jahr 1616 als Grundlage für seine Version. Die andere Bearbeitung, erschienen 1701 (vgl. de Sales 1701), geht auf den Geistlichen William Nicholls zurück. Sie beruht auf der Tournai-Übersetzung, die vor allem durch größere Auslassungen verändert wurde. Beide Bearbeiter nahmen aktiven Anteil an den theologischen und administrativen Debatten ihrer Zeit und haben viel publiziert. Henry Dodwell (1641-1711) wurde in Dublin geboren. Er verbrachte einige Jahre in England, wo er auch zur Schule ging, um nach dem Tod seiner Eltern nach Irland zurückzukehren. Seinen Bachelor of Arts und Master of Arts erhielt er am Trinity College, Dublin. Da er nicht Priester werden wollte, schied er 1666 aus dem College aus und widmete sich als Laie mit seinen Schriften dem Dienst der Kirche. Sein besonderes Interesse galt der Philologie, der Geschichte der Antike, der Bibel und der Patristik; Disziplinen, die er auch für angehende Geistliche für unverzichtbar hielt. Im Jahr 1674 zog er nach London, da er mit englischen Wissenschaftlern in Kontakt bleiben wollte. Er begann, kontrovers diskutierte Schriften gegen den Katholizismus und Nonkonformismus (z.B. gegen Richard Baxter) zu schreiben, aber auch Verteidigungen der Anglikanischen Kirche der Restaurationszeit mit ihrem Episkopat. Sein Ruf als Gelehrter wuchs in dieser Zeit beträchtlich und er wurde sehr bekannt. 1688 erhielt er in Oxford den Camden-Lehrstuhl für Geschichte. Die theologischpolitischen Implikationen der „Glorious Revolution“, die zur Absetzung zahlreicher Bischöfe der anglikanischen Hochkirche führten, weil diese den Eid auf William und 3

Die komplexe Geschichte dieses Ereignisses und seine Konsequenzen für Erzbischof Laud sowie die Unterschiede zwischen der Fassung von 1616 und der von 1637 sind in einem Aufsatz von N.W. Bawcutt sehr detailliert und gut belegt dargestellt (vgl. Bawcutt 2000: 403-438).

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Mary verweigerten, brachten auch Dodwell in Konflikt mit der Krone. Er wurde zu einem wichtigen Vertreter der Gruppe der sogenannten „Nonjurors“ und musste seinen Lehrstuhl aufgeben. Zwar söhnte er sich später wieder mit der Obrigkeit aus, aber es gab eine Reihe von Zerwürfnissen, die ihn sehr kränkten. Obwohl Teile seines sehr umfangreichen antiquarischen Werks kritisch beurteilt wurden, gibt es keinen Zweifel an seiner umfassenden Bildung und vielen ebenso wichtigen wie originellen Einsichten und Schriften von bleibendem Wert. William Nicholls (1664-1712) besuchte die St Paul’s School in London und erhielt seinen Master of Arts sowie seinen Doktor in Theologie von der Universität Oxford. Nach seiner Weihe zum Priester im Jahr 1688 hatte er Stellen in verschiedenen Pfarreien, bis er schließlich im Jahr 1707 Kanoniker in Chichester wurde. Er schrieb mehrere Verteidigungen eines orthodoxen Christentums und wandte sich gegen die Lehren von Machiavelli und Hobbes. Sein Traktat Defensio ecclesiae Anglicanae erschien 1707 und 1708. Er schickte zahlreiche Exemplare dieser Schrift auf den Kontinent, u.a. an den König von Preußen und verschiedene europäische Gelehrte, in der Hoffnung, dass sie die besonderen Qualitäten der anglikanischen Kirche anerkennen würden. Mit einigen dieser Personen gab es daraufhin einen Briefwechsel. Nicholls’ Hauptwerk war ein Kommentar zum anglikanischen Gebetbuch, dem Book of Common Prayer (1710 und 1711), das er Königin Anne widmete. Nicholls starb am 11. April 1712. Ich konzentriere mich im Folgenden auf die Rahmung der Texte durch die Einleitungen und vergleiche den Umgang beider Bearbeiter mit dem zweiten Teil des Werks, der sich vor allem auf die Praxis des Gebets bezieht. Danach gehe ich auf die Frontispize des französischen Ursprungstextes ein, sowie der französischen Ausgabe von 1619, und der Ausgabe, die von der königlichen Druckerei in Paris im Jahr 1641 herausgebracht wurde. Diese vergleiche ich mit dem Titelblatt des englischen Druckes von Nicholas Okes von 1616, dem Titelblatt der Bearbeitung von Henry Dodwell und dem Titelblatt und Frontispiz der Bearbeitung von William Nicholls. Franz von Sales stellt seinem Text ein Widmungsgebet an Christus voran. Vor allem dessen emotionaler Bezug zu Jesus mit der dreimaligen Wiederholung der Anrufung bei dem Wunsch, er möge leben und in seinem Herzen, wie in dem aller Gläubigen, regieren („le mot que de tout mon cœur je prononce en témoignage de fidélité, parmi les hasards de cette vie mortelle: VIVE JÉSUS, VIVE JÉSUS! Oui, Seigneur Jésus, vivez et régnez en nos cœurs“, de Sales 1969: 19), bot Anlass zur Kontroverse. Die Übersetzung in der Version von Yakesley lautet im Druck von Heigham: „I pronounce from my hart [sic], as a testimonie of my faith and fidelity; Life and glorie to my Lord and Saviour IESUS, even so sweete JESU, live and raigne [sic] graciously, and gloriously in our soules for ever, and ever. Amen“ (de Sales 1617: 9). Wenn auch der zweimalige Ausruf „vive Jésus“ nicht direkt so in der Übersetzung erscheint, sondern die Anrufung mehr in den Satz integriert ist, so weist doch der Gebrauch der Majuskeln darauf hin, dass der Übersetzer den wesentlichen Gehalt dieser Stelle abbilden wollte. Nicolas Okes übernimmt im Druck von 1616 das ganze Widmungsgebet in dieser Fassung, was diese Ausgabe trotz der Kürzungen als ‚katholischen‘ Text erscheinen lässt. Henry Dodwell lässt das Gebet fort; eine Entscheidung, die auch William Nicholls trifft. Bei Franz von Sales gibt es eine Einleitung von 15 Seiten. Diese ersetzt Dodwell durch sein eigenes Vorwort von 76 Seiten. Darin verteidigt er nicht nur die wertvol-

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len Aspekte von Sales’ Introduction, sondern liefert gleichzeitig gelehrte Kommentare über konfessionelle Differenzen sowie Gründe für religiöse Toleranz, gespickt mit Verweisen auf theologische Autoritäten. So bietet es einen signifikanten Gegensatz zu dem klaren und einfachen Stil des Handbuchs, das es rahmt. Dodwell geht aber auch auf einige spezifische inhaltliche Aspekte von Sales’ Anweisungen ein. Vor allem hebt er die Bedeutung von Meditation, täglicher Gewissenserforschung und stillem, frei formuliertem Gebet („mental prayer“) hervor. Letzteres unterscheidet ihn deutlich von William Nicholls, der gegen das persönliche, nicht standardisierte Gebet gravierende Bedenken erhebt. Dodwell hingegen empfiehlt alle diese Aspekte geistlicher Übung nicht nur in der Öffentlichkeit der Kirche, d.h. im Kreis der Gemeinde oder in der Familie, sondern gerade auch im zurückgezogenen, privaten Raum. Nach seiner Auffassung fehlt es den protestantischen Schriften an Innerlichkeit. Hier fülle Franz von Sales mit seinen Anleitungen zu Besinnung und Einkehr eine Lücke. Diese könnten den Gläubigen helfen, ihre Fehler zu erkennen und den Glauben so zu festigen, dass sie zu einem tugendhaften Leben geführt werden. Dodwell weist die Ansicht zurück, dass die Konfession des Autors bereits einen hinreichenden Grund liefert, sein Werk nicht zu lesen. Dies könnte eine Anspielung auf die katholische Praxis des Indexes sein. Er geht davon aus, dass ein englisches Publikum über genügend Kritikvermögen verfügt, um eine eventuelle doktrinäre Einflussnahme zu erkennen und sich dieser zu verweigern. In Bezug auf die Beichte, die für Franz von Sales sehr wichtig ist, nimmt Dodwell eine ausgesprochen moderate Position ein: Sie sei zwar nicht der einzige Weg zur Vergebung der Sünden, aber einem vertrauensvollen Gespräch mit dem Pastor könne kein Protestant seine Zustimmung versagen. Andererseits glaubt er nicht, dass intelligente Leser dem Buch wertvolle Informationen entnehmen können; sie sollten eher Erbauung erwarten, denn es sei vor allem für Menschen mit beschränkterem Geist („the weaker sort“) geschrieben. Hier spricht der umfassend gebildete Theologe und Humanist, der es sonst zumeist mit wissenschaftlichen und nichtpastoralen Texten zu tun hat. William Nicholls stellt seiner Bearbeitung eine Abhandlung über die Entstehung und Entwicklung des Andachtsbuchs in der katholischen Kirche voran („a Discourse, of the Rise and Progress of the Spiritual Books in the Romish Church“; de Sales 1701), die nach der Einleitung von Franz von Sales als zweite Einführung in den Text fungiert. Sie ist aber – zumindest in dem Exemplar in der British Library in London, das ich einsehen konnte – nicht einfach in Gänze eingestellt, sondern nach und nach in den Anfang des Textes von Franz von Sales so eingebunden, dass sie auf verschiedene Art und Weise mit der Übersetzung aus dem Französischen alterniert. Das führt dazu, dass man immer wieder von einem zum anderen Text springt, je nachdem, welche Seiten man aufschlägt, und man sich jeden dieser beiden Texte zusammensuchen muss, will man nur einen konsekutiv lesen. Der anglikanische Bearbeiter verwendet gleich zu Beginn eine sehr an Strafe und Vergeltung orientierte Sprache. Die historische Situation schätzt er, was die Religiosität der Nation betrifft, äußerst negativ ein. Er spricht von „sinful nation“, „loud blasphemies“, „daring wickedness“, sodass er zwar der Hoffnung Ausdruck verleiht, ein gnädiger Gott möge das sündhafte Land verschonen, gleichzeitig fürchtet er aber, dass diese Verfehlungen „call for the severest phials of God’s wrath, to be poured out upon us“ (de Sales

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1701: 1). 4 Der Herrschaft des Teufels widerstünden allerdings jene, die mehr fromme Bücher läsen als früher. Zu diesem Schrifttum gehöre, neben vielen Publikationen englischer Geistlicher, eine Anzahl von ausländischen Büchern in Übersetzung. Auch Nicholls stellt fest – wie schon Dodwell vor ihm –, dass Bücher von katholischen Autoren in England gerne gelesen werden, obwohl die Nation eine große, berechtigte Aversion gegenüber dieser Religion hege. Diese Popularität erfüllt Nicholls mit großer Besorgnis, da sie seine Mitbürger dazu verleite, eine ziemlich gute Meinung von einer sehr schlechten Konfession zu haben. Gerade der affektive Zugang, den diese Schriften wählten, sei dazu angetan, die Urteilskraft der Rezipienten zu schwächen, denn die gesteigerte Empathie führe dazu, dass die Fehler dieser Bücher nur zu leicht übersehen würden. Verbieten könne man diese Bücher nicht – dann handle man so, wie die Katholiken gegenüber protestantischen Schriften. Aber, so die Alternative, man könne sie von ihren götzendienerischen („idolatrous“) und abergläubischen („superstitious“) Inhalten reinigen – und das wolle er tun. Er rechnet es Franz von Sales als Verdienst an, dass er auf mystische Passagen verzichtet, wie man sie in den Schriften von der heiligen Theresa von Ávila, Franciscus Ludovicus Blosius, der heiligen Sophia und anderen finde. Gleichzeitig zieht er aber gegen Sales’ Ermutigung zum stillen Gebet zu Felde, das er in den Bereich von mystischem Geschwätz einordnet: Den Versuch, das Bewusstsein von allen Gedanken und Gefühlen zu leeren, um dem Heiligen Geist Raum zu geben für seine Inspiration, nennt Nicholls sehr abfällig „enthusiasm“ – ein sehr belasteter Kampfbegriff, der aus protestantischer Sicht einen typischen Irrweg von katholischen Gläubigen bezeichnet. Mit dieser Auffassung befindet sich Nicholls im Einklang mit der öffentlichen Meinung in England. Er polemisiert gegen die heilige Theresa, deren vier Schritte auf dem Weg zur mystischen Vereinigung mit Gott er eine Theologie des Irrenhauses („Bedlam Divinity“) nennt (de Sales 1701: 11). Andererseits lobt er Autoren katholischer Andachtsbücher wie Thomas von Kempen oder Kardinal Bellarmine. Was seine Bearbeitung betrifft, so glaubt er, alle Passagen, die den Artikeln der anglikanischen Kirche widersprechen, getilgt zu haben, sodass der Text nun ohne Gefahr zur Erbauung gelesen werden könne. Nicholls macht keinerlei Bemerkungen über die Übersetzung als solche, obwohl das Titelblatt ausdrücklich darauf hinweist, dass es sich um eine Übertragung handelt („translated and reformed from the errors of the popish edition“, de Sales 1701). Das mag der Tatsache geschuldet sein, dass er selbst mit der Übersetzung nichts zu tun hatte (er übernimmt die Tournai-Version wörtlich), und die Nähe oder Ferne zum Ursprungstext interessiert ihn nicht. Es kommt nur auf die richtige Bearbeitung für sein eigenes, anglikanisches Publikum an. Im Zusammenhang mit dem Frontispiz wird das Titelblatt im weiteren Verlauf noch einmal zur Sprache kommen. Ich kann hier nur im Überblick auf die Unterschiede zwischen Dodwells und Nicholls’ Bearbeitung eingehen und konzentriere mich dabei auf den zweiten Teil, der sich dem Gebet im engeren Sinne widmet. Insgesamt tilgt Nicholls größere Passagen als Dodwell. Auch macht sich Dodwell öfter die Mühe, Passagen durch kleine Änderungen innerhalb von einzelnen Sätzen zu bereinigen, wo Nicholls ein4

Die Paginierung der Einleitung „Discourse, of the Rise and Progress of the Spiritual Books in the Romish Church“ ist nachträglich eingefügt und fängt mit S. 1 an, während die S. 1 des Textes von Franz von Sales erst gegenüber der S. 4 des „Discourse“ erscheint.

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fach großzügig streicht. Das ist besonders auffällig im zweiten Kapitel, das sich mit dem stillen, frei formulierten Gebet befasst. Bei Nicholls fehlt es völlig, bei Dodwell gibt es nur kleine Änderungen, allerdings streicht Dodwell die Passage über den Gebrauch des Rosenkranzes. Andererseits streicht Dodwell im dritten Kapitel die Ausführungen zur Anrufung des Schutzengels, der Jungfrau Maria sowie der Heiligen Magdalena und des Johannes, die Nicholls unangetastet lässt. In Kapitel sieben wiederum streicht Nicholls einen Verweis auf die Fürbitte von Maria, der Engel und Heiligen, der bei Dodwell stehenbleibt. Wenn es um physische Akte der Verehrung geht, wie z.B. das Küssen oder das Umarmen des Kruzifixes, streichen beide die Passage, aber beide erlauben bestimmte Körperhaltungen beim Beten. Geschichten und Exempla aus dem Leben von Heiligen sind für beide problematisch; sie werden oft gestrichen, wie auch das Kapitel über die Heiligenverehrung von beiden getilgt wird. Allerdings erlaubt Dodwell das Lesen von Biografien, er ersetzt nur den Begriff „saints“ durch den Begriff „holy men“. Die Kapitel über die Beichte und die heilige Messe fallen bei Nicholls der Schere zum Opfer, während Dodwell – mit kleinen Angleichungen – beide erhält. Auch das Kapitel über die Kommunion bleibt bei Dodwell weitgehend erhalten, während Nicholls lange Passagen streicht. So wirkt seine Bearbeitung entschieden antikatholischer als die von Dodwell. Das Bild ist aber nicht ganz einheitlich, da die Auslassungen in beiden Texten nicht vollständig deckungsgleich sind. Die einleitenden Texte vermitteln Informationen, die von Frontispizen und Titelblättern in vielfältiger Weise ergänzt werden. Diese nehmen Einfluss über Schrift und Bild, und sie wirken sowohl über die intellektuelle Erkenntnis wie über die Emotion. Dabei können Verstand und Gemüt sowohl von der schriftlichen wie auch von der bildlichen Information bewegt werden, denn das Vorwissen über Autor, Drucker oder Buchverkäufer beeinflusst die Publikumsreaktion ebenso wie ein Andachtsbild. Im Fall von de Sales’ Veröffentlichung der ersten, zweiten und dritten Auflage seiner Introduction 5 in Lyon ist der Drucker Pierre Rigaud, dessen Werk weniger bekannt ist als das seines Vaters Benoît. Sein Verlagsprogramm erscheint breit gestreut, mit einem Interesse an medizinischen wie an religiösen Schriften: Er hat u.a. auch Thomas von Kempens Imitatio Christi gedruckt. Die Vignette, die in das Titelblatt integriert ist, zeigt eine Pietà (vgl. de Sales 1609, Abb. 1). 6 Sie befindet sich unter den Informationen zu Titel, Autor und Auflage, über den Informationen zum Verlagsort, Drucker und Jahr. Der Drucker hat in der ersten und zweiten Auflage für die Worte „À LA VIE“ die größten Lettern gewählt, „DEVOTE“ ist zentriert und ebenfalls fett gedruckt, aber in kleineren Lettern. Franz von Sales wird als Bischof von Genf ausgewiesen. Die Pietà der dritten Auflage ist von den Pietàs der ersten beiden Auflagen vor allem dadurch unterschieden, dass die 5 6

Von der ersten und der dritten Auflage habe ich in der British Library in London ein Faksimile einsehen können, von der zweiten Auflage ein Exemplar im Original. Mellinghoff-Bourgerie gibt an, dass es sich um eine Kreuzigung handelt (vgl. MellinghoffBourgerie/Mellinghoff 2007: 34). Eine solche Darstellung habe ich in den mir vorliegenden Büchern bzw. Faksimiles nicht gefunden. Auch der Druck von Joseph Cottereau aus dem Jahr 1619, der in Paris erschien und der allgemein als die definitive Version der Introduction anerkannt wird, zeigt eine im Hintergrund detailreichere, aber im Wesentlichen sehr ähnliche Version dieser Pietà.

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Anordnung der Personen spiegelverkehrt ist. Auch der Hintergrund, obwohl in den Grundzügen gleich, weist Verschiedenheiten auf. Ich konzentriere mich im Folgenden auf die Vignette der ersten beiden Auflagen. Obwohl das Titelbild weniger als die Hälfte des Raumes auf der Druckseite einnimmt, zieht es sofort den Blick auf sich. Vor einem großen Kreuz, hinter dem die Sonne noch erkennbar ist, deren Strahlen den Querbalken in einem Kreisausschnitt umrahmen, sitzt Maria mit ihrem toten Sohn im Schoß. Dessen Körper bildet fast eine Diagonale von der rechten oberen zur linken unteren Ecke des Bildes. Maria ist bis auf das Gesicht und die rechte Hand völlig verhüllt. Der nackte, nur mit einem Lendentuch bekleidete Leichnam bietet dazu einen starken Kontrast. Andererseits bildet Marias faltenreiches Gewand, dessen Kopfteil an die Haube einer Nonne erinnert, einen Rahmen für den Leichnam ihres Sohnes, zumal sie mit ihrer linken Hand auch noch mit einem Teil ihres Umhangs seinen Kopf stützt. Ihr rechter Arm hält seinen Körper, sein linker Arm hängt leblos herunter, parallel zum Kreuz. 7 Die Köpfe der beiden sind eng zusammengerückt, die Gesichter einander halb zugewandt, aber ihre Blickrichtungen scheinen sich nicht zu kreuzen. Christus ist als älterer Mann konzipiert und Maria als reife, leidende Frau. Der Bildaufbau ist klar, er besteht aus Parallelen in der Horizontalen (Kreuzbalken, Wolken und Strahlenkranz der Sonne, Christi Oberschenkel und der Hügel, auf dem Maria sitzt, sowie der Saum ihres Gewands) und in der Vertikalen (der Stamm des Kreuzes, die Kreuze und Türme im Hintergrund, Maria, der linke Arm Christi) sowie aus der Diagonalen des Leichnams und eines langen Nagels im Vordergrund. Die drei Nägel und die Dornenkrone im Vordergrund betonen die Passion, denn diese Gegenstände rufen, ebenso wie die drei Kreuze im Hintergrund (am vorderen hängt noch ein Körper), den Verlauf des gesamten Geschehens, vor allem die Kreuzigung, ins Gedächtnis des Betrachters. Damit wird nicht nur das Leiden der Gottesmutter, sondern auch das des Sohnes visuell erzählt, wenn auch durch die emblematischen Objekte. Die drei Nägel verweisen einerseits auf die Tradition, die beiden Füße nur mit einem Nagel zu durchbohren, andererseits verweisen sie auch auf die Dreifaltigkeit. Durch die Kuppel der Kirche im Hintergrund links vom Kreuz und den Turm im Hintergrund rechts wird die Zivilisation angedeutet, vor der und innerhalb derer sich die Passion abgespielt hat. Die Szene spielt in der Welt, aber sie ist viel größer als die Welt. Bei der Kirche handelt es sich wahrscheinlich um die Grabeskirche in Jerusalem (auch andere Teile der Stadtlandschaft deuten auf Jerusalem hin), was einen Hinweis auf die in der Chronologie der Erzählung folgende Grablegung geben würde.

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Die Pietà des Drucks von 1619 zeigt fast die gleiche Haltung, allerdings spiegelverkehrt. Hier hält Maria den Oberkörper ihres Sohnes im rechten Arm, während sie aber mit der linken Hand in einer demonstrativen Geste des Zeigens auf die Marterwerkzeuge Geißel und Hammer weist, die neben ihr auf der Erde liegen. Dornenkrone und Nägel liegen auf der anderen Seite. Hinter der Silhouette der Stadt (Jerusalem) erhebt sich eine dramatisch gezackte Bergkette, und die Buchstaben INRI bekrönen das Kreuz.

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Abbildung 1: Titelblatt zu Introduction à la Vie Dévote (1609)

Quelle: de Sales, François (1609) 8

Der Verweis auf Christus bleibt auch ohne die Pietà in verschiedenen Ausgaben erhalten, so u.a in der Fassung von 1649, die bei Jean Berthelin in Rouen gedruckt wurde, aber auch in der englischen Übersetzung, die bei John Heigham gedruckt wurde sowie im Nachdruck der Tournai-Übersetzung von 1669. Er wird über das Signum IHS verdeutlicht, umrahmt von einem Strahlenkranz, darüber ein Kreuz und darunter drei Nägel. Bei Berthelin läuft ein Schriftzug um den Strahlenkranz herum, „Salvum me fac in nomine tuo“ (der Anfang von Psalm 53), den äußeren Rahmen bildet eine florale Dekoration. Bei Heigham wird der Strahlenkranz von einem Baldachin gekrönt, von dem zu beiden Seiten ein Vorhang ausgeht, der jeweils von einem knienden Engel gehalten wird. In der Ausgabe von 1669 schwebt das Signum im Strahlenkranz über dem Kopf einer Darstellung des inzwischen kanonisierten Autors Franz von Sales, der als Priester mit Stola und betend gekreuzten Armen dargestellt wird. Die Pietà repräsentiert mit der Betonung der menschlichen Natur von Christus, der Passion, und des Leidens der Gottesmutter einen der traditionellen emotionalen 8

Für die Genehmigung zum Abdruck des Bildes danke ich der British Library: © The British Library Board, c.104.e.30.

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Zugänge zum Erlösungswerk von Christus. Das Signum IHS verweist ebenfalls, wenn auch mit einem anderen Schwerpunkt, auf die Passion und die dadurch ermöglichte Erlösung. Diese Titelbilder unterstreichen also eher die Zielrichtung bzw. die Grundlage der Introduction und verweisen nur indirekt auf deren Inhalt. Im Unterschied dazu geht die französische Ausgabe, die 1641 in der Druckerei des Königs aufgelegt wurde, einen anderen Weg. Sie zeigt eine kniende Frau 9 in einer Landschaft, deren Vordergrund steinig und kahl wirkt, mit wenig Vegetation, darunter dornige Zweige, und im Hintergrund hoch aufragende Felsen und das Meer. Auf dem Boden zur Linken der jungen Frau liegt, eher unauffällig, ein geschlossenes Buch, das auf einer Schräge von ihr wegzurutschen scheint, während ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Lichtstrahl gerichtet ist, der von rechts oben diagonal nach links führt und auf ihr Gesicht gerichtet ist. Ihr Mund ist geöffnet, sie legt den Kopf leicht in den Nacken, und ihre ausgestreckten Arme mit den nach oben gerichteten Handflächen unterstreichen die Haltung des Empfangens, ja des Bittens um das, was von oben auf sie zukommt. Die vier Engel, die den Lichtstrahl im oberen Bildbereich umschweben, verweisen ihrerseits in verschiedenen, dramatischen Gesten des Zeigens auf das Licht und auf die Frauengestalt und unterstreichen die Verbindung zwischen beiden bzw. verweisen in Richtung der Quelle dieses Lichts, die außerhalb des Bildausschnitts liegt. Sowohl die kniende Haltung der Figur, wie auch ihre Gestik und Mimik zeigen eindeutig, dass die Szene eine Vision darstellt. Der Zeichner des Bildes hat den Titel des Buchs wie den Namen des Autors so in die Szene integriert, dass er in den Felsen, vor dem die Frau kniet, eingemeißelt erscheint. Sie hat die Lektüre des Buchs, das neben ihr liegt, aber bereits hinter sich gelassen und erlebt eine unio mystica, oder zumindest einen Augenblick der Verbindung mit Gott, den Franz von Sales für möglich hält, den seine Adressatin Philotea aber nicht erwarten oder gar erzwingen kann. Wenn die emotionale Verbindung aber kommt, dann werden die Regeln der Meditation außer Kraft gesetzt: „toujours quand les affections se présenteront à vous, il les faut recevoir et leur faire place, soit qu’elles arrivent avant ou après toutes les considérations“ (vgl. Teil II, Kap. 8). Alle diese Illustrationen, die Pietà, das IHS-Signum, und erst recht die entrückte Frauengestalt, unterstreichen die katholischen Aspekte des Textes. Es ist nicht verwunderlich, dass die Ausgaben für protestantische Leser entweder völlig auf Bilder verzichten oder aber die Ikonografie ganz anders gestalten. Die Titelseite der Ausgabe von Nicholas Okes aus dem Jahr 1616 weist in diesem Zusammenhang eine Besonderheit auf. Insgesamt schmucklos und auf die wesentlichen Informationen beschränkt („An Introduction to a deuout Life, Leading To the way of Eternitie, Made by Francis Salis, Bishop of Geneva“, de Sales 1616), wäre es wenig bemerkenswert, wenn diese Angaben nicht ergänzt würden durch den Zusatz, der sich auf anderen Titelblättern nicht findet: „Christus, Via, Veritas, Vita“. Die drei lateinischen Begriffe sind kursiv gesetzt und fallen sowohl durch ihre Größe als auch durch ihr Schriftbild auf. Selbst wenn diese von vielen katholischen Passagen bereinigte Ausgabe von keinem Zensor beanstandet wurde, so reiht sie sich damit doch

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Franz von Sales spricht die Rezipientin mit ‚Philotea‘ an: Seine Leseranrede ist weiblich konnotiert, was u.a. aus der Entstehungsgeschichte des Textes erklärlich ist, sich aber auch auf die weiblich konnotierte Seele beziehen kann.

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eher in die katholische als in die protestantische Tradition ein, was auch durch das nicht getilgte Widmungsgebet deutlich wird. Der Text von Henry Dodwell zeichnet sich durch große Schlichtheit in der Gestaltung des Titelblatts aus, das mit sehr wenigen Ornamenten auskommt und auf ein Frontispiz völlig verzichtet. Das erscheint umso überraschender, als seine Version ‚katholischer‘ anmutet als die von Nicholls, und man daher eine größere Affinität zu visueller Darstellung vermuten könnte. Das Titelblatt dieser Adaption ist völlig anonym: Weder Franz von Sales als Autor noch Dodwell selbst als Bearbeiter werden genannt. Es gibt noch nicht einmal einen expliziten Hinweis darauf, dass es sich bei dem Text um eine Übersetzung handelt. Auf diese Weise werden drei Stimmen zum Schweigen gebracht: der französische, katholische Autor Franz von Sales, der englische Übersetzer Yakesley und der irische Bearbeiter Dodwell (vgl. de Sales 1673). Letzterer führt allerdings einen Untertitel ein („containing especially, a prudent method for spiritual closet-exercises, and remedies against the difficulties ordinarily occurring in the conduct of a pious life“), der auf die Nützlichkeit („prudent method“) des Werks wie auch die Alltäglichkeit der darin aufgegriffenen Probleme („difficulties ordinarily occurring“) hinweist. Der einzige Verweis auf den heterodoxen Ursprung des Textes ergibt sich implizit durch die Bemerkung „fitted for the use of Protestants“. Das Frontispiz und der Titel von Nicholls’ Adaption aber fallen auf (vgl. de Sales 1701). Sie bilden zur Originalausgabe einen Gegensatz in zweifacher Hinsicht. Der Hinweis „reformed from the errors of the Popish edition“ setzt den Text sehr deutlich vom katholischen Original ab. Allerdings wird andererseits Franz von Sales als Bischof und „prince of Geneva“ bezeichnet, was ihm einen hohen kirchlichen und sozialen Status einräumt. Man könnte die Formulierung, dass es sich um eine Korrektur der katholischen Version handelt, auch so interpretieren, dass es durchaus andere, nichtkatholische Ausgaben gibt. Auf jeden Fall klingen diese Angaben so, als ob Nicholls tatsächlich dieses Werk in einer Weise transformiert hätte, die es erlaubt, Franz von Sales nun, sozusagen ehrenhalber, als protestantischen Autor anzusehen. Auch das Frontispiz (Abb. 2) sorgt für die Reinterpretation als anglikanischer Text. Der Kupferstecher ist Michael van der Gucht, der aus Antwerpen nach London kam. Die Tatsache, dass er sich als „Sculp“ und nicht als „Des“ bezeichnet, deutet darauf hin, dass der Entwurf des Bildes nicht von ihm selbst stammt, sondern er es – evtl. mit Modifikationen gegenüber einem Original – nach einer Vorlage gestochen hat. 10 Statt der kosmischen Weite der französischen Frontispize wird ein begrenzter Innenraum präsentiert, statt des Fokus auf den Gottessohn in den Armen seiner Mutter, oder der Vision der Erleuchteten, wird der betende Gläubige in den Mittelpunkt gerückt. Statt des Kreuzes oder des Lichts ist es das Buch, auf das sich der Beter konzentriert; wenn auch das Bild, das über dem Buch an der Wand hängt, den gefallenen Christus zeigt, der unter der Last des Kreuzes zusammengebrochen ist. Damit wird an die Passion visuell erinnert, auch an die Menschennatur des Gottessohnes, aber es ist nur sein Leid, nicht das seiner Mutter. Gleichzeitig verweist dieses Bild auf die Last der Sünde und damit auf die gefallene Natur des Menschen. An der Stirnwand des Raumes, in der Blickrichtung des Betrachters (und nicht des betenden Mannes) hängt eine Darstellung der Geburt Jesu mit der Anbetung der Hirten. Die 10 Für die Hinweise auf den Kupferstecher danke ich Clare Haynes.

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Verehrung des Gottessohnes in der Anbetung wird damit ebenfalls in den gedanklichen Raum einbezogen, den das Frontispiz eröffnet. Die knienden Hirten spiegeln den Beter im Vordergrund, seine Haltung entspricht in der Ausrichtung genau der ihren. Während sie aber vor der realen Präsenz des Christuskinds beten, bleiben dem Betenden im Vordergrund nur das Buch und die Bilder als Vermittler auf dem Weg zur göttlichen Präsenz, die nur mental über die Imagination hergestellt werden kann. Franz von Sales empfiehlt, ähnlich wie Ignatius von Loyola, die intensive Vorstellung vor allem von Szenen aus der Passionsgeschichte, um die emotionalen Kräfte der Seele zu erwecken und die Liebe Gottes zu erfahren. Allerdings nimmt Nicholls, wie wir gesehen haben, eine skeptische Haltung gegenüber einem von Emotionen geprägten Gebet ein. Daher ist es nicht überraschend, dass der Betende mit konzentriertem Gesichtsausdruck, offenen Augen und gefalteten Händen seine Aufmerksamkeit auf das Buch richtet, das vor ihm aufgeschlagen auf einem einfachen, mit einem Tuch bedeckten Tisch aufgestellt ist. 11 Es trägt die Inschrift „Sales“ und „Introduction“, repräsentiert also in einer Art Mise en abyme das Werk, als dessen Frontispiz es erscheint. Obwohl sich die Introduction vor allem an einen Leserkreis von Laien richtet, erscheint der Betende in einem Gewand, das an die Kutte eines Mönchs erinnert. Möglicherweise soll mit der schlichten Kleidung angedeutet werden, dass die Hinwendung zur inneren Einkehr im Vordergrund steht und dass daher Mode oder kostbare Eleganz keinen Platz in einem solchen Leben haben. Besonders signifikant erscheint aber die zweite Person im Raum: Hinter dem Betenden steht ein Engel. Er unterstützt einerseits den Blick auf das Buch, indem er mit seiner linken Hand darauf zeigt, andererseits weist er mit der rechten Hand in einer dem Theaterrepertoire entnommenen, demonstrativen Geste nach ‚oben‘, also in die Richtung, die traditionell für den Himmel bzw. Gott steht. Dabei weist er aber auch, innerhalb der Darstellung, auf das Christuskind in der Krippe auf dem Bild über ihm hin. Das Verhältnis, das Nicholls zu Engeln und Heiligen hat, ist nicht unproblematisch. Wir wissen, dass er aus dem Text einige Passagen getilgt hat, die sich mit der Verehrung von Engeln und Heiligen, aber auch mit der Vermittlung durch deren Fürsprache beschäftigen. Andererseits erkennt er die Existenz der Engel und ihres positiven Wirkens an. Der Engel hier übernimmt deutlich die Funktion eines Wegweisenden, der sowohl die Richtung des Lebens anzeigt als auch über die Mittel Bescheid weiß, die in diese Richtung, nämlich zu Gott hin, führen können. Seine Position und seine hilfreichen Gesten könnten an Darstellungen des Engels im Garten Gethsemane erinnern, zumal Christus in solchen Bildern ebenfalls auf den Knien im Gebet gezeigt wird. Der Engel ermutigt aber keine visionäre Schau, sondern verweist auf die Lektüre des Buchs. Ergänzt wird das Bild durch die Unterschrift „Examin thy Self“. Diese Aufforderung unterstreicht die Konzentration auf den Betenden (im Gegensatz zur Pietà) und auf die aktive geistige und geistliche Anstrengung (im Gegensatz zur Vision). Natürlich enthält die Introduction viele Hinweise für die Gewissenserforschung, denn Franz von Sales legt großen Wert auf die Beichte, deren Voraussetzung ja eine intensive Selbstreflexion und schonungslose Selbsterkenntnis sind. Auch für den orthodo11 Es kann sich dabei um einen Hausaltar handeln, wie er z.B. auch auf einer ähnlichen Darstellung der betenden Königin Anna zu sehen ist, die ebenfalls von van der Gucht gestochen wurde. Ich verdanke diesen Hinweis Clare Haynes.

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xen anglikanischen Gläubigen spielt die tägliche Gewissenserforschung eine wichtige Rolle, ist sie doch Voraussetzung für die längerfristige Beobachtung der Entwicklung des geistlichen Lebens und der Kontrolle der guten Vorsätze. Daher kann die Aufforderung „Examin thy Self“ als Topos der Andachtsliteratur gelten, der sich in allen einschlägigen anglikanischen Werken findet. Gleichzeitig schwingt auch das philosophische Diktum nosce te ipsum der Antike mit. Abbildung 2: Frontispiz „Examin thy Self“ zu William Nicholls’ Bearbeitung der Introduction (1701)

Quelle: de Sales, François (1701) 12

Die Informationen über die materielle Entstehung des Buchs sind nicht mit Sicherheit interpretierbar. Der Drucker von Nicholls’ Adaption, E. Holt, scheint nicht bekannt; J. Sprint ist als Drucker und Buchverkäufer verzeichnet, wenn wir auch kaum etwas über ihn wissen. Interessant ist aber der Hinweis auf Thomas Bennet. Normalerweise würde „for Thomas Bennet“ bedeuten, dass der Drucker als Mitglied der Gilde (Stationers’ Company), die ein Monopol auf Papier und Zubehör für das Drucken hatte, im Auftrag eines Verlegers bzw. Verkäufers handeln würde. Das ist hier nicht der

12 Für die Genehmigung zum Abdruck des Bildes danke ich der British Library: © The British Library Board, 4404 l.14.

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Fall: Bennet war Theologe. Trotzdem ist es möglich, dass er mit dieser Publikation in Verbindung stand. Einerseits war er als Geistlicher durchaus an Andachtsliteratur interessiert. Andererseits kam es vor, dass Drucker im Auftrag von Privatleuten eine Ausgabe herausbrachten. Die Einbeziehung des Druckers Sprint legt die Vermutung nahe, dass das finanzielle Risiko auf mehrere Personen verteilt werden sollte. Nicholls würde mit dem Verkauf des Manuskripts die Rechte komplett abgetreten haben, sodass sich Holt und Sprint den Profit mit Bennet geteilt haben würden. 13 Eine Verbindung von Nicholls und Bennet wäre aus religionspolitischer Sicht einleuchtend. Thomas Bennet (1673-1728) setzte sich in einer Reihe von kämpferischen Schriften für die Einheit und die theologische Klarheit der anglikanischen Kirche ein, so u.a. mit der Confutation of Popery (1701) gegen den Katholizismus und mit der Confutation of Quakerism (1705) gegen die Nonkonformisten auf der anderen Seite des theologischen Spektrums. Letzteres war ihm so wichtig, dass er eine preiswerte, gekürzte Version für einen breiteren Leserkreis veröffentlichte. Sein Einsatz für die festgeschriebenen Gebete der Liturgie im Book of Common Prayer, gegen die Verwendung freier, extemporierter Gebete, passt sehr gut zu den Streichungen, die Nicholls in der Introduction vorgenommen hat und deckt sich mit dessen Ausführungen gegen das freie Gebet in seinem einleitenden Essay. Auch wenn Bennets Devotions, viz confessions, petitions, intercessions and thanksgivings, for every day in the week, and also before, at, and after the sacrament, with occasional prayers for all persons whatsoever erst 1705 veröffentlicht wurden, kann er diese Meinung schon früher vertreten haben, sodass er trotzdem den Druck von Nicholls’ Adaption bzw. dessen Einführung unterstützt oder gar initiiert haben könnte. 14 In ökumenischen Initiativen geht man gerne von der Vorstellung aus, das gemeinsame Gebet könne, unbeeinflusst von theologisch-dogmatischen Differenzen, eine unangefochtene und selbstverständliche Basis darstellen, auf der man sich einig sei. Diese Untersuchung hat gezeigt, dass dies zwischen katholischen und anglikanischen Christen im 17. und 18. Jahrhundert nur zum Teil der Fall ist. Auch undogmatische Schriften wie Anleitungen zum Gebet haben ihren Sitz im Leben der jeweiligen Konfession und Nation. Sie sind geprägt von ihrem politischen und institutionellen kirchlichen Umfeld und wirken ihrerseits auf den jeweiligen Rezipientenkreis zurück. Andererseits wurde deutlich, dass Theologen auch dann Andachtsliteratur aus einer anderen Konfession durch Adaption in ihren eigenen Kontext übernehmen, wenn sie grundsätzliche Bedenken, wenn nicht Feindschaft gegenüber dieser anderen Konfession hegen. Dies geschieht, wenn das betreffende Werk in ihren Augen Vorteile bietet, die für die eigene Glaubensgemeinschaft nützlich sein können. Dabei geht es dann aber nicht um Erziehung zur Toleranz, sondern um selektive Nutzung von Schriften aus einer anderen Tradition bei gleichzeitiger Abgrenzung von dieser Tradition mit den Mitteln der Zensur, des unmarkierten Eingriffs in den Text durch Umformulierung und Auslassung, gezielt anderer Rahmung durch Paratexte und Bilder sowie durch Polemik gegen den Ursprungstext, dessen Autoren und deren Konfessionen. Während nun die dezidiert für ein anglikanisches Publikum 13 Ich verdanke wichtige Hinweise zu diesem Zusammenhang Prof. William Gibson, Oxford Brookes Universität. 14 Zu Thomas Bennet vgl. den Eintrag im Oxford Dictionary of National Biography von William Gibson.

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zugeschnittenen Texte von Dodwell und Nicholls eindeutig als ‚bereinigte‘ und ‚ungefährliche‘ Schriften erkennbar waren, kursierten andere Versionen desselben Ursprungstextes, deren Heterodoxie – aus anglikanischer Sicht – teilweise nicht auf den ersten Blick erkennbar war, wie z.B. der Druck von Nicholas Okes. Die Versionen, die als Frontispiz den Autor Franz von Sales als Heiligen zeigten, waren schnell als ‚katholisch‘ identifizierbar. In der Regel konnten die Leser also eine Entscheidung treffen, in welcher Version sie die Introduction lesen wollten.

L ITERATUR Bawcutt, Nigel W. (2000): „An Introduction to a Devout Life in 1637“, in Library: The Transactions of the Bibliographical Society I.4, S. 403-438. Boenzi, Joseph (1996): „Saint Francis de Sales, 1567-1622: Toward a complete Bibliography of English-language Works, 1613-1995“, http://web1.desales.edu/ assets/salesian/pdf/boenzibiblio1996.pdf vom 16.10.2015. Boenzi, Joseph (2013): Saint Francis de Sales: Life and Spirit, Stella Niagara, NY: De Sales Resource Center. de Sales, François (1609): Introduction à la vie dévote, par François de Sales, Euesque de Geneue. Seconde édition, en laquelle le tout a esté reueu, corrigé & augmenté par l’auteur, Lyon: Pierre Rigaud. de Sales, François (1613): An Introduction to a Devout Life, Composed in Frenche by the R. Father in God, Francis Sales, Bishop of Geneva, and translated into English by I.Y. [John Yaworth OSB], Rouen: Hamilton. de Sales, François (1616): An Introduction to a deuout Life: Leading To the way of Eternitie, Made by Francis Salis, Bishop of Geneva. Christus, Via, Veritas Vita, London: Printed by Nicholas Okes, for Walter Bvrre. de Sales, François (1617): An introduction to a devovte life composed in French, By the R. Father in God Francis Sales, Bishop of Geneua. And translated into English, By I.Y. The 2. Edition. By John Heigham. de Sales, François (1637): An Introduction to a Devoute Life, Composed In French, By the R. Father in God, Francis Sales, Bishop of Geneva. And Translated Into English, According to the Originall: By John Yakesley. Gent [with The communication of Doctor Thaulerus with a poore begger], London: Printed by Nicholas and John Okes, for William Brooks. de Sales, François (1673): An Introduction to a Devout Life containing especially, a prudent method for spiritual closet-exercises, and remedies against the difficulties ordinarily occurring in the conduct of a pious life, Fitted for the use of Protestants, by Henry Dodwell, Dublin: Printed by Benjamin Tooke and are to be sold by Joseph Wilde. de Sales, François (1701): An introduction to a devout life, by Francis Sales, Bishop and Prince of Geneva. Translated and reformed from the Errors of the Popish Edition. To which is perfixed [sic] a Discourse, of the Rise and Progress of the Spiritual Books in the Romish Church by William Nicholls D.D., London: Printed by E. Holt, for Tho. Bennet at the Half-Moon in St. Paul’s Church-Yard, and J. Sprint at the Bell in Little-Britain.

K ATHOLISCHES ODER

PROTESTANTISCHES

G EBET ?

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de Sales, François (1762): Philothea: or, An Introduction to a Devout Life, by St. Francis de Sales, newly translated into English, from the original French, according to the last ed., rev. and cor. by the Saint himself, a little before his death, by R.C. [Richard Challoner], London: Printed for W. Needham. de Sales, François (1969): Œuvres, hg. von André Ravier und Roger Devos, Paris: Gallimard (= Bibliothèque de la Pléiade, Bd. 212). Dubois, Elfrida T. (1994): „Saint François de Sales en Angleterre“, in: L’Unidivers Salésien. Saint François des Sales hier et aujourd’hui. Actes du colloque international de Metz, Paris: Université de Metz. Eire, Carlos M.N. (2007): „Early Modern Catholic piety in translation“, in: Peter Burke/R. Po-chia Hsia (Hg.): Cultural Translation in Early Modern Europe, Cambridge: Cambridge University Press, S. 83-100. Kreitzer, Larry (2011): „The Prodigal Printer Henry Hills – The Baptist Publisher of the King James Bible“, Lecture, 400th Anniversary Celebration of the King James Bible, Campbellsville University, URL: http://www.campbells-ville.edu/ the-prodigal-printer-henry-hills-the-baptist-publisher-of-the-king-james-bible, letzter Zugriff am 16.10.2015. Mellinghoff-Bourgerie, Viviane/Mellinghoff, Frieder (2007): Bibliographie des Écrivains Français: François de Sales, Paris: Memini. Stockhorst, Stefanie (Hg.) (2010): Cultural Transfer through Translation. The Circulation of Enlightened Thought in Europe by Means of Translation, Amsterdam: Rodopi.

Versuch über eine afrikanische Moderne M ESSAN T OSSA

E INLEITUNG Beim letzten Besuch des US-Präsidenten Barack Hussein Obama in Kenia hielt dieser fest, dass Afrika auf dem richtigen Weg sei. Angesichts des gegenwärtigen wirtschaftlichen Wachstums Afrikas wurde diese Feststellung mit großer Begeisterung aufgenommen. Denn der in diesem Zusammenhang proklamierte Optimismus bedeutete den Anfang einer erfolgreichen Integration Afrikas in den wirtschaftlichen Habitus des Westens. Seit Dekaden strebten afrikanische Gesellschaften nach dem sozialen, politischen und wirtschaftlichen Niveau Europas. Was der „Westen“ der übrigen Welt anbot und heute noch anbietet, ist eine Modernität, die auf die Bewältigung sozialer und wirtschaftlicher Not zielt. Bedenkt man die Wirtschaftsdepressionen in Asien der 1990er Jahre, die Erfahrung Argentiniens am Anfang dieses Jahrtausends und die letzte Wirtschaftskrise in Westeuropa, würde man die Gültigkeit des europäischen Modells relativieren. Die Randeffekte der westlichen Moderne – die Wirtschaftsdepressionen von 1929, die beiden Weltkriege, die Erfahrungen des Faschismus und des Stalinismus – zeigen, mit welchen Problemen afrikanische Gesellschaften konfrontiert werden können, wenn sie dem westlichen Modell nacheifern. In ihrem Werk Globale, multiple und postkoloniale Modernen präsentieren Manuella Boatcӑ und Willfried Spohn eine Reihe von Aufsätzen, die sich mit den Theorien der Moderne und ihren kulturgeschichtlichen Rückwirkungen auseinandersetzen. Ausgehend von der zentralen Position der europäischen Moderne befasst sich das Werk mit der Ablagerung der Moderne in divergierenden Horizonten aus kulturhistorischen Perspektiven. Die Autoren postulieren die Idee einer zersplitterten Moderne, welche den Ausgangspunkt des vorliegenden Artikels bildet. In Anlehnung an die Theorie der multiplen Moderne werden Stationen der Moderne in subsaharischen Gesellschaften erkundet. Mein Beitrag rückt historisch-politische Elemente in den Vordergrund, wobei die Erfahrungen der Moderne in Afrika um drei Stränge artikuliert werden: die koloniale Moderne, die politische Moderne und die globale Moderne.

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KOLONIALE

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Die Geschichte des subsaharischen Afrikas zeigt eine Korrelation zwischen Kolonialismus und Moderne: „Indem sie Moderne und Kolonialismus miteinander verwoben, versuchten die KritikerInnen, ein Überdenken nicht nur des Kolonialismus, sondern auch einer umfassenden Vision von Veränderung, die AfrikanerInnen und AsiatInnen weiterhin zu einem ständigen Aufholrennen verdammt, zu erzwingen.“(Cooper 2010: 135)

Vor ein paar Jahrhunderten setzte eine Tendenz zur Vereinheitlichung der Völker ein, die durch die Modernisierung beschleunigt wurde. Der gegenwärtige Stand Afrikas ist das Resultat einer Aufholjagd mit dem Westen, der dank der Moderne einen sicheren Vorsprung vor anderen Regionen der Welt gewonnen hat. Die Aufholjagd durchläuft unterschiedliche Stationen der Moderne. Von einem rein semantischen Standpunkt aus betrachtet hat das Wort ‚modern‘ mit der Erneuerung des sozialen, technischen, politischen und kulturellen Habitus zu tun. Wie umstritten der Begriff auch sein mag, er rekurriert zunächst aus eurozentrischer Perspektive auf einen kulturgeschichtlichen Strang mit spezifischer wissenschaftlicher und geistiger Dominanz: „Moderne meint […] gesellschaftliche Modernisierungsprozesse, wie sie von der Modernisierungsforschung in den Geschichts- und Sozialwissenschaften beschrieben und analysiert wurden. Moderne in diesem Sinn meint soziokulturelle Entwicklungsprozesse, die sich seit dem Jahrhundert der Aufklärung rapide beschleunigt haben: Prozesse der Rationalisierung, Technisierung, Industrialisierung und Urbanisierung, die Zunahme sozialer Mobilität, die Expansion massenkommunikativer Prozesse und die Bürokratisierung, die funktionale Ausdifferenzierung eines immer komplexeren gesellschaftlichen Systems, die Entzauberung tradierter Mythen und die kritische Überprüfung metaphysischer Gewissheiten, die fortschrittsgläubige Ausweitung der rationalen Verfügungsgewalt über die äußere Natur und, im sozialpsychologischen Bereich, den Zwang des zivilisierten Subjekts zur Disziplinierung der eigenen Natur, des Körpers und der Affekte.“ [Herv.i.O.] 1

All diese Merkmale der Moderne zeugen von einem tausendjährigen Lauf, dessen geografische, kulturelle und technische Voraussetzungen nicht nur in Europa gelten. Daher fungiert das westeuropäische Gebiet als zentraler Herd, der durch die Kombination technischer, wissenschaftlicher und historisch-politischer Ingredienzen die Grundlage für den Modernisierungsprozess schuf. „Die Moderne“, heißt es bei Jan Nederveen Pieterse, „war und ist ein westliches Panoptikum, ein kosmologischer Wachtturm für ein Verständnis der Welt aus abendländischer Sicht nach entsprechender Einordnung und Klassifizierung“ (Pieterse 2010: 82). Zu den Errungenschaften der europäischen Moderne gehört ein technischer Vorsprung, der aus militärischer Überlegenheit resultierte. Dies war die wesentliche Grundlage für die kolonialen Expansionen des 19. Jahrhunderts. Die koloniale Moderne versteht sich als 1

http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=12637, letzter Zugriff am 11.10. 2009.

