Mediation und christliche Verantwortung: Eine mediationstheoretische und systematisch-theologische Untersuchung [1 ed.] 9783737005524, 9783847105527, 9783847005520

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Mediation und christliche Verantwortung: Eine mediationstheoretische und systematisch-theologische Untersuchung [1 ed.]
 9783737005524, 9783847105527, 9783847005520

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Wiebke-Lena Laufer

Mediation und christliche Verantwortung Eine mediationstheoretische und systematisch-theologische Untersuchung

Mit 3 Grafiken

V& R unipress Universitätsverlag Osnabrück

®

MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen

www.fsc.org

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0552-7 ISBN 978-3-8470-0552-0 (E-Book) ISBN 978-3-7370-0552-4 (V& R eLibrary) Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Veröffentlichungen des Universitätsverlags Osnabrück erscheinen im Verlag V& R unipress GmbH. T 2016, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Wiebke-Lena Laufer : »Lebensordnung«, 2015. Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Zum Alten Berg 24, D-96158 Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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11 15

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20 23 33

Konfliktregulation am Beispiel der Mediation . . . . . . . . . . . . . . .

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1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Zur Hinführung: Die Alltagswelt als konfliktträchtige Lebenswirklichkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Zum Gegenstand der Untersuchung . . . . . . . . . . 1.3 Zur Herleitung von Verantwortung als gemeinsame Bezugsgröße von Mediation und Theologie . . . . . . 1.4 Zur Forschungslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Zur Profilierung und zum Aufbau der Untersuchung .

Teil 1

2 Der Konflikt als Phänomen zwischen Destruktivität und Konstruktivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Zur Definition des Konflikts . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die Eskalationsdynamik in Konflikten . . . . . . . . . . . . 2.3 Zur Korrelation von intrapersonalen und interpersonalen Konflikten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Die Konfliktträchtigkeit des Menschen – Anthropologische Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Zum Sinn von Konflikten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Ressourcenorientierte Intervention als Angebot zur Gegensinnstiftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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43 43 48

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64 71

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3 Mediation als ressourcenorientiertes Interventionsverfahren . . . . . 3.1 Zur Definition von Mediation . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

87 87

6

Inhalt

3.2 Das Verfahren als Antwort auf anthropologische Bedürftigkeit im Konfliktfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Verfahrensgrundsätze als Angebot zur Änderung von Verhalten . 3.4 Zur selbstbestimmten Verantwortung als Ziel der Mediation . . 3.5 Mediation als »selbstverantworteter Konsensweg« . . . . . . . . 3.6 Kommunikation als mediatives Mittel zur Übernahme von Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

95 104 110 114 116

4 Der Mensch als Verantwortungsträger in der Mediation . . . . . . . 4.1 Die Verfahrensverantwortung als Implikat der Mediatorenrolle 4.2 Zur Bedeutung der Mediatorenpersönlichkeit . . . . . . . . . . 4.3 Die Inhaltsverantwortung als Implikat der Mediantenrolle . . . 4.4 Zur Bedeutung der Mediantenpersönlichkeit . . . . . . . . . . 4.5 Die Zentralstellung des Menschen in der Mediation . . . . . . 4.6 Die »plausible Intention« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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127 127 135 145 153 163 166

5 Die Dimension hinter der Mediation – Religiöse Bezüge . . . . . . 5.1 Der Mensch als freies Wesen vor Gott . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Die Sünde als vom Leben trennende Kraft . . . . . . . . . . . . 5.3 Die »göttliche Energie« als Heilungskraft . . . . . . . . . . . . 5.4 Die Liebe als gelebte Konsensfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Verantwortung im Spannungsfeld von Selbstbestimmtheit und Hingabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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173 173 175 179 181

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186

Verantwortung und konsensuales Handeln . . . . . . . . . . . . . . . .

191

6 Grundannahmen zur Verantwortungsfähigkeit des Menschen . . . 6.1 Verantwortung als konstitutives Merkmal freien Menschseins . 6.2 Das Phänomen Verantwortung zwischen Entscheidung und Haftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Lebensweltliche Komplexität und die Verantwortung des konkreten Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Mediation als eine Möglichkeit zur Verantwortungsübernahme

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195 195

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201

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7 Verantwortung als Phänomen zwischen Individualität und Sozialität . 7.1 Verantwortung als soziale Konstruktion . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Verantwortungsethik als Sozialethik . . . . . . . . . . . . . . . .

221 221 225

Teil 2

7

Inhalt

7.3 Selbstverantwortung als Grundvoraussetzung für Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Zur Bedeutung von Selbstverantwortung in der Mediation . . .

231 236

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241

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241 256 266 275

9 Religiöse Reflexivität von Verantwortung . . . . . . . . . . . 9.1 Religiöse Freiheit als gebundene Freiheit . . . . . . . . 9.2 Der Mensch als gerechtfertigtes Wesen vor Gott . . . . 9.3 Akzeptanz als Ausdruck christlicher Liebe . . . . . . . 9.4 Selbstbestimmung als Hingabe aus dem Geist der Liebe

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285 285 290 296 302

Der Verantwortungsbegriff bei Dietrich Bonhoeffer . . . . . . . . . . . .

311

10 Das »Gute« als Sein in der Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1 Die Unterscheidung der menschlichen Existenz in Ego und Sein. 10.2 Eigenes »Gutsein« als Selbstüberschätzung des Menschen . . . . 10.3 Das »Wirklichkeitsgemäße« als das konkrete »Gute« . . . . . . . 10.4 Verantwortliches Handeln als wirklichkeitsgemäßes Handeln . .

317 317 320 324 328

11 Jesus Christus als Vermittler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1 Die Bedeutung des Versöhnungsgeschehens . . . . . . . . . . . 11.2 »Stellvertretung« und das Verhältnis von Bindung und Freiheit 11.3 Menschwerdung abseits des Prinzipiellen . . . . . . . . . . . . 11.4 Verantwortliches Handeln als stellvertretendes Handeln . . . .

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331 331 336 342 348

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351 351

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361

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368 373

8 Selbstverantwortung und Verantwortungsethik . . . . . . 8.1 Verantwortungsethik als Antwort auf konfliktträchtige Lebenswirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Selbstverantwortung als tiefste Verantwortungsart . . 8.3 Verantwortungsethik als fragende Ethik . . . . . . . . 8.4 Mediation als Inszenierung einer reflexiven Welt . . .

Teil 3

12 Die Handlungsfreiheit des Menschen im Dienst an Gott . 12.1 Der Mensch als mündiges Wesen vor Gott . . . . . . 12.2 »Dasein-für-andere« als Ausdruck christusgemäßer »Mündigkeit« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.3 Das Wagnis des Handelns und die Bereitschaft zur Schuldübernahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.4 Verantwortliches Handeln als mündiges Handeln . .

8

Inhalt

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377 377 384 387 391

Verantwortung als Schnittstelle von Mediation und Theologie . . . . . I. Zur Korrelation zwischen einem verfahrenstheoretischen und einem sinngenerierenden Verantwortungsbegriff . . . . . . . . II. Zur Unterscheidung von vordergründiger und hintergründiger Sinnstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zur sinnhaften Selbstbestimmung als Determinante verantwortlichen Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zur Bedeutung einer christlichen Bewusstseinsdimension für die sinnhafte Selbstbestimmung des Menschen . . . . . . . . . V. Zur Relevanz der Schnittstelle von Mediation und Theologie .

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397

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401

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411 413

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

423

Verzeichnis der Sigla und Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

439

13 Der verantwortliche Mensch . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.1 Persönliche Voraussetzung zur Verantwortungsfähigkeit 13.2 Der Wille Gottes und die Antwort des Menschen . . . . 13.3 Das Gewissen als Ruf zur Einheit mit Gott . . . . . . . 13.4 Verantwortliches Handeln als gewissenhaftes Handeln .

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Teil 4

Vorwort

Die vorliegende Untersuchung wurde im Wintersemester 2014/15 vom Fachbereich Erziehungs- und Kulturwissenschaften der Universität Osnabrück als Dissertationsschrift angenommen. Für die Drucklegung wurde sie geringfügig bearbeitet. Mein ganz herzlicher Dank gilt zunächst Prof. Dr. Arnulf von Scheliha. Wir waren einander noch unbekannt, als ich an seine Tür klopfte und um Einlass bat. Er öffnete sie mir und meinen Forschungsideen mit großem Wohlwollen, bereit dazu, mich wissenschaftlich und persönlich zu begleiten, mir mit (fachlichem) Rat und Tat zur Seite zu stehen. Das Vertrauen und die Loyalität, die er mir stets entgegenbrachte, sind mir zu einem kostbaren Geschenk geworden, das ich zutiefst wertschätze. In vielerlei Hinsicht wurde er mir zu einem wichtigen Lehrer, der mich förderte und forderte und mich dazu ermutigte, mein eigenes (wissenschaftliches) Profil zu schärfen, auch indem er mir während meiner Assistentenzeit beachtliche Freiheiten gab, mich meinen Forschungen zu widmen. Schließlich verfasste er das ausführliche Erstgutachten. Sodann danke ich Prof. Dr. Elisabeth Naurath, die meiner wissenschaftlichen Arbeit freundliches Interesse entgegengebracht und sich in großzügiger Weise dazu bereit erklärt hat, das Zweitgutachten zu verfassen. Dankbar bin ich zudem Johanna Brechmann, Arne Kilian, Karen Ling, apl. Prof. Dr. Gebhard Löhr, Gudrun Schlottmann, Dr. Matthias Stephan und Dr. Sven Wiesinger für mancherlei Ermutigung und hilfreiche fachliche Diskussionen, für kritisches Hinterfragen und konstruktives Mitdenken, für inhaltliche Impulse und formale Bereicherungen und nicht zuletzt für das Lesen von Korrekturfahnen. Weiterhin gilt mein Dank auch denjenigen, die mich auf ihre je eigene Art und Weise zu einer Promotion ermutigt und mich fachlich wie persönlich geschult und herausgefordert haben. Zu diesen Personen gehören insbesondere Prof. em. Dr. Elke Axmacher, Prof. em. Dr. Dagmar Hänsel, Prof. em. Dr. Gisela Kittel, Dr. Hans Jürgen Dohmeier (†) und Prof. Heinz Streib, Ph. D. sowie Axel Stockmeier,

10

Vorwort

der mich zudem mit einer mir inzwischen wichtig gewordenen Freundin bekannt machte: der Mediation. Einen ganz »praktischen Dank« möchte ich meiner Ausbilderin Anita von Hertel aussprechen, von deren herausragender Mediationskompetenz ich lernen durfte, und »meinen« Schülern an der ehemaligen Förderschule am Bindfeldweg, die es mir nicht erlaubt haben, mich in einen abgeschiedenen Bereich des theoretischen Nachdenkens zurückzuziehen. Sie haben mich nicht mit ihrem Konflikterleben verschont, sondern sind mir mit ihrer ganzen Präsenz begegnet, mit ihrem Lachen und Weinen, mit ihrem Vertrauen und Misstrauen, mit ihrer Liebe und Wut. Schließlich muss sich an ihrer Lebenswelt jedes Konfliktregulationshandeln bewähren. Ich danke euch für jede authentische Begegnung, die ihr mir geschenkt habt! Ein sehr grundlegender und kaum in Worte fassbarer Dank gilt meinen Eltern Eva und Heinrich Brechmann. Sie haben mich stets dazu ermutigt, meinen Weg zu gehen und ihnen verdanke ich meine ersten kostbaren Erfahrungen in Sachen Selbstbestimmtheit und Akzeptanz. Schließlich und in besonderer Weise bin ich meinem Ehemann Steffen dankbar. Sein Blick auf die Dinge hat mich (in meiner Arbeit) besonders bereichert und auch herausgefordert. Ich bewundere seine vertrauensvolle Großherzigkeit und seine unbeugsame Unterstützung, die er mir hat zuteilwerden lassen. Mein inniger Dank gilt ihm, der sich mit mir gemeinsam auf unseren Weg machte und den Mut hatte, mich mit sich selbst zu beschenken. Gewidmet dem Alles-in-Allem. Bielefeld, im Januar 2016

Wiebke-Lena Laufer

1

Einleitung

1.1

Zur Hinführung: Die Alltagswelt als konfliktträchtige Lebenswirklichkeit?

Die Tageszeitung zu öffnen, das Radio anzuschalten, sich im Internet zu bewegen, das Fernsehgerät anzustellen, sich mit dem Nachbarn zu unterhalten – all diese Aktivitäten konfrontieren mit hoher Wahrscheinlichkeit mit Krisen, Konflikten und Katastrophen. Der informierte Bürger weiß um andauernde und akute Konfliktsituationen in unterschiedlichen Regionen der Welt. Ihm werden umfassende Berichterstattungen aus Katastrophengebieten präsentiert. Die neuesten Entwicklungen in Sachen EURO- und Wirtschaftskrise können mit einem Blick auf die Tagespresse kaum übersehen werden. Die Darstellungen bedrohlicher Szenarien durch schwierige Situationen der Krankenkassen und des gesetzlichen Rentensystems finden mit immer neuen Nuancen ihren Platz im politischen Alltagsgeschehen. Die Öffentlichkeit weiß um Großkonzerne, die in Krisen geraten, durch welche die Arbeitsplätze vieler Menschen bedroht werden. Zur Einschätzung tatsächlicher und vermutbarer Auswirkungen der Arbeitslosenzahlen auf den Sozialstaat Deutschland werden Expertenmeinungen hinzugezogen. Die Bandbreite der Negativnachrichten ist groß und ihr Strom scheint nicht zu versiegen. Im Gegenteil werden Begriffe wie »Krise«, »Konflikt« und »Katastrophe« in fast schon inflationärer Weise verwendet und sind damit allgegenwärtig. Es scheint, als würde geradezu nach »attraktiven Sensationen«1 gesucht, um sie massenmedial so aufzubereiten, dass ihr – wenn auch noch so unbedeutender Problemcharakter – aufsehenerregend in Szene gesetzt wird. Gegenüber dieser Omnipräsenz von Krisen und Katastrophen in der öffentlichen Berichterstattung lässt sich eine fast gleichermaßen starke gegenläufige Tendenz von Verlautbarungen feststellen. In vielfältiger Weise wird suggeriert,

1 Friedrich Glasl: Konfliktmanagement, 14.

12

Einleitung

dass ein perfektes und von Problemsituationen und Bedrängnissen befreites Leben möglich ist. Ein bestimmtes Ess- und Bewegungsverhalten – so machen Gesundheitskampagnen glaubend – könne die Gesundheit zu einem sicher verfügbaren Gut werden lassen, weil Krankheiten dadurch vermeidbar würden. Dazu verheißen die Einnahme bestimmter Präparate und die regelmäßige Inanspruchnahme von Wellnessangeboten den dauerhaften Erhalt jugendlicher Schönheit abseits jeden körperlichen Verfalls. Bestimmte Gedanken- und Verhaltenstechniken korrekt anzuwenden, ermögliche ein Leben in einem Zustand vollkommenen Glücks und der permanenten Lebensfreude versprechen Methoden zum Mentaltraining. Eine lückenlose Lebensplanung gepaart mit entsprechenden Vorsorgemaßnahmen, wie eine Reihe von Versicherungen, muten wie eine Garantie für ein rundherum sorgloses und sicheres Leben an, mit dem finanzielle Absicherung gewährleistet zu sein scheint. Zunehmend sind »Zufriedenheitsgarantien« und »Erfolgsversprechen« aus Marketingstrategien nicht mehr wegzudenken. Perfektionssuggestionen, die noch dazu mit Garantieversprechen belegt werden, erwecken den Anschein von Monokausalitäten, die das Potenzial zur grundlegenden Lebensveränderung verheißen. Durch einseitige »Wenn-dann-Annahmen« simplifizieren sie das Leben und entheben es dem Anschein nach seiner Komplexität. An dieses Bedürfnis nach lebensweltlicher Komplexitätsreduktion anzuknüpfen, führt dazu, dass der Mensch in seinem Wunsch danach angesprochen wird, ein Leben jenseits von (alltäglichen) Herausforderungen zu führen. Dadurch werden die Illusionen genährt, dass lebenswirkliche Probleme eigentlich nicht sein dürften, also ein Ausdruck von Mangelhaftigkeit sind und sich der Mensch nur richtig verhalten müsste, um sie grundsätzlich zu eliminieren. Dies hat auch zur Folge, dass die Vorstellung von gelingendem Leben nahezu vollständig an die Selbstkraft des Menschen gebunden wird und Lebensverläufe, die den perfektionistischen Bildern nicht genügen, das persönliche Verfehlen des Menschen offenkundig zu machen scheinen. Tatsächlich aber zeigen die Grunderfahrungen des Menschseins auf, dass sich das Leben nicht in absoluter Weise kontrollieren lässt. Die perfekte Kontrolle ist eine Illusion. Es ereignen sich Höhen- und Tiefenmomente, die nicht von Dauer sind, sondern Vorkommnisse, die in mehr oder weniger nachhaltiger Weise in das Leben des Einzelnen hineinwirken und Spuren darin hinterlassen. Hinter den namen- und gesichtslosen Dramen etwa, die sich in Kontexten größerer Öffentlichkeit in Politik und Gesellschaft verortet lassen, verbergen sich Einzelschicksale. Die schwierigen Situationen, denen Menschen innerhalb ihrer persönlichen Lebensumstände ausgesetzt sind, lassen sich oft weniger offensichtlich erkennen bzw. sind in der Regel einer deutlich kleineren Öffentlichkeit

Zur Hinführung: Die Alltagswelt als konfliktträchtige Lebenswirklichkeit?

13

bekannt.2 Hier tragen sich Ereignisse wie Krankheiten zu, drohende oder eingetretene Arbeitslosigkeit sowie der Verlust nahestehender Personen. Solche und ähnliche Anlässe können dazu beitragen, dass persönliche Krisen auftreten. Sie eint, dass sie einerseits eine Bewusstheit für ein (vermeintliches) Problem hervorrufen. Das heißt, dass sich die Aufmerksamkeit auf diejenigen Zustände richtet, deren momentaner Zustand nicht wünschenswert ist. Dies führt andererseits dazu, dass die betroffene Person dazu herausgefordert ist, mit der jeweiligen Problemsituation umzugehen. Es ereignen sich also Veränderungen im Selbsterleben eines Menschen, weil die herkömmlichen Problemlösungsstrategien zur Alltagsbewältigung nicht mehr bzw. nur noch in unzulänglicher Form greifen. Daraus ergibt sich ein Bedarf nach Maßnahmen im Umgang mit der eingetretenen, als schwierig empfundenen Situation. Die Bandbreite der Handlungsmöglichkeiten ist dabei sehr vielfältig und die Entscheidung für eine Maßnahme, die selbst schon zur Herausforderung werden kann, generiert die Art und Weise des Krisenmanagements. Der Ausgang der Situation steht demnach in engem Verhältnis zur Wahl des Menschen für ein entsprechendes Handeln. Zudem ist die Einschätzung dahin gehend entscheidend, welchen realistischen Nutzen heuristische Strategien tatsächlich haben können. Sie an den Perfektionsvorstellungen eines rundherum gelingenden Lebens zu messen, muss ihre tatsächlichen Wirkungsmöglichkeiten überfordern. Darin besteht aber auch nicht ihr Selbstanspruch. Vielmehr geht es darum, dem Menschen als Hilfsmittel zu fungieren, damit er selbstbestimmt auf den Bedarf nach Lebensbewältigung reagieren kann. Strategien, die den praktischen Lebensvollzug unterstützen, können also demjenigen dienlich sein, der sich der Ohnmacht unter dem Eindruck einer persönlichen Krisensituation nicht ausliefern will und sich zugleich gegen übermächtige Perfektionsansprüche verwehrt, denen sein wirkliches unausgewogenes Dasein nicht genügen kann. Hierbei ist die ganz persönliche Antwort des Einzelnen gefragt, der seine Selbstkraft im Spannungsfeld von beeinflussbaren und nicht beeinflussbaren Faktoren des Lebens einsetzt. Stets geht zunächst die grundlegende Erkenntnis voraus: »Krise kann ein produktiver Zustand sein. Man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.«3 Eine Krise wirkt sich solange negativ aus, wie der betroffene Mensch es zulässt, dass seine Bewusstheit von der Vorstellung 2 Dies gilt auch und vielleicht insbesondere für jene Fernsehformate, die persönliche Schicksale Einzelner zur Schau stellen. Die mediale Aufbereitung von Ausschnitten eines Einzellebens mag vermutlich wenig mit den tatsächlichen Geschehnissen innerhalb des jeweiligen individuellen Lebensvollzugs zu tun haben. Einschaltquoten und Vervielfältigungen derartiger Sendungen sprechen allerdings für eine grundsätzliche Empfänglichkeit des Menschen dafür, sich Schwierigkeiten im Leben anderer aus der Distanz heraus anzusehen, sich vom Gesehenen abzugrenzen und sich selbst mittels eines Vergleichs aufzuwerten. 3 Max Frisch (1911–1991).

14

Einleitung

beansprucht wird, es handele sich um eine unabwendbare Katastrophe. Erst wenn für realistisch gehalten wird, dass sich bestimmte Lebensumstände durch eigenmächtiges Handeln verändern lassen, können Handlungsmöglichkeiten hinsichtlich ihrer Praktikabilität überprüft werden. Die persönliche Lebensdeutung des Menschen und eine konkrete situative Maßnahme, um ein aktuelles Geschehen zu bewältigen, greifen bei dieser Art von Bewusstseinssteuerung solchermaßen ineinander, dass sie sich hinsichtlich des praktischen Lebensvollzugs sinnvoll ergänzen. Zu den Möglichkeiten, das eigene Leben zu deuten, gehört der Gottesglaube. Wenn er vorhanden ist, dient er dem Menschen dazu, sich grundlegend zu orientieren und zu koordinieren, indem alltäglichen und außeralltäglichen Lebenssituationen aus der Perspektive des Glaubens heraus Sinnhaftigkeit zugeschrieben wird. Dadurch legt der Mensch sein eigenes Dasein aus und initiiert Selbstklärungsprozesse. Der Gottesglaube fungiert dann als eine Antwort auf den grundsätzlichen Deutungsbedarf der menschlichen Lebenswelt, indem er das Leben religiös interpretiert. Für Dietrich Bonhoeffer4 drückt sich im Glauben an einen Gott, der die Unvollkommenheit dieser Welt und die Fehlbarkeit des Menschen mit ins Kalkül zieht, eine Hoffnungsdimension aus. Er geht davon aus, dass es einen Gott gibt, der die Welt so ansieht, wie sie ist, nämlich als einen Ort der Trennung, des Konflikts, der Schuld und des Leidens. Zugleich liegt in ebendiesen beschwerlichen Umständen des Lebens ein sinnhaftes Wandlungspotenzial, wenn geglaubt wird, »dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will«. Eine solche Interpretation wird dann lebenspraktisch relevant, wenn es darum geht, dieses Wandlungspotenzial durch eigenes Handeln konkret zu initiieren. Denn, damit aus den Widernissen des Lebens Gutes entstehen kann, braucht es »Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen«5. Solche Menschen zeichnen sich dadurch aus, dass sie konkret handelnd auf Umstände antworten, die sich in ihrem Leben ereignen. Dazu nutzen sie auch solche heuristischen Maßnahmen, die darin unterstützen, ein aktuelles Geschehnis abseits seines »Beigeschmacks der Katastrophe« konstruktiv zu bewältigen. In zwischenmenschlichen Konfliktfällen, die sich zu den Phänomenen herausfordernder Lebenssituationen zählen lassen, gibt es unterschiedliche Grundmuster, durch die sich eine Konfliktsituation solchermaßen lösen lässt, dass die Beteiligten in ihren Handlungsmöglichkeiten nicht mehr durch sie beeinträchtigt werden. Ihre Bandbreite erstreckt sich ausgehend von Flucht über 4 Mit Ausnahme dieser Einleitung und der Kapiteleinführungen werden die Autoren i. d. R. im Haupttext und in jeder Fußnote einmal mit Vor- und Zunamen benannt. Anschließend wird der besseren Lesbarkeit halber lediglich der Nachname verwendet. 5 Beide Zitate DBW 8, 30.

Zum Gegenstand der Untersuchung

15

Vernichtung bis dahin, einen Konsens anzustreben.6 Mit dem Ziel, Konflikte auf einvernehmliche Weise zu regeln, kann Mediation7 als ein Verfahren zur gewaltfreien Bearbeitung von Konflikten als eine konkrete situative Maßnahme gewählt werden. Mediation gibt eine äußere Struktur vor, innerhalb derer zu einer Regulierung bzw. Lösung der Situation gelangt werden kann. Diese Struktur wird aber erst dadurch wirksam, dass sie einzelfallbezogen aufbereitet wird. Dies ereignet sich, indem die Mediationsbeteiligten innerhalb eines vorgegebenen Kommunikationsrahmens auf eine Weise interagieren, durch die sich der Konfliktregulationshergang individualisiert und entsprechend verlebendigt. Dabei kommt es zu Wechselwirkungen zwischen grundsätzlichen persönlichen Lebensdeutungsmustern der Beteiligten und Mediation als Maßnahme zum Umgang mit einer Konfliktsituation. Die vorliegende Arbeit will einen Beitrag dazu leisten, die Schnittstelle zwischen einer Lebensdeutung, die sich im Gottesglauben gründet, und Mediation genauer zu untersuchen.

1.2

Zum Gegenstand der Untersuchung

Der Ausgangspunkt für diese Untersuchung, die sich auf den Sachverhalt der beschriebenen Wechselwirkung bezieht, ist der Konflikt8. Ein Konflikt ist diejenige Situation, die nach einer konkreten Maßnahme verlangt, um die konfliktären Anforderungen bewältigen zu können. Wie oben angeführt, gehören Konflikte wesenhaft zur menschlichen Erfahrungswelt. Sie zeigen an, dass bestimmte Lebensverhältnisse, so wie sie gegenwärtig bestehen, nicht mehr mit den tatsächlichen lebensweltlichen Anforderungen kompatibel sind. 6 Die Grundmuster der Konfliktlösung werden an späterer Stelle vertiefend aufgegriffen (vgl. 2.6 Ressourcenorientierte Intervention als Angebot zur Gegensinnstiftung). 7 Zur ausführlichen Beschreibung dessen, was Mediation ist und wodurch sie sich auszeichnet vgl. 3.1 Zur Definition von Mediation. 8 Es muss zwischen »Konflikten« und »Problemen« unterschieden werden. Ein »Problem« [lat. problema < griech. prjble¯ma] bezeichnet eine Streitfrage, eine gestellte (wissenschaftliche) Aufgabe (vgl. Deutsches Universalwörterbuch, 1243; Wörterbuch Latein – Deutsch, 721), während ein »Konflikt« [lat. conflictus] als Aufeinandertreffen (über : Zusammenstoß) einander gegenüberstehender Auffassungen, Interessen und Positionen zu verstehen ist, wodurch ein Widerstreit entsteht (vgl. Deutsches Universalwörterbuch, 933; Wörterbuch Latein – Deutsch, 177). Der Ausdruck »Pannen« beschreibt nach Gerhard Schwarz eine den Bereich der Logik betreffende unerwartete Schwierigkeit, wie beispielsweise einen Softwarefehler, die unabsichtliche terminliche Verspätung aufgrund von Anreiseschwierigkeiten o. ä. Hinsichtlich des Weiterentwicklungspotenzials, das in Konflikten liegt, gilt: »Pannen sind zu meiden und nicht zu pflegen. Sinnvolle Konflikte sind zu pflegen. Die Erfahrung lehrt, dass es besonders dort zu großen Problemen kommt, wo Pannen gepflegt und Konflikte vermieden werden« (ders.: Konfliktmanagement, 37). Was unter Konflikten zu verstehen ist, wird an späterer Stelle separat untersucht (vgl. 2.1 Zur Definition des Konflikts).

16

Einleitung

Damit decken sie einen Bedarf an Veränderung auf und verlangen nach lebenspraktischen Neuausrichtungen. Sowohl die individuelle Entwicklung des einzelnen Menschen als auch die gattungsgeschichtliche lassen sich zu großen Teilen darauf zurückführen, Erlerntes und Erfahrenes reflexiv auszuwerten und sich auf diese Weise fortwährend neu zu orientieren. Ist eine Neuorientierung erfolgt, wird sie etabliert, bis sich erneut ein Anpassungsbedarf zeigt. Neben dem jeweiligen Stand der Wissenschaft, der allgemein anerkannte Erkenntnisse auf eine breite Basis stellt und sie einordnet, sorgen traditionelle, religiöse und kulturelle Systeme für eine entsprechende soziale Ordnung, die dem einzelnen Menschen sowie dem Kollektiv Verhaltenssicherheit und damit eine Grundlage für ein teilbares Verständnis von Gemeinschaft bietet. Hier vollziehen sich ununterbrochen Veränderungen, die – insbesondere in Zeiten zunehmender lebensweltlicher Pluralität – geltende Selbstverständlichkeiten aufweichen oder gar auflösen. Dass verschiedenartige Vorstellungen von Tradition, Kultur, Religion, Wert, Ethik etc. einander gegenüberstehen, macht es notwendig, sich gemeinschaftlich neu zu orientieren. Pointiert zum Ausdruck gebracht, beschreiben diese Veränderungen Segen und Fluch des Wandels, der stets eine Neuausrichtung des Lebens beansprucht. Konflikte veranlassen Menschen nämlich zu Entscheidungen darüber, ob dem konstruktiven Veränderungspotenzial oder dem destruktiven Zerstörungspotenzial, die Konflikten beide gleichermaßen innewohnen, »im Selbstauftrag«9 gefolgt wird. Die Ausrichtung des Handelns beeinflusst, ob sich Konflikte förderlich oder hemmend auf die Veränderung von Sozialstrukturen auswirken. Es bedarf Reflexionsleistungen, die einen Anspruch auf die Fähigkeit zur Verhaltenssteuerung erheben, um konfliktdynamische Eigenlogiken zu durchbrechen und bewusstseinsgesteuerte Handlungen auf konstruktive Veränderungspotenziale hin auszurichten. Konflikte stellen den Menschen also vor die Herausforderung, sich für oder gegen eine zielgerichtete und zweckdienliche »Selbstaneignung von Lebenswelt«10 zu entscheiden und demgemäß zu handeln. Im Falle von Konflikten, die die Beteiligten dazu anhalten, sich bestimmte lebensweltliche Aspekte neu anzueignen, stellt Mediation eine Möglichkeit dar, um sich durch eine Verfahrensstruktur unterstützen zu lassen. Sie setzt voraus, dass sich die Konfliktparteien freiwillig dafür entscheiden, ihren Konflikt mediativ zu bearbeiten, um dadurch zu einem Konsens zu gelangen. Dabei delegieren die Betroffenen ihren Streit nicht an eine unbeteiligte Instanz, die dann außenperspektivisch eine Lösungsmöglichkeit vorgibt. Vielmehr ist es charakteristisch für Mediation, dass auf die Konfliktbearbeitungskompetenz der Beteiligten rekurriert wird und diese selbst dafür einstehen, zu Ergebnissen zu 9 Rudolf-Christian Hanschitz: Konflikte und Konfliktbegriffe, 66. 10 Ebd. (H. i. O.).

Zum Gegenstand der Untersuchung

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gelangen, die sie aus ihrer Innenperspektive heraus eigens entwickeln. Mit Lösungen, die Konfliktbeteiligten nicht von außen vorgeschrieben werden, sondern für die sie lediglich auf mediative Klärungshilfen zurückgegriffen haben, sind sie »besser identifiziert«11, sie »lieben sie mehr«12. Dies wiederum hat zur Folge, dass die selbst entwickelten Lösungen tragfähiger sind und sich weniger Probleme dahin gehend ergeben, sie konkret umzusetzen. Mediation ist also deshalb attraktiv, weil sie einen praktikablen Weg aufzeigt, um zu nachhaltigen konsensualen Lösungen zu gelangen. Hierin besteht auch ein bedeutsamer Grund dafür, warum Mediation in verschiedenartigen Zusammenhängen angewendet und fortwährend für neue Felder erschlossen wird.13 Die Wirksamkeit von Mediation steht inzwischen außer Frage. Empirische Forschungen belegen, dass sich Mediation dazu eignet, Konflikte nachhaltig und einvernehmlich zu regulieren.14 Mit dem Gesetz zur Förderung der Mediation und anderer Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung15 erhält Mediation in Deutschland eine zusätzliche rechtliche Legitimation. Weil sie sich darin bewährt hat, dass Konflikte auf eine einvernehmliche, zeitsparende und kostengünstige Weise sowohl im privaten als auch im geschäftlichen Bereich abseits gerichtlicher Vollzugsnotwendigkeit gelöst werden, soll die im Juli 2012 erfolgte gesetzliche Verankerung dazu beitragen, Mediation als ein außergerichtliches Konfliktregulationsverfahren zu fördern.16 Die Effektivität und die Effizienz von Mediation können also als allgemein anerkannt gelten, sodass es nur bedingt ertragreich sein würde, diese Spur weiter zu verfolgen, um nach zusätzlichen Legitimierungen zu forschen. Aus der grundsätzlichen Anerkenntnis ihrer Wirksamkeit ergibt sich allerdings eine darüber hinausweisende Frage: Wie und warum funktioniert Mediation? Ein grundlegendes Interesse an der Beantwortung dieser Frage besteht sowohl in durchführungspraktischer als auch in mediationstheoretischer Hinsicht: »Praktiker wollen wissen, was sie tun (und lassen) müssen, um erfolgreich zu arbeiten, die Wissenschaftler, wie der Erfolg der Mediation erklärt werden kann. Beide brauchen 11 12 13 14

Gerhard Falk u. a. (Hg.): Handbuch Mediation und Konfliktmanagement, 9. Gerhard Gattus Hösl: Mediation, 50. Vgl. Gerhard Falk u. a. (Hg.): Handbuch Mediation und Konfliktmanagement, 9. Reiner Bastine verweist auf entsprechende Studien (vgl. ders.: Konflikte klären, Probleme lösen, 42f.). 15 Das Mediationsgesetz ist einsehbar unter http://www.bundesgerichtshof.de/SharedDocs/ Downloads/DE/Bibliothek/Gesetzesmaterialien/17_wp/mediationsg/bgbl.pdf ?__blob=pu blicationFile. 16 Zu Hintergründen der Gesetzgebung vgl. http://www.centrale-fuer-mediation.de/gesetzge bung.htm.

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Einleitung

dieses Wissen, um die Wirksamkeit der Mediation weiter zu verbessern, ihre Einsatzmöglichkeiten genauer zu umgrenzen und Erfolge besser prognostizieren zu können.«17

Versuche dazu, dieses Forschungsgebiet weiter zu erschließen, erfolgen zumeist partiell. Das bedeutet, dass diese grundlegende Frage nach der Wirksamkeit in dem vornehmlich praxisorientierten Literaturbefund zu Mediation zwar tangiert, weniger aber explizit durchdrungenen wird. Es besteht also ein Desiderat dahin gehend, die Grundlagen von Mediation zu erforschen, um ihre Wirksamkeit nicht nur belegen, sondern auch vertiefend begründen zu können. Dabei ist nicht davon auszugehen, auf Begründungen zu stoßen, mit denen sich mediative Effektivität und Effizienz monokausal erklären lassen. Die jeweilige wissenschaftliche Perspektive und der gewählte methodische Zugang bedingen die Ergebnisse, zu denen gelangt werden kann, und dienen der Beantwortung der Wirksamkeitsfrage dadurch ausschnitthaft. Diese Untersuchung will einen Beitrag dazu aus systematisch-theologischer Perspektive leisten. Es wird der Versuch unternommen, Mediation solchermaßen auszuwerten, dass die ihr immanenten anthropologischen und ethischen Grundannahmen zum Vorschein kommen. Auf diese Weise gelingt es, die reine Verfahrensebene zu verlassen und in die Begründungszusammenhänge für das Verfahren vorzudringen. Dabei erfolgt auch eine Überprüfung derjenigen religiösen Bezüge, die Mediation selbst aufweist, wodurch sich Anknüpfungspunkte für theologische Vertiefungsmöglichkeiten freilegen lassen. Während das Erkenntnisinteresse aus Mediationssicht darin besteht, das Verfahren auf Wirksamkeitsfaktoren hin zu untersuchen, zeigt sich auch aus theologischer Perspektive ein Interesse daran, Mediation zu reflektieren. Dieses bezieht sich insbesondere auf Fragen von christlicher Verantwortung in Interventionszusammenhängen. Das Erkenntnisinteresse richtet sich dabei auf den Bereich der zwischenmenschlichen Pazifisierung. Die dafür entwickelten Ansätze, wie Konfliktberatung, Moderation, Gewaltprävention, Schlichtungs- und Schiedsverfahren sowie Mediation erweisen sich als theologisch und individualethisch noch wenig erforscht. Derartige Verfahren wurden bisher lediglich ansatzweise und ausschnitthaft vornehmlich in der Praktischen Theologie rezipiert, beispielsweise in den Bereichen der Friedenserziehung und Wertebildung.18 Sie wurden dabei aber weder auf ihre theologischen Voraussetzungen noch auf die dafür erforderlichen ethischen Dispositionen hin umfassend befragt. Zwar kann als allgemein anerkannt gelten, dass zur christlichen Verantwortung auch der Einsatz für Frieden und Gerechtigkeit im zwischenmenschlichen Umgang gehört, aber ob es dafür geeignete Verfahren gibt und welche Bedingungen theo17 Reiner Bastine: Konflikte klären, Probleme lösen, 43. 18 Vgl. 1.4 Zur Forschungslage.

Zum Gegenstand der Untersuchung

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logischer Ethik für einen Prozess des Einlassens auf solche Verfahren veranschlagt werden müssen, ist für diesen Bereich noch nicht hinreichend wissenschaftlich untersucht worden. Dies ist aber erforderlich, weil die christliche Verantwortungsgesinnung in der Komplexität einer alltäglichen Situation damit überfordert sein dürfte, sich erfolgreich für Vermittlung zwischen streitenden Parteien einzusetzen. Daher besteht vonseiten christlicher Ethik ein Bedarf, Vermittlungsstrategien substanziell zu durchdenken, um zu überprüfen, inwieweit sich ihr Einsatz auch theologisch begründen lässt. Die vorliegende Untersuchung legt die Annahme zugrunde, dass hinter dem Verfahren Mediation philosophische Grundannahmen stehen, die für den praktischen Vollzug relevant sind. In der Mediationsliteratur werden diese aber nicht hinreichend herausgearbeitet und ausgewertet. Soll der Praxisbezug nicht schon vom Ansatz her verfehlt werden, müssen die zu betrachtenden Grundannahmen aus der Mediationstheorie selbst herausgearbeitet werden. Aus dieser Einsicht wird für die vorliegende Untersuchung die methodische Konsequenz gezogen, bei dem einzusetzen, was Mediation selbst mitbringt. Folglich wird ein induktiver Zugang gewählt, der sicherstellen soll, dass die hier gewonnenen Erkenntnisse ein Destillat dessen sind, was in der Mediationstheorie selbst angelegt ist. Es geht also darum, implizite Strukturen zu explizieren. Auf diese Weise gelingt es, den für Mediation charakteristischen durchführungspraktischen Bezug aufrecht zu erhalten, obwohl die reine Verfahrensebene zunehmend verlassen wird. Bei diesem Vorgehen zeigt sich, dass die Übernahme von Verantwortung ein bestimmender Faktor für den Grad an Wirksamkeit von Mediation ist. Weil Mediation lediglich Kommunikationsbegleitung und Strukturierungshilfen anbietet, die Konfliktregelung inhaltlich aber den Beteiligten überlässt, obliegt es ihnen, sich selbst für konstruktive Deeskalation verantwortlich zu zeigen. Es ist also nicht das Verfahren, das über das Gelingen des Interventionsunterfangens entscheidet, sondern es ist der Mensch, der das Verfahren für eigene Zwecke nutzt. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, dass Verantwortung bestimmt werden muss. Mediation kann und muss eine solche Definition nicht leisten. Der in den Mediationstheorien vorfindbare Verantwortungsbegriff bezieht sich vornehmlich auf die Verfahrensdimension. Das bedeutet, dass festgelegt wird, für was die vermittelnde Person, der Mediator19, und die Konfliktbeteiligten, die Medianten, jeweils Verantwortung zu übernehmen haben. Es werden allerdings keine Aussagen dahin gehend gemacht, wie und aus welchen Zusammenhängen persönlicher Lebensdeutung heraus sie eine solche Verantwortung übernehmen 19 Auf die gleichzeitige Verwendung weiblicher und männlicher Sprachformen wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit verzichtet. Infolgedessen gelten sämtliche Personenbeschreibungen gleichermaßen für beiderlei Geschlecht.

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Einleitung

können und sollen. Mit dem Ziel, Verantwortung in der Mediation inhaltlich zu untersuchen, ist es deshalb notwendig, anderweitige fachwissenschaftliche Bezüge herzustellen. Die Theologie bietet hierfür geeignete Möglichkeiten an. Aus methodischen Gründen muss einem entsprechenden Vorhaben die Klärung vorangestellt werden, wie sich Verantwortung als eine gemeinsame Bezugsgröße von Mediation und Theologie herleiten lässt. Dafür stehen die nachfolgenden Erwägungen ein.

1.3

Zur Herleitung von Verantwortung als gemeinsame Bezugsgröße von Mediation und Theologie

Ausgehend von der Hypothese, es könne ein sinnvoller Bezug zwischen Mediation und Theologie hergestellt werden, wird mit vorliegender Untersuchung der Versuch unternommen, Mediation auf ihre Bezugsmöglichkeiten zur christlichen Verantwortung hin zu überprüfen. Eine solche Annahme setzt voraus, zu berücksichtigen, dass Mediation und Theologie auf zwei verschiedenen wissenschaftstheoretischen Ebenen zu verorten sind. Deshalb ist es notwendig, nach einer beiderseitigen Essenz zu suchen, die als Schnittstelle zwischen einem Verfahren zur Durchführung von Konfliktintervention und einer Kategorie christlicher Sozialethik vermutet wird. Dabei darf es inhaltlich weder darum gehen, Mediation zu christianisieren, noch darum, die Theologie auf den Mediationskontext hin zuzuschneiden und sie entsprechend verfahrenskonform auszulegen. Die Frage nach einer gegenseitigen Relevanz muss deshalb so gestellt werden, dass die jeweilige Authentizität beider Positionen gewahrt bleibt. Dadurch kann es gelingen, herauszustellen, ob und wo Mediation einen Mehrwert für die Theologie aufweisen und in welcher Hinsicht die Theologie als Bezugswissenschaft für Mediation relevant sein kann. Die Bestimmung einer solchen Schnittstelle verläuft methodisch über die Einschränkung auf ein wesentliches verbindendes Moment. Dieses ist das Destillat eines Dreischritts: Konfliktregulation – Mensch – Verantwortung. Die vordergründig zusammenführende Komponente von Mediation und Theologie ist das jeweils kontextual geprägte Bestreben danach, mit Konfliktsituationen konstruktiv bzw. befriedend umzugehen. Für die Mediation ist dies die gewaltfreie Regulierung von Konflikten. Sie fungiert als Interventionsstrategie zur zwischenmenschlichen Pazifisierung. Verfahrensvorgaben werden dazu genutzt, einvernehmliche Lösungen anzustreben, die zwar nicht unbedingt Versöhnung und Vergebung implizieren müssen, aber insofern Befriedung beinhalten als wertschätzende gegenseitige Bezugnahme der Beteiligten (wieder-) hergestellt wird. Vonseiten der Theologie aus kann als allgemein anerkannt

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Zur Herleitung von Verantwortung

gelten, dass der Einsatz für Frieden und Gerechtigkeit im zwischenmenschlichen Umgang als ein grundlegendes Anliegen christlichen Handelns zu verstehen ist. Ein erstes verbindendes Moment kann daher in einem – wenn auch verschieden gearteten – Bezug zu Konfliktregulationsprozessen erkannt werden. Die Instanz, die solche Prozesse initiiert, ist der Mensch. Er ist der zentraler Bezugspunkt zur Realisierung von Interventionsbestrebungen, weil seine Handlungen maßgebend dafür sind, dass sich Konfliktregulierung verwirklicht. Zu den Voraussetzungen intentionalen Handelns gehört es, dass der Mensch eigenmächtig und willentlich über sich selbst verfügen kann. Er erkennt sich als ein freies und willenbegabtes Wesen, das autonom getroffene Entscheidungen unter zielgerichteter Nutzung von verfügbaren Handlungsmöglichkeiten realisieren kann. Diese Voraussetzungen lassen sich unter dem Begriff der Verantwortung zusammenführen. Verantwortung ist dabei das Konglomerat verschiedener Einflussfaktoren. Allgemein lassen sich drei Positionen bestimmen, die den konkreten Ausdruck von Verantwortung wechselseitig bedingen. Die folgende Illustration zeigt die Bezüge der Variablen Lebensdeutung, Maßnahme und Situation zueinander auf:

Lebensdeutung (Sinnhaftigkeit)

Situation (Bewusstheit)

Maßnahme (Handlung)

Abbildung 1: Verantwortungsdreieck

Alle drei Größen sind innerhalb jedes Verantwortungsakts beteiligt. Die Lebensdeutung eines Menschen zeigt sich in seiner sinnhaften Selbstbeschreibung. Grundaspekte seines individuellen Seins, wie seine Werte, Überzeugungen, Prioritätensetzungen und Orientierungen wirken darauf ein, lebensweltliche Zusammenhänge zu deuten. Konkrete Maßnahmen des Handelns ermöglichen es, diese Seinsaspekte kontextbezogen, willentlich und zielgerichtet auszudrücken. Die dritte Variable besteht in einer konkreten Situation. Indem sich der

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Einleitung

Mensch über die gegenwärtigen Zusammenhänge seiner Lebenswirklichkeit bewusst wird, ergibt sich für ihn eine Veranlassung, bedarfsgerecht zu reagieren. Durch Reflexionsleistungen bestimmt er, welche situationsangemessen Handlungsmaßnahmen mit seiner persönlichen Lebensdeutung kompatibel sind und richtet sein verantwortliches Handeln darauf aus. Die drei Variablen wirken wechselseitig aufeinander ein, sodass jede von den beiden anderen beeinflusst wird bzw. sich nur in dem Maße ausdrückt, in dem es die anderen zulassen. Dieser Wirkungszusammenhang lässt sich in Hinblick auf Konfliktregulationsprozesse spezifizieren. Die folgende Illustration zeigt eine Möglichkeit unter vielen auf, die Variablen inhaltlich zu konkretisieren:

Lebensdeutung (Religiosität)

Situation (Konflikt)

Maßnahme (Mediation)

Abbildung 2: Verantwortungsdreieck (Konfliktregulationsprozesse)

Sofern sie vorliegt, ist die Religiosität20 ein Merkmal individueller Lebensdeutung. Weil sie der Ausdruck einer Grundentscheidung des Menschen über die eigene Existenz ist, beeinflusst Religiosität die Persönlichkeitskonstitution und prägt dadurch die Art des verantwortlichen Handelns. Der Glaube bezieht sich auf das subjektive Selbsterleben und gibt Auskunft über Deutungsmuster hinsichtlich des eigenen Selbstseins. Die Maßnahme, unter die sich diejenigen Faktoren subsumieren lassen, die das Handeln des Menschen auszeichnen, kann im Falle von Konfliktregulationsprozessen als Mediation konkretisiert werden. Der Anlass und der Bezugspunkt eines verantwortlichen Handelns in Interventionszusammenhängen ist der Konflikt. Er ist die konkrete Situation, auf die hin die Lebensdeutung und die Maßnahme bezogen werden. Wenn ein Mensch 20 Unter den Begriff »Religiosität« wird hier allgemein eine Glaubenshaltung des Menschen gefasst. Weil diese Untersuchung Fragen christlicher Verantwortung erörtert, bezieht sich der Begriff im weiteren Verlauf jedoch vornehmlich auf den christlichen Glauben.

Zur Forschungslage

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sein Leben von seinem Gottesglauben her deutet, trägt sich dieser in sein verantwortliches Handeln im Umgang mit einem Konfliktgeschehen ein, das durch Mediation bearbeitet wird. Damit ist die Verbindung zwischen Mediation und Theologie über den Verantwortungsbegriff als eine gemeinsame Bezugsgröße hergestellt. Die vorliegende Untersuchung profiliert sich also über den Verantwortungsbegriff. Dadurch unterscheidet sie sich von anderen Forschungsansätzen, die sich im weiteren oder engeren Sinne mit dem Zusammenhang von Mediation und Religiosität befassen. Ein kursorischer Überblick über die Forschungslage wird aufzeigen, worauf verschiedene wissenschaftliche Erkenntnissinteressen abzielen und welche Forschungsfelder sich daraus ergeben. Dafür stehen die folgenden Ausführungen ein, die als Grundlage dafür dienen, den Aufbau dieser Untersuchung anschließend begründet darzustellen.

1.4

Zur Forschungslage

Das Anliegen und der Aufbau der vorliegenden Untersuchung bedingen eine Sichtung der Literatur sowohl aus theologischer Perspektive als auch aus der Perspektive von Disziplinen der Friedens- und Konfliktforschung. Dementsprechend muss der Literaturbefund hinsichtlich von Forschungsanliegen mit einem thematischen Bezug zu Mediation und Religiosität dahin gehend differenziert werden, aus welcher Perspektive eine entsprechende Untersuchung erfolgt. Erfolgt sie aus Mediationssicht, handelt es sich bei den Autoren häufig um interessierte theologische Laien, die das Thema ausgehend von praxisrelevanten Fragen aufzuarbeiten zu versuchen. Beiträge aus theologischer Perspektive zielen zumeist darauf ab, christliche Prägungen von Mediation offenzulegen, zu begründen und aufzuzeigen, inwieweit sie dazu einladen, Mediation für Anliegen in Kontexten von Kirche und Religion zu nutzen. Weil es sich bei der Mediationsforschung um ein Teilgebiet der Konflikt- und Interventionsforschung handelt, unterscheiden sich die Forschungsansätze auch dadurch, dass sie sich entweder explizit auf Mediation beziehen oder Konfliktmanagement in einer allgemeineren Weise betrachten. Einen Beitrag letzterer Art haben Jürgen Kiechle und Hans-Georg Ziebertz vorgelegt, mit dem sie Konfliktmanagement als eine Kompetenz interreligiösen Lernens begründen wollen. Sie beurteilen es als religionsdidaktische Aufgabe, ein interreligiöses Lernen zu initiieren, das den »verantwortlichen Umgang mit dem Plural der Religionen/Konfessionen« einübt und sich darin als »Lernen in

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Einleitung

und an Differenzen«21 versteht. Die gesellschaftliche, bildungstheoretische und religiös-theologische Relevanz eines solchen Lernens ergibt sich insbesondere aus einer pluralen Gesellschaftsstruktur. Menschen mit unterschiedlichen kulturellen und religiösen Prägungen teilen einen gemeinsamen Lebensraum, der sich nicht mehr durch gesellschaftliche Einheitlichkeit auszeichnet, sondern durch vielfältige individuelle Lebensformen. Diese verschiedenartigen kulturellen und religiösen Orientierungen differieren solchermaßen, dass Dissense unvermeidbar werden, die ausgehalten und bearbeitet werden müssen.22 Die besondere Brisanz der Bearbeitbarkeit von religiösen Differenzen ergibt sich, weil sich ein exklusivistisches Wahrheitsverständnis nicht mit einer Haltung kongruieren lässt, die auf ein dialogisches Miteinander abzielt. Eine friedvolle Beziehung zwischen Menschen, deren Grundhaltungen von unterschiedlichen Wertimplikationen geprägt sind, kann nur hergestellt und erhalten werden, wenn gegenseitige Verstehensversuche erfolgen, durch die sich eine wechselseitige Akzeptanz vertiefen kann.23 Demgemäß besteht ein grundsätzliches pädagogisches Anliegen darin, ein »Differenzbewusstsein zu schaffen und die wahrgenommene Differenz bearbeiten zu können«24. Interaktions- und Dialogfähigkeit ermöglicht es, sich über eigene und fremde Grenzen bewusst zu werden und in der Konfrontation mit dem Fremdem offen für alternative Sichtweisen zu bleiben. Einen Perspektivwechsel vornehmen zu können, erweitert die Möglichkeiten eines wechselseitigen Verstehens, weil sowohl über die fremde als auch die eigene Perspektive samt dessen, was sie voneinander unterscheidet, kritisch reflektiert werden kann. Dadurch erhöht sich die Sensibilität für Plausibilitäten fremder Sichtweisen. Ein grundlegendes Maß an Ambiguitätstoleranz muss vorausgesetzt werden können, weil es unauflösbare Spannungen auszuhalten gilt. Sich der Divergenzen von Standpunkten bewusst zu bleiben, und die Person, die Abweichendes vertritt, zu akzeptieren, fällt in den Bereich interreligiöser Zielsetzungen. Selbstreflexivität ermöglicht es, die eigene Wahrnehmung in eine Relation zu fremden Wahrnehmungen zu setzen und sie durch die Anerkenntnis dessen zu relativieren, dass es gleichwertige alternative Deutungsmöglichkeiten gibt. Es erfolgen also Prozesse, in denen sich Menschen ins Verhältnis zu anderen setzen und sich darüber selbst definieren.25 Diese vier Bestandteile des Konfliktmanagements sind konstitutiv für eine interreligiöse Kompetenz, die sich dadurch auszeichnet, dass Menschen über das Vermögen verfügen, ihre Wahrnehmung, ihr Urteilen und ihr Handeln auf die spezifischen 21 Jürgen Kiechle u. a.: Konfliktmanagement als Kompetenz interreligiösen Lernens, 292 (H. i. O.). 22 Vgl. a. a. O., 282ff., 292. 23 Vgl. a. a. O., 286f. 24 A. a. O., 288. 25 Vgl. ebd. ff., Begriffe übernommen (H. z. S., WLL).