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Übertragung des europäischen Fortschrittsoptimismus auf fremde Kontinente. Über die klassischen Legitimierungen hinaus lag dem europäischen Drang nach Afrika im 19. Jahrhundert eine Ausdehnung eurozentrischer Weltsicht zugrunde. Der rassenideologische Gehalt der kolonialistischen Theorie verbietet aber eine totale Veränderung der Kolonie bis zum technischen und industriellen Niveau der Metropole. Die koloniale Moderne unterscheidet sich von der europäischen Moderne dadurch, dass sie aus der kolonialen Erfahrung resultiert. Der Inhalt dieser Modernität lässt sich so erfassen: „[…] für die meisten AfrikanerInnen [hat] die Moderne ganz konkrete Inhalte – Gesundheitseinrichtungen, Ausbildung, angemessene Renten, Möglichkeit zum Verkauf der eigenen Ernte und zum Einkauf nützlicher Waren von anderswo – und die Sprache der Modernisierung lieferte ihnen eine Basis, auf der Forderungen geltend gemacht werden können.“ (Cooper 2010: 148)

Die Kulturgeschichte Afrikas ist durch den Einfluss externer Akteure geprägt. Im Anschluss an die ersten europäischen Forschungsreisen entwickelte sich das Verhältnis zwischen Afrika und Europa zur kolonialen Begegnung, die die lokalen endogenen Machtstrukturen Afrikas umwälzte. Vor dem europäischen Expansionsdrang befanden sich die vorkolonialen Machtstrukturen im subsaharischen Afrika in einem tiefen soziopolitischen Wandel. Unter dem Vorwand der Zivilisierung und der Christianisierung hatte die koloniale Begegnung die sozialen, kulturellen und politischen Grundlagen der lokalen Gesellschaften dauerhaft erschüttert. Bei Steinmetz heißt es: „Alle Formen der Kolonialherrschaft beinhalten einen politischen, kulturellen und psychologischen Anschlag auf die Kolonisierten.“ (Steinmetz 2010: 219) Ziel der Kolonialexpansion war die Übertragung der europäischen Weltsicht auf Territorien, die am Rande der westlichen Moderne standen. Im Namen dieses sogenannten ‚humanistischen Ideals‘ wurden die notwendigen Infrastrukturen zur wirtschaftlichen Ausbeutung fremder Territorien eingerichtet. Die Kolonialmächte schufen Verwaltungsmechanismen und errichteten politische Institutionen, die von dem Modell der Metropole inspiriert waren. Das koloniale Unternehmen zielte auch auf die Zivilisierung dieser aus der Sicht des Europäers ‚ungezähmten Wilden‘ ab. Die Kolonisation folgte dem jeweiligen Verständnis von Moderne in den jeweiligen Metropolen. Der Erfahrungshintergrund der jeweiligen Kolonialmacht prägte ihre koloniale Politik und führte zu differenzierten Verwaltungsstrategien in den afrikanischen Territorien. Steinmetz hat darauf hingewiesen, dass „der Typus der durch den Kolonialherrn angewandten Eingeborenenpolitik einen enormen Unterschied für die Kolonisierten [machte]. […] Die nachhaltige Wirkung solcher Variationen bleibt in dem Erbe des Kolonialismus sichtbar“ (ebd.). Die Organisation der Machtstrukturen in den Kolonien hatte einen wesentlichen Einfluss auf das Alltagsleben der Kolonisierten und versuchte, diese „umzuformen“. Sowohl auf der sozialen als auch auf der kulturpolitischen Ebene prägten die Kolonialsysteme die Identität, die Denkform und die künftige politische Entwicklung der kolonisierten Völker. Die Kombination des Begriffs ‚Moderne‘ mit dem Kolonialismus beruht auf der Tatsache, dass „die Moderne das Modell war, das kolonisierten Menschen vorgehalten wird: ein sichtbares Zeichen für Europas Herrschaftsrecht, etwas, das die Kolonisierten anstreben sollen, das ihnen niemals zurecht gebührt“ (Cooper 2010: 135).

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Das Ende der Kolonialzeit veranschaulicht, wie erfolgreich die Übertragung der Moderne war. Die koloniale Episode versetzte die meisten Völker des subsaharischen Afrikas in eine vergangene Moderne, die im Westen längst überholt war. Die Eingliederung des lokalen Habitus in eine globale Dynamik, der der Fortschritt zugrunde liegt, lässt die westliche Modernität als einzige Alternative für die Entwicklung Afrikas erscheinen. Auf dem kolonialen Feld blieb der Kolonisierte stumm und der Kolonialherr sprach in seinem Namen, stellte ihn mit den eigenen Wörtern dar. Eingesetzt wurden: „Mythen rassistischer Über- und Unterlegenheit; Mythos der Zivilisation, welche an die Stelle von Primitivität afrikanischer Gesellschaften treten soll; Mythos der Grausamkeit und Sklavenhalterwirtschaft afrikanischer Gesellschaften, von denen die Ideale der Revolution und der Menschenrechte Erlösung bringen sollte.“ (Riesz 2000: XI) [Herv.i.O.]

Nicht pauschal eignete sich die indigene Bevölkerung diese Wertsysteme der Kolonialmächte an. 2 Die Wertsysteme der Kolonialmächte wurden jedoch nicht einfach übernommen. Den Kolonialherren war es misslungen, einen ‚neuen Europäer‘ in Afrika zu erschaffen. Zur europäischen Moderne gezwungen ging das bestehende Sozialgefüge zugrunde. An seine Stelle traten hybride Gesellschaftsformen, die aus der Umstellung auf die koloniale Machtstruktur resultierten. Aus den Afrikanern sollten ‚wilde Zivilisierte‘ werden. Unter ‚Zivilisation‘ verstanden die Kolonialherren die Assimilation an die europäischen Denk-, Lebens- und Verhaltensweisen. Das Verhalten des ‚zivilisierten Afrikaners‘ sollte aus der Sicht von festgelegten Mythen analysiert werden, die nach eurozentrischen Wertungskriterien funktionierten:

„La mise en question du monde colonial par le colon n’est pas une confrontation rationnelle des points de vue. […] La société coloniale n’est pas seulement décrite comme une société sans valeur. Il ne suffit pas au colon d’affirmer que les valeurs ont déserté, ou mieux n’ont jamais habité le monde colonisé. L’indigène est déclaré imperméable à l’éthique, absence de valeurs, mais aussi négation des valeurs.“ (Fanon 1968: 10)

Kulturgeschichtlich führte die Eroberungspolitik der Kolonialmächte zu einer Erweiterung der europäischen Moderne, deren soziopolitische Anhänge die Eroberung fremder Territorien notwendig machte. Infolgedessen profilierte sich das koloniale Unternehmen als Ausdehnung der westeuropäischen Moderne auf fremde Horizonte. Ausgehend von ihrem endogenen Status als soziopolitisches Feld wurden diese Territorien als ‚herrenlose Lande‘ deklariert, deren lokale Herren wie ‚wilde‘ Potentaten behandelt und bezwungen wurden. Damit fing der Prozess einer dauerhaften soziopolitischen und wirtschaftlichen Umwälzung zum Zweck der Verlängerung des westlichen Habitus an. Nicht nur Inhalte der westlichen Moderne wurden Afrikanern auferlegt, sondern auch die mit ihr verbundenen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Probleme. Insofern war abzusehen, dass die aus der Kolonisation hervorgegangenen 2

Belegt wurde dies durch die kritische Einstellung postkolonialer afrikanischer Autoren gegenüber‚ kolonialen Mythen‘, vgl. Ashcroft/Griffiths/Tiffin (1989): The Empire Writes Back. Theory and Practice in Post-Colonial Literature, London/New York.

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Staaten mit akuten Problemen konfrontiert sein würden, die die Kompetenz der Entwicklungsexperten infrage stellten. Amouzou unterstreicht: „Le bilan de la transposition de la modernité politique européenne en Afrique précoloniale révèle un échec incontestable, entendu que cet idéal n’était que le paravent d’une entreprise sournoise de domination du continent noir et de pillage de ses ressources.“ (Amouzou 2013: 17) Die nachkoloniale Ära im subsaharischen Afrika ist durch eine Reihe von Krisen gekennzeichnet, die das politische Gleichgewicht afrikanischer Gesellschaften kompromittierten.

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POLITISCHE

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In der afrikanischen Geschichte entspricht die politische Moderne der nachkolonialen Epoche. Der Ausgangspunkt dieser Periode ist die Unabhängigkeitswelle und das Auftauchen junger Nationen nach europäischem Vorbild. Cooper erklärt die politische Moderne mit einem Zitat Chakrabartys: „[…] Das Phänomen der politischen Moderne – nämlich die Herrschaft der modernen staatlichen Institutionen, der Bürokratie und des kapitalistischen Unternehmertums irgendwo in der Welt – [ist] nur in Verbindung mit gewissen Kategorien und Begriffen vorstellbar, deren Ursprünge weit in die intellektuellen und sogar theologischen Traditionen Europas zurückreichen. Begriffe wie Staatbürgerschaft, Staat, Zivilgesellschaft, Öffentlichkeit, Menschenrechte, Gleichheit vor dem Gesetz, Individuum, Unterscheidung zwischen öffentlich und privat, die Idee des Subjekts, Demokratie, Volksouveränität, soziale Gerechtigkeit, wissenschaftliche Rationalität usw. tragen alle die Bürde europäischen Denkens und europäischer Geschichte.“ (Cooper 2010: 141) [Herv.i.O.]

Das politische Gewissen der Kolonisierten, das im Kampf um die Unabhängigkeit erheblich verstärkt wurde, kristallisierte sich im Nationalismus heraus. Folgerichtig entstanden Nationalstaaten, ohne dass die europäische Rationalität die ‚irrationalen‘ Verhaltensweisen der Kolonisierten ausrotten konnte: „Rationalität und Irrationalität“, so heißt es bei Ulrich Beck, „sind nie nur eine Frage der Gegenwart und Vergangenheit, sondern auch der möglichen Zukunft. Wir können aus unseren Fehlern lernen – das heißt auch: eine andere Wissenschaft ist immer möglich.“ (Beck 1986: 297) Die historische Folge des Zusammenstoßes zwischen der afrikanischen diffusen machtpolitischen Konstellation und den Kolonialmächten lässt sich an der umwälzenden Auswirkung des europäischen Modernitätsbegriffs auf die lokalen Gesellschaften messen. Was daraus hervorging, war eine divergierende Anwendung des europäischen Modernitätsduktus nach der Auffassung der jeweiligen Kolonialmächte. Die politische Moderne kombinierte die Lasten der europäischen Moderne mit endogenen Krisensituationen. Neben den lokalen Problemen der Identitätskonstruktionen, der sozialen Not und der Armut steigerte die wirtschaftliche Abhängigkeit das Ausgeliefertsein junger afrikanischer Nationen gegenüber Konzernen und Großmächten. Die neokoloniale Ausbeutung dieser fragilen Staatsinstanzen spitzte die soziopolitische Not in breiten Bevölkerungsschichten zu. Die Grundzüge der Moderne in Afrika

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beruhten nicht nur auf der Erneuerung des politischen, sozialen und technischen Vermögens, sondern auch auf einer mimetischen Nachahmung ehemaliger Kolonialmächte. Der Ära der kolonialen Reiche folgte eine Blüte afrikanischer Nationen, wobei die Idee der ‚Nation‘ in Afrika eine direkte Folge der kolonialen Erfahrung war. Zwar existierten Nationen im subsaharischen Afrika der präkolonialen Zeit in der Form strukturierter Reiche und Königtümer. 3 Aber das Konzept der Nation europäischer Prägung ist eine Übertragung westlicher Staatsformen auf die Konstruktion politischer Entitäten in diesem Gebiet. Kurzum, der moderne Staat im subsaharischen Afrika ist das historisch-politische Erbe der europäischen Staatskonstruktion. Folglich erlebten afrikanische Nationen die schrecklichen Erfahrungen, die die Gründungen der europäischen Nationen im 19. Jahrhundert begleiteten. Die aus der Dekolonisation entstandenen Staaten waren nur aus der Übertragung des menschenrechtlichen Ethos auf diese unterjochten Territorien hervorgegangen. So wurden die unterschiedlichen afrikanischen Völker in einen Prozess der politischen Modernisierung gezwungen, der ihre soziokulturellen Strukturen entfremdete. In diesem Raum entstanden staatliche Instanzen, die neben noch kolonisierten Territorien überleben. 4 Sie errichteten Institutionen, auf deren Basis moderne Nationen konstruiert wurden. Anders als die europäischen Nationen, die oft aus Kriegen und einem langwierigen Reifungsprozess hervorgegangen waren, entstanden die meisten afrikanischen Staaten im Zuge der politischen Befreiung vom kolonialen Joch. Dies hatte zur Folge, dass nicht das bürgerliche Engagement, sondern das parteipolitische Element in den Vordergrund trat. So ermöglichte die politische Lage die Einrichtung einseitiger Machtinstrumente und monoparteiischer Denklinien. Das Scheitern der monoparteiischen Erfahrung führte dazu, dass eine Krisenwelle die meisten nationalen Konstrukte überschwemmte: „La conscience nationale, au lieu d’être la cristallisation coordonnée des aspirations les plus intimes de l’ensemble du peuple, au lieu d’être le produit immédiat le plus palpable de la mobilisation populaire, ne sera en tout état de cause qu’une forme sans contenu, fragile, grossière. Les failles qu’on y découvre expliquent amplement la facilité avec laquelle, dans les jeunes pays indépendants, on passe de la nation à l’ethnie, de l’état à la tribu.“ (Fanon 1968: 95)

Das Stottern der politischen Moderne in Afrika – in Form von Kriegen, politischen Krisen und Staatsimplosionen – erinnert an die humanitären Katastrophen der westlichen Moderne, wie etwa die beiden Weltkriege und die Shoah. Die Impulse der Mo3

4

Eine detaillierte Übersicht zur Struktur afrikanischer Staaten der vorkolonialen Zeit gibt Amouzou (2013: 19): „ L’appareil d’Etat en Afrique précoloniale était calqué sur la distribution des tâches sociales. Dans les rouages de l’appareil décisionnel, l’essence démocratique du pouvoir est fournie par les activités des Conseils, des collèges délibératifs, des décisions collectives prises selon des principes de consensus […]. Cette pratique se retrouve autant dans les organisations sociales opérant sur une base anarchique et sans souverain que dans les sociétés sans Etat placées sous un chef (démocratie villageoise des Anuak du Soudan) ou encore dans les monarchies très organisées (comme le royaume d’Abomey, le royaume serer, ou encore la confédération Ashanti).“ Die Reihe der Unabhängigkeiten in Afrika reicht von den 1960er Jahren bis zu den letzten Dekaden mit Namibia, Erythrea und Südsudan als zuletzt unabhängig gewordenen Staaten.

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derne gingen vorwiegend von einem politischen Standpunkt aus. Vormoderne Entitäten wie Stämme oder Ethnien, die sich eines technischen und militärischen Aufsprunges erfreuen konnten, arbeiteten sich in Richtung der Staatsmacht hoch. Die Moderne im nachkolonialen Afrika war eine Sache der politischen Machtstrukturen, die den europäischen Zivilisationsduktus unter der Bevölkerung verbreiteten. Im subsaharischen Afrika fehlten die wissenschaftlichen und psychosozialen Gegebenheiten, die den Weg zur westlichen Moderne vorbereitet hätten. Die Aufklärung, die Französische Revolution und die Entdeckung neuer Energiequellen im 18. Jahrhundert bildeten eine Reihe von Ingredienzen, deren kulturgeistige und technische Rückschläge die europäische Weltsicht umformten. Über den Weg der kolonialen Erfahrung kamen afrikanische Gesellschaften in Kontakt mit der westlichen Moderne. Der Kolonialismus bleibt an sich eine der Folgeerscheinungen der europäischen Moderne, da der Marktkapitalismus als Grundlage des Imperialismus dient. Am Ende der Kolonisation konnte die europäische Moderne die Grundlagen der lokalen Gesellschaften nur teilweise erschüttern. An die Stelle des erwünschten ‚zivilisierten Afrikaners‘, der den ‚europäischen Meister‘ nachahmt, traten hybride Gesellschaftsformen, die weder europäisch noch afrikanisch waren. Dies führte zu multiplen Modernen und alternativen Modernen, zumal die „nicht westlichen Bevölkerungen […] vielmehr westliche Formen der Modernisierung [übernehmen] und gleichzeitig nach eigenen Wegen zum Fortschritt [suchen]“ (Cooper 2010: 134). Für die afrikanischen Staaten besteht das Erbe der Kolonialzeit in einer gespaltenen Moderne: Völker leben unter der Verwaltung moderner Staatsinstitutionen, aber ihr technischer Stand begrenzt sich auf die elementaren Infrastrukturen zur Errichtung der „Économie de traite“. Die neuen Staaten rüsteten sich notfalls mit den modernen Instrumenten aus, die für die Errichtung von Institutionen notwendig waren. Institutionell mussten die jungen Staaten der nachkolonialen Zeit stufenweise verfahren. Unter dem Vorwand einer nationalen Konstruktion war vielen afrikanischen Staaten unmittelbar nach der Kolonisation die demokratische Staatsform verboten, ganz so, als sollten die Errungenschaften der politischen Moderne in Afrika auf einer tieferen Stufe als in der ehemaligen Kolonialmacht bleiben. 5 Daneben hat die politische Moderne auch aufgrund der noch schwächlichen Nationalgefühle eine Reihe von Potentaten hervorgebracht, die in ihren Ländern die Spaltung der Identität akzentuiert haben. Dies führte zu Bürgerkriegen etwa in Nigeria, Tschad, Sudan, der Demokratischen Republik Kongo, Angola, Liberia, Sierra Leone, Ruanda, der Elfenbeinküste und Uganda. Obwohl diese Krisen das schreckliche Image Afrikas in den Medien verstärken, sind sie zugleich eine logische Folgeerscheinung der geschichtlichen Entwicklung dieser Gebiete.

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Im frankophonen Afrika war Senegal der einzige Staat, der kurz nach der Unabhängigkeit eine demokratische Staatsform initiierte. Senegal war auch der Hauptplatz des französischen Kolonialwerkes im Afrika südlich der Sahara.

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GLOBALE

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Das Ende des Kalten Krieges versetzte die afrikanischen Staaten in eine neue Phase der Moderne. Die Veränderungen am Ende der Konfrontation der Staatenblöcke führten zu neuen geopolitischen Entwicklungen, die das institutionelle Gleichgewicht der subsaharischen Nationen gefährdeten. Mit der Kolonisation aber wurde der Impuls für die bevorstehende Globalisierung gegeben, da alle kolonisierten Völker nach Idealen strebten, die von den Westeuropäern diktiert wurden. Unter diesen Umständen verbreitete sich die Moderne in allen Teilen der Welt. Die neue Weltordnung setzte sich nur noch aus Zentren und Peripherien der Moderne zusammen: „Globale Moderne bezieht sich auf einen Moment des Zusammenbruchs der Hegemonie einer eurozentrischen Moderne und auf die Zersplitterung der Idee der Moderne in viele kulturelle Sphären; ohne bisher erkennbare Aussicht darauf, wie die Moderne neu zusammengesetzt und wie eine gewisse Kohärenz in ihren Ansprüchen wiederhergestellt werden könnte.“ (Dirlik 2010: 33)

Die globale Moderne entwickelt sich in Abhängigkeit davon, wie die technische Errungenschaft der Moderne die Wirtschaft, die Politik und das soziale Leben einerseits im Westen und andererseits in der „Dritten Welt“ beeinflusst. Kaum hatten die afrikanischen Staaten die politische Moderne assimiliert, setzte ein neuer Prozess ein. Die globale Moderne artikulierte sich um die Uniformierung der Weltgeschichte, die in den Diskursen als ‚Globalisierung‘ bezeichnet wird. In einem Zeitalter, in dem afrikanische Länder in Probleme der Staatskonstruktionen verwickelt sind, spricht Beck ein unerwartetes Verdikt aus: „Die Soziologie, die im Container des Nationalstaats angesiedelt ist, und ihr Selbstverständnis, ihre Wahrnehmungsformen, ihre Begriffe in diesem Horizont entwickelt hat, gerät methodisch unter den Verdacht, mit Zombie-Kategorien zu arbeiten. Zombie-Kategorien sind lebend-tote Kategorien, die in unseren Köpfen herumspuken, und unser Sehen auf Realitäten einstellen, die immer mehr verschwinden.“ (Beck 2000: 16)

Kaum war die Basis der Nationalstaaten in Afrika konsolidiert, da brach die globale Moderne ein. Die globale Moderne im Afrika südlich der Sahara koinzidierte mit den ersten demokratischen Versuchen in vielen afrikanischen Ländern. Damals 6 wurden Begriffe der Menschenrechte, der Demokratie und der guten Regierungsführung verbreitet. Inzwischen hatten sich in diesen Ländern autoritäre Staatsformen konsolidiert, und die Idee der Volkssouveränität war ihnen abgewöhnt worden. Sie lehnten die Idee einer Demokratisierung oft ab, weil die Volkssouveränität ihre totalitäre Macht infrage stellte. Zu den Schwierigkeiten der Staatskonstruktionen kamen die aus der Demokratisierung resultierenden soziopolitischen Krisen. Pauschale und konservative Perzeptionen der politisch-militärischen Krisenherde deuteten implizit darauf hin, dass der ‚wilde Afrikaner‘ immer noch zu vorzivilisatorischen Reflexen 6

Vielleicht liegt dies an der Befürchtung der ehemaligen Kolonialmacht, dass im Falle einer echten Demokratisierung progressistische Parteien an die Macht kommen könnten, die sich gegen den kapitalistischen Block wenden.

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tendierte. Westliche Medien und Analysten rekurrierten auf pejorative Erklärungsmuster, die vormoderne Gedankenkomplexe wie Stammeskriege und ethnische Konflikte ausprägten. Schwache Nationalgefühle, neokolonialer Druck, Privatisierung der Gewalt und fehlgeleitete Nationenkonstruktionen waren warnende Hinweise auf politische Implosionen afrikanischer Staaten in der globalen Moderne. Dies bewirkte eine Ausklammerung der politischen Moderne, und an der Peripherie labiler Staatsapparate wirkten Gruppen, die sich vormoderner Kriegsinstrumente bedienten. Paul Lützeler fasst diese Probleme lapidar zusammen: „Die postkoloniale Konstellation in Ländern der Dritten Welt ist gekennzeichnet erstens durch die Auseinandersetzung mit der Erblast des ehemaligen Kolonialregimes, zweitens durch die Konfrontation mit neuen parakolonialen Abhängigkeiten von industrialisierten Ländern und drittens durch die Thematisierung von Konflikten und Problemen, die mit den kulturellen Traditionen und den Modernisierungsbestrebungen dieser Länder zu tun haben.“ (Lützeler 2007: 7) [Herv.i.O.]

Angesichts des Kollapses afrikanischer Staaten tauchten antimoderne Kräfte auf, die den rationellen Duktus der Moderne zertraten. Dieser Zwiespalt der Politik spiegelte sich in der soziokulturellen Entwicklung afrikanischer Gesellschaften wider. Staatsoberhäupter erhoben Anspruch auf unbegrenzte Machtausübung, obwohl sie sich zur Demokratie und zur Volkssouveränität bekannten. Auf der kulturellen Ebene entwickelten afrikanische Völker eine resolute Tendenz zur synthetischen Assimilierung exogener Produkte. Dies kulminierte in der kolonialen Zeit zuerst in religiösem Synkretismus, einer Strategie der lokalen Bevölkerungen, ihre religiöse Identität neben der fremden Religion aufrechtzuerhalten. Trotz der vernichtenden Verurteilung der Naturreligionen durch die Kolonialherren klammerten sich die Afrikaner an ihr lokales Wertesystem, was ihre Religion betrifft. Ähnlich erging es den Sprachen der Kolonialmächte, deren ‚Reinheit‘ in den ehemaligen Kolonien durch neue Sprachformen ‚verseucht‘ wurde. Man denke nur an die neuen Formen der französischen Sprache in der Elfenbeinküste. Dies ist symptomatisch für den Widerstand gegen einen eurozentrischen Konformismus. Bewusst oder unbewusst entwickelten afrikanische Völker einen ablehnenden Habitus gegenüber der europäischen Moderne, die einen allgemeingültigen Wertekonsens in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft anstrebte. Dieser Universalismus stieß gegen die Vorbehalte mancher Entitäten, die mit den westlichen Werten selektiv verfuhren. Heute bestreitet Russland längst etablierte Grenzen in Europa; China zeigt kaum Respekt vor Bürgerrechten; somalische Piraten gefährden die internationale Seefahrt; afrikanische Staatsführer erheben Anspruch auf eine ewige Herrschaft; die Kämpfer des Islamischen Staats zeigen eine blutrünstige Grausamkeit. Das sind Signale einer selektiven Assimilation der globalen Moderne: „[…] die kritischen Theorieansätze zu einer globalen Moderne gehen wie die westlich orientierten Weltgesellschafts- und Globalisierungsansätze von der zunehmenden Verdichtung der Welt durch transnationale und globale Prozesse und ihren modifizierenden bzw. destruktiven Einfluss auf die bisher vorherrschende nationalstaatliche Modernisierung und Moderne aus.“ (Spohn 2010: 3)

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Die kulturgeistigen Inhalte der Moderne im subsaharischen Afrika hängen vor allem mit einem Geist der Erneuerung zusammen, der aus exogenen Einflüssen resultiert. Die Modernisierung besteht hier wesentlich in der Abschaffung der technischen, sozialen und wirtschaftlichen Unterlegenheit des Subkontinents gegenüber der westlichen Welt. In diesem Sinne wird die Moderne angestrebt als Ideal der Entwicklung neuer Techniken: „Auf der Südhalbkugel ist Moderne Folge von Entwicklung. Trotz Abhängigkeits-theorie und anderer Kritiken der Modernisierungsgedanken spielen die Moderne und die Modernisierung auf der Südhalbkugel in der öffentlichen Debatte, in der Sozialwissen-schaft und in der Formulierung politischer Programme durchaus eine recht lebendige Rolle.“ (Pieterse 2010: 89) [Herv.i.O.]

Die materialistische Tragweite der Moderne findet eine unausweichliche Audienz in Afrika. Ohne soziale, ökonomische und geistige Vorphasen der westlichen Moderne experimentiert zu haben, sind afrikanische Gesellschaften mit Problemen konfrontiert, die Randeffekte der Moderne sind: mit unkontrollierbarer Verstädterung, raschen demografischen Wachstums, Destruktion der traditionellen Gemeinschaftsstrukturen: „Depuis les indépendances, l’Afrique a vécu au rythme des mutations profondes provenant des conjonctures politiques, sociales, culturelles et économiques. Ces transformations qui participent de l’histoire actuelle du continent s’accompagnent de difficultés de tout genre, essentiellement pour la plupart des pays africains de la région subsaharienne.“ (Amouzou 2009: 195)

Die drei Stationen der Moderne im subsaharischen Afrika enthalten uniformierte Konsumgewohnheiten auf der Ebene des Materiellen und des Geistigen. Aus der Moderne hervorgehend beschleunigt sich der Rhythmus der technologischen Innovationen in den westlichen Gesellschaften, sodass die Peripherien nur sprunghaft verfahren können: Länder der „Dritten Welt“ streben nach den neuesten Technologien, ohne die grundsätzlichen Fundamente der modernen Technik assimiliert zu haben. Dies führt zu einer sprunghaften Anpassung an den globalen technologischen Aufschwung, ohne dass elementare Probleme gelöst werden, also eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Die Bedeutung dieses Begriffs liegt „in der Expansion Europas und in der zunehmenden Sichtbarkeit von extrem unterschiedlichen Zivilisationszuständen“ und hängt damit zusammen, dass wir „gleichzeitig in ungleichzeitigen Phasen der Evolution stecken“ (Luhmann 2005: 186). Parallel zu krasser Not entwickeln sich manchmal Projekte, die die neuesten Technologien des Westens in Anspruch nehmen. Der größte Beitrag Afrikas für die Konstruktion einer globalen Weltgesellschaft erfolgt auf der Ebene der Weltkultur. Die Dekonstruktion des eurozentrischen Überlegenheitskomplexes im Geiste der Postmoderne macht es möglich, dass sogenannte afrikanische Subkulturen große Beachtung im westlichen Kulturgehalt finden. Heute „hilft es wenig, sich an den kulturellen Unterschieden festzuklammern, nicht nur, weil jede Kultur dahin tendiert, sich als (sprachliche, ethnische, nationale, religiöse etc.) Einheit zu kon-

A FRIKANISCHE M ODERNE

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stituieren, sondern vor allem aufgrund der gegenwärtigen, den Kapitalismus insgesamt charakterisierenden Globalisierung westlicher Kultur“ (Rolli 2006: 39).

Afrikanische Kulturelemente finden eine positive Resonanz sogar bei dem ‚zivilisierten‘ Europäer, der im Namen des Multikulturalismus das Fremde nicht mehr aus seinen Wertungskriterien ausschließt. Stößt die universell proklamierte Gleichheit der Menschen gegen rassenideologische oder politische Vorbehalte, so gilt die Kulturmischung als allgemeingültiger Wertekonsens. Es „wird unübersehbar, dass der interkulturelle Anspruch auf symmetrische Beziehungen des Dialogs zwischen den Kulturen mehr auf gutem Glauben als auf Einsicht in die wirklichen Machtverhältnisse beruht“ (ebd.). Heute ähnelt Afrika einem labilen geografischen Raum, der von verschiedenen epochalen Strängen durchdrungen ist. Kulturelle Manifestationen aus dem Westen und dem Osten beeinflussen die soziokulturellen Gefüge. Diese Manifestationen erhalten in den jeweiligen politisch-kulturellen Räumen unterschiedliche Resonanz. Aber die kulturelle und geistige Dominanz der globalen Moderne wird eher von elitären Schichten akzeptiert, wodurch es zu einer Spaltung in den Gesellschaften kommt.

S CHLUSS Die exogene Orientierung des Modernisierungsbegriffs in Afrika liegt nicht nur in einer pauschalen Überlegenheit des Westens, sondern auch in der Tatsache, dass „der Prozess der Modernisierung Afrikas unterbrochen [wurde]. Mit der Sklaverei und dem Zyklus aus Waffengewalt und Sklavenhandel, worauf der Kolonialismus folgte, wurde die Entwicklung afrikanischer Gesellschaften unterbrochen und auf ein Nebengleis abgelenkt“ (Pieterse 2010: 95). Der antikoloniale Diskurs afrikanischer Intellektueller nährt nährt ein vehementes Aufbegehren gegen die westliche Auffassung gesellschaftlicher Fortentwicklung, ohne die Grundlagen einer endogenen Moderne zu schaffen. Die erstrebte alternative Moderne steht noch unter der Dominanz der westlichen Hegemonie, und die soziopolitische Entwicklung afrikanischer Gesellschaften artikuliert sich immer noch nach westlichen Wertkriterien. Der technische Vorrang des Westens sichert ihm eine Vorherrschaft über die periphere Welt auf der Ebene des Politischen, Ökonomischen und Technischen zu. Obwohl es in Afrika nicht an Intellektuellen mangelt, die weltweit wissenschaftlich anerkannt sind, ist man dort noch vorwiegend vom Konsum fremder Güter und Ideen abhängig. Das Dramatische am Schicksal afrikanischer Völker liegt weniger im erfolglosen Streben nach sozialem und wirtschaftlichem Wohlstand westlicher Manier, als in der Unfähigkeit, eine endogene Moderne zu schaffen.

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L ITERATUR Amouzou, Essé (2009): L’Afrique, 50 ans après les Indépendances, Paris: L’Harmattan. Amouzou, Essé (2013): La démocratie à l’épreuve du régionalisme en Afrique noire, Paris: L’Harmattan. Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg zu einer anderen Moderne, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Beck, Ulrich/Willms, Johannes (2000): Freiheit oder Kapitalismus, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Boatcӑ, Manuella/Spohn, Willfried (Hg.) (2010): Globale, multiple und postkoloniale Modernen, München: Rainer Hampp. Cooper, Frederick (2010): „Die Vervielfältigung von Modernen in der kolonialen Welt. Eine skeptische Sicht“, in: Boatcӑ/Spohn (Hg.): Globale, multiple und postkoloniale Modernen, S. 133-170. Dirlick, Arif (2010): „Globale Moderne – Die Moderne im Zeitalter des globalen Kapitalismus weiterdenken“, in: Boatcӑ/Spohn (Hg.): Globale, multiple und postkoloniale Modernen, S. 31-52. Fanon, Frantz (1968): Les damnés de la terre, Paris: Maspéro. Luhmann, Niklas (2005): Einführung in die Theorie der Gesellschaft, Darmstadt: Wiss. Buchges. Lützeler, Paul (1997): Der postkoloniale Blick, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Riesz, Janos (2000): Koloniale Mythen – Afrikanische Antworten, Frankfurt/Main: IKO. Einleitung. S. IX-XVIII. Rolli, Marc (2006): „Gilles Deleuze: Kultur und Gegenkultur“, in: Moebius, Stephan/ Quadflieg, Dirk (Hg.): Kultur. Theorien der Gegenwart, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, S. 30-41. Pieterse, Jan Nederveen (2010): „Neue Modernen. Was ist neu?“, in: Boatcӑ/Spohn: Globale, multiple und postkoloniale Modernen, S. 81-104. Spohn, Willfried: „Globale, multiple und (post-)koloniale Modernen – eine interzivilisatorische und historisch-soziologische Perspektive“, in: Boatcӑ/Spohn (Hg.): Globale, multiple und postkoloniale Modernen, S. 1-30. Steinmetz, Georg (2010): „Feldtheorie. Der deutsche Kolonialstaat und der deutsche ethnographische Diskurs, 1880-1920“, in: Boatcӑ/Spohn (Hg.): Globale, multiple und postkoloniale Modernen, S. 219-261.

Konvivenz und Relationalität im französischen Kolonialreich Atlantische und pazifische Meerlandschaften im Vergleich G ESINE M ÜLLER

K ULTURTHEORETISCHE M EERLANDSCHAFTEN Das Meer als Landschaft ist ein Topos kulturwissenschaftlicher Paradigmenbildung. 1 Eine Landschaft zu sehen bedeutet, sich ein Stück sichtbare Welt zum virtuellen ästhetischen Bild „zurecht-zu-sehen“ (Schmeling/Schmitz-Emans 2007: 22). Einen Weltausschnitt, in diesem Fall den Ozean, als Landschaft zu sehen, setzt Distanz voraus – und eine ästhetische Einstellung, die von der des praktischen Nutzens zu unterscheiden ist (vgl. ebd.). ‚Meereslandschaft‘ als historisches Phänomen kann also erst entstehen, wenn dafür die kulturellen Voraussetzungen gegeben sind. Zu diesen Voraussetzungen gehört insbesondere, dass die Welt nicht mehr als mythische Fremde erscheint, sondern als ein Raum, den der Mensch aktiv gestalten kann (vgl. ebd.). Da die Subjekt-Raumbeziehung konstitutiv ist für jede Form von Landschaftsdefinition, ist der ihr übergeordnete Raumbegriff grundsätzlich dynamischer Natur. Meereslandschaft, wie sie hier als kulturell und gesellschaftlich produzierter Raum verstanden wird, schreibt sich somit ein in die Semantik von Raumdynamik. Die folgenden Ausführungen legen den Fokus auf zwei große Weltmeere, den Atlantik und den Pazifik, und verstehen sich als Beitrag zu den transarealen, an Transferprozessen interessierten kulturwissenschaftlichen Studien 2, die angesichts einer immer drängenderen weltumspannenden Globalisierung verstärkt ins Zentrum des Interesses rücken. Dass dabei Meerlandschaften eine herausragende Rolle spielen, zeigen zwei Beispiele prominenter Gegenwartsautoren: Während der Atlantik bei Raphaël Confiant in seinem Roman Adèle et la pacotilleuse (2005) zum kulturtheoretischen Paradigma avanciert, widmet sich der aus Mauritius stammende Nobelpreisträger Jean Marie Gustave Le Clezió in Raga. Approche du continent invisble (2006) dem Pazifik − das Meer gilt als das verbindende Element, das Nährboden ist für kulturtheoretische Formationen. Oder, wie Ralph Ludwig und Dorothee Röseberg es 1 2

Zu diesem Themenkomplex vgl. auch Müller 2012, 2013. Wegweisend hier der Aufsatz von Michael Werner und Bénédicte Zimmermann 2002. Speziell für den hier relevanten französischsprachigen Bereich vgl. Röseberg 2001.

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formulieren: „Die Wahrnehmung konkreter geographischer Räume wird hin zu Kommunikations- und Gesellschaftsmodellen transzendiert.“ (Ludwig/Röseberg 2010: 9) Wendet man den Blick zum Atlantik, so zeigt sich, dass die Inszenierung von Landschaft in transatlantischen, konkret karibischen Literaturen von Anfang an einen besonderen Stellenwert hatte. So formulierte der aus Martinique stammende Kulturtheoretiker Édouard Glissant bereits in seinem 1981 erschienenen Discours antillais: „Notre paysage est son propre monument: la trace qu’il signifie est repérable par-dessous. C’est tout histoire.“ (Glissant 2002: 21) Während transatlantische Dimensionen in kulturtheoretischen Diskussionen der Gegenwart in den letzten Jahrzehnten einen bedeutenden Stellenwert einnehmen – man denke an den Black Atlantic, an Transatlantische Studien als eigenes Fach in den USA, an mittlerweile etablierte Revisionen des Black Atlantic –, hinken transpazifische Dimensionen diesem wissenschaftshistorischen Befund nach. Das mag viele Gründe haben: die eurozentrische Kartierung der Welt, die geografische Nähe zum ‚alten‘ Kontinent etc. Mittlerweile gilt es in der Karibikforschung und überhaupt in den transatlantischen Studien als ausgemacht, dass sich die Karibik zu einem privilegierten Ort für Theorieproduktion emporgeschwungen hat. Gerade auch von dort wurden Stimmen laut, die das allzu etablierte Identitätsparadigma infrage stellen. Eine neue Antwort auf drängende Identitätsfragen ist sicherlich im Projekt spezifisch literarischer Inszenierungsformen von „Konvivenz“ (vgl. Ette 2012) zu suchen. Dieser Begriff will das zwischenmenschliche Zusammenleben fassen und ist als Antwort auf die unlösbaren, da letztlich immer essentialistisch rückgebundenen Identitätsdebatten und Hybriditätsbegriffsversuchungen zu verstehen. In diese Richtung denken führende Intellektuelle, bezeichnenderweise vornehmlich transatlantischer Provenienz, man denke an Édouard Glissant, Arjun Appadurai oder Paul Gilroy. Eine andere zentrale Säule aktueller Theoriepositionen, die ebenfalls nicht von ungefähr auch von transatlantischen Intellektuellen propagiert wird, ist die Betonung relationalen/archipelischen Denkens. Relationalität meint ein beziehungsreiches Netz einzelner Elemente, welches kulturtheoretisch schon in verschiedenen Bildern – etwa des Rhizoms, der Mangrove, der Koralle − seinen Ausdruck gefunden hat. Hatte nicht Edward Kamau Brathwaite in der submarinen Kondition der Karibik die schon immer angelegte universale Relationalität gesehen? Édouard Glissant bezieht sich bekanntlich mit seinem archipelischen Denken auf Gilles Deleuze und Félix Guattari; er zielt auf die „Bildung transnationaler Regionen“ (Ludwig/Röseberg 2010: 9): „Ce que je vois aujourd’hui, c’est que les continents ‚s’archipélisent‘, du moins du point de vue d’un regard extérieur. Les Amériques s’archipélisent, elles se constituent en régions par-dessus les frontières nationales. Et je crois que c’est un terme qu’il faut rétablir dans sa dignité, le terme de région. L’Europe s’archipélise. Les régions linguistiques, les régions culturelles, pardelà les barrières des nations, sont des îles, mais des îles ouvertes, c’est leur principale condition de survie.“ (Glissant 1996: 44, zit.n. Ludwig/Röseberg 2010: 9)

Konvivenz und Relationalität: Beide Paradigmen sind grundlegend für kulturtheoretische Landschaftsformationen, wurden bislang aber vornehmlich im Kontext des Atlantischen Ozeans reflektiert. Wollte man eine genealogische Untersuchung dieses Begriffsinstrumentariums unternehmen, wäre man schnell im 19. Jahrhundert. Der kubanische Kulturtheoretiker Antonio Benítez Rojo hat in seinem zum Klassiker

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avancierten Essay La isla que se repite dargestellt, dass zu jedem Verständnis von „Kreolität“ eine Auseinandersetzung mit dem System der Plantagengesellschaft notwendigerweise gehört: „Bien, entonces, ¿qué relaciones veo entre plantación y criollización? Naturalmente, en primer término, una relación de causa y efecto; sin una no tendríamos la otra. Pero también veo otras relaciones.“ (Benítez Rojo 1998: 396) Wie werden diese transatlantisch geprägten Kategorien in der pazifischen Landschaft entwickelt und reflektiert? Angesichts einer ähnlichen Kolonialgeschichte drängt es sich auf, im Zuge immer akuterer Globalisierungsfragen einen Blick auf eine andere ozeanische Dimension zu werfen. Welche Verbindungen gibt es zwischen transatlantischem und transpazifischem Wissen? Worin liegen zentrale Unterschiede und was sagen uns diese in Bezug auf koloniale Dynamiken? Angesichts der kolonialen Präsenz Frankreichs einerseits im Atlantik und andererseits im Pazifik mag es vielversprechend sein, geopolitische Dimensionen in kulturellen, gerade frankophonen Repräsentationsformen vergleichend zu beleuchten und eventuell in Beziehung zu setzen. Die Wahl des französischen Kolonialreiches, das im 19. Jahrhundert seine maximale weltumspannende Ausdehnung hatte, liegt auch deshalb nahe, da die Folgen des französischen Kolonialismus bis heute sehr präsent sind: Martinique, Guadeloupe und Guyana haben seit 1946 den Status von DOM (Départements d’outremer). Französisch-Polynesien mit Tahiti firmiert als POM (Pays dʼoutre-mer) und Neukaledonien hat den Sonderstatus einer Collectivité sui generis. Unter anderem sorgen bis heute zwei Universitäten für die Institutionalisierung französischer Strahlungskraft, die Université de la Polynésie Française auf Tahiti und die UAG, Université des Antilles et de la Guyane, in Schoelcher auf Martinique mit ihren entsprechenden Niederlassungen auf Guadeloupe und in Guyana. Vor dem Hintergrund dieser weltumspannenden kolonialen französischen Kartierung möchte ich nun auf zwei repräsentative Beispiele eingehen, die jeweils transatlantische beziehungsweise transpazifische kulturtheoretische Landschaftsformationen literarisch reflektieren: Victor Hugo und Pierre Loti. Während Hugo mit seinem Erstlingswerk Bug-Jargal (1818/26) die revolutionären Ereignisse Haitis inszeniert, handelt es sich bei Le Mariage de Loti (1870) von Loti um eine Begegnung des autobiografischen Ichs mit Tahiti, die auf den ersten Blick weniger politisch ambitioniert scheint. Beide Autoren bieten sich für einen Vergleich zwischen Pazifik- und Atlantiklandschaften in der Literatur besonders an, da sie neben den erwähnten Romanen, die im Zentrum der folgenden Betrachtungen stehen werden, zudem noch weitere Texte verfasst haben, die nicht umsonst um die respektiven Ozeane kreisen: Pierre Loti Lʼîle de Pâques. Journal d’un aspirant de la Flore und Victor Hugo Les travailleurs de la Mer. Wie werden Konvivenz und Relationalität im Kontext von Atlantik und Pazifik als hochkomplexe Bewegungsräume literarisch inszeniert? Inwiefern spielen die beiden literarisierten Ozeane eine Rolle für Fragen des Zusammenlebens? Da archipelisches Denken sich als kulturtheoretischer Topos für Gegenwartsanalysen etabliert hat, drängt sich die Frage auf, inwiefern bereits im 19. Jahrhundert eine Vielverbundenheit der Inseln präsenter war als bisher angenommen. Welche Rolle spielt die allseits zitierte starke Gravitationskraft des französischen Kolonialismus und seiner ihm spezifisch eigenen mission civilisatrice? Oder konkret: welche literarische Inszenierung erfährt das sogenannte „trans“ zu Zeiten kolonialer Expansion?

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V ICTOR H UGO : S OZIALROMANTIK

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F RANKOPHILIE

„Les apparences marines sont fugaces à tel point que, pour qui l’observe longtemps, l’aspect de la mer devient purement métaphysique; cette brutalité dégénère en abstraction. C’est une quantité qui se décompose et se recompose. Cette quantité est dilatable: l’infini y tient. Le calcul est, comme la mer, un ondoiement sans arrêt possible. La vague est vaine comme le chiffre. Elle a besoin, elle aussi, d’un coefficient inerte. Elle vaut par l’écueil comme le chiffre par le zéro. Les flots ont comme les chiffres une transparence qui laisse apercevoir sous eux des profondeurs. Ils se dérobent, s’effacent, se reconstruisent, n’existent point par eux-mêmes, attendent qu’on se serve d’eux, se multiplient à perte de vue dans l’obscurité, sont toujours là. Rien, comme la vue de l’eau, ne donne la vision des nombres. Sur cette rêverie plane l’ouragan.“ (Hugo 2005: 17)

In diesem Ausschnitt aus dem 1881 verfassten La Mer et le vent kommt die Kraft, die Hugo dem Atlantischen Ozean zuschreibt, anschaulich zum Tragen. Es geht um eine metaphysische Dimension, die ihren Ausdruck in der Maxime fand: „Il existe ainsi une sorte de ‚paradigme océanique‘ hugolien“ (ebd. 13). Dies entspricht der hugoschen Sammlung eigener Zeichnungen, die er mit Paysages de la mer betitelt hat. Während Fragen des Zusammenlebens in diesem Text weniger auf einer ethnisch-kolonialen Ebene verhandelt werden, spielen sie in einem herausragenden früheren Text des Autors eine zentrale Rolle, der mit seinem Handlungsplatz Haiti auch eine transatlantische Dimension hat. In Bug-Jargal (1818/26) kollidiert Hugos rassistische Inszenierung des ‚schwarzen‘ und des ‚farbigen‘ Bevölkerungsteils in Saint-Domingue mit der positiven Zeichnung seines ‚schwarzen‘ Titelhelden sowie den zum Teil antirassistischen Äußerungen des Erzählers und führt zu einer irritierenden Ambivalenz, die sich nicht durch den Verweis auf das Motiv des bon sauvage auflösen lässt (vgl. Wogatzke 2006: 122). In diesem Jugendwerk Hugos findet sich zum einen die Ausgestaltung des Autostereotyps der ehemaligen Pflanzer, die weiterhin auf Indemnisierung beziehungsweise Wiedereroberung ihrer verlorenen Güter pochten und Hugo mit subjektiven Informationen zu den historischen Ereignissen in Saint-Domingue versorgten. Der Text avancierte daher wiederum zum Modell der späteren Béké-Autoren Guadeloupes und Martiniques, die bis 1848 anti-abolitionistische Texte produzierten und sich danach auf die Vergangenheitsbewältigung in Form der Verherrlichung der paternalistischen Sklaverei verlegten. Zu den Stereotypen, die in Bug-Jargal vertreten sind, gehört nicht nur die Glorifizierung der Monarchisten und die Desavouierung der Revolutionäre, Philanthropen und Abolitionisten des Mutterlandes, sondern auch die Zeichnung der haitianischen Revolutionäre als eine Horde fanatischer, stupider, barbarischer Schlächter, die ohne Plan und Ziel ihren niederen Instinkten gefolgt seien und zur Befriedigung ihrer blutrünstigen Gelüste unschuldige Menschen, Greise, Frauen und Kinder gemeuchelt, und deren sterbliche Überreste als Trophäen missbraucht hätten. Einige wenige hätten die Gunst der Stunde erkannt und die Sklavenrevolte zu ihrem persönlichen Profit benutzt. Insbesondere die ‚Farbigen‘ werden als Rädelsführer, als machthungrige, egozentrische, demagogisch versierte Manipulatoren einer ignoranten, ‚schwarzen‘ Masse gezeichnet, die Freiheit als ihre Freiheit zur Willkür interpretierten. Die vormaligen Herren seien in ihrer Gesamtheit doch eher gute, gestrenge, aber liebevolle Väter gewesen.

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Hugo zeichnet Haiti als Insel, die die Werte des französischen Mutterlandes zu verlieren riskiert. Er beleuchtet das Nebeneinander, die potenzielle Relationalität verschiedener ethnischer Gruppen, die zufällig aufeinandertrafen und das ehemals gute Zusammenleben unter dem vorrevolutionären, kolonialen Regime aufgaben. Dabei ist entscheidend: Die starke Strahlungs- und Bindungskraft Frankreichs ist auf seine Kapazität zurückzuführen, das koloniale Andere zu integrieren beziehungsweise sich im Angesicht des Anderen selbst zu transformieren und damit eine Idee vom scheinbar guten Zusammenleben, von Konvivenz, zu propagieren. Symptomatisch dafür sind die Neuordnung des Wissens und ihre Institutionalisierung zu Beginn des 19. Jahrhunderts − vor allem mit der Entstehung der Ethnologie als wissenschaftlicher Disziplin −, die dazu beitrugen, Diskurse über den Anderen in ersten Museen zu systematisieren; in Bezug auf Haiti ist insbesondere die aufkommende Phrenologie relevant. Die französische Idee der mission civilisatrice gelangt so auch im 19. Jahrhundert erst zu ihrer Blüte – ungeachtet des schmerzhaften Verlusts Haitis, dessen gewaltsame Emanzipation weit über die französische Kolonialsphäre hinaus als ein Alarmsignal wahrgenommen wird. Die Paradigmen kultureller Landschaften der Konvivenz/Relationalität sind gerade für Frankophoniefragen von besonderer Brisanz, da sie ermöglichen, die etablierte Bipolarisierung kolonialer Verhältnisse aufzubrechen. Wer tritt wo in Verbindung? Und inwiefern ist auf Grund zufälliger Relationalität Konvivenz möglich? Meine These ist, dass das Frankophoniekonzept seinen Ursprung in der mission civilisatrice in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat, die eine bis heute relevante und folgenschwere kulturelle Gravitationskraft entwickelte, welche auf zufälliger Relationalität einzelner Elemente beruht und sich Konvivenz auf die Fahnen schreibt. Denn in der Karibik beispielsweise gab es nicht nur Sklaven und französische Kolonisatoren, sondern auch Polen, Inder, Chinesen, unterschiedlichste afrikanische Ethnien, die bei der Überfahrt bereits getrennt wurden, und viele andere mehr. Es spricht für sich, dass der Relationalitätsbegriff nur hinsichtlich des Miteinanders der einzelnen Akteure fruchtbar gemacht werden kann, nicht auf der Ebene kultureller Flüsse zwischen den Inseln. 3 Atlantisches Denken zeigt sich auch in einem anderen Text Hugos, der den bezeichnenden Titel Les Travailleurs de la Mer trägt: „Voir manœuvrer dans l’insondable et dans l’illimité la diffusion des forces, rien n’est plus troublant. On cherche des buts. L’espace toujours en mouvement, l’eau infatigable, les nuages qu’on dirait affairés, le vaste effort obscur, toute cette convulsion est un problème. Qu’est-ce que ce tremblement perpétuel fait? Que construisent ces rafales? Que bâtissent ces secousses? Ces chocs, ces sanglots, ces hurlements, qu’est-ce qu’ils créent? À quoi est occupé ce tumulte? Le flux et le reflux de ces questions est éternel comme la marée. Gilliatt, lui, savait ce qu’il faisait; mais l’agitation de l’étendue l’obsédait confusément de son énigme. À son insu, mécani3

Auch für die aktuelle Frankreichforschung weisen Dorothee Röseberg und Heinz Thoma zu Recht darauf hin, dass die Perspektive der Entgrenzung und Hybridisierung nicht verabsolutiert werden sollte, da sonst anders geartete Tendenzen aus dem Blick geraten könnten: „Entgrenzung, Kulturkontakt und kulturelle Mischung gehören derzeit ebenso zur globalisierten Kultur wie Auswahl, Abwehr und Modifizierung von Kulturmustern.« (Röseberg/Thoma 2008: IX, X-XI).

262 | G ESINE M ÜLLER quement, impérieusement, par pression et pénétration, sans autre résultat qu’un éblouissement inconscient et presque farouche, Gilliatt rêveur amalgamait à son propre travail le prodigieux travail inutile de la mer.“ (Hugo 1892, II: 62)

Die politische Dimension und die Wellen des Meeres gehen eine unauflösliche Verbindung ein. Schauplatz ist die Insel Guernsey im Ärmelkanal, auf der Hugo während seines Exils im Hauteville House lebte und wo er umfangreiche Studien der Geografie, Natur und Bevölkerung der Insel betrieb. „Gilliatt monta sur la grande Douvre. De là, il voyait toute la mer. L’ouest était surprenant. Il en sortait une muraille. Une grande muraille de nuée, barrant de part en part l’étendue, montait lentement de l’horizon vers le zénith. Cette muraille, rectiligne, verticale, sans une crevasse dans sa hauteur, sans une déchirure à son arête, paraissait bâtie à l’équerre et tirée au cordeau.“ (Hugo 1892, II: 163; vgl. Barnett 2010: 159)

Anje Ravic Strubel weist darauf hin, dass Victor Hugo die Arbeiter des Meeres als letzten Teil einer Trilogie konzipiert hat, in der die drei Mächte, mit denen der Mensch zu ringen hat, dargestellt werden sollen. In Notre-Dame de Paris setze er sich mit der Macht der Religion auseinander, in Die Elenden rücke die Gesellschaft in den Mittelpunkt. Im dritten Teil ist es die Natur, die einen Großteil des Erzählten bestreitet und sich am Ende die Hauptfigur Gilliatt zurückholt, nachdem dieser sie zuvor besiegt hatte. Der Fischer wird seiner Liebe zu Deruchette entsagen, und das Meer wird ihn auslöschen, wie die Sonne seinen Namen im Schnee (vgl. Strubel 2003). Es scheint, als wäre die begrenzte Fähigkeit sich auszudrücken die notwendige Voraussetzung für den Umgang mit der an sich stummen Natur. Weiter betont Strubel, dass die schwerfällige Artikulation Gilliatts heftig mit den Monologen der Wellen kontrastiere, den Beschreibungen der schroffen Douvres-Klippen in ihrem ewigen Konflikt mit dem Wasser und den lyrischen Stimmungen, in denen Hugo Meer und Wolken einfängt. Augenscheinlich ginge Gilliatt, der in diesem Roman kaum je ein Wort sagt und von dem doch die meiste Zeit die Rede ist, in der anderen, referenzlosen Sprache auf, in diesem zyklischen Werden und Vergehen der Pflanzen, in der Regelmäßigkeit der Gezeiten und Stürme (vgl. ebd.). Das wird sich später bei seinem todesmutigen Kampf mit dem Meer als Vorteil herausstellen. Wie sehr Gilliatt selbst als Naturerscheinung wahrgenommen wird, zeigt der Aberglaube, mit dem die Bevölkerung von Guernsey ihn ebenso behaftet wie etwa das Wetter. Über solche Mystifizierungen, die sich an alles vom Gewohnten Abweichende heften, auch wenn die angebliche Hexerei Gilliatts mehr darin zu bestehen scheint, aus genauen Beobachtungen die richtigen Konsequenzen zu ziehen, zieht Hugo in einer großen Satire her (vgl. ebd.). In seinem Essay L’Archipel de la Mer, der als eine Art Einleitung zu Les Travailleurs de la Mer geplant war, dann aber 1883 einzeln veröffentlicht wurde, schreibt Hugo: „L’Atlantique ronge nos côtes. La pression du courant du pôle déforme notre falaise ouest. La muraille que nous avons sur la mer est minée de Saint-Valéry-sur-Somme à Ingouville, de vastes blocs s’écroulent, l’eau roule des nuages de galets, nos ports s’ensablent ou s’empier-

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rent. Chaque jour un pan de la terre normande se détache et disparaît sous le flot. Ce prodigieux travail, aujourd’hui ralenti, a été terrible. Il a fallu pour le contenir cet éperon immense, le Finistère. Qu’on juge de la force du flux polaire et de la violence de cet affouillement par le creux qu’il a fait entre Cherbourg et Brest. Cette formation du golfe de la Manche aux dépens du sol français est antérieure aux temps historiques. La dernière voie de fait décisive de l’océan sur notre côte a pourtant date certaine. En 709, soixante ans avant l’avènement de Charlemagne, un coup de mer a détaché Jersey de la France. D’autres sommets des terres antérieurement submergées sont, comme Jersey, visibles. Ces pointes qui sortent de l’eau sont des îles. C’est ce qu’on nomme l’archipel normand.“ (Hugo 1891-1892, I: 3)

Dieses Zitat zeigt anschaulich, dass hier bereits eine submarin-archipelische Dimension angedacht ist, die aber nicht produktiv umgesetzt wird. Während Konvivenz bei Hugo durchaus Programm ist, fehlt der Idee von Relationalität jeglicher programmatische Charakter. Die Darstellung des Atlantiks als Naturgewalt geht eine Verbindung mit dem sozialrevolutionären Element ein. Nur in einer gemeinsamen Betrachtung der haitianischen revolutionären Ereignisse von 1804 in Bug-Jargal und der Naturgewalt des Meeres in Les travailleurs de la Mer zeigt sich die übergreifende Funktion einer Kulturlandschaft des Atlantischen Ozeans, die aber nicht die kulturellen Elemente einzelner Inseln aufnimmt, sondern an das koloniale Zentrum Paris als dem Referenzpunkt rückgebunden ist.

P IERRE L OTI : E XOTIK

UND I SOLATION

„[…] la race indigène s’est éteinte, l’île n’est plus qu’une grande solitude au milieu de l’Océan, habitée seulement par des vieilles statues de pierre.“ (Loti 2006: 32) So schreibt Pierre Loti, dessen richtiger Name Julien Viaud (1850-1923) lautete, in seinem Reisebericht über die Osterinsel. Er kam dort am 7. Januar 1872 als Leutnant auf dem französischen Kriegsschiff „La Flore“ an. In Lotis Beschreibung der Osterinsel dominiert einerseits der Isolationsgedanke, andererseits ist von Anfang an auffallend, dass die Beziehungshaftigkeit der Insel, ihr relationaler Charakter, bedeutsam ist. Die vielgestaltigen Beziehungen werden jedoch nicht positiv bewertet, sondern sachlich erwähnt und häufig zu statischen Vergleichen herangezogen: „On chantait autour de moi une sorte de mélopée plaintive et lugubre, c’était sans cesse les mêmes notes indéfiniment répétées; l’harmonie, le rythme, les voix, n’avaient rien de comparable avec ce que nous entendions de plus bizarre en Europe et les passages les plus audacieux de l’Africaine sont bien loin encore de cet idéal de sauvagerie.“ (Ebd. 37)

Der Charakter des Exotischen dominiert in diesem Text in der Variante einer nahezu depressiven Grundstimmung. Es mag daher nicht von ungefähr kommen, dass auch die anderen, teilweise sicher bekannteren Romane und Reiseberichte Lotis in der Forschungsliteratur eine keineswegs einheitliche Beurteilung gefunden haben. Karl Hölz, auf dessen Ausführungen ich mich im Folgenden beziehen werde, betont, dass Lotis Stellung innerhalb der exotistischen Literatur und sein Beitrag zum zeitgenössischen politischen Kolonialismus fragwürdig seien (vgl. Hölz 2002: 158). Zweifelsohne steht Loti in der Tradition der literarischen Evasionsthematik, wie sie von Ber-

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nardin de Saint-Pierre über Chateaubriand, Fromentin bis hin zu Gautier oder Baudelaire gestaltet wurde. So wie bei diesen Autoren mit wechselnden Akzentuierungen die fremde Welt zum Projektionsort eigener Wunschphantasien wird – rêve, nostalgie, ennui –, erfasst auch Loti das Exotische aus dem Blickwinkel einer subjekthaften sensibilité (vgl. ebd.). Hölz betont, dass Loti mit seinem Werk die Gleichschaltung von Exotismus und Kolonialismus nicht vollzogen habe. Weder passen sich seine Helden dem erbaulichen Pioniergeist der kolonialen Eroberer an, noch teilt Loti den Enthusiasmus der kolonialen Expansionspolitik. Im Gegenteil widerspricht er allen Argumenten, mit denen die politischen Doktrinäre die koloniale Fremdherrschaft Frankreichs zu rechtfertigen suchten (vgl. ebd. 159). Es mag indes nicht überraschen, dass Lotis subjektiver Exotismus trotz seiner antikolonialen Thesen dennoch Nachwehen einer kolonisierenden Besitznahme aufweist. Allein der Blick, der auf das Fremde gewandt ist und jenes als Vorwand benutzt, um eigene Wünsche oder Ängste zu bestätigen, führt das Objekt mit imperialem Gestus dem eigenen Bewusstseinshorizont zu (vgl. ebd. 161). Damit bleibt von Anfang an fraglich, inwiefern von einem Fokus auf der Inszenierung von Konvivenz/Zusammenleben gesprochen werden kann. Der Roman Le mariage de Loti verzahnt die exotische Liebesidylle des IchErzählers Harry mit der von der Südseeinsel Bora Bora stammenden EingeborenenSchönheit Rarahu eng mit der Erfahrung der vergänglichen Fremdbegegnung. Dabei weist Rarahu für den Helden, sowohl in ihrer physischen als auch in ihrer psychischen Konstitution, durchaus die für das koloniale Ordnungsschema notwendigen Merkmale der anthropologischen Konstanten auf (vgl. ebd. 181). Ihre schwarzen Augen, ihre kurze, feine Nase oder ihr langes, buschiges Haar lassen zusammen mit der „langueur exotique“ und der „douceur câline“, die der Held in ihrem Blick entdeckt, den „type accompli de cette race maorie“ erkennen. (Loti 1991: 53, zit.n. Faessel 2006: 137) Gerade diese ethnische und rassische Festschreibung trägt das erste Argument von der exotischen Endvision. Gemäß den Vorgaben des biologistischen Evolutionsmodells sieht der Erzähler die sogenannten primitiven Rassen im Kontakt mit der Zivilisation dem Untergang geweiht (vgl. Hölz 2002: 181). Der Held versucht mit patriarchaler Geduld, Rarahus „kindlicher Intelligenz“ diese kulturphilosophische Wahrheit des Evolutionismus nahezubringen: „Je pense, ô ma petite amie, que sur ces terres lointaines sont disséminés des archipels perdus; que ces archipels sont habités par une race mystérieuse bientôt destinée à disparaître; que tu es une enfant de cette race primitive.“ (Loti 1991: 138, 134, zit.n. Hölz 2002: 181) Rarahu bestätigt dem Erzähler frustriert die rassistisch begründete Perspektivlosigkeit ihres Schicksals und fängt sie im ernüchterten Bild einer Liebesauffassung ein, die sich nur noch im jeweiligen Augenblick der mitleidvollen Anteilnahme des weißen Mannes zu vergewissern vermag (vgl. Hölz 2002: 182). Torsten König unternimmt eine Lesart Lotis, die richtungsweisend ist für die Ausdifferenzierung von Pazifikstudien bezüglich des französischen Kolonialreiches. Er beschreibt wie Le mariage de Loti den Mythos der île délicieuse aufnimmt, der von Bougainville und Diderot geschaffen wurde. Tahiti erscheint als Nouvelle Cythère, als Liebesinsel, wo junge Frauen ausländischen Reisenden angeboten werden oder wo auch der ‚edle Wilde‘ in einer überschäumenden Natur überlebt (vgl. König 2012: 135). Loti schreibt diesen Mythos weiter und evoziert damit westliche

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Phantasmen, die auf die vahiné, die tahitianische Frau, bezogen sind. Seine Phantasien mischen sich mit pittoresken Beschreibungen einer Natur, die alles im Überfluss bietet: genussvolle Tropen. Er vermischt damit Elemente eines tropischen Exotismus, der zum damaligen Zeitpunkt sehr in Mode war − man denke an die Fleurs du mal von Baudelaire (1857/1868) oder Noa-Noa (1897) von Paul Gauguin (vgl. ebd. 136). Nachdem Loti 1871/72 in den Pazifik gereist war, hatte er eine Vorstellung von den schwierigen Lebensbedingungen auf Tahiti. Diese Erfahrung lieferte wohl die Grundlage für seinen Bericht über die traurigen Folgen europäischer Invasion für die einheimische Bevölkerung. Angesichts der degenerierten tahitianischen Gesellschaft beschreibt er das Verschwinden des reinen und unschuldigen Wilden aus der präkolonialen Epoche. In seiner pseudo-ethnografischen Fiktion kritisiert Loti öffentlich den Kolonialismus aus der Sicht eines Exotismus, der damit durchaus rassistische Züge annimmt. Le mariage de Loti entspricht einer Etappe okzidentalen Denkens, die sich den Fremden aneignen wollte (vgl. ebd.). Unter dem Namen Tahiti und Polynesien konstruiert Loti eine Projektionsfläche für europäische Vorstellungswelten. Lotis Text ist voll von Hinweisen auf die Isolation der Inseln: „Allez loin de Papeete, là où la civilisation n’est pas venue, là où se retrouvent sous les minces cocotiers, – au bord des plages de corail –, devant l’immense Océan désert, – les districts tahitiens, les villages aux toits de pandanus. – Voyez ces peuplades immobiles et rêveuses; – voyez au pied des grands arbres ces groupes silencieux, indolents et oisifs, qui semblent ne vivre que par le sentiment de la contemplation… Écoutez le grand calme de cette nature, le bruissement monotone et éternel des brisants de corail; – regardez ces sites grandioses, ces mornes de basalte, ces forêts suspendues aux montagnes sombres, et tout cela, perdu au milieu de cette solitude majestueuse et sans bornes: le Pacifique.“ (Loti 1991: 68-69, zit.n. König 2012: 136-137)

Was sagt uns dies über unsere Fragestellung von Konvivenz und Relationalität? Angesichts der exotistischen Grundhaltung ist die Inszenierung eines Projektes vom Zusammenleben, wenn überhaupt, auf einer übergeordneten Ebene präsent, nämlich in der Affirmation einer Unmöglichkeit eines Zusammenlebens der Kulturen in Prozessen kolonialer Aneignung, wie Torsten König sie in seiner Analyse aufzeigt. Umso auffälliger ist die konstante Inszenierung von Relationalität. Das Polynesien Lotis zeigt sich als Phantasma europäischer Vorstellungswelten, die sich als geografische Fiktionen eines geschlossenen, isolierten Territoriums vermitteln, das alle Legitimation aus Frankreich ableitet. Das koloniale System basiert auf den Beziehungen zwischen Kolonie und kolonisierter Insel und schafft ein geokulturelles Imaginarium, das gerade diese Beziehungen privilegiert (vgl. König 2012: 137). König betont, dass die Wahrnehmung verschiedener Zonen im Pazifik einerseits dem Bild isolierter Inseln entspreche, andererseits spielen die benachbarten Inseln und die Präsenz eines Archipels eine bedeutungstragende Rolle. So gibt es vereinzelt Hinweise auf die Verbundenheit zwischen den Inseln: „Toute petite, elle avait été embarquée par sa mère sur une longue pirogue voilée qui faisait route pour Tahiti. Elle n’avait conservé de son île perdue que le souvenir du grand morne effrayant qui la surplombe. La silhouette de ce géant de basalte, planté comme une borne monstrueuse au milieu du Pacifique, était restée dans sa tête, seule image de sa patrie.“ (Loti 1991: 51)

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Der Protagonist betrachtet Tahiti jedoch immer ausgehend von Frankreich. Auf ganz Polynesien bezogen, erklärt sich diese Sichtweise aus der Rolle Papeetes als administratives Zentrum eines ganzen frankophonen Pazifiks. Der Einfluss von Lotis kultureller Kartierung der polynesischen Inselwelt ist nicht zu überschätzen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist es schwierig, über den Pazifik zu schreiben, ohne sich auf Loti zu beziehen. 4 Lotis literarischer Version von Tahiti entspricht das relative Schweigen der Ethnografie über diese Weltgegend. Vor Ende des 19. Jahrhunderts gibt es nur zwei ethnologische Studien, die Voyage aux îles du Grand Océan von Jacques-Antoine Moerenhout (1837) und der État de la société tahitienne von Édmond de Bovis (1851). (Vgl. König 2012: 138) Die Geschichte der kulturellen und sozialen Situation in Polynesien, der Austausch zwischen den Inseln, die ökonomischen und sozialen Netze der präkolonialen Epoche bleiben in Frankreich daher weitgehend unbekannt. In den wenigen Publikationen zu dieser Region wird immer das Bild der verlorenen Inseln im Ozean transportiert. So schreibt der Schweizer Reisende Eugène Hänni 1908: „En voyant s’ouvrir devant moi les vastes solitudes du Pacifique et en songeant aux minuscules dimensions de l’île que je venais de quitter, je me disais: Tout de même, il est drôle d’habiter dans des endroits pareils, simples mottes de gazon perdues dans les immensités de l’Océan!“ (Hänni 1908: 173, zit.n. König 2012: 138).

Und doch gibt es im Roman Lotis immer wieder Beispiele für eine Verbindung der einzelnen Inseln Ozeaniens untereinander, auch wenn der Hauptbezug zur Metropole dominiert: „La mère de Rarahu l’avait amenée à Tahiti, la grande île, l’île de la reine, pour l’offrir à une très vieille femme du district d’Apiré qui était sa parente éloignée. Elle obéissait ainsi à un usage ancien de la race maori, qui veut que les enfants restent rarement auprès de leur vraie mère.“ (Loti 1991: 51)

Was die Omnipräsenz des Wassers betrifft, so zeigt folgende Textstelle, dass das elementare Verwobensein existenziellen Charakter hat: „Rarahu et Tiahoui étaient deux insouciantes et rieuses petites créatures qui vivaient presque entièrement dans l’eau de leur ruisseau, où elles sautaient et s’ébattaient comme deux poissonsvolants.“ (Loti 1991: 56) Der fidschianische Kulturtheoretiker HauʼOfa führt in seinem einflussreichen Essay „Our Sea of Islands“ aus, wie prägend das Element der Relationalität für zeitgenössische Diskussionen ist und welch existenziellen Charakter es für jede Lesart Ozeaniens besitzt. Er stellt die beiden Paradigmen „sea of islands“ und „islands in a far sea“ einander gegenüber: „There is a world of difference between viewing the Pacific as ‚islands in a far sea‘ and as ‚a sea of islands‘. The first emphasises dry surfaces in a vast ocean far from the centres of power. 4

Loti hat das Bild der sinnlichen Verbindung zwischen dem Europäer und der indigenen Frau indes nicht erfunden. Bereits 1860 erschien Les Derniers Sauvages, la vie et les mœurs aux îles Marquises, 1842-1859 von Maximilien Radiguet, Sekretär des Admirals Dupetit-Thouars (vgl. König 2012: 137).

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Focussing in this way stresses the smallness and remoteness of the islands. The second is a more holistic perspective in which things are seen in the totality of their relationships.“ (Hau’Ofa 2008: 31)

Während HauʼOfa ganz klar die „sea of islands“ als relational ausgerichtete Perspektive propagiert, entspricht Lotis Vision vielmehr einer „islands in a far sea“: „Continental men, namely Europeans, on entering the Pacific after crossing huge expanses of ocean, introduced the view of ‚islands in a far sea‘. From this perspective the islands are tiny, isolated dots in a vast ocean. Later on, continental men – Europeans and Americans – drew imaginary lines across the sea, making the colonial boundaries that confined ocean peoples to tiny spaces for the first time. These boundaries today define the island states and territories of the Pacific.“ (ebd. 32)

F AZIT Die Meerlandschaftsinszenierungen dienen als Indikatoren, ob und inwieweit sich die Autoren vom kolonialen/exotistischen Naturbild lösen und Texte entstehen, die das Land und seine Landschaft nach und nach neu entziffern und es damit imaginär und sprachlich für sich in Besitz nehmen (vgl. Blümig 2004: 11). Gerade die meerlandschaftliche Topik der post/kolonialen, häufig exotischen Literatur des 19. Jahrhunderts ist für unsere Fragestellung aufschlussreich, denn die Kolonisierung implizierte auch eine sprachliche und literarische „Be-setzung“. Mithilfe europäischer Vorstellungs- und Bildmuster wurden Landschaften erfasst und so der ‚alten‘ Welt zugänglich gemacht (vgl. ebd.). Bei beiden Autoren fungieren Meerlandschaften als konstitutive Schaffensquelle des Schreibens. Das Meer als poetische Inspiration, aber auch als soziale Herausforderung mit der impliziten Möglichkeit des Menschenhandels. Auf den ersten Blick scheint das kulturtheoretische Potential eines Black Atlantic oder Black Pacific 5 in Positionen gegenwärtiger Debatten für das 19. Jahrhundert nicht gegeben. Dennoch lässt sich festhalten, dass gewisse aktuell diskutierte Sichtweisen latent präsenter sind, als bislang angenommen. Ozeanien als der unsichtbare Kontinent zeigt sich bei Loti insofern, als jeglicher Referenzpunkt in der Metropole liegt. Bezeichnend ist bei ihm jedoch, dass daneben auch die Vielverbundenheit der Inseln zum Thema wird. Der Hinweis darauf, dass es regen Austausch gegeben haben muss, ist stets subtil präsent − dies weitaus mehr als bei Hugo, der durchaus Interesse hat, das französische Lesepublikum zu erreichen und den Verlust der einstigen Perle des französischen Kolonialreichs neu lesbar zu machen. Gemeinsam ist beiden Autoren, dass sie Frankreich als Kolonialmacht mit kultureller Gravitationskraft bei jeder sich bietenden Gelegenheit affirmieren. Mit seiner zentralen Ausgestaltung der Konvivenz nimmt Hugo transatlantische theoretische Entwicklungen vorweg, die zwei Jahrhunderte später in den Identitätsdiskursen der Creolité und anderer Strömungen eine Rolle spielen. Das Paradigma 5

Man denke hier an das Phänomen der Blackbirds, das in Ozeanien seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stark verbreitet ist.

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Konvivenz geht im transatlantischen Kontext auf eine sozialromantische Dimension zurück, die sich an den Werten der Französischen Revolution messen lässt und dadurch die relationale Vielverbundenheit untergräbt. Relationalität wird daher lange Zeit theoretisch ausgeblendet. Die Idee einer Vielverbundenheit und archipelischer Grundstrukturen muss noch lange warten, um sich im atlantischen Raum durchzusetzen. Umgekehrt verhält es sich mit kulturtheoretischen Positionen im pazifischen Raum: Hier wird aufgrund der dominanten exotistischen Lesart jede literarische Inszenierung eines programmatischen Konvivenz-Begriffs obsolet. Dafür treten Elemente der Relationalität besonders in Erscheinung. Diese werden jedoch im 19. Jahrhundert noch nicht fruchtbar gemacht: „Il est, au milieu du Grand Océan, dans une région où l’on ne passe jamais, une île mystérieuse et isolée; aucune terre ne gît en son voisinage et, à plus de huit cents lieues de toutes parts, des immensités vides et mouvantes l’environnent.“ (Loti 2006: xxx)

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III

Selbst- und Fremdwahrnehmungen, Bilder vom Anderen

Körper und Körperinszenierung in Leo Africanus’ Descrittione dell’Africa, einem frühneuzeitlichen Blick auf den afrikanischen Kontinent M ECHTHILD G ILZMER

E INLEITUNG Wie die französische Anthropologin Françoise Héritier gezeigt hat, bilden die Gegensatzpaare ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ und die damit verbundenen Eigenschaften in vielen Gesellschaften zentrale Ordnungskategorien bei der Erfassung und Deutung der Welt (Héritier 1996: 2002). Sie fand im Verlauf ihrer langjährigen Forschungen in den unterschiedlichsten Regionen dieser Erde immer wieder bestätigt, dass die biologischen Unterschiede zwischen Mann und Frau zum Ausgangspunkt und Anlass für eine dichotomische Einteilung und Zuordnung von Strukturmerkmalen und Charaktereigenschaften genommen werden, die jeweils unterschiedliche Wertung erfahren. Grundsätzlich gilt, dass die als positiv gewerteten Merkmale eher als männlich, die negativen eher als weiblich definiert werden. Die Biologie, die Körper und ihre Geschlechtsunterschiede bilden demnach die Folie und das Modell, mit deren Hilfe die Welt gedeutet und in Oppositionen gefasst wird. Zur Anwendung kommt dieses dichotomische Denken, das den Körper und die Zweigeschlechtlichkeit des Menschen als strukturelle Grundlage des Verstehens nimmt, auch in einem Zusammenhang, der uns in der Folge interessieren wird: bei der Beschreibung des geografisch entfernten Raumes. Dieser wird – vor allem seit dem 18. Jahrhundert – in der Literatur und in anderen Medien häufig in die Metapher des weiblichen Körpers gefasst, den der weiße Mann erobert. Stellvertretend für den fremden Kontinent locken Frauen in Literatur und bildender Kunst als verführerische Objekte; ihr Körper wird zur Projektionsfläche männlicher Sehnsüchte und Fantasien (vgl. Said 1981). Es erstaunt insofern auch nicht, dass der Körper zu einem wichtigen Gegenstand der kulturwissenschaftlichen Forschung geworden ist – wie die zahlreichen Publikationen zum Thema in den letzten Jahren zeigen. Ein spezifisches Interesse gilt dabei auch der Frage, wie der fremde, außereuropäische Körper aus europäischer Perspektive wahrgenommen und bewertet wurde. Dabei geht es – wie z.B. in der Aufsatzsammlung Fremde Körper. Zur Konstruktion des Anderen im europäi-

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schen Diskurs (Gernig 2001) – um die Perspektiven europäischer Reisender, Abenteurer, Schriftsteller, Maler und Wissenschaftler oder auch Kolonisatoren, die nach Asien, Afrika, Amerika und in den Orient gereist sind bzw. dort gelebt haben. Ziel einer solchen Analyse ist es, „die eigene Kultur aus einer sozusagen dezentrierten Perspektive neu zu beleuchten.“ (Ebd. 15) Darstellung und Inszenierung von Körpern sind in Texten und anderen Medien sehr aussagekräftig, bzw. können es bei genauer Analyse sein, und die Geschlechterdichotomie spielt dabei eine Rolle. An ihnen lassen sich immer auch gesellschaftliche, soziale Veränderungen ablesen, denn: „In kulturanthropologischer Perspektive ist der Körper nicht einfach ein corpus im Sinne eines materiellen Leibes, sondern selbst immer schon Ausdruck seiner kulturell bedingten Vorgeschichte. Das heißt, dass der Mensch an der Grenze von Natur und Kultur auch als Teil von beidem angesiedelt ist. Körpersprache, Gestik und Mimik, Begrüßungsrituale, Tischsitten und Umgangsformen, Berührungen und Blickkontakt sind damit keine naturgegebenen ontologischen Konstanten.“ (Ebd. 17) Ich werde nun im Folgenden einen frühen Blick auf Afrika im Hinblick auf die darin enthaltene Darstellung des Körpers untersuchen. Es handelt sich um den Bericht des Leo Africanus, dessen Descrittione dell’Africa im Jahr 1550 zunächst in italienischer Sprache erschien (Africanus, zit.n. Ramusio 1563). 1 Die Originalität seiner Descrittione dell’Africa besteht darin, dass es sich um die erste Beschreibung des inneren Afrikas in der frühen Neuzeit handelt. In der islamischen Welt waren durch Ibn Battuta und Ibn Khaldun zwar bereits früher Erkenntnisse über das Innere Afrikas vermittelt worden. Doch sie waren in Europa noch nicht rezipiert worden. Und insofern gilt, dass man über den afrikanischen Kontinent noch recht lange mangelhaft unterrichtet war. „Der Geograph des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts blieb, was die Binnenräume Afrikas anbetraf, zur Hauptsache auf Nachrichten angewiesen, wie sie die Reisenden der Antike, Herodot, Plinius der Ältere oder Claudius Ptolemäus gesammelt hatten.“ (Bitterli 2004: 43) Die Beschreibung Afrikas von Leo Africanus wurde „während drei Jahrhunderten als die wesentlichste Ergänzung zu den Berichten der Antike betrachtet.“ (Ebd. 46) Zwar konnte um 1700 die Küstenlinie des ganzen afrikanischen Kontinents als erforscht gelten, doch vom Hinterland war wenig mehr bekannt als das, „was die antiken Autoren, El Idris und Leo Africanus in Erfahrung gebracht hatten“ (ebd. 47).

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EIN EUROPÄISCHER

AFRIKANER

Der Bericht von Leo Africanus war darüber hinaus für den europäischen Leser des 16. Jahrhunderts interessant, weil es sich um den Bericht eines gelehrten Mannes handelt, der den afrikanischen Kontinent aufgrund seines ungewöhnlichen Lebensweges gleichzeitig aus der Innen- und aus der Außenperspektive wahrnahm. Wie aus

1

La Descrittione dell’Africa, in: Giovanni Battista Ramusio (Hg.): Delle navigationi et viaggi. (Zu konsultieren per Internet über die elektronische Bibliothek der Bibliothèque Nationale gallica.bnf.fr, die Seitenzahlen im Anschluss an die Zitate beziehen sich auf diesen Band von 1563).

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seinen Lebensdaten ersichtlich ist, 2 wurde Leo Africanus als Hassan al Wazzân, d.h. als Moslem in Andalusien und in Nordafrika, in Fès/Marokko, sozialisiert. Zum Zeitpunkt der Abfassung seines Berichts hatte er jedoch bereits acht Jahre in Rom gelebt, wo er 1520 zum katholischen Glauben übergetreten war. D.h. Leo Africanus kannte den Islam aus eigener Anschauung, er kannte Afrika, hatte in den von ihm beschriebenen Ländern gelebt bzw. sie bereist, und er kannte inzwischen auch Europa, das Christentum und die europäische Denkweise und Kultur. Es sind dieser Weg und seine Wandlung, die seinen Bericht so interessant machen: Der europäische Leser des 16. Jahrhunderts erhält durch Leo Africanus‘ Bericht Einblicke in die fremde Welt Afrikas aus der Perspektive eines ‚Insiders‘, der seine präzise Kenntnis mit der kritischen Distanz des zum christlichen Glauben übergetretenen Konvertiten verbindet. Vor diesem Hintergrund erklären sich auch die Resonanz und die schnelle Verbreitung seiner Beschreibung Afrikas, die im Europa des 16. Jahrhunderts in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde. 3 2

3

Ebenso wie viele andere Lebensdaten des Andalusiers Al-Hassan al-Wazzân ist auch sein Geburtsjahr nicht mit Genauigkeit zu bestimmen. Es wird vermutet, dass er zwischen 1493 und 1495 in Granada zur Welt kam. Dies – wie sein Leben insgesamt – wird aus einem Vergleich seiner eigenen Angaben in der Descrittione dell’Africa erschlossen. Dort erfahren wir auch, dass die Familie Al-Hassans nach dem Untergang des Königreiches Granada nach Marokko floh und sich wohl um 1499/1500 in Fès niederließ. Hier erhielt der junge Hassan eine Ausbildung, wie sie gebildete Moslems ihren Söhnen angedeihen ließen. Er studierte Recht und Theologie in den dortigen Koranschulen und an der Hochschule der Karawijin-Moschee. Nach dem Studium war er zwei Jahre als Sekretär tätig, bevor er noch im Jünglingsalter die erste seiner großen Reisen antrat. Sie führte ihn vermutlich in den Jahren 1507/1508 nach Istanbul, Mesopotamien, Armenien, Persien und die Tartarei. Seine zweite Reise unternahm Al-Hassan gemeinsam mit seinem Onkel um 1510 quer durch die Sahara nach Timbuktu, wohin dieser vom marokkanischen Sultan in diplomatischer Mission gesandt worden war. Die dritte Reise, wahrscheinlich zwischen 1512 und 1514, ging gleichfalls nach Timbuktu, verlief dann aber durch die Haussa-Staaten und das TschadseeGebiet weiter nach Ägypten. 1514 kehrte er wieder nach Fès zurück und arbeitete als Diplomat im Dienst des Königs von Fès. Die vierte und letzte große Reise schließlich führte ihn im Alter von höchstens 25 Jahren abermals in den Nahen Osten. Vermutlich während eines Abstechers auf die Mittelmeerinsel Djerba wurde er von sizilianischen Korsaren gefangen und als Sklave nach Italien gebracht. Das war im Jahr 1518. Nach einjähriger Festungshaft auf der Engelsburg wurde er von Papst Leo X. am 6. Januar 1520 auf dessen eigenen Namen „Johannes Leo de Medicis“ getauft. Mit Sicherheit überliefert ist auch, dass er nach dem Tod des Papstes nach Bologna ging, wo er 1524 ein Arabisch-HebräischLateinisches Wörterbuch abschloss, eine Auftragsarbeit für den jüdischen Arzt Jakob Mantino. Ein letztes Lebenszeichen von ihm gibt uns seine Signatur unter die am 10. März 1526 in Rom beendete Cosmographia & Geographia de Affrica, die unter dem Titel Descrittione dell’Africa 1550 von Ramusio herausgebracht wurde. Man hat lange darüber spekuliert, in welcher Sprache Leo Africanus sein Werk wohl ursprünglich abgefasst hatte und wie sich der von Ramusio publizierte Text zum Original verhält, von dem man annahm, es sei auf Arabisch verfasst worden. Dieses Geheimnis wurde zumindest teilweise gelüftet, als 1931 in Rom bei einer Auktion ein von Africanus signiertes Originalmanuskript auftauchte, das in einem eigentümlichen Italienisch abgefasst

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D IE D ESCRITTIONE DELL ’A FRICA : ZWISCHEN K OSMOGRAFIE UND R EISEBERICHT Zum besseren Verständnis des Textes müssen wir uns seine Entstehungsgeschichte und den Schreibkontext noch einmal vor Augen führen: Leo Africanus, alias Hassan al Wazzân, war ein gelehrter Mann. Er kannte die antiken Vorbilder (Plinius, Ptolemäus) und ihre Schriften über Afrika; im Unterschied zu seinen europäischen Zeitgenossen hatte er aber auch die Berichte der arabischen Historiker (Ibn Battuta, Ibn Khaldun) gelesen. Da diese ihm in Rom jedoch nicht vorlagen, konnte er sie nur aus dem Gedächtnis zitieren. Ob er über eigene Aufzeichnungen verfügte, die er für seine Beschreibung nutzte, ist nicht überliefert. Auch hier hat er sich möglicherweise nur auf sein Gedächtnis verlassen können. Ein bedeutender Unterschied zu den Berichten der antiken Vorbilder besteht darin, dass zum ersten Mal jemand vom Inneren Afrikas berichtete und beschrieb, was er selbst gesehen hat. Die eigene Augenzeugenschaft als Gewähr für die Authentizität des Beschriebenen zieht sich denn auch wie ein roter Faden durch seinen gesamten Text: „Ich sah das selbst“, „ich habe das selbst probiert“ (S. 171), „wie ich selbst gesehen habe“ (S. 175) „Ich bin selbst am Ursprung der Quellen gewesen, daher kann ich als Augenzeuge sagen“ (S. 157), betont Leo Africanus ganz im Sinn des seit Herodot klassischen Topos der Reiseliteratur, demzufolge alles wahr ist, weil man es selbst gesehen hat. 4 Leo Africanus verband also sein Erfahrungswissen mit dem Schriftwissen seiner Zeit, und so ist ein Text entstanden, der sachliche Elemente einer Kosmografie mit den fiktionalen Elementen eines Reiseberichts à la Marco Polo verband. Sein Ziel war es, den Europäern seiner Zeit ein möglichst umfassendes und fundiertes Bild vom afrikanischen Kontinent zu geben, das er narrativ auflud, um die Lesbarkeit des Textes zu fördern und seinen Erfolg bei seiner Leserschaft zu sichern. Besonders originell und typisch für die Descrittione sind die humoristischen Anekdoten und Tierfabeln, wie sie vom Autor mit Vorliebe in den Text eingestreut wurden. Sie waren durch die Prosaformen seiner islamisch-berberischen Heimat inspiriert und verleihen dem Text seine spezifisch literarische Qualität. Leo Africanus wusste, dass hohe Erwartungen an ihn gestellt wurden; er war sich seiner bedeutenden Rolle und Verantwortung als Mittler zwischen Europa und Afri-

4

ist. Dieser Zufallsfund brachte Versuche für eine textkritische Ausgabe sowohl in Italien als auch in Frankreich in Gang. Dort ist 1956 eine neue Fassung von Alexis Epaulard erschienen, an der renommierte französische Orientalisten beteiligt waren. Doch der Nachteil dieser Ausgabe ist, dass die Textquellen nicht eindeutig gekennzeichnet sind. Insofern müssen wir uns vorläufig noch mit manipulierten Textausgaben begnügen, „une véritable édition de Léon l’Africain étant encore à venir (Zhiri 1991: 54).“ Ich werde bei meiner Analyse im Folgenden von der ersten italienischen Textausgabe ausgehen (Ramusio: op. cit., die Seitenangaben im Anschluss an die Zitate beziehen sich stets auf diese Ausgabe). Die von mir herangezogenen Zitate in deutscher Übersetzung werde ich in den Fußnoten angeben. Diese entnehme ich der 1984 in der DDR erschienenen deutschen Textausgabe von Karl Schubarth-Engelschall. Die Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf die deutsche Textausgabe von Schubarth-Engelschall.

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ka, zwischen Islam und Christentum, durchaus bewusst. Er wusste um die Faszination, die für die Europäer vom schwarzen Kontinent ausging. Gleichzeitig kannte er auch ihre Vorurteile und Ängste fremden Kontinenten gegenüber, so wie sie beispielsweise in einem der kanonischen Texte des Mittelalters über fremde Welten und Körper, den Reisen des John Mandeville übers Meer aus dem 14. Jahrhundert zum Ausdruck kamen. „Hierin erzählt Mandeville – wer immer das gewesen sein mag, und was immer er auch bereist oder aber nur, etwa aus Plinius‘ Naturgeschichte, aufgelesen haben mag, von monströsen Menschenwesen, denen er auf den Inseln jenseits der Meere begegnet sei.“ (Pfister, zit.n. Gernig 2001: 59) Sowohl Kolumbus als auch Sir Walter Ralegh äußerten ihr Erstaunen, als sie nicht auf solche Wesen trafen, denn: „Das Fremde – den Fremden als monströs zu fantasieren und zu repräsentieren, als im göttlichen Schöpfungsplan nicht vorgesehen […] scheint so sehr der menschlichen Ökonomie von Angst und Begehren zu entsprechen, daß diese Phantasmata des Fremden als dem ganz Anderen selbst den starken Eindruck der Wahrnehmung mit eigenen Augen, die Autopsie der Reisenden in die Neuen Welten überlebt hat.“ (Ebd. 61)

Leo Africanus wusste auch um die Wirkungsmacht der Bilder, Worte und Vorurteile, die das Denken seiner Zeit bestimmten. Ohne Umschweife problematisierte er deshalb gleich zu Beginn die Frage, ob er denn überhaupt als unvoreingenommener Beobachter angesehen und ernst genommen werden konnte. Wird man ihm, dem Fremden, dem Konvertiten, überhaupt glauben können? Ist nicht anzunehmen, dass er aus Loyalität zu seinem Herkunftsland, dem Land seiner Kindheit und Jugend, die Schwächen und Fehler der Afrikaner verschweigt? Leo Africanus war sich dieser Gefahr durchaus bewusst: „Non m’è ascoso esser vergogna di me medesimo à confessare & scoprire i vituperi de gli Africani: essendo l’Africa mia nudrice, & nellaquale io sono cresciuto, & dove ho speso la piu bella parte, & maggiore de gli anni miei.“ (S. 11b) 5

Doch vor einer allzu interessegeleiteten Berichterstattung bewahrte ihn seine erklärte Absicht, möglichst wahrheitsgetreu und sachlich zu berichten: „[M]a faccia appresto tutti mia scusa l’officio dell’historico, il quale è tenuto à dire senza rispetto la verita delle cose, & norrà compiacere al desiderio di niuno: di maniera, che io sono necessariamente costretto à scriver quello, che io scrivo, non volendo io in niuna parte allontanarmi dal vero, & lasciando gli ornamenti delle parole, & l’artificio da parte.“ (Ebd.) 6

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„Ich bin mir darüber klar, daß es für mich nicht gerade schmeichelhaft ist, die Fehler der Afrikaner einzugestehen und bloßzulegen, da Afrika mich erzogen hat, und ich den schönsten Teil meines Lebens dort verbracht habe.“ (S. 79) „Allein die Pflicht des Historikers, die Wahrheit ohne Rücksichten und Schmeicheleien zu sagen, wird mich entschuldigen. Ich muß das schreiben, was ich schreibe, und will mich in keinem Punkte von der Wahrheit entfernen und werde alle Verzierungen des Stils und alle Künsteleien der Sprache vermeiden.“ (S. 79)

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Und er ging noch einen Schritt weiter: Die Voraussetzung für eine unvoreingenommene Abbildung der Realität sah er gerade in seiner bikulturellen Prägung. Zur Veranschaulichung brachte er eine Fabel, die von einem Zwitterwesen handelt: von einem Vogel, der die besondere Eigenschaft hat, bei den Fischen ebenso gut leben zu können wie bei den Vögeln, und der diese Fähigkeit nutzt, um sich jeglicher Festlegung zu entziehen. Immer dann, wenn eine Tributzahlung an den König als Zeichen der Unterwerfung von ihm gefordert wird, begibt er sich ins jeweils andere Element. Und wie der Vogel die Elemente, so wechselt Leo Africanus die Kontinente: „[V]oglio inferire, che dove l’huomo conosce il suo vantaggio, sempre vi corre quando è puo. onde, se gli Africani sarano vituperati, diro che io sono nato in Granata & non in Africa, & se’l mio paese verra biasimato, recaro in mio favore l’esser io allevato in Africa, & non in Granata.“ (Ebd.) 7

In dieser Verweigerung der identitären Zuschreibung und der damit verbundenen Fähigkeit zum Perspektivwechsel liegen Möglichkeit und Chance für eine echte Begegnung mit der fremden Kultur. Fünf Jahrhunderte später wird die Ethnologin Germaine Tillion, die sich u.a. mit der Kultur der Berber beschäftigte, diese Haltung als Grundlage für ihre Arbeit bezeichnen: „L’ethnologie […] tient au niveau de l’inter-connaissance des peuples, une place parallèle à celle que joue le dialogue au niveau des individus: un aller-et-retour incessant de la pensée, incessamment rectifié. Dans le dialogue, comme dans l’ethnologie, on est deux: un interlocuteur (être inconnu, peuple inconnu) et en face un autre être: celui qu’on connaît le plus et qu’on connaît le moins. […] L’ethnologie c’est donc d’abord un dialogue avec une autre culture. Puis une remise en question de soi et de l’autre. Puis si possible, une confrontation qui dépasse soi et l’autre.“ (Tillion 1982: I-II)

Leo Africanus, der nach eben diesem Prinzip handelte, ist es gelungen, ein sehr detailreiches, differenziertes Bild von Afrika zu vermitteln, wobei sein Schwerpunkt unzweifelhaft auf der Beschreibung Nordafrikas liegt. Auch wenn die Region südlich der Sahara darin nur eine untergeordnete Rolle spielt, so gilt ihr verständlicherweise ein besonders großes Interesse seitens der europäischen Leserschaft. „Als besonders aufschlußreich erwiesen sich Leos Nachrichten aus dem Sudan, die an Genauigkeit und Anschaulichkeit der Schilderung weit über die Hinweise eines Plinius hinausgingen. Nach seinen eigenen Angaben hatte Leo nicht weniger als fünfzehn Negerstaaten persönlich aufgesucht und deren gesellschaftliche Organisation, deren wirtschaftliche Bedeutung, die Lebensform ihrer Bürger in knappen Schilderungen von großer Authentizität festgehalten. Offenbar waren seine beiden Aufenthalte in Timbuktu dem arabischen Reisenden zum besonderen Erlebnis geworden. […] Die Beschreibung, die Leo Africanus von dieser Stadt gab, bildete ei-

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„Daraus folgt: Wenn er kann, läuft der Mensch stets dahin, wo er seinen Vorteil sieht. Wenn also die Afrikaner getadelt werden, so sage ich, daß ich in Granada und nicht in Afrika geboren bin. Spricht man aber über Spanien schlecht, so erwidere ich, ich sei in Afrika und nicht in Granada erzogen worden.“ (S. 80)

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nen der berühmtesten Abschnitte in seinem Werk; die europäischen Geographen des achtzehnten Jahrhunderts wurden nicht müde, die Stelle zu zitieren.“ (Bitterli 2004: 47)

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ALS

T HEMA DER D ESCRITTIONE

Im Folgenden soll nun die Beschreibung, die Leo Africanus in seiner Descrittione vom Körper gibt, aus kulturanthropologischer Perspektive analysiert werden. D.h. sein Text soll u.a. daraufhin befragt werden, wie der Autor darin mit den sichtbarsten Eigenschaften von Hautfarbe und Körpergröße, Gesichtsausdruck und Körpergestalt, Gestik und Mimik umgeht. Speziell gefragt werden soll auch, wie beispielsweise Nacktheit, Verschleierungen und Tätowierungen dargestellt, gedeutet und bewertet werden. Leo Africanus äußert sich systematisch zu Sachverhalten und Lebensgewohnheiten, die den menschlichen Körper betreffen. Dies zeigt sich schon in der Gliederung seines Textes, dessen einzelne Kapitel u.a. mit „Lebensdauer und Krankheiten“, „Kleidung“, oder „Essen der Einwohner“ überschrieben sind. Was die Personenbeschreibung – sprich Hautfarbe – angeht, ist er sicher nicht unbeeinflusst vom gängigen Modell der Personenbeschreibung, wie sie in dieser Zeit in Europa geläufig bzw. üblich war. Die „diversitas“, d.h. die Verschiedenheit im Aussehen, wird zwischen dem 13. und dem 16. Jahrhundert in einem ganz besonderen Begriff, der „complexio“ verortet. „Er [der Begriff, M.G.] stammt aus der Säftelehre des spätantiken Arztes Galenos von Pergamon. Im Hochmittelalter aus arabischen Quellen übernommen, dominierte sein Modell bis weit ins 18. Jahrhundert hinein die abendländische Medizin. Alle lebendigen Körper, so lehrten Galens Übersetzer und Kommentatoren, seien aus Flüssigkeiten – Schleim, Blut, gelbe und schwarze Galle – von kalter, warmer, feuchter und trockener Qualität zusammengesetzt. […] Farben spielten in all diesen Texten eine herausragende Rolle: allerdings nicht als Haut-, sondern als Körperfarben, in denen die Farbe bestimmte individuelle körperliche Eigenschaften als Resultat von Säftemischungen anzeigte. Rotgesichtige hatten dementsprechend Blut und die damit verbundene Hitze im Übermass; die complexiones von Personen mit dunkler Hautfarbe dagegen waren besonders warm und trocken. […] Die Hautfarben-Pole schwarz, weiss und rot wurden aber in diesen Texten keinen geographischen Herkunftsorten zugeordnet – im Gegenteil.“ (Groebner 2003: 2-3)

Erst mit dem Beginn der Neuzeit wurde die „complexio“ von einer höchst flexiblen Disposition in eine angeborene Kategorie verwandelt, die man sehen, identifizieren und klassifizieren konnte. Aus einer veränderlichen, individuellen Disposition war eine angeborene, ‚natürliche‘, essenzielle Eigenschaft geworden. Diese Entwicklung hängt unmittelbar mit der systematischen Einführung des Sklavenhandels zusammen. Die schwarze Hautfarbe wurde mit negativen Merkmalen in Verbindung gebracht, die eine Minderwertigkeit der Person belegte und damit ihre Versklavung und Ausbeutung legitimierte. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts hatte sich die Aufteilung aller Völker der Erde nach Hautfarben durchgesetzt. Leo Africanus schreibt seine Descrittione also an einem historischen Wendepunkt, was die Wahrnehmung der schwarzen Haut anbetrifft. Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, seinen Text zu-

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nächst auf die Beschreibung und Bewertung der Afrikaner und ihrer Hautfarbe hin zu befragen.