Zur Forschungslage

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Herausforderungen einzustellen, die interreligiöse Dialogstrukturen generieren. Dieser Beitrag, der praktisch-theologische und psychologische Aspekte bedenkt, weist als ein interreligiöses Ziel aus, »religiöse oder theologische Standpunkte bewusst halten zu können, sodass eine Akzeptanz aller Interaktionspartner herbeigeführt werden kann. Dies verlangt Selbstdistanz und Dezentrierung, aber auch entsprechende charakterliche sowie persönlichkeitsstrukturelle Voraussetzungen«26.

Die skizzierten Erwägungen tragen insbesondere zu einer Bewusstheit hinsichtlich des Aspekts bei, dass eine entsprechende (Persönlichkeits-)Bildung innerhalb einer multikulturellen und -religiösen Gesellschaft unabdingbar ist, um ein verständiges Miteinander zu begünstigen, das sich dadurch auszeichnet, sich der eigenen religiösen und kulturellen Wurzeln bewusst zu bleiben und sich darüber hinaus für fremde Sichtweisen offenzuhalten. Es wird dabei nicht explizit auf das Verfahren Mediation rekurriert, sondern auf sein Implikat einer Konfliktregulationskompetenz. Der Beitrag von Barbara Huber-Rudolf lässt sich als eine Ergänzung zu der exzerpierten Auffassung lesen, dass eine Persönlichkeitsbildung, die über die reinen Kenntnisse hinsichtlich des exklusivistischen Wahrheitsverständnisses der eigenen und einer fremden Religion sowie über einen friedvollen Umgang mit Divergenzen hinausgeht, als eine tragfähige Grundlage für den interreligiösen Dialog fungiert. Die Autorin untersucht die Frage, »ob über Wissenserwerb allein Konvivenz gefördert werden kann«27. Angesichts von »Spuren der Erschöpfung«28, die sich daraus ergeben, dass die durch interreligiöses Lernen erzielten Erfolge nicht mit den gesellschaftlichen Erwartungen übereinstimmen, bedarf es der Autorin zufolge der Integration einer zusätzlichen Lerndimension. Neben den reinen Wissenserwerb und eine pädagogisch-psychologische Bildung tritt – zumindest im Falle christlich-muslimischer Begegnung – eine Spiritualisierung des Dialogs, die eine Selbstvergewisserung im Glauben befördern kann.29 Vor dem Hintergrund ihres Anliegens, eine Möglichkeit für eine ganzheitlichere Begegnung zwischen Menschen unterschiedlichen Glaubens zu exemplifizieren, findet sich der Gedanke, dass eine Konfliktregulationskompetenz dem interreligiösen Dialog zuträglich ist, bei Huber-Rudolf über eine allgemeine Form – wie bei Kiechle und Ziebertz – hinaus auch in mediationsspezifischer Weise. Dabei rekurriert die Verfasserin aber nur mittelbar auf das Verfahren Mediation. Ihr geht es vornehmlich um eine mediative Haltung, die es einzunehmen gilt, um innerhalb des interreligiösen Dialogs ein gemeinsames 26 27 28 29

A. a. O., 291. Barbara Huber-Rudolf: Von Missionaren, Managern und Mediatoren, 101. Ebd. Vgl. a. a. O., 111.

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Einleitung

Fortkommen zu initiieren. In zeitlich begrenzter Form erscheint es ihr als notwendig, dass metaperspektivisch die Rolle eines Mediators eingenommen wird. Ein dialogisches Vorgehen, das sich an einem gegenseitigen Verstehen orientiert, beinhaltet den Versuch, eigene religiöse Überzeugungen zu relativieren. Diese Relativierung »darf sich als Beitrag zur Aufgabe des Sich-Rechtfertigen-Könnens vor dem anderen verstehen«30. Die beiden katholisch-theologisch zu kontextualisierenden Abhandlungen weisen über sich selbst hinaus auf einen breiter gefächerten Forschungsansatz hin, der sich aus der mediationspraktischen Erfahrung ergibt, dass sich in Zusammenhängen interkultureller Konflikte häufig spezifischer Handlungsbedarf zeigt, der sich auf Fragen dialogischer Verständigung bezieht. Einen Dialog zwischen den Kulturen zu initiieren, stellt vor die Herausforderung, unterschiedliche ethnische Identitätsprägungen einander begegnen zu lassen. Je größer die jeweiligen Differenzen, desto schwieriger gestalten sich Verstehensprozesse. Häufig gehen kulturelle Aspekte mit religiösen einher. Weil Religiosität identitätsstiftenden Charakter hat, der nur wenig Raum für Verhandlungen gewährt, lassen sich Konflikte mit religiöser Prägung schwer beilegen. Die mit der Globalisierung einhergehende zunehmende gesellschaftliche Pluralität erhöht interkulturelle und interreligiöse Kontakte. Infolgedessen mehren sich Konflikte, die auf einem mangelnden gegenseitigen Verstehen beruhen. Über eine erlernbare Konfliktregulationskompetenz hinaus, die eine Einzelperson für sich habitualisieren kann, besteht zusätzlich ein aktueller Bedarf an Vermittlungsstrategien, die es ermöglichen, mit interreligiösem Konfliktpotenzial adäquat umzugehen. Hinsichtlich konkreter konfliktregulierender Maßnahmen gilt es zu berücksichtigen, dass teilweise spezifische Kenntnisse und eine erhöhte Sensibilität notwendig sind, um zu den religiös motivierten Beweggründen für Handlungen vorzudringen. Demzufolge erfordert es eine Bewusstheit dahin gehend, dass besondere Aufmerksamkeit hinsichtlich eines respektvollen Umgangs geboten ist, weil intime Bereiche des Menschseins tangiert werden. Sarah Ultes hat eine Untersuchung vorgelegt, die in diese Richtung weist. Sie geht der Frage nach, auf welche Weise Kulturalität und Religiosität Konfliktlagen prägen und inwiefern Mediation darin gewinnbringend eingesetzt werden kann. Ihr Anliegen besteht darin, einen Beitrag zur interdisziplinären Erforschung von interkultureller Mediation in Deutschland zu leisten. Die Verfasserin will aufzeigen, welche Methoden darin unterstützen können, Verstehensprozesse über kulturelle und religiöse Grenzen hinweg anzubahnen.31 In diesem Forschungsumfeld finden sich einige Untersuchungen ähnlicher Art, die die Reichweite von Mediation hinsichtlich ihres Befriedungspotenzials in interkulturellen und in30 A. a. O., 110. 31 Vgl. Sarah Ultes: Interkulturelle Mediation in Konflikten mit religiöser Dimension, 11ff.

Zur Forschungslage

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terreligiösen Zusammenhängen erforschen. Zumeist rekurrieren sie dabei auf mediative Projekte, die exemplarisch auch dafür einstehen können, grundlegende mediationspraktische Fragen zu erörtern.32 Die Annahme, dass sich in Hinblick auf Mediation auch in christlich-religiösen Kontexten spezielle durchführungspraktische Fragen ergeben, weil die Konfliktregulation teilweise Glaubensfragen tangiert, ist evident. Das bedeutet aber nicht, dass sich Mediationen in kirchlichen Einrichtungen, wie Gemeinden, Kindergärten, Wohlfahrtsverbänden, Krankenhäusern etc. grundlegend von Mediationen in anderen Bereichen unterscheiden müssen. In jedem Bereich, in dem Mediation zum Einsatz kommt, gilt es, Spezifika zu berücksichtigen, so auch im kirchlichen. Aus Sicht des Bundesverbands Mediation e. V. (BM) gerät die Kirche deshalb auch zuerst als einer der großen Arbeitgeber der Bundesrepublik Deutschland in den Blick, der ebenso wie andere Institutionen mit Konflikten umgehen muss, die sich aus den Organisationsstrukturen ergeben. Herausforderungen zeigen sich daher auf allen Ebenen, also etwa innerhalb von Teams, hierarchieübergreifend, auf Führungsebene und zwischen Einrichtungen. In sachliche Entscheidungen, zu denen mediativ gefunden werden soll, spielen in religiös geprägten Zusammenhängen aber stärker ethische Aspekte und Wertvorstellungen hinein als in anderen Arbeitskontexten. Deshalb empfiehlt der BM, »dass Mediatoren, die in kirchlichen Organisationen tätig sind, nicht nur unparteiisch sind und das Vertrauen aller Konfliktbeteiligten gewinnen können, sondern dass sie auch die kirchlichen Strukturen, Besonderheiten und religiösen Grundhaltungen kennen und in ihre Arbeit mit einbeziehen können«33.

Im kirchlichen Milieu muss also von Entscheidungsvoraussetzungen ausgegangen werden, die von religiösen Prägungen herrühren und innerhalb des mediativen Vorgehens zu berücksichtigen sind. Gegenüber einer solchen Sicht, die christlich-kirchliche Charakteristiken zwar anerkennt, dabei aber die mediative Außenperspektive wahrt, indem institutionelle Aspekte in den Vordergrund gestellt werden, gibt es Versuche, christliche Wurzeln der Mediation freizulegen. Theologische Bezüge werden dadurch hergestellt, Jesus als Vermittler zwischen Gott und den Menschen zu verstehen. Ekklesiologisch hat sich dies historisch in der Vorstellung niedergeschlagen, dass der erhöhte Christus die Vermittlungsaufgabe den männlichen Amtsträgern der Kirche übertragen habe. Demgemäß begründeten die kirchli32 Beispielhaft sei auf die Untersuchung von Tania Wettach-Zeitz hingewiesen: Ethnopolitische Konflikte und interreligiöser Dialog. Die Effektivität interreligiöser Konfliktmediationsprojekte analysiert am Beispiel der World Conference on Religion and Peace-Initiative in Bosnien-Herzegowina, Stuttgart 2008. 33 http://www.bmev.de/uploads/media/mediation-kirche.pdf, 2.

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Einleitung

chen Würdenträger des frühen Mittelalters ihre Vermittlungstätigkeit, die ihnen aufgrund des an sie ergangenen Auftrags vorbehalten war, christologisch.34 Dies legt die Vermutung nahe, dass Mediation eine besondere Kompatibilität zum christlichen Selbstverständnis aufweist und sich biblische Parallelen zur mediativen Grundidee der Vermittlung aufzeigen lassen. Unter dem Titel Mediation und Kirche: Konfliktumgang in der Gemeinde hat die Rechtsanwältin und Mediatorin Maria Mattioli eine Untersuchung vorgelegt, mit der sie die Streitkultur innerhalb kirchlicher Kontexte beleuchtet. Die Abhandlung beinhaltet einen empirischen Teil, der auf der Grundlage einer überkonfessionellen Befragung abbilden soll, wie die Streitkultur in kirchlichen Kontexten eingeschätzt wird und welche Perspektiven gesehen werden, um Mediation kirchlicherseits stärker zu etablieren.35 In eine ähnliche Richtung weist die Dissertation von Horst Sebastian zum Thema Mission als Mediation36, die Mediation jedoch weitaus stärker theologisch zu durchdringen versucht. Ausgehend von sozialpolitisch bedingten ungleichen Lebensbedingungen der Bürger der Bundesrepublik Deutschland, bemängelt der Autor, dass es insbesondere seitens der Landeskirchen an Engagement fehle, sich eines gesellschaftspolitischen Mitgestaltungsauftrags gegenüber zu verpflichten.37 Von diesem Desiderat ausgehend orientiert sich der Problemzuschnitt der Untersuchung an der Fragestellung, wie Gemeinden, die sich missionarisch orientieren, kultur- und gesellschaftsrelevant tätig werden können, um dadurch Sozialreformen christlicherseits mitzutragen. Bei seiner Argumentationsführung legt Sebastian Mediation aus missionstheologischer Sicht aus. Er will sie paradigmatisch als eine Antwort darauf verstehen, wie sich der missionarische Sendungsauftrag der Kirche, der sich im sozialen Handeln konkretisiert, umsetzen lässt und dadurch gesellschaftliche Transformationsprozesse mitgestaltet. Mediation wird dazu als ein christlich zu deutender Habitus und eine Methode beschrieben. Auf sie müsste dann solchermaßen zugegriffen werden, dass ganzheitliche Vermittlungsprozesse initiiert werden können, die konkreten lebensweltlichen Bezug haben, aber immer vor dem Hintergrund der Vermittlungsnotwendigkeit zwischen Mensch und Gott gedeutet werden. Damit stellt der Autor insbesondere darauf ab, einen missions34 Vgl. Josef Duss-von Werdt: homo mediator, 107f. Zur Geschichte der Mediation vgl. ders.: »… denn zu Unrecht ein Teil würd’ vom anderen bedrückt« (Solon). 35 Vgl. Maria Mattioli: Mediation und Kirche: Konfliktumgang in der Gemeinde, 11f. 36 Horst Sebastian: Mission als Mediation: Vermittlung und soziale Transformation als Aufgabe der Kirche, Saarbrücken 2012. 37 Für den freikirchlichen Kontext, dem der Autor mit seinem eigenen pastoralen Dienst zugehörig ist, stellt sich die Lage seiner Ansicht nach anders dar. Die Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten verpflichte sich ihrem Mandat eines gesellschaftsrelevanten sozialen Dienstes praktisch handelnd (vgl. Internetquelle der angegebenen Studie: http://uir. unisa.ac.za/bitstream/handle/10500/5677/thesis_sebastian_h.pdf., 2).

Zur Forschungslage

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theologischen Beitrag zu gesellschaftspolitischen Fragen der Gleichberechtigung von Menschen mit unterschiedlichen sozialen Lebensvoraussetzungen zu leisten. Fragen hinsichtlich der gesellschaftlichen Relevanz von Mediation werden aus praktisch-theologischer Perspektive unter dem Aspekt der Edukation betrachtet. Katholischerseits hat Leo Gielkens eine Untersuchung vorgelegt, die Mediation unter friedenserzieherischen Gesichtspunkten erwägt. Das Anliegen des Autors besteht darin, Mediation als eine »Idee zur Konfliktbearbeitung« und die Jugendpastoral als einen »Ort der Erziehung zum Gewaltverzicht«38 miteinander zu verbinden. Konflikte mit konkreter lebensweltlicher Relevanz für Kinder und Jugendliche stellen die christliche Praxis vor die Frage, welche Haltungen und Maßnahmen angeboten werden können, um Konflikte glaubhaft und zweckdienlich zu lösen. Dabei soll gewährleistet sein, dass sie das christliche Selbstverständnis paradigmatisch abbilden und dadurch einen Eigenwert aufweisen. In der Mediation erkennt Gielkens eine praktikable Möglichkeit, um auf diesen Anspruch zu antworten, weil in ihr ein »enorme[s] Potenzial zur Förderung des Menschen«39 liegt. Mediation gründet darauf, dass sich Menschen gegenseitig wertschätzen und akzeptieren. Sie setzt voraus, die Würde des anderen respektvoll anzuerkennen. Es gilt fremden Überzeugungen achtsam zu begegnen und ein dialogisches Miteinander zu kultivieren, durch das sich die Interaktionspartner ernst genommen fühlen. Dorthinein spielt auch, dass Mediation die Konfliktbeteiligten in die Eigenverantwortlichkeit hinsichtlich der Konfliktaustragung stellt. Weil die Konfliktbeteiligten für ihre Anliegen selbst Sorge tragen und dies interaktiv geschieht, lässt sich durch Mediation erleben, wie Veränderungsprozess kooperativ mitgestaltet werden können. Dies kann dahin gehend ermutigen, die mediative Haltung, die sich zuvor im Einzelfall zu bewähren hat, auch über den Verfahrenskontext hinaus einzunehmen und dadurch Einfluss auf anderweitige gesellschaftliche Prozesse auszuüben.40 Die mediative Haltung, die insbesondere an den Wert des gegenseitigen Respekts gebunden ist, kann durch das christliche Selbstverständnis angereichert werden. Durch die Verfahrensstruktur zeigt sich konkret, wie ein Handeln im christlichen Geist sich nicht nur verwirklichen lässt, sondern auch einen hohen Praktikabilitätswert aufweist. In diesem Sinne bezeichnet der Autor Mediation als einen »Baustein von Friedenserziehung«41, durch den es Kindern und Jugendlichen ermöglicht wird, Verhaltensoptionen auszuprobieren und dadurch auch Erfahrungen für außermediative Kontexte zu sammeln. 38 39 40 41

Beide Zitate Leo Gielkens: Mehr als Sieg und Niederlage, 8. A. a. O., 207 (H. i. O.). Vgl. ebd. A. a. O., 208.

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Einleitung

Vor dem Hintergrund eines ähnlich gelagerten pädagogischen Anliegens entfaltet Thomas Schlag in einem Beitrag zu Mediation an Schulen deutlicher als es die bisher angeführten Untersuchungsansätze vermögen, einige ethischtheologische Aspekte. Diese erscheinen ihm als bedeutsam dahin gehend, Mediation nachhaltig und langfristig in die Praxis zu etablieren. Mit dem allgemeinen Trend in die Richtung, Konfliktregulationsmethoden im pädagogischen Sektor einzuführen, geht seiner Auffassung nach nämlich auch die Gefahr einher, Mediation darauf zu verkürzen, lediglich einzelne Verfahrensschritte standardisiert einzuüben. Dies wird erstens begünstigt, wenn die Methode anstatt des Menschen in den Vordergrund gestellt wird, wenn zweitens die Selbstreflexionen der Mediatoren über eigene Motivationen ausbleiben und wenn die Mediationspraxis drittens projekthaft und damit befristet erfolgt.42 Schlags Ausführungen lassen sich als ein Plädoyer lesen, sich konsequenter mit den Grundlagen von Mediation zu befassen, die die Voraussetzung für eine gelingende Konfliktlösungspraxis sind. Zu diesen gehört das kulturell verankerte christliche Menschenbild des Okzidents, auf dem die Art und Weise des sozialen Miteinanders gründet.43 Das heißt, dass es einen sichtbaren Anteil von Mediation gibt, der sich im praktischen Vollzug zeigt und einen hintergründigen, auf dem die Praktik fußt. Daraus ergibt sich, dass »die sichtbare Ebene der konkreten Arbeit […] auf die ans Licht zu hebende Ebene des Menschenbildes angewiesen«44 ist. Zwar konstatiert Schlag, dass Werte wie Achtung, persönliche Würde und wertschätzende Kommunikation durchaus zu den Begründungen zählen, warum Mediation konzeptionell an Schulen verankert werden soll, aber es verbliebe zumeist bei wenig substantiellen Hinweisen darauf. Eine vertiefende Auseinandersetzung mit dem mediativen Selbstverständnis bleibt also aus. Genau dies aber fordert Schlag ein. Eine »interne Selbstverständigung«45, die dazu dient, sich die Grundlagen von Mediation zu vergegenwärtigen und sich zu ihnen zu positionieren, hält er für ebenso bedeutsam wie sich die konkrete verfahrenspraktische Vorgehensweise anzueignen. Der Autor vertritt die dahin gehende Auffassung, dass sich die biblischtheologische Sicht auf Mediation dazu eignet, mediative Grundeinsichten zu fundieren. Dazu gehört insbesondere die grundsätzlich unantastbare Würde jedes Menschen, auch und insbesondere der Schwachen und Benachteiligten. In einer den anderen akzeptierenden Grundhaltung scheint auf, dass es nicht vornehmlich darum geht, eigene Interessen und Bedürfnisse durchzusetzen. Die Grundhaltung der Mediation fordert es ein, sich in Nachsicht zu üben und sich 42 43 44 45

Vgl. Thomas Schlag: Was leuchtet in der Mediation auf ?, 179. Vgl. a. a. O., 183. A. a. O., 179. A. a. O., 180.

Zur Forschungslage

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auch denjenigen zuzuwenden, die außerhalb eines geschützten Raums aus vielfältigen Gründen (vielleicht) nicht dazu in der Lage wären, für sich einzustehen und ihre Belange kundzutun. Von hieraus können dann Fragen hinsichtlich eines zukünftig tragfähigen barmherzigen Umgangs miteinander geklärt werden.46 Das biblische Zeugnis und die reformatorische Sicht auf den Menschen als einen vor und von Gott Gerechtfertigten ebnen den Weg dahin gehend, Versagen und Schuldigkeiten, die in Konflikten besonders schwer wiegen können, neu einzuordnen. Die theologische Grundeinsicht, dass alle Menschen bedingungslos von Gott angenommen sind, erlaubt und gebietet – selbst unter den Erschwernissen einer Konfliktsituation – eine barmherzige Sicht auf den Mitmenschen. In diesem Sinn setzt Schlag für die Profilierung von Mediation den Terminus einer »professionell-pädagogisch verantworteten[n] Barmherzigkeit«47 ein. Dass Menschen fehlbar sind, wird dadurch per Definition mit ins Kalkül gezogen. Als Konsequenz daraus ergibt sich, dass Zielsetzungen realistisch gefasst werden müssen, wobei sich nicht ausschließen lässt, dass mediativer Erfolg auch dort ausbleiben kann, wo gute und realistische Absichten verfolgt werden.48 Mediation erlaubt es also, sich unter dem Eindruck von persönlichen Stärken und Schwächen menschlich zu zeigen und lädt dazu ein, die Menschlichkeit des anderen wohlwollend anzusehen. Zu den mediativen Grundanliegen gehört deshalb, auf ein akzeptanzgeleitetes Miteinander abzuzielen. Aus christlichtheologischer Sicht scheint darin die »Hoffnung auf gelingende Gemeinschaft im Licht des Heiligen Geistes«49 auf. Dies beinhaltet die Überzeugung, dass menschlicherseits zwar viel zu einem solchen Gelingen beigetragen werden kann, dass Sozialstrukturen aber auch ein transzendenter und damit unverfügbarer Aspekt innewohnt. Der einzelne Mensch wird deshalb dahin gehend entlastet, dass soziales Verfehlen ebenso wenig allein seinem Verhalten zugeschrieben werden kann wie besondere Beziehungsqualitäten. Zugleich liegt darin die Ermutigung, neues Miteinander zu wagen und sich gemeinsam auf einen Weg zu begeben, um das Zusammenleben zu verbessern.50 Ähnlich wie Gielkens resümiert, münden auch Schlags ethisch-theologischen Erwägungen in der Einsicht für die Praxis, dass Mediation ein »Lebens-Ort junger Menschen«51 sein kann, an dem sich ein friedvolles Miteinander ausprobieren und ein sozialkompetentes Verhalten einüben lässt. Dadurch erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass sich Prägekräfte von Mediation entfalten, indem Menschen, die 46 47 48 49 50 51

Vgl. a. a. O., 183ff. A. a. O., 186. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. a. a. O., 186f. A. a. O., 190.

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Einleitung

diese in ihren eigenen Lebenswirklichkeiten erlebt haben, zu Multiplikatoren werden. Aus christlicher Perspektive gehören zu einer friedvollen gelingenden Gemeinschaft die Aspekte Vergebung und Versöhnung. Mit ihrer Dissertation hat Stephanie van de Loo eine Untersuchung zum Thema Versöhnungsarbeit vorgelegt. Ihr Forschungsanliegen besteht darin, hinsichtlich zwischenmenschlicher Versöhnungsprozesse theologischerseits zu klären, wann angemessen von Versöhnung gesprochen werden kann, ob es also notwendige Elemente gibt, die einen Versöhnungsprozess auszeichnen.52 Dazu profiliert die Arbeit die Begriffe »Versöhnung« und »Versöhnungsarbeit«. Sie fragt danach, inwieweit sich das Verhalten und das Selbstverständnis von Menschen durch Religiosität ändern und welche Konsequenzen sich daraus für die Theorie und die Praxis von Versöhnung ergeben.53 Mediation zieht die Autorin beispielhaft als ein praktisches Konzept heran, das versucht, mit grundlegender Unversöhnlichkeit umzugehen. Ihrem Ansatz nach unterscheidet sich diese Untersuchung von anderen Herangehensweisen aus theologischer Perspektive insbesondere dadurch, dass sie Mediation auch konzeptionell ausführlich betrachtet. Dadurch beugt sie Pauschalierungen vor, die das Konfliktregulationsverfahren beispielsweise vorschnell für ein grundsätzliches Versöhnungsanliegen zu beanspruchen versuchen. Dies trägt dem mediativen Selbstverständnis Rechnung, dass Mediation auch abseits eines versöhnenden Verhandlungsergebnisses erfolgreich sein kann. Versöhnung ist nämlich kein notwendiges Implikat von Mediation, sondern eine Option, für oder gegen die sich die Konfliktbeteiligten entscheiden können.54 Der Autorin geht es also explizit darum, einen auf der Basis eines theologischen Versöhnungsverständnisses entwickelten Rahmen für Versöhnungsarbeit mit Mediation als einer konkreten Initiative im Bereich der zwischenmenschlichen Pazifisierung ins Gespräch zu bringen, ohne die beiderseitigen – auch verschiedenartigen – Charakteristiken zu verfälschen. Van de Loo vertritt dabei die Ansicht, dass sich der Lerngewinn auch und insbesondere aus jenen Aspekten ergibt, in denen das theologische Versöhnungskonzept und Mediation gerade nicht kongruieren.55 Im Ergebnis zeigt sich, dass Mediation beispielsweise hinsichtlich der Aspekte »Vergebung«, »Reue und Umkehr« und »Selbstdistanzierung von der Tat« theoretisch vertieft werden kann.56 Das theologische Konzept gewinnt im Dialog mit Mediation insbesondere dadurch an Kontur, dass es von der strukturierten Praktikabilität des Konfliktregula-

52 53 54 55 56

Vgl. Stephanie van de Loo: Versöhnungsarbeit, 11. Vgl. a. a. O., 13f. Vgl. a. a. O., 212f. Vgl. a. a. O., 213. Vgl. a. a. O., 216f.

Zur Profilierung und zum Aufbau der Untersuchung

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tionsverfahrens profitieren kann, wodurch das theologische Nachdenken an Konkretion gewinnt.57 Inwieweit sich die vorliegende Untersuchung von den skizzierten Forschungsansätzen unterscheidet und worin Schnittmengen bestehen, wird im Folgenden darzulegen sein, um dadurch die Profilierung und den Aufbau dieser Arbeit aufzuzeigen.

1.5

Zur Profilierung und zum Aufbau der Untersuchung

Die vorliegende Untersuchung kann zunächst dadurch konturiert werden, dass sie zu den skizzierten Forschungsansätzen bzw. zu einigen Teilaspekten abgegrenzt wird. Das Anliegen dieser Arbeit besteht nicht darin, einen Beitrag hinsichtlich des weiten Feldes von Interkulturalität und der religiösen Dimensionalität von Konflikten (Ultes, Wettach-Zeitz) zu leisten. Es geht auch nicht darum, hinsichtlich christlicher Kontextualität institutionelle Aspekte in Bezug auf Perspektiven für eine innerkirchliche Streitkultur zu untersuchen (Mattioli). Deutlich abzugrenzen gilt es sich von missionstheologischen Anliegen, die schon ihrer Anlage nach Gefahr laufen, Mediation für fremde Zwecke zu beanspruchen (Sebastian). Auch jene Ansätze, die sich auf grundsätzliche Fragen bezüglich eines Zusammenhangs von interreligiösem Lernen und Konfliktregulationskompetenz beziehen (Kiechle/Ziebertz, Huber-Rudolf), streifen das hiesige Erkenntnisinteresse nur insofern marginal als die Verantwortungsübernahme in Deeskalationsprozessen die Fähigkeiten und die Fertigkeiten dazu inkludiert, konstruktiv mit Konflikten umgehen zu können. Jedoch wird hier weder ein pädagogisch-theologisches Anliegen verfolgt noch geht es darum, explizit nach Formen zu suchen, die das Miteinander von Menschen mit verschiedenartigen Glaubensprägungen substanziell vertiefen können, wie etwa die Spiritualisierung des interreligiösen Dialogs. Zwar verfolgt auch Gielkens ein pädagogisches Anliegen, wenn er Mediation »als Idee zur Konfliktbearbeitung« mit der Jugendpastoral als ein »Ort der Erziehung zum Gewaltverzicht«58 verknüpft, aber dahinter steht die Grundauffassung, dass die pädagogische Bedeutung von Mediation in ihrem »enormen Potenzial zur Förderung des Menschen«59 besteht. Dieses Potenzial ergibt sich sowohl daraus, dass die mediative Kommunikationssituation es einfordert, sich gegenseitig Akzeptanz entgegenzubringen, als auch daraus, dass Eigenverant57 Vgl. a. a. O., 169f., 218. 58 Beide Zitate Leo Gielkens: Mehr als Sieg und Niederlage, 8. 59 A. a. O., 207 (H. i. O.).

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Einleitung

wortung für die inhaltliche Konfliktbearbeitung übernommen werden muss.60 Die beiden Aspekte, sich akzeptierend zu verhalten und sich eigenverantwortlich – d. h. selbstbestimmt – für eigene Anliegen einzusetzen, weisen in ihrer wechselseitigen Bezogenheit auf den Kern von einer Verantwortungsübernahme hin, die konstitutiv für Mediation ist und hier untersucht werden soll.61 Auch scheint in Gielkens Auffassung der Gesichtspunkt auf, dass es bei Mediation darum geht, eine Veränderung im Menschsein zu erwirken bzw. Prozesse zu initiieren, durch die Menschen selbst Veränderungen erzielen können. Das heißt, dass das Verfahren durch den Menschen und seine Verantwortungsübernahme verlebendigt wird. Der Mensch ist also die zentrale Instanz, von der mediatives Wirken ausgeht und auf die es abzielt.62 Weil die grundsätzliche Notwendigkeit zur Verantwortungsübernahme in einem Zusammenhang mit dem mediativen Menschenbild steht, tangiert der Verantwortungsaspekt die hinter dem sichtbaren praktischen Vollzug liegende Ebene, auf die Schlag hinweist.63 Sein Plädoyer für eine vertiefende Grundlagenforschung der Mediation, die dazu beitragen kann, eine »interne Selbstverständigung«64 zu befördern, weist in die Richtung dieser Untersuchung, die gerade versuchen will, zu der hintergründigen Ebene von Mediation vorzudringen. Eine solche Selbstverständigung ist aber nur durch ein dialogisches Vorgehen möglich. Wege des Selbsterkennens ergeben sich gerade dadurch, dass das zu Erkennende mit einem von ihm Verschiedenen in Kontakt gebracht wird. Selbsterkenntnis erfolgt also nicht aus sich selbst heraus, sondern ist auf eine Vergleichsgröße angewiesen. Aus dieser Einsicht wird für diese Untersuchung – ganz im Sinne der Verfahrensweise, die auch van de Loo wählt – die methodische Konsequenz gezogen, einen Dialog zwischen Mediation und Theologie zu forcieren, ohne ihre jeweiligen Charakteristiken zu verwässern. Das beinhaltet, mediationstheoretische und theologische Klärungen unabhängig voneinander vorzunehmen, um ihre jeweiligen Profilierungen zu bewahren und sie auf der Basis dieser Vorklärungen zueinander zu führen. Damit ist der Inhalt des ersten Untersuchungsteils benannt. Die methodische Vorentscheidung, induktiv vorzugehen, bedingt, zuerst das Verfahren Mediation zu untersuchen. Dazu werden Theoriemodelle rezipiert, die sich auf den Gegenstand Mediation beziehen. Sie beinhalten Erwägungen hinsichtlich des Konflikts (2) sowie Ausführungen zu Mediation als ein strukturiertes Verfahren (3) und zu den mediativ Interagierenden (4). Abschließend wird aufgezeigt,

60 61 62 63 64

Vgl. ebd., 127, 191. Vgl. 3.3 Verfahrensgrundsätze als Angebot zur Änderung von Verhalten. Vgl. 4.5 Die Zentralstellung des Menschen in der Mediation. Vgl. Thomas Schlag: Was leuchtet in der Mediation auf ?, 179. A. a. O., 180.

Zur Profilierung und zum Aufbau der Untersuchung

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inwieweit die Mediationstheorie selbst religiöse Bezüge65 aufweist, an die mit dem Ziel, die Schnittstelle von Mediation und Theologie zu durchdenken, angeknüpft werden kann (5). Aus den in diesem ersten Untersuchungsteil dazulegenden Überlegungen zur Herleitung von Verantwortung aus den Grundlagen der Mediation ergibt sich für den weiteren Aufbau der Untersuchung, dass der Verantwortungsbegriff weiter aufzufächern ist. Die Analyse mediativer Vollzüge bedingt, dass anfangs aufgrund der verfahrensbezogenen Sicht auf Mediation vornehmlich der Mediator in den Blick gerät, weil er für die sachkompetente Durchführung der Interventionsmaßnahme einsteht. Weil es der Sache nach aber darum geht, eine Konfliktsituation inhaltlich zu klären und die Verantwortung dafür bei den Konfliktbeteiligten selbst liegt, wird sich eine Verschiebung des Fokus ergeben. Wenn es also im zweiten Untersuchungsteil darum geht, den Verantwortungsaspekt vertiefend zu durchdringen, kommen Überlegungen zum Tragen, die sich vornehmlich auf die Konfliktbeteiligten beziehen lassen, weil es um generelle und damit verfahrensunabhängige Erwägungen geht. Das bedeutet aber nicht, dass sie nicht auch bezüglich der Mediatorenrolle aussagekräftig sind, aber in gemäßigter Form. Der Mediator kommt darin eher hinsichtlich seines Menschseins als in seiner Rolle zu stehen. Verantwortung wird in diesem zweiten Untersuchungsteil zuerst in Bezug auf einige Grundvoraussetzungen bedacht (6), anschließend wird das Verhältnis von der Individualdimension zur sozialen Dimension von Verantwortung geklärt (7). Es gilt die Rolle von Selbstverantwortung als konstitutives Merkmal von Verantwortung schlechthin auszuweisen (8), bevor Verantwortung ihre religiösen Reflexionsmöglichkeiten betreffend beschrieben wird (9). Der Sachverhalt, dass Verantwortung begründet religiös gedeutet werden kann, soll anschließend für das weitere Nachdenken fruchtbar gemacht werden, um den »Dialogpartner« Theologie zu profilieren. Für die systematisch-theologische Vertiefung der religiösen Bezüge von Verantwortung ergibt sich die methodische Notwendigkeit, sich auf eine Auslegung des Verantwortungsbegriffs festzulegen, weil nicht von der einen christlichen Verantwortung gesprochen werden kann. Für diese weiterführende Explikation wird das Verantwortungsverständnis Dietrich Bonhoeffers herangezogen. Ausgehend von seinem Grundgedanken der »Wirklichkeitsgemäßheit« (10) wird die christologische Auslegung des Begriffs aufzuzeigen sein (11), bevor Verantwortung unter dem Aspekt der menschlichen Freiheit (12) und abschließend hinsichtlich von Fra-

65 Thomas Schlags Hinweis darauf, dass sich in der Literatur kaum ausdrückliche Hinweise zur religiösen Dimension finden, bezieht sich auf Schulmediation (a. a. O., 183f.). Durch eine generelle Ausweitung des Mediationsverständnisses lassen sich derartige Bezüge aber durchaus feststellen. Dennoch wird Neuland betreten, wenn sie im Kontext dieser Untersuchung komprimiert herausgearbeitet und vertiefend untersucht werden.

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Einleitung

gen zur Persönlichkeits- und Lebensdisposition eines Menschen (13) zu bedenken ist. Bei Religiosität handelt es sich um eine spezifische Form von Sinnstiftung, aus der sich konkrete lebensdeutende und handlungspraktische Aspekte ableiten lassen. Mit dem Sinnbegriff wird die Ebene hinter der Mediation erreicht, die einem verantwortlichen Handeln seine Prägekraft verleiht. Vor dem Hintergrund der bis hierher erfolgen Erwägungen erlaubt der Sinnbegriff die einleitend aufgeworfene Wirksamkeitsfrage von Mediation zu vertiefen. Die Ausdifferenzierung des Sinnaspekts kann dabei auf unterschiedlichen mediationsrelevanten Ebenen erfolgen, nämlich hinsichtlich von Profession, Konzept und Persönlichkeit. Es soll hier nicht darum gehen, den Professionsgedanken zu vertiefen, wie es etwa Schlag vor Augen steht, wenn er von einer »professionellpädagogisch verantworteten Barmherzigkeit«66 spricht. Auch der Konzeptionsgedanke, der sich bei van de Loo findet, indem sie ein theologisches Konzept für Versöhnungsarbeit durch Dritte mit Mediation ins Gespräch bringt, entspricht nicht dem hier verfolgten Anliegen. Weil sich die vorliegende Untersuchung insgesamt dadurch profiliert, den Aspekt eines verantwortlichen Menschseins erhellen zu wollen, bezieht sich ihr Ergebnis dementsprechend auf Erwägungen hinsichtlich der persönlichen Disposition von Menschen. Dahin gehend wird zuerst aufzuzeigen sein, dass sich der Verantwortungsbegriff in sich selbst in zweifacher Hinsicht differenzieren lässt (I.). Anschließend werden unterschiedliche Sinnebenen voneinander unterschieden (II.), bevor der Zusammenhang von Sinn und Verantwortung zu erhellen ist (III.). Schließlich wird der Sinnaspekt hinsichtlich einer christlichen Bewusstseinsdimension entfaltet (IV.) und aufgezeigt, worin der Ertrag einer Zusammenschau von mediativen und theologischen Aspekten besteht (V.).

66 Thomas Schlag: Was leuchtet in der Mediation auf ?, 186.

Teil 1

Konfliktregulation am Beispiel der Mediation

Der folgende Untersuchungsteil erhellt die Grundlagen von Mediation solchermaßen, dass ihre anthropologischen und ethischen Implikationen kenntlich werden.67 Die Auswahl der herangezogenen Literatur zu Mediation und Konfliktmanagement berücksichtigt insbesondere die Grundlagenwerke des deutschsprachigen Raums, wobei die Autoren zumeist als national und international erfolgreiche Mediatoren, Ausbilder und Konfliktmanager tätig sind oder waren. Dazu gehören beispielsweise John M. Haynes als weltweit bekannter Pionier der Mediation, Roger Fisher, William Ury und Bruce Patton, die Entwickler des Harvard-Konzepts, sowie Marshall B. Rosenberg, der Begründer der Gewaltfreien Kommunikation. Des Weiteren wird auf die beiden österreichischen Konfliktforscher Friedrich Glasl und Gerhard Schwarz rekurriert sowie auf den Psychologen und Theologen Josef Duss-von Werdt, dessen Arbeiten insbesondere für den Bereich der Familienmediation Wegbereitendes beigetragen haben. In der Regel handelt es sich um Lehrwerke, die insbesondere die methodisch-technischen Aspekte von Mediation in den Blick nehmen.68 Zumeist werden die Grundlagen von Mediation zwar am Rande mitbedacht, das Hauptaugenmerk liegt aber eher auf Anwendungsfragen. Das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Ausarbeitung macht es deshalb notwendig, ausgehend von allgemeinen und speziellen Beschreibungen und Annahmen zum Verfahren auf die ihnen zugrunde liegenden normativen Annahmen rückzuschließen. 67 Mediation kommt in unterschiedlichen Bereichen gewinnbringend zum Einsatz, wie etwa »Ehe und Familie«, »Wirtschaft«, »Miet- und Nachbarschaftsangelegenheiten«, »Umweltschutz«, »Schule und Universität« sowie »Politik und Justiz« (vgl. Christoph Besemer : Mediation, 50). Zudem lassen sich unterschiedliche Mediationsmodelle voneinander unterscheiden (vgl. Anitavon Hertel: Professionelle Konfliktlösung, 243ff.; dies.: Erkennen Sie den Unterschied…, 39–43; Iris Berger u. a.: Haltung, alles eine Frage der Vereinbarung?, 13f.). Für die vorliegende Untersuchung sind Differenzierungen dieser Art nachrangig, weil sich die Grundlagen der verschiedenen Formen mediativer Angebote ähneln. 68 Die Monografie homo mediator von Josef Duss-von Werdt hebt sich von der anderen Literatur ab, weil sie sich aus philosophischer Perspektive mit Mediation befasst und explizit das mediative Menschenbild beleuchtet.

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Konfliktregulation am Beispiel der Mediation

Dazu ist es notwendig, zuerst von dem Konflikt als Gegenstand der Mediation auszugehen. In dem ersten Kapitel dieses Untersuchungsteils wird deshalb geklärt, was unter Konflikten zu verstehen ist und aufgezeigt, worin ihr destruktives Potenzial besteht, das sich anhand eines Modells zur Eigendynamik von Eskalationen veranschaulichen lässt. Wie eingangs erwähnt, liegt Konflikten nicht nur Zerstörerisches inne, sondern sie veranlassen auch zu Veränderungen. Insbesondere hinsichtlich dieser Eigenschaft erweisen sie sich als notwendige Phänomene des Daseins des Menschen69 als Kulturwesen. Anhand einer anthropologischen Begründungsfigur lässt sich aufzeigen, dass der Mensch in gewissem Umfang nicht umhin kommt, sich seiner eigenen Konfliktträchtigkeit zu stellen. Rekurrierend auf seine Selbstbestimmungskraft70 kann es ihm gelingen, diese Konfliktträchtigkeit zu seinem persönlichen und kulturellen Fortschritt zu nutzen. Diesen grundlegenden Sinn von Konflikten für das menschliche Dasein gilt es freizulegen. Daran anschließend wird aufgezeigt, wie eine Interventionsmaßnahme als ein gesellschaftlicher Regulierungsmechanismus von Konflikten dazu beitragen kann, den Fokus von Destruktivität abzuwenden und auf Konstruktivität hin auszurichten. Dazu lassen sich allgemeine Voraussetzungen für eine situationsgerechte Intervention benennen. Dieses erste Unterkapitel wird verdeutlichen, dass und inwieweit der Mensch selbst darüber bestimmt, in welche Richtung sich Konflikte entwickeln. Interventionsmaßnahmen können ihn darin unterstützen, sich gegen konfliktbedingte Eigendynamiken des Verhaltens zu verwehren und sein Handeln bewusst deeskalierend auszurichten. Das zweite Kapitel dient dazu, Mediation als ein Verfahren zur Konfliktregulation vorzustellen. Es wird aufzuzeigen sein, von welchen Grundannahmen Mediation ausgeht und wie sie auf Verhaltensänderungen der Konfliktbeteiligten abzielt, indem die Verfahrensmaßnahmen auf die wesenhafte Konfliktträchtigkeit des Menschen antworten. Im Ergebnis wird sich zeigen, dass sich Mediation dabei zwei wesentliche Aspekte des Menschseins zunutze macht. Erstens geht sie von der Fähigkeit des Menschen aus, sich über sich selbst bewusst zu werden und eigenes Handeln zielgerichtet steuern zu können. Zweitens rekurriert Mediation auf die Möglichkeit, dass sich Menschen in empathischer Weise sozial aufeinander beziehen und zu bestimmten Zwecken kooperieren können. Beide Aspekte sind notwendige Implikate der Verantwortungsfähigkeit des Menschen, die Mediation grundsätzlich voraussetzen muss. Damit ist freigelegt, dass der Mensch als Verantwortungsträger in Konflikten 69 Die Begriffe »Mensch« und »Person« werden synonym verwendet. 70 Unter »Selbstbestimmungskraft« wird die Fähigkeit des Menschen gefasst, sich seine wesenhafte Selbstbestimmtheit zu vergegenwärtigen und aktiv auf sie zuzugreifen, sie also zielgerichtet zu nutzen.

Konfliktregulation am Beispiel der Mediation

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schlechthin die zentrale Instanz für gelingende Mediation ist. Nur dann, wenn es gelingt, den einzelnen Beteiligten dahin zu begleiten, dass er die Verantwortung für sein Verhalten im Konfliktfall übernimmt, ohne dass er dabei dauerhaft unter äußerer Kontrolle steht, können Konfliktlösungen langfristig tragfähig sein. Die am Verfahren beteiligten Personen nehmen eine Rolle ein. Je nachdem, ob sie als Mediator oder als Mediant fungieren, sind sie entweder verantwortlich dafür, dass die Mediation sachkompetent durchgeführt wird (Mediator) oder stehen dafür ein, den Konfliktfall inhaltlich zu klären und die gefundene Lösung umzusetzen (Mediant). Der ganze Mensch geht zwar nicht in seiner mediativen Rolle auf, aber die eingangs erwähnte persönliche Lebensdeutung und die situative Maßnahme zur Konfliktbewältigung greifen solchermaßen ineinander, dass das Mediationsverfahren durch die Persönlichkeiten der Beteiligten individualisiert wird. Demgemäß befasst sich das dritte Kapitel damit, die Stellung des Menschen in der Mediation zu untersuchen. Zu den Möglichkeiten von Lebensdeutung gehört auch eine religiöse Sinnzuschreibung, die dem Menschen dazu dient, sein Selbst zu interpretieren, um sein Dasein sinnvoll bewältigen zu können. Die Mediationstheorie verweist auf eine Dimension, die hinter dem Verfahren liegt und bietet damit selbst Anknüpfungspunkte dafür, religiöse Bezüge herzustellen. Das letzte Kapitel legt diese Ansätze frei, indem ihr Destillat aus der Literatur zu Mediation und Konfliktmanagement herausgearbeitet und rezipiert wird. Das beschriebene Vorgehen dient dazu, der methodischen Vorentscheidung Rechnung zu tragen, Mediation induktiv zu untersuchen. Demgemäß geht es in diesem ersten Untersuchungsteil vornehmlich darum, den einleitend dargelegten Dreischritt aus Konfliktregulation – Mensch – Verantwortung in Hinblick auf Mediation systematisch entfalten, um die Schnittstelle zur Theologie aufzuzeigen. Weil sich Konflikte nur dann regulieren bzw. befrieden lassen, wenn Menschen deeskalierend handeln, bedarf es ihrer Verantwortungsübernahme. Verantwortung wird wiederum nur dann übernommen, wenn es sinnvoll erscheint, sich für eine bestimmte Sachangelegenheit einzusetzen. Weil Sinnhaftigkeit das Ergebnis von Zuschreibungen ist, wird Mediation nur in dem Maße wirksam, in dem die Beteiligten die konfliktregulierenden Maßnahmen vor dem Hintergrund ihrer persönlichen Lebensinterpretation sinnvoll deuten können. Der erste Untersuchungsteil steht deshalb begründend dafür ein, Verantwortung als zentrale Komponente von Mediation auszuweisen.

2

Der Konflikt als Phänomen zwischen Destruktivität und Konstruktivität

2.1

Zur Definition des Konflikts

Konflikte gehören zum menschlichen Sozialleben, d. h. sie sind in allen sozialen Zusammenhängen präsent. Sie treten dort auf, wo Interessen, Vorstellungen oder Bedürfnisse von Personen aufeinandertreffen und – augenscheinlich oder tatsächlich – nicht miteinander zu vereinbaren sind. Dabei ist der Konflikt einerseits ein alltägliches Phänomen, über das jeder Mensch aus eigener Erfahrung berichten kann. Andererseits zeigt die Ursachenforschung zum Konflikt, dass eine monokausale Beschreibung seines Auftretens unzureichend ist. Die Frage danach, was genau unter einem Konflikt zu verstehen ist und wie er entsteht, lässt sich deshalb nicht trivial beantworten. Die empirische Tatsache, dass sich Konflikte überall dort ergeben (können), wo Personen miteinander interagieren, generiert den Bedarf, sich mit dem Phänomen des Konflikts zu befassen. Dies erfolgt aus unterschiedlichen Perspektiven und aus verschiedenen Erkenntnisinteressen heraus. Ein häufiger Beweggrund zur Erforschung von Konflikten besteht darin, nach konstruktiven Möglichkeiten zu suchen, wie sie sich regulieren lassen. Weil Konflikte nicht generell eliminierbar sind und die durch Eskalationen entstehenden Kosten sehr hoch sein können, gilt es, das Ausmaß von Destruktivität so weit wie möglich zu begrenzen. Daran, so darf angenommen werden, haben nicht nur Organisationen, Unternehmen, Gruppen jeder Art – bis hin zu Staaten – ein Interesse, sondern auch und vielleicht insbesondere der einzelne Mensch, dessen persönliche Kosten durch einen Konflikt erheblich sein können.71 Es gibt also eine Vielzahl von Perspektiven, aus denen heraus sich Konflikte untersuchen lassen. Konfliktforschung erfolgt in Einzeldisziplinen, wie der Politikwissenschaft und der Soziologie, aber auch interdisziplinär, etwa innerhalb von Forschungskooperationen an Instituten und Zentren für Konfliktforschung, wie sie inzwischen an zahlreichen Universitäten institutionalisiert 71 Vgl. 2.2 Die Eskalationsdynamik in Konflikten.

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Der Konflikt als Phänomen zwischen Destruktivität und Konstruktivität

wurden. Konflikte werden dabei gemäß dem jeweiligen Erkenntnisinteresse u. a. anthropologisch, ethisch, psychologisch, biologisch, ökonomisch sowie philosophisch und theologisch betrachtet. Neben der wissenschaftlichen Erforschung von Konflikten haben sich in der Praxis zahlreiche Angebote zur Konfliktberatung, -prävention und -intervention etabliert. Beispiele dafür sind Mediation, Schlichtungs- und Schiedsverfahren sowie zahlreiche Formate im Bereich Coaching, Moderation und Teamentwicklung. In Vorträgen, Seminaren und Prozessen zur Gruppendynamik kommen unterschiedliche Werkzeuge der Konfliktintervention zum Einsatz. Diese theoretische und praktische Diversität bedingt eine grundsätzliche Heterogenität bei Klärungsversuchen hinsichtlich des Konfliktbegriffs. Was unter den Begriff »Konflikt« gefasst wird und was nicht, hängt demnach entscheidend davon ab, aus welcher Perspektive und mit welchem Interesse die Frage beantwortet wird. Deshalb gibt es eine Vielzahl von Definitionsversuchen. Eine detaillierte Diskussion und Beschreibung kategorialer oder empirischer Bestimmungsmöglichkeiten des Konfliktbegriffs ist für vorliegende Untersuchung aber von nachrangiger Relevanz, weil nicht der Konflikt selbst im Fokus der Betrachtung steht. Vielmehr geht es darum, den Konflikt für diesen Kontext als Bearbeitungsgegenstand von Mediation einzuordnen. Es soll aufgezeigt werden, wo schon im Konfliktphänomen selbst Anknüpfungspunkte für Interventionsmaßnahmen angelegt sind. Dabei offenbart sich sowohl das destruktive als auch das konstruktive Potenzial von Konflikten, wobei der Fokus der Betrachtung schließlich dem Veränderungsvermögen gilt, das Konfliktintervention sinnvoll ermöglicht. Friedrich Glasl legt mit seiner Publikation zum Konfliktmanagement eine pointierte Diskussion des Konfliktbegriffs vor, die von einer vertiefenden Untersuchung an dieser Stelle entbindet.72 Es genügt hier, zu skizzieren, was er auf Grundlage seiner Sichtung einschlägiger Literatur ausführt. Mit dem Hinweis, dass sich ein breites Spektrum von Begriffsdefinitionen73 zum Konflikt finden lässt, exponiert Glasl unterschiedliche Definitionsversuche des sozialen Kon72 Die Monographie Friedrich Glasls ist ein Standardwerk im Bereich des Konfliktmanagements. Eine Sichtung der Literatur zum Thema zeigt, dass viele Autoren ihre Ausführungen bezugnehmend auf Glasl entfalten. Beispielhaft seien John M. Haynes u. a.: Mediation (2004), Montada, Leo u. a.: Mediation und Reinhart Fuhr u. a.: Kommunikationsentwicklung und Konfliktklärung genannt, aber auch Horst Sebastian: Mission als Mediation und Sarah Ultes: Interkulturelle Mediation in Konflikten mit religiöser Dimension. Aus diesem Grund und unter der Maßgabe, dass die Konfliktthematik im Kontext vorliegender Untersuchung lediglich bedacht wird, um ein Vorverständnis zu generieren, ist es angezeigt und vertretbar, bei der Diskussion zum Konfliktbegriff und der Darstellung der Eskalationsstufen (vgl. 2.2 Die Eskalationsdynamik in Konflikten) vornehmlich auf Glasl zu rekurrieren. 73 Als Begründung für die große Bandbreite der Begriffsbestimmungen führt Friedrich Glasl an, dass dies aufgrund fehlender Meta-Begriffe, die als allgemein anerkannt gelten, im Wesen von sozialwissenschaftlichen Gegenständen liege (vgl. ders.: Konfliktmanagement, 14).

Zur Definition des Konflikts

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flikts74. Dabei arbeitet er heraus, dass sie sich insbesondere sowohl in der Vielfalt der jeweils berücksichtigten Aspekte unterscheiden als auch in Bezug auf Weite und Engführung des Begriffs. In weit gefassten Konfliktbegriffen wird beispielsweise dann von einem Konflikt gesprochen, wenn eine »Uneinigkeit«75 vorliegt oder sich »unvereinbare Handlungstendenzen«76 beobachten lassen. Weil es unwahrscheinlich bzw. gar unmöglich ist, dass zwei Menschen in jeder Hinsicht der gleichen Auffassung sind, wäre jede Interaktion per Definition schon ein Konflikt. Am zweiten Beispiel kritisiert Glasl, dass nichts dazu ausgesagt wird, ob eine Unvereinbarkeit von der betroffenen Person auch als beeinträchtigend erlebt wird. Es muss aber definitorisch berücksichtigt werden, ob das Erleben von Personen tangiert wird und ob sich Zielperspektiven tatsächlich nicht miteinander vereinbaren lassen oder ob dies nur subjektiv angenommen wird.77 Es bedarf insbesondere deswegen einer weiteren Spezifizierung, weil sich viele scheinbar ausschließende Zielperspektiven dann als miteinander vereinbar erweisen, wenn die entsprechenden Situationen konfliktregulierend bearbeitet werden.78 Zu weit gefasste Konfliktverständnisse beispielhaft angeführter Art bewertet Glasl deshalb als praktisch sowie theoretisch ungeeignet. Tendenziell gegensätzlich verhalten sich Begriffsbestimmungen, die das Konfliktphänomen schon von vornherein engmaschig eingrenzen. Dies betrifft z. B. Definitionen, die festlegen, dass die Parteien in Bezug auf Ressourcen und Aktivitäten in einem Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen müssen.79 Außerhalb von Res74 Für den »sozialen Konflikt« bei Friedrich Glasl wird an späterer Stelle dieser Untersuchung der Terminus »interpersonaler Konflikt« eingeführt (vgl. 2.3 Zur Korrelation von intrapersonalen und interpersonalen Konflikten). 75 David E. Berlew : Conflict, an under-utilized resource. Nive-najaarsdag 1997, Den Haag 1977 (Literaturangabe nach Friedrich Glasl: Konfliktmanagement, 15). 76 Lutz von Rosenstiel/Walter Molt/Bruno Rüttinger : Organisationspsychologie, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1980, 165 (Literaturangabe nach Friedrich Glasl: Konfliktmanagement, 15). 77 Beispielhafte Definitionen vgl. Hans Werbik: Grundlagen einer Theorie des sozialen Handelns. Regeln für die Entwicklung empirischer Hypothesen. In: Zeitschrift für Sozialpsychologie, Bd. 7, 1976; Elfriede Billmann: Entwicklung und exemplarische Erprobung eines handlungstheoretischen Verfahrens zur Supervision von Konfliktberatern. Forschungsbericht Nr. 103 des Sonderforschungsbereichs 22, Sozialisations- und Kommunikationsforschung, Nürnberg 1978 (Literaturangabe nach Friedrich Glasl: Konfliktmanagement, 15). 78 Diese berechtigte Kritik Friedrich Glasls ist daher insbesondere für Fragen der Intervention bedeutsam. Angenommen, es handelte sich um eine tatsächliche Unvereinbarkeit von Zielperspektiven und die vorliegende Konfliktsituation ließe es nicht zu, ein Interventionsdesign zu entwerfen, das die Festlegung auf diese Zielperspektiven aufweichen oder gar umgehen könnte, so wäre der Konflikt von vornherein nicht mit dem Ziel einer für alle Beteiligten zufriedenstellenden Lösung (Win-Win-Situation) bearbeitbar. Hieran wird beispielhaft deutlich, wie eng das Konfliktverständnis mit der Möglichkeit zur Intervention verwoben ist (vgl. 2.5 Zum Sinn von Konflikten). 79 Beispielhafte Definition vgl. Stuart M. Schmidt/Thomas A. Kochan: Conflict: towards

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Der Konflikt als Phänomen zwischen Destruktivität und Konstruktivität

sourcenfragen anzusiedelnde Konflikte, etwa religiöser oder ideeller Art, werden definitorisch dann nämlich nicht mit erfasst. Ausgehend von einer Zusammenschau und einer Diskussion verschiedener Definitionsversuche, durch die Glasl die Schwierigkeiten insbesondere von weitund enggefassten Konfliktverständnissen pointiert aufzeigt80, legt er eine eigene Begriffsbestimmung vor. Durch sie grenzt er Konflikte von anderen sozialen Phänomen ab: »Sozialer Konflikt ist eine Interaktion – zwischen Aktoren (Individuen, Gruppen, Organisationen usw.) – wobei wenigstens ein Aktor – eine Differenz bzw. Unvereinbarkeiten im Wahrnehmen und im Denken bzw. Vorstellen und im Fühlen und im Wollen – mit dem anderen Aktor (den anderen Aktoren) in der Art erlebt, – dass beim Verwirklichen dessen, was der Aktor denkt, fühlt oder will eine Beeinträchtigung – durch einen anderen Aktor (die anderen Aktoren) erfolge.»81

Nach dieser Definition wird nur dann von einem sozialen Konflikt82 gesprochen, wenn Wahrnehmen, Denken, Fühlen und Wollen von einer Unvereinbarkeit zwischen den Interaktionsbeteiligten betroffen sind. Ferner muss sich diese Unvereinbarkeit auch äußerlich zeigen. Das heißt, es entstehen dann Kollisionen zwischen den Interagierenden, wenn versucht wird, inneres Bestreben in die Tat umzusetzen. Erst dann handelt es sich im Sinne der vorliegenden Begriffsbestimmung um einen sozialen Konflikt. Wenn sich eine Unvereinbarkeit hingegen beispielsweise ausschließlich im Denken einer Person abspielt, wäre nicht von einem Konflikt zu sprechen, sondern von einer Meinungsverschiedenheit. Wo neben dem Denken einer Person auch ihre Wahrnehmung von den konfligieconceptual clarity. In: Administrative Science Quarterly, 1972, 359ff. (Literaturangabe nach Friedrich Glasl: Konfliktmanagement, 15). 80 Vgl. Friedrich Glasl: Konfliktmanagement, 15ff. 81 A. a. O., 17 (H. i. O.). 82 Konflikte lassen sich bezüglich ihrer Ursachen und Wirkungen wiederum kategorisieren. Allgemein kann ausgesagt werden, dass sie entstehen, wenn Menschen unterschiedliche, sich gegenseitig ausschließende Ziele verfolgen, wenn sie gleiche Ziele verfolgen und darum wissen, dass die für die Zielerreichung notwendiger Ressourcen begrenzt sind oder wenn sie konkurrierende Haltungen einnehmen. Fragen zu Konflikttypologien sind jedoch nicht Gegenstand der vorliegenden Arbeit, sodass von weiterführenden Differenzierungen abgesehen wird. Zur Vertiefung vgl. Gerhard Schwarz: Konfliktmanagement, 97ff. und 180ff., Regina Mahlmann: Konflikte managen, 134, Wolfgang Mutzeck: Kooperative Beratung, 112 und Friedrich Glasl: Konfliktmanagement, 53ff.

Zur Definition des Konflikts

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renden Tendenzen betroffen ist, liegt nach Glasl wiederum kein Konflikt, sondern ein Missverständnis vor.83 An dieser Bestimmung des sozialen Konflikts ist der Versuch zu würdigen, auf die problematische Spannung zwischen zu starker Engführung und abstrakter Weite des Begriffs konkret zu antworten. Dies versucht Glasl, indem er einzelne Bedingungen der von ihm untersuchten Definitionen synthetisch zusammenführt und zugleich Eingrenzungen vornimmt. Ob es sich bei einem Sozialphänomen dann tatsächlich um einen Konflikt handelt, kann anhand der Einzelfaktoren überprüft werden. Die Konfliktbedingungen werden so offen beschrieben, dass dabei Einzelfallbezogenheit gewährleistet bleibt. Mit diesem Versuch trägt Glasl insbesondere zu einer Konfliktbewusstheit bei, die nicht jede Unstimmigkeit innerhalb von Interaktionen sogleich als Konflikt deklariert. Der Gewinn dieser Bestimmung liegt deshalb darin, dass sie eine den Einzelfall berücksichtigende Sicht auf einen Konflikt innerhalb eines Orientierungsrahmens ermöglicht. Dadurch wird einerseits der jeweiligen Einzigartigkeit sehr verschiedener Konfliktlagen Rechnung getragen. Andererseits schützt der vorgegebene Orientierungsrahmen davor, zu schnell durch die Brille des Konflikts auf Situationen zu blicken. Die Definition lädt also dazu ein, von derartigen vorschnellen Einordnungen abzusehen und Situationsdistanz zu wahren, die insbesondere für Interventionsmaßnahmen bedeutsam ist.84 An die Begriffsbestimmung lässt sich darüber hinaus anfragen, ob in jedem Falle auch schon dann von einem sozialen Konflikt gesprochen werden kann, wenn nur einer der Beteiligten eine Unvereinbarkeit wahrnimmt. Zwar setzt Glasl eine Interaktion85 voraus, die er als »ein aufeinander bezogenes Kommunizieren oder Handeln«86 versteht. Wenn aber nur das Selbsterleben eines Interagierenden von Unvereinbarkeiten betroffen ist, stehen andere Beteiligte außerhalb des unmittelbaren Konflikterlebens. Selbst in dem Falle, indem sich ein Beteiligter darin eingeschränkt fühlt, seine Vorhaben zu verwirklichen, muss dieser Zusammenhang demjenigen Interaktionsbeteiligten, dessen Verhalten beeinträchtigend wirkt, nicht bewusst sein. Nach Glasls Begriffsbestimmung läge dann aber schon ein sozialer Konflikt vor, obwohl sich dieser nur einseitig 83 Vgl. Friedrich Glasl: Konfliktmanagement, 19. 84 Vor dem Hintergrund der destruktiven Konfliktneigung, die sich innerhalb von Eskalationsverläufen erheblich verstärken kann (vgl. 2.2 Die Eskalationsdynamik in Konflikten), liegt auf dem Aspekt der Distanzeinnahme Gewicht. Weil Konfliktbeteiligte dazu neigen, sich emotional immer stärker mit der empfundenen Dramatik der Situation zu verbinden, kann eine Verhaltensänderung nur darüber angebahnt werden, dass Abstand zum unmittelbaren Erleben hergestellt wird (vgl. 4.3 Die Inhaltsverantwortung als Implikat der Mediantenrolle). 85 Das Interaktionsverständnis Friedrich Glasls klärt nicht, ob Konflikte über mehrere einzelne Interaktionen hinweg erfolgen oder im Falle einer (zeitweiligen) Nicht-Interaktion »ausgesetzt« werden. 86 A. a. O., 17.

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Der Konflikt als Phänomen zwischen Destruktivität und Konstruktivität

zuträgt, nämlich im Personinneren. In soziale Konflikte müssen aber mehrere Personen involviert und sich darüber auch bewusst sein. Deshalb wäre zusätzlich zwischen einem sozialen Konflikt und einem Konflikt im Selbsterleben eines Beteiligten als direkte Folge auf einen Impuls durch soziale Interaktion zu unterscheiden, wenn das Szenario einer einseitigen Beteiligung nicht grundsätzlich als ein Konflikt im Personinneren verstanden werden soll.87 Glasls Definition wäre zwar hinsichtlich dieses Aspekts zu differenzieren, ist aber nicht grundsätzlich zu verwerfen, sondern wird im Folgenden weiter mitgeführt, weil sich an sie wesentliche Aspekte des weiteren Nachdenken anschließen lassen. Um den Zusammenhang von äußeren und inneren Konfliktfaktoren und den sich daraus entwickelnden sozialen Phänomenen besser verstehen zu können, ist es hilfreich, die Entstehungszusammenhänge einer Eskalation als »Prozess der Konfliktsteigerung«88 zu betrachten. Vor dem Hintergrund des Wissens um humane Konfliktneigung in Eskalationen lässt sich anschließend zeigen, warum der Frage nach einer geeigneten Definition von Konflikten hier nicht weiter nachzugehen ist und dementsprechend von einem eigenen Versuch zur Begriffsbestimmung abgesehen wird.

2.2

Die Eskalationsdynamik in Konflikten

Auf der Grundlage seines wissenschaftlichen Arbeitens und seiner eigenen praktischen Erfahrung als Berater, Mediator und Coach hat Glasl ein Phasenmodell der Eskalation entwickelt, das Konfliktverläufe schematisiert. Das neunstufige Modell soll im Folgenden komprimiert dargestellt werden, um ein Grundverständnis für Zusammenhänge und Eskalationsentwicklungen in Konflikten zu vermitteln. Dabei wird insbesondere deutlich, durch welche Wirkungszusammenhänge und in welchem Ausmaß sich das destruktive Potenzial von Eskalationen mit zunehmendem Konfliktverlauf erhöht. Hilfreich ist das Modell deshalb insofern als es Tendenzen von Eskalationsprozessen aufzeigen und damit als Orientierungshilfe für ein vertiefendes Verständnis von 87 Ein Konflikt, der sich im Personinneren zuträgt, wird an späterer Stelle als intrapersonal bezeichnet (vgl. 2.2 Die Eskalationsdynamik in Konflikten). Mit der Unterscheidung zwischen intrapersonalen und interpersonalen Konflikten und einer weiterführenden Differenzierung hinsichtlich möglicher Zwischenstufen hängen die Wahl und die Durchführung von Interventionsmaßnahmen zusammen. Wenn sich nur ein Beteiligter durch eine Situation beeinträchtigt fühlt, der andere sich davon aber unberührt zeigt, besteht ein ungleiches Interesse daran, die Situation zu verändern. Dies wiederum wirkt sich unmittelbar auf Konfliktregulationsversuche aus, weil der Veränderungswille eine entscheidende Triebkraft dafür ist, Lösungen zu entwickeln und sich ihnen gegenüber verbindlich zu verpflichten (vgl. 2.3 Zur Korrelation von intrapersonalen und interpersonalen Konflikten). 88 A. a. O., 197.

Die Eskalationsdynamik in Konflikten

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negativer Sinnstiftung89 und deren Konsequenzen für Konfliktbeteiligte und Außenstehende fungieren kann. Wie für jedes Modell gilt auch für dieses, dass es reale Wirkungszusammenhänge lediglich schematisch abbilden kann. Dadurch besteht die Gefahr einer Simplifizierung, die den Blick auf die Realsituation verstellt. Flexibilität, die geboten ist, um situative Komponenten im Einzelfall zu erfassen, darf also nicht zugunsten einer stereotypen Orientierung am Modell eingeschränkt werden.90 Auf Stufe eins von Eskalationen zeigen die Konfliktbeteiligten ein Verhalten, das dem alltäglichen Umgang mit Spannungen und Meinungsunterschieden augenscheinlich sehr nahe kommt. Der Unterschied besteht aber darin, dass Differenzen nicht flexibel in das Miteinander eingebunden und dadurch konstruktiv gelöst werden, sondern bestehen bleiben und sich verhärten, sodass auf Standpunkte und Absichten beharrt wird. Wahrnehmungs- und Beurteilungsdifferenzen von Sachverhalten bauen Spannungen zwischen den Beteiligten weiter auf, wodurch sie sich zunehmend voneinander entfernen. Weil sich noch keine starren gegnerischen Lager gebildet haben, gibt es auch noch Phasen 89 Im emotionalen Erleben von Konfliktbeteiligten – das zeigen die Eskalationsstufen – hat der Konflikt einen Sinn. Mit zunehmendem Eskalationsverlauf erhöht sich die Destruktivität, die mit dem Sinn des Konflikts verbunden ist. Sie kann sich so weit steigern, dass das Bestreben, den vermeintlichen Gegner zu vernichten, nach sich zieht, die eigene Vernichtung in Kauf zu nehmen. Dieser Vorgang ist eng mit dem sich verstärkenden Gefühl von Hilflosigkeit verbunden, wodurch die Gewaltneigung zunimmt (vgl. weitere Ausführungen in diesem Kapitel 2.2 Die Eskalationsdynamik in Konflikten). Weil diese Form von Sinnstiftung nicht nur die Destruktivität der Situation erhöht, sondern auch Ausdruck eines Verhaltens ist, das den Wünschen der Beteiligten in Situationen persönlicher Ausgeglichenheit nicht entsprechen würde, soll hier von negativer Sinnstiftung gesprochen werden. Je differenzierter sich die Zusammenhänge klären lassen, die eine solche negative Sinnstiftung hervorbringen, desto effizienter und flexibler können Prozessen der Deeskalation als positive Gegensinnstiftung (vgl. 2.6 Ressourcenorientierte Intervention als Angebot zur Gegensinnstiftung) initiiert werden. 90 Für die Interventionsüberlegungen, die an späterer Stelle am Beispiel von Mediation erfolgen (vgl. 3 Mediation als ressourcenorientiertes Interventionsverfahren), ist Friedrich Glasls Hinweis hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit und der Art von Lösungen in unterschiedlichen Phasen der Konflikteskalation relevant. Dass eine für alle zufriedenstellende Lösung des Konflikts (Win-Win-Situation) gefunden werden kann, halten die Konfliktparteien selbst noch auf den ersten drei Eskalationsstufen für wahrscheinlich. Für den Bereich der Stufen vier bis sechs nehmen sie an, dass Lösungen nur einseitig von Vorteil sein können (WinLose-Situation) und ab Stufe sieben erwarten sie, dass alle Beteiligten nur noch als Verlierer aus dem Konflikt heraustreten können (Lose-Lose-Situation). Hauptsächlich auf der sechsten (und siebten) Stufe sind die Konfliktbeteiligten nicht mehr eigens dazu in der Lage, die Situation kooperativ zu lösen, indem sie sich einander direkt begegnen. Für diesen Eskalationsbereich schätzt Glasl Mediation als geeignete Interventionsmaßnahme ein (vgl. a. a. O., 234, 399). Damit gehört es zum deeskalierenden Vorgehen, darauf einzuwirken, dass die Konfliktbeteiligten zu der Überzeugung gelangen, dass konstruktive Veränderungen auch im Falle von aussichtslos erscheinenden Eskalationssituationen erwirkt werden können (vgl. 2.6 Ressourcenorientierte Intervention als Angebot zur Gegensinnstiftung).

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Der Konflikt als Phänomen zwischen Destruktivität und Konstruktivität

zeitweiser Nähe zwischen den Konfliktparteien. Der persönliche Umgang miteinander wird aber zurückhaltend gestaltet. Störungen, die außerhalb von Eskalationssituationen schnell an Bedeutung verloren hätten, werden gewichtiger. Das Verhalten des anderen wird daraufhin immer weniger wohlwollend registriert, wobei die Aufmerksamkeit negativ bewertend auf die Differenzen gerichtet wird. Das eigene Verhalten wird hingegen verstärkt positiv wahrgenommen. Diese Stufe zeichnet sich durch das Thema »Verhärtung« aus.91 Die mit Stufe eins begonnene Verhärtung gegnerischer Positionen nimmt auf Stufe zwei weiter zu. Während die Parteien92 auf Stufe eins bestrebt waren, die Polarisation unterschiedlicher Standpunkte zu vermeiden und ein Grundmaß an Fairness zu wahren, verändert sich die innere Haltung hier in eine Richtung, durch die Taktiken nunmehr als erlaubte Waffen gelten, weil die eigene Interessensposition stärker gefährdet erscheint. Das der gegnerischen Partei zugestandene Recht dazu, weiterhin eine eigene Positionierung einzunehmen, bleibt davon noch unberührt. Es wird aber versucht, die eigene Position weiter zu erhärten, um sich der Gegenpartei überlegen zu fühlen. Ein Verhalten, das vordergründig eine positive Grundhaltung simuliert, wird taktierend eingesetzt, sodass es gegenüber Dritten möglichst tadellos wirkt, wodurch der Anschein der Überlegenheit gestützt und aufrechterhalten werden soll. Dieses Eigeninteresse kann aber nur in Abgrenzung zu dem jeweils anderen erfüllt werden, also dadurch, sich gegenseitig abzuwerten. Dies hat zur Folge, dass sich das Zusammengehörigkeits- und Selbstsicherheitsgefühl von Personen mit gleichen Interessen verstärkt, was zu Überheblichkeit beitragen kann. Die Entwicklungen auf Stufe zwei lassen sich unter das Thema »Debatte und Polemik« fassen.93 Mit Eintritt zur Stufe drei versuchen die Parteien im Sinne ihrer jeweiligen Absicht tätig zu werden, weil sich bisherige verbale Kommunikationsversuche als wenig hilfreich erwiesen haben. Das sich stetig erhöhende Konkurrenzempfinden bedingt dabei das Bestreben, die eigenen Zielvorstellungen so unabhängig wie möglich von der Gegenpartei umzusetzen. Es wird versucht, die gegenseitige Abhängigkeit voneinander zugunsten einer einseitigen Abhängigkeit des Gegners aufzuheben. In der Folge entstehen Koexistenzen, weil die 91 Vgl. a. a. O., 234ff. 92 Für Beteiligte des Konflikts verwendet Friedrich Glasl den Terminus »Parteien«. In Kontexten von Konfliktintervention gibt es Debatten um die Wahl der Begrifflichkeit »Partei«, weil sie aufgrund der Assoziation mit juristischen Zusammenhängen eher negativ konnotiert werden kann und daher vornehmlich Differenzen in den Blick geraten (vgl. 3.1 Zur Definition von Mediation). Vor dem Hintergrund von innerbegrifflichen Unterscheidungsmöglichkeiten ist die Bezeichnung »Parteien« daher besonders geeignet, um das destruktive Potenzial eines fortschreitenden Eskalationsprozesses zu beschreiben, durch den sich Personen immer weiter voneinander entfernen. Deshalb wird der Parteibegriff an dieser Stelle auch in diesem Sinne verwendet. 93 Vgl. a. a. O., 239ff.

Die Eskalationsdynamik in Konflikten

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Parteien Anstrengungen unternehmen, um die jeweils eigenen Positionen autonom zu wahren und sich infolgedessen zunehmend voneinander distanzieren. Indem das eigene Potenzial verdichtet wird, soll die gegnerische Unterlegenheit begünstigt werden. Dadurch geht Empathie verloren und es kommt zu Drohgebärden. Auf dieser Stufe entsteht ein entscheidender Bruch im Eskalationsverlauf. Indem Worte durch Taten ersetzt werden, nimmt die situative Komplexität zu und die Parteien verlieren an Steuerungsfähigkeit. Neben das eskalationsfördernde Verhalten tritt die Sorge davor, die Grundlage für Problemlösung zu verlieren. Dass der Konflikt lösbar ist, wird zwar immer noch für möglich gehalten, aber es hat sich inzwischen deutlich erschwert, auf deeskalierende Möglichkeiten zuzugreifen. »Taten statt Worte!« beschreibt die Dynamik auf Stufe drei.94 Auf Stufe vier erweisen sich die Konfliktparteien als zunehmend um ihre Außenwirkung besorgt und betreiben konsequent selbstbezogene Imagepflege, wodurch sich ein verklärtes positives Selbstbild entwickelt. Dementsprechend versuchen sie, sich der Güte ihrer Position durch externe Koalitionsbildung zu vergewissern. Sie bemühen sich also darum, ihre eigene Position durch Dritte bestätigen und unterstützen zu lassen. Infolgedessen werden Bündnisse geschlossen, die dem sozialen Rückhalt dienen. Die Gegenpartei wird hinsichtlich ihrer persönlichen, fachlichen und sozialen Kompetenzen noch weiter abgewertet, wobei eine Negativbewertung ihrer moralischen Qualitäten noch ausbleibt. Denken und Fühlen erfolgen inzwischen weniger differenziert und polarisierende Einschätzungen zu »Richtig« und »Falsch« nehmen weiter zu. Weil die Imagepflege im Vordergrund steht, wird jeder Kommunikationsversuch der Konfliktgegner durch verzerrte Selbst- und Fremdbilder beeinträchtigt. Das heißt, dass die wahren Wesenszüge verstellt sind und weder gezeigt noch beim anderen erkannt werden. »Sorge um Image und Koalition« stehen auf dieser Stufe mit dem Ziel des eigenen Sieges und der Niederlage des anderen im Vordergrund.95 Auf Stufe fünf werden Tat und Täter von der jeweils gegnerischen Partei zu einer Einheit degradiert. Kategorisierungen nach »Gut« und »Böse« herrschen inzwischen so dominant vor, dass Differenzierungen ausbleiben. Damit setzen ethische Klassifizierungen ein, die nicht mehr nur die gegnerische Partei betreffen, sondern auch Außenstehende miteinbeziehen und dadurch generalisiert werden. Ob das Verhalten Dritter aus Sicht der Konfliktparteien ethisch korrekt ist, entscheidet sich daran, inwieweit es mit dem jeweils eigenen Konfliktstandpunkt kompatibel ist. Das bedeutet, dass Ansichten inzwischen nicht mehr als subjektiv erachtet werden, sondern als kollektiv gelten. Der empfundene 94 Vgl. a. a. O., 249ff. 95 Vgl. a. a. O., 256ff.

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Der Konflikt als Phänomen zwischen Destruktivität und Konstruktivität

Druck, die eigene Position durchzusetzen, erhöht sich nun so weit, dass es zu gegenseitigen Angriffen kommt. Es werden Gesichtsverluste provoziert, die sich immer offensiver innerhalb einer hergestellten Öffentlichkeit zutragen. Durch gegenseitige Negativerwartungen und wiederholte Enttäuschungen wird jede Möglichkeit zur Vertrauensbildung verstellt. Das Thema »Gesichtsverlust« der fünften Stufe treibt die Parteien deutlich tiefer in die Eskalationsdynamik hinein. Weil zu öffentlichen Maßnahmen gegriffen wird, erhöht sich das Gewaltniveau, hinter das es kaum mehr möglich erscheint, zurückzutreten.96 Auf Stufe sechs polarisieren sich Selbst- und Fremdbilder noch weiter. Denken und Handeln der Konfliktparteien, die auf Stufe fünf wesentlich radikalisiert wurden, sind nun noch deutlicher von Gewaltbereitschaft gezeichnet. Drohstrategien werden eingesetzt, um zu versuchen, zu einer handhabbaren Situation zurückzukehren. Dadurch verschmälern sich beiderseitige Handlungsspielräume. Während der Drohende versucht, den Gegner abzuschrecken, nimmt dieser die Drohung als Provokation von Gewalt auf und reagiert mit Gegenwehr, weil er vermutet, erheblichen Schaden in Kauf nehmen zu müssen, falls er nachgibt. Während der Drohende seine Entschlossenheit suggerieren möchte, gelangt er selbst unter den Druck, die Drohungen auch verwirklichen zu müssen, um glaubwürdig zu bleiben. Dies manövriert ihn in eine Abhängigkeit gegenüber der Gegenpartei. Obwohl der Bedrohte bezweifelt, dass den Drohungen Taten folgen, sieht er sich durch den gegnerischen Angriff zum Handeln herausgefordert. »Drohstrategien« beschreibt das vorherrschende Thema von Stufe sechs.97 Auf Stufe sieben wandelt sich das Machtdenken in Machthandeln, mit dem der Gegenseite tatsächlich (materiell) geschadet werden soll. Angriffe erfolgen jetzt offensiv und ohne vorherige Androhung. Zwar bleibt das eigene Anliegen noch im Fokus, aber es wird nicht mehr davon ausgegangen, dass die Situation noch positiv zu wenden ist, sodass die Niederlage aller Beteiligten unausweichlich erscheint. Den eigenen Schaden möglichst geringer als den der Gegenseite zu halten, bedeutet deshalb schon, siegreich zu sein. Inzwischen nehmen die Konfliktparteien einander nicht mehr in grundlegend menschlichen Kategorien wahr, sondern verobjektivieren sich gegenseitig. Der Gegner verschmilzt dadurch mit dem Konfliktkonstrukt und wird zum »störenden Objekt«98 degradiert, das es jenseits jeden Gefühls von emotionaler Involviertheit zu zerstören und zu beseitigen gilt. Die Entwicklungen der Eskalation auf Stufe sieben lassen sich unter das Thema »Begrenzte Vernichtungsschläge« zusammenfassen.99 96 97 98 99

Vgl. a. a. O., 266ff. Vgl. a. a. O., 277ff. A. a. O., 292. Auf den Eskalationsstufen fünf bis sieben haben sich die Parteien schon so weit voneinander

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Auf Stufe acht kommt es zu deutlich gesteigerten Vernichtungsaktionen. Es geht inzwischen nicht mehr nur darum, die materielle Existenz des Gegners anzugreifen, sondern ihn selbst. Seine persönliche Macht- und Existenzgrundlage soll so weit geschwächt werden, dass der Kern seines Daseins zersplittert und seine Handlungslegitimation abgebaut oder gar aufgelöst wird. Dazu wird versucht, die Repräsentanten – seien es Einzelpersonen oder Gruppen –, die für ein »Hinterland« an der Front der Auseinandersetzung stehen, von der sie unterstützenden Gemeinschaft zu isolieren. Wenn dies gelingt, erleichtern sich Angriffsmöglichkeiten und die Wahrscheinlichkeit erhöht sich, in den eigenen Bestrebungen erfolgreich zu sein. Es entwickelt sich Freude daran, den Gegner zu zerstören. Je effektiver sich dieser schwächen lässt, desto höher ist die Anerkennung aus den eigenen Reihen. Von bedingungslosen Angriffen wird allerdings abgesehen, weil das Bedürfnis noch vorherrscht, selbst zu überleben. Diese Zurückhaltung um des eigenen Selbsterhalts willen fungiert als ein Restschutz für die gegnerische Partei. Die Eskalationsart der Stufe acht lässt sich unter das Thema »Zersplitterung« fassen.100 Auf Stufe neun führen die gegnerischen Parteien einen »totalen Vernichtungskrieg«101. Der Konflikt hat sich bis hierher so weit gesteigert, dass es nicht mehr möglich erscheint, umzukehren und totale Vernichtung unumgänglich wird. Zu erkennen, dass es unaufhaltsam ist, zu scheitern, führt nun dazu, dem eigenen Überleben keinen Wert mehr beizumessen. Weil es einer Niederlage gleichkäme, sich aus der Situation zurückzuziehen, wird der unvermeidbare eigene Untergang zur letzten Möglichkeit des Triumphes hochstilisiert. Kampf und Zerstörung erfolgen jetzt um jeden Preis, auch um den der eigenen Existenz. Das letzte Ziel kann nur noch darin bestehen, den Gegner mit in die Vernichtung zu nehmen und ihn so am Überleben zu hindern. Indem die Parteien ihrer Zerstörungswut jetzt freien Lauf lassen, unterscheiden sie auch nicht mehr zwischen Gegnern und Neutralen, sondern verursachen so viel Schaden wie möglich. Auf dieser niedrigsten und gewaltvollsten Stufe der Eskalation geht es darum, »Gemeinsam in den Abgrund« zu gehen.102 entfernt, dass sie eine einvernehmliche Lösung für unwahrscheinlich oder sogar für ausgeschlossen halten. Einander gegenüberstehende, unvereinbare Interessen verhindern eine Befriedung des Konflikts. Die Betroffenen kommunizieren zumeist schon nicht mehr direkt miteinander und intendieren vornehmlich, sich selbst bestmöglich zu schützen. Diese Phasen der Eskalation, in denen die Beteiligten keinen Ausweg mehr sehen, sind vorrangig diejenigen Stadien, in denen ein klassischer Mediator als unbeteiligter Dritter darin unterstützen kann, doch noch zu einer für alle Seiten zufriedenstellenden Lösung zu gelangen. Auf Stufe sieben kann das Macht- und Zerstörungshandeln aber auch schon so weit fortgeschritten sein, dass eine Machtinstanz von außen eingreifen muss, um zu verhindern, dass sich die Situation weiter verschärft (vgl. a. a. O., 401, 418). 100 Vgl. a. a. O., 297ff. 101 A. a. O., 300. 102 Vgl. a. a. O., 299ff.

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Glasl unterscheidet die Eskalationsstufen durch eine Zählung von eins bis neun voneinander. Dem Anschein nach handelt es sich deshalb um eine Aufwärtsbewegung, was für die sich zuspitzende Gewaltneigung auch zutrifft. Der Autor grenzt sein Phasenmodell der Eskalation aber deutlich von anderen Modellen ab, indem er explizit von einer »Abwärtsbewegung«103 spricht. Darin drückt sich aus, »dass der Weg der Eskalation mit einer zwingenden Kraft in Regionen führt, die grosse, ›unmenschliche Energien‹ aufrufen, die sich jedoch auf die Dauer der menschlichen Steuerung und Beherrschung entziehen.«104 Von Stufe zu Stufe geraten die Beteiligten tiefer in die Eigendynamik des Konfliktgeschehens hinein, der sie sich anfangs noch gewachsen fühlen und der gegenüber sie sich je nach Dauer des Konflikts als zunehmend ausgeliefert erleben. Dem Selbsterleben nach an Handlungsmacht einzubüßen, führt zu einem Gefühl von Hilflosigkeit, das Verhaltensweisen hervorbringt, die der tatsächlichen persönlichen Reife der Konfliktbeteiligten unangemessen sind. Denken, Fühlen und Handeln zeigen sich dann als von längst überwundenen Phasen der Reifeentwicklung geprägt, sodass das Verhalten auch infantile Züge annehmen kann. Die Übergänge zwischen den Stufen sind dabei Zäsuren hin zu einem weiteren, zeitweiligen »Rückschritt«105 dieser Art. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Kausalität von zunehmender Eskalation und abnehmender Persönlichkeitsstärke im Selbsterleben als Grund dafür feststellen, dass das humane Konfliktpotenzial bis in die totale Selbst- und Fremdzerstörung hinein weisen kann. Wenn sich die Person außerstande fühlt, mit den »unmenschlichen Energien« der Situation adäquat umzugehen, setzt eine Hilflosigkeit ein, die schließlich in resignative Zerstörungswut mündet, wie sie sich auf Stufe neun zeigt. Innerhalb dieses Prozesses, der sich auf das Stadium äußerster Zerstörung zubewegt, verschärfen sich mit jedem Übergang zur nächsten Eskalationsstufe diejenigen Faktoren, die es zunehmend erschweren, die Konfliktsituation konstruktiv zu wenden. Sie lassen sich als allgemeine Basismechanismen der Eskalationsdynamik beschreiben, die sich durch den Prozess der Konfliktsteigerung in unterschiedlichen Eskalationsgraden zeigen. Im Folgenden werden sie knapp skizziert und fassen damit auch manches vorher Gesagte zusammen. Ein zentraler Mechanismus, der sich in Eskalationsprozessen ereignet, ist die Projektion. Mit eigenen negativen Gefühlen und Emotionen umzugehen, erfolgt dabei zunehmend über die Gegenpartei. Wie ausgeführt, wird der Gegner immer stärker entpersonalisiert und mit dem Konfliktgegenstand gleichgesetzt. Es wird weniger differenziert zwischen Eigen- und Fremdanteil unterschieden und die 103 A. a. O., 233 (H. i. O.). 104 Ebd. 105 Vgl. a. a. O., 234. Friedrich Glasl bezeichnet den Übergang von einer Stufe zur nächsten auch als ein »Abgleiten von einem Regressionsniveau zu einem noch niedrigeren Regressionsniveau« (ebd.).

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Konfliktursachen werden zunehmend verstärkt auf die gegnerische Partei projiziert. Indem eigenes negatives Verhalten einerseits mit dem Verhalten der Gegenpartei entschuldigt, andererseits aber als destruktiv erkannt wird, entwickelt sich ein Gefühl von Schuldigkeit, das die Selbstfrustration anwachsen lässt. Dieses negative Selbsterleben begünstigt, dass sich die betroffene Person in ihren freien Handlungsmöglichkeiten als eingeschränkt und in ihrer Persönlichkeitsstärke als geschwächt empfindet. Die Frustration im Personinneren spiegelt sich im Außen wider, indem sie sich innerhalb des Interaktionsprozesses entlädt. Dabei kommt es zu einer Ausweitung der Konfliktgegenstände. Das heißt, dass immer mehr Faktoren in den Konfliktfall mit hineingenommen werden. Infolgedessen verweben sich emotionale und soziale Strukturen immer stärker. Um nicht von diesen Konflikteindrücken übermannt zu werden, schützen sich die Konfliktparteien, indem ihre Wahrnehmungskomplexität fortwährend abnimmt. Diese Reduktion von Differenzierungen zieht nach sich, dass es zu pauschalen Simplifizierungen kommt. Dann schreitet die Konfliktsituation fort, ohne dass Ursachen- und Wirkungszusammenhänge noch differenziert betrachtet werden. Weil sich sekundäre Nebenschauplätze zunehmend in das Konfliktgeschehen hineinflechten und dadurch die Sicht auf die eigentliche Thematik des Konflikts verstellen, lassen sich Konfliktsymptome immer weniger ursächlich ergründen. Diesem Misstand versuchen die Konfliktbeteiligten dadurch entgegenzuwirken, dass sie auf stark vereinfachte Erklärungsmuster zugreifen, um sich die Situation wieder handhabbar zu machen. Indem die Konfliktparteien dabei einen immer größeren Personenkreis beratend und unterstützend hinzuziehen, kommt es zu einer Auslagerung des Konflikts. Was sich anfangs intern zwischen den unmittelbar Betroffenen zutrug, wird nun deutlicher darüber ausgetragen, dass Außenstehende in Anspruch genommen und miteinbezogen werden. Dies erschwert es den involvierten Konfliktparteien die Situation direkt und konstruktiv zu lösen. Wenn Gegenpartei und Konfliktgegenstand miteinander verschmelzen, der Konflikt also deutlich personalisiert wird, versuchen die Beteiligten über Drohstrategien den jeweils anderen zu unterwerfen. Das Ziel, weitere Eskalation zu verzögern, wird allerdings verfehlt, weil Drohungen unterschiedlicher Gewaltgrade häufig zu potenzierter Gegenwehr führen. Es kommt demnach eher zu einer Beschleunigung des Aktions- und Reaktionsmusters der Eskalation als zu dessen Entschleunigung.106 Mit Glasls Stufenmodell lässt sich demnach aufzeigen, dass im Eskalationsverlauf von Konflikten Mechanismen zum Tragen kommen, die es den betroffenen Parteien erschweren, mit dem Gegenüber und der gegebenen Situation konstruktiv umzugehen. Während das Modell dabei insbesondere die zuneh106 Vgl. a. a. O., 207f. Zur detaillierten Beschreibung der Basismechanismen vgl. 208–226, Begriffe übernommen (H. z. S., WLL).

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Der Konflikt als Phänomen zwischen Destruktivität und Konstruktivität

mende Eskalation aufzeigen und deren Prozess erklären will, sich also vornehmlich auf die soziale Dimension des Konfliktverlaufs bezieht, wird die Subjektdimension zwar mitgedacht, aber in Bezug auf ihren entscheidenden Anteil im Eskalationsverlauf noch nicht hinreichend beschrieben. Dies ist aber notwendig, weil das Verhalten des Subjekts, also des einzelnen Menschen als Konfliktbeteiligter, für den Verlauf einer Konfliktsituation verantwortlich ist. Das Verhalten der Einzelperson entscheidet nämlich darüber, ob sich eine Situation in Richtung Eskalation oder in Richtung Deeskalation entwickelt. Über die Schematisierung von Verläufen der Konfliktsteigerung lässt sich also einerseits ein extremes humanes Konfliktpotenzial veranschaulichen. Andererseits lässt sich aufzeigen, dass insbesondere die Übergänge zwischen den Stufen Impulse im Menschen hervorrufen, die die Totalität der Zerstörung zu verhindern suchen und Handlungsgrenzen setzen wollen. Dabei gibt es ein intuitives Wissen um die »Wendepunkt[e]«107 innerhalb des Eskalationsverlaufs. Die Beteiligten wissen darum, dass bestimmte Grenzen nicht überschritten werden dürfen, wenn vermieden werden will, dass sich der Eskalationsgrad durch einen entsprechend verschärften Rückangriff weiter erhöht.108 Träten sie hinter den zuletzt überschrittenen Wendepunkt zurück bzw. nährten die Eskalation durch ihr Verhalten nicht weiter, erhöhte dies die Wahrscheinlichkeit einer Deeskalation. Vor dem Hintergrund eines drohenden Gesichtsverlustes durch ein »Nachgeben« bei gleichzeitiger selbstempfundener Hilflosigkeit erweist sich der Schritt »zurück« jedoch mit ansteigendem Eskalationsgrad als zunehmend schwieriger bis hin dazu, dass er unmöglich erscheint.109 Die Kon107 A. a. O., 227. 108 Selbst in Kriegssituationen kommt das Wissen um diese Grenzen noch zum Tragen. Dies zeigt sich beispielsweise in Form eines (stillen) Einvernehmens darüber, dass bestimme Waffen nicht eingesetzt werden dürfen oder bestimmte Bevölkerungsteile von Angriffen verschont bleiben müssen. Überschreitet eine der Parteien eine dieser Grenzen bewusst oder unbewusst, schlägt die andere Partei in der Regel besonders stark zurück und der Konflikt erreicht eine höhere, häufig kaum mehr zu kontrollierende Eskalationsstufe (vgl. a. a. O., 227ff. Friedrich Glasl bezieht sich hier insbesondere auf die Untersuchungsergebnisse von Thomas C. Schelling: Bargaining, communication, and limited war. In: Journal of Conflict Resolution vol. 1, 1957, 19–36). 109 Die praktische Erfahrung Friedrich Glasls im Bereich der Konfliktregulation hat gezeigt, dass Eskalationsstufen länder- und kulturübergreifend intuitiv erkannt werden. Es konnte aber auch ein Zusammenhang von kultureller Prägung und emotionaler Bedeutung einzelner Konfliktstadien erkannt werden: »In nordamerikanischen Kulturen wird der Übergang zu Stufe drei (Taten statt Worte) als weniger dramatisch empfunden als z. B. in Russland und Georgien. In asiatischen Kulturen wird schon das Entstehen von Klischeebildern als sehr dramatisch erlebt und nähert sich beinahe der Erlebnisintensität, die für europäische Menschen erst der Gesichtsverlust hat. Dennoch stellt auch in Asien der eigentliche Gesichtsverlust noch eine weitere Intensivierung dar« (a. a. O., 302). Diese Feststellung ist wiederum für Fragen der Intervention interessant. Mit ihr lässt sich erklären, warum sich in der Praxis Interventionsmaßnahmen etablieren konnten, die es

Zur Korrelation von intrapersonalen und interpersonalen Konflikten

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fliktbeteiligten erleben sich also auf jeder Stufe einem immer gleichen, sich aber zuspitzenden Dilemma ausgesetzt: Die Tendenz zur Selbst- und Fremderhaltung steht der Tendenz, Prestige wahren zu wollen, entgegen. Beides lässt sich aus Sicht der Beteiligten immer weniger miteinander in Einklang bringen.110 Deshalb sind Konflikte, wie sie sich innerhalb von Interaktionen zeigen, zu einem erheblichen Teil ein äußerer Ausdruck für die Prozesse, die sich im Inneren einer Person zutragen. Auf der Grundlage der oben beschriebenen Schematisierung von Konfliktsteigerungen anhand der Eskalationsstufen und der daran angeschlossenen Darstellung von Basismechanismen der Eskalationsdynamik soll im Folgenden als dritter Aspekt zur allgemeinen Beschreibung von Konfliktverläufen eine Verhältnisbestimmung von äußerer und innerer Konfliktträchtigkeit vorgenommen werden. Dabei werden Konflikte zwischen Personen, die sich involviert fühlen, als interpersonal bezeichnet und Konflikte, die sich im Inneren einer Person zutragen, als intrapersonal.

2.3

Zur Korrelation von intrapersonalen und interpersonalen Konflikten

Interpersonale Konflikte – so zeigen die Eskalationsstufen – beschreiben spannungsreiche Prozesse von Unvereinbarkeiten im zwischenmenschlichen Bereich. Sie beziehen sich also auf Interaktionen von Menschen und betreffen damit unmittelbar ihr Zusammenleben.111 Ihr Wesen besteht darin, dass ein äußerer Impuls, ein Reiz aus der Umwelt, das Gleichgewicht der persönlichen Disposition eines Menschen stört.112 Indem anlagebedingte und erfahrungsbeversprechen, Interkulturalitätsaspekte dezidiert zu berücksichtigen. Dem Umstand Rechnung tragend, dass Interventionen dadurch erfolgreicher sein können, geht auch die Untersuchung von Sarah Ultes in eine ähnliche Richtung, wenn sie Methoden der interkulturellen Mediation in Konflikten mit religiöser Dimension vorstellt (vgl. dies.: Interkulturelle Mediation in Konflikten mit religiöser Dimension, 66–79). 110 Für den Kontext dieser Untersuchung ist es von Interesse, zu bedenken, wie konstruktiv intervenierend auf dieses Dilemma reagiert werden kann (vgl. 2.6 Ressourcenorientierte Intervention als Angebot zur Gegensinnstiftung) und welche Qualitäten des Menschseins es begünstigen können, dass Konfliktbeteiligte verantwortlich deeskalierend handeln, obwohl sie unter dem Eindruck von Erschwernissen stehen (vgl. 4.3 Die Inhaltsverantwortung als Implikat der Mediantenrolle; 13.1 Persönliche Voraussetzung zur Verantwortungsfähigkeit). 111 Heinz-Rolf Lückert erweitert den Interaktionsbegriff innerhalb von Konfliktgeschehen insoweit als er auch »Spannungen der Einzelpersönlichkeit mit überpersönlichen Mächten« mit einschließt. Dazu zählt er den »Staat, die kollektive Moral und Gesetzgebung, eigene oder fremde Kollektive oder Einzelpersonen wie Vater, Lehrer usw.« (beide Zitate ders.: Konflikt-Psychologie, 492). 112 Als »persönliche Disposition« wird hier ein Konglomerat aus der anlagemäßigen Be-

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Der Konflikt als Phänomen zwischen Destruktivität und Konstruktivität

dingte Faktoren zusammenwirken, bildet der Mensch Gefühlsdimensionen sowie persönliche Grundeinstellungen zum Dasein, Vorstellungen über Recht und Unrecht und ethische Haltungen aus. Weil diese einzelnen Aspekte menschlichen Daseins ein hohes Maß an Heterogenität aufweisen und im Leben einer Person solchermaßen aufeinandertreffen können, dass sie Spannungen erzeugen, bedarf es Ausgleichsbestrebungen des Menschen dahin gehend, sie zu einem großen Ganzen – der Persönlichkeit – zusammenzuführen und zusammenzuhalten. Unvereinbarkeiten einzelner Aspekte, die sich auch in Dilemmata ausdrücken können, lassen sich dabei zwar nicht vollständig vermeiden, aber es wird versucht, für eine innere Ausgeglichenheit zu sorgen, die sich an dem höchstmöglichen Maß an Spannungsarmut bemisst. Über dieses Streben nach innerer Balance wird die Konsistenz der Handlungsmacht eines Menschen sichergestellt. Das bedeutet, dass es dann zu einem interpersonalen Konflikt kommt, wenn das innere Austarieren persönlicher Dispositionsmerkmale derart gestört ist, dass die dadurch erhöhte Spannung nicht mehr kompensiert werden kann und sich äußerlich entlädt. Demgemäß entsteht ein interpersonaler Konflikt nur dann, wenn es eine intrapersonale Entsprechung gibt. Während sich eine Person im interpersonalen Konflikt »im Kampf gegen die Außenwelt« befindet, steht sie im Falle eines intrapersonalen Konflikts »im Kampfe mit sich selbst«113. Der wesentliche Unterschied zwischen den Konfliktformen besteht darin, dass sich die Person im interpersonalen Konflikt als ein einheitliches Ganzes114 gegen Impulse der Außenwelt zu wehren versucht. Im Falle eines intrapersonalen Konflikts ist die Person innerlich zwiegespalten115, weil sich einzelne Dispositionsmerkmale im Widerstreit befinden. Miteinander unvereinbare innere Impulse, Tendenzen und Affinitäten, die auf verschiedene Zielperspektiven hin abstellen, beanspruchen ihr Recht auf Vormachtstellung. Die dadurch bestehende Ambivalenz ist charakteristisch für intrapersonale Konflikte116 und kann nur dadurch erfolgreich gelöst werden, dass die verschiedenen Dispositionsmerkmale so gegeneinander abgewogen und priorisiert werden, dass der Mensch in der Lage dazu ist, sein Handeln eindeutig auszurichten. In Bezug auf derartige innere Prozesse lässt sich eine Wechselwirkung zwischen Persönlichkeitsstruktur und Persönlichkeitsentwicklung feststellen. Eine gefestigte Persönlichkeitsstruktur begünstigt einen konstruktiven Umgang mit intrapersonalen Konflikten, weil sie ein ausreichendes Maß an Resilienz

113 114 115 116

schaffenheit eines Menschen und den vielfältigen Erfahrungen seines bisherigen Lebens verstanden. beide Zitate Heinz-Rolf Lückert: Konflikt-Psychologie, 493. Hierbei ist eine »vordergründige Einheit« gemeint, die sich auf eine Person als handelndes Individuum bezieht. Damit ist nichts darüber ausgesagt, inwieweit sie sich innerlich ausgeglichen oder zerrissen fühlt. Zum Begriff der inneren Zwiespältigkeit vgl. ebd. Vgl. Wolfgang Mutzeck: Kooperative Beratung, 103.

Zur Korrelation von intrapersonalen und interpersonalen Konflikten

59

sicherstellt. Demgegenüber wirken sich die Erfahrungen aus einem erfolgreich gelösten intrapersonalen Konflikt wiederum stärkend auf die weitere Persönlichkeitsentwicklung aus.117 In diesem positiven Falle nutzt der Mensch seine Fähigkeit zur Selbstreflexion dazu, sich über die Ursachen von Verletzungen, Irritationen, Unvereinbarkeiten, Missstimmungen etc. klar zu werden. Je differenzierter das Vorgehen, desto deutlicher lässt sich erkennen, an welcher Stelle ein (neutraler) Umweltreiz eine persönliche, innere Instabilität solchermaßen tangiert, dass ein intrapersonaler Konflikt entsteht. Über entsprechende Erkenntnisse darüber können anschließend Rückschlüsse auf konkrete bedürfnisregulierende Maßnahmen118 gezogen werden. Indem intrapersonales Konfliktpotenzial neutralisiert wird, vermindert sich die Wahrscheinlichkeit, dass es sich interpersonal entlädt. Je erfolgreicher also der Umgang mit intrapersonalen Unvereinbarkeiten, desto höher die Wahrscheinlichkeit von konstruktiven Lösungsmöglichkeiten für interpersonale Unvereinbarkeiten. In interpersonalen Konflikten werden Menschen also grundsätzlich auch mit eigenen inneren, ungelösten Problemen konfrontiert. Oft handelt es sich dabei um bekannte und wenig geschätzte, als Schwächen empfundene eigene Persönlichkeitsmerkmale. Gelingt es dabei nicht, wie im beschriebenen positiven Falle, die intrapersonalen Unvereinbarkeiten konstruktiv zu regulieren, wird das, was eigentlich das Innere einer Person betrifft, nach außen verlagert und auf die Gegenpartei projiziert. Obwohl es sich der Sache nach um eine innere Zwiespältigkeit des Menschen handelt, kämpft er nicht gegen sich selbst, sondern gegen die Außenwelt. Diese Unbewusstheit führt dann zu einem Verhalten, das anschließend häufig bedauert, jedoch aufgrund von fehlender intrapersonaler Regulationsmöglichkeit mit dem als negativ empfundenen Verhalten der Gegenpartei zu entschuldigen versucht wird. Darüber erhöht sich das eigene Schuldgefühl noch weiter, wodurch innere Spannungen zunehmen, die ihrerseits Angriffsbereitschaft steigern und wiederkehrendes Negativverhalten begünstigen.119 Infolgedessen bildet sich eine Persönlichkeitsstruktur heraus,

117 Gerhard Schwarz bezeichnet Persönlichkeitskonflikte als »das ›Lebenselixier‹«, weil sie die individuelle Entwicklung lebenslänglich durch konstruktive Austragungsprozesse begünstigen (vgl. ders.: Konfliktmanagement, 99 [H. i. O.]). Zur Vertiefung der Frage nach erfolgreicher und weniger erfolgreicher Persönlichkeitsentwicklung über das Austarieren konfligierender Faktoren vgl. Heinz-Rolf Lückert: Konflikt-Psychologie, 495ff. 118 Interventionsmaßnahmen gehen davon aus, dass Konflikten jeder Art unerfüllte Bedürfnisse und Interessen zugrunde liegen. Gelingt es, auf sie angemessen zu reagieren, ist der Grund für den Konflikt behoben (vgl. 2.6 Ressourcenorientierte Intervention als Angebot zur Gegensinnstiftung). 119 Vgl. Friedrich Glasl: Konfliktmanagement, 208, 211.

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Der Konflikt als Phänomen zwischen Destruktivität und Konstruktivität

»die chronisch von schwer zu bewältigenden Konflikten heimgesucht wird und mangels ausreichend starker Ich-Struktur sowie verläßlicher und stabiler Über-Ich-Werte seine Mitmenschen ständig in die eigenen Konflikte hineinzieht und darin verwickelt«120.

Bleiben Konflikte im Inneren derart unbewältigt, dass sie die persönliche Stabilität von Menschen gefährden, können sie sich als unüberwindbar erweisen, wodurch temporäre oder dauerhafte psychologische Instabilitäten begünstigt werden. Peter Geißler stellt mit Ausdrücken wie »starke Ich-Struktur« und »stabile Über-Ich-Werte« vornehmlich auf Faktoren einer erfolgreichen Persönlichkeitsentwicklung des Menschen ab, durch die sich der Negativfall verhindern lassen könnte. Heinz-Rolf Lückert vermutet, dass darüber hinaus auch anlagemäßige Faktoren beeinflussen, wie mit Konflikten umgegangen wird: »Die Intensität, Tiefe, Fülle und Richtung der Grundhaltungen, die ein Mensch in sich ausbildet, sind zum Teil in der Anlage eines Menschen vorgegeben. Von der Artung der Grundhaltungen hängt es in erster Linie ab, wie ein Mensch zu den Außenwirkungen Stellung nimmt, wie er die auf ihn eindringenden Erlebnisse bedeutungshaft erlebt und in welcher Weise sie ihm Anlaß zu äußeren oder inneren Konflikten geben.«121

Aus dieser Annahme folgt, dass Menschen schon anlagemäßig zu unterschiedlichem Konflikterleben neigen. Wie schnell es zu Instabilitäten im Selbsterleben kommt und wie intensiv sie wahrgenommen werden, korreliert daher mit der Empfänglichkeit einer Person für Konfliktträchtigkeit. Im Inneren des Menschen bereitet sich also vor, wie bedeutungsvoll äußere Konfliktimpulse im Selbsterleben sind und in welcher Art sich der Mensch zu ihnen positioniert.122 Das Erkenntnisinteresse vorliegender Untersuchung ist solchermaßen gelagert, dass die Frage danach, inwieweit die genetische Disposition eines Menschen seine Empfänglichkeit gegenüber Konflikten beeinflusst, weitgehend vernachlässigt werden kann. Es genügt anzuerkennen, dass anlagetheoretische Ansätzen in der Konflikterforschung berechtigt sind und begründet davon auszugehen ist, dass veranlagungsbedingte Unterschiede zwischen Menschen in Bezug auf ihr Konfliktverhalten ebenso bestehen wie in anderen Lebenskontexten auch. Endogene und exogene Faktoren, so soll allgemein geschlussfolgert werden, wirken in einem hier nicht näher bestimmbaren Verhältnis zusammen und formen dadurch das Reiz-Reaktionsverhalten von Menschen in Konflikten. 120 Peter Geißler : Mögliche Schnittstellen zwischen Mediation und Psychotherapie, 55. 121 Heinz-Rolf Lückert: Konflikt-Psychologie, 494. 122 Im Personinneren werden also Vorentscheidungen darüber getroffen, ob der Mensch auf Konfliktimpulse konstruktiv oder destruktiv handelnd reagiert. Es ist evident, dass diese Entscheidung für den Erfolg von Interventionsmaßnahmen bedeutsam ist (vgl. 2.6 Ressourcenorientierte Intervention als Angebot zur Gegensinnstiftung; 3.3 Verfahrensgrundsätze als Angebot zur Änderung von Verhalten).