„AFRICANI

BIANCHI “ UND

„AFRICANI

NERI “

Leo Africanus unterscheidet zwischen „weißen Afrikanern“, die in Nordafrika und nördlich der Sahara leben („Africani bianchi cioè di quelli, che habitano nella Barberia & nella Numidia“), und schwarzen Afrikanern („Gli Africani veramente della terra negra“). Damit trifft er jedoch keine rassistische Unterscheidung, da beide Gruppen in seiner Vorstellung dem gleichen Ursprung entstammen: „Adunque, qual sia la differenzia tra gli Africani bianchi & tra i neri, eglino tuttavia discendono quasi da una medesima origine […]“ (S. 2). 8 Seine Gesamteinschätzung der Schwarzafrikaner ist überaus positiv. Er beschreibt sie unter anderem als zuverlässig und ehrlich: „I negri sono di vita buona, & fideli: accarezzano molto i forestieri: & danno tutto il loro tempo a piacere, & a far vita allegra, danzando, & stando le piu volte su conviti, & in follazi di diverse maniere, sono schiettilissimi, & fanno grandissimo honore a gli huomini dotti, & religiosi & questi nell’Africa hanno il miglior tempo di tutti gli’altri Africani, che vi sono.“ (S. 11) 9

Ein ganzes Kapitel seiner Beschreibung ist der Lebensdauer und den Krankheiten der Afrikaner gewidmet. Dieses trägt noch den Stempel der mittelalterlichen Betrachtungsweise, der zufolge die „complexio“ auch vom Alter und vom Geschlecht sowie von sexuellen Aktivitäten und Gemütszuständen beeinflusst schien. Seine Erläuterungen typischer Krankheitsbilder (Zahnausfall und Sehschwäche) zeugen von seinem Bemühen, für alle von ihm dargelegten Sachverhalte mögliche Ursachen zu finden: „In Numidia anchora, cioè nel paese di datteri, sono huomini di lungha vita ma caggiono loro i denti, & molto si accortar la vista. Il cader d’i denti procede dal continuo uso di mangiar datterri: & lo accostar della vista avviene, perche que paesi sono molto infestati da un vento di levante, il quale movendo l’arena la leva il alto: di maniera, che la polvere ostende loro molto spesso gli occhi, & col tempo gli guasta. quello di Libia vivono quali meno di quelli delli altre regioni.“ (10) 10 8

„Folglich haben Afrikaner, der Unterschied zwischen Weißen und Schwarzen mag so gross sein, wie er will, den gleichen Ursprung.“ (S. 57-58) 9 „Die Schwarzen haben gute Lebensart und sind zuverlässig. Sie empfangen gerne Fremde, widmen ihre Zeit dem Vergnügen und führen ein freundliches Leben. Sie lieben den Tanz, veranstalten zu allen möglichen Gelegenheiten Festessen und amüsieren sich gern. Sie sind ehrlich und behandeln Gelehrte und Geistliche mit der größten Zuvorkommenheit. Unter allen Afrikanern geht es ihnen am besten.“ (S. 77-78) 10 „Auch in Numidien oder den Dattelländern leben die Leute lange. Sie verlieren jedoch ihre Zähne, weil sie fortwährend Datteln essen, und ihre Sehkraft nimmt infolge des durch den Ostwind aufgewirbelten Sandes ab. Die Lybier leben meist nicht so lange wie die Berber und Numidier.“ (S. 74)

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Dass die Schwarzen allerdings trotz bester Gesundheit und guter Zähne früher sterben, bringt er mit ihrer Sexualität in Verbindung: „Nella terra negra sono le vite molto piu corte di quelle dell’altre generationi, ma gli huomini stanno sempre robusti & i lor denti sono sempre fermi & a un modo: ma sono huomini di gran lussuria.“ (S. 10) 11

In dieser Erklärung mag man einen Vorläufer des Klischees vom triebhaften Schwarzen sehen. Der Nachsatz: „[…] si come anche quegli di Libia & di Numidia: & quei di Barberia sono generalmente di minor forza“ bringt ihren Sexualtrieb jedoch eher mit der positiven Vorstellung einer großen Potenz in Verbindung – weshalb die deutsche Übersetzung von „ minor forza“ durch „von weniger ausschweifendem Temperament“ mir nicht ganz zutreffend erscheint. Zudem ist das Motiv der sexuellen Ausschweifungen nicht auf die Schwarzen beschränkt. Die Zunahme von Geschlechtskrankheiten schreibt Leo den aus Nordafrika vertrieben Juden zu, die wiederum die „wollüstigen“ Mauren ansteckten. Mit seinem Hinweis, dass diese Krankheit in Italien als „Französische“ und in Nordafrika als „Spanische“ bezeichnet wird, kritisiert er ganz nebenbei ironisch ein gängiges Verfahren ethnischer Typisierungen. Nichtsdestoweniger finden sich bei ihm auch Hinweise auf die Abwertung der schwarzen Hautfarbe. Dies zeigt sich indirekt beispielsweise in der Charakterisierung eines Verwandten des Königs von Timbuktu, „chiamato Abu Bacr, & per sopranome Pargama“, der als tiefschwarz und dennoch intelligent bezeichnet wird: „era costui negrissimo huomo: ma valoroso d’intelletto, et molto guisto“ (S. 78b) 12, was ja nichts anderes heißt, als dass man solche positiven Charaktereigenschaften von einem Schwarzen nicht erwartet. Schließlich findet sich in der Descrittione auch das Klischee vom zivilisationslosen Wilden, der in quasi animalischem Zustand dahinvegetiert: „[G]li habitatori sono piu tosto huomini senza intelletto, che no massimamente quei che habitano nè montiquali vanno la state nudi et scalzi, eccetto, che pur cuoprono le vergone concerte mutande di cuoi.“ (S. 80) 13

Ein zentrales Indiz für die Abwesenheit von Verstand ist die Nacktheit der Schwarzen, d.h. der Mangel an körperlichem Schamgefühl. Ebenso wie ihre Männer sind die Frauen dieser Gegenden ohne Zivilisiertheit. Er setzt sie auf eine Stufe mit ihren Schafen:

11 „Das Leben der Schwarzen in Nigritien ist viel kürzer als das der anderen Völker. Sie bleiben zwar immer stark und behalten feste Zähne, sie sind aber, wie übrigens auch die Lybier und Numidier, der Wollust sehr ergeben. Die Bewohner der Berberei hingegen sind von weniger ausschweifendem Temperament.“ (S. 74) 12 „Als ich in dieser Stadt war, befand sich ein Vetter des Koenigs als Statthalter daselbst. Er war tiefschwarz, aber sehr verständig und gerecht.“ (S. 202) 13 „Die Einwohner haben fast gar keinen menschlichen Verstand. Das gilt besonders von den Bergbewohnern, die im Sommer barfuss und nackt gehen und nur die Scham mit einer Art lederner Hose bedecken.“ (S. 208)

282 | M ECHTHILD GILZMER „[L]e femine usano portare anella del detto ferro nelle dita & ne gli orecchi: & peggio vestono, che gli huomini: questo vanno di continuo ne boschi si per far legna, come par colar le bestie, quivi noè civilità, ne alcuno che sappia lettere, & sono, come le pecore, nelle quali non è, nè guidicio nè intelletto.“ (S. 55b) 14

Die deutlich werdenden Widersprüche in den Aussagen bezüglich Hautfarbe und Charaktereigenschaften der Schwarzafrikaner, die zwischen unvoreingenommener Betrachtung und rassistischen Vorurteilen schwanken, sind ein Beleg dafür, dass sich Leo Africanus gedanklich einerseits noch in der mittelalterlichen Vorstellung von der unmarkierten Hautfarbe bewegt, dass er andererseits aber auch bereits durch das neuzeitliche Verständnis eines an der Hautfarbe erkennbaren ‚natürlichen‘ Unterschieds der Menschen und der Minderwertigkeit der als fremd und andersartig empfundenen Schwarzen infiziert ist. Seine Äußerungen über die „Schwarzafrikaner“ zeugen insofern von seiner Position am Übergang zweier Epochen. Gleichzeitig gilt es aber auch zu bedenken, dass Leo Africanus die Neugier und Erwartungen seiner europäischen Leser nicht enttäuschen will und deshalb möglicherweise auch recht oberflächliche Beobachtungen zum Besten gibt, die ihm den Erfolg bei den Lesern sichern. Wie sein abschließender Kommentar in dem – im Verhältnis zum Gesamttext – sehr kurzen Kapitel über „Schwarzafrika“ zeigt, verfügt er über wenig Detailkenntnis: „Questo è quanto brevemente ho potuto scrivere del paese de Negri.“ (S. 80b) 15 Rhetorisch geschickt macht er aus der Not eine Tugend und behauptet einfach, eine Differenzierung sei gar nicht nötig. Im Gegensatz dazu ist seine Kenntnis des nördlich der Sahara gelegenen Afrikas ausgesprochen groß und seine diesbezüglichen Ausführungen sind auch dementsprechend differenziert. Wie wir im folgenden Kapitel sehen werden, weisen ihn seine Beschreibungen des kulturspezifischen Umgangs mit dem Körper bei den Berbern und den Tuarag als einen frühen Ethnologen aus, der sich bereits mit nordafrikanischen Sitten und Gebräuchen und ihren Bedeutungen beschäftigte, lange bevor diese wissenschaftlich und systematisch erforscht wurden.

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ALS Z EICHEN UND M EDIUM FÜR KULTURELLE U NTERSCHIEDE Leo Africanus unterschied sehr deutlich zwischen den im nördlichen Teil des Maghreb lebenden Arabern und den weiter südlich angesiedelten Nomaden und Wüstenbewohnern. Er betonte die Eleganz und den feinen Lebensstil der kultivierten Araber Nordafrikas und setzte sie in Gegensatz zu den Bewohnern von „Numidien und Lybien“:

14 „Die Frauen tragen eiserne Ringe an den Fingern und in den Ohren, sind noch schlechter als die Männer gekleidet und fast immer, bald um Holz zu holen, bald um das Vieh zu hüten, in den Wäldern. Von Kultur weiss man nichts, niemand kann lesen oder schreiben, sie sind wie Schafe, ohne Urteil und Verstand.“ (S. 151) 15 „Das ist es, was ich in Kürze von Nigritien melden konnte.“ (S. 210)

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„Gli Arabi, che habitano dentro di Africa, cioè fra il monte Atlante, e’i mare mediterraneo, sono piu agitati, & piu ricchi de gli altri, massimamente cerca il vestire, e cerca a i fornimenti d’i loro cavalli, & alla belleza & grandezza d’i padiglioni hanno anchora cavalli molto piu belli […].“ (S. 6b) 16

Er selbst hat lange in Fès gelebt und gearbeitet, einer Stadt, die zu seiner Zeit als die kulturelle Metropole des westlichen Islams und Zentrum des geistigen und künstlerischen Lebens galt. Vor diesem Hintergrund ist seine Wertschätzung der Lebensweise der Araber in Afrika zu lesen und zu verstehen. Seine genaue Kenntnis der Sitten und Gebräuche der Bewohner dieses Teils Afrikas spiegelt sich in der Präzision seiner Beschreibung wider. Ausführlich und mit Liebe fürs Detail beschreibt er die spezifische Kleidung der Berberfrauen, deren Hauptform aus einem großen rechteckigen Tuch besteht, das an Brust und Schultern durch wertvolle Spangen und Nadeln gehalten wird. Er geht auch auf weitere Verzierungen und die Praxis der Verschleierung ein: „[…] & cosi nella dita delle mani & similmente con alcuni cerchietti si cingono le gambe & le calcagna, come è costume de gli Africani. Portano anchora queste donne certi pannicini su la faccia, i quali sono forati dirimpetto a gli occhi, & quando essi vegono un huomo, che non sia loro parente, con que pannicini ascondono subito il viso, & non parlano, ma quando sono fra mariti & parenti.“ (S. 6b) 17

Ebenso wie die Art der Kleidung, beschreibt er auch die den europäischen Lesern unbekannte Sitte der Tätowierung von Gesicht und Händen bei den Berberfrauen oder die Verschleierung der Männer bei den Tuareg. Innerhalb der Gesamtheit der Berber nehmen die Tuareg kulturell eine Sonderstellung ein; bei ihnen findet sich hinsichtlich der Bekleidung eine Eigenheit, die für sie alleine typisch ist: Die Männer tragen einen Schleier; dieser ist sogar das besondere Kennzeichen des Mannes und ein Sinnbild für das Volk der Tuareg im Ganzen. Der Schleier ist ein ca. drei Meter langes und etwa 30 bis 40 cm breites Tuch, das so um Kopf und Gesicht gewickelt wird, dass im äußersten Fall nur noch ein Schlitz für die Augen frei bleibt. Der Schleier kann ganz emporgezogen werden und nur noch einen Sehschlitz belassen, er kann aber auch lose herabhängen. Beim Essen und Trinken schlüpft die linke Hand unter das Tuch und hält es vom Mund weg, die rechte Hand führt das Essen oder das Glas, sodass Mund und Kinn sogar dann verborgen bleiben. Von völkerkundlicher Seite sind mehrere Deutungen für den Sinn dieses Schleiers gegeben worden. Eine Aufgabe des Schleiers ist es sicherlich, vor Sonne und Sand zu schützen sowie Mund, Nase und Rachen vor Austrocknung zu bewahren. Diese Deutung mag aber nicht erklären, warum der Schleier nur von Männern getragen wird, warum auch im Zelt und an anderen geschützten Orten. Eine Erklä16 „Die Araber, die zwischen dem Atlas und dem Mittelländischen Meer wohnen, sind komfortabler und reicher als die anderen, insbesondere hinsichtlich ihrer Kleidung, ihres Pferdegeschirrs und der Größe und Schönheit ihrer Zelte.“ (S. 67) 17 „Ihre Beine und Knöchel zieren Reifen, wie es bei den Afrikanern Mode ist. Vor das Gesicht hängen diese Frauen ein Tüchlein, das in Höhe der Augen Löcher hat. Sobald sie einen Mann erblicken, verhüllen sie sich damit und sind schweigsam.“ (Ebd.)

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rung liegt im magisch-religiösen Bereich: Die Tuareg glauben an die Gefahr durch böse Geister, die durch die Leibesöffnungen in den Körper eindringen und Erkrankungen verursachen könnten. Zur Charakterisierung der Tuareg-Frauen verwendet Leo Africanus eine recht drastische Sprache und lässt sich sehr direkt, quasi aus der Perspektive eines potenziellen Nutznießers über deren körperliche Konstitution und ihre ‚weiblichen‘ Formen aus: „Le lor femine sono molto compresse & carnute, ma non molto bianche. hanno le parte di dietro pienissime & grasse, cosi le poppe il petto dove si cigne, […] sono donne piacevole cosi in ragionar, come in toccar le mani, & alle volte usano cortesia di lasciarsi baciare […]“ (S. 6) 18

Ließe man sich jedoch auf dieses Angebot ein – so sein Hinweis an den Leser –, könne dies durchaus gefährlich werden: „[M]a è dannoso il passar piu innanzi, perche mossi da li fatte cagione s’ammazzano l’un altro senza perdono niuno, & e in coresto sono piu favi di alcuni di noi, che per modo alcuno non vogliono portar le corna.“ (S. 6) 19

Hinter dieser Anspielung auf die sexuelle Freizügigkeit der Frauen verbirgt sich die Beobachtung, dass die Frauen bei den Tuareg im Vergleich zu anderen Berbergruppen verhältnismäßig frei und geachtet sind. Die relativ freie Stellung der Frau bei den Tuareg war bereits früh den Afrika bereisenden Europäern aufgefallen. Die von Leo Africanus betonte Bedeutung der Berührung der Hände („toccar le mani“) könnte sich aus der üblichen Praxis erklären, den Händedruck als Möglichkeit zur Übermittlung geheimer Botschaften zu nutzen, denn es gilt als unschicklich, auf dem Fest in aller Offenheit ein späteres Rendezvous zu vereinbaren; man muss dies heimlich tun: „Der Mann nimmt dazu die Hand der Frau und ‚schreibt‘ mit dem Zeige- oder Mittelfinger heimlich und langsam den ersten Buchstaben auf die Handfläche seines Gegenübers. Wenn die Frau begriffen hat, antwortet sie mit einem leichten Druck der Hand oder einem fast unhörbaren Schnalzen der Zunge. Dann kommt der nächste Buchstabe an die Reihe etc., bis die ganze Einladung zum Rendezvous mitgeteilt ist.“ (Ebd. 197)

Auch wenn Leo Africanus diese ungewöhnliche Form der Eheanbahnung nicht im Einzelnen beschrieben hat (um die Hintergründe dieser Sitte zu kennen, hätte er sich wohl auch länger bei den Nomaden aufhalten müssen), so bleibt doch festzuhalten,

18 „Ihre Frauen sind außerordentlich korpulent und fleischig, aber nicht sonderlich weiß. Ihr Gesäss ist prall und fett, ihre Brüste gefällig, aber ihre Taille äußerst schlank. Im Gespräch zeigen sie sich als liebenswürdige Damen und ergreifen dabei gerne die Hände des Partners. Sie treiben mitunter ihre Artigkeit so weit, dass sie sich umarmen lassen.“ (S. 60) 19 „Weiterzugehen wäre allerdings gefährlich, denn ihre Männer würden jeden unweigerlich töten, der sich dazu hinreißen ließe. In dieser Hinsicht sind sie klüger als manche von uns: Sie sind um keinen Preis bereit, sich Hörner aufsetzen zu lassen.“ (Ebd.)

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dass die Europäer von der besonderen Stellung der Frau bei den Tuareg erstmals durch ihn erfahren. Insgesamt fällt positiv auf, dass Leo Africanus die von ihm beschriebenen, in Europa unbekannten Praktiken und die darin zum Ausdruck kommenden Vorstellungen nicht bewertet, sodass diese ganz natürlich und damit auch selbstverständlich erscheinen. In ebenso neutraler und sachlicher Weise stellt Leo Africanus auch die bei den Berberfrauen übliche Praxis der Körpertätowierungen dar: „Sogliono anchora queste donne avanti, che elle vadano a marito, dipingersi la faccia, il petto, & tutte le braccia insieme con la mano & le dita, percioche cio tengono per cosa molto gentile, questa costale vianza hanno presa da gli Arabi Africani nel tempo, che essi vennero ad habitar tra loro, che prima non l’havenario […]“ (S. 7) 20

Diese uralte Tradition der Gesichts- und Körpertätowierungen stammt in der Tat noch aus vorislamischer Zeit und findet sich bis heute. Über den Sinn und Zweck der Tätowierung gibt es verschiedene Hypothesen: Sie erfüllt magische Zwecke (als Abwehrzauber gegen böse Geister), sie hat ästhetische Gründe (als zweckfreie Schmuckform) und dient – so eine weitere, allerdings unbestätigte Annahme - möglicherweise der ethnischen Kennzeichnung (vgl. Neumann 1983, Anebaiche 1988). Die Tätowierungen werden an der Stirn, zwischen den Augenbrauen, an den Augenwinkeln, der Nasenspitze, auf Wangen und Kinn angebracht. Bemerkenswert ist die unterschiedliche Handhabung der Tätowierung durch die Frauen auf dem Land und in der Stadt: „[T]ra cittadini & nobili della Barberia non si costuma cio fare: anzi lor donne si mantengono nella medesima bianchezza, con laquale nacquero.“ (S. 7) 21 Im Unterschied zur einfachen Frau vom Land ist es für die Städterin schwieriger, an der vorislamischen Tradition der Tätowierung festzuhalten, die vom Islam abgelehnt wird. Denn in der Stadt, bei den Gebildeten, ist der Einfluss der Religion bedeutender, ein Überschreiten der Regeln schwieriger. So erfahren wir bei Leo Africanus, dass die Städterinnen die alte Tradition abwandeln und an den Stellen im Gesicht Schminke auftragen, wo üblicherweise die Tätowierungen vorgenommen werden. Genau diese Erklärung aber führt Leo Africanus als Begründung für diese kulturelle Praxis an und erweist sich damit erneut als guter Beobachter: „[…] che alle volte prendono certe tinte fatte col fumo di galla, & di zaffrano, & con quello tingendosi la meta della guaccia formanvi una cosa tonda, come uno scudo, & fra le ciglia fanno quasi uno triangolo, & su’l mento non so che assomiglia a una foglia d’oliva, & alcune anchora tingono tutte le ciglia.“ (S. 7) 22 20 „Unverheiratete Frauen pflegen sich das Gesicht, die Brust, die Arme, Hände und Finger zu bemalen, weil das bei ihnen guten Geschmack verrät. Die Sitte haben sie von den afrikanischen Arabern übernommen, als sie sich im Lande niederließen.“ (S. 68) 21 „Die Städter und die Vornehmen der Berberei folgen dieser Mode nicht, vielmehr suchen deren Frauen ihre natürliche weisse Haut zu bewahren.“ (S. 68-69) 22 „[…] auch diese bereiten zuweilen eine Schminke aus dem Russ von Galläpfeln und Safran. Damit bestreichen sie die Mitte ihrer Wangen mit einem Ornament rund wie ein Geld-

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Durch diese veränderte Fortführung der alten Tradition wird das Ritual in seiner Bedeutung auf die kosmetische Seite reduziert. Verband sich mit der Tätowierung und seiner magisch-religiösen Funktion noch die Vorstellung einer den Frauen innewohnenden spezifischen Kraft und ihrer größeren Nähe zum Übersinnlich-Magischen und somit zur immateriellen, transzendenten Welt, so reduziert der ausschließlich auf die Verschönerung abzielende Charakter des Schminkens die Frauen auf ihre erotische Wirkung, von der allerdings nur ihre engste Umgebung profitieren darf: „[…] dalle persone nobili la tengono per leggiadra & per gentile ma non portano questiloro abbellettamenti piu che due ò tre giorni, percioche tutto lo spatio, che gli hanno, non possono comparer dinanzi à i loro parenti, eccetto al marito & à figliuoli, […] parendo a quelle di accrescere in cotal modo molto fieramente le loro bellezze.“ (S. 7) 23

Mit der ebenso logischen wie fatalen Konsequenz, dass die auf diese Weise ‚verschönte‘ Frau sich nicht mehr an die Öffentlichkeit begeben darf, denn: „conciolia che esse cio fanno per incitar lussuria.“ (Ebd.) 24 Leo Africanus führt uns insgesamt sehr anschaulich vor, dass und wie das herrschende Geschlechterverhältnis in der von ihm beschriebenen Gesellschaft in Nordafrika in den Körper der Frauen eingeschrieben ist und über ihn ausgedrückt wird. Es ist grundsätzlich ein verführerischer, zu erobernder und gleichzeitig auch ein bedrohlicher Körper, der ins Haus verbannt, vor den Augen anderer Männer geschützt und hinter einem Schleier versteckt werden muss: „Portano anchora queste donne certi pannicini su la faccia, i quali sonso forati dirimpetto a gli occhi, & non parlano, ma quando sono fra i mariti & parenti tengono sempre il drappicino alzato.“ (S. 6b) 25

In seiner Beschreibung wird die Frau zum Objekt der Begierde des Mannes; für ihn schmückt, schminkt, tätowiert sie sich. Zu seiner Verteidigung kann gesagt werden, dass er damit nur eine herrschende Ordnung wiedergibt, die ihm nicht angelastet werden kann. Doch sein Blick auf den weiblichen Körper lässt die von ihm propagierte und geforderte unparteiische Haltung und Unvoreingenommenheit vermissen.

stück, zwischen den Augenbrauen mit einer dreieckigen Figur und auf dem Kinn mit einem Muster, das einem Olivenblatt ähnelt. Einige bemalen sich auch die Augenbrauen vollständig damit.“ (S. 69) 23 „Diese Mode wird von den arabischen Dichtern und edlen Personen gelobt, den Frauen gilt sie als elegant und anmutig. Diese Verschoenerungen tragen sie jedoch nur zwei bis drei Tage, weil sie sich während dieser Zeit vor ihren Verwandten nicht sehen lassen dürfen. Nur ihrem Mann und ihren Kindern ist es gestattet sie anzuschauen.“ (Ebd.) 24 „Sie glauben nämlich, dass ihre solcherart gesteigerte Schönheit die Tugend ihrer Umwelt gefährdet.“ (Ebd.) 25 „Vor das Gesicht hängen diese Frauen ein Tüchlein, das in Höhe der Augen Löcher hat. Sobald sie einen Mann erblicken, der nicht mit ihnen verwandt ist, verhüllen sie sich damit und sind schweigsam. Vor ihrem Ehemann und ihren Verwandten bleiben sie jedoch unverschleiert.“ (S. 68)

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Auch wenn die Berichterstattung von Leo Africanus insgesamt um Neutralität bemüht ist und sich vom überheblichen europäischen Blick auf die minderwertigen fremden ‚Wilden‘ unterscheidet, so beschreibt er Afrika doch aus einer beschränkten, d.h. ‚männlichen‘ Perspektive. Insgesamt fällt auf, dass Leo Africanus häufiger die körperliche Konstitution von Frauen und ihre Hautfarbe hervorhebt 26. Der weibliche Körper, der als „fleischig“ oder „korpulent“ und als „weiß“ bezeichnet wird, ist ein Körper, der in seiner Beschaffenheit, seiner Materialität interessiert. Er rückt die Frauen damit in die Nähe des Naturhaften, über ihre geistigen Fähigkeiten wird dagegen gar nichts gesagt. Sein verengter Blick äußert sich auch darin, dass er wesentliche Körpererfahrungen von Frauen völlig ausspart und Sexualität aus der Perspektive des Mannes beschreibt. Ist es nicht bemerkenswert, dass an keiner Stelle seiner Beschreibung von Menstruation, Schwangerschaft, Geburt oder auch von Empfängnisverhütung die Rede ist? Immerhin erwähnt er ausdrücklich, dass Geburt und Beschneidung eines Sohnes in Afrika Anlass für ein großes Fest sind: „[E’] costume anchora di far cinvito, quando si circuncide il figlio maschio, che è il settimo giorno doppo nasciuto, nelquale il padre chiamato il barbiere“ (S. 38), die Geburt einer Tochter dagegen weniger freudig aufgenommen wird: „ma d’una figlia, minore allegrezza si dimostra.“ (S. 38b) 27 Er weist auch sehr explizit auf die Praxis der Beschneidung von Mädchen hin, ohne jedoch Stellung dazu zu beziehen: „[…] per la città alcune donne vecchie gridando, ne si fa quello che esse si dicano ma il loro vficio è di tagliar la punta delle cresta della natura delle femmine cosa lor comandata da Mahumetto, ma non osservata, senon in Egitto & in Soria.“ (86b) 28

Der von ihm beschriebenen untergeordneten Rolle der Frauen und ihrer konkreten Unterdrückung entspricht auf der symbolischen Ebene die große Bedeutung des weiblichen Körpers als Garant der herrschenden Ordnung, wie er sich im zentralen Gebot weiblicher Keuschheit und dem Verbot des vorehelichen Geschlechtsverkehrs äußert. Diese Instrumentalisierung des weiblichen Körpers, dessen ‚Reinheit‘ die Ehre der Sippe zu garantieren hat, zeigt sich am Hochzeitstag in der Tradition, die intakte Jungfernschaft der Braut durch das Vorzeigen des blutbefleckten Lakens nach vollzogenem Geschlechtsverkehr zu beweisen. War die Braut keine Jungfrau mehr,

26 „Die Frauenzimmer von Baranis sind weiß und fett. Sie tragen viel Schmuck von Silber, denn die Einwohner sind bemittelt, aber sehr trotzig und dreist. Den Verbannten geben sie Schutz, aber wehe dem, der sich mit ihren Weibern einlässt, denn jede andere Beleidigung halten sie dagegen für gering.“ (S. 150) 27 „Bei der Geburt einer Tochter zeigt man weniger Freude.“ (S. 116) 28 „Einige alte Weiber gehen auch durch die Stadt mit lautem Geschrei. Man versteht nicht, was sie sagen, aber ihr Geschäft ist, die Mädchen durch Entfernung der Klitoris zu beschneiden. Das ist eine Vorschrift Mohammeds, wird aber nur in Ägypten und Syrien befolgt.“ (S. 230)

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so wird sie den Eltern zurückgegeben, was eine große Schande für die Familie bedeutet. Von diesem Brauch weiß auch Leo Africanus in seiner Descrittione zu berichten: „[U]na femina riman fuori dell’uscio, per infino a tanto che egli havendo svirginata la sposa, porge a colei un drappo tinto & mollè di sangue allhora costei se ne va tra i convitati co’l drappo in mano, gridando & faccendo intender con alta voce, che la giovane era vergine a questa le parenti del marito danno da mangiare dipoi ella accompagnata da altre femine se ne va a casa della madre della sposa, laquale similmente l’honora & le da da mangiare & se per aventura la sposa non fusse trovata vergine, il marito la rende alla madre & al padre & è loro grandissima vergogna, senza che gli invitati tutti senza mangiare si dipartono.“ (S. 38) 29

Doch Leo Africanus wäre kein „trickster traveler“ 30, würde er sich mit der reinen und kommentarlosen Abbildung der Fakten begnügen; er hat natürlich auch eine Meinung zu dem, worüber er berichtet. Falsch wäre es allerdings, von Leo Africanus explizit kritische Äußerungen zu Missständen in Afrika zu erwarten. Seine Position des ‚Zwischen-den-Kulturen-Stehens‘, wie er sie mit der Fabel vom Fisch-Vogel veranschaulicht hat, äußert sich auch in seinem Schreiben. Er kritisiert nicht offen und direkt, sondern zwischen den Zeilen, beispielsweise auch immer dann, wenn er Ungereimtheiten und Widersprüche aufdeckt. Solche Beobachtungen stellt er dann den an anderer Stelle bereits beschriebenen normativen, an religiöse oder gesellschaftliche Konventionen gebundene Verhaltensregeln gegenüber, sodass sich der Leser schließlich ein eigenes Bild machen kann. Dies betrifft auch die Rolle des Körpers und vor allem der Sexualität in (Nord-)Afrika. Das Jungfräulichkeitsgebot kontrastiert beispielsweise auffallend mit dem ebenfalls von ihm konstatierten freizügigen außerehelichen Sexualleben auf dem Land. So berichtet er vom Gebirge: „[…] a tutte le giovani prima che si marivano è lecito d’havere amanti, & di godersi d’i frutti d’amore & il padre medesimo accarezza l’innamorato della figliuola, & il fratello della sorella: di maniera, che niuna porta la virginità al marito: è ben vero che come una è maritata: gli amatori non la seguono piu.“ (S. 19) 31

29 „Vor der Kammertür bleibt eine Frauensperson stehen, und dieser wird vom Mann nach der Vollziehung der Ehe ein mit Blut beflecktes Tuch gereicht, mit demselben eilt sie zu den Hochzeitsgästen und schreit mit lauter Stimme, die Braut sei als Jungfer befunden worden. […] Ist aber die Braut nicht als Jungfer befunden worden, so gibt der Bräutigam sie den Eltern zurück. Man hält das für die größte Schande, und alle Anwesenden entfernen sich, ohne zu essen.“ (S. 114) 30 „Trickster Travels: A Sixteenth-Century Muslim between Worlds“, so der englische Titel der inzwischen auf Deutsch erschienenen Monografie über Leo Africanus von Natalie Zemon Davis. 31 „Alle junge Mädchen dürfen vor ihrer Verheiratung Liebhaber empfangen und die Freuden der Liebe geniessen. Sogar Vater und Bruder bereiten dem Liebhaber von Tochter und Schwester einen freundlichen Empfang, und keine Frau bringt ihrem Mann die Jungfernschaft mit in die Ehe.“ (S. 78)

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In einer spöttischen Tirade über die besonderen Heilkräfte einer Wurzel, die sowohl potenzsteigernde als auch entjungfernde Fähigkeiten haben soll, macht er sich über die Ignoranz und Verlogenheit im Zusammenhang mit Sexualität lustig: „Quest’altra è similmente una radice, che nasce nel monte Atlante, ma nelle parti di ponente, la qual, come dicono quelle genti ha virtu di confortare il membro dell’huomo, & moltiplicare il coito a chi la mangia in qualche lattovaro. Anchora affermano che se uno par aventura s’incontra ad orinar sopra la detta radice, che subito il detto membro se gli rizza. ne voglio tacer anchora quello che dicono tutti gli habitatori del monte Atlante, che si hanno trovato molte giovani di quelle, che vanno pascendo gli animali per questo monte che hanno perso la loro virginità , non per altro accidente, se non per haver orinato sopra detta radice, alliquali per giuoco io respondeva, creder esser vero cio che dicevan di detta radice & appresso che se ne trovan di tanto avvelenate, che non solamente facevan peder la virginità, ma anchora enfiarli tutto il corpo.“ (S. 91b) 32

Hier – wie an anderer Stelle – erweist sich Leo Africanus als derb-drastischer Erzähler, der kein Blatt vor den Mund nimmt. Mit erstaunlicher Offenheit schreibt er über die diversen Sexualpraktiken seiner Zeitgenossen, über die Wirkung von Aphrodisiaka (S. 165), Transvestiten und ihre Lebensgewohnheiten (S. 92), homosexuelle Praktiken und Pädophilie bei sogenannten „Wahrsagern“ (S. 122), selbsternannte Heilige und andere Quacksalber, die vorgeben, vom bösen Geist besessene Frauen durch Beischlaf heilen zu können (S. 123). 33 Solchen Unsinn kommentiert Leo Africanus mit der ihm eigenen Ironie: „[D]icono che non bisogna dottrina percioche lo spirito sancto a quei, che hanni il cuor mondo […] dicono che all’boni sono riscaldati dalle fiamme dello amore divino & io penso, che i siano riscaldati dalla soverchia.“ (S. 40b) 34

Er macht deutlich, dass neben dem offiziellen, von der Religion geprägten Diskurs über Keuschheit und Tugend, in dem Sexualität stark reglementiert und der weibliche Körper Objekt und Instrument männlicher Herrschaft ist, durchaus eine andere Reali-

32 „Surnag ist ebenfalls eine Wurzel, die auf der Westseite des Atlas wächst. Man sagt hier, sie stärke das männliche Glied und mache zum häufigen Beischlaf tüchtig, wenn man sie als Paste geniesse. Man erzählt auch, der Penis versteife sich sogleich, wenn er zufälligerweise Harn auf die Wurzel gelassen habe. Alle Bergbewohner behaupten, viele Mädchen, die dort Vieh hüten, hätten allein durch das Harnen auf Surnag ihre Jungfernschaft verloren. Ich antwortete ihnen darauf ironisch, ich glaubte gern, was sie von dieser Wurzel berichteten, und überdies glaubte ich, viele Mädchen seien dadurch so vergiftet worden, dass nicht allein ihre Jungfräulichkeit verlorengegangen, sondern ausserdem ihr ganzer Leib angeschwollen wäre.“ (S. 56) 33 Die Seitenzahlen in Klammern beziehen sich auf die deutsche Textausgabe von Schubarth Engelschall. 34 „Sie selbst sagen, sie seien alsdann vom Feuer der göttlichen Liebe erhitzt. Ich glaube aber, daß sie eher vom übermäßigen Genuß der Speisen erhitzt seien, denn einer nimmt so viel zu sich, als für drei andere zu viel sein würde.“ (S. 126)

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tät existiert. Zumindest lassen dies Textstellen wie die folgende über die eigenständigen Frauen im Rif-Gebirge vermuten: „Merniza monte confina col sopradetto, & sono d’una medesima stimpe & parità con li sopra detti in ricchezza libertà & nobiltà: ma sono on ciò differenti di costumi, che una moglie per minima ingiuria, che ella riceve dal marito, fugge ad altri monti, & lasciando i figliuoli da parte, un altro marito li prende.“ (S. 51b) 35

Als ungewöhnlich frei und unabhängig beschreibt er auch die ägyptischen Frauen: „[H]anne etiando queste donne gran libertà & autorità, perchio come el marito à andato alla sua bottega: la donne si veste & si profumo con odori pretisosi & va à spasso per la terra à visitar li suoi parenti ò amici per paral honestamente.“ (S. 85b) 36

Inwieweit die hier von ihm beschriebenen Sachverhalte Realitäten wiedergeben, kann nicht geklärt werden. Es ist jedoch anzunehmen, dass Leo Africanus seine Erzählung ganz bewusst mit solchen pikanten und publikumswirksamen Details würzt, um die Leser zu unterhalten. Denn nicht zuletzt regen solche und andere Passagen als pornografische Stimulation auch deren sexuelle Fantasien an. Der neutral gehaltene Erzählton lässt immerhin zwei Haltungen zu: Mitleid mit den verlassenen und gehörnten Männern ebenso wie Zustimmung zum emanzipatorischen Akt der Selbstbestimmung der Frauen. Abschließend lässt sich sagen, dass die Wahrnehmung und Darstellung des Körpers bei Leo Africanus durch eben jene ambivalente Perspektive geprägt ist, die er zum Programm erhoben hat. Ebenso wenig wie er ein Verfechter oder ein Gegner rassistischer Ideen oder der Sklaverei ist, ebenso wenig lässt er sich auf die Position eines sexistischen Machos oder eines feministischen „Weichlings“ festlegen. Als Kind seiner Zeit reproduziert er zwar die herrschende Geschlechterordnung, doch sein Verdienst ist es, dass er die Brüche zwischen dem offiziellen, kodifizierten Gebrauch der Körper einerseits und der anarchischen Praxis andererseits erkennbar macht und uns somit zwischen den Zeilen eine andere Körperrealität erahnen lässt.

35 „Die Bewohner des Merniza-Berges sind mit denen des vorigen von einem Stamm und gleichen ihnen an Reichtum, Adel und Freiheit. Nur dieser Unterschied besteht zwischen beiden, daß jede Frau wegen der geringsten Beleidigung, die sie von ihrem Mann erfährt, ihre Kinder verlässt, sich auf einen anderen Berg flüchtet und einen anderen Mann nimmt.“ (S. 147) 36 „Diese Frauen haben ein großes Ansehen und große Freiheit. Wenn der Mann in sein Geschäft gegangen ist, so kleidet sich die Frau an, parfümiert sich mit Wohlgerüchen und geht dann in der Stadt herum, um ihre Verwandten oder Freunde, vielleicht auch Liebhaber zu besuchen […].“ (S. 227)

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UND

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Tabuzonen – Kulturkonzepte – „politisch Korrektes“ Historische und aktuelle Problemfelder im Umgang des Westens mit Russland G ABRIELA L EHMANN -C ARLI

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UND IHRE FUNKTIONALEN

ASPEKTE

Tabus markieren Grenzsetzungen des Handelns, Redens und Denkens und können als nicht explizit markierte, latente Meidungsgebote bzw. negative Konventionen verstanden werden. Sigmund Freud hatte bereits 1913 in seiner Studie Totem und Tabu die moralische und kulturkritische Dimension von Tabu und Tabubruch entdeckt. Dort heißt es: „Das Tabu ist ein uraltes Verbot, von außen (von einer Autorität) aufgedrängt und gegen die stärksten Gelüste der Menschen gerichtet. Die Lust, es zu übertreten, besteht in deren Unbewußtem fort; die Menschen, die dem Tabu gehorchen, haben eine ambivalente Einstellung gegen das vom Tabu Betroffene.“ (Freud 2012: 83) Michael Braun zufolge ist das Tabu für Freud „wie der Ödipuskomplex ein Urkonflikt, in dem sich der Mensch in einer double-bind-Situation gegenüber dem verbotenen Objekt seiner Begierde befindet. Diese dem Begriff innewohnende binäre Opposition machte ihn für die Kunst so faszinierend“ (Braun 2007: 8). Sozialpsychisch gesehen schützen die kontextsensitiven Tabus ein Thema, z.B. Krankheit, (Homo-)Sexualität, Gewalt, Tod, politische Mythen, religiöse Dogmen, vor dem Diskurs einer Gemeinschaft oder Gesellschaft. Ihm soll kein Ort im öffentlichen Raum, mitunter selbst nicht in der privaten Kommunikation zugebilligt werden. Die Ausgrenzung eines Themas ist oft ‚intuitiv‘, affektiv stark aufgeladen und mit kollektiven Verdrängungsmechanismen verbunden. Tabus können der Sicherung von Autorität, Herrschaft und Moral dienen. Tabus sind häufig Sprachverbote. Es kann obszön oder ‚politisch nicht korrekt‘ sein, über tabuisierte Themen zu sprechen. Innerhalb von Gemeinschaften und Gruppen gibt es ein überlebenswichtiges Verschweigen und Verbergen von bestimmten Dingen, die nicht benannt, angesprochen bzw. kommuniziert werden sollen. Tabus werden im Prozess der Sozialisation internalisiert. Auf den individuellen Aspekt eines Beitrags des Tabus zur Absicherung von Identität haben Adelheid Kuhlmey und Hans Peter Rosemeier in ihrem Band Tabus in Pflege und Medizin verwiesen: „[D]enn das Selbstwertgefühl bedarf einer Idee

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von dem, was uns eigen, was uns ‚heilig‘ ist, und davon, was uns fremd bleiben soll.“ (Kuhlmey/Rosemeier 2005: 11) Andererseits kann das Tabu auch als Denk- und Frageverbot mit gravierenden Folgen konzeptualisiert werden: „Tabu befördert Ressentiment, dieses blockiert ein freieres Urteil und vermehrt die Rückständigkeit.“ (Mitscherlich 1990: 123) Hartmut Schröder zufolge gibt es deutliche Hinweise auf das Vorhandensein von Tabus erst dann, „wenn sie verletzt werden, d.h. durch den Tabubruch oder – im Falle von Tabudiskursen – durch bestimmte Umgehungsstrategien, die an rhetorisch-stilistische Mittel geknüpft sind“ (Schröder 2008: 171). Tabus sind intuitiv, kontextsensitiv und entziehen sich daher tendenziell Diskursen. Tabubrüche werden sanktioniert und haben mitunter Betroffenheit, Scham, Ekel, Hass, Wut usw. zur Folge. Gesellschaftlicher Wandel, das Infragestellen von Konventionen, aber auch ästhetische Innovationen erfordern und erzeugen Tabubruch. Häufig führt Tabubruch als ‚Übertretung‘ zunächst zum Skandal oder zu Sanktionen, er irritiert mitunter merklich den Erwartungshorizont der Betroffenen, Beteiligten oder Rezipienten. Tabuisierungen sind nach Gerhard Banse Verfahren, „die Handlungs- und/oder Kommunikationsalternativen ausschließen: Einerseits haben Tabubrüche deshalb oft einen emanzipatorischen Wert (Eröffnung von Handlungs- bzw. Kommunikationsalternativen), andererseits ist der Ausschluss von Handlungs- oder Kommunikationsalternativen nicht in jedem Fall repressiv, sondern kann auch schützend und/oder entlastend sein.“ (Banse 2007: 15)

Inwiefern versucht die Zensur, die in literarischen Texten thematisierten Tabus zu schützen? Rainer Grübel hat zu Recht auf den geradezu symbiotischen Zusammenhang von Tabu und Zensur verwiesen: „Solange es in Kulturen neben Handlungstabus wie dem Inzestverbot auch Schreib- und/oder Redetabus gibt, besteht in ihnen eine Zensur“ (Grübel 1997: 619-620). Auch das politisch Korrekte (etwa in Form von Medientabus und Kommunikationsverboten) wird vom Tabu abgesichert, eben auch dort, wo es laut Verfassung keine Zensur geben soll. Tabus können Identität absichern, aber auch Ressentiments befördern und Macht absichern helfen; Tabubrüche sowie die Veränderung von Tabuschwellen können Identitätsveränderungen signalisieren. Hartmut Eggert weist darauf hin, dass „säkulare Tabus“ die gleiche kognitive Funktion wie Roland Barthes’ Mythen des Alltags haben können: „Das Tabu weist die Aura des Sakralen auf, auch dort, wo es rein weltlich (säkular, profan) ist. […] Das Tabu hat die Aura des Unberührbaren, und die Berührung wird bestraft. […] Die Überschreitung von Verboten ist konstitutiv für Tabus […] Mit Tabus sind immer Darstellungsprobleme und deren Thematisierung verbunden: Tabus weisen eine genuin ästhetische Komponente auf, die von den nichtsprachlichen Symbolisierungen bis hin zu einer Normierung von Ästhetik reicht.“ (Eggert 2002: 22)

Welche Strategien werden angewandt, um das eigentlich nicht An- und Aussprechbare wirksam zu kommunizieren oder auch einen Tabubruch in einem bestimmten Umfeld sprachlich bewältigen zu können?

T ABUZONEN – K ULTURKONZEPTE – „ POLITISCH K ORREKTES“

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Auch gegenwärtig sind wir von Tabus geradezu umzingelt, mitunter trotz der Möglichkeit einer temporären Tabuaufhebung im wissenschaftlichen Diskurs. Sie können Identität absichern und sozial stabilisierend sein, aber auch das Individuum fesseln, (Deutungs-)Macht erhalten, notwendige Diskurse unterbinden helfen und Ressentiments fördern. Aus der Vielzahl von aktuell relevanten Tabus und Tabuisierungen, die freilich kontextsensitiv sind, sei an dieser Stelle eine wichtige Tabuzone genannt: kollektives Gedächtnis und Geschichtsmythen, sich einem Diskurs entziehende Nationalstereotype und Sündenbocksyndrome, Kulturhegemonie, Xenophobie, latenter Rassismus…Tabus sind mitunter mit ideologischen Prinzipien verbunden. Daher kann das politisch Korrekte auch „in die Hände von Eiferern und Fanatikern geraten“ (ebd. 21-22). Es kann als Zensuräquivalent gelten, das notwendige Diskurse unterbindet. Zugleich ist das politisch Korrekte mit Tabuisierungen verbunden. Tabus allerdings entziehen sich auch einem Diskurs.

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IN DER INTERKULTURELLEN

K OMMUNIKATION

Tabus sind internalisierte Verhaltensmuster, die universal in jeder Kultur vorkommen, allerdings in hohem Maße von Kultur zu Kultur variieren (Trad 2001: 32). In der interkulturellen Kommunikation sind Sprachtabus, Kommunikationstabus, Thementabus, Handlungstabus, die Spezifik von Tabudiskursen und die Semiotik des kulturellen Verhaltens relevant. Dabei gibt es verbale und nonverbale Tabus. Kulturelle Codes des Anderen sind mitunter schwer zu entschlüsseln. Tabuzonen und Tabuschwellen verschiedener Milieus, Gruppen, Subkulturen, Ethnien und Nationen unterscheiden sich oft erheblich. Zu untersuchen wären kulturelle und sprachliche Übersetzungsvorgänge. Zudem sind Tabusysteme recht dynamisch. Immer wieder stellt sich die Frage: Wie und mit welchen sprachlichen Mitteln können Tabus vermieden oder die kommunikative Bewältigung von Tabubrüchen ermöglicht werden? Welche adäquaten Reparaturmechanismen (etwa Entschuldigung, Beschwichtigung, Umdeutung, Marginalisierung oder Selbstironisierung) und Kompensationsstrategien stehen zur Verfügung? Kulturelle Ausprägungen des Umgangs mit Tabuzonen können sich u.a. in Schweigen, im Verschleiern, Umschreiben, Andeuten, Beschönigen und in bestimmten Gesten manifestieren. Sprachliche Ersatzformen wie die Metapher, der Euphemismus und die Camouflage erlauben es, über Tabus zu sprechen, ohne einen Tabubruch zu begehen (Hess-Lüttich 2013: 29). Die Tabus einer anderen Kultur nicht mittels verbreiteter Stereotype oberflächlich zu erfassen, sondern wirklich zu verstehen, setzt nicht nur eine umfassende Expertise und unvoreingenommenes Interesse, sondern auch eine Dekonstruktion eigener Stereotype und echte Empathie voraus: „Die Tabus einer fremden Kultur wirklich zu erfassen, bedeutet, ihre Grundwerte und überzeugungen im Detail zu erfassen, den Sinn der Grenzen, die zwischen Aussprechbarem und Unaussprechlichem gezogen werden, zu begreifen und die von der jeweiligen Gesellschaft vorgesehenen kommunikativen Ersatzmittel zu beherrschen. Erst dann ist es möglich, mit den anderen über Themen wie Sex, Geld, Tod und Religion zu reden.“ (Birk/Kaunzner 2009: 407)

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Gerade auch Übersetzer und Dolmetscher sind mit dieser Problematik konfrontiert. Was darf nicht direkt gesagt, sondern muss umschrieben werden? Wie reagiert der Gesprächspartner bzw. Leser auf bestimmte Tabufelder? Wie kann er mit brisanten Themen wie Tod, Krankheit, Sexualität, Religion oder schwierigen Aspekten des kulturellen Gedächtnisses umgehen? In diesem Kontext sind allerdings in der Literatur und (performativen) Kunst sowie in bestimmten medialen Formaten das Spiel mit Tabus sowie Tabubrüche gängige Mittel und Strategien zur Verunsicherung des Erwartungshorizonts.