Zur Korrelation von intrapersonalen und interpersonalen Konflikten

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Interventionsmaßnahmen fußen zwar auf notwendigen anlagebedingten Dispositionen, setzten jedoch konkret bei internalisierten Faktoren an, um Verhaltensänderungen herbeizuführen.123 Es sind demnach vornehmlich Fragen zu bedenken, inwieweit sich Faktoren wie eine »starke Ich-Struktur« und »stabile Über-Ich-Werte« im Konfliktverhalten niederschlagen und wodurch sich deeskalationsorientierte Eigenschaften generieren lassen, die hier von Interesse sind. Das weitere Nachdenken geht auf der Grundlage des bis hierher Gezeigten von folgender Grundannahme aus: Es gibt intrapersonale Konflikte ohne interpersonale Konflikte, aber es gibt keine interpersonalen Konflikte ohne intrapersonale Konflikte. Die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einem interpersonalen Konflikt kommt, erhört sich proportional zur intrapersonalen Instabilität einer Person. Auf dieser Grundlage soll rekurrierend auf die oben eingeführte Begriffsbestimmung Glasls insbesondere die Bedeutung des Willens für Eskalationsdynamiken herausgestellt werden. Nach Glasl ist nur dann von sozialen Konflikten zu sprechen, wenn sich Differenzen und Unvereinbarkeiten nicht nur im Wahrnehmen, Denken und Fühlen zeigen, sondern auch die Ebene des Wollens betreffen. Die situative Konfliktträchtigkeit tangiert dann die Handlungsmotivation eines Menschen, die sich darauf bezieht, seinen Willen umzusetzen. Zeigt sich hier eine Unvereinbarkeit, die eine Handlung erschwert, gefährdet oder verunmöglicht, wirkt dies im emotionalen Erleben beschneidend. Wie der Mensch auf diese Einschränkung seines Selbstausdrucks durch äußere Faktoren reagiert, liegt in seinem eigenen Ermessen. Dabei handelt es sich wiederum um einen Willensakt. Der Wille des Menschen entscheidet also darüber, ob Konflikte entstehen und ob innerhalb von Konflikten deeskalierend oder eskalierend gehandelt wird. Obwohl davon auszugehen ist, dass sich konfliktäre Eigendynamiken entwickeln, geschieht dies nicht ohne einen Willensmoment, in dem sich die Beteiligten dieser Dynamik hingeben. Noch innerhalb dieser Dynamik gibt es fortwährend die Möglichkeit, eine weitere Eskalation durch Willenanstrengung zu unterbinden. Pointiert ausgedrückt: Wenn ein Konflikt nicht gewollt wird, gibt es ihn auch nicht. Inwieweit der Wille der Beteiligten direkt auf die Eskalationsdynamik einwirkt, ist eine Frage der Bewusstheit. Das Maß an Bewusstheit der Konfliktbeteiligten ist nicht konstant, sondern unterliegt im Vergleich zu Situationen außerhalb von Konflikten einem besonders hohen Maß an Schwankungen. Je unbewusster sich die Beteiligten den Konfliktverläufen hin123 Den Fokus von Fragen zur genetischen Disposition abzuziehen und eher sozialisationsbedingte Aspekte zu bedenken, entbindet nicht von allgemeinen anthropologischen Vorüberlegungen, die dafür einstehen, ein Grundverständnis für die wesenhafte Konfliktträchtigkeit des Menschen anzubahnen. Durch sie lässt sich aufzeigen, auf welche Mechanismen der Mensch zugreift, um mit ihnen umzugehen (vgl. 2.4 Die Konfliktträchtigkeit des Menschen – Anthropologische Vorüberlegungen).

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Der Konflikt als Phänomen zwischen Destruktivität und Konstruktivität

geben, desto stärker drückt sich die beschriebene Eigendynamik aus, die den Grad an Eskalation fortwährend erhöht. Insbesondere die beschriebenen »Wendepunkte« an den Übergängen zwischen den Stufen bieten die Chance dazu, vom Eskalationsgeschehen zurückzutreten. Voraussetzung dafür ist, dass sich die Beteiligten über ihre Handlungsmacht bewusst sind und einen Zugang zu ihrem Willen finden, den sie dann bewusstseinsgeleitet einsetzen können. Dazu bedarf es insbesondere in den fortgeschrittenen Konfliktstadien häufig der Unterstützung von außen. Gegenstand einer Interventionsmaßnahme ist dann zwar vornehmlich der interpersonale Konflikt, dieser lässt sich aber nur dann erfolgreich lösen, wenn die Betroffenen wieder dazu befähigt werden, bewusst und steuernd auf ihre Selbstregulationskompetenz zuzugreifen.124 Ausgehend von der Beschreibung der Eskalationsstufen und der Herausstellung der Basismechanismen der Konfliktdynamik konnte schließlich mit der Verhältnisbestimmung von intrapersonalen und interpersonalen Konflikten gezeigt werden, wie sich negative Sinnstiftung in Konflikten entwickelt. Im emotionalen Erleben der Beteiligten hat der Konflikt einen Sinn. Dies begünstigt – teils bewusst, teils unbewusst – ein Verhalten, das die Destruktivität erhöht. Dieses Verhalten passt häufig aber nicht mit den tatsächlichen Wünschen der Beteiligten zusammen, sondern resultiert aus den vielfältigen Wirkungszusammenhängen innerhalb der Konfliktsituation. Die Komplexität des Konfliktsyndroms lässt sich schließlich weder definitorisch noch empirisch bestimmen. Wenn der Begriff zu allgemein gehalten wird, besteht die Gefahr, nahezu alles unter dem Konfliktaspekt betrachten zu können, indem es situativ entsprechend zugeschnitten wird. Zu eng gefasst müsste eine unübersehbare Vielzahl an Einzelfällen berücksichtigt werden, weil die Begriffsbestimmung verschiedenartige Konfliktrealitäten andernfalls nicht abbilden könnte. RudolfChristian Hanschitz zustimmend, gilt deshalb festzustellen, dass sowohl »der rein deduktive wie auch der rein induktive Weg, Konflikte zu definieren oder der Versuch ihnen eine objektive begriffliche Gestalt zu geben, […] zu erkenntnistheoretischen Abstraktionen [führen], die qualitative Aspekte vernachlässigen; die begriff-

124 Leo Montada nimmt Konflikte grundsätzlich als Gerechtigkeitskonflikte an. Mindestens eine der Parteien muss dann meinen, dass ihre legitimen Ansprüche, die für sie geltenden Rechte, ethische Überzeugungen oder Gerechtigkeitsnormen bewusst oder unbewusst verletzt wurden und dies als einen intrapersonal unlösbaren Zustand empfinden (vgl. ders.: Gerechtigkeit und Rechtsgefühl in der Mediation, 38). Dann liegt es wiederum im Ermessen des Betroffenen, nach Umgangsmöglichkeiten mit der Situation zu suchen. Mit Josef Duss-von Werdt lässt sich die Annahme weiter stärken, dass Konfliktverläufe zu einem bedeutenden Teil eine Frage des Willens sind: »Menschen geraten sich nicht vorwiegend wegen des Rechts, sondern eher weil sie recht haben wollen, in die Haare infolge der Beeinträchtigungen im Alltag des Zusammenlebens und -wirkens als Nachbarn, Arbeitskollegen, Wirtschaftsvertreter und so fort« (ders.: homo mediator, 237).

Zur Korrelation von intrapersonalen und interpersonalen Konflikten

63

liche Reduktion ist gezwungen die Eigenkomplexität, die Konflikte mit sich bringen, durch Selbstverkomplizierung zu kompensieren.«125

Bei der Begriffsbestimmung von Konflikten kann ihre Eigenkomplexität also nicht vollständig durchdrungen werden. Deshalb ist es notwendig, sich dem Konfliktphänomen aus der Perspektive eines spezifischen Erkenntnisinteresses heraus anzunähern. Dies hat zur Folge, dass es zu einer erkenntnisgeleiteten Reduktion auf Ausschnitte des Konfliktsyndroms kommt. Hierin besteht der Grund dafür, einerseits von dem Versuch einer weiteren Begriffsbestimmung abzusehen, die dem Fokus dieser Untersuchung wenig dienlich wäre. Andererseits soll nun verstärkt auf jene Klärungsaspekte des Konflikts abgestellt werden, die für Interventionszusammenhänge hilfreich und dienlich sind. Dabei stehen insbesondere Ursachen und Zusammenhänge von Konflikthergängen im Fokus. Die Darstellung der Eskalationsstufen hat gezeigt, dass die Dynamik der Konfliktsteigerung zwar schematisiert werden kann, die Komplexität des Einzelfalls dadurch aber nicht hinreichend abzubilden ist. In Interventionsprozessen geht es allerdings auch weniger darum, die Konfliktsituation nuanciert zu ergründen. Indem lösungsorientiert gearbeitet wird, verlagert sich der Fokus vom destruktiven Konfliktpotenzial hin zu Fragen konstruktiver Regulationsmöglichkeiten.126 Konflikte allgemein zu definieren, ist deshalb insofern nachrangig relevant als dies nur begrenzt dazu beitragen kann, zu praktikablen Lösungen zu gelangen. Aus diesem Grund ist es angezeigt, von dem Bestreben abzusehen, einen Konflikt möglichst konkret zu beschreiben. Es gilt nach dem Sinn127 von Konflikten und ihrer Funktion128 für das menschliche Zusammenleben zu fragen. Dies erleichtert es, intervenierend auf die negative Sinnproduktion im Einzelfall einzuwirken und darauf abzuzielen, eine positive Gegensinnstiftung zu veranlassen. Weil ebendieses ein bestimmtes Konfliktverständnis voraussetzt, wird im Folgenden zunächst eine anthropologische Vororientierung vorgenommen. Sie begründet den Menschen als ein »konfliktträchtiges Wesen«. Von dieser Vorannahme ausgehend kann dann die Sinndimension von Konflikten weiter vertieft werden, um anschließend allgemein auf Interventionsaspekte zu kommen. Damit wird die Grundlage gelegt sein, um Konfliktregulation am Beispiel von Mediation zu untersuchen.

125 Rudolf-Christian Hanschitz: Konflikte und Konfliktbegriffe, 67. 126 Für Mediation spiegelt sich dies in dem Grundsatz der Zukunftsorientierung wider (vgl. 3.3 Verfahrensgrundsätze als Angebot zur Änderung von Verhalten). 127 Vgl. Gerhard Schwarz: Konfliktmanagement, 15f. 128 Vgl. Rudolf-Christian Hanschitz: Konflikte und Konfliktbegriffe, 71.

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2.4

Der Konflikt als Phänomen zwischen Destruktivität und Konstruktivität

Die Konfliktträchtigkeit des Menschen – Anthropologische Vorüberlegungen

Die Beschreibung von und die Auseinandersetzung mit der Eskalationsdynamik von Konflikten erfolgte bis hierher insbesondere auf der Grundlage von Forschungsergebnissen aus dem Bereich des Konfliktmanagements. Die dabei zugrunde gelegte Literatur zur Konfliktforschung versucht, das Konfliktphänomen zu beschreiben und zu analysieren. Sie untersucht also einen Ausschnitt des Menschseins bzw. des sozialen Lebens und ist dabei häufig auf Fragen der Intervention hin ausgerichtet, durch die ein konstruktiv praktischer Umgang mit Konflikten möglich wird. Anhand der dargelegten Grundannahmen wurde gezeigt, dass sich interpersonale Konflikte nur dann sinnvoll beschreiben lassen, wenn intrapersonale Konfliktlagen berücksichtigt werden. Damit wird implizit von einer grundsätzlichen Konfliktträchtigkeit des Menschen ausgegangen, ohne sie notwendig vertiefend zu beschreiben. Dies ist aber dann erforderlich, wenn der Versuch unternommen werden will, Interventionsmaßnahmen auf ihre anthropologischen und ethischen Grundannahmen hin zu untersuchen. Deswegen gilt es nun die These von Unvereinbarkeiten im Inneren einer Person, die ins Äußere ausstrahlen und dadurch zu sozialen Konflikten führen können, anthropologisch zu fundieren. Von hierher lässt sich anschließend der individuelle sowie der kollektive Sinn von Konflikten solchermaßen beschreiben, dass aufgezeigt werden kann, wo das Konfliktphänomen in seiner anthropologischen Beschaffenheit selbst innovative Möglichkeiten zum konstruktiven Umgang mit humanem Konfliktpotenzial bietet. Weil es mit diesem Fokus nicht darum geht, eine philosophische Anthropologie zu begründen, genügt es, einzelne Ergebnisse zur philosophischen Beschreibung des Menschen heranzuziehen. Sie dienen als Grundlage für eine anthropologische Orientierung, die für den Kontext dieser Untersuchung fruchtbar zu machen ist. Die Ausführungen des Psychologen Lückert können dabei insofern unterstützend hinzugezogen werden als sie anthropologische Grundüberlegungen vorsondieren und sie hinsichtlich des Konfliktphänomens auslegen.129 Lückert kommt zu dem Ergebnis, dass es sich beim Menschen um ein »konfliktträchtige[s] Wesen«130 handelt. Dies begründet er damit, dass der Mensch in einer doppelten Bezogenheit steht, nämlich einerseits auf die naturhaften und andererseits auf die geistigen Mächte131 hin ausgerichtet ist.132 Da129 Heinz-Rolf Lückert bezieht sich insbesondere auf Ergebnisse von Arnold Gehlen, Philipp Lersch, Konrad Lorenz und Helmuth Plessner (vgl. ders.: Konflikt-Psychologie, 15ff.). 130 A. a. O., 46 (H. i. O.). 131 Max Scheler beschreibt den Menschen in seiner Personhaftigkeit als ein geistiges Wesen, wobei er für die Annahme dieser Geistigkeit keine biologische Entsprechung annimmt. Der

Die Konfliktträchtigkeit des Menschen – Anthropologische Vorüberlegungen

65

durch kommt es zu einer »stets gegenwärtigen Wesensunruhe, die ihn um den Bestand und das Niveau seines Seins bangen lässt«133. Dieses Ergebnis beinhaltet drei Teilaspekte, die für den Kontext dieser Untersuchung bedeutsam sind und einzeln betrachtet werden sollen: Ausgehend von Lückert lässt sich zwischen Bestandssicherung und Niveausicherung des menschlichen Seins differenzieren. Er geht also davon aus, dass der Mensch über die Möglichkeit und die Fähigkeit verfügt, einerseits sein Überleben zu sichern und andererseits sein Dasein zu gestalten. Dabei ist der Mensch zwischen naturhafter Notwendigkeit und geistiger Möglichkeit ausgespannt und muss das Verhältnis zwischen diesen voneinander verschiedenen Daseinsaspekten permanent austarieren. Hierin liegt der Grund für seine Wesensunruhe.134 Sie drückt einerseits die stets gegenwärtige Angst des Menschen um sein Überleben aus und ist andererseits Motor dafür, das Leben durch Selbsttätigkeit zu sichern und zu gestalten. Um die drei Aspekte Bestandssicherung, Niveausicherung und Wesensunruhe genauer zu betrachten, ist es sinnvoll bei der Beschreibung des Menschen als weltoffenes Wesen anzusetzen, die das Ergebnis Lückerts voraussetzt. Im Vergleich zum Tier lässt sich dabei herausstellen, worin das spezifisch Anthropologische zunächst bei der Bestandssicherung des Menschen besteht. Die Annahme einer Weltoffenheit des Menschen bestimmt ihn über sein Verhältnis zur Natur und versucht seine Sonderstellung zu beschreiben.135 Dies erfolgt ab-

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Versuch, die Besonderheit des Menschen auch in Bezug auf seine Leiblichkeit auszudrücken, führt dazu, den Menschen als weltoffen zu beschreiben. Um den Geistgedanken auf einen Ursprung zurückzuführen, ist für Scheler der Bezug zur Existenz Gottes unentbehrlich. Für ihn lässt sich die Sonderstellung des Menschen nur von Gott her als den Urgrund aller Schöpfung beschreiben. Demgegenüber versucht Arnold Gehlen sich gegen den Geistbegriff auszusprechen und deutlicher biologisch zu argumentieren, wenn er den Menschen schließlich als ein Mängelwesen beschreibt. Seine argumentative Abgrenzung zu Scheler beruht nach Wolfhart Pannenbergs Auffassung aber auf einem Missverständnis: »Der Geist tritt nach Scheler nicht nur im menschlichen Selbstbewußtsein in Erscheinung, sondern findet seinen Ausdruck in erster Linie im leiblichen Verhalten des Menschen. In seinem Bestreben, die Sonderstellung des Menschen in ihrer Eigentümlichkeit seines leiblichen Verhaltens zu entdecken, folgt Gehlen also durchaus den Intentionen Schelers. Nur darum konnte er auch dessen Begriff der Weltoffenheit übernehmen und zum Zentralbegriff seiner eigenen Konzeption ausbilden« (ders.: Anthropologie in theologischer Perspektive, 35f.). Obwohl Scheler und Gehlen unterschiedlich akzentuieren, liegen sie in den für diesen Kontext bedeutsamen Grundannahmen nahe beieinander. Deshalb müssen Unterschiede, wie sie von Pannenberg hinsichtlich des Geistbegriffs herausgestellt werden, im Folgenden nicht vertiefend diskutiert werden. Für die folgenden Ausführungen werden Grundannahmen beider einander ergänzend hinzugezogen. Vgl. Heinz-Rolf Lückert: Konflikt-Psychologie, 16. A. a. O., 46. Vgl. a. a. O., 31. Die Betrachtungsweise, dass die Sonderstellung des Menschen ein natürliches Phänomen ist, das sich anhand der Verhältnismäßigkeit zwischen Mensch und Tier beschreiben lässt, hatte ihre Vorläufer im 18. und 19. Jahrhundert. Wolfhart Pannenberg hat einen Überblick über die Grundlinien der anthropologischen Forschung in Bezug auf diese Anschauung

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Der Konflikt als Phänomen zwischen Destruktivität und Konstruktivität

grenzend zum Tier, dessen biologische Beschaffenheit derart explizit auf seine natürliche Umwelt abgestimmt ist, dass sein Überleben durch ein instinkthaftes Reiz-Reaktionsverhalten gesichert wird. Das Tier ist daher in Bezug auf seinen unmittelbaren Lebensraum hochspezialisiert und deshalb zugleich auf seine natürliche Umwelt festgelegt. Diese Spezialisierung fehlt dem Menschen. Er lässt sich mit Max Scheler als »umweltfrei« und damit als »weltoffen«136 bezeichnen. Der Mensch steht außerhalb unmittelbarer Reiz-Reaktionszusammenhänge und ist damit im Gegensatz zum Tier dazu fähig, seine Umwelt differenziert zu erfassen, ohne dabei von seinem eigenen Triebsystem gesteuert und beschränkt zu werden.137 Arnold Gehlen nimmt diese Grundannahme Schelers auf und versucht sie stärker biologisch zu begründen und zu entfalten, indem er den Menschen als Mängelwesen beschreibt138. Den Bewegungsapparat des Menschen zieht er beispielhaft heran, um die anthropologische Unspezialisiertheit aufzuzeigen. Der Mensch kommt als ein unfertiges Wesen zur Welt, das sich selbst von Anfang an dadurch zur Aufgabe wird, dass es eigene Bewegungsmöglichkeiten in einem über Jahre andauernden Entwicklungsprozess herausbilden muss. Als unfertiges Wesen kann der Mensch nur überleben, wenn er zunächst innerhalb sozialer Systeme versorgt wird. Die Vielzahl der ausgebildeten Bewegungsformen, über die er verfügt, spiegelt zugleich wider, dass die Physis des Menschen nicht auf einen bestimmten Lebensraum hin spezialisiert ist. Ein breit aufgestelltes Repertoire an Reaktionsmöglichkeiten ermöglicht es, ausgewählt auf eine Vielzahl von Umwelteinflüssen zu reagieren. Für den Menschen handelt es sich dabei um eine Überlebensnotwendigkeit: »Die unbegrenzte Plastizität der menschlichen Bewegungen und Handlungsformen ist also nur zu verstehen von der ebenso unbegrenzten Fülle von Tatsachen aus, vor die ein weltoffenes Wesen zu stehen kommt, und in denen es nun fähig sein muß, irgendwelche auszunützen und einzusetzen.«139

Für den Menschen geht es deshalb vornehmlich darum, seine artspezifischen Mängel durch Lern- und Entwicklungsprozesse zu kompensieren. Ohne aktiv zu handeln und sein Lebensumfeld zu gestalten, wäre der Mensch

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vorgelegt. Sie ersetzt eine historische Aufarbeitung der These zur Weltoffenheit an dieser Stelle (vgl. ders.: Anthropologie in theologischer Perspektive, 25–39). Beide Zitate Max Scheler : Die Stellung des Menschen im Kosmos, 47. Vgl. a. a. O., 47f. Aufgrund seiner Physis, die ihm im Vergleich zum Tier in Bezug auf seine Überlebensfähigkeit unter natürlichen Bedingungen erheblich zum Nachteil gereicht, beschreibt Arnold Gehlen den Menschen als Mängelwesen. Damit nimmt er eine merkmalsbezogene Eingrenzung vor, die das Wesen des Menschen nicht umfänglich beschreibt, aber seine Sonderstellung gegenüber dem Tier akzentuiert (vgl. ders.: Der Mensch, 20). Zur Vertiefung der Beschreibung des Menschen in Abgrenzung zum Tier u. a. über die kritische Reflexion in Bezug auf Max Scheler vgl. ebd., 20ff. A. a. O., 42 (H. i. O.).

Die Konfliktträchtigkeit des Menschen – Anthropologische Vorüberlegungen

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als gefährdetes Wesen also nicht überlebensfähig. Seine Unspezialisiertheit, die ihm biologisch gesehen in Hinblick auf seine Bestandssicherung zum Nachteil gereicht, kann er aber zum Vorteil verwandeln, indem er selbsttätig wird. Aus der biologischen Notwendigkeit heraus tritt damit neben den Handlungsgrund der Bestandssicherung seine Niveausicherung hinzu, indem sich der Mensch als denkendes und kulturfähiges Wesen ausdrückt. Kulturelle, religiöse, künstlerische und philosophische Schöpfungen etwa sind Ergebnisse einer Schaffenskraft, die über die Belange des elementaren Überlebens hinausweisen. In ihnen drücken sich das Bedürfnis und die Fähigkeit des Menschen dazu aus, sich selbst unabhängig von seiner Umwelt wahrzunehmen und zu beschreiben. Dies ist wiederum nur möglich, weil der Mensch außerhalb des instinkthaften und damit unmittelbaren Reiz-Reaktionszusammenhangs steht, dem das Tier unterliegt. Der Mensch vermag es einerseits, seine Umwelt gedanklich zu abstrahieren und dadurch das »Sosein«140 von Gegenständen zu erkennen. Außerhalb von Umweltgrenzen stehend kann er die Umwelt als von sich selbst verschieden wahrnehmen, also versachlichen und bestimmen. Andererseits kann er sich auch von sich selbst distanzieren und damit ein Selbstbild schaffen. Für Scheler handelt es sich dabei um einen geistigen Akt, den er mit dem Ziel des »Sichsammelns« als »Bewußtsein des geistigen Aktzentrums von sich selbst oder ›Selbstbewußtsein‹«141 bezeichnet. Die beschriebene Bewusstseinsform setzt voraus, sich aus der Identifikation mit der Umwelt und mit sich selbst so weit lösen zu können, dass Distanz eingenommen werden kann. Die Eigenleistung des Menschen besteht also darin, die Unmittelbarkeit, in der das Tier lebt und die eine sofortige Antwortreaktion auf momentane Umstände erzwingt, zu überwinden. Eindrücke werden dann zuerst gefiltert, bevor aus dem vorhandenen Handlungsrepertoire ausgewählt und entsprechend reagiert wird.142 Ein solches Vorgehen aus der Distanz heraus setzt voraus, elementare Bedürfnisse bewusst kontrollieren zu können. Scheler verwendet dahin gehend den Terminus »Asket des Lebens«143. Der Mensch ist dazu fähig, seine Triebe kraft Willensanstrengung zu kontrollieren und verwehrt sich dadurch dagegen, von Einflüssen der Umwelt oder eigenen elementaren Bedürfnissen unmittelbar beansprucht zu werden. Zugleich, so Schelers Annahme, kann der Mensch »seine Triebenergie zu geistiger Tätigkeit sublimie-

140 Max Scheler : Die Stellung des Menschen im Kosmos, 47. 141 Beide Zitate a. a. O., 50. 142 Arnold Gehlen beschreibt dazu, dass »die Kontaktstellen mit der Situation des ›Jetzt‹ sensorisch und motorisch auf ein Minimum zurückgebildet« (ders.: Der Mensch, 47 [H. i. O.]) sind. Dies folgt aus dem Verhalten des Menschen und ist nicht etwa eine veranlagungsbedingte Tatsache. 143 Max Scheler : Die Stellung des Menschen im Kosmos, 65.

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Der Konflikt als Phänomen zwischen Destruktivität und Konstruktivität

ren«144. Sein Vermögen dazu, geistig tätig zu werden, kann der Mensch dann nutzen, um sich selbst zu beschreiben. Inhaltlich äquivalent beschreibt Gehlen den Menschen als das »stellungnehmende Wesen«145. Weil seine Stellung in der Welt nicht vorbestimmt ist, muss er selbst dafür sorgen, sich zu stellen. Seine Stellung zu bestimmen ist dabei keine optionale Möglichkeit, sondern lässt sich wiederum von der biologischen Mängelhaftigkeit her begründen und wird damit notwendig. Der Mensch hat über vielfältige Entwicklungsschritte für sein »In-Form-Kommen« zu sorgen, gelangt aber nicht zu einem Entwicklungsniveau, auf dem er es beenden könnte, sich weiterzuentwickeln. Dann liefe er nämlich Gefahr, seine Bestandssicherung zu gefährden. Das bedeutet, dass ein permanenter Selbstaufwand, im Sinne von Selbstbezwingung, Disziplin und Kontrolle darauf zu verwenden ist, ein selbstbestimmtes »In-Form-Bleiben«146 zu gewährleisten.147 In der Möglichkeit zur Aus- und Weiterentwicklung des Menschen zeigt sich seine Anlage zur Selbstbestimmtheit148, weil er selbst über Ausdruck, Form und Umfang seiner Stellungnahme gegenüber dem Leben entscheiden und daraufhin ausgerichtet handeln kann. Dies kann der Mensch in dem Maße, in dem er sich als ein von der Umwelt unabhängiges Subjektzentrum erkennt, das selbstständig auffassen, entscheiden und handeln kann.149 Selbstbestimmt zu handeln wird von der Wesensunruhe angetrieben, die sich aus der permanenten Sorge um Bestands- und Niveausicherung heraus entwickelt. Ansprüche, einerseits be144 A. a. O., 66. Auch Arnold Gehlen benennt diesen Zusammenhang, wenn auch – dem Gesamtduktus seiner Argumentationsfigur entsprechend – eher biologisierend: »Zwischen die elementaren Bedürfnisse und ihre äußeren, nach unvorhersehbaren und zufälligen Bedingungen wechselnden Erfüllungen ist eingeschaltet das ganze System der Weltorientierung und Handlung, also die Zwischenwelt der bewußten Praxis und Sacherfahrung, die über Hand, Auge, Tastsinn und Sprache läuft. Eben darin miteinander verknüpft, schiebt sich schließlich der gesamte soziale Zusammenhang zwischen die first-hand-Bedürfnisse des Einzelnen und deren Erfüllung« (ders.: Der Mensch, 53). Gehlen bezeichnet den Raum, der den Abstand von Bedürfnissen zu Bewusstsein und Handeln des Menschen sicherstellt, als »Hiatus« (ebd.). 145 A. a. O., 32. 146 Beide Zitate ebd. 147 Es ist wohl nicht davon auszugehen, dass Arnold Gehlen den Begriff des »In-Form-Bleibens« statisch verwendet. Aufgrund der Mannigfaltigkeit von sich stets wandelnden Umwelteinflüssen und der fortlaufenden Weiterentwicklung des Menschen wird mit ihm eher ein dynamisches Anpassen an situative Gegebenheiten gemeint sein, die vom Menschen verlangen, immer wieder neu Stellung einzunehmen. 148 Während der Terminus »Selbstbestimmtheit« vornehmlich das Wesensmerkmal des Menschen kennzeichnet, selbstbestimmt zu sein, erfasst der Begriff »Selbstbestimmung« eher das konkrete selbstbestimmte Handeln einer Person. Mit Ausnahme derjenigen Fälle, in denen eine terminologische Zuordnung eindeutig ist, werden die Begriffe im weiteren Fortgang der Arbeit weitgehend synonym verwendet, weil die innerbegrifflichen Differenzierungen eng ineinandergreifen. 149 Vgl. Heinz-Rolf Lückert: Konflikt-Psychologie, 41.

Die Konfliktträchtigkeit des Menschen – Anthropologische Vorüberlegungen

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züglich des basalen Überlebens und andererseits in Hinblick auf die Gestaltung des Daseins, treffen aufeinander und wollen mit der Stellungnahme des Menschen berücksichtigt werden. Kraft seines Willens entscheidet dieser darüber, welchen der häufig konfligierenden Geltungsansprüchen zwischen Notwendigkeiten und Möglichkeiten er Raum verschafft. Dies beschreibt Lückert mit der »Differenz zwischen dem Gegebenen und dem Aufgegebenen«150. Der Mensch fragt danach, was ihm aufgegeben ist und kommt durch dieses Fragen über die Notwendigkeit des Überlebens hinaus hin zu der Möglichkeit, den Sinn seines Daseins zu erforschen und sein Leben aktiv daraufhin auszurichten. Sein Dasein ist dadurch von zwei Seiten her bestimmt. Einerseits empfängt er sowohl seine eigene Lebenskraft als auch Impulse und Eindrücke seiner Umwelt ohne eigenes Zutun. Andererseits ist ihm aufgegeben, zu handeln und damit selbst etwas zu bewirken. Die persönliche Entfaltung vollzieht sich also zwischen Empfangen und Wirken: »Durch die Differenzierung der Innenwelt, die Weltbezüge und die damit gegebene fortschreitende Entfaltung eines der Welt gegenüberstehenden Personzentrums, durch das verpflichtende Bezogensein auf einen den Lebensspielraum transzendierenden Wertehorizont ist das Sein des Menschen in den Modus des selbstverantwortlichen Werdens gerückt.«151

Von hierher begründen sich die Möglichkeit, die Notwendigkeit und die Nützlichkeit der Selbstverantwortung des Menschen anthropologisch. Zwar ist er als Mängelwesen auf Kompensationsleistungen angewiesen, um seinen Bestand und sein Niveau zu sichern, aber als Bewusstseinswesen ist er zugleich mit Fähigkeiten ausgestattet, die ihm solche Kompensationen ermöglichen. Der Mensch entscheidet selbst darüber, in welchem Maße er sich seine Befähigungen zunutze macht, was dementsprechend seiner Selbstverantwortung zuzuschreiben ist.152 Der Bestimmungskraft des Menschen, die er dafür einsetzen kann, sein Leben selbstverantwortlich zu erhalten und zu gestalten, kommt also eine entscheidende Bedeutung für sein Dasein zu. Was dies in Hinblick auf soziale Konflikte und ihre Regulation bedeutet, gilt es an späterer Stelle noch weiter zu vertie-

150 Ebd. 151 A. a. O., 44. In den Bereich des selbstverantwortlichen Werdens fällt auch die Fähigkeit, ideelles Gedankengut zu entwickeln, es als einen Teil der eigenen Selbstwirklichkeit zu definieren und es solchermaßen in die Selbstbeschreibung zu integrieren, dass sowohl konkretes Handeln als auch die weitere persönliche Entwicklung unter dem Eindruck des jeweiligen Wertehorizonts stehen. Ein Beispiel dafür ist die Religiosität des Menschen. 152 Der Aspekt der Selbstverantwortung, der für die Durchdringung des Verantwortungsbegriffs zentral ist, wird an späterer Stelle anhand von Grundannahmen Wilhelm Weischedels vertieft (vgl. 8.2 Selbstverantwortung als tiefste Verantwortungsart).

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Der Konflikt als Phänomen zwischen Destruktivität und Konstruktivität

fen.153 Vor dem Hintergrund der beschriebenen Eskalationszusammenhänge innerhalb von Prozessen der Konfliktsteigerung ist allerdings anknüpfend an die dargelegten anthropologischen Grundannahmen schon hier festzuhalten, dass es sich bei der Selbstbestimmungskraft des Menschen um eine zentrale Schaltstelle in Bezug auf Tendenzen von Eskalation und Deeskalation handelt. Der Mensch verfügt über eine außerordentliche Macht dazu, sein Selbst zu steuern. Seine (Selbst-)Bestimmungskraft zeigt sich insbesondere dort, wo er sich verwehrt, seine Bedürfnisse uneingeschränkt zu erfüllen und sie stattdessen Kraft seiner Willensanstrengung kanalisiert. In dieser Selbstbeschränkung tritt einerseits die Macht seines Willens zutage, andererseits steht die dadurch geschaffene Situation deutlich unter dem Eindruck der ursprünglichen Bedürfnisdynamik. Das bedeutet, dass der Grad an Freiheit zugunsten einer willentlichen Selbststeuerung als eingeschränkt erlebt wird.154 Hiermit lassen sich die oben beschriebenen Tendenzen der Eskalationsdynamik erklären. Von der beständigen Sorge um Bestands- und Niveausicherung herrührend lassen sich Bedürfnisse nur insoweit beschränken, wie sich durch die beschnittene Freiheit noch kein Gefühl von Selbstbedrohung einstellt. Wird diese Grenze jedoch überschritten, erhöht sich das beschriebene Empfinden von Hilflosigkeit, wodurch sich unterdrückte Bedürfnisse in Form von zunehmender Gewaltbereitschaft ausprägen. In gewaltvollen Abwehrreaktionen drückt sich deshalb aus, dass ein Mensch damit überfordert ist, die Spannung zwischen Bedürfnis und Willen zu kompensieren.155 Im Ergebnis dieser anthropologischen Orientierung soll als Vorverständnis zum Sinn von Konflikten festgehalten werden, dass die Spannung zwischen Bedürfnissen und Selbstbestimmungskraft des Menschen zu seinem Sein gehört 153 Vgl. 3.4 Zur selbstbestimmten Verantwortung als Ziel der Mediation. 154 Vgl. a. a. O., 41. 155 Heinz-Rolf Lückert weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Beziehung zwischen ursprünglicher Bedürfnisdynamik und Ab- und Gegenwehr erst dort gelockert wird, »wo es dem Menschen durch neue Zielsetzung und -hinwendung gelingt, die Negation ohne Opposition zu erlangen« (ebd.). Dies ist eine wesentliche Spur für ein intervenierendes Vorgehen. Interventionsstrategien versuchen zu Bedürfnislagen von Menschen vorzudringen und neue Zielsetzungen herauszuarbeiten. Um dies zu erreichen, müssen sie wiederum an die Selbstbestimmungskraft des Menschen appellieren. Die Bedürfnislagen sollen dabei allerdings solchermaßen berücksichtigt werden, dass es die Betroffenen selbst für unnötig erachten, eine oppositionelle Haltung einzunehmen. Als Grundannahme lässt sich also Folgendes festhalten: Wenn Menschen ihr Verhalten selbstbestimmt auf eine Zielsetzung ausrichten, die für sie subjektiven Sinn hat und mit der bedeutsame Bedürfnisse berücksichtigt werden, dient die Negation nachrangiger Bedürfnissen dieser höheren Zielsetzung. Die willentliche Beschneidung der eigenen Freiheit hat also eine Bedeutung und führt deshalb auch nicht zu einem willkürlichen Oppositionsverhalten. Inwieweit sich eine derartige subjektive Sinnzuschreibung auf die Tragfähigkeit von Mediationsergebnissen auswirkt, wird sich im Ergebnis dieser Untersuchung zeigen (vgl. II. Zur Unterscheidung von vordergründiger und hintergründiger Sinnstruktur).

Zum Sinn von Konflikten

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und er damit, Lückert zustimmend, als »konfliktträchtige[s] Wesen«156 beschrieben werden kann. Seine Konfliktträchtigkeit lässt sich anthropologisch über seine anlagemäßige Freiheit, die wiederum auf seine Umweltungebundenheit zurückgeht, begründen. Eine Vielzahl von Umwelteinflüssen verlangt es dem Menschen permanent ab, sich zu ihnen zu verhalten, also Stellung zu beziehen. Spannungen und Gegensätze lassen sich dabei nicht vermeiden und müssen kompensiert werden. Die Weltoffenheit bedingt aber, dass dazu auf kein festgelegtes System zugegriffen werden kann, in das Einflüsse stringent integriert werden könnten. Er muss selbst zu einem solchen System werden, dass sich permanent weiterentwickelt. Dafür muss der Mensch sein breites Reaktionsrepertoire solchermaßen nutzen, dass er seinen Bestand und sein Niveau erhalten kann. Als Mängelwesen und damit als in sich selbst instabiles System ist er deshalb um ständigen Ausgleich zwischen konfligierenden Unvereinbarkeiten bemüht. Das heißt, dass er sich in einer beständigen Konfliktlage befindet, die solange als Erlebensnormalität gilt, bis die selbst geschaffene Stabilität durch nicht mehr kompensierbare Einflüsse massiv ins Wanken gerät. Damit ist aber nicht ausgesagt, dass Konfliktbelastungen dieser Art zu vermeiden wären oder es wünschenswert wäre, sie grundsätzlich zu eliminieren. Vielmehr veranlassen sie den Menschen auch zur individuellen und kollektiven Weiterentwicklung, wie im Folgenden erläutert werden soll.

2.5

Zum Sinn von Konflikten

Der Versuch, den Sinn von Konflikten zu erfragen, erfolgt ausgehend von der Grundannahme, dass es sich bei Konflikten nicht um objektiv bestimmbare Gegebenheiten handelt. Vielfältige Faktoren beeinflussen die Konfliktsituation, emotionale und soziale Faktoren sind eng miteinander verwoben und unterschiedliche Sinndimensionen melden berechtigte, aber einander ausschließende Geltungsansprüche an. Weder für die Beteiligten selbst noch für Außenstehenden ist es deshalb möglich, den Facettenreichtum eines Konflikts umfassend zu beschreiben. Gleichermaßen kann auch die Kausalität von Ursache und Wirkung nicht sinnvoll erforscht werden. Was wirklich am Anfang stand und als erster Auslöser gelten kann, bleibt uneindeutig, weil vielfältige Faktoren wechselseitig ineinandergreifen, wodurch Situationen im Falle von andauernden Konflikten komplexer werden. Wenn die Konfliktwirklichkeit daraus resultiert, dass ein Mensch eine Situation subjektiv wahrnimmt und sie individuell verarbeitet, dann handelt es sich bei einem Konflikt um eine Konstruktion von Wirklichkeit und also um einen Zustand, der ursächlich im inneren Erleben 156 A. a. O., 46 (H. i. O.).

72

Der Konflikt als Phänomen zwischen Destruktivität und Konstruktivität

gründet.157 Den Sinn von Konflikten verstehen zu wollen, bedeutet deshalb, die Widersprüchlichkeit, die dem Phänomen selbst zu eigen ist, auch für dessen Erforschung zuzulassen. Um es mit Gerhard Schwarz auszusagen: »Untersucht man den Sinn der Konflikte, dann stellt sich heraus, dass wir jeweils einander widersprechende Dimensionen als sinnvoll, den Sinn von Konflikten erklärend, anerkennen müssen.«158

Der Sinn von interpersonalen Konflikten soll hier ausgehend von der anthropologisch begründeten intrapersonalen Konfliktträchtigkeit des Menschen erörtert werden. Seine wesenhafte Konfliktträchtigkeit macht es für den Menschen notwendig, sich selbst als ein der Umwelt gegenüberstehendes freies Wesen zu definieren. Dazu müssen unterschiedliche Wesensbereiche, die ihren Anteil daran haben, Bestand und Niveau zu sichern, zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. Als biologisches Wesen muss der Mensch dafür Sorge tragen, sich physisch zu erhalten. Als seelisches Wesen ist er dafür verantwortlich, seine psychische und emotionale Gesundheit sicherzustellen. Als geistiges Wesen strebt er dahin, sich selbst zu erkennen und seinen eigenen Wesenskern etwa durch Persönlichkeitsarbeit oder Spiritualität zu entfalten.159 Ausgehend davon, dass die drei Wesensteile Körper, Seele und Geist die Ganzheit des Menschen ausmachen, muss er selbst nach einem Prinzip suchen, das diese Faktoren seines Selbstseins gliedert, ordnet und zueinander in Beziehung setzt. Ziel ist es, unterschiedliche Bedürfnislagen auszugleichen und das Gesamtsystem Mensch solchermaßen zu stabilisieren, dass auch Unvereinbarkeiten kompensiert werden können. Anders ausgedrückt: Der Mensch erschafft sich selbst als ein System, das seine Funktionalität sowohl in Hinblick auf die eigenen Grundbedürfnisse als auch in Hinblick auf Umwelteinflüsse selbstbestimmend sicherzustellen versucht. Er zielt darauf ab, vielfältige Daseinselemente im höchstmöglichen Maß intrapersonal auszugleichen und in Balance zu halten, um dadurch eine personhafte Einheit her- und sicherzustellen. Je zuverlässiger die einzelnen Elemente so miteinander interagieren, dass Bestand und Niveau gesichert sind, desto eher können Unvereinbarkeiten innerhalb des Systems Mensch kompensiert werden. Je intrapersonal stabiler ein Mensch, desto nutzbringender kann er mit der Eindrucksvielfalt umgehen, unter der er permanent steht. Dabei werden Eindrücke sowohl bewusst als auch unbewusst auf ihre Relevanz hin überprüft, entsprechend bewertet und eingeordnet. Gegensätzliche Tendenzen im Selbst- und Umwelterleben sollen so minimiert werden, dass eine 157 Vgl. Wolfgang Mutzeck: Kooperative Beratung, 100. 158 Gerhard Schwarz: Konfliktmanagement, 15. 159 Die Wesensdimensionen Körper, Seele und Geist, wie sie mit dem dreifältigen Menschenbild angenommen werden, zeigen sich in sozialen Konflikten jeweils unterschiedlich. Zur Vertiefung vgl. Friedrich Glasl: Konfliktmanagement, 29ff.

Zum Sinn von Konflikten

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möglichst zweckdienliche Verhältnismäßigkeit sichergestellt ist. Dahin gehend erweist sich der Mensch als ein nach Ausgleich strebendes Wesen. Ausgleichsbestrebungen dieser Art erfolgen vielfach automatisch durch eine gewisse »Systemroutine«. Denn schon dort, wo sich ein Mensch auf eine bestimmte Tätigkeit konzentriert, können sich in diesem Moment nicht alle anderen Ebenen seiner Existenz bedürfnisgerecht entfalten. Wenn beispielsweise einer sitzenden Tätigkeit nachgegangen wird, werden die Bewegungsimpulse des Körpers eingeschränkt. Temporäre Ungleichgewichte dieser Art lassen sich durch nachfolgende Ausgleichshandlungen relativ schnell wieder kompensieren. Treten aber Umstände ein, die zu einem langfristigen Ungleichgewicht führen oder aber so akut sind, dass sie Ausgleichsbestrebungen deutlich erschweren oder gar verunmöglichen, erhöht sich die innere Konfliktträchtigkeit so weit, dass das Ausgleichssystem selbst modifiziert werden muss. Nur dadurch kann wieder zu einer Balance zurückgefunden werden. Wenn Ausgleichsbestrebungen durch Mechanismen, die sich ein Mensch zu seiner Selbststabilisierung angeeignet hat, erfolglos bleiben, besteht darin ein Indiz, dass sie den aktuellen Belangen nicht mehr hinreichend genügen. Der intrapersonale Konflikt zeigt dann eine Veränderungsnotwendigkeit auf und dient dazu, eine Weiterentwicklung herbeizuführen. Die Bereitschaft, Veränderungen zu erwirken, steht dabei in Korrelation zu ihrer Bedeutsamkeit für den Menschen. Wenn seine Bestandssicherung gefährdet ist, sind Veränderungen entsprechend dringlicher als wenn vornehmlich Fragen der Lebensgestaltung, also des Niveaus, betroffen sind. In beiden Fällen zeigt sich aber, dass das bestehende System, das der Mensch aus selbst geschaffenen Ordnungen und Sicherheiten hervorgebracht hat, nicht mehr situationsgemäß ist. Der Konflikt fordert es ein, das Leben neu auszurichten. Es hängt entscheidend von der Selbstbestimmungskraft des Menschen ab, ob intrapersonale Konflikte auch innerlich gelöst werden oder sich – wenn auch teilweise unbewusst – interpersonal entladen. Im letzteren Fall verlagert sich die Konfliktträchtigkeit von innen nach außen und wirkt sich auf die sozialen Zusammenhänge aus.160 160 Es wurde darauf hingewiesen, dass Menschen in Konflikten häufig (ungewollt) ein Verhalten an den Tag legen, das jene Eigenschaften zeigt, die sie an sich selbst weniger schätzen. Friedrich Glasl stellt dahin gehend einen Bezug zu der geistigen Wesensdimension des Menschen her. Diese lässt sich ebenfalls in drei Teile untergliedern. Sie können unterschiedlich bezeichnet werden, beispielsweise als »Höheres Selbst«, »Schattenpersönlichkeit« und »alltägliches Ich« oder aber in Anlehnung an die Psychoanalyse Siegmund Freuds als »Über-Ich«, »Es« und »Ich«. Das »Höhere Selbst« oder »Über-Ich« beschreibt eine Idealvorstellung des Menschen von sich selbst. Es zeichnet das Bild eines »besseren Menschen« und fungiert dadurch als eine Moralinstanz. Die »Schattenpersönlichkeit« oder das »Es« steht für Lustprinzipien, Triebe und Schwachheiten des Menschen. Das »alltägliche Ich« oder »Ich« steht zwischen beiden als Realitätsprinzip. Es ist einerseits darum bemüht, die Persönlichkeitsentwicklung des Menschen mehr und mehr auf das »Höhere Selbst« hin

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Der Konflikt als Phänomen zwischen Destruktivität und Konstruktivität

Es ist nun folgerichtig, zu überprüfen, inwieweit sich Konfliktzusammenhänge, wie sie für den Bereich der Intrapersonalität beschrieben wurden, auch auf interpersonale Situationen übertragen lassen. Für beide Konfliktphänomene lässt sich zunächst aussagen, dass sie Destruktivität ebenso bestärken können wie Konstruktivität. In welche Richtung sich die jeweilige Konfliktlage entwickelt, hängt entscheidend davon ab, wie sehr sie als Angebot zur »Selbstaneignung von Lebenswelt«161 erkannt und wahrgenommen wird. Daran entscheidet sich, ob die Selbstbestimmungskraft des Einzelnen ebenso wie die einer sozialen Gruppe162 dahin gehend eingesetzt werden, Eskalationsdynamiken zu befördern oder zu hemmen. In seinem Buch Konfliktmanagement hat Schwarz verschiedene Sinndimensionen von Konflikten erörtert und anhand von Beispielen veranschaulicht.163 Die darin enthaltenen Grundüberlegungen sollen im Folgenden als eine Basis fungieren, um den Sinn von Konflikten zu beschreiben. Beziehungen zwischen Menschen funktionieren, indem unterschiedliche Zuständigkeiten verteilt sind. Wer welche Rollen innerhalb sozialer Systeme, wie z. B. einer Gruppe, einnimmt, muss in Interaktionsprozessen austariert werden. Interaktiv lässt sich feststellen, welche Personen sich aufgrund ihrer jeweiligen Fähigkeiten und Fertigkeiten dazu eigenen, bestimmte Aufgaben effizient zu übernehmen. Interpersonale Konflikte, die insbesondere Fragen von Konkurrenz zum Inhalt haben, dienen dazu, Unterschiede zu erkennen, sie zuzulassen und sie zu bearbeiten. Um diesen Konfliktsinn konstruktiv nutzen zu können, dürfen die Unterschiede innerhalb von Gruppen nicht unterdrückt werden. Das Konfliktpotenzial kann nur abseits von Vereinheitlichungsbestrebungen dahin gehend genutzt werden, einen Stärken- und Schwächenausgleich innerhalb eines sozialen Gefüges zu erwirken. Werden Konflikte dieser Art niedergehalten, können sich unterschiedliche Meinungen und Ideen nicht vollumfänglich entauszurichten und ist andererseits den elementaren Bedürfnissen verpflichtet, sodass es zwischen diesen konfligierenden Tendenzen vermittelt. Diese drei Bestandteile des Menschen als ein geistiges Wesen werden in sozialen Konfliktverläufen immer mit beansprucht: »Im Zuge der Eskalation provozieren die Konfliktparteien mehr und mehr ihre Schattenseiten und Doppelgängernatur – und gleichzeitig ringen sie mit ihrem höheren Selbst, verlieren den Kontakt dazu und versuchen krampfhaft, für sich selbst ein positives Selbstbild zu retten, das zu einer einseitigen Überschätzung der eigenen Lichtpersönlichkeit führt. Bei sozialen Konflikten geht es also darum, wie viel Nähe und Distanz das alltägliche Ich zum höheren Selbst und zum Doppelgänger hat und wie aktiv bzw. wie passiv es damit umgeht« (ders.: Konfliktmanagement, 38). 161 Rudolf-Christian Hanschitz: Konflikte und Konfliktbegriffe, 66 (H. i. O.). 162 Als soziale Gruppe gelten im Folgenden Beziehungssysteme von Menschen ab zwei Personen. 163 Es soll hier darum gehen, die Essenzen der Sinndimensionen komprimiert darzustellen. Deshalb wird weitgehend davon abgesehen, die praktischen Erfahrungen des Autors als Konfliktmanager wiederzugeben, mit denen er seine Annahmen teils eindrücklich bebeispielt. Sie können nachgelesen werden bei Gerhard Schwarz: Konfliktmanagement, 15–38.

Zum Sinn von Konflikten

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falten. Dadurch bleiben Potenziale ungenutzt, die durch eine gruppeninterne Kooperationsfähigkeit ausgedrückt und für ein gemeinsames Ziel in konstruktiver Weise eingesetzt werden könnten.164 Dem Sinn, Unterschiede zu bearbeiten und sie damit zweckmäßig zu verstärken, steht eine gegenteilige Sinndimension gegenüber, die sich darauf bezieht, Gleichheit und Einheit herzustellen. Eine Gruppe ist nur dann stabil und funktionsfähig, wenn ein gewisses Maß an Konformität sichergestellt ist. Scheren einzelne Personen mit ihren Fähigkeiten, Meinungen und Ideen solchermaßen aus, dass sie sich nicht mehr in die Gruppennorm integrieren lassen, gefährden sie die innere Stabilität des Gruppengefüges. In diesem Fall zeigen Konflikte an, in welchem Ausmaß Andersartiges toleriert werden und in das bestehende Sozialisationsgefüge eingeordnet werden kann und wo es um der Stabilität des Gesamtsystems willen zu Ausschlüssen kommen muss.165 Beide Sinndimensionen, also sowohl Unterschiede zu bearbeiten als auch zu vereinheitlichen, sind nur in Verbindung zueinander zu verstehen.166 Sich vornehmlich auf Unterschiede zu konzentrieren, lässt soziale Zusammenhänge zerfallen, weil Einzigartigkeiten derart in den Vordergrund geraten, dass es erschwert wird, sich aufeinander zu beziehen. Im Gegenzug ist es ebenfalls wenig dienlich, Unterschiede zu unterdrücken, um zu vereinheitlichen. Potenziale zur Weiterentwicklung bleiben dann ungenutzt, wenn es nur darum geht, Beziehungen um jeden Preis zu erhalten. Wie für intrapersonale Konfliktlagen gilt deshalb auch in interpersonalen Zusammenhängen, dass es darum gehen muss, berechtigte, aber einander gegenüberstehende Tendenzen zu verknüpfen. Demgemäß gilt es anzustreben, dass sich Unterschiede und Gleichheiten sinnvoll ergänzen. Diese grundsätzliche Dialektik des Konfliktsinns lässt sich über vier weitere Sinnmerkmale differenzieren: »Komplexität«, »Gemeinsamkeit«, »Veränderung« und »Erhaltung des Bestehenden«.167 In Konflikten zeigen sich Bedürfnisse, Interessen und Vorstellungen häufig deutlicher als außerhalb von Konfliktlagen. Die Dringlichkeit, für sich selbst einzustehen, wird häufig als erhöht erlebt. Dadurch drücken sich Aspekte aus, durch die Sachlagen differenzierter erkannt werden, was dazu beitragen kann, dass sich die soziale Komplexität weiterentwickelt. Zugleich garantieren Konflikte insofern Gemeinsamkeit als das von der Norm abweichende Spezielle langfristig wieder dem Allgemeinen untergeordnet werden soll. Andernfalls kann keine gemeinsame Handlungsausrichtung innerhalb von Gruppen gewährleistet werden. Das Verhältnis von 164 165 166 167

Vgl. a. a. O., 16ff. Vgl. a. a. O., 20ff., Begriffe übernommen (H. z. S., WLL). Vgl. a. a. O., 23. Vgl. a. a. O., 24ff.

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Der Konflikt als Phänomen zwischen Destruktivität und Konstruktivität

Einzel- und Gruppenbedürfnissen, die sich aus der sozialen Komplexität heraus ergeben, muss ausgeglichen werden. Das bedeutet: »Nur durch die Komplexität kann die gemeinsame Einheit erreicht werden, nur durch die gemeinsame Einheit kann auf die Komplexität eingegangen werden. Nur durch die Berücksichtigung der Bedürfnisse kommt man zu einer Leistung, nur durch die gemeinsame Leistung können die Bedürfnisse befriedigt werden.«168

Einzel- und Gruppenbedürfnisse auf diese Art auszubalancieren, dient demgemäß dazu, das Leben des Menschen als Einzelwesen in sozialer Bezogenheit zu organisieren und zu stabilisieren. Weil der Mensch außerhalb festgelegter Instinktprozesse aus Reiz und Reaktion steht, sind dafür Verhaltensnormen aufzustellen, die es ihm ermöglichen, sich zu orientieren. Orientierungsmaßstäbe sind aber nicht statisch. Der Sinn von Konflikten kann deshalb weiterhin dahin gehend differenziert werden, als Konflikte Veränderungen herbeiführen. Wenn sich Lebensbedingungen verändern, müssen auch Verhaltensnormen entsprechend angepasst werden. Häufig ereignen sich solche Veränderungsprozesse, indem einzelne als Pioniere Veränderungen forcieren, während das Kollektiv zunächst das Altbewährte verteidigt. Auf diese Weise geraten neue Verhaltensversuche in Konflikt mit dem bestehenden Normensystem. Es ergeben sich dann Unvereinbarkeiten, die dahin gehend ausgelotet werden müssen, welche Normen zu bewahren sind und wo Neues integriert werden muss.169 Auf der einen Seite werden durch zu bearbeitende Widersprüche Veränderungen herbeigeführt, auf der anderen Seite zeigen sie an, wo Bestehendes zu erhalten ist. Das Zusammenspiel beider Aspekte stärkt dabei die Funktionsfähigkeit von Systemen. Sich weiterzuentwickeln und Veränderungen schnell zu integrieren, flexibilisiert Systeme solchermaßen, dass sie schnell an veränderte Umweltbedingungen angepasst werden können. Indem zugleich Bestehendes durch oppositionelles Verhalten auf die Probe gestellt wird, kann es intern auf seine aktuelle Bestandsfähigkeit hin überprüft werden. Hält ein System diesem Prozess stand, wird es gestärkt und kann sich leichter gegenüber äußeren Angriffsfaktoren bewähren.170 Als Ergebnis der Überprüfung des Sinns von Konflikten auf der Grundlage der anthropologischen Herleitung der Konfliktträchtigkeit des Menschen soll hier Folgendes festgehalten werden: Konfliktwirklichkeiten basieren auf der subjektiven Wahrnehmung von Menschen. Sie sind Konstruktionen von Wirklichkeit und bilden damit Zustände inneren Erlebens ab. Das Innere des Menschen bestimmt sich über eine ständige Wechselwirkung zwischen körperlichen, seelischen und geistigen Wesensmerkmalen, die mit vielfältigen Umweltein168 A. a. O., 26. 169 Vgl. a. a. O., 26ff. 170 Vgl. a. a. O., 30ff.

Zum Sinn von Konflikten

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flüssen korrespondieren. Deshalb sind intrapersonale Sachlagen einzigartig. Weil sich Konflikte dadurch ergeben, dass sich der einzelne Mensch an ihnen beteiligt, sie also sowohl bewusst als auch unbewusst mitgestaltet, verwebt sich persönliche Individualität mit der Einzigartigkeit des Konflikts. Dabei kommen unterschiedliche Sinndimensionen zum Tragen, die einander gegenüberstehen, worin sich die Widersprüchlichkeit des Konfliktphänomens selbst spiegelt. Konflikte dienen dazu, Unterschiede herauszustellen, um Einzelpotenziale nutzbar zu machen. Zugleich versuchen sie so zu vereinheitlichen, dass das Spezielle dem Allgemeinen untergeordnet werden kann. Sie erhöhen die Komplexität sozialer Beziehungen dadurch, dass sich Einzelfaktoren ausdrücken, wodurch sich Sachlagen differenzieren lassen. Zugleich stellen sie Gemeinsamkeit darüber her, Komplexität nicht überhandnehmen zu lassen. Konflikte generieren Veränderungen und dienen zugleich dem Erhalt des Bestehenden, sodass soziale Systeme einerseits flexibel und andererseits stabil gehalten werden können. Der Sinn von Konflikten besteht also darin, die Identität von Einzelpersonen sowie von Gruppen zu stärken und bestehende Systeme weiterzuentwickeln. Die antithetischen Spannungsverhältnisse, die Konflikte ausmachen, führen zu intrapersonalen und interpersonalen Ausgleichsbestrebungen, weil Unvereinbarkeiten bearbeitet werden müssen, um zu einer widerstandsfähigen Balance zurückzufinden. Nur dadurch lassen sich die Bestands- und Niveausicherung des Menschen gewährleisten. Mit dem Fokus auf eine effektive Konfliktbearbeitung ist deshalb nach der subjektiven Bedeutung des Konflikts für die Beteiligten zu fragen. Für sie muss sich ein deutlicher Mehrwert ergeben, wenn sie die negative Sinnstiftung des Konflikts durch eine positive ersetzen. Konflikte als natürliche anthropologische Phänomene des menschlichen Lebens zu deuten und anzuerkennen, dass sie in sozialen Kontexten unvermeidbar sind171, trägt zu einem interventionsdienlichen Konfliktverständnis bei. Von der Vorstellung abzulassen, dass Konflikte vermeidbare Störfaktoren sind, eröffnet Möglichkeiten, um sinnstiftende Potenziale zu erforschen. Konflikte dienen dann in dem Maße dazu, Veränderungen herbeizuführen, in dem die Beteiligten dazu bereit sind, sie als Chancen zur Weiterentwicklung aufzufassen und zu nutzen. Interventionsmaßnahmen weisen demgemäß dann konstruktiv über sich hinaus, wenn sie einen Rahmen dafür bieten, konflikthaltige Situationsirritationen angemessen zur Geltung zu bringen. Sie stehen dafür ein, Veränderungsinteressen herauszuarbeiten und ihr jeweiliges Potenzial innerhalb eines konstruktiven, individuellen, also situationsentsprechenden Abwägungsund Gestaltungsprozesses gewinnbringend zu nutzen. Der Schlüssel zu einer erfolgreichen Intervention liegt dabei in der Handlungsfähigkeit und -bereit171 Vgl. Josef Duss-von Werdt: homo mediator, 20.

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Der Konflikt als Phänomen zwischen Destruktivität und Konstruktivität

schaft der Konfliktbeteiligten selbst. Weil der Mensch über die anthropologischen Voraussetzungen verfügt, über sein wahrnehmendes Bewusstsein eine Distanz zwischen seinen elementaren Bedürfnissen und seinem Handeln herzustellen, kann er Situationsverläufe aktiv gestalten. Dieser Abstand ermöglicht eine »Umkehr der Antriebsrichtung«172 und kann deshalb zweckdienlich genutzt werden. Eskalationsdynamiken, die schließlich in blinder Selbst- und Fremdzerstörung münden, können aufgrund dieses Mechanismus durchbrochen und über die Willensanstrengung des Menschen konstruktiv gewendet werden. Bevor dieser Prozess am Beispiel der Mediation konkretisiert und vertiefend untersucht wird, sollen zunächst einige allgemeine Grundannahmen dazu vorgestellt werden, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit sich Diagnose, Kuration und Prävention in Interventionsprozessen vollziehen lassen.

2.6

Ressourcenorientierte Intervention als Angebot zur Gegensinnstiftung

Es gibt verschiedenartige Möglichkeiten, um mit Konflikten umzugehen. Obschon sie genauso individuell und einzigartig sind wie der Konflikt und seine Beteiligten selbst, lassen sich Grundmuster erkennen, die Lösungen herbeiführen können Von Konfliktlösung zu sprechen, bedeutet dabei lediglich, dass die Umstände, die durch den Konflikt hemmend auf die Handlungsfähigkeit der Konfliktbeteiligten einwirken, so weit behoben sind, dass die Beteiligten sich nicht weiter direkt von ihnen beeinflusst fühlen.173 Damit ist aber noch nichts über das soziale Niveau der Lösungen ausgesagt, das sich nach der Darstellung von Schwarz deutlich unterscheidet. Für Konfliktlösungen, lässt sich – ähnlich wie im Falle der Konfliktdynamik, die Glasl als Abwärtsbewegung beschreibt174 – feststellen, dass es niedere und höherentwickelte Formen des Umgangs miteinander gibt. Schwarz hat die Grundmuster in eine Reihenfolge gebracht, die eine Entwicklungskurve widerspiegelt. Er vermutet, dass sowohl Einzelne als auch Gruppen in Konflikten ebensolche Lernprozesse durchlaufen wie sie sich im Leben des Menschen allgemein, aber auch in zivilisatorischen Entwicklungen von Kollektiven zeigen. Die daraus hervorgehenden Höherentwicklungen lassen sich auch für Konfliktlösungen feststellen. Dieser Grundannahme gemäß stellt er folgende Reihenfolge von niederen zu höheren Stufen der Konfliktlösung auf: »Flucht«, »Vernichtung des Gegners«, »Unterordnung des einen unter den an172 Arnold Gehlen: Der Mensch, 54 (H. i. O.), vgl. 53. 173 Vgl. Gerhard Schwarz: Konfliktmanagement, 277. 174 Vgl. 2.2 Die Eskalationsdynamik in Konflikten.

Ressourcenorientierte Intervention als Angebot zur Gegensinnstiftung

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deren«, »Delegation an eine dritte Instanz«, »Kompromiss« und »Konsens«.175 Das Erkenntnisinteresse dieser Untersuchung bezieht sich auf den Konsens, der für die höchste soziale Qualität von Lösungen steht. Schwarz beschreibt die unterschiedlichen Konfliktlösungsmöglichkeiten detailliert. Seine Ausführungen ersetzen eine weitere Vertiefung an dieser Stelle.176 Ein Konsens zeichnet sich zuerst dadurch aus, dass die an ihm Beteiligten gleichberechtigt sind. Es soll eine Lösung gefunden werden, in die sie alle gleichermaßen deshalb einwilligen, weil ihre Interessen und Bedürfnisse darin ausreichend berücksichtig werden. Ein Konsens kommt als Lösungsoption für Konflikte in Frage, die über den emotionalen Bereich hinaus auch »sachlich den Axiomen der Logik« widersprechen, wodurch eine »Aporie«177 vorliegt. Unter den Begriff der Aporie fasst Schwarz die »logische Ausweglosigkeit«178 einer Situation. Dabei stehen sich widersprechende Behauptungen oder Vorstellungen gegenüber, die jeweils berechtigt und voneinander abhängig sind.179 Indem 175 Vgl. a. a. O., 277. Konsens und Kompromiss lassen sich in folgender Hinsicht unterscheiden: Ein Kompromiss kann auf der Basis gegenseitiger Zugeständnisse erfolgen, wenn die Konfliktpartner von einigen ihrer Vorstellungen und Anliegen ablassen. Positionen lassen sich auf diese Weise teilweise einander annähern. Solche Lösungen sind häufig nicht dauerhaft befriedigend, weil das Gefühl, zurückgestanden zu haben, wiederkehrende Unzufriedenheiten und damit neues Konfliktpotenzial begünstigt. Ein Konsens hingegen beschreibt eine Lösung, die die Interessen der betroffenen Personen so umfassend wie möglich berücksichtigt. Positionen werden dann dahin gehend überprüft, welche Anliegen tatsächlich hinter ihnen stehen. Der Unterschied zwischen Kompromiss und Konsens kann beispielhaft folgendermaßen veranschaulicht werden: Es steht ein Dienstparkplatz zur Verfügung, auf den zwei Menschen gleichermaßen berechtigt Anspruch erheben. Weil die Ressource Parkplatz begrenzt ist, würde ein Kompromiss darin bestehen, dass entweder eine der Personen verzichtet und dafür möglicherweise anderweitig entschädigt wird oder dass das Nutzungsrecht des Parkplatzes zu gleichen Teilen geregelt wird. Dann erhält jeder der Beteiligten nur anteilig, was er angestrebt hat. Davon abzusehen, die konfligierenden Positionen zugunsten eines Interessenausgleichs miteinander zu vereinbaren, könnte hingegen erhellen, aus welchem Grund beiden Personen den Parkplatz gleichermaßen beanspruchen. Häufig zeigt sich dann, dass der vermeintliche Streitpunkt nicht der eigentlich Grund für eine Auseinandersetzung ist. Im Falle des Beispiels könnte der Parkplatz nur sinnbildlich für eine dienstliche oder private Unvereinbarkeit stehen. Gelänge es, diese zu bearbeiten, könnte sich die Frage des Nutzungsrechts erübrigen. 176 Die Beschreibungen zeigen – teilweise eindrücklich bebeispielt – auf, wie sich archaische Verhaltensmuster des Menschen auch in Zivilisationskontexten ausdrücken können. Damit lässt sich die Annahme einer anthropologisch begründbaren Konfliktträchtigkeit noch erhärten. Diese Konfliktträchtigkeit zeigt sich kontextbezogen, sodass beispielsweise ein Fluchverhalten des Menschen sowohl in der Wildnis als auch in Büroräumen festgestellt werden kann. Zur Vertiefung vgl. a. a. O., 279–311. 177 Beide Zitate a. a. O., 300. 178 Ebd. 179 Vgl. a. a. O., 301. Als Beispiel für eine solche Aporie nennt Gerhard Schwarz Fragen der Unternehmensführung, die sich auf Selbstständigkeit und Gehorsam von Mitarbeitern beziehen: Unselbstständige Mitarbeiter führen dazu, dass sich Prozesse verlangsamen und Vorgesetzte aufgrund des erhöhten Bedarfs der Mitarbeiter, sich abzusichern, zusätzlich

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Der Konflikt als Phänomen zwischen Destruktivität und Konstruktivität

untersucht wird, welche Interessen und Bedürfnisse sich hinter den widersprüchlichen Grundhaltungen verbergen, kann das jeweils Berechtigte herausgestellt werden.180 Dann ist der Weg angebahnt, um Lösungen entwickeln zu können, die sowohl die berechtigten Einzelforderungen als auch ihr jeweiliges Abhängigkeitsverhältnis hinreichend umfänglich berücksichtigen. Ein solches Vorgehen zeichnet sich dadurch aus, dass es ressourcenorientiert erfolgt. Dementsprechend soll hier als ressourcenorientierte Intervention eine Konfliktregulation bezeichnet werden, bei der eine unbeteiligte dritte Person die Konfliktbeteiligten dahin gehend begleitet, Potenziale zur Weiterentwicklung zu erkennen, sich auf sie zu konzentrieren und dabei selbst eine kreative Lösung dafür zu entwickeln, sie konstruktiv und flexibel solchermaßen zu entfalten, dass vorhandene materielle und immaterielle Ressourcen zielgerichtet genutzt werden. Interventions- und Konfliktverständnis korrelieren insofern miteinander als sich der Erfolg von Interventionsmaßnahmen daran bemisst, inwiefern das, was erwartet wurde, auch eintritt. Die Auffassung, Konflikte seien grundsätzlich vermeidbar und dementsprechend als Symptome ursächlicher Fehler zu verstehen, fordert von Interventionen ein, Konfliktpotenziale grundsätzlich zu beseitigen. Jede Interventionsmaßnahme muss langfristig an diesem Anspruch scheitern. Gelingende, ressourcenorientierte Intervention ist deshalb auf einen Perspektivwechsel angewiesen. Konflikte müssen nicht nur als natürliche anthropologische Erscheinungsformen aufgefasst werden, sondern auch als wertvolle Möglichkeiten zur Weiterentwicklung. Interventionsmaßnahmen gelten dann – wie andere Organisationsformen auch – als Maßnahmen, um menschliches Zusammenleben zu strukturieren und zu regeln. Anders ausgedrückt: Anzuerkennen, dass Mitmenschliches zu allen Zeiten konfliktbesetzt war und ist und sich daraus wertvolle Veränderungspotenziale ergeben können, schützt vor der Illusion, Unvereinbarkeiten wären vermeidbar und dürften eigentlich gar nicht auftreten. Rechtliche, religiöse und moralische Strukturen beispielsweise legen diese Auffassung ebenfalls selbstverständlich zugrunde, wenn sie Rahmenbedingungen für das Zusammenleben schaffen, wozu auch Vermittlung zählt.181 Die Anbeansprucht werden. Je selbstständiger Mitarbeiter jedoch agieren, desto geringer ist ihre Bereitschaft dazu, sich Führungsanweisungen unterzuordnen (vgl. a. a. O., 302). Selbstständigkeit und Gehorsam widersprechen sich also. Jedoch handelt es sich um gleichermaßen berechtigte Ansprüche hinsichtlich einer effizienten Unternehmenskultur. Sie sind insofern voneinander abhängig als weder allein durch das eine noch durch das andere Extrem wünschenswerter unternehmerischer Erfolg zu erzielen ist. 180 Wie bedeutsam es für gelingende Intervention ist, Interessen und Bedürfnissen adäquat zu berücksichtigen, wird am Beispiel von Mediation später noch zu vertiefen sein (vgl. 3.2 Das Verfahren als Antwort auf anthropologische Bedürftigkeit im Konfliktfall). 181 Vgl. Josef Duss-von Werdt: homo mediator, 20f. Vermittlung ist nach Duss-von Werdt

Ressourcenorientierte Intervention als Angebot zur Gegensinnstiftung

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zahl und Vielfalt sozialer Organisationsformen, mit denen vermittelt werden soll, ließe sich beliebig erweitern. Zu ihnen gehören »religiöse und profane Rituale, Zeremonien von Einweihung, Vergebung, Inszenierungen von Gerichtsprozessen, Strafe, Buße, Kampfspiele wie Turniere, Olympische Wettkämpfe, Fußballmeisterschaften«182. Sie alle haben als gemeinsames Merkmal, dass sie einen Rahmen schaffen, innerhalb dessen Menschen Differenzen in Bezug auf mindestens ein Merkmal eines gemeinsamen Fokus austragen und bereinigen können. Dazu ist es notwendig, »feststehende Regeln« anzuerkennen und die Verfahrensautorität an eine dritte, von allen Beteiligten »autorisierte Instanz« zu delegieren. Hiermit sind die Grundvoraussetzungen für Konfliktinterventionsmaßnahmen benannt. Sie zielen darauf ab, Strategien zur Selbstorientierung anzubieten, wodurch die Beteiligten ihre eigene Handlungsfähigkeit dadurch zurückerlangen können, dass ein situations- und personenangemessener Weg gefunden wird, um eine konfliktträchtige Ausgangssituation zu verändern. Dazu müssen konfliktursächliche Faktoren diagnostiziert und offengelegt werden, um sie anschließend konstruktiv kurativ nutzen zu können. Nur dann kann sinnvoll über eine in sich stimmige, konfliktregulierende und -organisierende Lösung entschieden werden. Je konsistenter dabei sichergestellt ist, dass alle wesentlichen Dimensionen des Problems bearbeitet werden, als desto tragfähiger wird sich das vereinbarte Endergebnis erweisen. Wenn wichtige Aspekte außer Acht gelassen werden, entstehen Inkonsistenzen, die gravierende Negativfolgen nach sich ziehen können. Lückenhaft vorbereitete Umsetzungspläne von Lösungen bieten Angriffsflächen für Außenstehende, wodurch es gefährdet ist, dass sich ein Konflikt tatsächlich langfristig regulieren lässt.183 Während über eine Konfliktlösung innerhalb eines geschützten Interventionsrahmens entschieden wird, hat sich die Lösung anschließend im konfligierenden Umfeld zu bewähren. Es entsteht also ein Bruch, auf den die Beteiligten gut vorbereitet werden müssen. Bevor sich die Stabilität einer Lösung allerdings im Außen zu bewähren hat, nicht in erster Linie »Konfliktlösung«, sondern »Lösung eines Problems« (vgl. a. a. O., 183). Eine Lösung – hier als »Auflösung« verstanden – würde bedeuten, dass der die Parteien voneinander trennende Faktor vollständig behoben wäre. Dafür müsste derjenige Zustand bestmöglich rekonstruiert werden, der vor dem Eintreten der destruktiven Situation bestand. Aufgrund der zeitlichen Irreversibilität und der Veränderungen, die zwischenzeitlich eingetreten sind, ist dies unmöglich. Von »Konfliktlösung« kann dieser Auffassung nach nur in denjenigen Einzelfällen gesprochen werden, in denen etwa getrennte Partner in Privat- oder Berufsleben wieder eine dem ursprünglichen Status entsprechende Verbindung zueinander eingehen. Häufiger dienen Vermittlungsversuche aber dazu, Missverständnisse auszuräumen und dadurch Potenziale hinsichtlich (neuartiger) zukünftiger Gestaltungsmöglichkeiten freizulegen. Eine Weiterentwicklung dieser Art kann auch auf einer Trennungsbasis erfolgen. 182 A. a. O., 21. 183 Vgl. Gerhard Schwarz: Konfliktmanagement, 20.

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Der Konflikt als Phänomen zwischen Destruktivität und Konstruktivität

müssen die Hindernisse, die sich während des Interventionsprozesses ergeben, erfolgreich überwunden werden. Dazu gehören insbesondere unterschiedliche Konfliktdilemmata, die sich aus der beschriebenen Eigendynamik von Konflikten ergeben.184 Die Konfliktbeteiligten können beispielsweise einseitig oder gegenseitig voneinander abhängig sein. Dadurch ist es wahrscheinlicher, dass sie aufgrund ihres Abhängigkeitsverhältnisses weniger frei miteinander umgehen (»Abhängigkeitsdilemma«). Verhaltensunsicherheiten und Zurückhaltungen ergeben sich aber auch und insbesondere durch die anhaltende Konfliktsituation selbst. Die Parteien haben sich innerhalb des Konflikts angeeignet, sich gegenseitig zu misstrauen und infolgedessen strategisch vorzugehen. Weil nur dort interveniert werden kann, wo die dafür notwendigen Informationen ausgetauscht werden, bedarf es einer kommunikativen und emotionalen Offenheit, die dem angeeigneten Konfliktverhalten widerspricht (»Informationsdilemma«). In vielen Fällen müssen sich die Konfliktbeteiligten deshalb überwinden, Informationen preiszugeben, auf Grundlage derer sich eigene und fremde Bedürfnisse und Interessen ergründen und für eine konsensuale Ergebnisfindung miteinander in Beziehung setzen lassen. Damit ist ein fortwährender Prozess des Entscheidens verbunden, weil wiederholt überprüft werden muss, inwieweit Konzessionen gesichtswahrend und sachdienlich erfolgen können (»Druckdilemma«). Sich demgemäß konstruktiv in Verhandlungen einzubringen, gelingt dann, wenn die Machtverhältnisse zwischen den Parteien ausgeglichen sind. Im Konflikt streben Beteiligte jedoch danach, dem anderen möglichst überlegen zu sein und versuchen deshalb auch in Verhandlungen das Machtmonopol zu bewahren. Um das gemeinsame Konfliktregulationsvorhaben nicht zu gefährden, muss zugleich sichergestellt sein, dass das Gegenüber nicht das Interesse an der Verhandlung verliert (»Machtsymmetrie«). Für Geschehnisse und Prozesse während des Interventionsprozesses wird in der Regel Vertraulichkeit vereinbart. Das Ergebnis wird hingegen so weit veröffentlicht, dass zumindest das konfliktnahe soziale Umfeld vom Verhandlungsabschluss erfährt. Spätestens dann kann es auch zu kritischen Anfragen durch die eigene »Hintermannschaft« kommen, denen standgehalten werden muss. Dies gilt in besonderer Weise für diejenigen Fälle, in denen Interventionsbeteiligte als Delegierte für größere Interessengruppen fungieren. Sie stehen gegenüber denen, die sie zu vertreten haben, in der Rechenschaftspflicht. In beiden Fälle verhandeln die beteiligten Personen persönlich interessengeleitet und versuchen sich zugleich ihrer eigenen sozialen Bindungen bewusst zu bleiben, d. h. sich ihrer Hintermannschaft gegenüber loyal zu verhalten (»Beziehung zur Hintermannschaft«).185 184 Vgl. 2.2 Die Eskalationsdynamik in Konflikten. 185 Friedrich Glasl gibt eine Kurzübersicht zu den dargestellten Verhandlungsdilemmata nach Willem Frans Gerard Mastenbroeck (vgl. ders.: Konfliktmanagement, 419f.; Original-

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Die Konfliktdilemmata ergeben sich, weil sich das konfliktverhaftete Denken und Verhalten, das sich eskalationsdynamisch ausgeprägt hat, beim Versuch zu intervenieren auf den Wunsch trifft, dass sich der Konflikt zufriedenstellend beheben lässt. Im Selbsterleben ergibt sich dann eine innere Zerrissenheit, die den Beteiligten tatsächlich abverlangt, sich für oder gegen konflikterhaltendes Handeln zu entscheiden. Dementsprechend hängt es entscheidend vom Willen des Einzelnen ab, wie sehr dieser sich der Interventionsmaßnahme zuträglich verhält, womit auch zusammenhängt, wie tragfähig eine Lösung ist, die am Ende dieses Prozesses steht. Die Beteiligten müssen also solchermaßen für eine Konfliktregulationsentscheidung gewonnen werden, dass sie ihre Selbstbestimmungskraft konsequent vereinbarungsgemäß einsetzen.186 Je stärker die Entschlossenheit der Beteiligten, sich deeskalierend und schließlich im Sinne der Konfliktlösung zu verhalten, desto eher können sie sich gegen Widrigkeiten während und im Anschluss an die Interventionsmaßnahme verwehren. Die Voraussetzungen, die dafür zu gewährleisten sind, müssen verschiedene Faktoren berücksichtigen. Sie sollen hier unter drei Beziehungsarten zusammengefasst werden: Die Beziehung des Einzelnen zu sich selbst (Selbstbeziehung), zu den anderen Konfliktbeteiligten (Fremdbeziehung) und zur Lösung (Ergebnisbeziehung). Die Selbstbeziehung des Menschen ist ein Indikator für seine Selbstbewusstheit. Sie bezieht sich auf den Kontakt des Menschen zu sich selbst. In ihr drückt sich aus, wie sehr er dazu in der Lage ist, mit seiner wesenhaften Konfliktträchtigkeit im Spannungsfeld von eigenen Bedürfnissen und Interessen sowie Einflüssen der (sozialen) Umwelt intrapersonal regulierend umzugehen. In der Fremdbeziehung konkretisiert sich die Selbstbeziehung in Bezug auf ein Außen. Das heißt, dass sich der beschriebene Zusammenhang von Intra- und Interpersonalität187 in der Art der Beziehung zwischen den Konfliktbeteiligten ausdrückt. Die Ergebnisbeziehung weist aus, wie individuell bedeutsam die entwickelte Lösung ist und wie konsistent sie sich in das Selbstkonzept einer Person integrieren lässt. Alle drei Beziehungen müssen so geschärft, gekräftigt und aufeinander bezogen werden, dass sie in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen und die positive Gegensinnstiftung der Intervention in einer tragfähigen Lösung quelle: W. F. G. Mastenbroeck: De grote verworvenheid die onderhandelen heet. In: Personeelsbeleid, vol. 14, 1978, nr. 11, pp. 584–589 [Literaturangabe nach Friedrich Glasl: Konfliktmanagement, 419]). 186 Um Konfliktbeteiligte konsequent für nachhaltiges deeskalierendes Verhalten zu gewinnen, müssen die Konfliktdilemmata in Interventionsmaßnahmen unter prozessführenden Gesichtspunkten adäquat berücksichtigt werden. Angemessen auf sie zu reagieren, obliegt im Falle von Mediation dem Mediator, der seine Mediationskompetenz im Rahmen der Struktur der Mediation situationsgemäß einsetzt (vgl. 4.1 Die Verfahrensverantwortung als Implikat der Mediatorenrolle). 187 Vgl. 2.3 Zur Korrelation von intrapersonalen und interpersonalen Konflikten.

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Der Konflikt als Phänomen zwischen Destruktivität und Konstruktivität

aufgeht. Was Ausgewogenheit bedeutet, lässt sich nicht pauschal beantworten, sondern unterliegt der subjektiven Bewertung desjenigen, der Ausgewogenheit in Bezug auf die gegebene Situation für sich bestimmt. Nach außen hin ist die Tragfähigkeit der Lösung ein Indikator dafür, ob die Beziehungen in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen. Die Stabilität des Beziehungsgeflechts verhält sich proportional zur Stabilität des Gesamtprozesses der Konfliktregulation. Dass die Beziehungen ausgeglichen sein sollen, bedeutet nicht, dass sie gleichwertig sind. Die Selbstbeziehung ist der Dreh- und Angelpunkt sowohl in Bezug auf das Konfliktverhalten – dies wurde anthropologisch begründet – als auch für Interventionsmaßnahmen jeder Art. Die Ausgleichsbestrebungen, die sich aus der wesenhaften Konfliktträchtigkeit des Menschen ergeben und sich über das beschriebene Beziehungsgefüge ausdrücken, werden in Interventionsmaßnahmen dafür genutzt, die negative Sinnstiftung des Konflikts in eine positive Gegensinnstiftung umzuformen. Dies gelingt dann, wenn situationsbezogener Sinn für die subjektiv konstruierte Wirklichkeit tatsächlich vorhanden ist bzw. hergestellt werden kann. Die entscheidende Bedeutung dieses Sinnbezugs lässt sich mit einer Bestimmung Karl Jaspers von dem Begriff »Situation« verdeutlichen. Er spricht von einer »Situation« als einer »Wirklichkeit für ein an ihr als Dasein interessiertes Subjekt, dem sie Einschränkung oder Spielraum bedeutet; andere Subjekte und deren Interessen, soziologische Machtverhältnisse, augenblickliche Kombinationen oder Gelegenheiten kommen in ihr zur Geltung. Situation heißt eine nicht nur naturgesetzliche, vielmehr eine sinnbezogene Wirklichkeit, die weder psychisch noch physisch, sondern beides zugleich als die konkrete Wirklichkeit ist, die für mein Dasein Vorteil oder Schaden, Chance oder Schranke bedeutet«188.

Auf den Konflikt übertragen und mit dem Ziel, ressourcenorientiert zu intervenieren, gilt es, die Beteiligten durch die Situation des Konflikts hindurch solchermaßen zu begleiten, dass sich die negative Sinnbezogenheit zugunsten einer positiven Gegensinnstiftung auflöst. Dann können konfliktbezogene Beschränkungen geöffnet werden, um chancenreiche Weiterentwicklung zu ermöglichen. Dies ereignet sich für den einzelnen Konfliktbeteiligten nur so weit, wie seine »sinnbezogene Wirklichkeit« miteinbezogen wird. Deshalb greifen Interventionsmaßnahmen auch nur in dem Maße, in dem sie diesen Sachverhalt im praktischen Vollzug berücksichtigen.189 188 Karl Jaspers: Philosophie, 201f. (H. i. O.). 189 Im Situationsbegriff von Karl Jaspers klingt die Mehrdimensionalität der »sinnbezogenen Wirklichkeit« an. Im Ergebnis dieser Untersuchung wird sich zeigen, dass mehrere Sinnebenen voneinander zu unterscheiden sind, die sich verschieden auf das Selbsterleben und infolgedessen auf das Handeln einer Person auswirken und deshalb auch für Interventionsmaßnahmen in unterschiedlichem Maße relevant sind (vgl. II. Zur Unterscheidung von vordergründiger und hintergründiger Sinnstruktur).

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Am Beispiel der Mediation soll im Folgenden konkretisiert werden, inwieweit und unter welchen verfahrenstechnischen Voraussetzungen vorteilhafter subjektiver Sinnbezug über ein Konfliktinterventionsverfahren hergestellt werden kann. Dazu gilt es zuerst zu klären, was unter Mediation zu verstehen ist. Zugunsten einer zweckdienlichen Reduktion auf wesentliche Definitionsmerkmale wird darauf verzichtet, die Begriffsbestimmungen engmaschig zu vergleichen und detailliert zu diskutieren. Stattdessen gilt es, exemplarisch aufzuzeigen, wie unterschiedliche Mediationsaspekte definitorisch hervorgehoben werden und worin sich Mediationsverständnisse dadurch voneinander unterscheiden. Es wird ein Zugang gewählt, der Erwägungen zur konkreten Durchführung von Mediation mit einschließt. Dies dient erstens dazu, die Interventionsmaßnahme in Hinblick auf ihre Praxisbezogenheit und -relevanz zu würdigen. Zweitens scheinen in den Mediationstheorien selbst anthropologische, ethische und religiöse Motive auf, die von hierher begründet philosophisch und theologisch reflexiv vertieft werden können. Dadurch wird der Gefahr entgegengewirkt, durch einen deduktiven Zugang Mediationsfremdes in das Verfahren hineinzudeuten.

3

Mediation als ressourcenorientiertes Interventionsverfahren

3.1

Zur Definition von Mediation

Eine Überprüfung der Definition von Mediation in der Literatur zeigt, dass der Begriff eine große Bandbreite umfasst. In diesem Zusammenhang spricht Glasl gar von einem »Containerbegriff«190. Ebenso wie er es für den Konfliktbegriff als sozialwissenschaftlichen Gegenstand beschreibt, gilt auch für Mediation, dass sich das vorfindbare Spektrum ergibt, weil »allgemein akzeptierte Meta-Begriffe noch fehlen«191. Zudem ist zu vermuten, dass sich die Vielfalt der Begriffsbestimmungen mit den unterschiedlich gelagerten Interessenstendenzen in Theorie und Praxis begründen lässt. Konflikte zeigen sich in sämtlichen Bereichen des sozialen Lebens. Weil sich Mediationen auch dort durchführen lassen, wo Konflikte auftreten und gewaltfrei gelöst werden wollen, sind die Einsatzmöglichkeiten entsprechend vielfältig. Mediation wird beispielsweise erfolgreich in Kontexten von Ehe und Familie angewendet, bei Miet-, Nachbarschaftsund Stadtteilfragen, im Bildungssystem – also in Schulen, Hochschulen und Universitäten –, zu Fragen des Umweltschutzes sowie in Angelegenheiten von Wirtschaft, Politik und Justiz. Die Aufzählung ließe sich noch um andere Gesellschaftsbereiche erweitern, wobei auch die Anzahl der Konfliktbeteiligten zwischen zwei Personen und ganzen Bevölkerungsgruppen, wie im Falle von politischen (internationalen) Konflikten, variiert.192 Das Verfahren Mediation muss dem jeweiligen Einsatzgebiet und den Gegebenheiten des Einzelfalls solchermaßen angepasst werden, dass sich bestmögliche Umstände ergeben, um den Konflikt konstruktiv regulieren zu können. Demgemäß ist es notwendig, Mediationen beispielsweise in wirtschaftlichen Kontexten anders aufzustellen als solche zwischen Jugendlichen in Schulzu190 Friedrich Glasl: Konfliktmanagement, 395. 191 A. a. O., 14. 192 Christoph Besemer veranschaulicht die unterschiedlichen Einsatzbereiche für Mediation überblicksartig und gibt konkrete Beispiele für die jeweiligen Vermittlungsfelder (vgl. ders.: Mediation, 50).

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Mediation als ressourcenorientiertes Interventionsverfahren

sammenhängen oder etwa in psychosozial sensiblen Familienangelegenheiten. Die diesem Ziel dienende Flexibilität des Verfahrens bringt die Definition von Anita von Hertel dadurch treffend zum Ausdruck, dass sie die Kompetenzen, die innerhalb von Mediationen eingesetzt werden, zusammenfassend als »Mediationskompetenz« beschreibt. Indem sie diese Kompetenzen inhaltlich nicht weiter spezifiziert, können im Sinne dieser Begriffsbestimmung sehr unterschiedliche Fertigkeiten darunter gefasst werden. Dies gilt, sofern diese dahin gehend dienstbar gemacht werden, Mediation als »ein strukturiertes Verfahren [durchzuführen], in welchem ein Dritter ohne Entscheidungskompetenz Konfliktparteien darin unterstützt, eine neue Win-Win-Lösung zu finden«193. Die Verschiedenheit der Einsatzgebiete von Mediation sowie die Ausbildungsstandards für Mediatoren194 führen zudem dazu, dass Mediationen von Vertretern sehr unterschiedlicher Herkunftsberufe durchgeführt werden. Durch diese Professionsvielfalt bedingt tragen sich wiederum mannigfaltige Kompetenzen in Mediationsverläufe ein.195 Dadurch entsteht eine Offenheit, die mit gutem Grund gewahrt werden sollte. Sich begründet am Einzelfall zu orientieren, ist nämlich unerlässlich, um zu tragfähigen einvernehmlichen Lösungen zu gelangen, die die Konfliktbeteiligten selbst erarbeiten. In Mediationen regeln die Betroffenen »ihren Streit selbst, ohne die Kompetenz in ihren eigenen Angelegenheiten an außen stehende Instanzen zu delegieren. Mit der gefundenen Regelung sind sie besser identifiziert, es gibt weniger Probleme mit der Akzeptanz und der Umsetzung der Ergebnisse.«196 Den Konfliktbeteiligten muss also der Raum gelassen werden, um sich nach eigenen Maßgaben zu orientieren und Entscheidungen vorzubereiten. Die Definitionsvielfalt ergibt sich nun einerseits dadurch, dass der solchermaßen anpassbare praktische Nutzen des Verfahrens für unterschiedliche Einsatzgebiete auch verschiedene Schwerpunktsetzungen erfordert, die sich in Begriffsbestimmungen eintragen.197 Auf der anderen Seite 193 Beide Zitate Anita von Hertel: Professionelle Konfliktlösung, 11. 194 Mediationsausbildungen sind Weiterbildungen, die häufig in berufsbegleitender Form angeboten werden. Die durch die Verbände zertifizierfähigen Ausbildungen sind so konzipiert, dass sie nicht auf bestimmte Berufsgruppen hin festgelegt sind, sondern Menschen aus unterschiedlichen Herkunftsberufen offenstehen. Die Kriterien für eine Zertifizierung stehen mit den Schwerpunktsetzungen der Aus- und Weiterbildung zum Mediator in Zusammenhang und orientieren sich an den späteren Einsatzgebieten (z. B. Familienmediation, Wirtschaftsmediation etc.). Als Beispiel können die Standards und Ausbildungsrichtlinien des BM dienen (vgl. http://www.bmev.de/index.php?id=standards). 195 Inwieweit der Mediator den Verfahrensverlauf professionell und persönlich prägt, wird an späterer Stelle gesondert betrachtet (vgl. 4.1 Die Verfahrensverantwortung als Implikat der Mediatorenrolle; 4.2 Zur Bedeutung der Mediatorenpersönlichkeit). 196 Gerhard Falk u. a.: Handbuch für Mediation und Konfliktmanagement, 9. 197 Dies gilt streng genommen nicht nur für Begriffsbestimmungen, sondern bezieht sich auch auf unterschiedliche Arten von Mediation. Die einzelnen Ausprägungen sollen hier nicht weiter vertieft werden. Sie setzten zwar verschiedene durchführungspraktische Schwer-

Zur Definition von Mediation

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führt das theoretische Durchdenken des Verfahrens dazu, dass Definitionen von der Ebene der reinen Praktikabilität fortweisen und dadurch beispielsweise philosophisch ethische Komponenten stärker berücksichtigen. Diese Deutungen stellen dann darauf ab, dass Mediation »nicht bloße Technik«198 ist. Solchermaßen verstanden lässt sie sich auch als »Ansatz«199 oder »Standpunkt«200 beschreiben. Verschiedenartige Definitionstendenzen weisen deshalb auf differenzierte und differenzierbare Grundannahmen ethischer, anthropologischer und philosophischer Art hin, die unterschiedlich stark explizit gemacht und gewichtet werden. Entgegen der Auffassung, es handle sich deshalb um einen »Containerbegriff«, mit dem assoziiert werden kann, dass Mediation als Sammelbegriff willkürlich und inflationär verwendet wird, kann daran auch ein wesentliches Merkmal von Mediation aufgezeigt werden: Mediation weist eine konzeptimmanente Adaptivität auf, die sich in der Vielfalt der Definitionsversuche widerspiegelt. Unter konzeptimmanenter Adaptivität soll hier verstanden werden, Verfahrensvorgaben zu folgen, die Prozesse der Konfliktregulation strukturieren, und zugleich im höchstmöglichen Maße einzelfallorientiert vorzugehen. Dadurch entstehen Synergieeffekte, die das Verfahren als ein Raum zwischenmenschlicher kommunikativer Begegnung verlebendigen und Konfliktbeteiligte dahin gehend unterstützen, sich mit dem Vorgang der Konfliktregulation und der sich daraus entwickelten Lösung stärker zu identifizieren. Im Überblick über gängige Beschreibungen von Mediation wird ersichtlich, dass sich vornehmlich vier Dimensionen von Mediation feststellen lassen: Verfahren, Mediator201, Medianten202, Lösung. Über sie drücken sich die ethi-

198 199 200 201 202

punkte, unterscheiden sich aber nur nuanciert hinsichtlich der Grundannahmen, die hier zu untersuchen sind. Deswegen können sie allgemein unter den Begriff »Mediation« zusammengefasst werden. Zur Vertiefung unterschiedlicher Mediationsmodelle vgl. beispielhaft Anita von Hertel: Professionelle Konfliktlösung, 243–252; Friedrich Glasl: Konfliktmanagement, 395f. Axel Mecke: Die Sprache in der Mediation, 329. Reiner Bastine: Konflikte klären, Probleme lösen, 14. Josef Duss-von Werdt: homo mediator, 149. Mediationen können von Einzelpersonen oder Mediatorenteams durchgeführt werden. Die hier gewählte Einzahl umfasst alle Kombinationsmöglichkeiten. Die Schreibweisen »Mediant« und »Mediand« finden sich in der Literatur gleichermaßen. Die Endung »-andus« beinhaltet, dass etwas mit jemandem geschehen soll, während die Endung »-antis« die eigene Handlungsinitiative der bezeichneten Person stärker in den Blick nimmt. Es soll hier letztere Schreibweise verwendet werden, um die Inhaltsverantwortung der Parteien (vgl. 4.3 Die Inhaltsverantwortung als Implikat der Mediantenrolle), nämlich ihre Eigenverantwortung für die Konfliktregulation, terminologisch zu ankern. Die Begriffe »Mediant«, »Partner« und »Partei« werden im Folgenden synonym verwendet. Dabei kann es sich sowohl um Einzelpersonen handeln als auch um die Vertreter bestimmter Interessengruppen, beispielsweise Delegierte in Großgruppenmediationen oder Vertreter in Unternehmenskontexten. Alle drei Begriffe beziehen sich auf die »Teilnehmenden« an einer Mediation – der Mediator gehört nicht zu den Teilnehmenden, sondern zu den »Beteiligten« (er ist ein Mediationsbeteiligter, aber kein Konfliktbeteiligter). Die

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schen Grundsätze203 von Mediation implizit und explizit aus. Die Begriffsbestimmungen unterscheiden sich darin, wie differenziert sie die einzelnen Dimensionen von Mediation kennzeichnen und dabei ethische Implikationen mitberücksichtigen. Einzelaspekte werden also unterschiedlich gewichtet, wodurch sich inhaltliche Schwerpunktsetzungen ergeben, um Mediation zu beschreiben. Definitionsbeispiele werden im Folgenden orientiert an den vier Mediationsdimensionen eingeordnet. Ihren jeweiligen Bezugsrahmen zu berücksichtigen, hilft dabei, Vermutungen über Gründe für jeweilige Schwerpunktsetzungen anzustellen. Es lassen sich einige Beispiele für juristisch und wirtschaftlich kontextualisierte Begriffsbestimmungen anführen, die die Verfahrensdimension von Mediation hervorheben. Im Abschlussbericht des Projekts Gerichtsnahe Mediation in Niedersachsen Februar 2005 etwa wird Mediation abgrenzend zum Gerichtsverfahren als »alternatives Streitbeilegungsverfahren«204 beschrieben. Ähnliches gilt für die Definition von Reiner Ponschab, die Mediation als »informelles Verfahrens« ausweist, das – im juristischen Sprachduktus bleibend – »die Verhandlung zwischen Parteien fördert«205. Mediation wird dadurch etwa gegenüber psychosozialen Zusammenhängen abgegrenzt. Die Fachkompetenz für juristische wie für wirtschaftliche Kontexte wird mit dem Hinweis begründet, dass Mediation einer Struktur folgt206, die zukunftsorientierte Verhandlungen begünstigt und die Möglichkeit einer »schriftlichen, verbindlichen Vereinbarung«207 anbietet. Dadurch erhöht sich die Legitimität des

203

204 205 206 207

begriffsimmanenten Unterschiede bilden – synonym und ergänzend verwendet – die Mannigfaltigkeit der Mediantenrolle ab. Der Begriff »Mediant« konnotiert in neutraler Weise den Teilnehmenden an einer Mediation, der Begriff »Partner« nimmt in den Blick, dass sich die Teilnehmenden aufeinander beziehen und stellt das gemeinsame Interesse am Mediationsgegenstand heraus. Der Begriff »Partei« bezieht sich insbesondere auf die Unterschiede, die trennend wirken und Reibung verursachen. In der Mediation sind alle drei der hier angeführten Prägungen in stets variierendem Ausmaß präsent und es ist dem Vorgehen zu eigen, vielfältige Faktoren – wie auch die neutrale Teilnahme, die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede – so auszubalancieren, dass Konfliktbearbeitung möglich ist. Zu ethischen Grundsätzen, die der BM hinsichtlich »Menschenbild«, »Verantwortung«, »geschützter Rahmen«, »Allparteilichkeit und Fairness«, »Offenheit«, »Einführung und Ermutigung der Konfliktparteien«, »Vertraulichkeit und Vertrauen«, »Freiwilligkeit«, »eigenes Verhalten im Konflikt« und »Professionalität« aufstellt, sind nachzulesen unter : http://www.bmev.de/index.php?id=ethik. Niedersächsisches Justizministerium u. a.: Projekt Gerichtsnahe Mediation, 1. Beide Zitate Reiner Ponschab: Was ist Ihr Interesse?, 196. Vgl. Anita von Hertel: Professionelle Konfliktlösung, 11. Der BMWA stellt folgende Definition auf: »Mediation ist eine außergerichtliche Form der Konfliktbearbeitung. Ihr Ziel ist es, in einem Konflikt eine für alle Seiten vorteilhafte Regelung zu finden. Eine neutrale, speziell ausgebildete Vermittlungsperson – der Mediator/die Mediatorin – unterstützt die Parteien bei der Entwicklung dieser Lösung. Er/sie strukturiert die Verhandlungen insbesondere auf eine zukunftsorientierte Lösung hin.

Zur Definition von Mediation

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Verfahrens für Zusammenhänge, in denen augenscheinlich weniger die persönlichen Belange von Menschen im Vordergrund stehen, sondern eher sachbezogene Verhandlungsanliegen. Demgemäß verlagert sich in psychologisch orientierter Literatur der Fokus von den sachorientierten Tendenzen hin zu einer deutlicheren Personorientierung: »Mediation lässt sich definieren als ein selbstbestimmter und kooperativer Ansatz, in dem zwei (oder mehrere) Konfliktpartner aktiv und in unmittelbarem Kontakt miteinander konkrete Lösungen für ihre gegenseitigen Interessen und Bedürfnisse entwickeln. Unterstützt werden sie dabei von einem oder mehreren Mediatoren, die als neutrale Personen vermittelnde Funktion übernehmen.«208

Wie in dieser Definition wird die Rolle des Mediators häufig als neutral209 oder vermittelnd210 beschrieben. Als »unparteiische[r] Dritte[r]«211 steht er außerhalb des Konfliktgeschehens und kann darin »unterstützen«212 oder »helfen«213, Einigungen zu erzielen. Für die Dimension des Mediators lassen sich ähnliche Tendenzen wie für das Verfahren feststellen. Der Bundesverband Mediation in Wirtschaft und Arbeitswelt e. V. (BMWA) nimmt in die Definition auf, dass es sich beim Mediator um eine »neutrale, speziell ausgebildete Vermittlungsperson«214 handelt. Die juristisch geprägte und wirtschaftsnahe Literatur weist zudem darauf hin, dass sich die Mediatorenrolle dadurch auszeichnet, abseits von »Entscheidungskompetenz bzw. -macht«215 ausgeführt zu werden. Kompetenzbereiche werden dadurch klar voneinander abgegrenzt. Der Mediator ist ausschließlich dafür zuständig, das Verfahren sachkompetent durchzuführen. Es schwingt also mit, dass die Fachkompetenz der Konfliktbeteiligten in Bezug auf die jeweiligen Verhandlungsinhalte unangetastet bleibt, denn »Mediatorinnen und Mediatoren handeln allparteilich, sind frei von Kontextverantwortung und verfügen über ein professionelles Konfliktverständnis«. Demgemäß lässt sich Mediation als eine »hochwertige Dienst-

208 209 210 211 212 213 214 215

Inhaltlich trifft er/sie jedoch keine Entscheidungen. Eine Mediation kann mit einer schriftlichen, verbindlichen Vereinbarung abgeschlossen werden« (http://www.bmwadeutschland.de/index.php/de/was+ist+mediation.html). Reiner Bastine: Konflikte klären, Probleme lösen, 14. Vgl. Reiner Ponschab: Was ist Ihr Interesse?, 196; vgl. BMWA: http://www.bmwadeutschland.de/index.php/de/was+ist+mediation.html. Vgl. Christoph Besemer : Mediation, 14. Ebd. Vgl. Reiner Bastine: Konflikte klären, Probleme lösen, 14. Vgl. Christoph Besemer : Mediation, 14. BMWA: http://www.bmwa-deutschland.de/index.php/de/was+ist+mediation.html. Vgl. Anita von Hertel: Professionelle Konfliktlösung, 11; Niedersächsisches Justizministerium u. a.: Projekt Gerichtsnahe Mediation, 2; Reiner Ponschab: Was ist Ihr Interesse?, 196; BMWA: http://www.bmwa-deutschland.de/index.php/de/was+ist+media tion.html.

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Mediation als ressourcenorientiertes Interventionsverfahren

leistung«216 beschreiben, die das inhaltskompetente Vorgehen der Konfliktbeteiligten effizienzerhöhend anleiten kann. Ein Definitionsbeispiel für eine explizite Mediantenorientierung bietet die Definition von Nadja Alexander et al.: »Mediation dient den Beteiligten eines Konflikts dazu, gemeinsam möglichst interessengerechte und wertschöpfende Ergebnisse zu erarbeiten.«217 Statt Mediation strukturell oder inhaltlich vertiefend zu beschreiben, wird der Faktor des gemeinsamen Vorgehens hervorgehoben.218 Die Kooperation der Beteiligten vollzieht sich »aktiv und in unmittelbarem Kontakt«219 in Hinblick auf ein allen Seiten dienliches Ergebnis. Medianten- und Lösungsorientierung greifen in den Begriffsbestimmungen deshalb häufig besonders stark ineinander. Die Lösungen sollen wertschöpfend und einvernehmlich sein220, sie sollen den Interessen221 und Bedürfnissen222 der Konfliktbeteiligten entsprechen und dadurch eine »für alle Seiten vorteilhafte Regelung«223, eine Win-Win-Situation224, erzeugen. Die Selbstbestimmtheit bzw. Selbstverantwortung der Medianten, die in Beschreibungen dieser Art nur implizit zum Ausdruck kommt, wird in psychosozialnahen Zusammenhängen auch explizit genannt.225 Sie ist ein Beispiel dafür, dass insbesondere dort wertbezogene Überlegungen im Hintergrund stehen, wo versucht wird, den Hergang zwischen den Medianten bezugnehmend auf die konsensuale Lösung zu beschreiben. Dies deutet darauf hin, dass die Funktionalität des Mediationsverfahrens von bestimmten normethischen Implikationen abhängt. Es wird ein Menschenbild226 zugrunde gelegt, das die Selbstbestimmtheit des Menschen voraussetzt und darüber hinaus annimmt, dass der Mensch seine Selbstbestimmungskraft auf ein soziales Anforderungsprofil hin ausrichten kann, nämlich auf das der Konfliktregulation. Wenn Fähigkeit und Willigkeit 216 217 218 219 220 221 222 223 224 225

226

Beide Zitate http://www.bmev.de/index.php?id=definition-mediation0. Nadja Alexander u. a.: Mediation, Schlichtung, Verhandlungsmanagement, 73. Vgl. Reiner Ponschab: Was ist Ihr Interesse?, 196. Reiner Bastine: Konflikte klären, Probleme lösen, 14. Vgl. Christoph Besemer : Mediation, 14. Vgl. Niedersächsisches Justizministerium u. a.: Projekt Gerichtsnahe Mediation, 2; Reiner Ponschab: Was ist Ihr Interesse?, 196; Reiner Bastine: Konflikte klären, Probleme lösen, 14. Vgl. ebd. BM: http://www.bmev.de/index.php?id=definition-mediation0. Vgl. BM: http://www.bmev.de/index.php?id=definition-mediation0; Anita von Hertel: Professionelle Konfliktlösung, 11. Ein Beispiel dafür, die Selbstbestimmtheit der Konfliktbeteiligten konkret zu benennen, bietet die BAFM: »Mediation ist ein Verfahren, um Konflikte selbstverantwortlich mithilfe eines neutralen Dritten, des Mediators oder der Mediatorin, zu regeln. Sie selbst bestimmen, über welche Themen Sie sprechen möchten und welche Probleme Sie für die Zukunft regeln wollen« (http://www.bafm-mediation.de/hauptfragen/die_haeufigsten_ fragen/; [H. i. O.]); s. a. Reiner Bastine : Konflikte klären, Probleme lösen, 14. Vgl. 4.5 Die Zentralstellung des Menschen in der Mediation.