D AS ‚ POLITISCH K ORREKTE ‘?! Hartmut Kraft zufolge ist „Political Correctness“ ein Auslöser für moderne Sprachtabus schlechthin (Kraft 2004: 19). Er verweist allerdings neben dem funktionalen Aspekt auch auf den ambivalenten Gebrauch bzw. gar auf eine mögliche Instrumentalisierung von „Political Correctness“, umfasst sie doch „nicht nur eine Sprachreglementierung wie die Vermeidung rassistischer und sexistischer Ausdrücke, es geht auch um eine Haltung–die Förderung von Multikulturalismus, um Quotenregelungen sowie um die Diskussion des literarischen Canons von Schul- und Universitätscurricula. Im Zentrum steht der Kampf gegen Vorurteile und Diskriminierungen durch die Entwicklung einer ‚richtigen‘ Einstellung. Es wird der Anspruch erhoben, das Kränkungspotential zu vermeiden, das in vielen Begriffen enthalten ist. Deshalb sollen alle Handlungen und Ausdrucksweisen gemieden werden, welche Personen aufgrund ihrer Rasse, ihres Geschlechts, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht, ihrer körperlichen oder geistigen Behinderung oder ihrer sexuellen Neigungen diskriminieren. […] Während die einen in der Political Correctness die einzige Möglichkeit für eine friedliche Koexistenz in unseren zunehmend multikulturellen Gesellschaften sehen, meinen andere darin eine verlogene Ideologie zu erkennen, die durch eine unerträgliche dogmatische Bevormundung den Menschen und sein Denken einengt“ (Wagner 1991: 21-22).

Daneben gibt es aber auch eklatante Tabubrüche in den Medien. Ahmed Rafik Trad zufolge bedient sich die Pressefreiheit „der Tabuisierung als Mittel für die Meinungsbildung bei der breiten Masse. Ein Thema, das in aller Munde ist, gespeist von den sensationsgeladenen Mediennachrichten, die politisch insofern tendenziös sind, als sie zum Zweck haben, die öffentliche Meinung zu Gunsten der Machthaber oder derer, die um jeden Preis die Macht ergreifen wollen, zu manipulieren, kann als Tabu markiert sein. Dies geschieht einfach, indem die zu einer objektiven Klärung der Gegebenheiten erforderlichen fundamentalen Kenntnisse der Sachverhalte in den Hintergrund gedrängt bzw. außer Acht gelassen werden. Dabei müssen einige Tabucharakteristika herhalten, um zum einen die ‚Tabuverschleierung‘ zu rechtfertigen und zum anderen den Anlass für die ‚Enttabuisierung‘ zu schaffen. Es versteht sich von selbst, dass die Prozedur der Enttabuisierung des Themas von denselben Interessenten in eine Richtung kanalisiert wird, die ihren Darstellungsabsichten entspricht, d.h. unter Auslassung derjenigen Aspekte, die nicht zu ihrem Deutungsmuster passen“ (Trad 2001: 41).

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Von Interesse für unsere Fragestellung ist das paradoxe Verhältnis von Öffentlichkeit und Kommunikationsverboten (also Sprech- und Gesprächsverboten), auf die Hans Wagner verwiesen hat: „Öffentliche Kommunikation, die demonstrativ betont, daß sie Tabus nicht kenne, zeigt im allgemeinen nicht das Ende des Tabus an, sondern stützt viel mehr den Bestand alter oder die Festigung neuer Kommunikationsverbote.“ (Wagner 1991: 31) Michael Brückner und Udo Ulfkotte sind in ihrem Band Politische Korrektheit. Von Gesinnungspolizisten und Meinungsdiktatoren zu einem verheerenden Befund gelangt: „Wir sind umzingelt von einem engmaschigen Netz von Tabus und Politischer Korrektheiten, die man nicht mehr thematisieren darf. Allein der Verdacht stempelt einen Menschen für den Rest des Lebens bestenfalls zum Idioten […]. Jeder weiß das. Und jeder pariert jetzt, wenn es wie in einer Diktatur darum geht, die Sprach- und Denkvorgaben zu erfüllen. Wer klar denkt und sich außerhalb der Politischen Korrektheit bewegt, der wird schnell zum bösen ‚Populisten‘ gestempelt.“ (Brückner/Uffkotte 2014: 10-11)

Hierbei haben die Medien eine zweifelhafte Funktion: „Früher fanden Hinrichtungen für gewöhnlich auf dem Marktplatz statt. Heute erledigen das die Medien bei all jenen, die der verordneten Politischen Korrektheit noch zu trotzen wagen. Wer ihre Vormachtstellung und damit ihre Deutungshoheit infrage stellt, mit dem wird kurzer Prozess gemacht – sollte er nicht bereits durch den politisch korrekten Lynchmobmedial ‚aufgeknüpft‘ worden sein.“ (Brückner/Uffkotte 2014: 15)

Andererseits stellt sich auch die Frage, ob Journalisten in einer freien Gesellschaft wirksame Tabus setzen können. Der Soziologe und Gesellschaftstheoretiker Niklas Luhmann hat gezeigt, dass hochkomplexe Ereignisse häufig nach festgelegten Wahrnehmungsmustern eingeordnet werden. Oft geht es darum, sich möglichst rasch Bilder zu beschaffen, um Ereignisnähe zu simulieren. Vielfach ist zu monieren, dass sich die Medien solch grenzwertiger und voyeuristischer Mittel und Strategien wie Stigmatisierung, Kriminalisierung, Singularisierung, Exotisierung, Dämonisierung und Skandalisierung bedienen. Am 8. Mai 2015 wurde der 70. Jahrestag der Befreiung vom Hitlerfaschismus begangen, am 9. Mai 2015 fand auf dem Roten Platz in Moskau die traditionelle, für das russische kulturelle Gedächtnis und die russische Identität so wichtige Siegesparade statt, wegen der Ukrainekrise ohne die von Putin eingeladene deutsche Bundeskanzlerin. Der Zweite Weltkrieg hat allerdings 26,6 Millionen Bürger der Sowjetunion, davon 11,4 Millionen Soldaten und 15,2 Millionen Zivilisten, das Leben gekostet; unter den Opfern waren auch sechs Millionen Juden, darunter 3,1 Millionen jüdische Polen (insgesamt fünf Millionen Polen) sowie 1,5 Millionen Bürger Jugoslawiens, davon 1,2 Millionen Zivilisten. Auch im Zweiten Weltkrieg hatte sich die deutsche Propaganda unter anderem zu dessen Rechtfertigung auf den pseudowissenschaftlichen Rassismus, hier speziell des ausgehenden 19. Jahrhunderts, gestützt. Sollte sich aus dieser eklatanten historischen Schuld nicht eine besondere deutsche Verantwortung der Politik, der Medien und der Intellektuellen gegenüber den Slaven und Russländern – von den Faschisten einst als

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‚jüdisch-bolschewistische Untermenschen‘ bezeichnet – ergeben? Was wäre gegenüber den Nachfahren der Opfer deutscher Aggression ‚politisch korrekt‘? Können die deutschen und westlichen Medien der Versuchung entgehen, in Krisen an traditionelle Nationalstereotype anzuknüpfen? Tabus gibt es freilich nach wie vor auch in der russischen nationalen Identitätskonstruktion, für die der Sieg im ‚Großen Vaterländischen Krieg‘ gegen den Faschismus – auch in terminologischer Anknüpfung an den Sieg im antinapoleonischen ‚Vaterländischen Krieg‘ im Jahre 1812 – zentral ist. Dabei werden Probleme im Kontext des Stalinismus bis heute in der Geschichtspolitik eher marginalisiert oder sollen aus dem kulturellen Gedächtnis gänzlich ausgeblendet werden, wie Irina Scherbakowa festgestellt hat: „Aus den Bildern von Krieg und Sieg mussten die Niederlagen der Roten Armee 1941/42 getilgt werden: Stalins Fassungslosigkeit und die Angst in den ersten Kriegstagen, die Fehler und Irrtümer der Vorkriegspolitik mit ihrer Annäherung an Hitler und schließlich der Hitler-StalinPakt“ (Scherbakowa 2010: 16).

Am 10. April 2010 stürzte im russischen Smolensk ein polnisches Flugzeug ab. Präsident Lech Kaczynski und 95 weitere Insassen kamen ums Leben. Laut einer repräsentativen Umfrage glauben heute fast 23 Prozent der Polen an einen Anschlag oder eine Verschwörung. Es ist mit Jürgen Roth gerade ein deutscher Autor, der in seinem 2015 erschienenen Buch Verschlussakte S: Smolensk, MH 17 und Putins Krieg in der Ukraine die spekulative und abenteuerliche These von einer Verquickung von MH 17 und Smolensk vertritt. Beim Absturz der Tupolew-Maschine im russischen Smolensk habe der russische Geheimdienst FSB seine Finger im Spiel gehabt. Auftraggeber sei aber ein polnischer Politiker gewesen. Dass die Anschlagstheorien in der polnischen Gesellschaft so viel Beachtung finden, liegt auch an Ort und Kontext, die mit der Katastrophe verbunden sind. Die Delegation um Präsident Kaczynski war zu Gedenkfeiern anlässlich des 70. Jahrestages des Katyn-Massakers unterwegs gewesen. Anfang April 1940 hatte der sowjetische Geheimdienst NKWD im Wald des kleinen Ortes zwanzig Kilometer westlich von Smolensk 15.000 polnische Offiziere und Intellektuelle ermordet. Der Westen verschwieg über Jahrzehnte seine Erkenntnisse und tabuisierte dieses grauenhafte Verbrechen, obwohl es klare Indizien dafür gab, dass diesmal nicht die Wehrmacht oder die SS diesen Massenmord begangen hatten, sondern der sowjetische Geheimdienst für die Gräueltat verantwortlich war. Erst im Zuge der Perestroika hat sich die Sowjetunion langsam zu ihrer Schuld bekannt und die Verantwortung für diese Tat übernommen. Erst 1990 gestand Michail Gorbatschow ein, Katyn sei eines der schwersten Verbrechen des Stalinismus gewesen (Kadell 2011). Auch dem neuen Russland fällt es nach wie vor schwer, Katyn ins eigene kulturelle Gedächtnis zu integrieren. Die die Familien der Opfer traumatisierende Gräueltat war bis 1989 auch im kommunistischen Polen ein Tabuthema. Jürgen Roth allerdings „zündelt“ hier und riskiert damit auch eine Retraumatisierung polnischer Opferfamilien. In seinem Anfang der 1980er Jahre erschienenen Roman Der Tag zieht den Jahrhundertweg oder Ein Tag länger als das Leben (im russischen Original I dol’še veka dlitsja den) erzählt der kirgisische Schriftsteller Tschingis Ajtmatow in einer Legende von dem entsetzlichen Brauch eines asiatischen Stammes: Sie stülpten den Gefan-

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genen die Haut eines frisch geschlachteten Kamels über den kahl geschorenen Schädel. In der glutheißen Sonne wurde so ihr Hirn wie durch einen Eisenring zusammengepresst. Die Opfer wurden – falls sie nicht starben – willenlose, gefügige Sklaven ohne eigene Identität und Erinnerung, sogenannte ‚Mankurten‘. In diesem Text ist die Legende des ‚Mankurts‘ eine Metapher für den Stalinismus. Doch stellt sich insgesamt die Frage, ob nicht auch wir manipuliert werden können, wenn wir nicht zuletzt über Tabuisierungen – unsere (historische) Erinnerung einbüßen.

W ESTLICHE K ONSTRUKTIONEN

VON

R USSLANDS I MAGE

Zu Beginn der Neuzeit, besonders im 16. Jahrhundert, wurde Moskowien von Kaufleuten, Diplomaten und Abenteurern neu entdeckt. Aus der Flut der Reisebeschreibungen ragen folgende drei Werke heraus: die Schrift des österreichischen Gesandten in Russland Siegmund Freiherr zu Herberstein (1549), die Beschreibung des Jesuiten Antonio Possevino (1583) und der Bericht des englischen Diplomaten und Dichters Giles Fletcher (1589). Die Autoren betrachteten Russland als eine Art orientalische Despotie und glaubten bei den Untertanen eine Sklavenmentalität zu beobachten. Die vom italienischen Diplomaten und Reiseschriftsteller Francesco Algarotti 1760 geprägte und später vom russischen Nationaldichter Aleksandr Sergeevič Puškin in seinem Poem Mednyj vsadnik (Der eherne Reiter, 1833; Erstdruck postum 1837) gebrauchte politische Metapher, Peter I. habe das „Fenster nach Europa aufgestoßen“(„v Evropu prorubit‘ okno“) 1, tradierte nur einen bereits etablierten Geschichtsmythos, der sich um die reformatorische Leistung des Zaren rankte. Vor 1700 war Russland für Westeuropa ein skythisch-tatarisches Irgendwo, für den frühen Leibniz zunächst eine Tabula rasa. Zuschreibungen und Verdikte in westlichen Russlandbildern provozierten seit dem 18.Jahrhundert nationale Gegenentwürfe und Repliken. Im Westen kursierten nach wie vor Stereotype und Klischees vom wilden, barbarischen Moskowiter. Das russische Zarentum wurde als eine ‚asiatische‘ Despotie 2 eingestuft. Moniert wurden die beobachtete Distanz zur ‚abendländischen‘, lateinischen Kultur, im Laufe des 18. Jahrhunderts das Fehlen einer Gesellschaft, mangelnde Gewaltenteilung und Publizität. Der Mängelkatalog ließe sich erweitern: Vermeintlich gab es im Russischen Reich kaum eine Verfeinerung der Sitten, keine hinreichende Renaissance-Rezeption, keine bürgerliche Schicht. Zentral für die westliche Perspektive auf Russland sind Topoi der Nachahmung und Verspätung. Mitunter wurde im Westen ein starkes Rezeptionsgefälle wahrgenommen. Nicht wenige westliche Aufklärer gingen aber auch von einer affirmativen, vermittelnden oder auch missionarischen Funktion Russlands gegenüber Asien in Hinblick auf die europäische Kultur aus. Dazu gehörten dann auch der von Peter I. zum ‚Czaarischen Geheimen Justiz-Rat‘ ernannte Leibniz sowie Herder, der im sogenannten Slavenkapitel in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-1791) Rousseaus Konstruktion des Naturzustands historisch zu verifizieren 1 2

Algarotti hatte sich im Jahre 1739 in St. Petersburg aufgehalten; im Jahre 1760 erschien der anonyme Erstdruck F.A., Viaggi di Russia. Siehe dazu: Das “asiatische” Rußland. Über die Entstehung eines europäischen Vorurteils, in: Historische Zeitschrift 245 (1987), S. 265-289.

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schien. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts 3interpretierte Leibniz seine Vorstellung von der Geschichtslosigkeit Russlands, einer Tabula rasa, positiv. Daneben gab es auch Dekadenzängste, die in Russland wiederum messianistische Ideen der Slawophilen, vor allem aber der Panslawisten stärkten. Allerdings erhob sich bereits im 18. Jahrhundert, so etwa bei Jean-Jacques Rousseau im vierten Kapitel des Contrat social (1762), die Frage, ob Peter I. den Russen nicht einfach ein europäisches Kleid übergestülpt habe. Voltaire hingegen feierte in seiner Histoire de l’empire de Russie sous Pierre le Grand (1760/1763) 4 als ‚fondateur‘, nämlich als jenen staatsmännischen Riesen, der auf der Tabula rasa einer barbarischen vorpetrinischen Nicht-Kultur die Zivilisation eingeschrieben habe. Katharina II. hatte ein Netz literarischer Agenten im Ausland und gab höchst polemische Gegendarstellungen zu westlichen Russlandschriften in Auftrag. Die russische Kulturpolitik besonders seit Katharina II. war bemüht, eine spezifische nationale Identität des russischen Imperiums zu konstruieren; das intendierte Image im Westen sollte mit einem noch universelleren Anspruch an Aufklärung vermittelt werden. Ein Netzwerk literarischer Agenten kommunizierte die Reformen Katharinas II., übersetzte und kommentierte sie für den Westen. ‚Osteuropa‘, darunter die Slaven und Russland, ist offenbar nicht zuletzt eine Konstruktion der westeuropäischen Aufklärung, denn Philosophen, Reisende und Kartographen haben diesen Raum in Kontrast und in Opposition zu Westeuropa entworfen. Dabei beanspruchten westliche Autoren eine Repräsentationsautorität. Wie andere ‚fremde‘ Kulturen versuchte der Westen die russische Kultur und andere slawische Kulturen in einem Kontext von Kulturhegemonie und Machtverhältnissen zu beschreiben. Dies provozierte nicht nur offiziell bestellte Widerlegungen, sondern auch vehemente nationale Gegenentwürfe. Dabei wurde aber nicht nur die Konstruktion oder Erfindung eines z.T. ‚exotischen‘ Russlands durch den Westen 5, sondern eben auch die russische Reaktion auf die Exklusionserfahrung, Russlands Eigenperspektive sowie die Spezifik seiner Rezeptivität thematisiert.

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Siehe zum deutschen Bild von Peter I. und seinen Reformen zu Beginn des 18. Jahrhunderts: A. Blome, Das deutsche Rußlandbild im frühen 18. Jahrhundert. Untersuchungen zur zeitgenössischen Presseberichterstattung über Rußland unter Peter I., Wiesbaden 2000 (Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, Bd. 57). Voltaire war von der russischen Zarin Elisabeth II. und Tochter Peters I. offiziell damit beauftragt worden, eine Geschichte der Regierungszeit ihres Vaters zu verfassen. Die an der Petersburger Akademie der Wissenschaften tätigen Historiker Gerhard Friedrich Müller und Michail Lomonossow haben dem französischen Verfasser Quellen und Materialien geliefert. Siehe dazu die Studie von Larry Wolff (1995): Inventing Eastern Europe: the map of civilization on the mind of the enlightenment.

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T ABUBRÜCHE UND DIE AMBIVALENZ DES ‚ POLITISCH K ORREKTEN ‘ Nicht erst der Tschetschenien-Krieg in den 1990er Jahren ließ das Klischee vom ‚barbarischen Russen‘ erneut aufleben. Reflexartig werden stets Putin Morde an kritischen Journalisten und politischen Gegnern angelastet. Es kommt zu einer regelrechten Dämonisierung des derzeitigen russischen „Zaren“, dem unterstellt wird, er knüpfe an Muster des Stalinismus an. 6 Zu Recht moniert werden eine ‚gelenkte‘ Demokratie und zum Teil gleichgeschaltete Medien. Doch auch hier kommt es zu einer unverhältnismäßigen Singularisierung russischer Probleme. Gerade bei den Medien hätte sich etwa ein Vergleich mit Berlusconis medialer Inszenierung angeboten. Berichte über die Stigmatisierung Homosexueller in Russland überstrahlten die gesamten Olympischen Winterspiele in Sotschi. Doch auch im Westen ist Homosexualität oft nach wie vor tabuisiert; wichtige Verbündete der USA und des Westens diskriminieren Homosexuelle nicht nur, sondern ‚bestrafen‘ sie mit dem Tode. Die ehemalige ARD-Korrespondentin Gabriele Krone-Schmalz hat mehrfach zu Recht bemerkt, dass das Image eines Landes in den seltensten Fällen mit den tatsächlichen Gegebenheiten übereinstimmt. Gerade in Hinsicht auf Russland zeige sich jedoch eine gewaltige Diskrepanz zwischen der Realität im Land und den Stereotypen über Russland in westlichen Köpfen. Eine häufig provinzielle Sicht auf die Welt führe zu einer Negativierung von Slavenbildern. Traditionelle Nationalstereotype und alte Vorurteile aus dem Ost-West-Konflikt können rasch reaktiviert werden. So werden etwa auch die USA und Russland in den deutschen Medien nach ganz unterschiedlichen Maßstäben gemessen (Krone-Schmalz 2015). An dieser Stelle soll keine Medienschelte stattfinden, aber die Medien werden m.E. ihrer Verantwortung bei der Berichterstattung über mit Slaven verbundene Themen kaum gerecht. Nachteilig sind – neben kolportierten Stereotypen und Vorurteilen – ein Mangel an Korrespondenten und Experten, Medienkonkurrenz, Zeitdruck, Quoten- und Aktualitätsdruck sowie die gängigen Nachrichtenwerte. Auffällig ist eine Diskrepanz zwischen öffentlicher und veröffentlichter Meinung. Wo bleiben investigativer Journalismus und die Rolle der Medien als vierte Gewalt? Im Juni 2014 musste sogar der ARD-Programmbeirat im Kontext des UkraineKonflikts zugestehen, dass in der Berichterstattung über die Krise in der Ukraine anfangs eine Schwarz-Weiß-Malerei zugunsten der Majdan-Bewegung überwog, obwohl hier auch das rechte, extrem nationalistische Lager beteiligt war, und zulasten der russischen und der abgesetzten ukrainischen Regierung, denen nahezu die gesamte Verantwortung zugeschoben wurde. Zum Teil grenzt die Medienberichterstattung an Manipulation (Bröckers/Schreyer 2015). Offenbar ist die Ukraine-Krise eng mit konkurrierenden geopolitischen Konzepten verbunden. Verstärkt wurden traditionelle Freund-Feind-Bilder. Als Beispiele seien Schlagzeilen wie der Artikel Die Welt darf nicht zuschauen, wie ein Diktator sein Volk abschlachtet von Vitali Klitschko am 20. Februar 2014 in der „Bild“ ange-

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Eine weitaus differenziertere Sicht auf Wladimir Putin und seine Politik gelingt Hubert Seipel in seiner 2015 erschienenen Publikation unter dem Titel: Putin. Innenansichten der Macht, Hamburg: Hoffmann und Campe.

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führt. Vieles erinnert an den Stil des amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan, der die Sowjetunion einst das „Reich des Bösen“ genannt hatte. Entgegen juristischer Expertenmeinungen wird suggeriert, die Krim sei völkerrechtswidrig von Russland annektiert worden. Kaum ein Journalist widmet sich der nicht ganz unwesentlichen Frage, welche Funktion die Krim für die Konstruktion russischer und russländischer Identität traditionell hatte und gegenwärtig hat. Verena Blässer hat sich im November 2014 Zum Russlandbild deutscher Medien geäußert. Einige Medien riefen sogar zum Kriegseintritt des Westens auf. Die reflexartigen Reaktionen nach dem Absturz oder dem mutmaßlichen Abschuss der malaysischen Passagiermaschine MH 17 über der Ostukraine am 17. Juli 2014 sind ein eklatanter Tabubruch und grenzen an Kriegstreiberei. So schrieb Carsten Luther in der „Zeit“ vom 18. Juli 2014 (Dieser Absturz verändert alles), dass der Einsatz von westlichen Kräften kein Tabu mehr sei. Die „taz“ verglich den Vorfall sogar mit den Geschehnissen vom 11.September. Der „Spiegel“ gestaltete eine Titelseite mit Bildern der Opfer des Absturzes und der Überschrift „Stoppt Putin jetzt!“. Nach vielfach geäußerter Kritik sah sich die Redaktion dazu veranlasst, den Titel in einem Blogbeitrag zu rechtfertigen. Hatte der „Spiegel“ zwecks Skandalisierung wieder mal das ‚politisch Korrekte‘ verletzt? Offenbar scheint es derzeit nicht politisch korrekt zu sein, ‚Putinversteher‘ oder ‚Russlandversteher‘ zu sein. Beim bloßen Verdacht kann ein Politiker oder Journalist sich auf vehemente Kritik oder gar eine mediale Kampagne einstellen. Wäre es aber nicht wichtig, Putins Motivation und Russlands Verfasstheit zu verstehen, um den Konflikt zu entschärfen?! Sollten solch generalisierende Synekdochen (Pars pro Toto) wie ‚Pro-Russen‘ und ‚Pro-Ukrainer‘ etwa sinnstiftend und politisch korrekt sein? Gibt es denn auch ‚Anti‘- oder ‚Contra‘-Russen und -Ukrainer? Und was ist mit ‚prorussischem Mob‘ gemeint? Hier werden ganz offensichtlich In-Groups und OutGroups konstruiert sowie Sprachtabus verletzt. Dies allerdings gilt offenbar als politisch korrekt. Ein derartiger Sprachgebrauch führt letztlich dazu, dass überwunden geglaubte Ressentiments bekräftigt und alte nationalstereotype Zuschreibungen und Muster fortgeschrieben oder aktualisiert werden. Der Westen maßt sich in kulturhegemonialer Manier eine schon fast kolonial zu nennende Deutungsmacht in Sachen Demokratie und Zivilisation an. Wenngleich Wladimir Putin aus westlicher Perspektive kein ‚lupenreiner Demokrat‘ sein kann und seine ‚gelenkte Demokratie‘ in mehrerer Hinsicht kritikwürdig sein mag, ist jedoch seine Dämonisierung – die sich auch auf ganz Russland und das russische Volk erstreckt – reichlich überzogen. Sollte das ‚politisch Korrekte‘ in der oft einseitigen westlichen Berichterstattung über Russland in funktionaler Hinsicht darin bestehen, mittels Einforderung selbstgesetzter demokratischer und völkerrechtlicher Standards Putin zu dämonisieren, Russland mittels tradierter Stereotype zu beschreiben und eigene geopolitische Ambitionen zu verschleiern?! Inzwischen ist – angesichts anhaltender Sanktionen, gegenseitiger politischer Unterstellungen und Medienkampagnen – das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen (darunter Deutschland) so belastet, dass der Staatssender Rossija 1 in der zweiten Januarhälfte 2016 sich intensiv über die vermeintliche Vertuschung einer angeblichen und letztlich erfundenen Vergewaltigung einer 13-jährigen Berliner Russlanddeutschen durch Flüchtlinge empört und sich der russische Außenminister Lawrow in diese Angelegenheit eingemischt hat; zudem hat der russische Minister-

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präsident Dmitri Medwedew auf der Münchner Sicherheitskonferenz am 13.02.2016 dem Westen, besonders der NATO, recht vehement einen Rückfall ins Zeitalter des Eisernen Vorhangs, eines neuen Kalten Krieges (!) vorgeworfen. Gabriele Krone-Schmalz (2015: 161) zufolge zeichnet sich eine gute Außenpolitik mit Grundwerten wie Völkerverständigung, Frieden und Wohlstandsmehrung dadurch aus, dass man den Partner ernst nimmt und sich, statt das humanitäre Deckmäntelchen umzuhängen, ehrlich und auf Augenhöhe über Friedenssicherung sowie (geopolitische) Interessen verständigt: „Genau da lauert das Problem, über das viel intensiver debattiert und berichtet werden müsste, statt es zu tabuisieren aus lauter Sorge, man könne falsch verstanden werden.“ Die erfahrene Journalistin gelangt auf der Basis ihrer tiefgründigen Analyse – angesichts der Krisen nicht nur in der Ukraine, sondern auch im Irak, in Syrien, in Afghanistan und im Nahen Osten – zu der plausiblen Schlussfolgerung: „Es ist eine moralisch-historische Verpflichtung, wir sind es unseren Kindern schuldig, dass sich unsere politischen Entscheidungen an der Erhaltung des Friedens orientieren und niemals an parteipolitischer Profilierung und/oder langlebigen Klischees. Die gilt es zu entlarven, notfalls gegen all das, was als politisch korrekt gilt. An diesem Punkt kann nahezu jeder Einzelne seinen Beitrag leisten. Es ist im ureigensten Interesse der EU, Russland als Partner zu haben. Wer diese Chance vertut, riskiert, dass Europa im Machtkampf künftiger Großmächte zerrieben wird.“ (Ebd. 166) [Herv.i.O.]

L ITERATUR Banse, Gerhard (2007): „Über Tabus und Tabuisierungen“, in: Fischer, Michael/Kacianka, Reinhard (Hg.): Tabus und Grenzen der Ethik, Frankfurt/Main (=Fischer, Michael: Ethik transdisziplinär, Bd.7), S. 13-30. Birk, Andrea/Kaunzner, Ulrike, A. (2009): „Tabu und Identität. Wie man das vermittelt, worüber die anderen schweigen“, in: Hess-Lüttich, Ernest W.B./Colliander, Peter/Reuter, Ewald (2009): Wie kann man vom „Deutschen“ leben? Zur Praxisrelevanz der interkulturellen Germanistik, Frankfurt/Main: Peter Lang, S.397416. Blässer, Verena (2014): „Zum Russlandbild deutscher Medien“, in: Ukraine, Russland und Europa. Aus Politik und Zeitgeschehen. Bundeszentrale für politische Bildung, Newsletter, 11.11.2014. Braun, Michael (2007): „Vorwort“, in: Braun, Michael (Hg.): Tabu und Tabubruch in Literatur und Film, Würzburg: Königshausen & Neumann (=Film – Medium – Diskurs, Bd. 20), S. 7-10. Bröckers, Mathias/Schreyer, Paul (2014): Wir sind die Guten. Ansichten eines Putinverstehers oder wie uns die Medien manipulieren (6. Auflage), Frankfurt/Main: Westend Verlag. Brückner, Michael/Ulfkotte, Udo (2014): Politische Korrektheit. Von Gesinnungspolizisten und Meinungsdiktatoren (2. Auflage), Rottenburg: Kopp, S. 10-11. Dusini, Matthias/Edlinger, Thomas (2012): Glanz und Elend des Political Correctness, Berlin: Suhrkamp.

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Eggert, Hartmut (2002): „Säkulare Tabus und die Probleme ihrer Darstellung. Thesen zur Eröffnung der Diskussion“, in: Eggert, Hartmut/Golec, Janusz (Hg.): Tabu und Tabubruch. Literarische und sprachliche Strategien im 20. Jahrhundert. Ein deutsch-polnisches Symposium, Stuttgart: Metzler, S. 15-24. Freud, Sigmund (2012): Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Sexualleben der Wilden und der Neurotiker. Einleitung von Mario Erdheim, 11. Auflage, Frankfurt/Main: Fischer. Groh, Dieter (1988): Russland im Blick Europas (300 Jahre historische Perspektiven), erweiterte Zweitausgabe, Frankfurt/Main. Grübel, Rainer (1997): „Wert, Kanon, Zensur“, in: Arnold, H.L./Detering, H. (Hg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft, München: Dt. Taschenbuch-Verl., S.619f. Herrmann, Friederike/Lünenborg, Margret (Hg.) (2001): Tabubruch als Programm. Privates und Intimes in den Medien, Opladen. Hess-Lüttich, Ernest W.B. (2013): Zwischen Ritual und Tabu. Interaktionsschemata interkultureller Kommunikation in Sprache und Literatur, Frankfurt/Main: Peter Lang. Ingold, Felix Philipp (2009): Die Faszination des Fremden. Eine andere Kulturgeschichte Russlands, München: Wilhelm Fink Verlag. Johannsmeyer, Karl-Dieter/Lehmann-Carli, Gabriela/Preuß, Hilmar (Hg.) (2014): Empathie im Umgang mit dem Tabu(bruch). Kommunikative und narrative Strategien, Berlin: Frank&Timme Verlag für wissenschaftliche Literatur. Kadell, Franz (2011): Katyn. Das zweifache Trauma der Polen, München: F.A. Herbig. Kraft, Hartmut (2004): Tabu, Magie und soziale Wirklichkeit, Düsseldorf/Zürich: Walther, S. 9-15. Krone-Schmalz, Gabriele (2015): Russland verstehen. Der Kampf um die Ukraine und die Arroganz des Westens (6. Auflage), München: Verlag C.H. Beck. Kuhlmey, Adelheid/Rosemeier, Hans Peter (2005): „Tabu und Verletzlichkeit in Medizin und Pflege. Editorial“, in: Kuhlmey, Adelheid/Rosemeier, Hans Peter/ Rauchfuß, Martina (Hg.): Tabus in Medizin und Pflege, Frankfurt/Main, S. 1118. Lehmann-Carli, Gabriela (2013): Empathie und Tabu(bruch) in Kultur, Literatur und Medizin, Berlin: Frank&Timme Verlag für wissenschaftliche Literatur. Lehmann-Carli, Gabriela/Drosihn, Yvonne/Klitsche-Sowitzki, Ulrike (2011): Russland zwischen Ost und West? Gratwanderungen nationaler Identität, Berlin: Frank&Timme Verlag für wissenschaftliche Literatur. Mitscherlich, Alexander und Margarete (1990): Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens, Leipzig: Reclam. Scherbakova, Irina (2010): Zerrissene Erinnerung. Der Umgang mit Stalinismus und Zweitem Weltkrieg im heutigen Russland, Göttingen: Wallstein. Seipel, Hubert (2015): Putin. Innenansichten der Macht, Hamburg: Hoffmann und Campe. Schröder, Hartmut (2008): „Diagnose Tabu. Zum Stil der temporären Tabuaufhebung in der Arzt-Patienten-Kommunikation“, in: Rothe, Matthias/Schröder, Hartmut: Stil, Stilbruch, Tabu. Stilerfahrung nach der Rhetorik. Eine Bilanz, Berlin: LIT, (=Semiotik der Kultur 7), S. 166-180.

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Trad, Ahmed Rafik (2001): Tabuthemen in der interkulturellen Kommunikation, Frankfurt/Main: Peter Lang. Wagner, Hans (1991): Medien-Tabus und Kommunikationsverbote. Die manipulierte Wirklichkeit (=Geschichte und Staat, Bd. 289), München: Olz.

„Indignez-vous!“ Zur Empörung in den Äußerungen französischer KZÜberlebender 1 H ENNING F AUSER

Wenige Jahre vor seinem Tod fand der ehemalige KZ-Häftling Stéphane Hessel mit seinem Buch Indignez-vous! weltweite Beachtung. Besonders in den von Bankenund Finanzkrisen gebeutelten Ländern trafen seine Worte auf offene Ohren. So regten seine Thesen in Spanien die Bewegung der Indignados an. Durch Interviews und öffentliche Auftritte inner- und außerhalb Frankreichs drang der ehemalige Diplomat sehr schnell zur breiten Öffentlichkeit vor. Es war nicht seine erste öffentliche Intervention, schon vorher hatte Hessel sich für die Verteidigung sozialstaatlicher Errungenschaften oder für Flüchtlinge ohne Aufenthaltstitel eingesetzt. Neben seiner Ausstrahlung trugen auch seine Aktivitäten in der Résistance und seine Haft in mehreren Konzentrationslagern dazu bei, dass ihm dieses große öffentliche Interesse zuteil wurde. Unter Verweis auf diese Erfahrungen haben sich viele Widerstandskämpfer und Deportierte seit 1945 in öffentliche Debatten eingebracht. Dabei spielte die Empörung eine zentrale Rolle. Dieser Artikel wird daher deren Rolle in öffentlichen Äußerungen ehemaliger französischer KZ-Häftlinge und ihrer Vereinigungen genauer betrachten. Es gilt dabei festzustellen, zu welchen Anlässen diese Männer und Frauen ihrer Empörung Ausdruck verschafften, um auf dieser Grundlage die Ursachen und Ziele dieser Reaktion herauszuarbeiten. Aber was genau ist unter Empörung zu verstehen? Der Robert definiert sie als „sentiment de colère qui soulève une action contre laquelle réagit la conscience morale ou le sentiment de la justice“. Eben dieses verletzte Gerechtigkeitsempfinden wird auch von KZ-Überlebenden erwähnt, wenn sie von ihrer Haftzeit sprechen. Geneviève de Gaulle, Nichte des Generals und Überlebende von Ravensbrück, betonte nach der Heimkehr, dass weder Hass noch Rachegefühle, sondern Empörung die Deportierten während ihrer Haft erfüllte: „Devant toutes celles qui souffraient et qui mouraient, quelque chose d’intense et de profond est monté dans nos cœurs. Et ce n’était pas la haine, et ce n’était pas la vengeance. C’était l’indignation. L’indi-

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Dieser Beitrag beruht auf den Forschungen zu meinem Dissertationsprojekt „Représentations de l’Allemagne et des Allemands chez d’anciens concentrationnaires en France“, welches von Dorothee Röseberg und Annette Wieviorka betreut wird.

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gnation, qui est comme un appel profond à la justice.“ (De Gaulle 1947: 23-24) Ähnlich äußerte sich auch Germaine Tillion, als sie ihren Kameradinnen vom ersten Ravensbrück-Prozess in Hamburg berichtete: „Vous vous souvenez […] de l’indignation qui vous brûlait le cœur ? Non pas la colère, non pas la haine, mais l’indignation, c’est-à-dire le sentiment de la justice qui se révolte en vous, et rend les plus timides capables de braver la mort sans trembler.“ (Tillion 1947: 4) Diese beiden Beispiele aus der Nachkriegszeit verdeutlichen die Verwurzelung der Empörung im persönlichen Gerechtigkeitsempfinden, die durch sie ausgelöste Entrüstung, aber auch die Kraft, die aus ihr erwächst.

1 ANLÄSSE

UND

G EGENSTÄNDE

DER

E MPÖRUNG

Um nun der Empörung auf den Grund zu gehen, werden wir zunächst die Anlässe und Gegebenheiten betrachten, die in den Reihen der ehemaligen KZ-Häftlinge für Entrüstung sorgten. Dabei ist zu beachten, dass diese Gruppe der aus Frankreich in deutsche Konzentrations- und Vernichtungslager deportierten Menschen eine große soziale, politische und konfessionelle Heterogenität aufweist. Dies erklärt sich zunächst einmal durch die Vielfalt der Opfer der deutschen Verfolgungs- und Repressionspolitik im besetzten Frankreich. Zu diesen gehörten zum einen französische und in Frankreich lebende Juden bzw. Personen, die von den deutschen Besatzern und ihren französischen Kollaborateuren gesetzlich als solche definiert wurden. 2 Weitere Opfer von Verhaftungen und Deportationen waren politische Gegner und Widerstandskämpfer, die sich der deutschen Besatzungsmacht entgegengestellt hatten oder aber dessen verdächtigt wurden. 3 Weiterhin spielt die politische Diversität dieser Männer und Frauen in Fragen von Empörung und Protest eine entscheidende Rolle. Traten diese angesichts des Kampfes gegen einen gemeinsamen Feind in der Besatzungszeit sowie der gemeinsamen Bedrohung während der Deportation für einige Jahre in den Hintergrund, so nahmen sie nach der Befreiung Frankreichs und der Rückkehr der Überlebenden aus den deutschen Konzentrationslagern rasch wieder ihren alten Platz ein. Mit der zunehmenden politisch-ideologischen Polarisierung des Kalten Krieges entwickelt sich in den folgenden Jahren ein tiefer Bruch innerhalb des mouvement déporté, der bestimmte Häftlingsvereinigungen spaltete und in der Résistance oder in den Lagern entstandene Freundschaften ruinierte. Gleichzeitig gab es jedoch weiterhin gemeinsame Ziele und Hoffnungen, und eben Gründe der Empörung, die die ehemaligen KZ-Häftlinge einten. Daher werden wir zum einen allgemein geteilte und zum ande2

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Einen Überblick zu diesen als „déportés de persécution“ bezeichneten Personen gibt Joly (2010: 208-209). Detaillierte Informationen sind in Serge Klarsfelds Mémorial de la déportation des Juifs de France zu finden. Einen detaillierten Überblick über Verhaftungsgründe und Soziologie dieser „déportés de répression“ gibt Quellien (2010: 206-207). Umfassende Informationen sind in den vier Bänden des Livre-Mémorial des déportés de France arrêtés par mesure de répression et dans certains cas par mesure de persécution der Fondation pour la Mémoire de la Déportation zu finden. Die Namen einiger Deportierter, insbesondere jüdischer Widerstandskämpfer, sind in diesem Gedenkbuch, wie auch in dem von Serge Klarsfeld zu finden.

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ren sich gegenüberstehende Anlässe und Gegenstände der Empörung betrachten. Dies wiederum soll Aufschluss darüber geben, welche Anliegen die Überlebenden einten und welche sie entzweiten. 1.1 Die ungenügende Verfolgung und Bestrafung der Täter Einen regelmäßigen Anlass der Empörung bot die Bestrafung der Täter und ihrer Helfer. Nach praktisch jedem Prozess gegen deutsche Kriegsverbrecher oder französische Kollaborateure kritisierten die Zeitungen und Rundbriefe der Häftlingsvereinigungen die als zu milde empfundenen Urteile. Neben den Rechtssprüchen wurden auch die mangelnde Strafverfolgung in Deutschland und die unzureichende épuration in Frankreich kritisiert. Besonders ausgeprägt war dieser Protest in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Die Reihe der Prozesse gegen Verantwortliche und Vollstrecker von Verfolgung, Verhaftung und Vernichtung begann im September 1945 mit dem Prozess von Lüneburg. Schon während des Prozesses kritisierte die Amicale d’Auschwitz dessen „unerträgliche Langsamkeit“ und forderte die „prompte Bestrafung der Angeklagten“ (Amicale d’Auschwitz 1945a: 3). In einem Telegramm an das Gericht von Lüneburg forderte die Amicale explizit die Todesstrafe für Josef Kramer – ehemaliger Kommandant der Konzentrationslager Natzweiler-Struthof, Auschwitz-Birkenau und Bergen-Belsen – und seine angeklagten Mittäter. Aus Sicht der Überlebenden ist diese Forderung nachvollziehbar, haben sie doch erlebt, wie diese Männer geschlagen, gefoltert und getötet haben. Als am Prozessende mehr als die Hälfte der Angeklagten der Todesstrafe entrannen, protestierte die Amicale gegen den Urteilsspruch und appellierte an die öffentliche Meinung in Frankreich und der Welt, sich gegen diese „Verweigerung der Gerechtigkeit“ zu erheben und eine Revision des Prozesses zu fordern (Amicale d’Auschwitz 1945b: 3). Ähnliche Beschwerden und Aufrufe begleiteten in den folgenden Monaten und Jahren die Prozesse von Nürnberg, Dachau, Hamburg und Rastatt. Sie wurzelten stets im verletzten Gerechtigkeitsempfinden der Überlebenden, denen die Gerichtsprozesse zu lange dauerten und die gesprochenen Urteile unangemessen erschienen. Auch in den folgenden Jahrzehnten tauchten diese Beschwerden immer wieder auf, erst recht ab dem Moment, wo deutsche Gerichte begannen, deutsche Täter zu verurteilen 4. 1.2 Das Wiederaufleben der nationalsozialistischen Ideologie Ein weiterer Anlass regelmäßiger Bestürzung und Empörung waren Ereignisse, die für die Opfer ein Wiederauftauchen des Nazismus darstellten, ja sogar sein Wiederaufleben befürchten ließen. Die Überlebenden und die Zeitungen ihrer Vereinigungen sprachen in diesen Fällen von renaissance und résurrection, und in fortgeschrittenen 4

Wenn in der Frage der Bestrafung der Täter ansonsten Einigkeit unter den KZ-Überlebenden herrschte, so wurden hier doch die Auswirkungen des Kalten Krieges sichtbar. Die der Kommunistischen Partei Frankreichs lange Zeit nahe stehende Fédération nationale des déportés et internés résistants et patriotes (FNDIRP) lobte bis in die 1980er Jahre die exemplarische Verurteilung von Kriegsverbrechern in der DDR und kritisierte gleichzeitig die unzureichende Täterverfolgung in der BRD, oftmals in ein und demselben Artikel.

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Fällen auch von résurgence oder recrudescence des Nazismus, bzw. aus kommunistischer Perspektive des Faschismus. Ausgelöst wurden diese Befürchtungen von rassistischen und antisemitischen Anschlägen, von Wahlerfolgen rechtsextremer Parteien sowie von Angriffen auf das Gedenken und die Erinnerung an die Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen. Prägende Ereignisse in der ersten Kategorie waren die Anschläge der Organisation de l’armée secrète (OAS) am Ende der 1950er und zu Beginn der 1960er Jahre, die auch mehrere ehemalige KZ-Häftlinge trafen, die für die Unabhängigkeit Algeriens eingetreten waren oder sich der OAS entgegengestellt hatten. Neuerliche Bomben- und Brandanschläge ab Mitte der 1970er Jahre lösten Ernüchterung, Wut und wiederholte Aufschreie der Empörung aus, wobei drei Ereignisse eine nachhaltige Wirkung hinterließen: erstens der Brandanschlag auf eine Baracke des ehemaligen KZ Natzweiler-Struthof im Mai 1976, in der ein Museum zur Lagergeschichte untergebracht war; zweitens die Bombenattentate auf die Büros mehrerer Häftlingsvereinigungen wie auch auf die Privatwohnungen einiger Funktionäre in den Jahren 1977 und 1978; schließlich der Bombenanschlag auf die Synagoge der rue Copernic in Paris, dem vier Menschen zum Opfer fielen (Lalieu 1994: 170-171). Alte Ängste wurden ebenfalls durch die Wahlerfolge rechtsextremer Parteien in Deutschland und Frankreich geweckt. Höhepunkte der Entrüstung waren die Jahre 1966 bis 1968, in denen die NPD in sieben Landesparlamente einzog, bevor sie bei der Bundestagswahl 1969 an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterte. Der prägende Moment in Frankreich war zweifellos der Schock des Jahres 2002, als Jean-Marie Le Pen in die zweite Runde der Präsidentschaftswahl einziehen konnte. Angriffe auf das Gedenken und die Erinnerung an die Opfer nationalsozialistischer Verfolgung und Ermordung waren schließlich ein dritter großer Auslöser von Empörung, aber auch die Quelle intensiver Gegenaktivitäten. Diese Attacken traten einerseits in materieller Form auf, wenn Gräber oder Denkmale beschädigt oder zerstört wurden. Auf der anderen Seite bestand und besteht ihre intellektuelle Form in der Banalisierung und Leugnung der Verbrechen, an erster Stelle des Massenmordes an den europäischen Juden. Die Empörung auslösenden Ereignisse beruhen also auf der Furcht vor Phänomenen, die zwischen 1933 und 1945 zu Krieg und Verfolgung führten und deren Opfer diese Männer und Frauen wurden: Militarismus, Antisemitismus oder Rassismus – Erscheinungen, die ab 1945 mit dem Leitspruch „Plus jamais ça!“ gebrandmarkt wurden. Wenngleich man in diesem Falle insgesamt von einenden Anlässen der Empörung sprechen kann, so gibt es jedoch auch trennende Elemente. Eines liegt im Vorwurf der Kontinuität des Nazismus in der BRD, der in den Auseinandersetzungen des Kalten Krieges durch kommunistische KZ-Überlebende, antifaschistische Sympathisanten des KPF sowie durch der Partei nahestehende Häftlingsvereinigungen bemüht wurde. Diesem Vorwurf steht die Missbilligung der DDR als totalitärem Staat diametral gegenüber. Sie wurde regelmäßig von antikommunistischen Überlebenden und dem Antitotalitarismus verpflichteten Vereinigungen beschworen.

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1.3 Bedrohung von Frieden und Freiheit Der bereits in den ersten beiden Kategorien von Empörungsauslösern enthaltene Antagonismus von antifaschistischen und antitotalitären Einstellungen der KZ-Überlebenden dominiert schließlich die dritte bedeutende Kategorie. Dieser ideologische Gegensatz fand in jenen Perioden Ausdruck, in denen die ehemaligen Häftlinge Frieden und Freiheit erneut bedroht sahen. Ursprünglich war deren Verteidigung ein gemeinsames Ziel der Überlebenden 5, mit der Intensivierung des Kalten Krieges wurden beide jedoch voneinander entkoppelt. Während die Kommunisten und ihre Sympathisanten den Erhalt des Friedens zum Hauptgegenstand der antifaschistischen Propaganda machten, erhoben dem Antitotalitarismus verpflichtete Sozialisten, Gaullisten und Christdemokraten die Freiheit zum höchsten zu schützenden Gut. Auf Seiten der Antifaschisten war der Kampf gegen die westdeutsche Aufrüstung ab Beginn der 1950er Jahre die wichtigste Quelle der Empörung. Die Kette der Ereignisse begann mit der Mobilisierung gegen den Besuch westdeutscher Militärs in Paris im Februar 1951. Zwischen 1952 und 1954 wurde in den Auseinandersetzungen um die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) ein erster Höhepunkt der Empörung erreicht. Die FNDIRP und die Amicale d’Auschwitz agitierten in ihren Zeitungen regelmäßig gegen die EVG, starteten Petitionen und organisierten Demonstrationen. Dabei schürten sie gezielt Ängste, die in den traumatischen Erlebnissen der deutschen Besatzung und der KZ-Haft der ehemaligen Deportierten wurzelten. Die Wiederauferstehung von Wehrmacht und SS, die Einrichtung neuer Konzentrationslager und die Eingliederung der Opfer oder ihrer Kinder in eine Armee, in der sie Seite an Seite mit ihren früheren Peinigern kämpfen müssten, wurden durchgängig als mögliche Szenarien gezeichnet. Zur Unterstützung dieser Kampagne, die schließlich in einen „primären Antigermanismus“ (Frank 1995: 509) abglitt, bemühten die Kommunisten ebenso die Erinnerung an das Kriegsverbrechen von Oradour und an die Leiden von Auschwitz, Buchenwald und Ravensbrück. Dass die KPF und die ihr bis zu Beginn der 1960er Jahre sehr nahe stehende FNDIRP und die ebenfalls von Kommunisten dominierte Amicale d’Auschwitz damit auch über die antifaschistischen Kreise hinaus große Erfolge hatten, erklärt sich durch die noch weit verbreitete und tiefsitzende Angst vor dem deutschen Militarismus. Die ausgedrückte Empörung war jedoch nicht mehr spontaner, sondern vielmehr rhetorischer Natur. Im Kontext des Kalten Krieges wurde sie zu einer Propagandawaffe, die dazu diente, öffentlichen Druck auf die Akteure der französischen Außen- und Sicherheitspolitik auszuüben. Edgar Morin, der zwischen 1948 und 1950 als Redakteur für die FNDIRP gearbeitet hatte, fasste das Funktionieren dieser Propaganda später treffend zusammen. Seiner Ansicht nach war die Aufrechterhaltung einer Kriegspsychologie in Friedenszeiten die große Stärke des stalinistischen Machtapparates (Morin 1959: 139). Das anschließende Scheitern des EVG-Vertrages im August 1954 wurde von den beteiligten Vereinigungen als großer Erfolg gefeiert, stellte jedoch letztendlich nur eine kurze Atempause dar. Die Aufnahme der BRD in die NATO im Mai 1955 sowie

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In dem am 19. April 1945 von den Überlebenden des KZ Buchenwald vorgetragenen Schwur wurde unter anderem der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit als Ziel proklamiert.