Zur Definition von Mediation

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zusammenkommen, sich die anthropologische Grundannahme also in eine ethische Anforderung ergießt, kommt es zu kooperativem Handeln. Kooperation stellt dann Gewaltfreiheit227 sicher, die zu den Grundsätzen von Mediation228 zählt. Anhand des Beispiels der Selbstbestimmung scheint die weltanschauliche Seite von Mediation durch, die sich ganz praktisch in mediatives Handeln einträgt. Allerdings schwingt diese Seite von Mediation in den Begriffsbestimmungen zumeist nur implizit mit. Eine Ausnahme bildet die Beschreibung von Duss-von Werdt, der Mediation als einen »Standpunkt neben vielen anderen [charakterisiert]. Sie sieht die Welt aus einer eigenen Perspektive.«229 Der mediative Standpunkt erkennt die Simultaneität unterschiedlicher Wahrheiten an. Damit ist die Vorstellung verbunden, dass menschliches Denken, Wahrnehmen und Handeln von dem Voraussetzungsreichtum des individuellen Selbstseins her bestimmt ist. Jede Selbstaussage des Menschen steht deshalb im Kontext seiner persönlichen Selbstbeschreibung. Duss-von Werdt geht also von der Grundannahme aus, »voraussetzungslos zu erfahren, zu erkennen und zu denken sei menschenunmöglich […]. Jeder ist der Bezugspunkt seiner eigenen Erfahrung und Sichtweise«230. Die konzeptimmanente Adaptivität, auf die zu Beginn hingewiesen wurde, ist deshalb nicht nur eine Antwort auf Kontext- und Einzelfallabhängigkeit von Konflikten. In ihr zeigt sich auf der Verfahrensebene, wie mit unterschiedlichen Wahrheitsverständnissen umzugehen ist, die sich in persönlichen Vorannahmen ausdrücken und über die es sich zu verständigen gilt, um gegenseitiges Verständnis zu erwirken. Damit richtet sie sich an der »sinnbezogenen Wirklichkeit« des Einzelnen aus, die später auch mit dem Begriff der »plausiblen Intention«231 beschrieben wird. Am Ende dieser Orientierung über Begriffsbestimmungen von Mediation steht die Feststellung, dass es eine Vielzahl von Merkmalen gibt. Sie unterschiedlich zu gewichten, führt dazu, verschiedene Seiten von Mediation hervorzuheben. Die gängigen Merkmale zusammenzuführen, mündet in folgendem 227 »Gewaltfreiheit« wird hier angenommen als Verzicht darauf, physische Gewalt anzuwenden. Mediation findet nur dann statt, wenn sich alle Teilnehmenden darauf einigen, diese Form des Gewaltverzichts zu gewährleisten. Dies erfolgt entweder informell dadurch, dass Menschen vor ihrer freiwilligen Teilnahme am Verfahren über die Grundsätze der Mediation aufgeklärt werden oder in Form von konkreten (schriftlichen) Vereinbarungen, denen alle Beteiligten zustimmen. Psychische Gewalt ist weniger konkret fassbar, wodurch sich Vereinbarungen über einen Gewaltverzicht auf dieser Ebene erschweren. Hier steht insbesondere der Mediator in der Pflicht wahrzunehmen, wo persönliche Grenzen angetastet oder überschritten werden und muss entsprechend eingreifen. 228 Vgl. 3.3 Verfahrensgrundsätze als Angebot zur Änderung von Verhalten. 229 Josef Duss-von Werdt: homo mediator, 149. 230 Ebd. 231 Zur »plausiblen Intention« und zum Wahrheitsverständnis in der Mediation vgl. 4.6 Die »plausible Intention«.

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Mediation als ressourcenorientiertes Interventionsverfahren

Versuch, Mediation zu beschreiben: Mediation ist ein Verfahren bzw. eine Methode zur Regulierung und Bearbeitung232 von Konflikten. Das Angebot zielt darauf ab, Konfliktbeteiligten einen strukturierten und strukturierenden Kommunikationsrahmen233 anzubieten, innerhalb dessen sie selbstbestimmt und zukunftsorientiert auf gewaltfreie und kooperative Weise eine einvernehmliche Lösung entwickeln können. Es wird also eine tragfähige Win-WinSituation angestrebt, die für alle Konfliktbeteiligten dadurch von Vorteil ist, dass sie die jeweiligen Interessen und Bedürfnisse so umfassend wie möglich berücksichtigt. Die Konfliktparteien tragen dabei selbst die Verantwortung dafür, dass die für sie bedeutsamen Inhalte adäquat bearbeitet werden und stellen sicher, ihre Entscheidungen informiert zu treffen. Eine dritte, dem Konflikt fernstehende, vermittelnde Person – der Mediator – übernimmt die Aufgabe, das Mediationsverfahren sachgerecht durchzuführen und dabei am Einzelfall orientiert zu bleiben. Sie strukturiert und begleitet den Prozess, ohne dabei über inhaltliche Entscheidungskompetenz zu verfügen. Diese Beschreibung bildet ab, was gemeinhin unter Mediation zu fassen ist. Sie leistet es noch nicht, die anthropologischen und ethischen Implikationen des Verfahrens ausreichend zu benennen.234 Deswegen dient sie lediglich als Ausgangspunkt für diesbezüglich vertiefende Überlegungen. Die methodische Vorentscheidung für einen induktiven Zugang setzt voraus, Mediation als praktisches Verfahren zunächst zu durchdringen, bevor sie von hierher begründet philosophisch und theologisch reflektiert werden kann. Vor diesem Hintergrund sind im Folgenden zunächst weitere Klärungen vorzunehmen, die die unterschiedlichen Dimensionen von Mediation inhaltlich präzisieren und dabei den Fokus auf den Gesamtduktus dieser Untersuchung halten. An die definitorische Einordnung anknüpfend, soll mit dem nächsten Schritt dargestellt werden, wie das Verfahren Mediation aufgebaut ist. Auf der Grundlage der dargelegten Eskalationsdynamiken und der anthropologischen Vororientierung zeigt sich, wie sich Aspekte zur Konfliktintervention in eine konkrete Struktur ergießen. Im Ergebnis wird festzustellen sein, dass und inwieweit Mediation eine Verfahrensantwort auf die konkrete Bedürfnislage des Menschen im Konflikt bietet. 232 »Bearbeitung« bezieht sich darauf, intrapersonale und interpersonale Konfliktzusammenhänge im für den Mediationskontext möglichen Maß – d. h. abgrenzend etwa zu einem psychotherapeutischen Vorgehen – kommunikativ aufzulösen. »Regulierung« zielt vornehmlich darauf ab, zu vereinbaren, wie mit der vorliegenden Situation in Zukunft umgegangen werden soll. Konfliktursachen können zwar, müssen dabei aber nicht aufgearbeitet werden. Im ersteren Fall mündet die Regulierung in eine Form von Bearbeitung. 233 Zur Struktur der Mediation vgl. 3.2 Das Verfahren als Antwort auf anthropologische Bedürftigkeit im Konfliktfall. 234 Die Begriffsbestimmung von Mediation wird an späterer Stelle ergänzt (vgl. 3.5 Mediation als »selbstverantworteter Konsensweg«).

Das Verfahren als Antwort auf anthropologische Bedürftigkeit im Konfliktfall

3.2

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Das Verfahren als Antwort auf anthropologische Bedürftigkeit im Konfliktfall

In der Literatur werden unterschiedliche Phasenmodelle235 für die Durchführung von Mediation empfohlen. Die einzelnen Hauptkomponenten des Verfahrens gleichen sich dabei in kontextgemäß modifizierter Form (z. B. Wirtschaft, Gericht, Familie, Schule etc.). Im Allgemeinen dient die Struktur der Mediation dazu, Transparenz und Sicherheit für alle am Verfahren Beteiligten herzustellen, um dadurch verbindlich und konstruktiv mit dem Konfliktfall umzugehen. Wie sehr ein Mediationsverfahren tatsächlich an der Struktur orientiert und wo von ihr abgewichen wird, obliegt dem Mediator. Dementsprechend gibt die Struktur die Richtung der Mediation vor, wobei das Gesamtvorgehen so weit flexibilisiert werden muss, dass eine sinnvolle Orientierung am Einzelfall gewährleistet bleibt.236 Im Folgenden werden zwei ausgewählte Phasenmodelle exemplarisch vorgestellt. Das Strukturmodell nach Christoph Besemer fungiert beispielhaft für einen Versuch, unterschiedliche Verfahrensweisen zusammenzuführen. Dadurch wird eine Reduktion auf die wichtigsten, miteinander übereinstimmenden Grundsätze unterschiedlicher Phasenmodelle erzielt.237 Sein Modell besteht aus sieben Phasen und kann für den deutschsprachigen Raum als Standard eingeordnet werden.238 Zum Modell Besemers soll ergänzend die ALPHA-

235 Die Phasemodelle unterscheiden sich neben unterschiedlichen inhaltlichen Schwerpunktsetzungen darin, dass die Anzahl der Phasen variiert und zwar zumeist zwischen fünf Phasen (vgl. Leo Montada u. a.: Mediation, 220–278) und sieben Phasen (vgl. Reiner Ponschab: Was ist Ihr Interesse?, 210–239). 236 Deswegen setzt sich in der Mediation, so beobachtet Friedrich Glasl, zunehmend »die Erkenntnis durch, dass ein Phasenmodell nur eine qualitative Orientierung geben kann, niemals aber eine Festlegung einer Schrittfolge sein darf« (ders.: Konfliktmanagement, 473). Mit Recht weist deshalb auch Axel Mecke darauf hin, dass es sich bei Mediation nicht um eine »bloße Technik« handelt. Die Struktur rahmt lediglich das konfliktregulierende zwischenmenschliche Vorgehen. Die dazu eingesetzten Kommunikationsstrategien speisen sich aus sehr unterschiedlichen Zusammenhängen, wie auch aus therapeutischen. Indem entsprechende Werkzeuge hinzugezogen werden, lassen sich Prozesse beschleunigen und der Hergang kann qualitativ aufgewertet werden. Dabei gilt stets zu überprüfen, welche Methoden legitim eingesetzt werden können und an welchen Stellen darauf verzichtet werden muss, um Zweckentfremdungen von Mediation entgegenzuwirken (vgl. ders.: Die Sprache in der Mediation, 329). 237 Vgl. Christoph Besemer : Mediation, 14–17. 238 Vgl. Friedrich Glasl: Konfliktmanagement, 473. Glasl weist darauf hin, dass diese Phasen für Supervisory Mediation, eine Art supervisorischer Begleitung von Konfliktpartnern, und Transformative Mediation, bei der der Mediator Empowerment und Anerkennung spendet, gelten. Beide Mediationsformen ähneln Moderation und Prozessberatung (vgl. ebd.).

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Mediation als ressourcenorientiertes Interventionsverfahren

Struktur hinzugezogen werden.239 Anita von Hertel zeigt darin die fünf Phasen der Mediation auf. Ihre Ausführungen beziehen sich über die Begleitung durch einen professionellen Mediator hinaus auch allgemein auf mediatives Handeln, das etwa von Führungskräften hilfreich eingesetzt werden kann, um mit ihren Mitarbeitern konfliktregulierend umzugehen. Vor dem Hintergrund ihrer Definition von Mediation, mit dem sie auf die Struktur verweist und zugleich breit angelegt von Mediationskompetenz spricht240, wird ihr Grundverständnis von der Struktur verständlich: Mediationskompetenz kann sich auch abseits des konkreten Konfliktregulationsverfahrens im Handeln von Menschen ausdrücken, indem sie ein Teil des Habitus geworden ist. Die Struktur der Mediation dient dann als ein »sicheres Gerüst«241 für mediatives Handeln in einer Vielzahl von Kontexten. Insofern fällt die Auswahl auf Besemers Modell, weil sich daran die standardisierten Phasen der Mediation aufzeigen lassen und auf von Hertels ALPHA-Struktur, weil sie einige Aspekte ergänzend berücksichtigt und Mediation zugleich von engmaschiger Strukturorientierung entbindet. Beide Modelle werden zuerst vorgestellt, um anschließend ausgewählte Hauptaspekte zu vergleichen und anthropologische Implikationen herauszuarbeiten. Vorphase Die Konfliktparteien an einen Tisch bekommen Das Mediationsgespräch 1. Einleitung 2. Sichtweise der einzelnen Konfliktparteien 3. Konflikterhellung: Verborgene Gefühle, Interessen, Hintergründe 4. Problemlösung: Sammeln und Entwickeln von Lösungsmöglichkeiten 5. Übereinkunft Umsetzungsphase Überprüfung und ggf. Korrektur der Übereinkunft (Christoph Besemer : Mediation, 15.)

Bevor eine Mediation durchgeführt wird, entscheiden sich alle Konfliktparteien freiwillig für die Teilnahme an dem Interventionsverfahren. Darin besteht die Voraussetzung für ein sinnvolles mediatives Vorgehen. Auf dieser Basis kommen anschließend diejenigen Personen, deren Anwesenheit erforderlich ist, innerhalb eines vorbereiteten Settings zusammen. Während dieser Vorphase, in der die Entscheidung für oder gegen Mediation fällt, nimmt in der Regel mindestens einer der Beteiligten Kontakt zum Mediator auf. Mit dem Ziel, alle in den 239 Vgl. Anita von Hertel: Professionelle Konfliktlösung, 36–118. 240 Vgl. 3.1 Zur Definition von Mediation. 241 A. a. O., 36. Durch das Bild eines »Gerüsts« konstatiert Anita von Hertel, dass viele Menschen »auch ohne Profiwerkzeug als Konfliktunterstützer erfolgreich« (a. a. O., 38) sind. Sie profitieren dabei von Vorerfahrungen sowie ihrem intuitiven Gespür für situationsangemessenes Vorgehen. Beides lässt sich durch Mediationskompetenz noch hilfreich ergänzen.

Das Verfahren als Antwort auf anthropologische Bedürftigkeit im Konfliktfall

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Konflikt involvierten Personen für einen gemeinsamen Konfliktlösungsprozess zu gewinnen, wendet sich der Mediator an die anderen, um festzustellen, inwieweit sie an einem konsensualen Lösungsversuch interessiert sind. Stimmen alle Konfliktparteien einem Interventionsversuch zu, kommt es anschließend zu einem Mediationsgespräch. In der Einleitungsphase intendiert der Mediator, für die Beteiligten eine vertrauensstiftende Atmosphäre zu schaffen, die dazu einlädt, sich sicher und angenommen zu fühlen. Der Ablauf des Verfahrens und wichtige Grundregeln des gemeinsamen Vorgehens werden erläutert. Es wird beispielsweise festgelegt, sich gegenseitig ausreden zu lassen und von verbaler und physischer Gewalt gegeneinander abzusehen. Während dieser ersten Phase innerhalb des Mediationsgesprächs definiert der Mediator auch seine eigene Rolle. Er macht transparent, ausschließlich für den sachgemäßen Verlauf des Verfahrens verantwortlich zu sein ohne über inhaltliche Beratungs- oder Entscheidungsbefugnis zu verfügen. Der gemeinsame Einstieg in die Mediation endet damit, offene Fragen zu klären, Unbehagen anzusprechen und zu versuchen, es aufzulösen sowie Geschäftliches, wie beispielsweise die Honorarfrage, zu erörtern. Über diese Rahmenbedingungen des weiteren Vorgehens übereingekommen zu sein, ist die Grundlage für das anschließende eigentliche Konfliktgespräch. Inhaltlich einzusteigen, beinhaltet, die Sichtweise der einzelnen Konfliktparteien nacheinander anzuhören. Idealerweise erhalten die Beteiligten hier die Gelegenheit dazu, alles für die Situation Bedeutsame aus ihrer Perspektive ununterbrochen vorzutragen. Der Mediator hört dabei aktiv zu, versucht Unverstandenes zu klären und fasst Wesentliches zusammen. Einwände der Gegenpartei oder ihr Bedürfnis, zu korrigieren, finden hier noch nicht ihren Platz, sondern können notiert und später eingebracht werden. Infolgedessen bleiben sie erhalten und die Aufmerksamkeit gilt wieder dem Sprechenden. Nachdem alle Parteien ausreichend Raum dafür hatten, ihre Sicht des Problems vorzutragen, werden in der Phase der Konflikterhellung verborgene Gefühle, Interesse und Hintergründe mit Hilfe von ausgewählten (kommunikativen) Techniken durch den Mediator herausgearbeitet. Wenn aufgrund der Brisanz der Situation bisher noch keine direkte Kommunikation der Kontrahenten möglich war, sondern sie in Anwesenheit der jeweils anderen Partei ausschließlich mit dem Mediator sprachen, versucht er spätestens hier, sie behutsam in eine direkte Gesprächssituation hineinzubegleiten. Dieser Versuch soll in eine Interaktion münden, in der die Beteiligten ein Grundverständnis für den Konfliktsachverhalt aus subjektiver Perspektive des jeweils anderen entwickeln können. Dadurch, dass sich die Konfliktpartner im Falle einer gelungenen Gesprächsinitiierung häufig rege und konstruktiv austauschen, kann die aktive Prozesssteuerung durch den Mediator reduziert werden. Sie würde sich

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Mediation als ressourcenorientiertes Interventionsverfahren

dann nämlich eher einschränkend auf die inhaltskompetente Auseinandersetzung der Konfliktbeteiligten auswirken. Dem Austausch schließt sich die Phase der Problemlösung an. Lösungsmöglichkeiten werden gesammelt, entwickelt, gemeinsam durchdacht und modifiziert, um sie auf ein tragfähiges und einvernehmliches Ergebnis hin wachsen zu lassen. Dies ist dann gelungen, wenn sich alle Beteiligten auf eine Lösung einigen können und Verantwortung dafür übernehmen möchten, sie umzusetzen. Jeder verpflichtet sich dem Ergebnis gegenüber, indem dieses schließlich in einer Übereinkunft schriftlich festgehalten und bindend unterschrieben wird. Anschließend wird die gefundene Lösung innerhalb einer zeitlich festgelegten Umsetzungsphase praktisch durchgeführt und daraufhin überprüft, wie hilfreich sie tatsächlich ist. Die Beteiligten und der Mediator nehmen in diesem Zusammenhang erneut Kontakt zueinander auf, um sich darüber zu verständigen, ob sich die Konfliktsituation durch die Übereinkunft angemessen hat beheben oder regulieren lassen und wünschenswerte Veränderungen hinlänglich eingetreten sind. Wenn sich die Übereinkunft im praktischen Vollzug nur als bedingt bzw. nicht erfolgreich erwiesen hat oder Folgeprobleme aufgetreten sind, können Korrekturen vorgenommen oder neu verhandelt werden.242 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Phasenstruktur dazu dient, eine einvernehmliche Übereinkunft zu erzielen. Dem geht voraus, eine gemeinsame Lösung zu entwickeln. Diese gründet darauf, sich vorher über Interessen und Bedürfnisse klar geworden zu sein, die hinter den Positionen liegen, die eingangs dargelegt werden. In dieser Tendenz gleichen die Modelle Besemers und von Hertels einander, wie im Folgenden durch die komprimierte Darstellung der ALPHA-Struktur ersichtlich wird. Neben ihrem Merkmal, dass sich die ALPHAStruktur allgemein für Mediationskompetenz und Situationsvielfalt öffnen lassen soll, gehören eine Vorphase und eine Umsetzungsphase nicht unmittelbar zur fünfstufigen Struktur, werden aber als Bestandteile des Gesamtverfahrens berücksichtigt.243 Die ALPHA-Struktur besteht aus fünf Phasen: Phase I: Auftragsklärung Phase II: Liste der Themen besprechen Phase III: Positionen auf dahinterliegende Interessen untersuchen Phase IV: Heureka Phase V: Abschlussvereinbarung (Anita von Hertel: Professionelle Konfliktlösung, 37.) 242 Vgl. Christoph Besemer : Mediation, 15–17. 243 Vgl. Anita von Hertel: Professionelle Konfliktlösung, 83 (Vorgespräch), 117 (Evaluation).

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Die Auftragsklärung (Phase I) ist die erste von fünf Phasen, schließt sich den zumeist telefonisch erfolgenden Vorgesprächen mit jeder einzelnen der für die Konfliktbearbeitung zu berücksichtigenden Personen an und dient dazu, die Problemsituation darzustellen und zu klären. Die Medianten schildern ihre Sicht auf den Konfliktzusammenhang, wobei die Aufgabe des Mediators darin besteht, die unterschiedlichen Perspektiven im Modus des aktiven Zuhörens sprachlich zusammenzuführen.244 Die Situation lässt sich dadurch solchermaßen beschreiben, dass die Einzelheiten zum Mediationsgegenstand, wie sie die Beteiligten jeweils verschieden darstellen, für alle gleichermaßen angemessen ausgedrückt werden können. Dies ist die Voraussetzung dafür, den (Selbst-)Auftrag für die Mediation festzulegen und gemeinsam zu bestimmen, was geklärt werden soll. Ist das Ziel definiert, sind die Parteien dazu eingeladen, die Liste der Themen zu besprechen (Phase II). In dieser zweiten Phase werden jeweilige Sichtweisen, Wünsche und Forderungen ausgetauscht. Momentane Standpunkte werden auf diese Weise ersichtlich. In der sich daran anschließenden Phase gilt es, diese Positionen auf dahinterliegende Interessen zu untersuchen (Phase III). Interessen, Bedürfnisse, Werte etc., die im Konfliktfall dazu geführt haben, gegensätzliche Standpunkte einzunehmen, werden herausgearbeitet. In der sich daran anschließenden Heureka-Phase (Phase IV) können dann Lösungsmöglichkeiten entwickelt werden, die die herausgestellten Belange der Konfliktbeteiligten so umfassend wie möglich berücksichtigen. Um dem Ergebnis eine transparente und klare Form zu geben, werden die erarbeiteten Ideen auf präzise Regelungen hin geschärft und in Form einer Abschlussvereinbarung (Phase V) festgelegt. Im gelungenen Fall ist es dann weniger eine Unterschrift, die verbindlichen Charakter hat, sondern vielmehr das während der Mediation erlangte gegenseitige Verständnis und das (wieder) aufgebaute zwischenmenschliche Vertrauen.245 Um zu einem Mediationsergebnis zu gelangen, dessen Verbindlichkeit sich aus Beziehungsstabilität speist, müssen Veränderungen vorgenommen werden, die darüber hinausgehen, die Konfliktsituation vordergründig zu regulieren. Die Komponenten des Verfahrens müssen deshalb so aufeinander bezogen sein, dass sie die entsprechenden Voraussetzungen bieten, damit sich beziehungsfördernde Entwicklungsmöglichkeiten im Konfliktregulationsprozess ergeben. Grundsätzliche Überlegungen zum Konfliktverhalten des Menschen bilden die 244 Bsp.: Vom Budget ihrer gemeinsamen Firma möchte Person A ein rotes Cabriolet anschaffen, Person B einen schwarzen Kleintransporter. Um die Situation so zu beschreiben, dass sich beide darin wiederfinden, nutzt der Mediator Formulierungen, die die vorgetragenen Details verallgemeinern. Anstatt von unterschiedlichen Farben spricht er ggf. von »bestimmten Eigenschaften« und das Cabriolet und der Kleintransporter ließen sich z. B. unter dem Terminus »Kraftfahrzeug« zusammenführen. 245 Vgl. Anita von Hertel: Professionelle Konfliktlösung, 36–118.

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Mediation als ressourcenorientiertes Interventionsverfahren

Basis dafür, Methoden zu konzipieren, die die Eigendynamik von Eskalationssteigerungen durchbrechen können. Rückgebunden an die anthropologischen Vorüberlegungen sollen sie im Folgenden aus den vorgestellten Verfahrensstrukturen herausgearbeitet werden. Dabei werden ausgewählte Teilaspekte beleuchtet, sodass eine Reduktion auf relevante Verfahrenskomponenten erfolgt. Eine Zusammenschau der beiden vorgestellten Phasenmodelle zeigt auf, dass Besemer ein siebenphasiges Modell vorlegt, weil er die Vorphase und die Umsetzungsphase integriert. Von Hertel beschreibt fünf Phasen der Mediation und beschränkt sich damit auf den konkreten Mediationsvorgang. Die jeweilige Abfolge dieser fünf Schritte in beiden Modellen ähnelt einander weitgehend, wobei sich Besemers Einleitung und von Hertels Auftragsklärung inhaltlich unterscheiden. Besemer berücksichtigt in seinen erklärenden Ausführungen insbesondere formale Gesichtspunkte. Geschäftliches soll geklärt werden und Verfahrens- sowie Gesprächsregeln sind festzulegen. Von Hertel enthält sich Hinweisen dieser Art und integriert derartige Formalitäten nicht explizit in die ALPHA-Struktur. Die Auftragsklärung dient vornehmlich der inhaltlichen Spezifizierung des Mediationsgegenstands. Inwieweit eine inhaltliche Weiterarbeit sinnvoll erscheint, lässt sich überprüfen, indem nach einem gemeinsamen Klärungsziel für die Mediation gesucht wird. Damit unterscheiden sich die beiden Ansätze zwar inhaltlich voneinander, zielen aber beide darauf ab, eine äußere Struktur zu schaffen, die die weitere gemeinsame Arbeit rahmt. Die Bedeutsamkeit und Wirksamkeit einer äußeren Struktur als wesentliche Verfahrenskomponente lässt sich vom Konflikterleben und -verhalten des Menschen her verstehen. Unvereinbarkeiten, die sich sowohl intrapersonal als auch interpersonal instabilisierend auswirken, bringen gleichermaßen das innere System Mensch und das äußere System sozialer Beziehungen ins Ungleichgewicht. Mit zunehmender Instabilität bekannter, sicherheitsspendender Strukturen erhöht sich der Grad der Eskalation, weil es die Konfliktbeteiligten häufig zusätzlich überfordert, mit der Vielfalt der konfligierenden Einflussfaktoren bewusst steuernd umzugehen.246 In Situationen dieser Art geht es deshalb zunächst darum, sich möglichst schnell wieder zu organisieren. Dieser Bedarf soll in der Mediation dadurch gedeckt werden, dass die Führung an eine außenstehende Person abgegeben wird, die dann aus der Distanz heraus dazu beitragen kann, dass die Betroffenen wieder handlungsfähig werden. Die Eigendynamik von Konflikten wird dadurch unterbrochen, dass der Mediator seine Mediationskompetenz mit der Verfahrensstruktur verbindet, wodurch sich die Situation effizienter organisieren lässt. Die äußere Struktur der Mediation ersetzt dann zeitweise die Eigenorganisation der Konfliktbeteiligten und 246 Vgl. 2.2 Die Eskalationsdynamik in Konflikten.

Das Verfahren als Antwort auf anthropologische Bedürftigkeit im Konfliktfall

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fungiert für sie entlastend. Dies wirkt sich sowohl auf die Einzelperson als auch auf das Beziehungsgefüge aus, weil intrapersonale und interpersonale Konfliktträchtigkeit wechselseitig ineinandergreifen.247 Das heißt, gemeinsame äußerliche Festlegungen dezimieren die Eindrucksvielfalt auf Wesentliches und strukturieren das soziale Miteinander. Wenn die Konfliktbeteiligten von dieser Aufgabe entbunden werden, reduziert sich auch die innerlich erlebte Brisanz und Überforderungsgefühle nehmen ab. Die intrapersonale Konfliktträchtigkeit auf diese Weise zu mindern, spiegelt sich dann wiederum interpersonal wider, indem sich die Beziehungslage entspannt. Diese Wechselwirkung vollzieht sich zirkulär so oft, bis sich die eigene Handlungsfähigkeit wieder so weit stabilisiert hat, dass auf äußere Unterstützung verzichtet werden kann. Diese äußere Struktur schnellstmöglich über den Inhalt der Mediation herzustellen, wie es von Hertel empfiehlt, hat dabei den Vorteil, dass direkt am Interesse der Beteiligten angesetzt wird.248 Wenn die Aufmerksamkeit nicht zuerst auf Formalitäten gerichtet wird, sondern auf die »sinnbezogenen Wirklichkeiten« der Beteiligten, werden sie in ihrem tatsächlichen Anliegen abgeholt. Dann kann die äußere Behelfsstruktur situationsgerecht zugeschnitten werden. Konfliktinhalte auf Wesentliches zu reduzieren und ein Ziel in Aussicht zu stellen, dass alle Beteiligten für erreichbar und sinnvoll halten, hebt die Motivation dazu, gemeinsam daraufhin zu arbeiten. Das Vertrauen in die eigene Handlungsfähigkeit kann dadurch wiedergewonnen werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Konfliktbeteiligten dann dazu bereit sind, ihre Selbstbestimmungskraft auf das gemeinsame Ziel hin auszurichten, erhöht sich. Hier ist es im

247 Vgl. 2.3 Zur Korrelation von intrapersonalen und interpersonalen Konflikten. 248 In der Literatur – so auch bei Christoph Besemer – wird häufig empfohlen, gleich zu Beginn des Konfliktgesprächs Regeln festzulegen, die die Mediation strukturell und methodisch ausrichten. Beispielsweise sollen die Medianten ihre Standpunkte als eigene Wahrnehmung deklarieren und in Ich-Botschaften ausdrücken. Verharmlosungen und Rechthabereien seien grundsätzlich zu vermeiden (vgl. Wolfgang Mutzeck: Kooperative Beratung, 117; Reiner Ponschab: Was ist Ihr Interesse?, 210ff.). Solche Regulierungen können auf Mediantenseite als Übersteuerung durch den Mediator wahrgenommen werden. Dies kann nach sich ziehen, dass sich Konfliktparteien deshalb weniger vertrauensvoll öffnen, was die Mediationseffizienz einschränkt. Beteiligte, die mit großem Interesse in die Mediation einsteigen, möchten in vielen Fällen sofort auf den Konflikt zu sprechen kommen (vgl. Anita von Hertel: Professionelle Konfliktlösung, 38). Je länger dieses Bedürfnis unbefriedigt bleibt und je stärker die Konfliktparteien ihren (teils emotionsgeladenen) Selbstausdruck aufgrund von Regeln kontrollieren müssen, desto höher die zusätzliche Belastung und damit die Wahrscheinlichkeit, die Energie des Anfangs zu verlieren. Deswegen kann es der Sache dienlich sein, die Formalien auf ein Mindestmaß zu reduzieren (vgl. 4.3 Die Inhaltsverantwortung als Implikat der Mediantenrolle; 4.4 Zur Bedeutung der Mediantenpersönlichkeit).

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Mediation als ressourcenorientiertes Interventionsverfahren

Sinne des mediativen Vorgehens angezeigt, zwischen Steuerung des Mediators und der Entscheidungs- und Handlungsfreiheit249 der Medianten auszugleichen. Balanceleistungen dieser Art gehören zu den bedeutsamsten Verfahrensgrundlagen. Sie wirken entscheidend darauf ein, ob ein Mediationsversuch gelingt oder misslingt.250 Die Steuerung durch den Mediator gewährleistet ein strukturiertes Vorgehen, das sich am selbstgesetzten Ziel der Medianten orientiert. Zugleich kann nur dann konstruktiv daran gearbeitet werden, wenn Freiwilligkeit auf Mediantenseite sichergestellt ist. Deshalb muss permanent zwischen Mediatorenführung und Mediantenselbstständigkeit austariert werden, damit Anleitung und Autarkie wechselseitig ineinandergreifen können. Weil nur der mediiert werden kann, der freiwillig teilnimmt, muss schon von Beginn an eine entsprechende Grundlage dafür geschaffen werden. Schon die Art des Erstkontaktes zwischen dem Mediator und den Medianten wirkt sich weichenstellend aus. In der Regel wendet sich eine Partei an den Mediator und bittet um Unterstützung in einem Konfliktfall. Das intrinsische Interesse des Initianten an einer Mediation lässt sich aber nicht gleichermaßen für die anderen Konfliktbeteiligten voraussetzen. Wenn es – wie nach Besemer – Aufgabe des Mediators ist, zu »versuchen, sie zu einer Teilnahme am Mediationsgespräch zu bewegen«251, können sich erste Hindernisse ergeben, die das weitere Vorgehen ungünstig beeinflussen. Beispielsweise liegt dadurch das Missverständnis nahe, der Mediator sei ein Fürsprecher der Gegenseite und hätte sich dazu verpflichtet, ihre Interessen zu vertreten. Das Mediationsdesign muss deshalb so entworfen sein, dass die ohnehin angespannte Konfliktlage so wenig wie möglich zusätzlich belastet wird. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen ist auch der Hinweis beider Autoren zu verstehen, eine angenehme, von »Wertschätzung und Sicherheit« geprägte Gesprächsatmosphäre herzustellen, die dazu einlädt, eine tragfähige Vertrauensbasis zu entwickeln und zu stärken.252 Wenn Konfliktparteien im 249 Freiwilligkeit gehört zu den Verfahrensgrundsätzen der Mediation (vgl. 3.3 Verfahrensgrundsätze als Angebot zur Änderung von Verhalten). 250 Verfahrensstruktur, Mediantenorientierung und Mediatorenrolle auszutarieren, ist ein substanzielles Qualitätsmerkmal von Mediationskompetenz (4.1 Die Verfahrensverantwortung als Implikat der Mediatorenrolle). 251 Christoph Besemer : Mediation, 15. 252 Eine mit Bedacht ausgewählte und gestaltete Umgebung kann sowohl die Konfliktparteien als auch den Mediator darin unterstützen, sich konzentriert und vertrauensvoll aufeinander einzulassen. Aus der Praxis sind der Verfasserin Vorgehensweisen von Mediatoren bekannt, die Gestaltungsfragen wie diese sehr unterschiedlich bewerten und handhaben. Manche Mediatoren vertreten dabei die Haltung, dass sie als Person nur professionell und gut arbeiten können, wenn die Parteien dazu bereit sind, sich vollständig auf den Mediator, seine Arbeitsweisen und seine Umgebung einzustellen. Insbesondere unter diesen Voraussetzungen gewährleisten sie höchste Mediationsqualität. Andere Mediatoren stellen sich im Vorfeld so detailgetreu wie möglich auf die individuelle Situation ein, indem sie abzu-

Das Verfahren als Antwort auf anthropologische Bedürftigkeit im Konfliktfall

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Mediationskontext aufeinandertreffen, fühlen sie sich häufig verunsichert und sind im Umgang miteinander gehemmt. Die Anspannung der Konfliktsituation bedingt ein erhöhtes Schutzbedürfnis der Beteiligten. Diesem Wunsch nach Sicherheit und Geborgenheit kann der Mediator entsprechen, indem er alle gleichermaßen wertschätzend empfängt. Dabei kann er sie offensiv davon entbinden, sogleich selbst aktiv werden zu müssen, indem er Handlungen und Gesprächsteile stellvertretend für sie übernimmt. Dies gibt ihnen auch Raum dafür, sich zunächst auf sich selbst zu konzentrieren und sich intrapersonal zu stabilisieren. Dies kann Medianten davor schützen, verfrüht und unkontrolliert mit den anderen zu interagieren und sich dadurch ggf. wiederum in der destruktiven Eskalationsdynamik zu verlieren. Über die Struktur der Mediation können Menschen in Konfliktsituationen also dazu angeleitet werden, ihre eigene Handlungsmacht sukzessive zurückzuerlangen. Dazu müssen Hindernisse beseitigt, Handlungsspielräume maximiert und die Selbstbestimmungskraft gestärkt werden. Die Fülle von Unvereinbarkeiten, unter deren Eindruck die Konfliktbeteiligten stehen, führt einerseits zu ziellosen konfliktträchtigen Eigendynamiken und andererseits zu Gefühlen des Bedrohtseins, weil Bestands- und Niveausicherung als gefährdet erlebt werden. Deswegen dient die erste Phase der Mediation einerseits der Zielfindung, wodurch sich das weitere Vorgehen kanalisieren lässt. Dabei muss andererseits vertrauensbildend vorgegangen werden, um situationsbedingte Unsicherheiten zu kompensieren und Sicherheitserleben zu erhöhen. Zunächst stellt Mediation also auf die Selbstbeziehung des Menschen ab. Sie versucht zu begünstigen, dass Widerstreit im Inneren der Konfliktbeteiligten nachlässt. Wenn dann in einem weiteren Schritt Sichtweisen dargelegt und Themen besprochen werden, können innere Bedrängnisse differenzierter ausgedrückt werden. Die wesenhafte Konfliktträchtigkeit entlädt sich dann nicht mehr unkontrolliert, sondern wird durch eine äußere Struktur gehalten und eingerahmt. Sinnbezüge, die sich hinter intrapersonalen Konfliktlagen verbergen, scheinen auf und können mediativ so aufgearbeitet werden, dass sich die Medianten gegenseitig besser verstehen. Das heißt, dass ausgehend vom Kontakt zu sich selbst der Weg gefunden werden soll, sich zunehmend bewusster auch auf den anderen zu beziehen und sich für seine Sichtweise zu öffnen. Die erhöhte Stabilität und Sensibilität in der Selbstbeziehung wirkt sich dadurch konstruktiv auf schätzen versuchen, welche Details zu berücksichtigen sind. Indem sie beispielsweise Blumensträuße ohne Gräser wählen, setzen sie freundliche Akzente und versuchen dabei mögliche Gräserallergien zu berücksichtigen. Der Abstand von Sitzplätzen wird so aufeinander abgestimmt, dass die Medianten sich etwas näher und doch mit entsprechend ausreichender Distanz zueinander befinden und der Mediator in etwas größerem, aber gleichem Abstand zu allen Beteiligten seine Sitzposition einnimmt. Es wird versucht, sich in Kleiderfarbe und -stil der Mediantenklientel anzupassen und Umgebungseinflüsse zu reduzieren, die negativ ablenken könnten.

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Mediation als ressourcenorientiertes Interventionsverfahren

die Fremdbeziehung aus. Indem von hierher eine interessengerechte Lösung für die dargelegten Belange entwickelt wird, ergießen sich Selbst- und Fremdbeziehung in eine Beziehung zum Ergebnis. Die einvernehmliche Übereinkunft, die am Ende des Mediationsverfahrens steht, bildet dann die willentlich ausgerichtete Entscheidungs- und Handlungsfreiheit der Medianten bezüglich der drei Beziehungsebenen Selbstbeziehung, Fremdbeziehung und Ergebnisbeziehung ab. Wie sehr die gefundene Lösung tatsächlich trägt, zeigt sich erst im Zuge des konkreten Umsetzens daran, inwiefern sich die Konfliktpartner mehr oder weniger konsequent selbstverpflichten, ergebniskonform zu handeln. Innerhalb des Mediationsverfahrens sind Vorkehrungen zu treffen, um die Selbstbestimmungskraft der Konfliktparteien zu stärken, damit sie sich untereinander sowie dem erarbeiteten Ergebnis gegenüber verbindlich verhalten. Medianten sollen auf innere und äußere Hindernisse, die im Zuge der Konfliktbewältigung unvermeidbar sind, vorbereitet werden, damit sie eigenständig und konstruktiv mit ihnen umgehen können. Um die Aufmerksamkeit von der negativen Sinnstiftung des Konflikts abzuziehen und sie auf eine positive Gegensinnstiftung hin auszurichten, sind Entwicklungen notwendig, die sich auf unterschiedlichen Ebenen vollziehen und zugleich ineinander verschränkt sind.253 Die Grundsätze der Mediation geben Aufschluss darüber, durch welche Komponenten diese Entwicklungsprozesse von einer Eskalation hin zu einer Deeskalation über die Verfahrensstruktur begünstigt werden. Im Folgenden werden diese Grundsätze dargestellt, um anschließend den Versuch zu unternehmen, sie zu typisieren. Auf dieser Grundlage kann schließlich überprüft werden, wie sie sich in Hinblick auf Ziele der Mediation verhalten, die die Literatur ausweist.

3.3

Verfahrensgrundsätze als Angebot zur Änderung von Verhalten

Ähnlich wie im Falle der Begriffsbestimmungen variieren in der Literatur auch die Anzahl und die Auswahl von Verfahrensgrundsätzen. Zugunsten eines möglichst breit angelegten Überblicks handelt es sich bei den hier erläuterten Verfahrensgrundsätzen um eine Zusammenstellung der gängigen Grundsätze aus unterschiedlichen Quellen. Mit dem Vorangegangenen ist schon der erste Verfahrensgrundsatz benannt, nämlich die Orientierung an einem Phasenmodell254. Wie dargelegt, bieten die Phasen der Mediation eine äußere Struktur, die den Konfliktpartnern Verhal253 Vgl. Reiner Bastine: Konflikte klären, Probleme lösen, 15. 254 Vgl. Nadja Alexander u. a.: Mediation, Schlichtung, Verhandlungsmanagement, 75.

Verfahrensgrundsätze als Angebot zur Änderung von Verhalten

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tenssicherheit spendet.255 Anfangs ermöglicht sie ihnen, sich zunächst auf sich selbst zu konzentrieren, bevor sie in konstruktive Interaktion eintreten.256 Die Phasen machen das gemeinsame Vorgehen transparent und begünstigen eine »prozedurale Gerechtigkeit des Verhandlungsprozesses«257. Klare, als gerecht empfundene Vorgaben suggerieren Schutz und ermöglichen es darüber, intrapersonale Erschütterungen äußerlich auszugleichen und stabilisierende Effekte zu erzielen. Der Mediator als nicht entscheidungsbefugte dritte Instanz verkörpert dabei die von den Beteiligten für ihre Situation autorisierte Konzeption der Mediation. Abseits des Konflikts stehend ist er unabhängig und persönlich nicht vom Eskalationsgeschehen betroffen.258 In wertschätzender, schutzbringender und sachkompetenter Weise führt er die Konfliktbeteiligten so lange, bis er seine Einflussnahme reduziert, weil sie nach und nach durch die wiederkehrende eigene Stabilität der Konfliktpartner ersetzt werden kann. Die Freiwilligkeit259, die auch in den Beschreibungen Besemers und von Hertels deutlich zum Ausdruck kommt, ist eine notwendige Voraussetzung dafür, dass Mediation überhaupt erfolgreich durchgeführt werden kann. Die Privatautonomie aller Beteiligten bleibt während des Gesamtverlaufs ein entscheidendes Kriterium für die Bearbeitung des Konfliktgegenstands. Zu jedem Zeitpunkt steht es ihnen frei, (Teil-)Vereinbarungen zuzustimmen, nicht in sie einzuwilligen oder die Mediation zu beenden. Weil der Mensch als freies Wesen begriffen wird, ist es folgerichtig, dass auch die Übernahme des Mediatorenamts260 auf Freiwilligkeit beruht. Die verfahrensethischen Grundsätze durch255 Mit dem Verweis auf empirische Analysen gibt Reiner Bastine zu bedenken, dass Mediationsklienten die hohe Strukturiertheit des Mediationsverfahrens sehr schätzen und bemängeln, wenn sie fehlt (vgl. ders.: Konflikte klären, Probleme lösen, 45; Quelle zur Studie: Reiner Bastine/Birgit Weinmann-Lutzt/Antje Wetzel: Unterstützung von Familien in Scheidung durch Familien-Mediation. Abschlußbericht, Stuttgart 1999, Sozialministerium Baden-Württemberg [Hg.], 51–53). 256 Vgl. Reiner Bastine: Konflikte klären, Probleme lösen, 45. 257 A. a. O., 44. 258 Josef Duss-von Werdt: homo mediator, 239. 259 Ebd. Das Prinzip der Freiwilligkeit weist Mediation als wesenhaft gewaltfrei aus. Dies ist ein Wert, der konzeptionell Gerechtigkeit stiftet (vgl. Gisela Mähler u. a.: Gerechtigkeit in der Mediation, 19). 260 Der hier gewählte Terminus »Amt« drückt deutlicher als »Rolle« aus, dass ein Mensch von anderen dazu legitimiert wird, eine bestimmte Aufgabe zu übernehmen. Im Falle der Mediation wählen die Konfliktparteien aus, wen sie für geeignet halten, um den klar umgrenzten mediativen Auftrag für sie zu übernehmen. Weiterhin legt der Terminus nahe, dass eine entsprechende Form von Professionalität vorauszusetzen ist, um das Amt sachkompetent auszufüllen. Mit dem Vertrauen, dass die Medianten dem mediativen Amtsträger entgegenbringen, geht für diesen die Verantwortung einher, sich den Auftraggebern gegenüber für eine adäquate und auftragsgemäße Situationsbearbeitung verpflichtet zu sehen. Wenn das Mediatorenamt übernommen wird, dann erfüllt die außenstehende dritte Person die professionelle Rolle des Mediators. Im Folgenden wird deshalb je nach Aussageintention sowohl von dem »Amt« als auch von der »Rolle« gesprochen.

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Mediation als ressourcenorientiertes Interventionsverfahren

gängig zu bewahren, erfordert nämlich eine Selbstpositionierung der dritten Person, die nicht von außen erwirkt oder gar aufoktroyiert werden kann. Die vorausgesetzte Freiheit aller Mediationsbeteiligten drückt sich für die Mediantenseite im Verfahrensgrundsatz der Selbstbestimmtheit bzw. Selbstverantwortlichkeit261 aus. Es wird davon ausgegangen, dass die Konfliktpartner die Lösung für ihre Situation schon in sich tragen und sich dieser durch Unterstützung von außen bewusst werden können.262 Im Zuge dessen obliegt es den Konfliktbeteiligten, eigenständig dafür zu sorgen, dass alle für sie wesentlichen Aspekte ausgedrückt, bearbeitet und in Hinblick auf ein einvernehmliches Ergebnis berücksichtigt werden. Dazu gehört es auch, so in Kontakt mit den eigenen Belangen sowie mit den Sachaspekten der Situation zu stehen, dass Informiertheit gesichert ist. Zwar kann und soll der Mediator eine externe Beratung, beispielsweise in rechtsrelevanten Angelegenheiten, anempfehlen263, aber die Konfliktpartner überprüfen und bestimmen selbst, welche Aspekte bezüglich einer bindenden Abschlussvereinbarung entscheidungsrelevant für sie sind.264 Die letzte Entscheidung liegt also immer bei ihnen selbst. Die Mediation soll ein Forum dafür sein, Informationen offenzulegen, Emotionen auszudrücken und persönliche Belange einzubringen, um dadurch gemeinsam den Weg einer konsensualen Konfliktlösung zu gehen. Dem Schutz aller Beteiligten dienend, ist dazu Vertraulichkeit265 zuzusichern. Informationen zu Inhalten und Geschehnissen im Mediationsverlauf werden Dritten nur dann zugänglich gemacht, wenn zuvor alle Mediationsbeteiligten ausdrücklich zugestimmt haben. Sich zur Vertraulichkeit zu verpflichten, führt dazu, gegenseitige Anerkennung explizit auszudrücken. Dementsprechend ist Vertraulichkeit eng mit dem Verfahrensgrundsatz der Akzeptanz266 verbunden. Die Konfliktbeteiligten fühlen sich in ihren Bedürfnis- und Interessenanliegen dann 261 Vgl. Wolfgang Mutzeck: Kooperative Beratung, 123f.; Nadja Alexander u. a.: Mediation, Schlichtung, Verhandlungsmanagement, 75. 262 Vgl. Friedrich Glasl: Konfliktmanagement, 424. 263 Den Konfliktparteien muss bekannt sein, dass es sich bei Mediation nicht um eine (Rechts-) Beratung handelt, sondern um ein Kommunikationsangebot. Beratungen in der Sache sind deshalb grundsätzlich extern einzuholen. Es fällt in die Verantwortung auf Mediatorenseite, keine Abschlussvereinbarung in der Mediation beschließen zu lassen, die beispielsweise an rechtlichen Fragen scheitern könnte. Der Mediator ist inhaltlich zwar nicht verantwortlich, steht aber in der Verpflichtung, die konsistente Beschaffenheit von einer Lösung im Vorfeld abzuschätzen. 264 Vgl. Annegret Hugo-Becker u. a.: Psychologisches Konfliktmanagement, 138; Grundprinzipien BMWA: http://www.bmwa-deutschland.de/uploads/8625f10e635cc8a4d7988d da17e3619b.pdf. 265 Vgl. Wolfgang Mutzeck: Kooperative Beratung, 12; Nadja Alexander u. a.: Mediation, Schlichtung, Verhandlungsmanagement, 78; Grundprinzipien BMWA: http://www.shaupt.de/Richtlinien-BWMA.pdf. 266 Vgl. a. a. O., 79.

Verfahrensgrundsätze als Angebot zur Änderung von Verhalten

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wahr und ernst genommen, wenn sich der Mediator ihnen gegenüber grundlegend wertschätzend und verständig verhält. Dies hat zur Folge, dass die Medianten ihre verhärteten Positionen gesichtswahrend verlassen können, ohne – wie in der Konfliktsituation – aus Sorge um einen weiteren persönlichen Würdeund Wertverlust an ihnen festhalten zu müssen. Zudem fungiert die Akzeptanz des Mediators modellhaft dafür, wie die Konfliktpartner ihr Verhalten dahin gehend ändern können, selbst auf wertschätzende Weise miteinander zu interagieren. Dann erhöht sich auch ihre Kooperationsbereitschaft267, die aus dem Modus stagnierender Eigenzentrierung herausführt und die Verhandlungssituation dafür öffnet, sich inhaltlich und persönlich stärker aufeinander zu beziehen. Je kooperationsbereiter die Konfliktpartner sind, desto wahrscheinlicher gelangen sie zu einer einvernehmlichen Lösung. Um Ergebnisse möglichst individuell und situationsgemäß entwickeln zu können, bedarf es eines kreativen Vorgehens, für das Ergebnisoffenheit268 gewährleistet sein muss. Zumeist bringen die Medianten schon Vorstellungen dazu, wie sich der Konflikt lösen lassen könnte, mit in die Mediation. Naturgemäß sind sie darin nicht der gleichen Ansicht, sodass von den jeweiligen Auffassungen abgelassen werden muss, um für innovatives Verhandeln aufgeschlossen zu sein. Dazu ist es auch entscheidend, retrospektive Fokussierungen aufzugeben und problemzentrierte Sichtweisen durch eine Lösungs- und damit Zukunftsorientierung269 zu ersetzen. Wie im Falle der Kooperationsbereitschaft gelingt dies so weit, wie sich die Medianten in ihrer konfliktträchtigen Ausgangssituation akzeptiert fühlen. Missverständnisse, Schwierigkeiten und Verletzungen aus der Vergangenheit müssen zuerst ausgedrückt werden können, bevor die Betroffenen innerlich bereit werden, sie loszulassen und sich dazu entscheiden, aktiv an einem ressourcenorientierten Veränderungsprozess mitzuwirken.270 Die dargelegten Grundsätze reichern die Struktur der Mediation inhaltlich an. Phasenmodelle fungieren als Leitfaden dafür, Konfliktbeteiligte systematisch aus der Eskalationsdynamik herauszuführen. Die äußere Struktur antwortet insbesondere auf die anthropologische Bedürftigkeit des Menschen, sich in 267 Vgl. a. a. O., 78. 268 Vgl. a. a. O., 79; Josef Duss-von Werdt: homo mediator, 239. 269 Vgl. Nadja Alexander u.a.: Mediation, Schlichtung, Verhandlungsmanagement, 79 (H. z. S., WLL). 270 Praktisch gelingt dies, indem der Mediator zuerst herausstellt, worin sich die einander gegenüberstehenden Positionen unterscheiden. Er holt die Beteiligten damit individuell ab, indem er ihrem konfliktären Selbsterleben Respekt zollt. Aus der Distanz heraus, die er dabei wahrt, lässt sich die Verbindung der Konfliktbeteiligten anschließend behutsam wieder herstellen, indem auch Gemeinsamkeiten herausgearbeitet werden (vgl. Friedrich Glasl: Konfliktmanagement, 424; 4.1 Die Verfahrensverantwortung als Implikat der Mediatorenrolle).

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seiner wesenhaften Konfliktträchtigkeit permanent selbst neu zu organisieren, um sich dadurch auch in Bezug zu seiner Umwelt zu stabilisieren. Die Grundsätze geben Aufschluss darüber, von welchen Grundhaltungen mediatives Vorgehen geprägt ist. Sie konkretisieren die Art und Weise, wie die Struktur durch menschliches Handeln zweckdienlich verlebendigt wird. Im praktischen Vollzug von Mediation sind sie insofern relevant als sie für Medianten eine Orientierungsfunktion übernehmen und Mediatoren Hinweise bezüglich ihrer Verfahrensentscheidungen bieten. Die Grundsätze der Mediation weisen darauf hin, dass es eine Ethik mediativen Handelns gibt.271 Sie zeigen an, dass das professionelle Vorgehen von bestimmten Grundhaltungen und Grundüberzeugungen geprägt ist. Dadurch, dass in der Mediation Interaktionen initiiert werden, die dem Ziel der Konfliktregulation dienen sollen, werden diese ethischen Annahmen nicht nur von Mediatorenseite in das Vorgehen eingetragen, sondern müssen auch von den Medianten übernommen werden. Dies führt zu der Frage, inwieweit innerhalb des Mediationsverfahrens generiert werden kann, dass sich die Beteiligten grundsatzgemäß verhalten. Die Beteiligten nehmen das Mediationsverfahren nicht nur als Mediatoren oder Medianten auf, sondern auch als Menschen mit persönlichen Überzeugungen und Wertmaßstäben. Die Grenzen zwischen den Rollen innerhalb des Verfahrens und der Persönlichkeit der Akteure sind also fließend. Weil die Grundsätze mediatives Handeln sowohl praktisch konkretisieren als auch es normativ beanspruchen, ist es unumgänglich, dass die individuellen Grundhaltungen zu einem Mindestmaß mit den Grundsätzen der Mediation kompatibel sind. Die Grundsätze eint also, dass sie auf ein schon vorhandenes ethisches Fundament aufbauen. Demzufolge ist es innerhalb des Verfahrens nicht leistbar, alle nötigen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass sich die Beteiligten den Grundsätzen der Mediation gegenüber verpflichten. Kooperationsbereitschaft beispielsweise ist nur dort innerhalb des Verfahrens herstellbar, wo Menschen erstens einen Wert darin erkennen und zweitens dazu bereit und auch fähig sind, mit anderen zusammen zu arbeiten. Werden die Grundsätze daraufhin überprüft, inwieweit sie sich innerhalb des Verfahrens generieren lassen, treten graduelle Unterschiede zutage. Die Grundsätze können danach klassifiziert werden, wie sehr sie auf Voraussetzungen beruhen, die sich zwar dem mediativen Einfluss entziehen, auf denen mediatives Vorgehen aber aufbaut. Der Umfang des Voraussetzungsreichtums variiert also und wird nun als Kriterium angelegt, um eine Einteilung vorzu271 Unter der Ethik der Mediation soll hier die grundsatzgemäße soziale Bezogenheit der Beteiligten einer Mediation aufeinander gefasst werden. Weitere vertiefende Hinweise zu Grundhaltungen, Menschenbild und Ethik der Mediation vgl. Reiner Bastine: Konflikte klären, Probleme lösen, 14–22.