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die darauf folgende Aufstellung der Bundeswehr ab November desselben Jahres bekämpften sie mit den schon bekannten Argumenten und neuerlichen Proklamationen der Empörung, konnten diese aber nicht verhindern. Die Frage der Integration ehemaliger Soldaten der Waffen-SS in die Bundeswehr und die von Franz-Josef Strauß geforderte atomare Bewaffnung der Armee sorgten für weitere Ausbrüche der Entrüstung. Einen neuerlichen Höhepunkt erreichte die Empörung der antifaschistischen Häftlingsvereinigungen in der sogenannten „Speidel-Affäre“ 6. Diese begann im Januar 1957, nachdem die Berufung des Bundeswehrgenerals Hans Speidel zum Befehlshaber der Landstreitkräfte Europa-Mitte der NATO bekannt geworden war. Dass dieser ehemalige General der Wehrmacht zudem in Fontainebleau residieren und französische Soldaten unter seinem Befehl haben würde, sorgte für weitere Proteste. Da Speidel bereits 1951 Konrad Adenauer zu Verhandlungen mit der französischen Regierung begleitet hatte und in den folgenden Jahren federführend bei den Verhandlungen über die EVG war, wurde er zu einer negativen Symbolfigur der deutschen Wiederaufrüstung. Seine Tätigkeit in der deutschen Militärverwaltung des besetzten Frankreichs von 1940 bis 1942 machte ihn überdies zur idealen Zielscheibe der kommunistischen Agitation. Neben der Exekution von Juden und Kommunisten wurde er ebenso für die Deportation jüdischer und kommunistischer Geiselhäftlinge verantwortlich gemacht (FNDIRP 1957: 8). Die einmal hochgekochte Polemik wurde nun über Jahre aufrechterhalten. Monat für Monat erschienen im Patriote Résistant, der Zeitung der FNDIRP, sowie in den Rundbriefen der mit ihr assoziierten Amicales der Überlebenden von Auschwitz, Buchenwald oder Ravensbrück Artikel über die mutmaßlichen Verbrechen und die gegenwärtigen Aktivitäten Speidels. Die massive Mobilisierung gegen Hans Speidel endete erst mit dessen Abberufung aus Altersgründen im Jahre 1963. Die Polemik gegen die Manöver westdeutscher Truppen auf französischem Boden war schließlich das letzte bedeutende Rückzugsgefecht der Antifaschisten gegen das militärische Erstarken der Bundesrepublik. Sie begann im Oktober 1960, nachdem die seit Mitte des Jahres kursierenden Gerüchte über die Ankunft deutscher Soldaten bestätigt wurden. Ein weiteres Mal spielten die Artikel des Patriote Résistant auf der Klaviatur tiefsitzender Ängste und Erinnerungen an die Besatzungszeit. Dafür sorgte insbesondere die Herstellung von Kontinuitäten zu den Jahren 1940-1944, so z.B. die regelmäßig wiederkehrende Rede von der „neuen Wehrmacht“ oder die Erinnerung an den Klang deutscher Stiefel auf französischen Straßen. Auch in diesem Fall wurde die Empörung wieder gezielt hochgekocht und anschließend durch regelmäßig veröffentlichte Artikel bis ins Jahr 1966 am Köcheln gehalten. Neben der Angst vor dem deutschen Militarismus wurde auch die bereits erwähnte Furcht vor der Wiederauferstehung des Nazismus mobilisiert, um die BRD und ihre Regierung anzugreifen. Beispiele dafür waren verschiedene von Ost-Berlin aus gelenkte Angriffe gegen führende Bonner Politiker. Den Kampagnen Albert Nordens 6

Sophie Moirand weist darauf hin, dass Begriffe wie ‚Affäre‘, ‚Drama‘, ‚Krise‘ oder ‚Skandal‘ in Verwendung mit einem „mot-événement“, wie z.B. ‚Speidel‘, häufig Verwendung finden, da sie zeitliche und analogische Konstruktionen ermöglichen (Moirand 2004: 78). In den uns interessierenden Fällen werden sie vor allem benutzt, um Kontinuitäten und Analogien zu den Verbrechen der Nazis und ihrer Kollaborateure herzustellen.

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gegen Theodor Oberländer, Hans Globke oder Heinrich Lübke schlossen sich ebenso die KPF, die FNDIRP und die ihr unterstellten Häftlingsvereinigungen an. Auch in diesen Fällen war die Empörung eher rhetorischer Natur, was sich in der ständig wiederkehrenden Verwendung der gleichen Argumentationsketten und Deutungsmuster ausdrückte. Von Seiten der antitotalitären Kräfte wurde der FNDIRP aus diesen Gründen häufig vorgeworfen, dass sie die Leiden der Opfer der Deportation für die Durchsetzung der politischen Ziele des KPF vereinnahmen würde. Edmond Debeaumarché, Überlebender von Buchenwald und Generalsekretär der von Christdemokraten, Gaullisten und Sozialdemokraten gegründeten FNDIR 7 betonte gegenüber den Mitgliedern, dass deren Vereinigung keiner Partei oder Sekte unterworfen sei und auch eine Propaganda zu Fall bringen könne, die behauptet, dass das Eintreten für den Frieden nur der Kommunisten-Partei vorbehalten sei (Debeaumarché 1951: 2). Nichtsdestotrotz war diesen Überlebenden vielmehr an der Verteidigung der Freiheit gelegen, was Debeaumarché mit der Devise „Mourir debout pour ne pas vivre à genoux“ ausdrückte, die er aus dem Kampf der Besatzungszeit herleitete (ebd.). Die größte Gefahr aus Sicht dieser KZ-Überlebenden war weniger die eines weiteren Weltkrieges, als die neuerliche Bedrohung von Freiheit und Menschenrechten, beispielsweise durch die Errichtung neuer Lager. Aus dem Blickwinkel der antitotalitären Kräfte stand daher der Gulag in der Kontinuität der nationalsozialistischen Konzentrationslager 8, was schließlich die Gleichsetzung von Kommunismus und Nazismus nach sich zog (Lagrou 2003: 258). Innerhalb des mouvement déporté sorgten die Auseinandersetzungen über die Einordnung des Gulag für eine tiefe Spaltung. Ausgangspunkt dafür war der Aufruf des antikommunistischen Intellektuellen David Rousset an die ehemaligen französischen KZ-Häftlinge, den er am 12. November 1949 unter dem Titel „Au secours des déportés dans les camps soviétiques. Un appel aux anciens déportés des camps nazis“ im Figaro littéraire veröffentlichte. Von Seiten der antifaschistischen Kräfte brandete ihm ein Sturm der Empörung entgegen, regelmäßig wurde er als „Kriegstreiber“ oder „Nacheiferer von Goebbels“ bezeichnet. Ähnlich harsch war auch der Ton von Pierre Daix, Überlebender von Mauthausen und Chefredakteur der kommunistischen Wochenzeitung Les Lettres françaises, der Rousset fünf Tage nach seinem Aufruf entgegnete: „Vous ne ferez pas des déportés des camps nazis les porte-parole de la guerre d’Hitler.“ (Wieder 2009: 317) Im anschließenden Prozess wegen Verleumdung unterlag Daix. Die FNDIRP und die Amicale d’Auschwitz verloren eine beträchtliche Zahl von Mitgliedern, die in der 1950 gegründeten antitotalitären und antikommunistischen UNADIF Zuflucht fanden. Somit waren die politischen Grenzen abgesteckt, die zu den ideologischen Grabenkämpfen der nächsten vier Jahrzehnte führen sollten.

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Fédération nationale des déportés et internés résistants. Dieser 1945 gegründete Häftlingsverband sammelte gemeinsam mit der 1950 gegründeten Union nationale des associations de déportés internés et familles de disparus (UNADIF) die antitotalitären Kräfte des mouvement déporté. Einige KZ-Überlebende hoben die Existenz des Gulag noch vor der Errichtung der deutschen Konzentrationslager hervor und schlossen daraus, dass Hitler sich bei Stalin inspiriert habe.

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In Erwiderung auf die intensiven Proteste der antifaschistischen Kräfte gegen die von ihnen befürchtete Friedensbedrohung durch USA und BRD mobilisierten ihre antitotalitären Widersacher in den Momenten, wo UdSSR oder DDR in ihren Machtbereichen die Freiheit beschnitten. Die sowjetische Unterdrückung der Revolution in Ungarn (1956), der Bau der Berliner Mauer (1961) sowie die Niederschlagung des „Prager Frühlings“ durch die Truppen des Warschauer Pakts (1968) sorgten für Proteste, die jedoch in Dauer und Intensität nicht mit der Mobilisierung gegen die westdeutsche Aufrüstung vergleichbar waren. Um jedoch eine ähnliche Wirkung in der öffentlichen Meinung zu erzielen, versuchten sich einige Akteure in der Nachahmung kommunistischer Propagandamethoden. Vorreiter war der Belgier Hubert Halin, ein antikommunistischer Aktivist, der ganz allein die Zeilen der Voix internationale de la Résistance füllte (Lagrou 2003: 270). Die Artikel dieser Zeitung wurden regelmäßig von Le Déporté, der Monatszeitung der FNDIR und der UNADIF, übernommen. Halins Leidenschaft bestand vor allem im Kampf gegen das idealisierte Bild der DDR. Als Reaktion auf die „Speidel-Affäre“ startete er im Sommer 1961 einen Angriff auf den Weimarer Bürgermeister Luitpold Steidle, ehemaliger Oberst der Wehrmacht und nach seiner Gefangennahme an der Ostfront Mitglied im antifaschistischen Nationalkomitee Freies Deutschland (NKFD). Dieser vermutlich durch die Ähnlichkeit der Namen begründete Versuch, eine „Steidle-Affäre“ zu lancieren, scheiterte kläglich. Den über 200 Artikeln, die allein der Patriote Résistant Hans Speidel gewidmet hatte oder in denen er erwähnte wurde, standen ganze zwei Artikel im Déporté und im Patriote Résistant zu Luitpold Steidle gegenüber. Ein Jahr später bemühte sich Halin, einen neuen Skandal auszulösen. Der Hintergrund in diesem Falle war die Verurteilung der beiden ostdeutschen Dissidenten Karl Raddatz und Heinz Brandt im Mai 1962. Während der Patriote Résistant zuvor jahrelang die Gängelung und Verfolgung von politisch unliebsamen KZ-Überlebenden in der BRD kritisiert hatte, rügte Hubert Halin nun ein vergleichbares Vorgehen in der DDR. Dafür ging er sogar so weit, Auschwitz und Ost-Berlin auf eine Stufe zu stellen. Als Reaktion auf den Prozess gegen Raddatz und Brandt veröffentliche Halin die Broschüre Hier Auschwitz, aujourd’hui Berlin-Est. Comme au temps de Staline. Procès „secrets“ dans l’Allemagne d’Ulbricht, auf deren Einband die Bilder des Gefängnisses von Bautzen und des Lagergefängnisses des KZ Auschwitz 9 einander gegenüber gestellt waren. 10 Auch in diesem Fall sorgten seine Bemühungen nicht für großes Aufsehen. 9

Das Foto zeigt den Platz zwischen den Blöcken 10 und 11 im Stammlager Auschwitz I, an dessen Ende die sogenannte „Schwarze Wand“ steht. An ihr fanden von 1941 bis 1943 Exekutionen von Häftlingen des Lagers, aber auch von polnischen Zivilisten statt. 10 Es sei jedoch hinzufügt, dass ‚Auschwitz‘ im Jahre 1962 nicht die gleiche Konnotation wie heute hatte. Der in Auschwitz-Birkenau begangene Massenmord wurde damals noch mit anderen nationalsozialistischen Verbrechen gleichgesetzt, einem Großteil der Franzosen und der Deutschen war er zudem gänzlich unbekannt. Der Erfolg des Theaterstücks über Anne Frank (1957-58), der Eichmann-Prozess (1961-62) und der Frankfurter AuschwitzProzess (1963-65) sorgten für ein erstes öffentliches Bewusstwerden, besonders in der Nachkriegsgeneration. Weitere Ereignisse im juristischen, kulturellen und politischen Bereich hatten in den nächsten Jahren und Jahrzehnten eine öffentliche Wahrnehmungsveränderung dieses Verbrechens zur Folge. In Deutschland setzte sich im Anschluss an die gleichnamige Fernsehserie (1978-1979) die Bezeichnung ‚Holocaust‘ durch, während in

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Le Déporté und Voix et Visages 11 veröffentlichten drei kurze Artikel, die auf Halins Bekanntmachungen beruhten, der Patriote Résistant blieb hingegen diesmal still. Abbildung 1: Broschüre von Hubert Halin

Quelle: Persönliches Archiv des Autors.

Diese Beispiele zeigen, wie die eigene Empörung, vor allem aber deren Hervorrufen in der öffentlichen Meinung zur viel genutzten Waffe im Kampf der Systeme und Ideologien wurde. In diesem Propagandakrieg stellte das Bild der beiden deutschen Staaten ein wahres ideologisches Schlachtfeld dar. Dieses Vorgehen endete jedoch nicht mit dem Kalten Krieg. Als 1991 an der Zufahrt der Gedenkstätte Ravensbrück ein Supermarkt eröffnet werden sollte, spitzte der Patriote Résistant diesen Umstand noch zu und behauptete, dass der Umbau des ehemaligen KZ in einen Supermarkt geplant sei (FNDIRP 1991: 4). Diese gezielte Falschinformation, die zweifellos darauf abzielte, die Empörung gegen diese erinnerungspolitische Achtlosigkeit des kürzlich wiedervereinigten Deutschlands zu schüren, wurde noch während des Kongresses der FNDIRP im folgenden Jahr wiederholt (Verrecchia 1992: 24). Der entschiedene, doch weit weniger polemische Protest der Überlebenden des Lagers sorgte schließlich dafür, dass das Projekt fallen gelassen wurde. 12

Frankreich Claude Lanzmanns Filmtitel SHOAH (1985) zur gängigen Bezeichnung für den Genozid der europäischen Juden wurde. 11 Diese Zeitschrift wurde zwischen 1946 und 2005 von der Association nationale des anciennes déportées et internées de la Résistance (ADIR), einer Vereinigung weiblicher Widerstandskämpferinnen, die interniert oder deportiert worden waren, herausgegeben. 12 Der Supermarkt wurde nie eröffnet, das bereits gebaute Gebäude 20 Jahre später wieder abgerissen.

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2 E MPÖRUNG

ALLEIN IST NICHT GENUG

Umrandet von Bildern beschmierter Gräber und Gedenksteine titelte der Patriote Résistant im Juli 1990 „L’indignation ne suffit pas“ (FNDIRP 1990: 1). Unter dem Eindruck der starken Zunahme antisemitischer und fremdenfeindlicher Straftaten stellten die Redakteure die Frage, wie die Empörung – die sicherlich nötig sei, aber dem Empörten ein gutes Gewissen ohne große Anstrengung verschaffe – überwunden werden könne (ebd. 5). Die FNDIRP selbst organisierte Ausstellungen, Podiumsdiskussionen und Jugendaustausche, stellte aber ebenso fest, dass diese zwar nützlich, jedoch gleichzeitig nur unzureichende Tropfen auf den heißen Stein seien. Als Lösungen schlugen ihre Verantwortlichen daher unter anderem vor, Denkmalund Grabschänder aktiv zu verfolgen und zu verurteilen, die Verantwortlichen von Verbrechen gegen die Menschlichkeit – wie Touvier, Papon und Bousquet – zur Rechenschaft zu ziehen und schließlich die Gesetzestexte zur Verhinderung rassistischer und ausländerfeindlicher Propaganda wie auch der Verharmlosung und Leugnung der Naziverbrechen konsequent anzuwenden. Der Appell der Titelzeile war folglich nicht nur an die Mitglieder der FNDIRP, sondern auch an Gesetzgeber, Polizei und Justiz gerichtet. Und diese reagierten. Noch im selben Monat wurde das sogenannte Gayssot-Gesetz verabschiedet, welches rassistische, antisemitische und fremdenfeindliche Äußerungen unter Strafe stellte. Paul Touvier und Maurice Papon wurden in den Folgejahren vor Gericht gestellt. Innerhalb aller Vereinigungen des mouvement déporté stellte sich ebenso die Frage des Engagements, das aus der Empörung erwächst. Ein gemeinsames Anliegen, das die ideologisch-politischen Auseinandersetzungen des Kalten Krieges in den Hintergrund treten ließ, war der gemeinsame Kampf gegen die „négationnistes“ und deren Thesen. Die Verharmlosung und Leugnung des Massenmordes an den europäischen Juden existierte dabei schon seit der unmittelbaren Nachkriegszeit. 13 Ein erster messbarer Anstieg war während des Eichmann-Prozesses (1961-62) feststellbar. Große öffentliche Aufmerksamkeit bekamen die Holocaustleugner in Frankreich jedoch erst ab Ende der 1970er Jahre, zu einem Zeitpunkt, als die Fernsehserie HOLO14 CAUST weitreichende Debatten in den USA und Europa auslöste. Nach dem Schock und einer ersten Konsternation angesichts der Negierung ihres Leidens und des millionenfachen Mordens entstand schnell eine kollektive Aktivität der KZ-Überlebenden und ihrer Vereinigungen gegen dieses Phänomen. Sie wurden dabei auf mehreren Ebenen tätig. Zum ersten wurden von den Häftlingsverbänden Prozesse gegen Robert Faurisson und weitere Holocaustleugner angestrengt. Des

13 Damals tat sich vor allem der Buchenwald- und Dora-Überlebende Paul Rassinier hervor, der in seinem Buch Le Mensonge d’Ulysse. Regard sur la littérature concentrationnaire (1950) prominente Mithäftlinge angriff und erste Zweifel an der Existenz der Gaskammern äußerte. Rassiniers Falschinformationen und Halbwahrheiten wurden widerlegt, zudem wurde er gerichtlich verurteilt. Aufgrund seiner Identität als KZ-Häftling machten ihn die Holocaustleugner in den folgenden Jahrzehnten jedoch zum Kronzeugen ihrer Sache. 14 Es ist auffällig, dass diese Versuche, die Verfolgung und Vernichtung von sechs Millionen Juden zu banalisieren oder zu leugnen, genau dann auftraten, als sich deren Wahrnehmung in der Öffentlichkeit verstärkte.

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Weiteren unternahmen die Überlebenden Recherchen, um die Behauptungen der „négationnistes“ zu widerlegen. Im Jahre 1982 wurde daher das von Hermann Langbein geleitete Comité d’études sur l’extermination en Allemagne entre 1939 et 1945 gegründet, dem unter anderem die französischen KZ-Überlebenden Germaine Tillion, Serge Choumoff und Georges Wellers angehörten. Aus ihrer Arbeit ging das Buch Nationalsozialistische Massentötungen durch Giftgas hervor, welches 1983 in Deutschland und ein Jahr später in Frankreich unter dem Titel Les chambres à gaz. Secret d’État erschien. 15 Schließlich begann eine große Zahl von Überlebenden, die bis dahin ihre KZ-Erfahrungen höchstens im Kreise der ehemaligen Mithäftlinge geteilt hatten, darüber öffentlich Zeugnis abzulegen. 16 Neben der zunehmenden Aufnahme ihrer „témoignages“ auf Audio- und Videokassetten, stieg auch die Veröffentlichung von Erinnerungsberichten deutlich an (Mannarino 1994: 374). Selbst Überlebende, die sich bis dahin beharrlich geweigert hatten, über ihre KZ-Haft zu sprechen, erklärten sich nun bereit, vor Kindern und Jugendlichen Rede und Antwort zu stehen. Neben der persönlichen Motivation, die Verbrechen und deren Opfer nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, übten auch die Häftlingsvereinigungen mit Verweis auf die „Pflicht zu erinnern“ 17 einen gewissen Druck aus. Wut und Empörung, die auf der Erfahrung von Verfolgung, Repression und Deportation beruhten, und das daraus entstehende Engagement kamen jedoch auch auf persönlicher Ebene und außerhalb der Häftlingsvereinigungen zum Tragen. So beteiligte Charles Palant sich 1949 an der Gründung des Mouvement contre le racisme, l’antisémitisme et pour la paix (MRAP), dessen Generalsekretär er von 1950 bis 1971 war. Germaine Tillion baute angesichts des Elends der algerischen Bevölkerung zwischen 1955 und 1962 120 Sozialzentren in ganz Algerien auf. Ihre Kameradin Geneviève de Gaulle war neben ihrer Tätigkeit als Präsidentin der weiblichen Häftlingsvereinigung ADIR mehr als 30 Jahre Vorsitzende der Hilfsorganisation ATD Quart Monde. Und auch Stéphane Hessel hatte sich schon vor seiner weltweiten Bekanntheit für diverse Anliegen engagiert. Seit den 1990er Jahren setzte er sich für die Sache der „sans-papiers“, Einwanderer ohne Aufenthaltstitel, in Frankreich ein. Angesichts der zunehmenden Wirtschaftsliberalisierung und Entsolidarisierung der Gesellschaft engagierte er sich ab Mitte der 2000er Jahre ebenso gegen Sozialabbau und Präkarisierung der Arbeitsverhältnisse. Gemeinsam mit bedeutenden Widerstandskämpfern wie Lucie und Raymond Aubrac, Daniel Cordier oder Germaine Tillion startete er zum 60. Jahrestag der Gründung des Conseil National de la Résistance einen Aufruf zur Bewahrung von dessen sozialen Errungenschaften. In diesem Engagement wurzelte schließlich die Broschüre, die ihn weltberühmt machte. Seinem Bestseller Indignez-vous! ließ Hessel schließlich noch das Büchlein Engagez-vous! folgen.

15 Einige Überlebende hielten der Historikerzunft vor, dass die Holocaustleugnung erst möglich wurde, weil diese ihre Arbeit nicht getan hätte, weswegen die Opfer der Verbrechen diese Geschichte aufarbeiten müssten. Es ist jedoch zu betonen, dass dieser Forschungsgruppe auch Historiker wie Wolfgang Benz, Norbert Frei und Falk Pingel angehörten. 16 Zur Entwicklung der Rolle des Zeitzeugen seit dem Zweiten Weltkrieg siehe Wieviorka (2002). 17 Eine Auseinandersetzung mit dem „devoir de mémoire“ liefert Lalieu (2001).

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F AZIT Kommen wir nun zu den eingangs dargelegten Fragestellungen zurück. Beim Blick auf die wichtigsten Anlässe der Empörung wurden schon einige Ursachen und Ziele angeschnitten. Empörung entstand dabei in Momenten, in denen die Überlebenden ihre Ziele und Wünsche für die Zukunft gefährdet sahen, für die sie sich im Widerstand engagiert oder aber die sie nach ihrer Befreiung aus der KZ-Haft proklamiert hatten. Der „Schwur von Buchenwald“ als bekanntestes Beispiel kollektiv ausgedrückter Vorsätze der Überlebenden ist dabei sehr aussagekräftig, denn dessen Hauptziele sind identisch mit den drei herausgearbeiteten Auslösern der Empörung. Der Wille zur Bestrafung der Täter wurde dabei mit den Worten beschworen, dass der Kampf erst eingestellt werde, wenn auch der letzte Schuldige vor den Richtern der Völker stehe. Des Weiteren wurde die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln als Losung der Überlebenden genannt, was ihre starke Wachsamkeit gegenüber einer Wiederkehr jeglicher Phänomene hervorrief, unter denen sie selbst gelitten hatten. Das dritte geäußerte Ziel war schließlich der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit. Das Spaltpotential dieser Vision haben wir gezeigt. Neben der „natürlichen“, eher spontanen Form der Empörung, die das Bekanntwerden eines Ereignisses oder das Bewusstwerden einer gesellschaftlichen oder politischen Entwicklung auslösten, war die Empörung der Überlebenden in vielen Fällen jedoch auch rhetorischer Natur. Gerade im Kontext des Kalten Krieges wurden Skandale und Affären absichtlich hervorgerufen bzw. diskursiv als solche dargestellt. Um deren Wirkung zu verstärken, stellten beide Seiten gezielt Analogien und Kontinuitäten zu den Verbrechen der Nazis oder ihrer Kollaborateure her. Das Ziel war dabei, in der öffentlichen Meinung Empörung auszulösen und dadurch die politischen Entscheidungsträger zum Handeln zu zwingen. Diese Strategie ging vielfach auf, zumal sich die ehemaligen KZ-Häftlinge auf ihren Status als moralische Instanz verlassen konnten.

L ITERATUR Amicale d’Auschwitz (1945a): „Au Président du Tribunal de Lunebourg“, in: Après Auschwitz Nr. 4, Oktober 1945, S. 3. Amicale d’Auschwitz (1945b): „Le procès de Lunebourg n’est pas terminé“, in: Après Auschwitz Nr. 5, Oktober-November 1945, S. 3. Debeaumarché, Edmond (1951): „Anniversaire“, in: Le Déporté Nr. 36-37, Mai-Juni 1951, S. 1-2. de Gaulle, Geneviève (1947): L’Allemagne jugée par Ravensbrück, Paris: Les Grandes Éditions Françaises. FNDIRP (1957): „Speidel: un Général nazi“, in: Le Patriote Résistant Nr. 208, Februar 1957, S. 8. FNDIRP (1990): „L’indignation ne suffit pas“, in: Le Patriote Résistant Nr. 609, Juli 1990, S. 1 und 5. FNDIRP (1991): „L’impossible compromis“, in: Le Patriote Résistant Nr. 623, September 1991, S. 4.

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Die Neue Zeitung, la France, l’idée européenne dans l’immédiat après-guerre D OMINIQUE H ERBET

Depuis la crise de 2008, crise de la dette, de nombreux observateurs ont remis en cause les convictions européennes d’Angela Merkel, à l’instar de son mentor Helmut Kohl (Herbet 2012 : 75-86). Née à l’Est, elle n’aurait ni mémoire des combats menés par les pères de l’Europe ni la conviction que la construction européenne a apporté au Vieux continent une ère de paix et de prospérité. Si l’idée européenne a émergé bien avant le XXe siècle, sa concrétisation est une conséquence directe de la volonté des hommes politiques après 1945 de tirer les conséquences de la catastrophe. Die Neue Zeitung (dans la suite du texte DNZ) parut de 1945 à 1955 (1955 pour l’édition de Berlin) en tant que « journal américain pour la population allemande » (son sous-titre) avec un tirage de 500.000 exemplaires en 1945 puis 1,5 million dès 1946. Il fut de 1945 à 1949 l’organe officiel du gouvernement militaire américain en zone d’occupation US (Herbet 1997 : 47-48). Cité comme un modèle pour la presse allemande dans l’ouvrage de l’historien Manfred Görtemaker (Herbet 2011 : 427 et Herbet 1997 : 47), il resta dans l’esprit de nombreux Allemands ayant vécu en zone américaine dans l’immédiat après-guerre comme un journal de très haut niveau qui montra la voie à la presse allemande. En effet, si le journal ne manqua pas de présenter la politique d’occupation américaine comme la meilleure possible (Herbet 1997 : 185-192), la rédaction entreprit de créer les conditions d’un débat ouvrant la voie à la reconstruction d’une Allemagne démocratique, remplissant en cela aussi sa mission de rééducation : il favorisa progressivement l’émergence d’un point de vue allemand, tout comme d’une opinion publique transnationale. Avec la Guerre froide, DNZ et son édition de Berlin furent aussi aux avant-postes de l’offensive en faveur d’un monde libre et d’une presse libre : la rédaction prit précocement conscience de l’émergence d’un monde bipolaire, qui allait à l’encontre d’une grande Europe unifiée et pacifiée. Quelle conception de la reconstruction démocratique et de l’Europe a pu véhiculer un journal américain édité par l’armée américaine ? Quelle place la rédaction donna-t-elle aux Alliés occidentaux des États-Unis, notamment à la France, pays voisin de l’Allemagne ? Bien que le corpus soit vaste, la méthode employée n’est pas celle de l’analyse quantitative et la présente étude cible prioritairement les « unes », les articles de commentaire ou éditoriaux du rédacteur en chef ou des grands éditorialistes. Elle est axée autour de la place de l’idée européenne dans la perspective de la

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rééducation du peuple allemand, de l’image que put donner le journal de la politique d’occupation française et de la France en général, et enfin de l’émergence d’une dynamique favorable à la construction européenne : l’objectif est aussi de cerner la ligne éditoriale de DNZ, entre formation de l’opinion publique et reflet de cette opinion publique dans le contexte particulier de l’immédiat après-guerre et de l’occupation.

C ONTEXTE

RESOLUMENT EUROPEEN DE LA REEDUCATION DES A LLEMANDS Après la Seconde Guerre mondiale, le règlement des questions politiques, territoriales et de reconstruction ne pouvait se concevoir qu’à l’échelle mondiale, mais avec, en préalable, le rétablissement d’un ordre européen, puis comme but ultime la paix dans le monde. En Allemagne, la priorité des Alliés consista à éradiquer le national-socialisme et surtout toute forme de nationalisme. La mission de DNZ fut présentée à la une du premier numéro par le général D.D. Eisenhower 1 : elle consistait notamment à « élargir l’horizon » du lecteur. Mais concernant l’ordre européen, la question des expulsions forcées des Allemands des territoires de l’Est ou des Sudètes aurait pu se trouver occultée. Or, en page trois de la première édition de DNZ 2, la rédaction se confronta et confronta ses lecteurs au « problème des minorités allemandes », à partir d’une interview du président Benes. L’article mentionnait que 300.000 Allemands seraient autorisés à ne pas quitter la Tchécoslovaquie, mais que les autres y seraient contraints, que par ailleurs que le gouvernement britannique sous Attlee ne se sentait pas obligé de reconnaître la frontière Oder-Neiße et avait demandé à ce que plus aucun Allemand ne soit expulsé. Il s’ensuivait une mise en contexte, où l’on apprenait que le gouvernement militaire américain exigeait que tous les Allemands de souche se trouvant en Autriche regagnent la zone d’occupation américaine, à quelques exceptions près, ce qui renvoyait aux millions de personnes déplacées et donc sur les routes à cette date. Il n’est pas pertinent d’analyser ici le traitement de la fuite et des expulsions des Allemands dans DNZ, mais ce choix éditorial relève d’une approche résolument globale et européenne de la situation de l’immédiat après-guerre. Il semble justifié de voir aussi dans la priorité donnée à cette question l’émergence d’un point de vue allemand. Sur la même page, une carte permettait en effet de visualiser les questions territoriales en suspens en Europe. L’information sur les expulsions resta dense jusqu’en juin 1946, ce en quoi DNZ remplit bien la mission assignée : informer les Allemands des événements que la propagande nazie avait occultés pendant les douze années de dictature et les derniers mois de la guerre. Ce faisant, il n’hésita pas à critiquer la politique de l’Allié soviétique, qui avait placé les territoires par-delà la ligne Oder-Neiße sous administration polonaise, et prenait le risque d’opposer les Alliés entre eux, ce qui était aussi interdit à la presse sous licence. Or, DNZ devait faire fonction de modèle pour la presse alle-

1 2

Dwight D. Eisenhower: « General Eisenhower an Die Neue Zeitung. Opening words/Zum Geleit », in : DNZ, 18.10.1945, p. 1. « Das Problem der deutsche Minderheiten », in : DNZ, 18.10.1945, p. 3.

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mande, selon les directives de D.D. Eisenhower, et la rédaction aurait dû se conformer à cette règle. Mais la récurrence du thème prouve la priorité donnée à l’« amour de la vérité » (Eisenhower) et, très rapidement, à une démarcation par rapport au régime soviétique et en zone Est. Les Alliés s’étaient préparés à une occupation longue, mais les premières élections municipales eurent lieu début 1946 en zone d’occupation américaine. À la une du numéro 2 figuraient les résultats des élections en France, mais aussi en Italie, en Pologne et en Norvège ; ce fut également le cas en page deux du dernier numéro de novembre, sous un titre explicite, « Des résultats d’élections européens » 3. La position d’une information à la une est toujours révélatrice, elle l’était encore plus dans le contexte du rationnement de papier qui prévalut jusqu’en 1947, au moins. Certes, DNZ fut toujours privilégié en tant qu’organe officiel, mais il parut tout d’abord seulement deux fois par semaine et avec un volume de six à huit pages (Herbet 1997 : 47-48). Le reportage à la une incluait un paragraphe sur « la question allemande » vue de France, comme enjeu des élections en France, et l’auteur reprenait le leitmotiv de l’occupant français, à savoir la nécessité d’une occupation longue pour éradiquer le national-socialisme et d’un contrôle international de l’industrie de guerre allemande. De tels reportages étaient destinés à lancer le débat démocratique en zone américaine. La politique d’occupation des Alliés prévoyait de relancer l’économie allemande, mais le niveau de vie des Allemands ne devait en aucun cas être supérieur à celui des pays voisins. Ainsi dans le troisième numéro, un nouveau reportage sur « l’Europe d’aujourd’hui » informait de la situation en Hongrie (pays qui avait combattu aux côtés de l’Allemagne) et de la Hollande qui pourrait « entrer dans l’Histoire » comme « pays martyr », car après avoir subi la famine sous Hitler, un « pillage » total « par les Allemands dans les derniers mois de l’occupation », les « conditions de vie en général étaient mauvaises, bien pires même qu’en Allemagne » 4. Le problème de la pénurie de nourriture et du rationnement fut présenté sur une carte de l’Europe à la une, début 1946 5 : celle-ci montrait qu’en Grande-Bretagne et en Suède, la quantité de calories par jour dépassait 2500, alors qu’elle était inférieure à 2000 en Allemagne, Autriche, Espagne et Italie, n’atteignant que 2000 en France, contre 2500 en Pologne et au Benelux, donc dans des pays voisins de l’Allemagne. Entre reflet des souffrances de la population allemande, qui se plaignait du rationnement, et obligation pour l’Allemagne d’ouvrir les yeux et d’endosser la responsabilité de la situation, il s’agissait aussi de mettre en garde contre un « risque de famine », dont on sait qu’il eut une influence décisive dans les décisions américaines du début 1947, telles que la création de la bizone puis l’annonce du plan Marshall, afin d’endiguer l’expansion communiste. Toujours dans une optique de visualisation de la situation en Europe, et non seulement en Allemagne, la une du 27 mai 1946 présenta à nouveau la carte des questions territoriales en suspens, laquelle fut conçue comme une introduction à l’article

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« Wahlsieg der Linken in Frankreich », in : DNZ, 25.10.1945, p. 1 ; « Europäische Wahlresultate », ibid., 30.11.1945, p. 2. « Europa heute », in: DNZ, 04.11.1945, p. 2. Notkomitee für Wirtschaftsfragen in Europa, 01.03.1946, p. 1.

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de la page deux : « Comment évoluent les nouvelles frontières de l’Europe ? » 6. DNZ introduisit « la question allemande » en évoquant en préambule « la catastrophe la plus grave de l’histoire de l’humanité provoquée par Hitler », ainsi que les erreurs commises à la fin de la Première Guerre mondiale qui justifiaient que l’on ne rétablisse pas seulement le statu quo ante. Mais la perspective différait déjà en raison de l’émergence d’une Europe de l’Est politique 7. L’auteur, Hans Wallenberg, successeur du premier rédacteur en chef, Hans Habe, avait dirigé Die Allgemeine Zeitung à Berlin jusqu’au 11 novembre 1945 (Herbet 1997 : 67) et connaissait parfaitement la situation de la zone Est. Son éditorial était très nuancé, même si l’Union soviétique se trouva mise en cause par des soupçons qu’il prit certes la précaution de réfuter, en partie en se référant à des tiers : l’URSS n’interviendrait dans les États voisins que pour éviter l’accession au pouvoir de « gouvernements antisoviétiques », tandis qu’en Pologne la situation peu stable à l’Ouest du pays ne permettrait pas la tenue d’élections, selon une déclaration faite par le secrétaire d’État aux Affaires étrangères devant le Parlement britannique. L’on « ne pouvait nier un certain contrôle de la presse », même s’il n’y avait « pas de preuve de censure ». L’article précisait aussi qu’un député conservateur avait émis l’idée que le gouvernement polonais se trouvait sous contrôle de l’URSS et n’avait pas le soutien du peuple. Un mois plus tard, en juin 1946, un long reportage acta des « modifications de la structure politique de l’Europe » à partir d’un nouveau bilan des résultats électoraux récents 8 : le journal effectua un tour d’Europe et constata que, si « de nouvelles configurations politiques émergeaient », les peuples européens votaient de telle sorte que l’on puisse annoncer « le dépassement de la théorie des classes », ce qu’il résuma avec un sous-titre prudent, « En quête d’une ligne médiane ». À un autre niveau que le « libéralisme démocratique » caractéristique de la vie politique américaine, la nouvelle configuration réunissait, selon l’auteur, socialisme et christianisme. Ces accents préfiguraient déjà la ligne de 1947, avec la défense du monde libre (doctrine Truman de mars 1947) et du libre-échange (plan Marshall). Si la perspective était donc tout sauf nationale (la Revue de politique intérieure alternait du reste avec celle de politique extérieure), l’accueil des lecteurs fut très positif, même s’il est difficile de mesurer l’impact d’une ligne éditoriale : le chiffre des ventes doit aussi être relativisé en période de restriction de papier, mais à cette époque on comptait au moins cinq lecteurs par exemplaire vendu et les archives confirment que les lettres de lecteurs furent abondantes. Enfin les témoignages de la génération d’après-guerre confortent l’idée d’ « un haut niveau de journalisme » tel que D.D. Eisenhower l’avait appelé de ses vœux. Ce haut niveau de journalisme fut du reste possible dès 1945, dans la mesure où DNZ disposait des moyens logistiques, financiers et d’information de l’armée américaine. Ainsi les nombreux articles cités sans nom d’auteur correspondent-ils à des reportages ou des sources obtenues directement par la rédaction, le nom de l’agence de presse figurant au début dans les autres cas. Le gouvernement militaire, qui scrutait l’information publiée dans les colonnes du journal (cf. infra), a donc pleinement soutenu cette ligne d’ouverture à l’Europe qui fut partie intégrante de la rééducation des Allemands sur la voie d’une 6 7 8

« Europas neue Grenzen im Werden », in : DNZ, 27.06.1946, p. 1-2. Hans Wallenberg : « Wahlen in Osteuropa », in : DNZ, 14.12.1945, p. 2. « Wandlung der politischen Struktur Europas », in : DNZ, 24.06.1946, p. 2.

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reconstruction démocratique. Cette ligne fut complémentaire de la volonté américaine visant à décentraliser, puis ultérieurement à imposer le fédéralisme à l’Ouest de l’Allemagne. DNZ a ainsi formé une génération d’Allemands favorable à une Allemagne démocratique et européenne dans la lignée des appels lancés par Thomas Mann 9, dans les rangs de laquelle on pouvait compter ses propres rédacteurs allemands tels Egon Bahr, Hildegard Hamm-Brücher, Leopold Goldschmidt ou encore Peter Boenisch (Herbet 1997 : 72), qui jouèrent un rôle important dans la vie politique allemande et l’évolution de la République fédérale.

L’ IMAGE

DE LA

F RANCE

ET DE L ’ OCCUPANT FRANÇAIS

Il ressort de l’analyse précédente que DNZ a très tôt critiqué la politique de l’URSS. Mais les intérêts de la France différaient aussi de ceux des États-Unis et de la Grande-Bretagne. La France n’avait pas été invitée à la conférence de Potsdam (17 juillet-2 août 1945), or dès le premier numéro, DNZ publia une rubrique « Nouvelles de toutes les zones occupées », dont la zone française était exclue, ce qui pouvait laisser croire que la politique de l’occupant français n’avait pas sa place dans l’organe officiel. À Potsdam, les Alliés ne s’étaient pas mis d’accord sur la question du gouvernement central et le journal revint régulièrement sur ce problème en raison de l’attitude négative de la France, comme dans la « Revue de politique internationale » rédigée par Spectator (un des éditorialistes du journal), où ce sujet figurait parmi les trois thèmes traités sur une page entière en novembre 1945 10. Le journaliste se référa au ministre des Affaires étrangères, Georges Bidault, qui avait déclaré que « la France continuera(-it) de s’opposer à la création d’un gouvernement central allemand ». DNZ expliqua cette position par le fait que les Français n’accepteraient une telle décision que si elle répondait aux nécessités de « sécurité collective » et si elle était donc issue d’une conférence rassemblant tous les pays concernés : or, rappela-til, la France n’avait pas été invitée à Potsdam, ce qui revenait à justifier le refus français. Dans l’édition suivante, la question faisait la une sous un titre volontairement incisif et provocant : « la France souhait(-ait) une internationalisation de la région de la Ruhr » 11. L’article était axé sur le soutien des Britanniques à une administration centrale, « rien ne justifiant que l’on considérât les séparations entre les zones d’occupation comme des frontières permanentes ». H. Wallenberg consacra l’intégralité de sa revue de politique internationale du 23 mars 1946 à ce thème 12, car G. Bidault persistait à exiger « l’internationalisation de la Rhénanie et un contrôle interallié permanent sur la région de la Ruhr ». Alors que le ministre des Affaires étrangères américain, James Byrnes, plaidait pour la création d’une administration centrale afin de vraiment mettre en œuvre tous les objectifs de l’occupation, le journal insista sur le contexte particulier des discussions, dans la mesure où la France négociait un prêt de 2,5 milliards de dollars avec les États-Unis. Malgré cette allusion à l’hégé9 « Thomas Mann für Föderation », in : DNZ, 19.05.1947, p. 5. 10 Spectator : « Problem der Zentralregierung », in : DNZ (Weltpolitische Rundschau), 11.11.1945, p. 2. 11 « Für eine Zentralregierung », in: DNZ, 15.11.1945, p. 1. 12 Hans Wallenberg, « Links und rechts vom Rhein », in : DNZ, 23.03.1946, p. 2.

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monie américaine, la position de la rédaction fut toutefois très nuancée puisque la revue intégra un dessin publié dans un journal anglais qui revendiquait « l’industrie de la Ruhr pour toute l’Europe », la légende précisant toutefois que cela « ne permettait pas de tirer des conclusions quant au point de vue du gouvernement britannique ». À côté des articles ou commentaires, la rédaction privilégia aussi des éclairages multiples, avec la parution à la une d’un manifeste de socialistes français qui s’opposaient à une attitude intransigeante sur la question du Rhin et de la Ruhr, dès avril 1946 13 ; le sous-titre souligna leur rejet d’une « séparation du monde en zones d’influence ». DNZ releva donc leur position plus conciliante, car s’ils rejetaient toute annexion territoriale, ils limitaient seulement dans le temps l’internationalisation de la Ruhr, laquelle devait permettre le paiement de réparations. Enfin, l’article mentionnait les pressions d’Harry Truman visant à l’instauration d’une administration centrale en Allemagne, avant que ne soit tranché le statut de la Ruhr. De fait, la une du 12 avril fustigea une « France (qui) reste inflexible » 14. Ces informations ne pouvaient que conforter l’image des Américains comme de meilleurs occupants, sans que l’on puisse qualifier l’information de propagande anti-française, dans la mesure où les intérêts français étaient bien exposés. On trouvait en effet également une prise de position du bloc des partis antifascistes de la zone Est, qui se tournaient vers le Conseil de contrôle interallié afin de ne pas « mettre en danger l’évolution vers un ordre nouveau, une nouvelle démocratie allemande ». DNZ évoqua la personnalité du général de Gaulle et son influence dans cette attitude intransigeante. Même si le « retrait de De Gaulle » avait été annoncé en novembre, avec une mise en cause explicite des délégués communistes en sous-titre, puisqu’il n’avait pas réussi à former un gouvernement avec eux et n’avait pas de majorité sans eux 15, la une de l’édition du 17 décembre comporta une interview du Général dont l’essentiel des déclarations concernait la mise en place d’une administration centrale allemande, dont débattait la conférence de Moscou (les trois Alliés victorieux). Il annonça que ses décisions ne seraient pas respectées par la France dès lors qu’elles concerneraient celle-ci 16. Enfin en revenant sur sa visite en zone d’occupation française, de Gaulle résuma la position de l’occupant français au moins jusqu’en 1947 : il mit ainsi en garde des régions (allemandes) « qui doivent maintenant vivre avec nous », insistant sur le voisinage proche et martelant qu’après « trois invasions », « nous ne voulons plus de Reich allemand ». Dans un nouvel ordre mondial (la bipolarité se dessinant assez rapidement, puisque les élections communales à Berlin eurent lieu en octobre 1946), la France avait vocation à être le pilier de la reconstruction européenne sur le continent, ce qui devint bien perceptible en 1946 : une série fut consacrée en juillet 1946 aux « ÉtatsUnis et l’Europe » 17, déclinée en trois volets (États-Unis et Grande-Bretagne, ÉtatsUnis et France, États-Unis et URSS). Le titre même de la série actait la position de grande puissance des États-Unis, le second volet célébrant « les relations extrême13 14 15 16 17

DANA, BBC: « Manifest französischer Sozialisten », in : DNZ, 05.04.1946, p. 1. UP.DPD.AP: « Frankreich bleibt unbeugsam », in : DNZ, 12.04.1945, p. 1. « De Gaulle zurückgetreten », in : DNZ, 18.11.1945, p. 2. « Interview mit de Gaulle », in : DNZ, 17.12.1945, p. 1. « Die Vereinigten Staaten und Europa », in : DNZ, 26.07.1946, p. 2 ; 29.07.1946, p. 2 ; 16.08.1946.

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ment amicales » entre France et États-Unis, ainsi que l’octroi d’un prêt de 1380 millions de dollars, qui supposait certes un alignement sur la politique commerciale américaine (libre échange) et laissait augurer d’un ancrage de la France dans « le camp occidental ». À travers ces informations, le message à destination du peuple allemand fut donc aussi très clair : ce fut celui du discours de H. Truman quelques mois plus tard, en mars 1947 (Containment), suivi de l’annonce du plan Marshall en juin 1947, évolution dont la création de la bizone avait été un premier indice. Un article publié à la mi-septembre opposa l’attitude de la France à celle de la Hollande, beaucoup plus pragmatique 18 : alors que le général Koenig venait de réitérer la méfiance ressentie envers le peuple occupé (« Les Allemands ne comprendraient les avantages de la démocratie » que « dans 30 ou 40 ans »), le ministre des Affaires étrangères néerlandais prôna la reconstruction économique de l’Allemagne, même si « une Allemagne forte économiquement pouvait représenter un danger », car « une Allemagne appauvrie » pourrait aussi « être emportée par des mouvements sociaux et politiques extrémistes ». Pourtant on ne peut en aucun cas parler d’un parti-pris antifrançais : l’image de la France fut double dans la mesure où Hans Wallenberg consacra par ailleurs une rubrique de politique internationale au travail sur la constitution française de la IVe République, la situant dans la tradition politique des Lumières 19 : il s’agissait d’un processus « important pour toute l’Europe » dans la mesure où « au pays de la démocratie bourgeoise classique », on entreprenait de reformuler les Droits de l’Homme. De surcroît, la nouvelle constitution prévoyait une délégation possible de souveraineté « au bénéfice de l’édification et du maintien de la paix dans le monde », ce qui devait permettre à l’ONU, créée en 1945 lors de la conférence de San Francisco (avril à juin), de jouer pleinement son rôle. La rédaction publia même sur une page entière « l’intégralité du texte de la constitution la plus moderne d’Europe » 20 : texte que les Français récusèrent lors d’un référendum dont la nouvelle parut en dernière page. Il est patent que ce fut la présentation du débat en France qui importa au DNZ, dans la mesure où il préfigurait celui qui devrait avoir lieu un jour en Allemagne. Enfin, la partie culturelle dirigée par Erich Kästner fit la part belle à la culture française. Et si le gouvernement militaire américain reprocha à la rédaction sous Hans Habe ou Hans Wallenberg de ne pas promouvoir la culture américaine au profit de la culture allemande (Herbet 1997 : 34-37) 21, il aurait pu arguer également d’une place importante octroyée à la France et à la culture française : dès la première édition, le lecteur put lire quelques aphorismes politiques de Paul Valéry, tandis que l’édition du 3 décembre 1945, par exemple, présenta « Paris (qui) sourit de nouveau » et un extrait du roman La condition humaine d’André Malraux (Feuilleton). 18 « Frankreich, Holland, Deutschland », in : DNZ, 16.09.1946, p. 5. 19 Hans Wallenberg, « Menschenrechte », in : DNZ, 01.03.1946, p. 2 ; « Statut der Menschenrechte. Ein Dokument der Demokratie », in : DNZ, 26.04.1946, p. 2. 20 « Das Wortlaut der modernsten Verfassung Europas », in : DNZ, p. 4 ; « Frankreich sagt Nein », ibid. 10.05.1946, p. 8. 21 « Increase coverage of the United States, perhaps setting up an American editor whose main or perhaps sole task will be to uncover for American news and see that it gets in the paper », ici p. 37 (OMGUS-5/236-1-17).

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Dans « La vie parisienne d’aujourd’hui », publié à l’occasion de l’anniversaire de la libération du pays, le correspondant parisien dépeignit la reprise de la vie économique dans un contexte très difficile, n’hésitant pas à évoquer « le pillage » par les Allemands 22. Une tendance que le lecteur retrouva dans l’édition de Noël 1945, lorsque DNZ fit le tour des capitales dont Paris : la rédaction ancra donc à nouveau l’actualité dans un contexte européen et proposa en effet « des reportages de Noël de toute l’Europe », soulignant encore la « transition lente » à Paris, qui souffrait du froid et concentrait une grande partie des problèmes de reconstruction. Comme en témoigna par ailleurs clairement l’article d’un correspondant parisien traitant de l’image de l’Allemagne en France, les relations avec le voisin français devaient se placer au niveau de l’Europe : celui-ci évoqua des Français qui « s’occupaient des questions européennes et cherchaient une organisation raisonnable pour la cohabitation des peuples » et pour lesquels les Allemands étaient « partie intégrante et majeure des peuples européens et il s’agissait donc seulement de les intégrer de la bonne manière » 23. L’auteur souligna en conclusion que « la France ne souhait(-ait) pas l’anéantissement de l’Allemagne », mais qu’elle était actuellement « pleine de défiance et d’une profonde inquiétude ». Dans ce cas encore, l’entreprise de rééducation prima, avec pour constat : « Après tout ce qui s’est passé, cette attitude n’est que trop compréhensible et devrait être comprise en Allemagne et non confondue avec du chauvinisme et une volonté de vengeance ». Le ton moralisateur s’avérait caractéristique du style adopté par les Américains en matière de rééducation : il revenait aux Allemands « de faire la preuve que ces inquiétudes étaient infondées et de s’efforcer sérieusement de trouver la voie d’une collaboration pacifique des peuples européens ». La France avait, en tant que puissance occupante, des intérêts divergents par rapport aux États-Unis et à la Grande-Bretagne, dans la mesure où les deux peuples étaient voisins et s’étaient opposés lors de trois guerres successives en moins d’un siècle. DNZ prit acte du frein à la reconstruction que put représenter la politique d’occupation française ; toutefois la ligne de la rédaction se caractérisa par un soutien marqué à la politique américaine, tout en fournissant une information argumentée et nuancée sur la politique d’occupation française et la France, le fil rouge de l’information étant l’Europe, un projet qui restait à définir.

L ES É TATS -U NIS D ’E UROPE DNZ fut fait de 1945 à 1947 par des Germano-Américains, d’anciens journalistes et écrivains formés dans un camp comme Camp Ritchie (Herbet 1997 : 24, 64-65) et acquis à l’idée européenne dans le but de garantir la paix en Europe, à l’instar de nombreux intellectuels allemands de la République de Weimar, au premier rang desquels figurait Kurt Tucholsky. Les partis politiques reprirent aussi l’idée européenne déjà popularisée au début du XXe siècle, ce dont la rédaction se fit l’écho. En avril 22 Kurt Kornicker, « Pariser Leben von heute », in : DNZ, 10.05.1946, Feuilleton. 23 « Wie denkt Frankreich über Deutschland », in : DNZ, 01.07.1946, p. 2, cf. aussi « Franzosen über Deutschland », ibid., 23.12.1946, p. 4 où une opposition frappante ressort avec l’article placé juste au-dessus : « Wie die Amerikaner zu Deutschland stehen ».

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1946, DNZ s’intéressa à deux déclarations de partis sarrois : le SPD et le Christliche Volkspartei de Sarre se prononcèrent en effet très précocement en faveur de la création « des États Unis d’Europe » comme « solution aux problèmes économiques » 24. Pour cette même raison, ils affirmaient également ne pas vouloir s’opposer au rattachement économique de la Sarre à la France, si cela devait améliorer la situation de la population, ce qui était très polémique. Peu de temps après, DNZ se fit l’écho de l’appel que lancèrent le comte autrichien Richard N. Coudenhove Karlegi et Fernando de Los Rios, ancien ambassadeur espagnol aux États-Unis, au secrétaire général de l’ONU, Trygve Lie 25. Ils avaient relancé une idée de l’entre-deux-guerres et se plaçaient aussi dans la lignée de la Déclaration des résistances européennes du 7 juillet 1944, à Genève, qui appelait à la création d'une union fédérale et disait notamment (Duroselle, Grosser 2015) : « Seule une union fédérale permettra la participation du peuple allemand à la vie européenne sans qu'il soit un danger pour les autres peuples ». L’idée de la Paneurope se fondait sur une union politico-économique et la rédaction revint sur l’histoire de l’idée européenne à travers les siècles dans un long essai. L’historien français Alfred Grosser souligna que, bien souvent, « on attribue l’idée première d’une union politique de l’Europe » à Winston Churchill 26. Dans le contexte évoqué précédemment, DNZ informa les Allemands de la teneur du discours de Churchill à Zurich en septembre 1946, sous le titre « Laissez cette Europe ressusciter ! », qui était aussi l’appel final lancé par l’ancien Premier ministre conservateur 27. Une introduction souligna « l’enthousiasme » avec lequel fut accueilli le discours, tandis que le sous-titre mettait en exergue l’objectif principal – et visionnaire – de l’orateur, les « États-Unis d’Europe ». En comparaison, le journal Die Zeit, publié en zone d’occupation britannique, opta pour un titre un peu ambigu pour rapporter son allocution : « L’appel de Cassandre » 28. À cette époque, W. Churchill n’était plus chef de gouvernement, mais il avait déjà prononcé un discours historique à Fulton, en mars 1946, dans lequel il définit le concept de « rideau de fer ». Die Zeit le présenta comme un homme doté « de courage », d’un « génie conceptuel » et surtout « respecté » dans son pays (selon le Times auquel il se référait). À Zurich, W. Churchill insista sur le fait que « la France et l’Allemagne, en tant que puissances réconciliées, devaient constituer le noyau central » de ces États-Unis d’Europe, dont l’objectif était de garantir « paix et sécurité ». L’article de DNZ présentait de larges extraits choisis du discours, un discours aux accents emphatiques parfois, lorsqu’il était question de la « tragédie de l’Europe », ce « noble continent […] source de la croyance chrétienne et de l’éthique chrétienne ». À deux reprises, il y fut question de « collaboration franco-allemande », ou de « premier pas de la reconstitution de la famille européenne (qui) doit être une association entre la France et l’Allemagne », lesquelles devaient « exercer ensemble le leadership », en lien avec « la famille des peuples britanniques, la puissante Amérique et avec […] la Russie soviétique » : Churchill dit à ce propos qu’il voulait croire au soutien de l’URSS à ce projet. En réalité, l’ouverture 24 25 26 27 28

« Saarparteien und Frankreich », in : DNZ, 22.04.1946, p. 1. « Paneuropa – Sehnsucht der Völker », in : DNZ, 31.05.1946, p. 3. Ibid. « Lasst dieses Europa auferstehen ! », in : DNZ, 23.09.1946, p. 6. « Churchills Kassandraruf », in : Die Zeit, 26.09.1946.

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des futurs États-Unis d’Europe à la Russie était d’ordre purement rhétorique, si l’on se référait à ses précédents discours 29 : la rédaction revint du reste sur ces derniers, évoquant les réactions d’Attlee, mais aussi de la Russie, qui toutes avaient été plutôt négatives mais pour des raisons différentes. Dans l’esprit de sa mission, DNZ mit l’accent sur la génération sacrifiée, celle des jeunes de 15 à 25 ans voire au-delà, et dédia une rubrique spécifique aux questions de la jeunesse, de son éducation ou rééducation. Et en août 1946, dans la partie culturelle du journal, DNZ publia le manifeste d’Alfred Andersch, « Le nouveau visage de la jeune Europe », qui était paru dans le premier numéro de Der Ruf 30. A. Andersch, écrivain, communiste, collabora régulièrement au journal. Son manifeste était un plaidoyer en faveur de l’idée européenne, car pour lui, « la jeune Europe ne pouvait exister sans la jeune Allemagne ». Peu de temps après, en lien avec la conférence de Paris et en parallèle à une dégradation des relations entre les États-Unis et l’URSS, DNZ réaffirma que « l’Europe avait besoin de l’Allemagne » 31, plaçant cette fois le discours à l’échelle générale d’un choix à faire par les Allemands, à savoir le choix du camp occidental. L’année 1947 fut particulièrement propice à l’idée d’unification européenne ou a minima d’une collaboration politique et économique renforcée, loin de tout protectionnisme, même s’il devenait de plus en plus évident que la coopération ne concernerait que l’Europe occidentale. Ainsi DNZ souligna-t-il la volonté des États-Unis de surmonter une division fatale en une, juste après l’annonce du plan Marshall, le 5 juin 1947 : « Marshall favorable à une Europe unie » ou « L’Europe lance les consultations sur le plan Marshall » 32, titres qui évitaient toutefois des accents de triomphalisme. Il insista aussi sur les nouvelles instructions données en juillet 1947 par Washington au général dirigeant l’occupation américaine, qui postulaient qu’ « une Europe ordonnée et prospère demand(-ait) la contribution économique d’une Allemagne stable et prospère ». De manière symbolique, le nom donné au plan Marshall « European Recovery Program » (ERP) mettait clairement en évidence les objectifs américains. Il est révélateur aussi qu’en août 1947, fut créée, à Montreux, l’Union européenne des fédéralistes sous l’impulsion d’Altiero Spinelli, incarcéré sous Mussolini, d’Eugen Kogon, interné pendant plusieurs années dans le camp de concentration de Buchenwald, et d’Henri Frenay, principal chef du mouvement de résistance Combat. Le même mois, la Conférence de Paris réunit 16 pays européens pour définir leurs besoins dans le cadre de l’ERP et le 16 avril 1948 fut signée la Convention de coopération économique européenne, que les trois commandants en chef des forces d’occupation américaines, britanniques et françaises, signèrent au nom des parties occidentales de l’Allemagne. Comme l’avaient exigé les États-Unis pour accorder leur aide, la Convention donna naissance à l’Organisation européenne de coopération 29 « Debatte um die Churchill-Rede », in : DNZ, 15.03.1946, p. 3. 30 « Das junge Europa formt sein Gesicht », in : DNZ, 19.08.1946, Feuilleton und KunstBeilage. 31 « Europa braucht Deutschland » (BBC), in : DNZ, 21.10.1946, p. 2. 32 « Marshall für ein Vereintes Europa », in : DNZ, 13.06.1947, p. 1 ; « UN wird Europahilfe unterstützen », ibid., 16.06.1947, p. 1 ; « Europa berät Marschall-Plan », ibid., 20.06.1947, p. 1.

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économique (O.E.C.E.). Dans les colonnes de DNZ, l’ERP devint alors un leitmotiv, la ligne éditoriale du journal relevant du reste de la campagne de propagande antisoviétique Talk Back lancée en automne 1947. En mai 1948, la rédaction publia un reportage d’Associated Press en page deux, soulignant « l’unité lors du congrès de La Haye » 33. Les pères fondateurs d’une union européenne y étaient en effet rassemblés autour de leur président d’honneur W. Churchill. Alors que les autres participants n’étaient pas nommés, mention était faite néanmoins d’une délégation allemande dirigée par Karl Arnold, ministre-président du Land de Rhénanie du Nord-Westphalie. Les Européens invitèrent « les gouvernements et les peuples à aliéner une partie de leur souveraineté nationale au profit d’une union européenne », ce que DNZ mit en exergue, et il cita Churchill, lequel avait évoqué « une Europe unie qui étend ses mains sous le signe de la fraternité et en consultation avec les grands États-Unis d’Amérique ». Le reportage mentionna aussi les « objectifs finaux de libre circulation du capital, d’unification des monnaies, de coordination des budgets et des conditions du crédit, d’une union douanière » et même « d’une commission sur les questions d’émigration ». La rédaction ne commenta guère le programme a posteriori nécessairement visionnaire des Paneuropéens, sans doute parce que les États-Unis n’y jouaient aucun rôle moteur et que, dans le contexte de la Guerre froide et du blocus soviétique de Berlin, priorité allait à l’ERP : le lecteur continua néanmoins d’être sensibilisé à l’idée de construction et d’intégration européenne et put surtout prendre conscience que l’Allemagne ou une partie de l’Allemagne allait rejoindre le concert des peuples européens. Organe officiel du gouvernement américain, DNZ a bénéficié du talent tout comme des convictions démocratiques et européennes des Germano-Américains concepteurs du journal. Ils mirent en avant les hommes et les femmes porteurs ou sympathisants d’un projet européen, sollicitant l’adhésion du lecteur allemand, ce en quoi il remplit à la fois sa mission d’information et de rééducation, et de formation d’une opinion publique éclairée. Aux antipodes d’une Europe allemande – comme sous le national-socialisme – il s’agissait de faire émerger l’Allemagne européenne afin de garantir la paix. DNZ a largement favorisé l’avènement de toute une génération acquise à la réconciliation franco-allemande et à l’intégration européenne.

S OURCES

ET BIBLIOGRAPHIE

Sources Die Neue Zeitung. Eine amerikanische Zeitung für die deutsche Bevölkerung (Münchner Ausgabe 1945-1951), Institut für Zeitgeschichte, München. OMGUS-Bestand, Institut für Zeitgeschichte, München 5-236-1/17 : Die Neue Zeitung (1945-1949), reports on political attitude of papers, reprimands.

33 « Einigkeit auf Haager Kongress », in : DNZ, 13.05.1948, p. 2.

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Bibliographie Habe, Hans (1966) : Im Jahre Null. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Presse, München : Kurt Desch. Herbet, Dominique (1997) : Die Neue Zeitung, un journal américain pour la population allemande, Villeneuve d’Ascq : PUS. Dies. (2011) : « Die Popularität der Neuen Zeitung 1945-1949 », in : Olivier Agard et al., Das Populäre, Göttingen : V&R-Unipress, p. 313-330. Dies. (2012) : « Indignons-nous ! Les grands ténors politiques de l’intégration européenne face à la crise », in : Allemagne d’aujourd’hui, Paris : ACAA, Nr. 199, p. 75-86. Duroselle, Jean-Baptiste/Grosser, Alfred : « EUROPE – Histoire de l'idée européenne », Encyclopædia Universalis, consulté le 11 juin 2015. URL : http://www. universalis-edu.com/encyclopedie/europe-histoire-de-l-idee-europeenne/ Koszyk, Kurt (1986) : Pressepolitik für Deutsche 1945-1949, Berlin : Colloquium Verlag. Schöller Wilfried (éd.) (2005) : Diese merkwürdige Zeit. Leben nach der Stunde Null, Frankfurt/Main : Büchergilde.

Le Sakharov est-allemand : Robert Havemann à l’aune de la presse française C HANTAL M ETZGER

Dans un régime socialiste, il ne peut y avoir les bases sociales ou politiques d’une opposition quelle qu’elle soit, puisque l’État socialiste œuvre en faveur du bien-être de sa population. Cela figure dans la constitution et tel était le point de vue officiel du parti. Dorothee Röseberg est venue à l’université de Nancy parler, dans le cadre des échanges Erasmus entre Halle et Nancy, de l’opposition des intellectuels estallemands face aux conflits de la Guerre froide. Elle présentait son analyse à partir de sources allemandes et notamment est-allemandes. Aucune étude n’a jusqu’à présent analysé la manière dont les Français et notamment leur presse ont appréhendé la dissidence est-allemande, mais de nombreux travaux tant allemands que français portent sur les intellectuels est-allemands. La presse occidentale s’intéressait surtout à la dissidence en Union soviétique. Soljenitsyne, Anatoli Borissovitch Chtcharanski ou le physicien Andrei Sakharov faisaient la une de la presse française. Mais certains intellectuels persécutés en RDA ont fait la une dans les années 1970, à l’instar de Robert Havemann, Wolf Biermann, Rudolf Bahro. Le personnage de Robert Havemann, physicien et chimiste internationalement connu, communiste de toujours, vieux combattant du parti et emprisonné à deux reprises sous le Troisième Reich a fait l’objet de plusieurs articles dans la presse française. Ce grand savant allemand engagé est intervenu dans le domaine politique, ce qui lui valut l’interdiction de poursuivre ses activités professionnelles et la perte de sa liberté d'action. Les étapes de sa vie tant professionnelle que personnelle de la création de la RDA en octobre 1949 à sa mort en 1983 furent marquées par ses interventions lors d’événements inhérents à l’histoire de la RDA ou relevant de la politique intérieure du bloc socialiste. La presse française s’est très tôt intéressée à la République démocratique allemande, mais les difficultés rencontrées pour se rendre dans ce pays ne permettaient pas aux journalistes d’exercer de façon efficace et objective leur métier. Dès 1950, deux grands reporters du Monde, Georges Penchenier en septembre 1950 puis Claude Lanzman en décembre 1951 parviennent à franchir le rideau de fer sans avoir de visa d'entrée. Par la suite, rares furent ceux, surtout après la construction du mur en août 1961, qui purent circuler librement dans le pays. Ils étaient installés à Bonn ou à Berlin-Ouest, recevaient les informations fournies par les agences de presse par le truchement de leurs collègues allemands de l'Ouest ou par le ministère des Affaires

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étrangères français. Et comme le constatait objectivement Gustave Haillet, journaliste à Combat, s'il est possible de discerner les sentiments qui agitent l'Allemagne de l'Ouest, il est beaucoup plus malaisé de faire le point sur l'Allemagne orientale. On peut se demander si son jugement effectué au début des années 1950 reste valable trente ans après. La RDA, écrit-il, « a été soigneusement détachée du monde occidental et l’on peut dire que dès ce temps les informations et les interprétations à son sujet ont été tendancieuses. Un voile qui n’a pas été tissé seulement par les Soviétiques est tombé sur elle ». 1 Les recoupements avec les archives de la Stasi, les travaux de collègues allemands et français nous permettent-ils de juger de la véracité des renseignements factuels relevés dans la presse ? L’orientation politique de l’organe de presse a-t-elle un impact sur les analyses ? De nombreux intellectuels sont restés ou se sont installés en zone d’occupation soviétique puis en République démocratique allemande, qu’ils soient connus comme Anna Seghers, Bertolt Brecht ou encore étudiants comme Wolf Biermann, arrivé à 17 ans en 1953. Nombreux sont les intellectuels séduits par le régime à ses débuts, attirés par le communisme comme dans d’autres pays d’Europe occidentale et notamment en France. Mais le contrôle de l’État sur les institutions et associations culturelles se manifeste vite, et ceci à tous les niveaux. Le parti veut orienter le travail des intellectuels et des artistes. Ils ne réagiront pourtant pas quand lors de son troisième congrès en 1952, le Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED ou Parti socialiste unifié) condamnera « les théories du cosmopolitisme hostiles au peuple », « l’objectivisme bourgeois » et la « barbarie culturelle américaine ». 2 Ils ne diront rien non plus quand, luttant contre le « formalisme » et la « décadence », l’abstractionnisme et même l’expressionnisme, le parti s’attaquera même à Bertolt Brecht, à la musique et à la peinture moderne, préférant les grands classiques allemands comme Beethoven, Schiller, Herder à des auteurs contemporains et effectuant ainsi un retour à la tradition classique. 3 D’après Otto Grotewohl, « la littérature et les beaux-arts [sont] soumis à la politique […] dans l’art, l’idée [doit] suivre la direction du combat politique » (Heider 1991 : 129). Ce n’est pas de l’intelligentsia mais de la base que viendra l’opposition. Après l’insurrection du 17 juin 1953, le silence des intellectuels est mis en exergue. Seul Brecht ose, avec beaucoup d’ironie, s’attaquer au secrétaire de l’Association des écrivains, Kurt Bartel, qui avait reproché au peuple son ingratitude et avait, dans un tract distribué au lendemain du 17 juin, estimé que le peuple avait gâché la confiance du gouvernement. 4 Quant au philosophe Ernst Bloch, membre de l’Académie des Sciences, une des figures les plus prestigieuses de l’intelligentsia est-allemande, il déclara devant la direction de la SED que le socia-

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Combat, 6 juin 1952. Ulrich Pfeil (1991), les citations sont tirées de Dokumente der SED, volume 3, Berlin Est, 1952, p. 118. Yves Cuau : « Lettre de Berlin : la nuit redescend sur l’Allemagne de l’Est », in : Le Figaro, 6/7 avril 1957. Dans Die Lösung, un poème qui ne devait pas être diffusé, Brecht écrivait : « Mais ne serait-il pas encore plus simple pour le gouvernement De dissoudre le Peuple et d’en élire un autre ? » Il ne voulait nullement remettre en cause le régime, il souhaitait juste que le gouvernement s’explique et notamment Ulbricht.

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lisme devait désormais parler aussi au cœur et se montrer plus proche des aspirations des populations. Le savant biologiste Robert Havemann, 5 titulaire de la chaire de physique et de chimie à l’université Humboldt, n’eut pour sa part aucun succès quand il tenta de faire aux ouvriers un cours improvisé sur « les bases économiques et les contradictions de la situation actuelle ». 6 La révolte populaire du 17 juin l’a secoué, jusque-là marxiste-orthodoxe, Robert Havemann devient antistalinien. 7 Ses interventions ne l’empêcheront pas d’être décoré, en 1954, par Ulbricht de l’ordre du mérite patriotique. Le grand changement se situe, lors du XXe Congrès du PCUS en février 1956, quand Khrouchtchev dénonce, dans son discours, les crimes de Staline. Havemann se lance dans la déstalinisation et dès juillet 1956, il écrit un article dans Neues Deutschland contre « l’administration centrale des vérités éternelles » s’attaquant aux dogmatiques staliniens, en fait aux dirigeants du SED. 8 Quelques mois plus tard, la répression de la révolution hongroise frappe les milieux intellectuels est-allemands qui sont choqués par la présence des troupes de leur pays lors de la répression de l’insurrection. Havemann, qui était alors reconnu comme un homme de premier plan, proteste. Il avait déjà fait montre de ses opinions contre la bombe atomique auparavant et avait été démis de ses fonctions au Kaiser-Wilhelm-Institut. Cette nouvelle prise de position lui vaut une mise en garde énergique bien qu’il fut depuis 1950 député à la Chambre du Peuple. En 1956, le savant se lance à corps perdu dans la déstalinisation. Ce qui lui vaut de nombreux ennuis. En effet, comme le constate Bertrand Girod de l’Ain dans Le Monde, 9 le gouvernement d’Allemagne orientale poursuit la mise au pas des intellectuels. À cette date, même Anna Seghers, qui préside l’Union des écrivains de RDA, refuse son appui à cette politique culturelle. Elle avait pourtant, en tant que membre du SED, approuvé l’intervention soviétique en Hongrie en novembre 1956. Ce n’est pas le cas de Havemann qui s’y oppose. Il est néanmoins reconnu par ses pairs, et élu, en décembre 1959, vice-président de la Société pour les relations culturelles avec l’étranger.

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Né en 1910, fils d'enseignant, le professeur Havemann avait étudié la chimie aux universités de Munich et de Berlin de 1919 à 1933. Membre du parti communiste dès 1932, il devint assistant à l'université de Berlin de 1937 à 1943. Il participa à la fondation d’un groupe d’opposition en liaison avec des travailleurs soviétiques et français déportés en Allemagne. Condamné à mort le 16 décembre 1943, il vit son exécution reportée à deux reprises pour lui permettre de poursuivre ses recherches de chimie-physique en prison. Il fut libéré par les Soviétiques. Il est un des rares survivants de la résistance antifasciste resté en Allemagne, alors que les dirigeants en place en RDA comme Walter Ulbricht s’étaient exilés en URSS. (Le Monde¸ 16 mars 1964, d’après une note de l’AP Reuters et article de Jean-Paul Picaper dans Le Monde, 3 juin 1966.) Le Monde, 6 juin 1993, « il y a quarante ans, la révolte ouvrière de Berlin-Est ». Combat, 22 octobre 1971, C.G. sur « L’humaniste venu de RDA ». Le Monde, art. de J.-P. Picaper, 3 juin 1964. Le Monde, 28 décembre 1957. Bertrand Girod de l’Ain, lui-même universitaire fut spécialiste de la rubrique Education et université au Monde.

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Durant la brève détente qui suit la construction du mur, on assiste, comme le note Gérard Sandoz dans France Observateur, à une « petite déstalinisation timide et limitée ». 10 Les autorités admettent quelques critiques comme celles émises, en 1959, par Robert Havemann à l’encontre de l’idéologie et du culte de la personnalité. La publication de textes d’écrivains soviétiques dont Un jour de la vie d’Ivan Denissovitch de Soljenitsyne par la revue Sinn und Form marque un changement. Il sera bref. Quelques mois plus tard, la lutte contre les intellectuels constitue un vrai « jeu de massacre ». 11 Yves Cuau, grand reporter, spécialiste de l’Allemagne au Figaro, estime que « la véritable campagne de haine qui se développe contre les intellectuels est grave […] ». 12 « À l’heure où les prisons hongroises s’ouvrent, où les Polonais, les Tchèques, les Russes connaissent malgré tout une certaine liberté » … en RDA « l’espoir d’une génération est mort ». 13 Dès 1963, Havemann n'est pas réélu à la Chambre du peuple et, un an plus tard, il est exclu du parti « pour avoir calomnié l'État des ouvriers et des paysans dans des interviews accordées à la presse occidentale ». Il est donc entré en conflit avec le pouvoir au nom d’une éthique. En déclarant « la pensée est la seule chose qui ne se laisse pas commander », 14 Havemann lance le débat. Ses cours à l’université Humboldt sur « les aspects scientifiques des problèmes philosophiques » sont suivis par des milliers d’étudiants venus de toute l’Allemagne ! Havemann constate que « la sclérose du marxisme […] n’a apporté aucune aide aux savants » (Hammer 2010 : 59 sq.), elle les a freinés et isolés. Il est notable de constater que la presse française s’est véritablement intéressée au personnage de Havemann vers 1964. Les premiers articles du Monde, du Figaro, de France Observateur parus sur lui sont liés à sa révocation. On commence à le connaître en France et dans le monde entier, il a de nombreux contacts avec les autres partis communistes et notamment avec le parti communiste italien de Togliatti, mais pas à cette date avec le PCF trop inféodé à Moscou. En fait, Robert Havemann est, selon la presse française, profondément fidèle à ses convictions communistes. En juin 1964, Gérard Sandoz dans France Observateur s’étonne : « il est déjà assez remarquable que le professeur Havemann, exclu du SED pour avoir réclamé une libre discussion sur le plan politique et culturel puisse continuer ses travaux de re10 France Observateur, 4 juin 1964. Gérard Sandoz, né en Pologne, s’est engagé à la veille de la guerre comme volontaire dans la Légion étrangère française avant la guerre. En 1950, il travaille à l’AFP et a en charge la couverture de l’actualité allemande. Parallèlement, il travaille pour France Observateur et collabore au Spiegel et à de nombreux journaux syndicaux ouest-allemands. Il est donc un fin connaisseur de l’Allemagne. 11 Yves Cuau, « la nuit redescend sur l’Allemagne de l’Est » in : Le Figaro, 6-7 avril 1963. 12 Ibid. 13 Ibid. 14 Jean-Paul Picaper : « En révoquant le professeur Havemann, M. Walter Ulbricht n’a pas enrayé la poussée de jeunes générations à l’intérieur du parti socialiste unifié », in Le Monde, 3 juin 1964. Agé de 26 ans, J.-P. Picaper commence sa carrière de journaliste. Il est spécialiste de l’Allemagne et a fait des études à Paris et à Berlin. Après son service militaire effectué dans les Forces Françaises à Berlin, il obtint une thèse de doctorat à Strasbourg et l'agrégation à Berlin, où il devint professeur assistant en sciences politiques à l'Université libre de Berlin. Il est probablement sur place à la date des événements.

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cherche : on cache à peine à Berlin-Est que cette libéralité est entièrement due à une énergique intervention de Moscou », 15 probablement de Khrouchtchev. Ulbricht tergiverse, « fait un pas en avant, puis recule dès le lendemain ». 16 Cette timide déstalinisation est brève, la chute de Khrouchtchev en octobre 1964 et la fin de la politique de déstalinisation amorcent un retour à un dogmatisme et confirment l’hypothèse de G. Sandoz sur l’intervention de Khrouchtchev pour soutenir Havemann. Mais le professeur Havemann poursuit son offensive et ne craint pas de parler devant ses étudiants des « derniers staliniens » de l’entourage d’Ulbricht. Sommé de se taire, il s’y refuse et réclame des changements de personnel politique et surtout un rajeunissement. Jean-Paul Picaper note qu’ « aux méthodes paternalistes et autoritaires d'une direction vieillissante Havemann opposait le dynamisme d’un socialisme séduisant. À son avis le seul moyen de rendre au socialisme sa force d’attraction était d’accorder en République démocratique allemande plus de liberté qu’il n’y en a en République fédérale. Fondées sur une analyse marxiste cohérente, les thèses de Havemann jettent les bases d’une formule de rechange à la politique actuelle du S.E.D. Elles ne sont en rien une utopie ».

Or, ajoute Jean-Paul Picaper, « la direction du parti sait que des initiatives qui n’émanent pas d’elle-même se retournent contre elle. Elle a donc éliminé Havemann. Mais elle n’en aura triomphé que le jour où, reprenant, à son compte, certaines des propositions du professeur, elle les réalisera. Quand l’affaire Havemann sera oubliée. Si c’est encore possible. » 17

Le parti prend des mesures administratives à l’encontre du savant. Il faut éviter la diffusion de ses idées hors de l’université. Il l’accuse de révisionnisme, d’être influencé par des idées venues de Prague, où règne déjà une effervescence intellectuelle. Havemann perd en 1964 sa chaire de chimie à l’université et il est exclu de l’Académie des sciences pour un article publié dans Der Spiegel, grand magazine d’enquête et d’investigation ouest-allemand de tendance centre gauche. Il y préconisait la création d’un nouveau parti communiste en Allemagne de l’Ouest et s’éloignait de l’orthodoxie communiste en demandant la création en Allemagne de l’Est d’une opposition parlementaire. 18 Cette proposition est perçue comme « une hérésie impitoyable », on lui reproche de vouloir modifier la politique est-allemande « sous le drapeau du combat contre le dogmatisme ». 19 Havemann est alors victime, comme Wolf Biermann, qui avait suivi ses cours et entretenait avec le professeur des

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Gérard Sandoz : « Libéralisation à Berlin-Est ? » in : France Observateur, 4 juin 1964. Ibid. Le Monde, article de Jean-Paul Picaper, 3 juin 1964. Combat, 7 avril 1964, article de Jean Benoit : « Visa pour Berlin-Est ». Selon J.-P. Hammer, Havemann aurait été piégé par un pseudo-journaliste, Karl Heinz Ness. Il ne s’attendait pas à être publié, il s’agissait d’une conversation privée. Il est accusé de révisionnisme. 19 Ibid.

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liens d’amitiés, d’une véritable « chasse aux sorcières libérales ». 20 Le physicien doit vivre en marge de la société. Il perd tous ses privilèges, ses émoluments, sa voiture, sa villa et surtout le droit de voyager sans limites dans les pays occidentaux. Il devient un de ces émigrés de la pensée dont parle Le Nouvel Observateur du 11 mars 1965 et passe sous le rouleau compresseur de l’action punitive déclenchée à son encontre par le régime pour avoir dénigré la RDA. Accusé d’être révisionniste, il devient, comme l’écrit Combat, « l’homme qui en disait trop », 21 il serait à l’origine de toutes les rumeurs circulant à Berlin-Ouest comme celles sur les causes du suicide de Erich Appel, vice-président du Conseil de la RDA et directeur du Plan, en fait son voisin de palier. On cherche alors à le réduire au silence ou à le forcer à l’exil. Il n’a plus le droit de rencontrer des spécialistes de son domaine d’activité, de se rendre à l’Académie des Sciences, ni même d’aller dans son bureau. Il est question de l’envoyer loin de Berlin dans une usine de fibres synthétiques, le régime veut en faire un homme politiquement mort (Hammer 2010 : 63 sq.). Lors du 11ème Congrès du Comité central du SED, le 11 décembre 1965, Erich Honecker lance une offensive contre les travailleurs de la culture (Metzger 2012 : 144-147). Roland Delcour, qui est à l’époque envoyé spécial du Monde à Bonn, insiste, dans son article « Esprit où es-tu ? », 22 sur le « coup de barre » administré par Honecker, lors du Kahlschlagplenum. Kurt Hager, l’idéologue du parti, affirme dans Neues Deutschland qu’ « il faut aider les écrivains et les artistes, provisoirement dans la confusion. Il faut mettre fin aux agissements d’individus comme Havemann, Biermann et des représentants de l’Institut d’études cinématographiques qui répandent le scepticisme et tentent d’imposer une ligne contraire à la construction du socialisme en RDA ». 23

Et Walter Ulbricht appelle le 14 janvier 1966 les intellectuels à retrouver le sens de leurs devoirs de communistes et à présenter de nouveau la politique du parti sous un jour constructif. Roland Delcour revient sur le cas du chansonnier Wolf Biermann, dont les textes sont boycottés, du professeur Havemann et de l’écrivain Stefan Heym, juif allemand exilé aux États-Unis, revenu en Allemagne sous l'uniforme américain, installé depuis 1952 en RDA et qui a publié à l’Ouest. Erich Mückeberger, membre du bureau politique, prononce, le 15 mars 1966, une énergique philippique contre ces trois « dissidents » qui « se sentent appelés à introduire les théories du doute et du scepticisme dans la République démocratique allemande et qui croient de leur devoir d’ériger les contradictions en absolu et de 20 Nouvel Observateur, article de Gérard Sandoz : « Le ministre, le professeur et le poète. À Berlin-Est, une restalinisation est amorcée. Elle n’épargne personne », 5 janvier 1966. Selon J.-P. Hammer, Havemann avait soumis l’article, avant publication, à l’approbation d’Erich Appel, ancien savant atomiste sous le Troisième Reich et collaborateur direct de Werner von Braun, récupéré par les Soviétiques et devenu un personnage clé du parti et qui présidait à l’époque la Commission du Plan. 21 Combat, 25 décembre 1965. 22 Le Monde, article de Roland Delcour, 14 juin 1966. 23 Metzger (2012), citation tirée de Neues Deutschland, 21 décembre 1965.

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construire des conflits qui renient la conscience socialiste de nos citoyens et leur activité du professeur hérétique ». 24

Mais si Havemann est mis à l’index, ses travaux sont appréciés par les partis frères voisins et L’Unità publie même une critique favorable d’un de ses livres. En outre, l’Académie des Sciences de Berlin sommée par le SED d’exclure Havemann rejette la demande grâce à une majorité menée par les membres étrangers de l’Académie. Le Monde 25 fait état d’une pétition envoyée par un groupe d’intellectuels ouestallemands à Berlin-Est et d’une intervention du prix Nobel américain, Pauling, pour que Havemann puisse à nouveau pratiquer librement ses recherches. Ces démarches n’aboutiront pas. Robert Havemann, démis de toutes ses fonctions, vit essentiellement de sa pension de victime du nazisme. La presse française s’intéresse à son sort et est informée difficilement par des collègues ouest-allemands ou par des sources diplomatiques. Le Monde annonce en août 1968, 26 au moment où les chars soviétiques entrent dans Prague, qu’il a été arrêté à la suite d’un entretien accordé à l’agence UPI. 27 Des rumeurs similaires circulent aussi sur Biermann, elles sont démenties par son éditeur ouest-allemand. La position du physicien, lors du printemps de Prague, est claire : ce « socialisme de libre examen », cause de souci pour les pays de l’Est aujourd’hui, devrait finir par ébranler l’Occident. 28 Havemann approuve le socialisme à visage humain de Prague, il espère que cette rénovation du socialisme permettra de régénérer tout le bloc socialiste. L’intervention des troupes du Pacte de Varsovie le choque et il se déclare d’accord avec les critiques émises par les Partis communistes français, italien et autres. L’Express, dans son numéro du 4 novembre 1968, cite ses propos : « les dirigeants de RDA peuvent faire ce qu’ils veulent. Quant à moi, je ne céderai devant aucun chantage et resterait fidèle au communisme que vous avez déshonoré ». 29 Le Monde rappelle que Havemann n’est pas seul de cet avis puisque « le torchon brûle depuis des années entre le parti est-allemand et ses intellectuels à propos de Prague ». 30 Ses deux fils, Franck et Florian, sont arrêtés. L’aîné Franck, âgé de 18 ans, est accusé d’avoir écrit sur un mur le nom de Dubcek, et Florian, âgé de 16 ans, d’avoir accroché le 21 août, jour de l’entrée des troupes à Prague, un drapeau tchécoslovaque à sa fenêtre et apposé des papillons où était inscrit « vive la Tchécoslovaquie » sur les voitures en stationnement. Ils sont condamnés respectivement à 18 et 14 mois de prison pour propagande contre l’État. En fait, comme on ne pouvait pas arrêter Robert Havemann trop connu à l’Ouest, on s’en était pris ses deux fils. La presse française qui sort de la révolution de mai 1968 juge ces peines disproportionnées. Ces actes ne méritaient pas une telle sanction, même pas une réprimande. Le 24 25 26 27

Le Monde, article de Roland Delcour, 14 juin 1966. Le Monde, 28 mars 1966. Le Monde, article de Jean-Paul Picaper, 30 août 1968. United Press International (UPI ou United Press) est une agence de presse américaine créée en 1907. Elle a été, avec Associated Press, Reuters et l'Agence France-Presse, une des quatre principales agences de presse au monde. 28 Le Monde, article de Jean-Paul Picaper, 30 août 1968. 29 L’Express, 4 novembre 1968. La réaction de Havemann est à chaud, le 21 août 1968. 30 Ibid.

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Nouvel Observateur, dans un article intitulé « Les murs de Berlin – les retombées de Prague sur de jeunes communistes » 31 évoque cette chasse aux houligans et aux voyous lancée par W. Ulbricht au moment où Havemann, le « Dubcek allemand », déclare que le socialisme devrait montrer un visage plus humain et qu’un régime socialiste devrait « tolérer la liberté d’expression ». 32 Placé sous la surveillance constante de la Stasi, Havemann s’interroge : « il faut croire qu’un homme isolé comme moi doit présenter un danger pour le régime … et pourtant je suis condamné à l’inactivité ». 33 Ses fils seront rapidement remis en liberté au début du mois d’octobre 1968, probablement pour désamorcer en RDA les discussions à propos des événements de Prague. On peut aussi supposer que ces mesures étaient liées à la nouvelle politique du ministre des Affaires étrangères ouestallemand, Willy Brandt, et au désir des dirigeants est-allemands de sortir leur pays de l’isolement. Havemann et Biermann ne seront donc pas inquiétés par les tribunaux contrairement à ce que déclarait un responsable de RDA au lendemain de la crise tchécoslovaque : « chez nous on ne s’explique avec l’opposition que devant les tribunaux ». 34 En fait même s’il ne passe pas devant la justice, Havemann est totalement isolé. Il continue néanmoins à intervenir dans la vie politique de son pays et réussit à faire passer des messages à l’Ouest. Havemann tout comme Biermann n’a nullement envie de quitter son pays, il se veut citoyen critique. Or le régime préférerait que ces troublions partent. D’autant plus que Havemann fait paraître un brûlot fortement autobiographique, L’interrogatoire, un marxiste allemand parle dont la version française est publiée en 1971 par les éditions Fayard. Havemann y avertit d’emblée le lecteur : « Le stalinisme moderne est plus raffiné, plus menteur et plus couard que l’original, au temps où vivait celui qui lui a donné son nom. Mais il ne lui cède en rien quant à l’efficacité : sous Staline, on se débarrassait de la critique marxiste en se débarrassant du critique. Le néostalinisme est plus radical encore : il se débarrasse du marxisme ». 35

Combat estime que ces quelques 250 pages « naïves et authentiques, tantôt maladroites, tantôt lucides » rédigées par ce passionné de liberté, héritier de Bertolt Brecht et de Thomas Mann, par cet homme dont « l’existence tragique entièrement vouée à l’idéal du militant » force le respect et fait tomber l’invective. 36 Le jugement de Havemann est implacable. S’il ne sait plus si la révolution viendra de l’Est ou de l’Ouest, il est convaincu de la permanence de la vitalité du marxisme. Il est, ajoute le journaliste, « perpétuellement en exil dans son inébranlable certitude » et frère de souffrance d’Arthur London. L’Express compare ce livre à L’aveu, un Aveu « sans violence mais où parfois la griffe de Courteline marque le défi que le Pr Havemann lance au régime ». 37 Etant déjà démis de toutes ses fonctions et surveillé en perma31 32 33 34 35 36 37

Nouvel Observateur, 4 novembre 1968. Ibid. Ibid. G. Sandoz : « les censeurs du talent », in : Nouvel Observateur, 20 octobre 1969. Paul Gillet : « un marxiste allemand parle », in : Le Monde, 7 janvier 1972. Combat, 22 octobre 1971 : « L’humaniste venu de RDA ». L’Express, 19 octobre 1970 Allemagne de l’Est : Le défi à la Stasi.

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nence par la Stasi, Havemann ne sera pas, semble-t-il, davantage inquiété pour cet écrit. En tout cas, la presse française n’en fait pas état. Havemann continue à intervenir dans la presse étrangère. En juin 1976, une interview est publiée à Francfort par la revue du syndicat ouest-allemand de la métallurgie et Havemann y signale que les opposants politiques est-allemands sont, comme en URSS, internés dans des hôpitaux psychiatriques. 38 Or le 1er août 1975, l’Acte final de la conférence d’Helsinki a été ratifié par 35 pays dont l’URSS et la RDA. La 3ème corbeille concerne le respect des droits de l’homme et les libertés fondamentales, et avait été souhaitée par les États occidentaux. Dans un petit article intitulé « Helsinki mon amour », Le Canard Enchaîné note que « les braves camarades soviétiques (et notamment Brejnev) découvrent qu’il y a encore quelque chose de pire encore que la déstalinisation : la déstabilisation. Et ce sont eux qui l’ont provoquée. Helsinki, c’est exquis ». 39 Les dissidents du bloc socialiste espèrent en profiter. Or les accords d’Helsinki ne seront pas respectés à l’Est. L’affaire Biermann en est l’illustration. Le poète-chansonnier Wolf Biermann, « le Brassens de la RDA » 40 comme le désigne la presse française, avait été autorisé à faire un concert à Cologne, le 16 novembre 1976. À son issue, le régime lui interdit de rentrer. Il est déchu de sa citoyenneté estallemande. Or il faisait partie des intellectuels qui s’étaient installés volontairement en RDA et il était communiste. On l’accuse de chercher par ses chansons à programme à remettre en cause le régime. Cette expulsion fait la une de la presse internationale et de la presse française qui, à l’instar de L’Express, considère que cette mesure est bien « un symbole de la manière dont Berlin-Est conçoit l’esprit d’Helsinki ». 41 La réaction de Robert Havemann, son professeur et son ami, est immédiate. Dans une lettre ouverte publiée par Der Spiegel, Havemann demande à Honecker, chef du parti et chef de l’État, qui partagea sa cellule à la prison de Brandebourg pendant la guerre de « reprendre l’inconfortable Biermann au sein de l’État auquel il appartient car il est un symbole d’espérance pour des millions de jeunes de RDA et il ne faut pas détruire cette espérance ». 42 Havemann, que l’on surnomme, dans la presse française, le Sakharov allemand ou le Socrate rouge, est alors assigné à résidence à Grünheide. Son domicile, dans une rue très calme de cette banlieue de Berlin-Est, est entouré de cordons de police et des camions en barrent les voies d’accès. Son téléphone et celui de son épouse sont coupés, 43 ses visiteurs sont surveillés de près. Il est harcelé par la Stasi jour et nuit, et son épouse fait les courses avec une importante escorte de policiers en civil. Selon Libération, s’il n’a pas été emprisonné, c’est probablement parce qu’il avait été pendant la guerre compagnon de cellule de Honecker et que ce « dernier a quelque scru-

38 Le Monde, 26 juin 1976. 39 Jean Manan : « Helsinki mon amour », in : Le Canard Enchaîné, 9 février 1977. 40 L’Aurore, 20 juillet 1970 : « Brassens de la RDA, Wolf Biermann me prouve qu’il y a aussi des ‹ enragés › de l’autre côté du Mur. » 41 L’Express, 22 novembre 1976. 42 Robert Havemann : « Biermann muss Bürger der DDR bleiben », in Der Spiegel, n° 48, 22 novembre 1976, p. 49. 43 Le Monde, 24 novembre 1976.

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pule à le faire mettre à l’ombre ». 44 Il est donc considéré comme l’ennemi n°1, on souhaiterait qu’il passe volontairement à l’Ouest ! Il s’y refuse. Rouge et le Quotidien de Paris évoquent le 29 novembre 1976 une incarcération du savant. Ce n’est qu’une rumeur ! L’affaire Biermann déclenche à la fin de l’année 1976 une véritable onde de choc. La presse française se déchaîne. Pour la première fois depuis le 17 juin 1953, les opposants se montrent à visage découvert 45 ; en RDA : c’est une véritable « fronde ». Nicole Casanova dans Le Quotidien de Paris 46 constate que le « stalinisme renaît en RDA ». Gérard Sandoz dans le Nouvel Observateur écrit qu’ « Helsinki et la fièvre des voyages ne suffisent pas pour expliquer le réveil de la contestation, il y a aussi la soudaine découverte de l’eurocommunisme ». 47 Libération voit dans les protestations qui s’élèvent dans le pays la naissance d’une opposition 48 et la voix de l’opposition s’incarne dans la personne de Robert Havemann, note Rouge. « Les bonzes » calfeutrés dans leur « ghetto fermé, protégé de murs et de fils de fer barbelés n’avaient pas prévu » la réaction de l’intelligentsia. 49 Treize écrivains très connus dont certains membres du SED comme Christa Wolf, Stefan Heym, Sarah Kirsch, Volker Braun ou le vieux sculpteur Fritz Cremer, apportent leur soutien à Biermann qui veut rentrer dans le pays qu’il a choisi à l’âge de 17 ans. Ils seront rejoints par une centaine d’autres. On s’indigne dans la presse française des mesures de rétorsion à l’encontre des signataires. 50 Le régime cherche à se débarrasser des intellectuels contestataires qui, solidaires de Biermann, estiment ne plus pouvoir mener en RDA une activité littéraire, scientifique ou artistique normale. 51 Mais rares sont ceux qui comme Havemann ne veulent pas quitter leur pays. L’Humanité, organe du Parti communiste français réagit aussi. Dans un article consa-

44 Libération, 23 juin 1977 : « Esprit d’Helsinki es-tu là ? Le philosophe et les cancrelats : la vie quotidienne d’un dissident en RDA ». 45 L’Express, 6 décembre 1976. D’autres artistes et écrivains écrivent à Honecker une lettre ouverte parmi lesquels les plus célèbres sont Stefan Heym, Christa Wolf, … une centaine d’autres fait de même et demande que l’on revienne sur sa déchéance de la citoyenneté. Les Églises interviennent aussi et des pétitions en faveur de Biermann circulent dans les entreprises. Le gouvernement contre-attaque par une campagne anti-Biermann dans le courrier des lecteurs et en profite pour procéder à des arrestations. Les signataires des pétitions sont arrêtés, exclus, blâmés et interdits de pub. Quant à la famille de Biermann et notamment Nina Hagen, sa belle-fille, elle le rejoint en RFA. 46 Le Quotidien de Paris, 16 décembre 1976. Le Quotidien de Paris adopte dès son lancement, en 1974 par Philippe Tesson, une ligne éditoriale polémiste mais diverse, rassemblant quelques journalistes de droite, mais surtout des anciens des journaux Combat et L'Aurore, plus à gauche. 47 Nouvel Observateur, 6 décembre 1976. 48 Libération, 29 novembre 1976. 49 Rouge, 1er décembre 1976. Rouge est à cette date le quotidien de la Ligue communiste révolutionnaire. 50 Le Monde, 29 novembre 1976. 51 Le Monde, 14 décembre 1976, c’est notamment le cas de Thomas Brasch. Ils obtiennent l’autorisation de partir à l’Ouest sans espoir de retour.

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cré à la situation littéraire en RDA, 52 Claude Prévost signale que l’affaire Biermann n’est pas la seule et il rappelle que le poète Reiner Kunze a été exclu de l’Union des écrivains de RDA peu de temps avant. Selon lui, Biermann n’a jamais cessé de « proclamer son attachement à l‘avenir du socialisme ». « Un créateur a le droit de s’exprimer même si sur certains points il est (ou est devenu) un opposant politique ». 53 La signature d’anciens compagnons de route du PCF au bas de l’appel du Comité contre la répression en RDA mentionne « le droit à la critique, un droit humain fondamental qui doit être garanti à tout citoyen d’un État socialiste en URSS comme en RDA ». 54 Raymond Jean, membre du PCF et de France-RDA considère comme un scandale absolu de voir Biermann « déchu de sa nationalité et chassé de son pays par une manœuvre biaisée qui n’a même pas le mérite de la franchise ». 55 Havemann subit « un exil intérieur ». On accuse le Sakharov allemand d’être un « eurocommuniste ». 56 Il en est effectivement proche. Le Matin de Paris fait état d’une rencontre entre Havemann et le professeur Lombardi Radice, membre du Comité central du parti communiste italien, compagnon de Togliatti et eurocommuniste notoire. L’entrevue ne se tient pas chez Havemann « qui est surveillé » et L. Radice interviewé par le Spiegel ouest-allemand s’indigne : « il est triste que je ne puisse dire où nous nous sommes rencontrés. Il serait très normal que M. Havemann puisse recevoir des visites. Ma visite n’était pas un acte d’inimitié contre les autorités est-allemandes. Je considère que c’est une grave erreur de leur part de traiter un homme, un camarade, un scientifique tel que Havemann de cette manière ». 57

Radice, avec l’accord de son parti, venait inviter Havemann à faire une série de conférences à l’Université de Rome sur le thème du socialisme. Havemann accepte à condition d’ « avoir la certitude absolue » de pouvoir revenir en RDA, il ne veut pas « risquer l’aventure survenue au chanteur Biermann ». 58 Évoquant certains aspects de leur entretien, Lombardo Radice déclare que Robert Havemann, tout comme lui, a de « grands espoirs et n’est pas du tout pessimiste. Il est persuadé que la révolution 52 Claude Prevost : « À propos de la situation littéraire en RDA », in : L’Humanité, 22 novembre 1976. 53 Ibid. 54 Rouge, 30 novembre 1976. Parmi les signataires figurent Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, Philippe Sollers, Laurent Schwartz, Daniel Guérin, Pierre Vidal-Naquet, Gilles Deleuze. 55 Le Monde, 10 décembre 1976 : Libres opinions, Communiste critique. 56 Les partis communistes français, italien et espagnol sont considérés comme des eurocommunistes depuis la déclaration de Madrid du 3 mars 1977. Georges Marchais, Emilio Berlinguer, Santiago Carrillo y affirment leur volonté autonomiste face à Moscou. Ils demandent l’application des accords d’Helsinki favorisant la paix en Europe, et expriment leur espoir pour la construction d'une société nouvelle, dans la pluralité des forces politiques et sociales, dans le respect, la garantie et le développement de toutes les libertés collectives et individuelles. 57 Le Matin, 9 mars 1977, qui cite l’hebdomadaire Der Spiegel. 58 Le Matin, 9 mars 1977.