Verfahrensgrundsätze als Angebot zur Änderung von Verhalten

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nehmen. Als punktuell sollen hier die Grundsätze bezeichnet werden, die – wie im Falle der Kooperationsbereitschaft – zwar auf Kompatibilität mit der persönlichen Haltung der Beteiligten angewiesen sind, dennoch aber innerhalb des Verfahrens niedrigschwellig herzustellen sind. Die Mehrzahl der beschriebenen Grundsätze fallen in diese Kategorie: Orientierung an einem Phasenmodell, nicht entscheidungsbefugte dritte Instanz, Freiwilligkeit, Informiertheit, Vertraulichkeit, Kooperationsbereitschaft, Ergebnisoffenheit, Zukunftsorientierung. Der Mediator kann sie im Zuge seines professionellen Vorgehens überprüfen oder von den Medianten erbitten, sich ihnen gegenüber durch konkrete Vereinbarungen zu verpflichten.272 Unter die Kategorie genereller Grundsätze fallen hingegen diejenigen, auf die nur sehr begrenzt durch mediatives Vorgehen eingewirkt werden kann. Demzufolge müssen sie nahezu vollständig aus der persönlichen Selbstbeschreibung der Beteiligten hervorgehen und von hierher in die Mediation eingetragen werden. Die beiden generellen Grundsätze der Mediation sind Selbstbestimmtheit und Akzeptanz.273 Der Mediator kann durch modellhaftes Verhalten zwar versuchen die Beteiligten zu grundsatzentsprechenden Handlungen anzuregen, inwieweit sie sich aber tatsächlich selbstbestimmt und akzeptierend verhalten, bleibt letztendlich von außen noch unverfügbarer als im Falle der punktuellen Grundsätze.274

272 Ein Mediatorenamt zu übernehmen setzt voraus, sich über die Grundsätze des Verfahrens im Klaren zu sein und ihnen zuzustimmen. Deswegen ist die Frage danach, inwieweit sie sich innerhalb des Verfahrens herstellen lassen, hinsichtlich des Mediators zu vernachlässigen. Auch ist es nicht notwendig den Medianten gegenüber alle Grundsätze kenntlich zu machen. Die Orientierung an einem Phasenmodell erfolgt beispielsweise automatisch, indem der Mediator mit der Zustimmung der Medianten – die er sich nach dem Verfahrensgrundsatz der Freiwilligkeit prozessbegleitend fortwährend einholt – die Führung übernimmt. Demgegenüber muss Vertraulichkeit explizit vereinbart werden. 273 Die generellen Grundsätze sind in den konkreten Verfahrensmomenten auch punktuell. Wenn beispielsweise gewährleistet ist, einander ausreden zu lassen, zeigt sich die Akzeptanz des Zuhörenden dem Sprechenden gegenüber darin, dass dessen Anliegen uneingeschränkt Raum und Aufmerksamkeit gewährt wird. Gegenseitige Akzeptanz als Wertmaßstab geht aber über den konkreten Gesprächsmoment hinaus und bezieht sich auf die grundsätzliche Haltung einer Person anderen gegenüber. Es wird an späterer Stelle noch zu vertiefen sein, wie sich Persönlichkeitsstrukturen auf den Mediationsverlauf auswirkt (vgl. 4.2 Zur Bedeutung der Mediatorenpersönlichkeit). 274 Es kann darüber diskutiert werden, inwieweit die Unterscheidung zwischen punktuellen und generellen Grundsätzen der Mediation für ihren Erfolg tatsächlich relevant ist. Vereinbarungen, denen alle Beteiligten zustimmen, können ausreichen, um einen Konflikt zu regulieren. Darin aber muss die Ethik mediativen Handelns noch nicht aufgehen. Wenn es gelingt, die generellen Grundsätze weiter auszuschöpfen als nur in punktueller Hinsicht, erhöht sich die Selbstverpflichtung der Beteiligten ihren jeweiligen Konfliktpartnern sowie der Lösung gegenüber. Es lässt sich also von einer Relevanz für die Fremd- und Ergebnisbeziehung ausgehen. Diese gründet wiederum in der Selbstbeziehung des Menschen. Im Ergebnis dieser Untersuchung wird sich zeigen, dass dieser Zusammenhang auf die per-

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Mediation als ressourcenorientiertes Interventionsverfahren

Bis hierher lässt sich aussagen, dass Mediation als Methode bzw. Verfahren durch eine bestimmte Phasenstruktur einen Rahmen vorgibt, innerhalb dessen Konflikte kontrolliert reguliert und bearbeitet werden können. Damit ist sie ein Strukturierungsangebot. Die Grundsätze des Verfahrens zeigen anthropologische und ethische Leitgedanken auf, die sich über die Verfahrensebene hinaus auch direkt an die Persönlichkeit des Menschen wenden. Damit ist sie ein Haltungsangebot. Mediation schafft also eine Möglichkeit für Konfliktparteien, ihr konfliktförderndes Verhalten innerhalb eines äußerlich strukturierten Rahmens durch eine den Verfahrensgrundsätzen gemäße Haltung zu ändern. Der Verfahrenshergang ist dabei auf bestimmte Ziele hin ausgerichtet, die im Folgenden benannt werden sollen. Zu untersuchen, inwieweit eine Beziehung zwischen Grundsätzen und Zielen der Mediation besteht, führt zu dem Ergebnis, dass den generellen Grundsätzen der Selbstbestimmtheit und der Akzeptanz eine entscheidende Bedeutung in Hinblick auf die Qualität und die Nachhaltigkeit des Verfahrenshergangs zukommt. Ausgehend von dieser Annahme lassen sich die Grundsätze und Ziele der Mediation auf den Begriff der Verantwortung hin komprimieren. Dies gilt es mit Nachstehendem zu begründen.

3.4

Zur selbstbestimmten Verantwortung als Ziel der Mediation

Die Definition, die Phasenstruktur und die Grundsätze sind allesamt so angelegt, dass Mediation nach unterschiedlichen Richtungen hin justiert werden kann. Dies wurde anfangs unter den Begriff der konzeptimmanenten Adaptivität gefasst.275 Gleiches gilt auch für die Ziele von Mediation. Sie orientieren sich maßgeblich an den vorausgesetzten Fähigkeiten des Menschen, auf die Mediation rekurriert, um Verfahrenserfolge zu generieren.276 Dass sich Mediation maßgeblich am Menschen orientiert, bedingt ihre konzeptimmanente Adaptivität – macht sie geradezu notwendig – und zeigt sich dementsprechend auch in den Zielsetzungen der Mediation. Reiner Bastine hat versucht, die Ziele der Mediation in drei Kategorien einzuteilen: kontraktuelle Zielsetzung, kognitiv-emotionale Zielsetzung und interpersonelle Zielsetzung. Sie alle beschreiben Entwicklungsprozesse, die wechselseitig ineinandergreifen, wodurch sie sich gegenseitig verstärken und das Mediationsverfahren ausrichten.277 Die kontraktuelle Zielsetzung bezieht sönlichen Sinnzuschreibungen der Medianten zurückzuführen ist (vgl. III. Zur sinnhaften Selbstbestimmung als Determinante verantwortlichen Handelns). 275 Vgl. 3.1 Zur Definition von Mediation. 276 Vgl. Wolfgang Mutzeck: Kooperative Beratung, 118. 277 Vgl. Reiner Bastine: Konflikte klären, Probleme lösen, 15, Begriffe übernommen (H. z. S., WLL).

Zur selbstbestimmten Verantwortung als Ziel der Mediation

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sich darauf, »eine konsensuale (rechtsgültige) Vereinbarung unter bestmöglicher Berücksichtigung der jeweiligen konfliktären Interessen der Medianden«278 anzustreben. Es soll also zu einem konkreten Ergebnis gefunden werden, das einvernehmlich erzielt wird und bindend ist.279 Die kognitiv-emotionale Zielsetzung richtet darauf aus, einschränkende und zwieträchtige Beziehungszusammenhänge so zu bearbeiten, dass die Konfliktpartner sich konstruktiver und wertschätzender aufeinander beziehen können.280 Sowohl der rationale als auch der emotionale Zugang zueinander tragen dazu bei, sich besser miteinander zu verständigen. Ein rationaler bzw. kognitiver Zugang kann darin bestehen, die Perspektive des anderen einzunehmen. Auf emotionaler Ebene kann es hilfreich sein, sich in die Erfahrungen des anderen hineinzufühlen und dadurch partiell an seinem Erleben teilzuhaben. Die interpersonelle Zielsetzung bezieht sich auf das kooperative Vorgehen der Konfliktpartner. Es entwickelt sich, indem sich die Medianten wechselseitig aufeinander beziehen und gemeinsam eine einvernehmliche Übereinkunft anstreben.281 Durch eine offenere und konfliktfreiere Form des Umgangs miteinander wird eine der Konfliktregulierung dienliche Kooperation möglich. Zusammenfassend können die drei Zielkategorien des Verfahrens solchermaßen beschrieben werden, als dass erstens »eine konkrete, selbstbestimmte und nachhaltige Übereinkunft zu erreichen [ist], die auf den unterschiedlichen persönlichen Anliegen und konkreten Bedürfnissen der Konfliktpartner basiert und von ihnen einvernehmlich geschlossen wird. Zum anderen wird dieser Prozeß begleitet und gefördert durch ein besseres wechselseitiges Verständnis der Positionen im Konflikt, und er soll drittens zu einem kooperativeren Verhalten der Konfliktpartner zueinander führen«282.

In Hinblick auf diese Zielsetzungen kann einerseits festgestellt werden, dass sie der engen Verwobenheit von Sach- und Beziehungsebene in der Mediation Rechnung tragen. Durch sie wird konstatiert, dass sich Sachliches nur dann konstruktiv bearbeiten lässt, wenn zuvor die konfligierenden Aspekte auf der Beziehungsebene behoben oder zumindest hinreichend reguliert wurden. Im Gegenzug verändert sich die Beziehung der Konfliktpartner in Richtung eines kooperativen Verhaltens auch dann, wenn beiderseitiges Sachinteresse an einem gemeinsamen Bearbeitungsgegenstand besteht. Die Kräfte werden gebündelt und gemeinschaftlich im Sinne des allseits Gewollten eingesetzt. Andererseits Stephan Breidenbach u. a.: Einführung in Mediation, 262. Vgl. Reiner Bastine: Konflikte klären, Probleme lösen, 15. Vgl. Annegret Hugo-Becker u. a.: Psychologisches Konfliktmanagement, 136f. Ziele, die sich die Medianten selbst setzen, müssen dahin gehend überprüft werden, ob sie erreichbar erscheinen. Nur dann, wenn sich aus ihnen realistische Zukunftsperspektiven entwickeln lassen, wirken sie sich konstruktiv auf das gegenwärtige Vorgehen aus. Zur Wirksamkeit von Zielsetzungen vgl. Barbara Seidl: NLP, 64. 282 Reiner Bastine: Konflikte klären, Probleme lösen, 14.

278 279 280 281

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Mediation als ressourcenorientiertes Interventionsverfahren

spiegeln sich in den Zielen die Grundsätze der Mediation wider. Dies liegt darin begründet, dass die Grundsätze allesamt beschreiben, welches Verhalten der Beteiligten deeskalierende Effekte begünstigt und sie sich damit – ebenso wie die Zielsetzungen – am Menschen orientieren. Selbstbestimmtheit, Akzeptanz und Kooperationsbereitschaft beispielsweise stehen im Hintergrund, wenn von einer »selbstbestimmten Übereinkunft«, »besserem wechselseitigen Verständnis« und »kooperativerem Verhalten« gesprochen wird.283 Ergebnisoffenheit und Zukunftorientierung etwa beschreiben die Art des gemeinsamen, im Sinne der kontraktuellen Zielsetzung ausgerichteten Weges. Der Versuch, die drei Zielsetzungen den oben entwickelten Beziehungsebenen von Intervention284 zuzuordnen, führt zu dem Ergebnis, dass sie sich insbesondere der Fremdbeziehung und der Ergebnisbeziehung zuordnen lassen. Sowohl die kognitiv-emotionale Zielsetzung als auch die interpersonelle betreffen das wechselseitige Verhältnis der Konfliktpartner und nehmen dadurch die Fremdbeziehung in den Blick. Die kontraktuelle Zielsetzung bezieht sich auf die Übereinkunft am Ende der Mediation und deshalb auf die Ergebnisbeziehung. Damit kommt die Selbstbeziehung des Menschen nur implizit zum Tragen, etwa indem davon ausgegangen wird, dass einer Mediationslösung auf der Basis von Selbstbestimmung zugestimmt wird. Obwohl Mediation als Vermittlungsangebot auf Veränderungen innerhalb von Interaktionen abzielt und infolgedessen vornehmlich Sozialstrukturen in den Blick nimmt, reicht es mediationstheoretisch nicht aus, die Selbstbeziehung nur implizit zu berücksichtigen. Die Beschreibung der Eskalationsdynamiken hat gezeigt, dass sich Menschen in Konflikten häufig machtlos der Situation ausgeliefert fühlen. In der fortschreitenden Eskalation, die schließlich in blinder Zerstörungswut mündet, drückt sich der Kontaktverlust zu sich selbst aus, der sich interpersonal entlädt.285 Es fehlt an Selbst-Bewusstheit, die in Konfliktregulationsprozessen zuerst wieder hergestellt werden muss, bevor sie sich deeskalierend auf ein Außen hin weiten lässt. Handlungsmacht kann dann in einer Weise zurückerlangt werden, durch die sie zu einem motivationalen Merkmal von gemeinsamer Zukunftsgestaltung wird. Sie entspringt nämlich »der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln«286. Das heißt, dass sich Handlungsmacht als Macht zur Steuerung des eigenen Selbst sozial beziehen lässt. Dem muss aber eine Autonomisierung der Person vorausgehen, die sich zunächst in ihrer Interdependenz ausdrückt. Das heißt, dass sie über die Fähigkeit und die Mög283 Vgl. Definitionen von Mediation; 3.1 Zur Definition von Mediation. 284 Vgl. 2.6 Ressourcenorientierte Intervention als Angebot zur Gegensinnstiftung. 285 Vgl. 2.2 Die Eskalationsdynamik in Konflikten; 2.3 Zur Korrelation von intrapersonalen und interpersonalen Konflikten. 286 Hannah Arendt: Macht und Gewalt, 45.

Zur selbstbestimmten Verantwortung als Ziel der Mediation

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lichkeit dazu verfügen muss, sich eigenverantwortlich für sich selbst einzusetzen. In der Mediation können geeignete Hilfsmittel dafür an die Hand gegeben werden.287 Zu den grundsatzgemäßen (Vor-)Bedingungen für alles mediativ erfolgreiche Handeln gehört es daher, die Selbstbestimmtheit des Menschen zu stärken. Infolgedessen fühlt sich dieser wieder handlungsfähig, kann seine Handlungsmacht auch in der Interaktion mit anderen sozial beziehen und sie für ein konkretes gemeinsames Ziel einsetzen. Innerhalb dieses Prozesses, durch den Handlungsmacht zurückerlangt wird, vollzieht sich eine Wechselwirkung zwischen den beiden generellen Grundsätzen der Mediation Selbstbestimmtheit und Akzeptanz. Dadurch, dass zunächst der Mediator den Konfliktbeteiligten Akzeptanz entgegenbringt, erlangen sie eine neue Sicherheit und finden wieder einen Zugang zu ihrer Selbstbestimmungskraft. Im Zuge zunehmender Selbstbestimmtheit können sie ihre Handlungsmacht sozial beziehen und der Gegenpartei schließlich selbst Akzeptanz entgegenbringen. Diese Wechselwirkung vollzieht sich innerhalb des Mediationsprozesses fortlaufend in sich stets vertiefender Form. Infolgedessen verlagert sich der Schwerpunkt von der Beziehung zwischen Mediator und Mediant mehr und mehr auf die Beziehung der Medianten untereinander. Die Konfliktbeteiligten gelangen dadurch zunehmend in einen »Zustand positiver Freiheit«288, der sich konstruktiv auf Selbst-, Fremd- und Ergebnisbeziehung auswirkt. Der Ertrag dieser Zusammenschau von Grundsätzen und Zielen der Mediation vor dem Hintergrund der drei Beziehungsebenen von Intervention besteht zuerst darin, die drei genannten Zielsetzungen Bastines um eine zusätzliche Kategorie zu erweitern.289 Eine Zielsetzung, die sich explizit auf die Selbstbeziehung bezieht, soll hier als intrapersonale Zielsetzung bezeichnet werden. Ihr sind Freiwilligkeit und Informiertheit, vor allem aber der generelle Grundsatz der Selbstbestimmtheit zuzuordnen. Sie bezieht sich darauf, die Selbstbestimmtheit der Medianten solchermaßen zu stärken, dass diese Verantwortung für sich selbst sowie für ihr Verhalten im Konfliktregulationsprozess übernehmen. Die intrapersonale Zielsetzung weist signifikant aus, dass selbstbestimmte Verantwortungsübernahme zu den charakteristischen mediativen 287 Vgl. Josef Duss-von Werdt: homo mediator, 231, vgl. 229. 288 Matthias Iser : Art. Anerkennung, 292. 289 Reiner Bastine ist sich der Relevanz des individuellen Entscheidens und Verhaltens der Konfliktpartner zwar bewusst, arbeitet sie in Hinblick auf die Zielsetzungen aber nicht konsequent genug heraus: »Zwar ist Mediation immer eine Situation, in der zwei (oder mehr) Konfliktpartner miteinander Vereinbarungen aushandeln. Aber natürlich ist im Konflikt jede Person auch einzeln gefragt, inwieweit sie selbst bereit und in der Lage ist, sich auf Veränderungen einzulassen oder sie anzustreben – bzw. unter welchen Bedingungen es ihr möglich wäre, solche Veränderungen vorzunehmen. Deshalb ist es keineswegs erstaunlich, daß die Grundhaltungen der Mediation mit denen der Psychotherapie in vielem übereinstimmen« (ders.: Konflikte klären, Probleme lösen, 16).

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Mediation als ressourcenorientiertes Interventionsverfahren

Anliegen gehört, weil sie Menschen dazu befähigt, bewusst deeskalierend zu handeln.

3.5

Mediation als »selbstverantworteter Konsensweg«

Vor dem Hintergrund der um die intrapersonale Komponente erweiterten Zielsetzungen kann die oben vorgenommene Begriffsbestimmung für Mediation290 nun um die zentrale Komponente der beschriebenen Korrelation zwischen Selbstbestimmtheit und Akzeptanz ergänzt werden. Mediation lässt sich mit Gisela Mähler et al. dann als ein »selbstverantwortete[r] Konsensweg«291 beschreiben, worin die anthropologischen und ethischen Implikationen komprimiert zum Ausdruck kommen. Unter Selbstverantwortung lässt sich die Fähigkeit des Menschen fassen, sich auf sich selbst zu beziehen und autonom steuernd zu handeln. Seine anthropologisch begründbare Selbstbestimmungskraft wird dabei zielgerichtet im Sinne gewollter Bestands- und Niveausicherung eingesetzt. Für Mediation bedeutet dies, sich bewusst für ein Verhalten zu entscheiden, das der Konfliktregulation dienlich ist. Ausgehend von einer dafür notwendigen Selbstbezogenheit, die dafür Sorge trägt, auf eigene Bedürfnisse und Interessen Acht zu geben, bedarf es dazu auch eines fremdbezogenen Handelns. Dadurch wird die ethische Komponente als den Mediationsgrundsätzen gemäße soziale Bezogenheit der Beteiligten aufeinander mit einbezogen. Ein Konsensweg setzt Gleichberechtigung der Konfliktbeteiligten voraus, also die gegenseitige Akzeptanz der Autonomie des anderen. Als eine Konsequenz daraus folgt, eigene und fremde Bedürfnisse als gleichberechtigt anzuerkennen. Verantwortung für die Konfliktregulation zu übernehmen, zeigt sich deshalb darin, das eigene Verhalten solchermaßen zu steuern, dass es der intrapersonalen und interpersonalen Bedürfnislage der Situationsbeteiligten bestmöglich gerecht wird. Damit bildet Verantwortung das Bindeglied zwischen Selbst- und Fremdbeziehung und beschreibt die zentrale Voraussetzung für selbst- und fremdbezogenes Handeln in der Mediation. Die bis hierher herausgearbeitete Form selbstbestimmter Verantwortungsübernahme gilt für die Professionalität des Mediators insoweit, als er sowohl die Struktur als auch die Grundsätze der Mediation verkörpert. Indem er seine Mediationskompetenz verantwortlich und sachkundig einsetzt, prägt er das Verfahren durch Führungsentscheidungen, die er fortwährend selbstbestimmt zu treffen hat. In Hinblick auf die Medianten steht die inhaltliche Verantwortung für den Konflikt und seinen Ausgang im Vordergrund. Ihrer können sie sich 290 Vgl. 3.1 Zur Definition von Mediation. 291 Gisela Mähler u. a.: Gerechtigkeit in der Mediation, 18.

Mediation als »selbstverantworteter Konsensweg«

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selbstbestimmt dadurch annehmen, dass sie über wiedererlangte intrapersonale Stabilität konstruktiv interagieren. Mediation lässt sich also nicht sinnvoll beschreiben, ohne auf den Menschen und seine Verantwortung zu rekurrieren. Für den Mediationskontext ist es bedeutsam, dass sich Verantwortung ausdrückt, indem eine Handlung für den Handelnden selbst ebenso wie für seine Interaktionspartner als selbstbestimmt erkennbar ist. Dazu muss sich der Verantwortliche zunächst über seine Selbstbestimmtheit bewusst werden, um anschließend ausdrücken zu können, wofür, in welchem Umfang und unter welchen Bedingungen er Verantwortung übernimmt. Dies ist deshalb bedeutsam, weil Mediation als kommunikatives Angebot darauf abzielt, Sachverhalte möglichst so zu klären, dass aufseiten aller Beteiligten ein hinreichend ähnliches Verständnis292 darüber vorherrscht, welche Handlungsverpflichtungen zur Konfliktregulation eingegangen werden. Für diesen Vorgang ist es bedeutsam, Sachverhalte auf der Basis gegenseitigen Verstehens zu klären. Weil Kommunikation293 dabei das zentrale mediative Mittel ist, soll ihre Rolle in der Media292 Das Verstehen jedes Menschen hängt mit seinem subjektiven Erleben, seinem selektiven Wahrnehmen und seinen Vorstellungen über die Wirklichkeit zusammen. Deshalb lässt sich ein tatsächlich kongruentes Verständnis kaum herstellen. Für Konfliktregulation reicht es hingegen aus, sich über konkrete Maßnahmen zu verständigen, Zuständigkeiten festzulegen und zu überprüfen, ob auf allen Seiten ausreichend übereinstimmende Klarheit über sie herrscht. 293 Im Folgenden werden die Termini »Sprache« und »Kommunikation« verwendet. Für das Erkenntnisinteresse dieser Untersuchung ist es nachrangig, beide Begriffe dezidiert zu untersuchen. Es ist allerdings bedeutsam, auf das luhmannsche Kommunikationsverständnis hinzuweisen. Niklas Luhmann versteht »Kommunikation als einen dreistelligen Selektionsprozeß, der Information, Mitteilung und Verstehen miteinander kombiniert. Selektion bedeutet Auswahl aus mehreren Möglichkeiten« (Gregor Kneer u. a.: Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme, 81 [H. i. O.]). Die hier beschriebene Form der Selektion vollzieht sich auf jeder der angeführten Ebenen. Eine Information, die kommuniziert wird, bildet das Ergebnis einer Auswahl aus vielfältigen Möglichkeiten der Informationsweitergabe ab. Desgleichen gibt es mehrere Varianten von Mitteilungsarten. Die Informationsweitergabe kann beispielsweise schriftlich oder mündlich erfolgen sowie durch andere Ausdrucksformen. Der Prozess des Verstehens vollzieht sich ebenfalls selektiv. Hierzu lässt sich auf die verschiedenen Informationsinhalte hinweisen, wie Friedemann Schulz von Thun sie unterscheidet (»Sachinhalt«, »Selbstoffenbarung«, »Beziehung« und »Appell« [vgl. ders.: Miteinander reden, Bd. 1, 26ff.]). Ausgehend von diesen Vorüberlegungen geschieht Kommunikation dann, »wenn eine Informationsauswahl, eine Auswahl von mehreren Mitteilungsmöglichkeiten und eine Auswahl von mehreren Verstehensmöglichkeiten getroffen wird. Es ist wichtig zu betonen, daß von Kommunikation erst bei einer Synthese aller drei Selektionsleistungen gesprochen werden kann« (Gregor Kneer u. a.: Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme, 81 [H. i. O.]). Kommunikation beschreibt daher das selektive Inbeziehungtreten zueinander und umfasst damit eine Auswahl von Möglichkeiten des Austauschs, also auch verbale und nonverbale Formen. Die Fähigkeit des Sprechens voraussetzend, ist Sprache eine Form der bewussten und unbewussten Informationsweitergabe, wobei im Folgenden insbesondere die Verbalsprache gemeint ist. Sie wird damit als Teil von Kommunikation verstanden, die ihrerseits neben

116

Mediation als ressourcenorientiertes Interventionsverfahren

tion im Folgenden genauer untersucht werden. Anschließend gilt es, die Stellung des Menschen als Verantwortungsträger in der Mediation zu vertiefen.

3.6

Kommunikation als mediatives Mittel zur Übernahme von Verantwortung

Als professioneller Kommunikationsrahmen bietet Mediation Konfliktbeteiligten vornehmlich an, Konfliktrelevantes zu klären. Chancen und Grenzen von Mediation erschließen sich deshalb aus den Möglichkeiten von Kommunikation. Alles, was in der Mediation besprochen und vereinbart wird, hat also vorbereitenden Charakter in Hinblick auf ein Ziel, das zu erreichen gewünscht wird. Die angestrebten Veränderungen geschehen also nicht unmittelbar im Mediationskontext, sondern werden hier geplant, indem über sie kommuniziert wird.294 Während Kommunikation im Konfliktfall gestört ist, soll durch Mediation ein gegenläufiger Prozess initiiert werden. Positive Gegensinnstiftung kann dadurch angebahnt werden, wertschätzend zu reden und zuzuhören. Negative Tendenzen innerhalb von Konfliktkommunikationen werden dann nicht weiter genährt, wodurch es wahrscheinlicher wird, dass sich die Konfliktbeteiligten konstruktiv aufeinander beziehen und ihre Selbstbestimmungskräfte schließlich in Hinblick auf gewünschte Veränderungen zusammenschließen.295 Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass die Machtlosigkeit, die Konfliktbeteiligte innerhalb von Eskalationssteigerungen erleben, mit ihrer Sprachlosigkeit korreliert. Indem mediatives Kommunizieren dazu beiträgt, verbalen Formen des Ausdrucks auch nonverbale Formen mitberücksichtigt, also auch die Körpersprache. 294 Verstehensprozesse, Versöhnungsgeschehen etc. können sich zwar direkt in der Mediation vollziehen, aber sie stehen in Verbindung zu dem Austausch über konfliktregulationsrelevante Fragen. Sie zu klären, hat vorbereitenden Charakter bezüglich einer einvernehmlichen Lösung, die am Ende der Verhandlungen steht und im Anschluss an die Mediation umgesetzt werden muss. Deshalb ist es durchführungspraktisch relevant, zwischen einer Kommunikation, die Veränderungen vorbereitet, und den Veränderungen selbst zu unterscheiden. Ein Beispiel soll diesen Unterschied verdeutlichen: Eine Auftragsklärung wie: »Unser gemeinsames Ziel in dieser Mediation ist eine Umsatzsteigerung von 10 %.« ist illusorisch, weil Mediation lediglich kommunikativ vorbereiten kann, wie dieses erwünschte Ziel wahrscheinlicher wird. Ein erreichbares Klärungsziel wäre deshalb: »Unser gemeinsames Ziel in dieser Mediation ist es, zu klären, wie wir die Wahrscheinlichkeit dafür, innerhalb des Zeitraums x eine Umsatzsteigerung von 10 % zu erwirken, aktiv erhöhen können. Dafür sprechen wir über die Themen x, y und z.« Die Chancen und die Grenzen von Mediation bestehen also in ihrer Leistung, zu klären, wie bestimmte Veränderungen erfolgen können, wenn die besprochenen Maßnahmen tatsächlich umgesetzt werden. 295 Vgl. Martin Carmann u. a.: Fragen und Zuhören, 298.

Kommunikation als mediatives Mittel zur Übernahme von Verantwortung

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dass Medianten wieder sprachfähig werden, soll sich ihre selbsterlebte Handlungsfähigkeit erhöhen. Kommunikation ermöglicht es, wieder in Kontakt mit den eigenen Gestaltungspotenzialen zu kommen, sich dadurch einfühlend mit sich selbst und anderen zu verbinden und Fragen von Schuld und Scham zu überwinden.296 Dann kann es auf respektvolle Weise gelingen, sich gegenseitig als vollwertige Partner anzuerkennen und sich konstruktiv miteinander auseinanderzusetzen, wobei versucht wird, Verletzungen und Ungerechtigkeiten zu verhindern.297 Die oben vorgestellten Zielsetzungen der Mediation298 sollen also auf kommunikativem Wege erreicht werden. In Hinblick auf die intrapersonale Zielsetzung erhalten die Medianten die Gelegenheit dazu, sich auf sich selbst zu beziehen und eigene Interessen und Bedürfnisse auszudrücken. Durch gegenseitiges Zuhören und fortlaufendes Interagieren beziehen sich die Konfliktpartner wechselseitig aufeinander (kognitiv-emotionale Zielsetzung). Infolgedessen erhöht sich ihre Bereitschaft zu kooperieren, weil sie einander besser verstehen (interpersonelle Zielsetzung). Dieser Prozess des Austauschens klärt auch, worin Veränderungswünsche bestehen und verhilft schließlich dazu, sich einvernehmlich auf ein Verhandlungsergebnis zu einigen (kontraktuelle Zielsetzung). Die Zielsetzungen der Mediation können deshalb kommunikativ angestrebt werden, weil sich anthropologisch und ethisch begründen lässt, warum Kommunikation zur Konfliktregulation sinnvoll eingesetzt werden kann. Die Sprache ist ein anthropologisches »Elementarphänomen«299. Durch sie drückt der Mensch sein Selbsterleben aus und versucht, seine »sinnbezogene Wirklichkeit« für sich selbst und ein Außen verständlich zu machen. Dabei fungiert Sprache als ein Mittler zwischen dem, was der Mensch unmittelbar erlebt und der Einordnung des Erlebten in sein Wahrnehmungs- und Handlungssystem. Weil sie eine Distanzfunktion erfüllt, durch die es möglich wird, sich aus der Identifikation mit dem Umwelterleben zu lösen, dient sie dem Menschen schließlich dazu, seine Wirklichkeit zu bewältigen. Dabei kann er sprachlich auf vergangene Erfahrungen zurückgreifen und zukünftig Mögliches abbilden. Als Ausdruck menschlichen Verständigungshandelns lässt sich Kommunikation sozial beziehen, wodurch es zwischen Menschen möglich wird, sich über subjektives Erleben zu verständigen und Gemeinschaft herzustellen. Das bedeutet,

296 Vgl. Marshall B. Rosenberg: Konflikte lösen durch Gewaltfreie Kommunikation, 14. 297 Vgl. Friedemann Schulz von Thun: Miteinander reden Bd. 1, 162; Marshall B. Rosenberg: Gewaltfreie Kommunikation, 181. 298 Vgl. 3.4 Zur selbstbestimmten Verantwortung als Ziel der Mediation. 299 Egon Schütz: Sprache als anthropologisches und pädagogisches Elementarphänomen, 3, 11.

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Mediation als ressourcenorientiertes Interventionsverfahren

»Sprache führt und schließt die gesamte Aufbauordnung des menschlichen Sinnesund Bewegungslebens in deren unvergleichbarer Sonderstruktur zusammen. In ihr vollendet sich die Richtung auf Entlastung vom Druck des Hier und Jetzt, von der Reaktion auf das zufällig Vorhandene. In ihr gipfeln die Erfahrungsprozesse der Kommunikation, wird die Weltoffenheit zureichend und produktiv bewältigt und eine Unendlichkeit von Handlungsentwürfen und Plänen möglich. In ihr schließt sich alle Verständigung zwischen Menschen in der Gleichrichtung auf gemeinsame Tätigkeit, gemeinsame Welt und gemeinsame Zukunft«300.

Indem Sprache es dem Menschen ermöglicht, sich von seiner unmittelbaren Erlebenswelt zu distanzieren und dadurch einen Abstand zu schaffen, kann er Reflexionsleistungen vollziehen. Er handelt dann nicht mehr willkürlich auf einen Impuls reagierend, sondern kann sein Verhalten bewusst steuern. Diese Verhaltenskontrolle ist nur möglich, weil sich der Mensch über sich selbst bewusst werden, sein eigenes Triebverhalten steuern und sein Handeln auf ein selbstgesetzten Ziel hin ausrichten kann.301 Hierin besteht die anthropologische Voraussetzung dafür, Verantwortung als bewussten Handlungsakt übernehmen zu können. Demzufolge spielt die kommunikative Ausdrucksform des Menschen eine entscheidende Rolle in Hinblick auf die Übernahme von Verantwortung. Zu der anthropologischen Komponente kommt damit eine ethische hinzu. Sprache verbindet Menschen in ihrem Denken, Empfinden und Handeln miteinander und bietet die Möglichkeit zur gegenseitigen Verständigung. Sie nehmen Kontakt zueinander auf, indem sie miteinander kommunizieren und versuchen eine gemeinsame Verständigungsbasis herzustellen, die ihnen Gemeinschaft ermöglicht. Dadurch, dass Sprache solchermaßen fundamental mit der Existenz und Koexistenz von Menschen verbunden ist, drücken sich in ihr individuelle Werte aus, die sich schließlich auch im Handeln der Person zeigen. In einem Konfliktfall ist das Sprachhandeln von Personen aufgrund von Unvereinbarkeiten gestört. Das bedeutet, dass es den Beteiligten schwerfällt, mit sich selbst und ihrem Gegenüber konstruktiv in Kontakt zu kommen. Fehlgeschlagene Kommunikation gehört daher zu wesentlichen Konfliktursachen.302 Dadurch wird Kommunikation für die Konfliktpartner zu einem Medium des Missverstehens, über das eine negative Sinnstiftung generiert wird. Mediatives Kommunikationshandeln zielt dem gegenüberstehend darauf ab, Sprache wieder in ihrer ursprünglich gemeinschaftsbildenden Funktion erfahrbar zu machen und eine positive Gegensinnstiftung zu initiieren. Sprache als »zentrale Basis für Kommunikation und letztlich auch für Verständigung«303 soll in der 300 Arnold Gehlen: Der Mensch, 50. 301 Vgl. Max Scheler : Die Stellung des Menschen im Kosmos, 50; 2.4 Die Konfliktträchtigkeit des Menschen – Anthropologische Vorüberlegungen. 302 Vgl. 2.2 Die Eskalationsdynamik in Konflikten. 303 Larissa Krainer: Sprache und Mediation, 301.

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Mediation wertschätzend und gewaltfrei eingesetzt werden. Dabei hat sie sich stets im Spannungsfeld zwischen Missverstehen und Verstehen und demzufolge zwischen einem konfliktbezogenen und einem interventionsorientierten Sprachhandeln zu bewähren. Es gilt also Missverstehen in Verstehen zu wenden und konfliktbedingte Sprachlosigkeiten, -einschränkungen und -hemmungen durch eine wiedergewonnene Sprachfähigkeit zu ersetzen. Dadurch gelangt Sprache in ihrer sozialen Funktionalität zurück ins Bewusstsein und unterstützt dabei, sich den Grundsätzen der Mediation gemäß sozial aufeinander zu beziehen. Sprache als das Medium in der Mediation, mit dem interventionsrelevante Klärungen herbeigeführt werden sollen, zeichnet sich in zweifacher Hinsicht aus: »Einerseits fordert sie zu Bestimmungen (etwa zu Definitionen) heraus; andererseits ist sie als Medium des Definierens selbst nicht endgültig zu definieren.«304 Zum Zwecke eines gegenseitigen Verstehens ist der Mensch auf sprachliche Präzision angewiesen. Seine Sprachbotschaften bleiben aber grundsätzlich subjektiv konnotiert, weil sie seinem individuellen Erleben entspringen. Hinzukommend lässt sich Sprache selbst nicht restlos entschlüsseln. Deshalb erscheint sie »wie ein Medium ohne Grenzen, wie ein Mittleres, das dasjenige, was es vermittelt, und diejenigen, die es vermitteln, merkwürdig übertrifft und unterwandert«305. Sprache leistet es also nicht, Erlebens- und Sachzusammenhänge eindeutig zu beschreiben. Sie weist etwas Transzendentes auf, das sie selbst auflösen müsste, um die geforderte Bestimmungsschärfe zu erreichen. Darin wiederum ist sie begrenzt, weil Sprache ihre eigene Transzendenz nicht überwinden kann. Deshalb bleibt eine sprachimmanente Mehrdeutigkeit bestehen, die sich im Spannungsfeld zwischen Begrenzung und Unbegrenztheit zeigt. Sie bedingt, dass Interpretationsleistungen unerlässlich werden, wenn ein möglichst ähnliches Verstehen bei unterschiedlichen Personen angebahnt werden soll. Zwar wird Sprache nach festgelegten Regeln eingesetzt, aber Ausdruck und Verstehen werden nicht zuallererst den Regeln angepasst, sondern Sprachkompetenz besteht darin, gängige Ausdruckspraktiken individuell zu gebrauchen.306 Sprachlich werden dadurch Wirklichkeiten geschaffen. Indem der Sprechende auswählt, welche Teile seines subjektiven Erlebens er ausdrückt, begrenzt er seine nach außen hin dargestellte Wirklichkeit auf einen Teilaspekt. Der Hörer wiederum kann sich nur auf das sprachlich Ausgedrückte beziehen und es vor dem Hintergrund seiner eigenen Wirklichkeit verstehen.307 Die Botschaft, die der Sender einer Nachricht aus seinem persön304 305 306 307

Egon Schütz: Sprache als anthropologisches und pädagogisches Elementarphänomen, 6. A. a. O., 6. Vgl. Lars Leeten: Die Bewältigungskapazität von Sprache und ihre Grenzen, 82. Vgl. Axel Mecke: Die Sprache in der Mediation, 279.

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lichen Erleben heraus aussendet, ist also nicht notwendig kongruent mit der Botschaft, die der Hörer im Kontext seines Wirklichkeitserlebens empfängt.308 Sowohl für das, was sprachlich ausgedrückt wird, als auch für jedes Verstehen gilt, dass sie beide gleichermaßen auf Selektionsprozessen beruhen.309 Der Sprechende wählt aus, was er sagen möchte und der Verstehende trifft aus vielfältigen Möglichkeiten des Verstehens seine persönliche Wahl. Deswegen ist das Verstandene kein Duplikat des Gemeinten. Das Maß des Verstehens hängt davon ab, wie sehr die gewählte Verstehensmöglichkeit der Intention der ausgesendeten Botschaft ähnelt. Anders herum gilt, dass Missverstehen sich ergibt, weil sich die empfangene Mitteilung zu sehr von derjenigen unterscheidet, die gesendet wurde. Hinter versprachlichten Sachverhalten verbirgt sich also ein hohes Maß an realer Komplexität. In der Mediation wird einerseits versucht, diese Komplexität auf ein für Konfliktregulation notwendiges Maß zu reduzieren. Es wird also gemeinsam ausgewählt, worüber zu sprechen ist. Andererseits werden gemeinsame Interpretationsbemühungen angestrengt, um Verstehensprozesse explizit zu machen. Das beinhaltet, Aussagen zu kontextualisieren und zu schärfen, um Konfliktpotenzial zu minimieren und gegenseitiges Verstehen zu maximieren.310 Es geht also darum, zu klären: »Verstehst du, was ich von dir verstehe? Verstehe ich, was du von mir verstehst?«311 Dieses Vorgehen dient dazu, sich der unaufhebbaren Verstehensgrenze zwischen Personen so weitgehend wie möglich anzunähern. Verstehenszusammenhänge lassen sich dadurch zwar nicht vollständig kongruieren, können aber je nach Beziehung zwischen den Kommunikationsbeteiligten zweckdienlich miteinander abgeglichen werden.312 Von hierher kann es dann gelingen, sich über Sachverhalte auszutauschen, Perspektiven und Wissen zu teilen und sich schließlich kooperativ auf ein gemeinsames Ziel hin auszurichten. In diesem »Reichtum unserer Verständi-

308 In diesem Zusammenhang steht auch die Unterscheidung der Botschaftsebenen »Sachinhalt«, »Selbstoffenbarung«, »Beziehung« und »Appell« als unterschiedliche Teile einer Nachricht (vgl. Friedemann Schulz von Thun: Miteinander reden, Bd. 1, 25–43). 309 Vgl. Niklas Luhmann: Soziologische Aufklärung 6, 112. 310 Vgl. Peter Dörrenbächer : § 15 Erfolgreiche Kommunikation, 366f. Komplexitätsreduktion ist nicht mit Simplifizierung gleichzusetzen, sondern dient dazu, Komplexität kontrollierbar zu machen (vgl. a. a. O., 367). In der Mediation wird die Konfliktsituation zunächst sprachlich kontrolliert. Es entsteht eine Distanz zum real erlebten Kontrollverlust, der sich kommunikativ sukzessive abbauen lässt. 311 Josef Duss-von Werdt: homo mediator, 224 (H. i. O.). 312 Selbst dann, wenn ein expliziter Austausch über Gemeintes und Verstandenes erfolgt, bleibt das tatsächliche Ausmaß des Verstehens wage: »Wie weit ist konkrete Subjektivität kommunizierbar und unmißverständlich objektivierbar? Da wir nicht Menschen im allgemeinen, sondern jeweils unverwechselbar konkret sind, kommunizieren wir gleichzeitig auch die Resonanz, die jeder im Austausch mit dem anderen spürt« (ebd.).

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gungsmöglichkeiten«313 liegen dann die besondere Chance und die besondere Herausforderung mediativer Kommunikation, weil sich Verstehen nicht vollständig aus dem Kontext des Nichtverstehens herauslösen lässt. Es gibt Grenzen des Kommunizierbaren, weil manches subjektiv Bedeutsame nicht verbalisiert werden kann. Das bedeutet, dass immer etwas im Menschen zurückbleibt, das von außen nicht zu verstehen ist. Dieser Bereich des Nichtkommunizierbaren kann aber auch ohne die Voraussetzung des Verstehens respektiert werden.314 Gerade diese Wechselwirkung von Verstehen und Nichtverstehen macht Kommunikation in der Mediation als einen Prozess lebendig, der zwischen kognitiver und emotionaler Bezogenheit vonstattengeht. Sachliches Verstehen korreliert mit persönlicher Akzeptanz, sodass gleichermaßen inhaltlich an einem einvernehmlichen Ergebnis gearbeitet und stabilisierende Beziehungsarbeit geleistet wird. Beides greift dabei stets ineinander und befruchtet sich gegenseitig. Marshall B. Rosenberg hat diese Wechselwirkung in seinem Konzept der Gewaltfreien Kommunikation systematisch präzisiert. Davon ausgehend, dass Konflikte entstehen, weil Bedürfnisse315 von Menschen unerfüllt bleiben, gilt es, sie zu erkennen und mit ihnen konstruktiv umzugehen. Dies setzt voraus, sie nicht negativ zu konnotieren. Bedürfnisse stehen nicht für die schwache Bedürftigkeit des Menschen oder weisen ihn notwendigerweise als egoistisch aus, sondern sie sind »Offenbarungen des Lebens«316. Dieser Annahme Rosenbergs zufolge zeigt sich in den Bedürfnissen eines Menschen, was ihm wichtig ist und sein Leben bereichert. Über ihre Bedürfnisse drücken Menschen also ihr individuelles Menschsein aus. In Konfliktregulationsprozessen müssen deshalb zuerst die Bedürfnisse der Einzelpersonen kommunikativ erschlossen werden, um anschließend eine gemeinschaftliche Antwort auf die Frage zu finden: »Was ist in uns lebendig?«317. Es wird zunächst beobachtet, wodurch die eigene Lebensqualität eingeschränkt wurde. Gefühle, die sich daraus ergeben haben, können wahrgenommen und reflektiert werden. Von hierher lässt sich anschließend erkennen, welche Bedürfnisse erfüllt werden wollen. Ausgehend von dieser Erkenntnisgrundlage können dann konkrete Bitten aneinander gerichtet werden, die im besten Falle so miteinander vereinbart werden können, dass eine 313 Axel Mecke: Die Sprache in der Mediation, 330. 314 Vgl. Josef Duss-von Werdt: homo mediator, 224. Für Mediation lässt sich dieser unverfügbare Bereich des Nichtverstehens mit dem Begriff der »plausiblen Intention« beschreiben (vgl. 4.6 Die »plausible Intention«). 315 Zu den Grundbedürfnissen des Menschen zählt Marshall B. Rosenberg in Anlehnung an den Wirtschaftstheoretiker Manfred Max-Neef »körperliche Nahrung«, »Sicherheit«, »Verständnis«, »Kreativität«, »Liebe«, »Spiel«, »Erholung«, »Autonomie« und »Sinn« (vgl. ders.: Konflikte lösen durch Gewaltfreie Kommunikation, 27f.). 316 A. a. O., 27. 317 Ebd.

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einvernehmliche Lösung entsteht. Diese klärt, was genau getan werden kann, um unbefriedigte Bedürfnisse in einer Weise zu befriedigen, durch die sich das entstandene Konfliktpotenzial reguliert oder auflöst. Je klarer die Einzelperson um ihre eigenen Bedürfnisse weiß und sie wertschätzend und deutlich kommuniziert, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass ihren Bitten auch entsprochen wird, ohne dass sich die Konfliktpartner dabei gegenseitig im Denken, Fühlen und Sein beeinflussen.318 Sprache ist das Medium, das auf die beschriebene Art zwischen Konfliktpartnern vermitteln soll. Die Medianten verwenden sie ihren gängigen Ausdruckspraktiken gemäß. Je nach Sprachbewusstheit und Grad ihrer emotionalen Beeinträchtigung durch die Konfliktsituation319 berücksichtigen sie die ihnen bekannten Kommunikations- und Verhandlungsstrategien ggf. zusätzlich. Obschon die Literatur teilweise empfiehlt, Gesprächsregeln für die Mediation festzulegen320, zeichnet sich in der Kommunikation auf Mediantenseite deutlich das natürliche Ausdrucksvermögen der Konfliktpartner ab. Sie konzentrieren sich in der Regel vornehmlich auf die Inhalte, die es zu klären gilt, und weniger auf die Art und Weise, in der sie ihre Belange ausdrücken.321 Auf Mediatorenseite erfolgt Kommunikation hingegen professionell intendiert.322 Grundsätzliche Kommunikationsprobleme, wie sie sich aus der beschriebenen Eigenart des Phänomens Sprache ergeben, potenzieren sich in Konflikten. Im Allgemeinen entstehen sie, weil Menschen erstens wenig direkt miteinander sprechen, einander zweitens nur unaufmerksam zuhören und sich drittens missverstehen.323 Deshalb soll durch den direkten Kontakt der Konfliktpartner in der Mediation initiiert werden, dass einander Aufmerksamkeit entgegengebracht wird, um gegenseitiges Verstehen zu ermöglichen. Kommunikation zwischen Menschen ist grundsätzlich auf ein vermittelndes Medium 318 Vgl. Marshall B. Rosenberg: Konflikte lösen durch Gewaltfreie Kommunikation, 15; ders.: Gewaltfreie Kommunikation, 94. Zur detaillierten Beschreibung des Vierschritts aus »Beobachtung«, »Gefühlen«, »Bedürfnissen« und »Bitten« vgl. a. a. O., 43–108. 319 Starke Emotionen, die vom Konflikterleben herrühren und sich in der Mediation zeigen, erschweren es, Fragen der Sprachauswahl zusätzlich bewusst zu berücksichtigen. Je konsequenter es Konfliktpartnern deshalb gelingt, sich aus der Unmittelbarkeit des Konflikterlebens herauszulösen, desto eher können sie auch (sprachlich) bewusst agieren. Die dazu nötige Fähigkeit zur Distanzeinnahme wurde oben anthropologisch hergeleitet (vgl. 2.4 Die Konfliktträchtigkeit des Menschen – Anthropologische Vorüberlegungen). Dass die Distanzierungsfähigkeit durch den Gottesglauben verstärkt werden kann, weil sie sich sinnhaft begründen lässt, wird sich später beispielhaft am Verantwortungsverständnis Dietrich Bonhoeffers aufzeigen lassen (vgl. 13 Der verantwortliche Mensch; V. Zur Relevanz der Schnittstelle von Mediation und Theologie). 320 Vgl. 3.2 Das Verfahren als Antwort auf anthropologische Bedürftigkeit im Konfliktfall. 321 Vgl. 4.3 Die Inhaltsverantwortung als Implikat der Mediantenrolle. 322 Vgl. 4.1 Die Verfahrensverantwortung als Implikat der Mediatorenrolle. 323 Vgl. Roger Fisher u. a.: Das Harvard-Konzept, 60f.

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angewiesen.324 Die direkte Sprache als Primärmedium wird in Konflikten aber nur noch bedingt oder gar nicht mehr verwendet. Weil Konfliktregulation nur dann gelingen kann, wenn sie beim gegenwärtigen Zustand des Konfliktfalls ansetzt, muss dieser Umstand berücksichtigt werden. Das heißt, die konfliktbedingt ausgesetzte direkte Kommunikation muss zuerst ersetzt werden, bevor sie sich wieder herstellen lässt. Der Mediator steht deshalb persönlich und kommunikativ als vermittelndes, mediierendes Medium zwischen den Konfliktbeteiligten. Er erfüllt seine vermittelnde Funktion, indem er Sach- und Beziehungsarbeit kommunikativ miteinander verschränkt. Die Sprache in der Mediation und die intra- und interpersonalen Entwicklungen auf Mediantenseite wirken dabei wechselseitig aufeinander ein. Sprachliche Mittel werden bewusst dazu ausgewählt, um konkrete Veränderungen einer Situation zu erwirken, die sich in der Mediation zeigt. Im Gegenzug beeinflussen Veränderungen sowohl im Erleben der Einzelperson als auch in der Mediantengemeinschaft die Art, sich kommunikativ auszudrücken. In dem Maße, in dem es gelingt, das Medium Mediator zunehmend wieder durch das Medium direkter Sprache zu ersetzen, stabilisiert sich die Beziehung zwischen den Medianten. Die Mittel, die zu diesem Zweck von Mediatorenseite aus eingesetzt werden, bilden die Möglichkeit einer solchen Beziehung inhaltlich ab und fungieren dadurch als eine Art sprachlicher Vorgriff auf einen (wiedererlangten) respektvollen und wertschätzenden Umgang miteinander. Um zu verdeutlichen, wie sich das Gesagte praktisch vollzieht, sollen hier einige ausgewählte Beispiele gegeben werden. Weil Kommunikationsmittel dazu dienen, den Prozess strategisch zu führen, sind sie begründet auszuwählen und situationsangemessen einzusetzen. Bestimmte Fragetechniken können beispielsweise dazu beitragen, die Aufmerksamkeit der Medianten neu zu fokussieren. Dadurch wird begünstigt, destruktive Muster zu durchbrechen und unfruchtbare Aneinanderreihungen gegenseitiger Beschuldigungen zu unterbinden. Hypothetisches Nachfragen325 dient insbesondere dazu, problem324 Sprache ermöglicht es, Wirklichkeit zu formen und zu konstruieren. Daraus lässt sich allgemein schließen: »Jede Kommunikation ist vermittelt, mediiert. Es gibt keine Kommunikation zwischen Menschen, die ohne Medium auskommt« (Wolfgang Frindte: Einführung in die Kommunikationspsychologie, 22). Zur Unterscheidung von »Primär-«, »Sekundär-«, »Tertiär-« und »Quartärmedien« vgl. a. a. O., 20. 325 Axel Mecke führt die im Folgenden referierten Einsatzmöglichkeiten hypothetischer Fragen an: Die Umkehrung zeitlicher Reihenfolge bezweckt es, verengende Rahmenbedingungen aufzuweichen, um Ideen für alternative Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln. Die hypothetische Veränderung unterschiedlicher Denkstile erfolgt im Falle des induktiven Denkstils, indem hypothetisch angenommen wird, notwendige Details zur Entscheidungsfindung seien schon geklärt und es müssten lediglich allgemeine Zusammenhänge erarbeitet werden. Im Falle des deduktiven Denkstils wird vorausgesetzt, dass der prinzipielle Rahmen der Lösung feststeht und nur noch Detailfragen zu klären sind. Das Ausloten

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orientierte Denkmuster aufzulösen, gemeinsames Nachdenken neu zu flexibilisieren und dadurch Lösungsorientierung zu begünstigen. Wenn dabei die Grenzen dessen, was möglich erscheint, sprachlich erweitert werden, erweitern sie sich auch im Denken und es kommt zu kreativen Prozessen, die schließlich neue Realisierungsmöglichkeiten aufzeigen. Wertschätzung und Hinwendung zu den Konfliktpartnern transportiert der Mediator sprachlich, indem er Sprachstile übernimmt und verwendete Schlüsselwörter einsetzt. Er gibt inhaltlich wieder, was Medianten ausgedrückt haben und holt ihre Zustimmung dazu ein, es korrekt gespiegelt zu haben.326 Negativ konnotierte Ausdrücke wendet er in positive und vereinfacht fachlich kodifizierte Aussagen.327 Indem der Mediator die Sinnessprache der Medianten verwendet, knüpft er an ihre visuelle, auditive oder kinästhetische Prägung an, wodurch über die inhaltliche Bezogenheit hinaus auch eine emotionale gewährleistet bleibt.328 Verwenden Medianten Metaphern, um ihre Gefühlslage auszudrücken, aus ästhetischen Gründen, um eigenes Erleben zuzuspitzen oder auch ohne bewusste Intention329, gilt es zu überprüfen, ob die Wahl der Metapher das Verhalten der Personen bestimmt oder das Verhalten der Personen die Wahl der Metapher. Im ersten Fall können die Metaphern verändert werden, um Verhaltensänderung zu erzielen. Im zweiten Fall gilt es auf das Verhalten der Konfliktpartner direkt einzuwirken, wodurch sich die metaphorische Sprachwahl ändert.330

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der Prioritäten erfolgt über ein Gedankenspiel, innerhalb dessen ausgehend von einem hypothetisch erreichten Ziel unterschiedliche Alternativen zur Regulierung der Konfliktsituation durchdacht werden. Einen Entweder-Oder-Konflikt hypothetisch aufzulösen, lädt Konfliktparteien dazu ein, sich jeweils in einen Konfliktausgang hineinzuversetzen, der der eigenen sowie der gegnerischen Position hundertprozentig entspricht. In beiden Fällen ist zu beantworten, was für die jeweils »verlierende« Person gewährleistet sein müsste, damit sie mit der Lösung leben könnte (vgl. ders.: Die Sprache in der Mediation, 298–306, Begriffe übernommen [H. z. S., WLL]). Kommunikationsinhalte werden zu 45 % über die Verbalsprache und zu 55 % über die Körpersprache transportiert. Der tatsächliche Wortinhalt dessen, was verbal kommuniziert wird, ist nur zu 7 % bedeutsam, während der Klang der Stimme, also die Art des Verbalausdrucks zu 38 % auf Verständigungsprozesse einwirkt. Indem der Mediator neben den Inhalten auch die Ausdrucksweise und die Körperhaltung der Medianten berücksichtigt, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich von ihm verstanden und akzeptiert fühlen (vgl. Barbara Seidl: NLP, 38f.). Zur Vertiefung des gezielten Einsatzes von Fragetechniken unter Berücksichtigung der menschlichen Auffassungsfähigkeit vgl. die Ausführungen zum Präzisionsmodell der Sprache in Peter Dörrenbächer : § 15 Erfolgreiche Kommunikation, 373–375. Vgl. Axel Mecke: Die Sprache in der Mediation, 281–290. Vgl. a. a. O., 323. Vgl. a. a. O., 326f. (diese Annahme entstammt einem unveröffentlichten Beitrag von John M. Haynes). Eine Metapher bildet die Wirklichkeit subjektiv ab. Verstehen zu wollen, was sich hinter der metaphorischen Sprachwahl einer Person verbirgt, fördert das zwischenmenschliche Interesse aneinander und kann deshalb für Mediationszusammenhänge bewusst genutzt werden (zur Vertiefung vgl. Anita von Hertel: Steine im Weg).