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d’octobre a été décisive dans l’histoire mondiale, que l’existence d’États socialistes est un grand progrès et que l’Allemagne de l’Est est la meilleure moitié de l’Allemagne ». 59 Le Matin de Paris note qu’en 1977, l’eurocommunisme est populaire en RDA et que la non-intervention de la Stasi pour empêcher cette rencontre est peut-être le signe d’une libéralisation. Le Quotidien de Paris estime au contraire en citant l’exemple du professeur Havemann toujours « isolé » que l’image libérale de la RDA […] n’a pour le moment plus aucune raison d’être. 60 La tentative effectuée par Jean-Marie Bouguereau de Libération pour rencontrer le savant se soldera par un échec 61. Même l’organe du PCF, L’Humanité, exprime son malaise face « aux tracasseries infligées au vieux scientifique et idéologue oppositionnel Havemann » 62 et son inquiétude face à l’arrestation en août du philosophe et économiste Rudolf Bahro, coupable d’avoir publié en RFA son livre L’Alternative-critique du socialisme existant réellement, ouvrage contenant une critique incisive du socialisme réel et posant des questions cruciales que l’on ne saurait éluder notamment en mettant l’auteur en prison … Il sera condamné à huit ans de prison le 30 juin 1978 pour « activités de renseignement » puis expulsé. La RDA « expulse tous ceux qui au nom du socialisme, conteste sa façon de réaliser un socialisme bureaucratique et autoritaire. Elle sait bien que la contestation n’a de sens que chez elle » 63 et qu’une fois à l’Ouest, ils sont moins dangereux qu’en RDA. Havemann, cette « mauvaise tête », comme l’écrit Gérard Sandoz dans le Nouvel Observateur, refuse toujours de partir. G. Sandoz craint qu’un jour « l’administration des vérités révélées » – c’est ainsi que Havemann nomme la bureaucratie de BerlinEst – ne réussisse à le faire déguerpir. « Si ce n’est de gré, ce sera de force ». 64 En attendant, le savant reste sous une haute surveillance qu’il parvient parfois à déjouer. Son ami, un universitaire de Paris VII, Jean-Pierre Hammer, le rencontre début 1978. À l’issue de leur entretien paraît un long article en première page du Monde 65 où Havemann évoque ses conditions d’existence depuis ce jour de 1976 où il a envoyé à Honecker sa lettre ouverte, publiée par le Spiegel. Il parle du blocage de sa rue par les forces de police, de l’interdiction de recevoir des visites en dehors des membres de sa famille, du contrôle permanent de ses allées et venues, de ses conversations télépho59 Ibid. 60 Nicole Casanova : « Avant la conférence de Belgrade : Flash sur l’Allemagne de l’Est », in : Le Quotidien de Paris, 1er juin 1977. En sous-titre : « Il y a de nouveau des classes sociales, les hommes tourmentés de la ‹ meilleure Allemagne ›, 200.000 demandes de sortie, la répression de la contestation intellectuelle, une population malheureuse mais lucide ». 61 J.-M. Bouguereau : « Visite chez un dissident bien gardé », in : Libération, 15 décembre 1977. Le journaliste croyait en un allégement des mesures de surveillance, mais ces rumeurs étaient infondées. 62 Claude Prévost : « RDA et culture : motifs d’inquiétude », in : L’Humanité, 16 décembre 1977. L’article évoque le cas de Rudolf Bahro. 63 L’Unité, 16 juin 1978, article de Jérôme Vaillant. 64 G. Sandoz : « RDA : la génération rebelle. Pour la première fois depuis sa fondation, le régime est-allemand est touché de plein fouet par les intellectuels », in : Nouvel Observateur, 8 août 1977. 65 Le Monde, 21 janvier 1978, entretien entre Havemann et J.-P. Hammer : « Les contradictions vont s’aiguiser dans le parti et dans le pays ».

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niques, mais aussi de la solidarité implicite manifestée par les voisins et les commerçants. Dans ses Mémoires, Jean-Pierre Hammer mentionne en annexe les réactions de la Stasi lors de la parution de l’interview (Hammer 2010 : 142 sq., Havemann 1978). Les autorités est-allemandes sont très embarrassées et Hammer est déclaré persona non grata en RDA. Le sort du savant se détériore encore. 66 En avril 1979, Le Monde signale que le gouvernement est-allemand envisage d’ouvrir contre lui « une instruction pour infraction aux règlementations sur les droits de douane et les devises ». 67 Le 19 avril, la Stasi récupère à son domicile des documents personnels, une radio et un poste de télévision, prouvant ainsi le durcissement de l’assignation à résidence. Les autorités judiciaires ouvrent une procédure à l’encontre de l’écrivain Stefan Heym et de Robert Havemann, accusés d’avoir fait paraître en RFA un roman, Collin, pour Heym et des déclarations pour Havemann. Heym compare à juste titre ce comportement à la chasse aux sorcières pratiquée au début des années 1950 aux États-Unis. Havemann est condamné à 10 000 marks d’amendes, le 25 mai 1979. Il est coupable d’avoir commis un délit d’exportation illégale d’un équivalent-devises en faisant paraître des interviews à Bonn. 68 Pourtant, alors que cette procédure est en cours, le 9 mai 1979 les autorités est-allemandes lèvent l’assignation à résidence du savant. Il peut à présent à nouveau circuler librement dans le pays. Mais, le 1er août 1979, de nouvelles lois pénales entrent en vigueur en RDA. Elles sont, note Jean-Paul Picaper dans Le Figaro, 69 destinées à entraver l’information des journalistes occidentaux et surtout le droit à la parole en RDA. Un Allemand de l’Est parlant à un journaliste occidental, quelle que soit la nature de ses propos, risque douze ans de réclusion. Une chape de plomb pèse donc sur les intellectuels. Ils ne peuvent pas publier dans leur pays, la RDA, et s’ils tentent de publier à l’Ouest, ils sont emprisonnés. Picaper cite notamment les propos de Stefan Heym qui juge ces lois, d’importation soviétique, totalement irrationnelles. Il s’agit d’un arsenal « surréaliste de mesures anti-dissidents ». 70 Havemann réagit de suite et demande la levée des restrictions imposées à la liberté d’expression par cet amendement du Code pénal. À l’occasion du 30e anniversaire de la création de la République démocratique allemande, en octobre 1979, il publie dans Neues Deutschland, organe officiel du SED, dans Mundo Obrero, le journal du parti communiste espagnol et dans Paese 66 Sa fille Sibylle est renvoyée de l'Université de Leipzig, certains de ses amis arrêtés, parmi eux Jürgen Fuchs et deux des membres du groupe « Klaus Renft Combo », Gerulf Pannach et Günter Kunert. 67 Le Monde, 26 avril 1979. Article du correspondant en Europe centrale : « Des intellectuels des deux Allemagnes interviennent auprès des autorités de la RDA en faveur de M. Havemann ». Le 5 avril Berlin-Est avait pris des mesures en vue de limiter la possession par les citoyens est-allemands de devises ouest-allemandes. 68 Stefan Heym est condamné à une amende de 9000 marks, il sera exclu le 8 juin de la Fédération des écrivains de RDA. 69 Jean-Paul Picaper est à cette date envoyé spécial permanent du Figaro à Bonn et donc concerné par ces mesures. 70 J.-P. Picaper : « RDA : arsenal surréaliste de mesures anti-dissidents », in : Le Figaro, 2 août 1979. Picaper cite aussi Carter qui considère qu’il s’agit d’un viol des accords d’Helsinki.

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Sera, quotidien proche du parti communiste italien, « dix thèses » qui résument sa pensée : il demande le rétablissement intégral de la liberté d’expression et l’élargissement de tous les prisonniers politiques. Il affirme que la hantise persistante d’une fuite massive de la population conduit les autorités est-allemandes à conserver le « mur » de Berlin. 71 Il s’expose donc à nouveau à de sévères mesures répressives alors que son assignation à résidence venait à peine d’être levée. Quelques jours plus tard, deux mesures sont prises : une loi d’amnistie décrétée par les autorités de RDA permet à Rudolph Bahro et Nico Hubner de sortir de prison ; ils sont mis dans un train à destination de la RFA. Quant à Havemann, il est à nouveau en résidence surveillée, 72 mais cette mesure sera de courte durée. Il s’agissait surtout d’empêcher Bahro d’entrer en contact avec lui avant son départ pour l’Ouest. Ces ultimes tracasseries n’empêcheront pas le vieil homme, comme l’appelle Le Monde, de défendre son idéal de paix et de justice. En septembre 1981, il adresse une « lettre ouverte à Leonid Brejnev », dans laquelle il demande au dirigeant soviétique de prendre une initiative en faveur de la dénucléarisation de l’Europe. Largement diffusée en RFA, cette lettre rencontre un profond écho, en particulier parmi les transfuges d’Allemagne de l'Est engagés dans le mouvement pour la paix, comme Rudolph Bahro. 73 En janvier 1982, il est avec le pasteur berlinois Reiner Eppelmann à l’origine de l’Appel de Berlin, le pendant de l'Appel de Krefeld qui avait connu un an plus tôt, en République fédérale, un succès considérable. Ils y reprennent les critiques de l’Église contre la militarisation de la société et réclament le retrait des « troupes d’occupation » des deux États allemands. Le mot occupation est un qualificatif sacrilège à l’égard des « frères combattants de la paix » que sont les soldats soviétiques stationnés en RDA. Le texte évoque aussi la « libre expression des opinions » et demande que « toute manifestation publique et spontanée de la volonté de paix » soit autorisée : il se présente donc ouvertement comme un texte de dissidence. 74 Il s’agit de la dernière manifestation du dissident Robert Havemann. Âgé de 72 ans et gravement malade, il aura néanmoins une dernière joie. Wolf Biermann obtient un visa lui permettant de se rendre à son chevet au début du mois d’avril 1982. Havemann meurt le 9 avril 1982 et Le Monde lui consacre une belle nécrologie, le jour suivant. « 500 personnes environ dont de nombreux jeunes gens qui pour certains abordaient le badge pacifiste interdit ont participé, le samedi 17 avril à Grünheide aux obsèques du physicien contestataire Robert Havemann ». L’enterrement prend les allures d’une cérémonie contestataire, parmi les présents figurent Stefan Heym et le pasteur Eppelmann. Ami du savant, le pasteur de la commune de Grünheide a le droit de prononcer son éloge en rappelant son passé de résistant et en regrettant que ceux qui ont souffert comme lui à l’époque hitlérienne, allusion sans équivoque à Honecker, aient eu « la mémoire si courte lorsque le physicien s’est pro71 Le Monde, 4 octobre 1979 et 12 avril 1982. 72 Libération, 19 octobre 1979. N. Huebner avait refusé de faire son service militaire dans la mesure où Berlin bénéficiait d’un statut de ville démilitarisée. Âgé de 24 ans, très populaire pour son action, il dut purger une peine de cinq ans de détention. 73 Claire Tréan : « un pacifisme militariste », in : Le Monde, 5 août 1983. 74 Le texte de « l’Appel de Berlin » est publié dans l’ouvrage de Wolfgang Büscher, Peter Wensierski, Klaus Wolschner (Éd.) : Friedensbewegung in der DDR. Texte 1978-1982, Hattingen, 1982, p. 242-244.

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noncé en faveur d’une démocratisation du régime est-allemand auquel il avait adhéré après la seconde guerre mondiale ». 75 Dans L’Interrogatoire, Havemann avait écrit « La liberté est la maladie dont mourra le stalinisme » manifestant ainsi son acte de foi en des temps meilleurs. Il ajoutait : « David est plus fort que Goliath. L’intervention en Tchécoslovaquie n’aura fait que fortifier les idées du PC tchèque. À la longue, celles-ci gagneront contre les pays oppresseurs ». À cette date, en 1970, Ulbricht n’avait « aucune crainte [à se faire] pour sa santé » 76 ou plutôt celle de la RDA, constatait le journaliste de L’Express, mais 19 ans plus tard, la situation a évolué. Havemann a voulu réformer son pays de l’intérieur. Profondément communiste, il croyait sincèrement que c’était possible et la presse française a relayé ses propos fidèlement, et sans les déformer. Moins connu que les dissidents soviétiques ou que Wolf Biermann, son attitude face à ce que l’on a appelé la dictature du SED en a fait un symbole de la dissidence estallemande. En 1978, L’Express titrait : « les 4 répressions : la Tchécoslovaquie emprisonne, l’Allemagne de l’Est expulse, la Pologne tolère, l’URSS mélange les trois ». 77 Havemann a courageusement résisté jusqu’au bout contre la répression estallemande en restant en RDA et en y bravant les persécutions. Car comme le déclarait Nina Hagen, en 2011, en citant une phrase de Bertolt Brecht répétée maintes fois par son beau-père Wolf Biermann: « Celui qui combat peut perdre, mais celui qui ne combat pas a déjà perdu ». 78 La presse française, quel que soit son bord politique et malgré les difficultés rencontrées pour avoir des informations recoupées, lui a toujours rendu hommage.

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75 76 77 78

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Sprache als Spiegel des Kulturverständnisses S WETLANA M ENGEL Умом Россию не понять […] – В Россию можно только верить. (Verstand wird Russland nie verstehen […] – An Russland kann man einzig glauben. 1) Ф.И. ТЮТЧЕВ (F.I. TJUTTSCHEW), 28.11.1866

Z WEI V ORBEMERKUNGEN Der dem Beitrag vorangestellte Titel dürfte Dorothee Röseberg nicht unbekannt erscheinen, ist er doch im Laufe unserer vielen anregenden, interessanten kultur- und sprachwissenschaftlichen wie auch weniger wissenschaftlichen Gespräche entstanden und sollte einen meiner universitären Kurse benennen. Diesen Zweck hat der Titel erfüllt. In der Hoffnung, dass ich auch in Zukunft – egal an welchem Ort – unsere Debatten nicht missen muss, möchte ich hier den allgemein gefassten Titel auf einige ‚rätselhafte‘ sprachliche Phänomene im Russischen herunterbrechen, um diese als eine Art Spiegel dem Verständnis von Kultur vorzuhalten. Dabei sei mir in diesem Beitrag erlaubt, Kultur sehr allgemein zu definieren als Gegensatz zur Natur und damit als einen Mechanismus des Begreifens von Umwelt durch eine Menschengemeinschaft (vgl. Hansen 2003: 15). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts suchte der russische Philosoph Nikolai Berdjajew (1914-1917 und 1923) mit dem Vierzeiler des russischen Dichters Fjodor Ivanovič Tjutčev (Tjuttschew), dessen erste und letzte Zeile als ein Epigraf den vorliegenden Beitrag eröffnet und begleitet, die russische Mentalität und die Antinomie der russischen Kultur zu ergründen. In späteren Forschungen musste das inzwischen berühmt gewordene Gedicht gar für die ‚russische Irrationalität‘ herhalten (Trunin 2012, vgl. andere kulturanalytische Herangehensweisen in: Ingold 2009, Lehmann-Carli u.a. 2011). Heute schmücken sich gerne auch Politiker von Jacques Chirac bis Vladimir Putin mit seiner Zitation 2, um die ‚russischen Besonderheiten‘ zu unterstreichen.

1 2

Deutsche Übersetzung von Heinrich Noë (vgl. Müller 2003). Jacques Chirac zitierte den Vierzeiler Tjutčevs bei der Entgegennahme des Preises der Russischen Föderation für humanitäre Tätigkeit am 12. Juni 2008; Vladimir Putin verwendete ihn beim Staatsbesuch von Nicolas Sarkozy im Oktober 2007, wobei er die letzte Zeile

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Tjutčev, der den größten Teil seines Lebens im Ausland – zuerst in München und später in Turin – verbracht hatte und sich in mehreren westeuropäischen Sprachen und Kulturen – besonders im Deutschen und Französischen – zu Hause fühlte, war in der Lage, das ‚Russischsein‘ von außen zu betrachten und aus dem ‚NichtRussischen‘ heraus zu reflektieren. Genau in diesem Sinne soll hier ein Blick auf die ausgewählten ‚rätselhaften‘ sprachlichen Phänomene im Russischen geworfen werden.

„V ERSTAND WIRD R USSLAND NIE

VERSTEHEN

…“

Betrachten wir zunächst folgende Beispiele: [1] – Вы не заболели? – Да нет. (dt. wörtlich: – Sind Sie nicht erkrankt? – Ja nein.) (dt. sinngemäß: – Sind Sie erkrankt? – Nein.) [2] Не передадите ли мне соль? (dt. wörtlich: Reichen Sie mir das Salz rüber nicht?) (dt. sinngemäß: Würden Sie mir [bitte] das Salz rüber reichen?) [3] Ты не видел, куда я очки положила? (dt. wörtlich: Hast du nicht gesehen, wo ich [meine] Brille abgelegt habe?) (dt. sinngemäß: Hast du gesehen, wo ich [meine] Brille abgelegt habe?) [4] Ну чем не работа! (dt. wörtlich: [Dies] ist doch keine Arbeit!) (dt. sinngemäß: Was für eine [tolle] Arbeit!) [5] Ему хотелось слышать ее голос. (dt. wörtlich: ∗Ihm wünschte [es], ihre Stimme zu hören.) (dt. sinngemäß: Er wünschte sich, ihre Stimme zu hören.) [6] Мне нужно работать. (dt. wörtlich: ∗Mir muss [man] arbeiten.) (dt. sinngemäß: Ich muss arbeiten.) [7] Меня знобит. (dt. wörtlich: ∗Mich fröstelt [es].) (dt. sinngemäß: Ich habe Schüttelfrost.) [8] Меня зовут Николай. (dt. wörtlich: [Sie] nennen mich Nikolai.) (dt. sinngemäß: Ich heiße Nikolai.) [9] Мне грустно. (dt. wörtlich: Mir ist [es] traurig.) (dt. sinngemäß: Ich bin traurig.) [10] Его переехало трамваем. (dt. wörtlich: ∗Ihn wurde es durch eine Straßenbahn überfahren.) (dt. sinngemäß: Er wurde von einer Straßenbahn überfahren.) zu „В Россию нужно просто верить (An Russland muss man einfach glauben)“ abwandelte.

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Die Äußerungen [1] bis [4] mögen dem deutschen – und breiter anglosächsischen oder womöglich ‚westeuropäischen‘ – ‚Verstand‘ vielleicht unerklärlich erscheinen, da hierbei eine positive Intention, die die kommunikative Aufgabe der Äußerung bildet, grammatisch und lexikalisch durch eine Negation zum Ausdruck kommt. Die Belege [5] bis [10] zeigen sodann schon deutlicher, dass im Russischen anstelle der subjektenthaltenden syntaktischen Konstruktionen im Deutschen die sogenannten ‚passiven‘, grammatisch subjektlosen Konstruktionen vorliegen. Das logische Subjekt wird in den russischen Sätzen durch den Dativ (Belege [5], [6], [9]) oder den Akkusativ (Belege [7], [8]) ausgedrückt, während im Deutschen grammatisch (‚logischerweise‘) der Nominativ Verwendung findet. Im russischen Satz [10] ist weder das grammatische noch das logische Subjekt vorhanden (bzw. kann letzteres in Form des Instrumentals vermutet werden). Im Gegensatz dazu treten das grammatische Subjekt im Nominativ und das logische Subjekt im Dativ in der Passivkonstruktion des deutschen Satzes auf. Beide Arten der grammatischen Gestaltung entsprechender Äußerungen (also beide sprachlichen Phänomene) sind für das Russische typisch: Sie werden mit einer gewissen Beständigkeit und einer hinreichenden Repräsentativität in allen Kommunikationsbereichen verwendet und von den Sprachträgern nicht hinterfragt bzw. nicht reflektiert (vgl. Zaliznjak u.a. 2005, Jarintzov 1916). Äußerungen wie Могли бы Вы передать мне соль? (vgl. [2]) oder Моё имя – Николай (vgl. [8]) sind zweifellos möglich, aber untypisch und bezüglich der impliziten Semantik mit den Sätzen [2] und [8] nicht identisch. Befassen wir uns zuerst mit dem zweiten (eher verständlichen) Phänomen, das bereits in einigen Untersuchungen als sprachliche Abbildung des russischen ‚Sinnesuniversums‘ dargestellt wurde. Im Rahmen ihrer semantischen Studien zu verschiedenen Sprachen identifiziert Anna Wierzbicka (1990, 1991, 1992, 1997 u.a.) die Fülle an unpersönlichen syntaktischen Konstruktionen im Russischen als Widerspiegelung von zwei ihrer Meinung nach wichtigen Konstanten (Merkmalen) der russischen Kultur – der ‚Irrationalität‘ (Pointierung der Begrenztheit des logischen Denkens und der menschlichen Erkenntnis, der Unbegreiflichkeit des Lebens und der Umwelt) und der ‚Passivität‘ (das Gefühl der Unmöglichkeit, das eigene Handeln zu kontrollieren und deswegen aktiv zu agieren, die Neigung zum Fatalismus und zur Unterwürfigkeit, das mangelnde Individualitätsbewusstsein) (Wierzbicka 1997: 34, 55ff., 73ff.). Diesen russischen Kulturkonstanten ständen die Werte der westlichen Kultur gegenüber – die Pointierung der Ratio und das aktive Handeln des Individuums, der freie Wille (Wierzbicka 1997: 36). Mit dem Blick auf die Sprachtypologie, die im Bereich der Syntax die Sprachen der ‚agentivischen‘ (agens – ‚Was tue ich?‘) und der ‚passivischen‘ (patiens – ‚Was geschieht mir?‘) Orientierung unterscheidet, verbindet Wierzbicka (1997: 55) ferner die Widerspiegelung der phänomenologischen Weltbetrachtung (mit Akzentuierung der ‚Hilflosigkeit‘ und der Passivität der Umwelt gegenüber) im Russischen, wohingegen sich in westeuropäischen Sprachen das kausative Herangehen im Weltbegreifen (vgl. Bally 1920) als aktive Tätigkeit und Akt des Willens ausdrücke. Als eine gnoseologische Universalie wurden Subjekt-Objekt-Beziehungen erst im 17. Jahrhundert während der Herausbildung des klassischen wissenschaftlichen Paradigmas entdeckt und etabliert. Ihre Abbildung bzw. Existenz in der Sprache, was speziell für die meisten modernen Sprachen Europas als selbstverständlich und ‚na-

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türlich‘ erscheint, ist jedoch keineswegs zwingend. Die inkorporierenden (polysynthetischen) Sprachen (Kamtschatka- und Tschukotka-Sprachen, Irokesisch u.a.) weisen z.B. weder eine Subjekt-Objekt-Dichotomie noch die Explizitheit des Prädikats auf. Dennoch gilt das Welterkenntnismodell mit dem aktiv handelnden Subjekt ‚Mensch‘, das seine Erkenntnis mithilfe der Sprache formuliert und in der Sprache (mit logischen-grammatischen Kategorien) abbildet, als das höchste Stadium der Geistes- und Sprachentwicklung. In diesem Zusammenhang wurden seitens Sprachwissenschaftlern und -philosophen Versuche unternommen, die sprachtypologisch unterschiedlichen Sprachen mit den verschiedenen Entwicklungsstadien des menschlichen Denkens und seiner sprachlichen Abbildung zu verbinden. Die Sprachevolutionstheorie von A.F. Losev (1982, 1989) erachtet in ihrer Interpretation von I.A. Iljina (1994: 90ff.) beispielsweise die Evolution der Sprache als einen vierstufigen Algorithmus: Sprache 0, die die ‚Logik der einfachen Nomination‘ (die inkorporierenden Sprachen: ein Wort = ein Satz) realisiert, → Sprache 1, die die taxonomische Logik in ihrem possessiven grammatischen Aufbau abbildet, → Sprache 2 mit der determinierten ‚ergativischen‘ grammatischen Struktur → Sprache 3 mit der ‚nominativischen‘ grammatischen Struktur (Iljina 1994: 94-95). Ohne das Problem der Wertschätzung von Sprachen und Kulturen zu explizieren, die das vorliegende Modell womöglich zu implizieren vermag, wäre nach unserem Verständnis hier festzustellen, dass die Fülle der unpersönlichen (‚passiven‘) syntaktischen Konstruktionen im Russischen gegenüber den westeuropäischen Sprachen (bzw. speziell dem Deutschen) – wo entsprechend aktive syntaktische Konstruktionen vorliegen – einen ‚archaischen‘ Entwicklungszustand widerspiegeln sollte. Die ‚passiven‘ Konstruktionen im Russischen, wie sie in den Äußerungen vom Typ [7] und [8] vorliegen, wären mit dem ‚ergativischen‘ grammatischen Aufbau der Sprache 2 zu verbinden, da sie analog den ergativischen Konstruktionen auftreten, wo das Ergativ in transitiven Sätzen den Handlungsträger in obliquem Kasus bezeichnet (in kaukasischen Sprachen, im Grönländischen, Eskimoischen u.a.). Der ‚nominativische‘ grammatische Aufbau der Sprache 3 lässt dagegen nur einen Subjektkasus zu, den Nominativ, wie es die agentivischen syntaktischen Konstruktionen z.B. im Deutschen beweisen. Die Sorge um die Anhäufung derartiger ‚archaischer passiver‘ Konstruktionen in der russischen Gegenwartssprache plagte die Sowjetideologen, die bemüht waren, einen neuen, aktiv handelnden Sowjetmenschen zu erschaffen. Dies verleitete einige der sowjetischen Sprachforscher, u.a. den prominenten zeitgenössischen Linguisten Viktor Vladimirovič Vinogradov, zu der Behauptung, dass im Falle der unpersönlichen syntaktischen Konstruktionen „die Sprachtechnik eine überholte, veraltete Ideologie verwendet“ 3 (Vinogradov 1947: 465). Dennoch ergaben durchgeführte Sprachuntersuchungen unvermittelt, dass die Anzahl der unpersönlichen Sätze im Russischen auch während der Sowjetzeit nicht abnahm, sondern umgekehrt ständig anstieg (vgl. Peškovskij 1956, Gakina-Fedoruk 1958). Bis heute zeigt sich das zu untersuchende syntaktische Phänomen nicht als „ein Rest von etwas Abnehmendem, sondern umgekehrt als etwas immer mehr Wachsendes und sich Entfaltendes“ (Peškovskij 1956: 45). Nicht zuletzt diese Sachlage veranlasst uns, zwei der oben geschilderten Sichtweisen auf die Verbindung von Sprache und Kultur zu hinterfragen: (1) Ist das 3

„Языковая техника здесь использовала как материал отжившую идеологию“.

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Welterkenntnismodell im Sinne des Nachvollziehens der Subjekt-ObjektBeziehungen und dementsprechend die kausative Weltbetrachtung tatsächlich das/die überlegenere? (2) Inkludiert die phänomenologische Weltbetrachtung zwangsläufig die ‚Irrationalität‘ und die ‚Passivität‘ gegenüber der Umwelt (im Sinne der begrenzten Möglichkeiten des logischen Denkens, der menschlichen Erkenntnis und des kontrollierten aktiven Handelns des Individuums)? Versuchen wir, dies anhand des sprachlichen Materials zu überprüfen.

„AN R USSLAND

KANN MAN EINZIG GLAUBEN “?

Die Äußerungen vom Typ [5] Ему хотелось слышать ее голос, Мне не спится (dt. wörtlich: ∗Mir schläft [es] nicht; dt. sinngemäß: Ich kann nicht schlafen) werden in den entsprechenden Untersuchungen gerne als Beispiele der ‚passiven‘, subjektlosen Konstruktionen im Russischen dargestellt, die die ‚Unkontrollierbarkeit‘ des eigenen Handelns (z.B. Wierzbicka 1997: 67ff.) widerspiegeln. Dabei sind sie grammatisch keineswegs mit den Passivkonstruktionen der regulären Genus-verbiDichotomie – vgl. Рабочие строят дом (dt. Bauarbeiter bauen ein Haus) // Дом строится рабочими (dt. Ein Haus wird von Bauarbeitern gebaut) – gleichzusetzen. Der wichtigste Unterschied besteht darin, dass eine Passivform – im Russischen wie im Deutschen auch – nur von transitiven Verben gebildet werden kann. Die Reflexiva in den zu betrachtenden russischen Konstruktionen müssen dagegen diese grammatische Bedingung nicht erfüllen. In der bereits oben zitierten Sprachevolutionstheorie von Losev (1982) werden derartige Konstruktionen im Russischen mit der ‚Gedankenstruktur‘ des sogenannten ‚affektivischen‘ grammatischen Sprachaufbaus (der eine Vorstufe der ‚ergativischen‘ grammatischen Struktur der Sprache 2 darstellt) verbunden (vgl. Iljina 1994: 107). Demnach wird das grammatisch im Dativ stehende Subjekt gleichzeitig als Träger und als Empfänger der Handlung vorgestellt (quasi in einem Vorstadium der SubjektObjekt-Opposition). Das Subjekt würde keiner Handlung von außen ausgesetzt, sondern empfange die Handlung von sich bzw. in sich selbst, d.h. die Handlung des aktiv handelnden Subjekts sei reziprok auf das Subjekt selbst gerichtet. Auf diese Weise trete die „Semantik eines Zustands“ in den Vordergrund (Losev 1982: 328-329). Abgesehen davon, dass man der Sprachevolutionstheorie von Losev nicht zustimmen muss (zumal die schematische Gegenüberstellung der Affektivität und der Intellektualität durch empirische Untersuchungen längst widerlegt wurde), muss an dieser Stelle die treffende Definition für das Empfinden des Ereignisses und seine Wiedergabe mit sprachlichen Mitteln konstatiert werden: Das Vorhandensein des Postfixes -ся bei russischen reflexiven Verben, die in ihrer lexikalischen Bedeutung eine reziproke Handlung explizieren – vgl. умыть ‚waschen‘ : умыться ‚sich waschen‘ –, unterstützt u.E. die vorgeschlagene Beschreibung der „Semantik eines Zustands“. Die Äußerungen vom Typ Мне не спится beschreiben also einen Zustand des (grammatisch in den Dativ gesetzten) Subjekts als ein vorhandenes (aufgetretenes) Phänomen, ohne seine Ursachen zu ergründen. Ob in den entsprechenden Äußerungen mit agentivischen Konstruktionen wie Ich kann nicht schlafen (jeder von uns kennt derartige ‚phänomenologische‘ Zustände) das Ergründen der Ursachen (samt des aktiven Handelns) impliziert ist und ob die kausative Weltbetrachtung an dieser

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Stelle überlegener ist, sei dahingestellt. Jedenfalls verwendet das Russische entsprechende synonymische agentivische (aktive) Konstruktionen (mit dem Subjekt im Nominativ), wenn ausgedrückt werden soll, dass die Ursachen des ‚Zustandes‘ bekannt sind, vgl.: Я не могу спать, потому что в комнате душно (dt. ‚Ich kann nicht schlafen, weil es im Zimmer stickig ist‘); eine Äußerung wie ∗Мне не спится, потому что в комнате душно (vgl. Gabka 1976: 95) wäre kaum möglich. Das Spezifikum der russischen Äußerungen mit den Verbformen auf -ся, die keine Passivformen im Sinne der Genus verbi und keine Reflexivverben darstellen, wurde bereits zu Beginn der russischen Grammatikschreibung reflektiert (vgl. Lomonosov 1755: 137) und später mit dem Ausdruck einer speziellen ‚unpersönlichen‘ Bedeutung in einen Zusammenhang gebracht. In den gängigen modernen Syntaxtheorien werden diese Äußerungen als „eingliedrige Sätze“ („односоставные предложения“) behandelt (Gabka 1976: 91ff.). Sie seien dadurch gekennzeichnet, dass ihnen „die Relation zwischen der Subjektgruppe und Prädikatgruppe fehlt“; diese sei „auch potentiell nicht angelegt“ (ebd. 91). Dabei stellen die Sätze vom Typ Мне не спится, die nach Gabka (ebd. 95) „zu den produktivsten Erscheinungen der russischen Sprache“ gehören, eine besondere Gruppe innerhalb einer sehr heterogenen Klasse der eingliedrigen Sätze dar: Sie gehören der Klasse der ‚unpersönlichen Sätze‘ an, deren gemeinsames Hauptmerkmal die Bezeichnung eines Zustands „unabhängig von einem aktiven Agens“ (ebd. 93) sei. Eine weitere Gruppe der Klasse der unpersönlichen Sätze bilden die Äußerungen vom Typ [7] Меня знобит, На дворе светает (dt. ‚Draußen wird es hell‘) und [10] Его переехало трамваем, Лодку унесло ветром (dt. ‚Das Bot wurde vom Wind abgetrieben‘). Genauso wie die Sätze mit dem Verb auf -ся, das das prädikative Zentrum des Satzes bildet, bezeichnen die Sätze vom Typ [7] und [10] mit dem Verbum finitum in der dritten Person Singular als prädikatives Zentrum verschiedene physische oder psychische Zustände eines Lebewesens bzw. verschiedene Zustände in der Natur, im Milieu etc. (ebd. 93). Mit der gleichen Funktion sind ebenso die sogenannten „unbestimmt-persönlichen Sätze“ (ebd. 92-93) vom Typ [8] Меня зовут Николай, Передают последние известия (dt. Die neuesten Nachrichten werden gesendet) ausgestattet mit dem Verbum finitum in der dritten Person Plural als prädikatives Zentrum. 4 Die Häufigkeit und Vielfalt der grammatischen Konstruktionen im Russischen, die einen Zustand bezeichnen, veranlassten Vinogradov in seiner originellen Grammatik der russischen Sprache (Vinogradov 1947/1972), eine spezifische grammatische Kategorie im Russischen auszugliedern – die „Kategorie des Zustandes“ (bzw. die Zustandskategorie) (Vinogradov 1972: 319ff.). Im Zentrum der Zustandskategorie stehen nach Vinogradov die Sätze vom Typ [6] Мне нужно работать, Можно войти? (dt. ‚Darf [man]/ich reinkommen?‘) mit den sogenannten „unpersönlichen Wörtern“ (ebd. 325), d.h. den Modalwörtern wie нужно, должно, можно, нельзя u.a., die durch „unpersönlich-nominale Formen“ (ebd. 324), d.h. vor allem durch Kurzformen der Adjektive und Partizipien im Neutrum bzw. Adverbien, ergänzt werden – wie in den Sätzen vom Typ [9] Мне грустно, Вам легко говорить! (dt. wörtlich: ‚Ihnen [ist es] einfach, zu sagen!‘ Dt. sinngemäß: ‚Das sa4

Die Kategorien der Person und des Genus können wohl in den Sätzen vom Typ [7], [8], [10] als rein formale grammatische Charakteristika angesehen werden.

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gen Sie so einfach!‘). Diese „unpersönlichen Wörter“ bzw. „Formen“ üben in den entsprechenden Sätzen die Funktion des Prädikats aus (ebd. 320). Die oben beschriebenen unpersönlichen, eingliedrigen Sätze (wo ein Verbum finitum das prädikative Zentrum bildet) stehen nach Vinogradov der Zustandskategorie „sehr nahe“. Sie können u.E. also als ihre Peripherie aufgefasst werden. Wie in den Fällen Мне не спится : Я не могу спать; Меня зовут Николай : Моё имя – Николай (siehe oben) können im Russischen allen oben beschriebenen unpersönlichen Konstruktionen die synonymischen ‚aktiven‘ subjektenthaltenden grammatischen Konstruktionen entgegengesetzt werden, d.h. den eingliedrigen unpersönlichen Sätzen entsprechen ihre zweigliedrigen Pendants, die auch den unpersönlichen Sätzen mit Modalwörtern gegenüberstehen, vgl.: Ему хотелось слышать ее голос : Он хотел слышать ее голос Мне нужно работать : Я должен работать Можно войти? : Я могу войти? [7] Меня знобит : Я страдаю от озноба, У меня озноб Светает : Приближается рассвет [8] Передают последние известия : Радио передаёт / Диктор читает последние известия [9] Мне грустно : Я грущу Вам легко говорить! : Как легко Вы об этом говорите! [10] Его переехало трамваем : Его переехал трамвай Лодку унесло ветром : Ветер унес лодку

[5] [6]

Dies mag bedeuten, dass für die Beschreibung bestimmter innerer und äußerer Gegebenheiten eine gewisse Dualität in der russischen Sprache verankert ist, die auf Spezifika des Begreifens der Umwelt durch eine Menschengemeinschaft bezüglich ihres Kulturverständnisses zurückgeführt werden kann. Die beiden grammatischen Möglichkeiten unterscheiden sich nicht allein durch die ‚aktive‘ oder ‚passive‘ Darstellung des Geschehens: Sie stellen auf der semantischen Ebene keine absoluten Synonyme dar. Ihr Vorhandensein (wie auch die Produktivität der unpersönlichen Konstruktionen) bescheinigt u.E. die Wichtigkeit des differenzierten Begreifens bestimmter innerer und äußerer Gegebenheiten der Welt als Zustände bzw. Phänomene außerhalb der ‚Subjekt-Objekt-Beziehungen‘. Dieses duale Welterkenntnismodell scheint im Bewusstsein der Träger des russischen Kulturkreises auf allen Denkebenen tief verankert und selbstverständlich zu sein. Das folgende markante Beispiel möge dies exemplarisch demonstrieren. In der russischen Philosophischen Enzyklopädie (1967: 211) wird das allgemein bekannte philosophische Phänomen des ‚Paradox des freien Willens‘ (‚парадокс свободы воли‘) wie folgt dargestellt: Der Mensch sei frei in seinem Willen, seinem Verhalten (Handeln), wenn er alles tun kann und nur das tut, was er will. Dabei seien unter dem freien Verhalten des Menschen alle Arten seines nur denkbaren Handelns (bzw. Nicht-Handelns) – darunter auch das Wollen – zu verstehen. Um eine Handlung freiwillig auszuführen, müsse jedoch der Mensch dieses zuerst wollen. Da aber das Wollen im Rahmen dieses Verständnisses des freien Handelns des Menschen auch eine Handlung beinhaltet, könne der Mensch seinen Willen nicht frei ausüben: Er müsse zuerst wollen, um zu wollen.

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Das vorliegende ‚Paradox des freien Willens‘ wäre jedoch aufgehoben – so der Autor des hier zitierten Artikels aus der russischen Philosophischen Enzyklopädie –, wenn man in der Definition die Beschreibung ‚он хочет хотеть‘ (dt. ‚er will wollen‘) durch die Beschreibung ‚ему хочется хотеть‘ (dt. ∗‚ihm wünschte [es], zu wollen‘, vgl. [5]) ersetzen würde. Dieser Vorschlag eines russischen Philosophen in einem renommierten Nachschlagewerk ist u.E. nur so zu deuten, dass seinem Verständnis nach der ‚freie Wille‘ in einem dualen Verhältnis zu begreifen wäre: Einem aktiven, ‚freien‘ Handeln (dem ‚freien Willen‘) ist ein bestimmter (psychischer) Zustand (kein Handeln!) vorauszusetzen. Im Übrigen steht das Wort воля im Russischen sowohl für ‚Willen‘ als auch für ‚Freiheit‘ 5 im Deutschen. In der Bedeutung ‚Freiheit‘ bildet воля ein partielles Synonym zu свобода, vgl. выпустить на волю / на свободу (dt. ‚in die Freiheit entlassen‘). Die Bedeutungsdifferenz zwischen den beiden Begriffen liegt darin, dass воля die ‚unkontrollierbare, grenzenlose Freiheit‘ bezeichnet (vgl. [народная] вольница ‚Anarchie‘), wogegen свобода im Sinne der ‚Freiheit als eine bewusste Notwendigkeit‘ des Individuums zu verstehen ist. In dieser Bedeutung wird свобода auch als philosophischer Terminus verwendet (vgl. свобода воли ‚der freie Wille‘, s. oben). (In der Alltagssprache korreliert das Wort свобода mit der Bezeichnung слобода ‚freie Siedlung‘ 6). Auf diese Weise spiegelt sich u.E. das duale Welterkenntnismodell auch auf der Ebene der Lexik wider: Einerseits ist da die Freiheit als das gegebene Phänomen, das womöglich durch eine ‚außermenschliche‘ Macht im Sinne eines ‚außermenschlichen‘ Willens bestimmt ist – dafür das Wort воля in seinen beiden Bedeutungen –, anderseits ist da die Freiheit als das bewusste Handeln des Individuums – dafür das Wort свобода. Eine derartige binäre Bezeichnungsopposition erfasst im Russischen die wichtigsten abstrakten moralischen Begriffe (vgl. Stepanov 1997). Hier sei sie anhand von zwei weiteren Beispielen demonstriert. Dem deutschen Begriff (Lexem) ‚Wahrheit‘ stehen im Russischen die Bezeichnungen правда und истина gegenüber. Durch die Bezeichnung правда wird die Wahrheit als ein objektiv gegebenes Phänomen (die objektive Wahrheit) repräsentiert, was ebenso die Begriffe (und ihre sprachlichen Bezeichnungen) право (dt. ‚Recht‘), правый (dt. ‚gerecht‘), правильный (dt. ‚richtig‘) inkludieren. Die Bezeichnung истина gilt der (durch das Individuum) ‚subjektiv erlebten‘ Wahrheit (wahren Gegebenheit), vgl. истец ‚Zeuge (im Gerichtsprozess)‘. Die ‚tautologische‘ Schwurformel истинная правда wird dementsprechend verwendet, um der Glaubwürdigkeit einer Ausführung eine besondere Kraft zu verleihen – aus subjektiver und objektiver Sicht (vgl. Uspenskij 1994: 92, Černikov 1999). Der russische Ausdruck стыд и срам beschreibt moralische Zustände bzw. Empfindungen, die im Deutschen mit den Begriffen ‚Schande‘ und ‚Scham‘ verbunden sind. Zweisprachige Wörterbücher geben die beiden Entsprechungen der jeweiligen Sprache undifferenziert zu jedem der fremdsprachlichen Begriffe an. Im Russischen 5

6

Die gängigen Wörterbücher des Gegenwartsrussischen verzeichnen hier zwei Homonyme воля1 und воля2 (Оžegov, Švedova 1994: 92), wobei im Altrussischen die Bedeutungen ‚Wille‘ und ‚Freiheit‘ als zwei Bedeutungen eines polysemen Wortes воля (< въля) gelten (Sreznevskij 1989, 1: 298-299). Die phonetische Alternation [v]:[ł] gilt in den slawischen Sprachen als regulär.

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kann jedoch u.E. auch hier eine duale Opposition zwischen den beiden oft synonym gebrauchten Bezeichnungen nachempfunden werden: Стыд beschreibt aus unserer Sicht einen Zustand, der dem Individuum quasi von außen auferlegt wird; срам dagegen Empfindungen, die das Individuum selbst zu verantworten hat. Die Ausdrücke срамные слова (dt. ‚Schimpfwörter‘), срамное место (dt. ‚Genitalien‘), срамота (dt. ‚unanständiges Verhalten‘) stehen für Gegebenheiten, die auf das Handeln bzw. die Beschaffenheit des Individuums zurückgehen. Im Gegensatz dazu bezeichnen die Redewendungen сгореть от / со стыда (dt. ‚sich in Grund und Boden schämen‘), Как тебе не стыдно! (dt. ‚Schäm dich!‘) die Zustände, denen das Individuum ausgesetzt wird. Dem Dualismus in der russischen Kultur sowie der Rolle dualer Modelle in der russischen Kulturgeschichte wurden bereits einige Untersuchungen gewidmet (Lotman/Uspenskij 1977, Uspenskij 1996 u.a.). Im Grunde genommen versuchte bereits Berdjajew (1914-1917, 1923), damit die Antinomie der russischen Kultur zu ergründen (siehe oben). Aus unserer Sicht kann angenommen werden, dass dem Kulturverständnis der Menschengemeinschaft des russischen Kulturkreises ein duales Welterkenntnismodell zugrunde liegt, welches ein differenziertes Begreifen der Umwelt voraussetzt – in den vom menschlichen Handeln unabhängigen Phänomenen bzw. Zuständen einerseits sowie in den durch menschliches Handeln veränderbaren Umständen anderseits. Dieses Modell entspricht u.E. der Beschreibung des „phénomène humain“ durch den französischen religiösen Philosophen und Naturforscher Pierre Teilhard de Chardin (1970), der den Akt der Erkenntnis in seiner Vollkommenheit in zwei unzertrennlichen Phasen als die „Einheit des Verstandes und des Glaubens“ (der Wissenschaft und der Religion) erblickt (Teilhard de Chardin 1970: 223). Dabei stehe der Verstand für das menschliche Handeln bei der kausativen Weltbetrachtung und der Glaube für das phänomenologische Begreifen der Umwelt. Unsere Annahme sehen wir durch das hier analysierte sprachliche Material untermauert, das uns als ein Spiegel für das russische Kulturverständnis diente. Diesbezüglich steht jedoch die Erklärung für das zweite, zu Anfang des Beitrags in den Beispielen [1] bis [4] avisierte ‚rätselhafte‘ sprachliche Phänomen im Russischen noch offen. Es bedarf zweifelsohne noch ausführlicher, sorgfältiger Forschungen, die gegenwärtig kaum betrieben werden (vgl. Radbilʼ 2015). Dennoch kann u.E. vermutet werden, dass der Ausdruck einer positiven Intention der Äußerung durch grammatische und lexikalische Negationsmittel einer Dualität in Bezug auf die zu erwartende Antwort bzw. Einschätzung – eine Bejahung oder eine Verneinung – geschuldet wäre, die im Sinne der phänomenologischen Weltbetrachtung in gegebener Situation von dem handelnden (eine Bitte bzw. eine Aufforderung äußernden) Subjekt unabhängig ausfällt: In der Bitte (Frage) [2] Не передадите ли мне соль? (dt. ‚Würden Sie mir [bitte] das Salz rüber reichen?‘) wird eine positive Reaktion des Interaktionspartners vorausgesetzt, sie ist jedoch nicht garantiert. Im zuletzt zitierten Beispiel Как тебе не стыдно! (dt. ‚Schäm dich!‘) (siehe oben) sehen wir die beiden ‚rätselhaften‘ sprachlichen Phänomene – eine positive Intention, ausgedrückt durch Negation in einer unpersönlichen syntaktischen Konstruktion – sogar vereint. Wurde in diesem Beitrag ein Versuch unternommen, das letztere Phänomen genauer zu ergründen – im vorliegenden Beispiel sehen wir einen Zustand syntaktisch und lexikalisch durch das Modalwort стыдно in Prädikatsfunktion abgebildet –, muss eine gründli-

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che Analyse des ersteren Phänomens (не стыдно als ‚schäm dich‘) zukünftigen Untersuchungen vorbehalten bleiben.

S CHLUSSBEMERKUNG Dem russischen Kulturverständnis liegt ein duales Welterkenntnismodell zugrunde, das der phänomenologischen Weltbetrachtung eine wichtige Rolle einräumt. Dies bildet sich in den sprachlichen Phänomenen ab. Es wäre jedoch unserem Verständnis nach aus wissenschaftlicher Sicht zu simplifizierend, geradezu vermessen, anhand dieser sprachlichen Phänomene (und anhand deren angeblichen Fehlens in westeuropäischen Sprachen) der russischen Kultur Konstanten wie ‚Irrationalität‘ – samt der Pointierung der Begrenztheit des logischen Denkens und der menschlichen Erkenntnis, der Unbegreiflichkeit des Lebens und der Umwelt – und ‚Passivität‘ zu bescheinigen – Passivität in Sinne des Vorhandenseins des Gefühls der Unmöglichkeit, das eigene Handeln zu kontrollieren und deswegen aktiv zu agieren, der Neigung zum Fatalismus und zur Unterwürfigkeit, des mangelnden Individualitätsbewusstseins (vgl. Wierzbicka 1997, siehe oben). Das duale Modell schließt das Begreifen der Umwelt mittels der ‚Subjekt-Objekt-Beziehungen‘ aus kausativer Sicht nicht aus, ganz im Gegenteil: Die beiden Erkenntnismechanismen vermögen sich im „phénomène humain“ (nach Teilhard de Chardin 1970, siehe oben) harmonisch zu ergänzen. Im Bewusstsein der Träger des russischen Kulturkreises scheint das duale Welterkenntnismodell nach wie vor auf allen Denkebenen fest verankert zu sein. Dabei nimmt die Bedeutung der phänomenologischen Komponente keineswegs ab: Das Schlagwort der russischen Google-Aufmachung lautet (in Form einer unpersönlichen, subjektlosen Konstruktion) Мне повезёт! (dt. ‚Mir wird [es] gelingen!‘, vgl. [5] bis [7], [9]; vgl. das Schlagwort beim deutschen Google-Betreiber: ‚Auf gut Glück!‘); die neueste Abschiedsformel heißt Удачи!. Als deutsche Entsprechung zum russischen Lexem удача (Genitiv Singular [желаю ‚ich wünsche‘] удачи) gelten laut Wörterbücher ‚Gelingen‘, ‚Erfolg‘, ‚Glück‘, die ebenfalls für das russische Wort успех stehen. Dennoch bezeichnet успех eine eigene Leistung, wogegen удача ein von der eigenen Leistung unabhängiges Gelingen bedeutet (vgl. дать ‚geben‘ → у-дач-а, [č