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Techniken, wie die beispielhaft angeführten, sollen in zweifacher Hinsicht wirken: Erstens kommen sie solchermaßen zum Einsatz, dass sie direkt an die »sinnbezogene Wirklichkeit« der Medianten anknüpfen. Dies begünstigt, dass die Konfliktpartner sich inhaltlich verstanden und persönlich respektiert fühlen. Dadurch kann es gelingen, sie in ihrer Selbstbeziehung so zu stärken, dass sie sich für konfliktregulierende Prozesse auf der Sach- und Beziehungsebene öffnen und sich ihnen gegenüber selbstverpflichten. Damit zielen die Techniken zweitens darauf ab, Veränderungen im situativen Erleben und Deuten zu initiieren. Es soll also auf die »sinnbezogene Wirklichkeit« der Einzelpersonen eingewirkt werden, um die gemeinschaftliche Sinngebung der Situation zu wenden. Weil Sinngebung auf Interpretationsleistungen zurückgeht, müssen subjektive Plausibilitäten generiert und dann konsistent aufeinander bezogen werden.331 Der Kommunikationsprozess in der Mediation muss es deshalb ermöglichen, sich über Sinngebung zu verständigen und ihre konfliktbezogene negative Konnotation positiv zu wenden. Dafür bedarf es eines wertschätzenden Dialogs zwischen den Beteiligten mit der Absicht eines »einander Zukehrens«332 von Menschen, die ihre eigenen Anliegen selbstbestimmt vertreten und ihren jeweiligen Dialogpartner mit seinen Belangen akzeptieren. Damit sind die kommunikativen Voraussetzungen für Mediation als »selbstverantworteter Konsensweg« freigelegt, die insbesondere auf den beiden generellen Grundsätzen der Selbstbestimmtheit und der Akzeptanz fußen. Zur Kommunikation als mediatives Mittel kann zusammenfassend ausgesagt werden, dass der Mediator mit dem gezielten Einsatz kommunikativer Techniken intendiert, bestimmte Aspekte einer momentanen Interaktionssituation zu verändern und dadurch Sachliches und Soziales zu klären. Zugleich fungiert er als sprachliches Vorbild für wertschätzende Kommunikation und bietet dadurch den Medianten an, neue Interaktionsformen in ihre Beziehung zueinander zu etablieren. Sprachliche Mittel können dabei sehr kraftvoll auf intra- und interpersonale Prozesse einwirken. Sprache im Speziellen und Kommunikation im Allgemeinen haben also eine bedeutsame psychologische Relevanz und können über ihre informationsvermittelnde Funktion hinaus auf Ebenen des Hintergründigen und Subtilen wirken.333 Deshalb ist es bedeutsam, sich der fließenden Übergänge zwischen professioneller Begleitung und Manipulation bewusst zu 331 Zur Vertiefung der Subjektivität von Sinn vgl. Reinhard Fuhr u. a.: Kommunikationsentwicklung und Konfliktklärung, 163; II. Zur Unterscheidung von vordergründiger und hintergründiger Sinnstruktur ; III. Zur sinnhaften Selbstbestimmung als Determinante verantwortlichen Handelns. 332 Michael Benesch: Psychologie des Dialogs, 72 (rekurrierend auf Martin Buber). 333 Als Beispiel für eine gesichtswahrende kommunikative Führung, durch die sich verhärtete Fronten lösen, weil behutsam umformuliert wird, vgl. ein Fallbeispiel zu sexueller Belästigung am Arbeitsplatz in John M. Haynes: Das Aushandeln von Grenzen, 112–171.

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Mediation als ressourcenorientiertes Interventionsverfahren

sein und ihr verantwortlich Rechnung zu tragen.334 Wenn sich situatives Gespür mit fachkundigem Kommunikationshandeln verbindet, kann es gelingen, die Wechselwirkung von Realität und Sprache als selektives Abbild von Realität beziehungsfördernd und zugleich sachlich konfliktregulierend einzusetzen. Der Mediator ist dafür verantwortlich, kommunikative Prozesse der beschriebenen Art zu initiieren, während sich die Medianten vornehmlich der angeleiteten Kommunikationssituation hingeben. Ihre Verantwortung besteht zuerst darin, inhaltlich zu klären, was gewährleistet sein muss, damit ihr Konflikt reguliert werden kann. Anschließend sind sie dafür verantwortlich, sich den einvernehmlich getroffenen Vereinbarungen gegenüber auch handelnd zu verpflichten. Die Verantwortlichkeit des Mediators innerhalb dieses gemeinsamen Vorgehens ist dementsprechend anders konturiert als die Verantwortlichkeit der Medianten. Im Folgenden werden sowohl die Rollen- als auch die Persönlichkeitsmerkmale der Mediationsbeteiligten untersucht, um die Bedeutung von Verantwortung für die Mediation vertiefend zu klären.

334 Die Sokratische Mäeutik fungiert beispielsweise als ein Werkzeug insbesondere in der Kognitiven Verhaltenstherapie. Mit dieser Methode »soll der Klient durch die geleiteten ›naiven‹ Fragen des Therapeuten seine alten Sichtweisen reflektieren, Widersprüche erkennen, selbstständig funktionale Einsichten und Erkenntnisse erarbeiten und ihre alte, dysfunktionale Ansicht zugunsten der eigenverantwortlich erstellten aufgeben« (Wolfgang Weidner : Der Sokratische Dialog in Mediation und Coaching, 30). Solche Techniken sollten in der Mediation nur dann eingesetzt werden, wenn der Mediator entsprechend sachkompetent ist und er die Persönlichkeitskonstitution der Medianten sowie die Sachlage hinreichend berücksichtigt: »Für die Anwendung in der Psychotherapie gilt die Forderung, dass die KlientInnen intellektuell und psychisch in der Lage sind, eigenes Denken zu erfassen, zu beschreiben und zu reflektieren, für Veränderungen motiviert sind und Problemeinsicht besitzen. Die Therapeuten-Klienten-Beziehung muss stimmen und genügend Zeit vorhanden sein. Dieselben Kriterien gelten auch für Parteien in der Mediation« (ders.: Sokratischer Dialog in der Mediation?, 10).

4

Der Mensch als Verantwortungsträger in der Mediation

4.1

Die Verfahrensverantwortung als Implikat der Mediatorenrolle

In der Mediation ist der Mediator diejeige Instanz, die die beschriebene Verfahrensdimension konkret gestaltend umsetzt und dadurch in erheblichem Maße prägt. Durch ihn wird das Konzept wirksam und verlebendigt. Die Verfahrensdimension korreliert also mit der Person und deren professionellem Vorgehen, das dazu dient, zu konstruktiven Veränderungsprozessen innerhalb eines strukturierten Rahmens anzuleiten.335 Effektivität und Effizienz von Mediation hängen deshalb maßgeblich von sowohl professionellen als auch persönlichen Komponenten der Übernahme des Mediatorenmandats ab. Die Verfügbarkeit der Mediationskompetenz des Mediators und seine persönliche Befähigung greifen dabei eng ineinander und sind profilgebend für die Durchführung einer Mediation. Die Verfahrensverantwortung des Mediators besteht folglich darin, »eine Dienstleistung [anzubieten], die den Geführten helfen soll, mit Selbstständigkeit erfolgreich zu sein«336. Dies soll dadurch gewährleistet sein, dass der Mediator die strukturelle Verantwortung vollständig übernimmt und dabei inhaltlich unbeteiligt bleibt. Um dieser Verfahrensverantwortung angemessen nachzukommen, muss der Mediator sicherstellen, dass er sein Vorgehen an der Struktur der Mediation ausrichtet und sich zugleich im höchstmöglichen Maße an den Medianten und ihren Bedürfnissen orientiert. Unter dem Eindruck von einer grundlegenden Anspruchsvielfalt tariert er permanent situative Aspekte aus und kommt dadurch zu seinen Verfahrensentscheidungen. Vonseiten des Mediators muss dabei allgemein gewährleistet werden, dass das mediative Gesamtvorgehen mit seiner persönlichen Selbstpositionierung kompatibel ist. Um zielgerichtete Impulse setzen und dadurch für die Medianten eine si335 Vgl. Reiner Bastine: Konflikte klären, Probleme lösen, 17. 336 Gerhard Schwarz: Führen mit Humor, 178.

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Der Mensch als Verantwortungsträger in der Mediation

cherheitsspendende Position einnehmen zu können, bedarf es zunächst einer konsistenten Rollenklärung des Mediators. Seine Selbstpositionierung ist unerlässlich, um mediative Kompetenzen sachlich begründbar, dezidiert prozesssteuernd und zugleich flexibel einsetzen zu können. Diese Rollenklärung erfolgt einerseits nach außen gerichtet. Medianten wünschen sich anfänglich häufig, den Mediator als eine ihnen inhaltlich zustimmende und ihr Anliegen unterstützende Instanz für sich beanspruchen zu können. Deswegen ist von Beginn einer Mediation an klarzustellen, dass sich das Mediatorenamt strukturell gesehen von der Rolle eines Schlichters oder Richters unterscheidet.337 Weil die Funktion des Mediators ausschließlich darin besteht, die Medianten dazu anzuleiten, eigenständig zu einer einvernehmlichen Lösung zu gelangen, ist es nicht sachdienlich, ihn von bestimmten Lösungen überzeugen zu wollen.338 Demzufolge muss sich der Mediator den Medianten gegenüber als begleitende Person, als »Katalysator«, verständlich machen, der Mittel strukturierter Konfliktlösung dazu einsetzt, dass Differenzen »kontrovers ausgetragen« und anschließend »einvernehmlich geregelt«339 werden können. Demzufolge kann der Mediator seiner Verfahrensverantwortung erst dann sinnvoll nachkommen, wenn die Medianten darüber informiert sind, worin seine Aufgabe besteht und worin nicht. Überlassen sie ihm auf dieser Klärungsgrundlage die Verfahrenshoheit, legitimieren sie ihn auch für ein professionelles Vorgehen, das ihren eigenen Impulsen zeitweilig auch entgegengesetzt sein kann. Statt etwa für Positionen der Medianten Partei zu ergreifen, bleibt der Mediator inhaltlich außenstehend oder statt zu versuchen, Vergangenes umfassend aufzuklären, wird mediatives Vorgehen auf zukünftiges Veränderungspotenzial hin ausgerichtet.340 337 Der Mediator muss für sich und andere klären, aus welcher Rolle heraus er agiert. Aus dem Bereich der Gerichtsnahen Mediation ist beispielsweise bekannt, dass Entscheidungserwartungen an Richtermediatoren vorherrschen, weil dies zu ihrer gerichtlich kontextualisierten Rolle gehört. Die »Reflexion des rollenspezifischen Selbstverständnisses« (Niedersächsisches Justizministerium u. a.: Projekt Gerichtsnahe Mediation, 19, vgl. 18) ist deshalb unerlässlich, um den notwendigen Paradigmenwechsel vorzunehmen, durch den sich das Profil des Mediators von seinen außermediativen Rollen abgrenzt. 338 Vgl. Anitavon Hertel: Professionelle Konfliktlösung, 30. Der Mediator gewährleistet eine Prozessführung im Sinne prozessualer Gerechtigkeit: »Mediatoren sind dafür verantwortlich, daß die Auseinandersetzung um die unterschiedlichen Interessen so erfolgt, daß die Autonomie der Partner nicht eingeschränkt wird, und dabei gleichzeitig Verständigung und konsensuale Entscheidungen ermöglicht werden« (Reiner Bastine: Konflikte klären, Probleme lösen, 21). 339 Alle Zitate a. a. O., 34f. 340 In der Literatur lassen sich unterschiedliche Empfehlungen dazu finden, wie konsequent die inhaltliche Verantwortung für die Konfliktlösung tatsächlich bei den Konfliktparteien zu belassen ist. Neben der konzeptimmanenten Adaptivität liegen Gründen dafür vermutlich darin, dass die Grenzen zwischen einer mediativen Begleitung und einem (inhaltlichen) Eingreifen fließend sind. Friedrich Glasl beispielsweise beschreibt die Mediatorenhaltung folgendermaßen: »Der klassische ›Mediator‹ bemüht sich zwischen den

Die Verfahrensverantwortung als Implikat der Mediatorenrolle

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Dies erfordert Führungsstärke aufseiten des Mediators und neben der nach außen gerichteten Rollenklärung einerseits eine nach innen gerichtete andererseits. Je deutlicher sich der Mediator selbst seine inhaltliche Unbeteiligtheit vergegenwärtigt und eine an den Verfahrensgrundsätzen orientierte Haltung bewahrt, desto innerlich stabilisierter und infolgedessen führungskompetenter wird er mediativ auf den Prozess der Konfliktregulation einwirken können. Anders ausgedrückt: Gezielte und zugleich flexible »Hebammendienste« bedürfen einer innerlich geklärten und gestärkten Haltung.341 Der Fokus bleibt stets darauf gerichtet, die Verfahrensentscheidungen vornehmlich mediantenorientiert zu treffen. Im Europäischen Verhaltenskodex, demgegenüber sich Mediatoren freiwillig verpflichten können, wird diese Haltung des Mediators als allen Parteien gleichermaßen dienend beschrieben.342 Vornehmlich geht es also darum, das Verfahren Mediation für den Menschen dienstbar zu machen. Der Mediator kann dies über zwei unterschiedliche Wirkebenen erreichen, die sich wechselseitig bedingen und im Prozessverlauf verschieden relevant sind. Das strategische Verhalten des Mediators ist insbesondere zu Beginn daraufhin ausgelegt, eine Vorbildfunktion zu erfüllen. Es zeigt modellhaft auf, wie es gelingen kann, dass sich alle Konfliktbeteiligten gleichermaßen akzeptiert fühlen. Diese öffentliche Wirkebene ist gerade darauf angelegt, in Anwesenheit der generischen Parteien wertschätzende Verhaltensmöglichkeiten für alle wahrnehmbar zu präsentieren. Öffentliches Wirken dieser Art ist solange bedeutsam, wie sich die Konfliktparteien noch nicht (wieder) Parteien um einen akzeptablen Kompromiss, der den Interessen aller Rechnung trägt und eine Koexistenz ermöglicht« (ders.: Konfliktmanagement, 399). Zudem hält er es durchaus für verfahrensentsprechend, wenn der Mediator eigene Vorschläge zur Lösung einbringt und sie gar als potenzielles Druckmittel dahin gehend einsetzt, die »Haltungen der Konfliktparteien nachgiebiger zu machen« (a. a. O., 419. Zur Diskussion, inwieweit es zu den Aufgaben des Mediators zählt, Lösungen inhaltlich mitzuentwickeln, vgl. Leo Montada: Mediation, 50–53). In dem Maße jedoch, indem sich der Mediator in eine »bemühende« Haltung begibt, verliert er nicht nur an führungsrelevanter Unabhängigkeit, sondern wird inhaltlich mitverantwortlich. Werden die Lösungen nicht mehr ausschließlich von den Beteiligten selbst erarbeitet, sinkt zudem die Wahrscheinlichkeit, dass statt eines Kompromisses zu einem Konsens gefunden wird und statt einer »akzeptablen« Lösung zu einem Ergebnis, das tatsächlich zufriedenstellt. Darüber hinaus darf das Führungsmandat nicht dazu missbraucht werden, die Medianten in ihrer Autonomie zu beschränken. Sicherlich können Situationen eintreten, die es durchführungspraktisch nahelegen oder gar gebieten, disziplinarisch einzugreifen, um konfliktdynamisch bedingte Absurditäten zugunsten des weiteren konstruktiven Fortkommens zu durchbrechen. Solches Eingreifen fällt dann in den Bereich der Verfahrensverantwortung hinein, muss aber die Ausnahme bleiben. 341 Der Zusammenhang von Intra- und Interpersonalität ist für den Mediator auch in professioneller Hinsicht relevant. Selbstreflektierend mit den Qualitäten seines individuellen Menschseins umzugehen, stabilisiert seine Selbstbeziehung und erleichtert es, die Fremdbeziehung zu den Medianten sachgerecht und fachkompetent zu führen (vgl. 4.2 Zur Bedeutung der Mediatorenpersönlichkeit). 342 Vgl. Europäischer Verhaltenskodex für Mediatoren, 4.

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Der Mensch als Verantwortungsträger in der Mediation

direkt anerkennend aufeinander beziehen. Neben diesem gar als politisch zu bezeichnenden Verhalten, das die Wertschätzung gegenüber allen Beteiligten veröffentlicht, versucht der Mediator auf einer individuellen Wirkebene persönlichen Kontakt zu den einzelnen Medianten herzustellen. Je konsistenter es ihm gelingt, die Einzelperson in ihren subjektiven Erlebenszusammenhängen abzuholen, als desto stabiler lässt sich ein entsprechendes Vertrauensverhältnis aufbauen und aufrechterhalten. Dadurch erhöht sich schließlich auch die Wahrscheinlichkeit, zu einem Ergebnis zu gelangen, das den »lebendigen Bedürfnissen«343 der Medianten umfassend Rechnung trägt. Was hier als öffentliche und individuelle Wirkebene mediativen Handelns bezeichnet und voneinander unterschieden wurde, lässt sich unter dem Begriff der Allparteilichkeit zusammenführen. Die allparteiliche Haltung des Mediators zeichnet sich dadurch aus, »allen Seiten gleichmäßig zugewandt zu sein und sich für alle in gleicher Weise einzusetzen«344. Dies geschieht sowohl in öffentlicher als auch in individueller Form. Für Allparteilichkeit, die den Dienst am Menschen345 beschreibt, und ein zentrales Merkmal der Mediatorenhaltung ist, lassen sich in der Literatur verschiedene Begriffe, wie »Neutralität« »Unparteilichkeit« oder »Überparteilichkeit«, finden.346 Sie alle versuchen eine Haltung zu beschreiben, die sich durch »eine höchstmögliche Form der Distanz bei gleichzeitiger Nähe und Einfühlsamkeit in die jeweilige Situation« auszeichnet und sich dabei möglichst »persönlicher und inhaltlicher Bewertung«347 enthält. Die Begriffe eint darüber hinaus, dass sie alle bezüglich bestimmter Merkmale Unschärfen aufweisen und dadurch berechtigt hinterfragt werden können. Neutralität348 suggeriert, dass der Mediator unbeteiligt ist. Der Begriff leistet es 343 Axel Mecke: Die Sprache in der Mediation, 329. 344 Anita von Hertel: Professionelle Konfliktlösung, 31. 345 »Der Mediator hat in seinem Handeln und Auftreten den Parteien gegenüber stets unparteiisch zu sein und ist gehalten, im Mediationsprozess allen Parteien gleichermaßen zu dienen« (vgl. Europäischer Verhaltenskodex für Mediatoren, 4). 346 Die Vielzahl der Begrifflichkeiten zeugt von der Schwierigkeit, das Ideal der Mediatorenhaltung adäquat zu beschreiben und weist auf unaufhebbare innere Gegenläufigkeiten hin. Dies mag auch ein Grund dafür sein, warum Autoren teilweise unterschiedliche Begriffe nebeneinander führen. Sie scheinen zu versuchen, sich der für Mediation charakteristischen Komplexität der Mediatorenhaltung sprachlich anzunähern (beispielhaft vgl. Reiner Bastine: Probleme lösen, 37). Nach Ingrid Holler sind »Allparteilichkeit« und »Neutralität« einander zugehörig. »Neutralität« des Mediators bedeutet dann, Meinungen, Beurteilungen, Verhaltensweisen und Lösungsmöglichkeiten nicht zu kommentieren. »Allparteilichkeit« sagt hingegen aus, dass alles, was der Bewältigung des Konflikts dient, gleichermaßen anerkannt wird und seinen berechtigten Platz im Gesamtgeschehen erhält (vgl. Ingrid Holler : Mit dir zu reden ist sinnlos! … Oder?, 75). 347 Beide Zitate Stephan Breidenbach u. a.: Einführung in Mediation, 263. 348 Insbesondere der häufig verwendete Terminus »Neutralität« kann kontrovers diskutiert werden. Als Prämisse mediativen Handelns kann er zu einer »ängstlichen Einengung der Mediatoren« (Leo Montada u. a.: Mediation, 44) führen, wenn diese sich selbst verwehren,

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nicht, zwischen berechtigter inhaltlicher Neutralität und hinterfragenswerter persönlicher Neutralität zu unterscheiden. Letztere dürfte es erschweren, ein Vertrauensverhältnis zu den Medianten aufzubauen, weil dazu authentisch ausgedrückt werden muss, an dem persönlichen Erleben des anderen Anteil zu nehmen. Ähnliches gilt für Unparteilichkeit, wobei das Präfix un- nicht nur Neutralität ausdrückt, sondern gar daraufhin deutet, Parteilichkeit zu verneinen. Deswegen lässt er die Interpretation zu, dass sich der Mediator abkehrt. An den Begriff der Überparteilichkeit lässt sich anfragen, inwieweit er ein Autoritätsgefälle ausdrückt. Ein überparteilicher Mediator scheint den Parteien überlegen zu sein, sich also über sie und ihre Anliegen zu erheben. Demgegenüber zeigt Allparteilichkeit begrifflich am deutlichsten auf, an welchem Ideal die Mediatorenhaltung ausgerichtet sein sollte. Obschon sich anfragen lässt, inwieweit es tatsächlich möglich ist, sich für alle Parteien ununterschieden einzusetzen, gibt er doch eine zweckdienliche Orientierung vor, nämlich »neutral in den Inhalten und zugewandt zu den Menschen«349 zu bleiben. Die Parteinahme des Mediators begrenzt sich also darauf, sich jedem Konfliktbeteiligten gleichermaßen verständnisvoll zuzuwenden und ihn hintergründig dabei zu unterstützen, selbst Partei für seine eigenen Interessen zu ergreifen. Dafür bedarf es von Mediatorenseite aus eines sachkompetenten mediativen Handelns, das stets so angelegt ist, Medianten nur dort zu unterstützen, wo es angebracht erscheint. Sie zu führen soll nicht zum Selbstzweck werden, sondern dazu beitragen, die Selbstwirksamkeit der Medianten zunehmend zu erhöhen. Alle inhaltlichen Lösungsaufgaben werden dann den Konfliktbeteiligten überAnteil zu nehmen. Zudem gibt es Theorien, die besagen, dass die Fähigkeit des Menschen dazu, die eigene Beteiligung an fremdem Erleben zu steuern, eingeschränkt ist. Wenn äußere Begebenheiten visuell und/oder auditiv wahrgenommen werden, ereignet sich innerlich eine neurobiologische Resonanz. Obschon der Wahrnehmende nicht selbst betroffen ist, also weder notwendigerweise eigens handelt noch emotional reagiert, lassen sich entsprechende Gehirnaktivitäten nachweisen. Nervenzellen, die Spiegelneurone, sind dafür verantwortlich, dass es zu dieser neurologischen Analogie kommt. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn beobachtet wird, wie eine andere Person weint (vgl. Joachim Bauer : Warum ich fühle, was du fühlst, 23). Über dieses innere »Simultanprogramm« hinaus wird dadurch sogar die tatsächliche Handlungsbereitschaft des Beobachters vorbereitet (vgl. a. a. O., 39). Weil sich die Erfahrungswelten von Menschen hinsichtlich ihrer Grunderfahrungen des Lebens ähneln, mag es also sein, dass sie es nicht vollständig vermeiden können, physiologisch und emotional am Erleben eines anderen beteiligt zu sein. Für Mediation ist dies auch nicht notwendig. Hier geht es vielmehr darum, mit inneren Impulsen der Anteilnahme konstruktiv, transparent (vgl. Stephan Breidenbach u. a.: Einführung in Mediation, 263) und selbstreflektierend umzugehen (vgl. 4.2 Zur Bedeutung der Mediatorenpersönlichkeit). Dass vollständige (inhaltliche) Neutralität nicht gewahrt werden kann, vertritt auch John M. Haynes, der deshalb den Terminus »Balance« vorzieht, um zu beschreiben, was die Haltung des Mediators auszeichnet (vgl. ders.: Mediation [2000], 67, s. a. 66). 349 Anita von Hertel: Professionelle Konfliktlösung, 31.

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lassen, wodurch ihre Motivation erhalten werden kann.350 Mediationskompetenz beschreibt demgemäß die Fähigkeit des Mediators dazu, vielfältige Situationsfaktoren zu überblicken, abzuwägen, wo und wie Medianten in ihrem Fortkommen unterstützt werden sollten und methodisch darauf zu reagieren. Je umfassender das methodische Repertoire an verfügbaren Ressourcen, desto flexibler und passgenauer kann mediativ begleitet werden. Manche Autoren halten ein umfassendes Basiswissen des Mediators für eine entscheidende Komponente seiner Arbeit: »Die Theorienkompetenz bezieht sich auf die Möglichkeit, auf eine breite Grundlagenkenntnis zurückgreifen zu können. Für eine mediative Tätigkeit sind vor allem Kenntnisse der Rechtswissenschaft, Pädagogik, Psychologie, Gruppendynamik und Soziologie notwendig.«351

Sachverständig und kundig in Bereichen zu sein, die dazu herangezogen werden können, (soziale) Hergänge während des Konfliktregulationsverfahrens differenzierter deuten und entsprechend gezielt darauf reagieren zu können, dient der begründbaren Verfahrensgestaltung. Sich inhaltlich in der zu verhandelnden Sache auszukennen, birgt allerdings die Gefahr, aufgrund eigener persönlicher und inhaltlicher Bewertungen nicht mehr allparteilich sein zu können.352 Inhaltlich wenig sachverständig zu sein, kann es deshalb erleichtern, die Klärung des Konfliktgegenstands tatsächlich bei den Parteien zu belassen und sich vollständig darauf zu konzentrieren, optimale Verhandlungsbedingungen herzustellen. Der erforderliche Organisationsaufwand des Mediators, um Konfliktregulationsprozesse erfolgreich zu gestalten, erstreckt sich über unterschiedliche Ebenen. Zuerst muss das Arrangement der Mediation festgelegt werden. Dazu gehören beispielsweise personelle, räumliche und technische Entscheidungen sowie strategische Überlegungen zum sinnvollen Vorgehen. Je komplexer und sensibler eine Konfliktsituation, desto bedeutsamer ist ein sicherheits- und vertrauensspendender Interventionsrahmen mit detaillierten und auch taktischen Vorplanungen.353 Dazu muss der Mediator über »Organisations- und 350 Vgl. a. a. O., 21. 351 Wolfgang Mutzeck: Kooperative Beratung, 127. Gerhard Gattus Hösl fordert ein »fundiertes Grundwissen über die sozialen und psychischen Bedingungen von Konfliktverläufen, also eine entsprechende psychologische Versiertheit« (ders.: Mediation, 137). 352 Vgl. Josef Duss-von Werdt: homo mediator, 174. 353 Je brisanter eine Konflikt-, Krisen- oder Katastrophensituation, desto entscheidender sind Planungen zum Setting von Interventionsversuchen und hinsichtlich eines geeigneten kommunikativen Vorgehens. Das zeigen Peter Höbel und Thorsten Hofmann in ihrem Handbuch Krisenkommunikation anhand eines Dreischritts aus Grundlagenwissen, Prävention und Intervention ohne wissenschaftlichen Anspruch praxisbezogen auf (Peter Höbel/Thorsten Hofmann: Krisenkommunikation, München 2014).

Die Verfahrensverantwortung als Implikat der Mediatorenrolle

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Transferkompetenz«354 verfügen, die es ihm ermöglicht, die interventionsrelevanten Aspekte einer Konfliktlage zu erkennen und im Mediationsdesign angemessen zu berücksichtigen. Ein Mediationsverfahren dahin gehend zu organisieren, dass es einen äußerlich stabilisierenden Rahmen zur Konfliktbearbeitung bietet, ist eine notwendige Voraussetzung dafür, dass die Struktur der Mediation angewendet werden und zweckdienlich greifen kann. Optimale durchführungsrelevante Bedingungen unterstützen den Mediator dann darin, die Struktur der Mediation zu verkörpern, indem er sich authentisch eingibt. Innere, konkret prozessbegleitende Strukturierungsmaßnahmen können unter beschriebenen Bedingungen solchermaßen vorgenommen werden, dass sie die Medianten darin stärken, ihre Verhandlungen selbstverantwortlich aufzunehmen.355 Weil der Verlauf eines Konfliktregulationsprozess nicht im Vorfeld planbar ist, sondern vielfältigen Interaktionsfaktoren unterliegt, muss fortlaufend neu strukturiert werden. Flexibel auf Situatives zu reagieren und zugleich zu stabilisieren, zeichnet den mediativen Umgang mit der Struktur aus. Dies setzt aufseiten des Mediators kognitive und methodische Kompetenzen356 voraus, die es ihm ermöglichen, fortwährend im Wechselmodus von Erkennen und Reagieren zielgerichtet zu agieren. Um die Konfliktparteien bei ihrer Lösungsentwicklung adäquat unterstützen zu können, ist es notwendig, relevante Konfliktaspekte herauszuarbeiten. Deshalb versucht der Mediator seine Wahrnehmungen einzuordnen und Sachverhalte so zu kategorisieren, dass sie mit dem Selbsterleben der Konfliktbeteiligten abgeglichen werden können. Das bedeutet vornehmlich, dass er »Arbeitshypothesen über das Geschehen«357 bildet. Er versucht sich eine möglichst differenzierte Vorstellung von dem vorliegenden Konflikt und den daraus resultierenden Problemen zu machen, von den Personen mit ihren jeweiligen (differierenden) Interessen und emotionalen Regungen, von bestehenden Machtverhältnissen sowie von Zielen und Strategien, mit denen versucht wird, sie zu erreichen. Jede Annahme erfolgt zunächst hypothetisch und ist den Medianten dann kommunikativ so vorzubringen, dass sie sie bestätigen oder verneinen können. An ihrer Rückmeldung ausgerichtet kann dann entweder auf der Annahme aufgebaut werden oder sie wird revidiert. Dieser zirkuläre Reflexionsprozess dient dazu, die Situation diagnostisch zu durchdringen.358 Einordnungen können zuneh354 Wolfgang Mutzeck: Kooperative Beratung, 101. 355 Vgl. Gisela Mähler u. a.: Gerechtigkeit in der Mediation, 17. 356 Nach Wolfgang Mutzeck beziehen sich die kognitiven Kompetenzen insbesondere auf strukturelle, semantische und logistische Aspekte. Methodisch kompetent zu sein, zeigt sich in Aspekten zur Durchführung von Gesprächsführung, Moderation und Mediation (vgl. ders.: Kooperative Beratung, 101). 357 Reiner Bastine: Konflikte klären, Probleme lösen, 33 (H. i. O.). 358 Der hohe Zeitaufwand des diagnostischen Vorgehens in der Mediation (vgl. Friedrich

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mend konkretisiert werden, wodurch gegenseitiges Verständnis erwirkt und eine gemeinsame Verstehensbasis geschaffen wird. Diagnostisches Vorgehen dieser Art begünstigt es also, sich der Komplexität der Realsituation kommunikativ anzunähern, indem Annahmen zur Situation entwickelt, bestätigt, verworfen und geschärft werden. Je sorgfältiger es dabei gelingt, die Interessen, Ängste, Vorbehalte, Wünsche etc. der Beteiligten herauszuarbeiten, desto einvernehmlicher und kreativer entstehen tragfähige Lösungsmöglichkeiten mit anschließender Übereinkunft. Das bedeutet, dass die kontinuierliche Hypothesenbildung wechselseitiges Verstehen in einer Weise fördert und festigt, durch die ein Gerechtigkeitsempfinden angebahnt werden kann. Als Produkt einer gelungenen Beziehungsarbeit steht dann am Ende einer Mediation eine einvernehmliche Lösung. Dieses mehrfache Sondieren und Revidieren kann je nach Situation sehr viel Zeit- und Konzentrationsressourcen359 beanspruchen. Weil dies dem Bedürfnis der Konfliktparteien, möglichst schnell zu einer Vereinbarung zu gelangen, häufig zuwider läuft, und die Beteiligten zudem unterschiedlich stark an Einzelaspekten interessiert sind, können Spannungen auftreten. Diese lassen sich durch den persönlichen und vertrauensvollen Kontakt zwischen dem Mediator und den Medianten kompensieren. Demzufolge muss der Mediator während der sachbezogenen Arbeit am Konfliktgegenstand durchgängig auch als Instanz fungiert, die individuelle Sicherheit und emotionalen Rückhalt spendet, damit die Medianten ihm die Verfahrensführung auch in angespannten Lagen zugestehen.360 Je konsistenter also das Vertrauen der Konfliktbeteiligten sowohl in die sachliche Kompetenz als auch in die allparteiliche Zugewandtheit des Mediators, desto eher lassen sie ihn in seinen Verfahrensentscheidungen gewähren und tragen diese konstruktiv mit. Die Sachkompetenz des Mediators ist also eng mit seiner Sozialkompetenz verbunden. Seine Kommunikations- und Verhandlungsstärke, die der adäquaten ProzessGlasl: Konfliktmanagement, 424, 438) rentiert sich dann, wenn möglichst viele Unvereinbarkeiten ausgeräumt werden können, von denen sonst die Gefahr ausginge, dass sie die Realisierung des Mediationsergebnisses während der Umsetzungsphase schwächen. Je freier die Konfliktparteien auf dieser Grundlage zu eigenen Lösungsentscheidungen kommen, desto weniger bedarf es der Kontrolle durch den Mediator (vgl. a. a. O., 425). Sie schreiben dem Verhandlungsprodukt schließlich subjektiven Sinn zu, der dazu beiträgt, dass sie sich ihm gegenüber selbstverpflichten (II. Zur Unterscheidung von vordergründiger und hintergründiger Sinnstruktur). 359 Eine möglichst positive Grundstimmung trägt zum Wohlbefinden der Einzelperson in der Situation bei und wirkt zusätzlich gemeinschaftsbegünstigend. Beides ermöglicht es, kritische Momente in der Mediation besser auszuhalten und sie zu überwinden. Dazu kann es hilfreich sein, Gegenstimmungen – zunächst künstlich – zu erzeugen. In der Literatur wird beispielsweise das gemeinsame Lachen benannt, das die beeinträchtigende Wirkung von Stressfaktoren innerhalb der Situation abbauen soll (vgl. Gerhard Schwarz: Führen mit Humor, 162f.). 360 Vgl. Reiner Bastine: Konflikte klären, Probleme lösen, 19.

Zur Bedeutung der Mediatorenpersönlichkeit

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führung dienen, müssen deshalb grundsätzlich auch daraufhin angelegt sein, beziehungsfördernd zu wirken.361 Nur dadurch, dass der Mediator selbst sozialkompetent auftritt, kann er die konfliktträchtige Beziehung der Medianten anfänglich ersetzen und schließlich initiieren, dass sie sich einander (wieder) direkt zuwenden. Sachliche Kompetenz und persönliche Fähigkeit des Mediators müssen also ineinandergreifen, weil auch die Sach- und Beziehungsebene in Konfliktsituationen miteinander korrelieren. Während Sachkompetenz weitgehend vermittelbar und folglich erlernbar ist, gilt dies nur bedingt in dem Bereich von Persönlichkeitsbildung. Persönlichkeitsmerkmale des Mediators beeinflussen aber entscheidend die Wirksamkeit von Mediation. Es ist sogar davon auszugehen, dass sie weitaus bedeutsamer sind als methodische Aspekte.362 Der Mediator als Mensch gerät dort verstärkt in den Blick, wo es darum geht, eigene innere Selbstklärungen vorzunehmen, einfühlsam mit den Konfliktbeteiligten umzugehen und sowohl durch Flexibilität als auch durch Stabilität als eine verlässliche Instanz zu fungieren. Weil sein Handeln an den Grundsätzen der Mediation ausgerichtet sein soll, muss seine Persönlichkeitskonstitution mit ihnen kompatibel sein. Auch hier gilt wieder, dass die Orientierung an den punktuellen Grundsätzen leichter zu gewährleisten ist als ein den generellen Grundsätzen gemäßes Handeln.363 Selbstbestimmtheit und Akzeptanz sind allerdings insbesondere in Hinblick auf konsequente Führungsstärke und wertschätzende Hinwendung zum Menschen von entscheidender Bedeutung. Im Folgenden soll deshalb aufgezeigt werden, was Mediation als »selbstverantworteter Konsensweg« auf Mediatorenseite bedeutet und welche persönlichen Voraussetzungen es dem Mediator erleichtern bzw. es ihm erst ermöglichen, seine Verfahrensverantwortung erfolgreich zu übernehmen.

4.2

Zur Bedeutung der Mediatorenpersönlichkeit

Mediation ist eine Dienst-Leistung. Sie verbindet den Dienst am Menschen mit einer bestimmten Leistungsanforderung. Der sichtbare Anteil der Leistung, die der Mediator zu erbringen hat, zeigt sich im Einsatz seiner Mediationskompetenz. Das beschriebene methodische Vorgehen kann aber nur in dem Maße wirksam sein, in dem es auf der Basis einer festigenden persönlichen Vorleistung erfolgt. Um sachkompetent durch das Mediationsverfahren führen zu können, bedarf es deshalb auch einer weniger augenfälligen Leistung, die in dem 361 Vgl. Gerhard Gattus Hösl: Mediation, die erfolgreiche Konfliktlösung, 137. 362 Vgl. Peter Geißler : Mögliche Schnittstellen zwischen Mediation und Psychotherapie, 53. 363 Vgl. 3.3 Verfahrensgrundsätze als Angebot zur Änderung von Verhalten.

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Der Mensch als Verantwortungsträger in der Mediation

Selbstaufwand des Mediators besteht. Dass die beschriebenen anthropologischen Gesichtspunkte auch in die professionelle Mediatorenrolle hineinwirken, zeigt sich, wenn das Menschseins des Mediators hinsichtlich seines mediativen Wirkens in den Blick gerät.364 Dadurch wird offenkundig, dass der dargelegte Zusammenhang von Intrapersonalität und Interpersonalität auch in Bezug auf sein mediatives Wirken greift. Weil Mediation insbesondere aufgrund von nachhaltiger Beziehungsarbeit wirksam wird, ereignet sich der Dienst am Menschen dadurch, dass der Mediator eine professionelle Fremdbeziehung zu den Medianten365 aufnimmt. Das, was er dabei für die Medianten zu initiieren versucht, speist sich daher, dass er zuvor bestimmte Vorkehrungen in Bezug auf seine Selbstbeziehung getroffen hat. In der Mediatorenfunktion spiegelt sich also das wider, was ressourcenorientierte Intervention allgemein auszeichnet, nämlich unterschiedliche Beziehungsebenen für Veränderungsprozesse adäquat zu berücksichtigen und miteinander zu verweben.366 Allgemein ausgedrückt: Erst, wenn der Mediator gewährleistet, sich bewusst und sachdienlich auf sich selbst zu beziehen, kann er einen stabilen Fremdbezug zu den Medianten herstellen, der die Basis für erfolgreiche Konfliktregulierung bildet. Dieser Zusammenhang lässt sich an den generellen Grundsatz der Selbstbestimmtheit rückbinden, der nicht nur für die Medianten gilt, sondern auch als Voraussetzung für die Führungskompetenz des Mediators. Das selbstbestimmte Handeln des Mediators dient also dazu, seiner Führungsaufgabe auch unter dem Eindruck auszubalancierender situativer Faktoren im Konfliktregulationsprozess möglichst unabhängig nachzukommen. Seine Rolle in der Mediation kann er den Medianten gegenüber umso überzeugender vertreten, je klarer er sie für sich selbst definiert hat und je konsequenter er sie verkörpert. Es erfordert ein hohes Maß an Selbstreflexion, um die eigene Funktion nicht nur prinzipiell beschreiben zu können, sondern sie vor dem Hintergrund eines allgemeinen Grundverständnisses immer wieder auf die situativen Belange hin auszurichten. Je stärker sich der Mediator also mit seiner Rolle identifizieren kann, desto leichter gelingt es ihm, sie so zu flexibilisieren, dass Prozessgestaltung dynamisiert wird. Auf diese Weise wird Mediation der Definition Duss-von Werdts gemäß zu einem Standpunkt.367 364 Vgl. 2.4 Die Konfliktträchtigkeit des Menschen – Anthropologische Vorüberlegungen. 365 In Konfliktfällen – insbesondere auf der vierten Eskalationsstufe – sorgen sich die Konfliktparteien um ihr eigenes Image. Bündnisse mit Dritten sollen es in positiver Hinsicht stärken (vgl. Friedrich Glasl: Konfliktmanagement, 256ff.). Diesem Bedürfnis trägt der Mediator Rechnung, indem er auf professionelle Weise mit den Parteien koaliert. Dabei gewährleistet er eine Fremdbeziehung, in der er inhaltlich neutral bleibt und sich den Konfliktbeteiligten menschlich zuwendet. 366 Vgl. 2.6 Ressourcenorientierte Intervention als Angebot zur Gegensinnstiftung. 367 Vgl. Josef Duss-von Werdt: homo mediator, 149; 3.1 Zur Definition von Mediation.

Zur Bedeutung der Mediatorenpersönlichkeit

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Den Standpunkt der Mediation zeichnet insbesondere aus, dass der Mediator das, was er auf Mediantenseite zu initiieren versucht, gleichermaßen auf sich selbst bezieht. Das beinhaltet, dass er sich reflektiert, indem er Abstand zu seinem eigenen unmittelbaren Selbsterleben einnimmt.368 Er befragt sich dahin gehend, wie persönliche und professionelle Aspekte miteinander korrelieren: »Wie gestalte ich als Mediator meine Wahrnehmung? Was wird dabei bewußt? Wie können meine Wirklichkeit und mein Handeln beschrieben werden, wenn ich selbst der Beschreibende bin?«369 Der Mediator nutzt also die Fähigkeit des Menschen, zugleich Subjekt und Objekt von Selbstbetrachtung zu sein, für Mediationszwecke. Er führt in sich als Person den Mediator mit dem Beobachter zusammen und versucht dadurch auf die Bedingungen seines mediativen Handelns rückzuschließen.370 Abstand einzunehmen und in Kontakt zu sich selbst zu bleiben, erfolgt zeitgleich, wobei sich sowohl persönliche als auch mediative Ambitionen klären lassen. Für die Art der Selbstreflexion innerhalb der Mediatorenrolle gilt, sie auf mediationsrelevante Aspekte zu beschränken. Der Mediator setzt seine Selbstreflexionskompetenz also intentional ein, indem er sein Wahrnehmungsspektrum entsprechend begrenzt. Informationen unter mediativen Gesichtspunkten zu selektieren bezeichnet Duss-von Werdt als »intentionales Bewußtsein«: »Subjektives, Persönliches und Sachliches, ›Objektives‹ also, verbinde ich auf die Vermittlung gerichtet in mir zum homo mediator. Als solcher lasse ich mich nicht mit allem ein, was mir unter die Augen und zu Ohren kommt, sondern nur mit dem, worauf sich mein mediativer Blick richtet«371.

Der Mediator nimmt die situativen Komponenten der Konfliktregulierung unter dem Eindruck seines Vermittlungsauftrags also kontextuell, selektiv und reflexiv wahr. Er ist sich bewusst darüber, dass seine Wahrnehmung das Produkt von Vorentscheidungen ist, die er selbst getroffen hat. Damit ist er für seine Wahrnehmung verantwortlich, für daraus resultierende Erkenntnisse, für Vorstellungen über Wahrheit und schließlich für Entscheidungen hinsichtlich seines Denkens und Handelns, die sich in seiner Verfahrensgestaltung zeigen. Sich dessen bewusst zu sein, zieht es nach sich, auch persönlich dafür einzustehen. Von hierher begründet sich also die Verfahrensverantwortung des Mediators, die er nicht nur als Träger einer Rolle annimmt, sondern auch persönlich als Mensch.372 Die Bereiche des Professionellen und des Persönlichen greifen also eng 368 369 370 371 372

Vgl. 2.4 Die Konfliktträchtigkeit des Menschen – Anthropologische Vorüberlegungen. Vgl. a. a. O., 152. Vgl. a. a. O., 150. Beide Zitate Josef Duss-von Werdt: homo mediator, 152 (H. i. O.). Vgl. ebd.

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ineinander, weil der Mensch persönliche Vorentscheidungen trifft, die sich schließlich in seiner professionellen Rolle als Mediator widerspiegeln. Wenn davon auszugehen ist, dass das persönliche Profil den professionellen Erfolg maßgeblich beeinflusst, verwundert es kaum, dass an Mediatoren häufig hohe persönliche Ansprüche gestellt werden.373 Die »Goldenen Regeln« der Eigenschaften eines Mediators nach Nicolas Politis postulieren beispielsweise folgende Idealvorstellungen des Menschseins: »Vertrauen (confiance), Unparteilichkeit (impartialit8), Weisheit (sagesse), Mäßigkeit (mod8ration), Ehrenhaftigkeit (honnÞtet8)«374. Von den Konfliktbeteiligten als vertrauenswürdig anerkannt zu werden, dabei die Fähigkeit zu unparteilichem und weisem Handeln zugeschrieben zu bekommen und sich unter dem Eindruck dieser Zuschreibungen zugleich zu mäßigen und ehrenhaft zu verhalten, also demütig zu bleiben, beschreibt eine Sittlichkeit, die sich die Waage zwischen Führungsstärke und Selbstzurücknahme hält. Vor dem Hintergrund dieser und ähnlicher Vollkommenheitsvorstellungen ist der Mediator dazu herausgefordert, sich selbst als Vermittler so zu entwerfen, dass er einerseits ein realistisches Bild dessen zeichnet, was tatsächlich im Bereich seines Leistbaren liegt. Andererseits dient gerade die Orientierung an unerreichbaren Persönlichkeitsidealen dazu, sich selbst wachsamer zu überprüfen und bewusster zu handeln. Die Bedeutsamkeit der Mediatorenpersönlichkeit anzuerkennen und

373 Im Europäischen Verhaltenskodex für Mediatoren finden sich Angaben zur fachlichen Eignung von Mediatoren. Dort heißt es: »Mediatoren müssen in Mediationsverfahren sachkundig und kenntnisreich sein. Sie müssen eine einschlägige Ausbildung und kontinuierliche Fortbildung sowie Erfahrung in der Anwendung von Mediationstechniken auf der Grundlage einschlägiger Standards oder Zulassungsregelungen vorweisen« (http://ec. europa.eu/civiljustice/adr/adr_ec_code_conduct_de.pdf). Mit Ausnahme von einzelnen Hinweisen auf die Verfahrensgrundsätze finden sich in der Empfehlung keine weiteren Angaben hinsichtlich der Eignung von Menschen für das Mediatorenamt. Insbesondere in Ausbildungszusammenhängen liegt der Fall anders. Bei der Entscheidung, ob Menschen zur Weiterbildungsmaßnahme zugelassen werden, sollen ihre charakterlichen Dispositionen berücksichtigt werden. Beispielsweise müssen nach Ansicht des BMWA folgende Voraussetzungen für die Ausbildung zum Mediator erfüllt sein: »Vollendung des 26. Lebensjahres im ersten Ausbildungsjahr«, »Abgeschlossenes Studium oder vergleichbare berufliche Qualifikation«, »Mindestens zweijährige Berufserfahrung«, »Persönliche Reife und positives Menschenbild«. Weiter heißt es: »Es werden nur solche Teilnehmer/innen ausgebildet, die nach dem Gesamtbild ihrer Vorbildung und ihrer Persönlichkeit einen erfolgreichen Abschluss erwarten lassen« (http://www.bmwa-deutschland.de/index.php/ de/ausbildung%2C+zertifizierung.html). Solche und ähnliche Vorgaben lassen darauf schließen, dass es nicht nur darum gehen soll, Mediationskompetenz zu erlernen und anzuwenden, sondern auch darum, als Repräsentant eines mediativen Ethikverständnisses zu fungieren. 374 Nicolas Politis: L’avenir de la m8diation, in: Revue g8n8rale de droit internationale publique, 136–163 (H. i. O., Kommata durch V., WLL), Literaturangabe nach Josef Dussvon Werdt: homo mediator, 121f.).

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sich an ihrem Ideal zu orientieren, heißt demzufolge, »sich auf einen Weg zu machen, ohne je anzukommen«375. Mediatives Handeln zeichnet sich einerseits dadurch aus, dass Ergebnisse erreicht werden, weil sich der Mediator an Idealvorstellungen von Vermittlung orientiert und sein Handeln dementsprechend ausrichtet. Andererseits ist er ebenso wie alle anderen Mediationsbeteiligten ein fehlbares Glied in der Kette von Interaktionen, die auf Konfliktregulierung abzielen. Nur, wenn der Mediator auch in diesem Licht der Unvollkommenheit gesehen wird, können Umwege, die sich als Suchbewegung aus Imperfektionen des Gesamtvorgehens ergeben, als Teil der Konfliktlösung anerkannt werden.376 Sie drücken aus, dass den persönlichen Unzulänglichkeiten Raum gegeben werden kann und soll, um sie dann so zu integrieren, dass sie das Endergebnis nicht gefährden, sondern es im wünschenswerten Fall sogar bereichern. Dass der Mediator als Mensch mit Stärken und Schwächen auftritt und intrapersonal regulierend mit ihnen umgeht, hat demnach ebenfalls Vorbildcharakter. Für ihn selbst ist es zudem entscheidend, einen realistischen Selbstanspruch zu haben. Er muss sich darüber im Klaren sein, dass der Mediationserfolg nicht allein von seinem eigenen mediativen Wirken abhängt, sondern auch von einer Vielzahl anderer Kontextbedingungen beeinflusst wird. Dementsprechend sind Mediationen auch Gelegenheiten des Lernens für den Mediator, der erleben kann, dass nicht alle Geschehnisse seiner Kontrolle unterliegen. Infolgedessen hat er seine Verfahrensverantwortung vor dem Hintergrund seiner eigenen Fehlbarkeit zwischen Realität und Ideal einzuordnen, um seine Einflussmöglichkeiten realistisch einschätzen zu können. Die Vielzahl der Ansprüche, zwischen denen die Rolle des Mediators ausgespannt ist, ergibt sich vornehmlich aus seinen eigenen Vorstellungen, den Wünschen und Bedürfnissen der Medianten, verfahrensstrukturellen Notwendigkeiten sowie den situativen Relevanzen der zu regulierenden Konfliktsituation. Zwischen ihnen allen gilt es, eine sachdienliche Balance zu finden, dabei selbst als stabilisierende Instanz zu fungieren und den Prozess in Hinblick auf das gewollte Ziel hin flexibel zu gestalten. Folglicherweise befindet sich der Mediator dabei fortwährend in einem Zustand höchster Produktivität. Diese soll aber weitgehend unerkannt bleiben, um destabilisierenden Tendenzen vorzubeugen. Dazu ist ein hohes Maß an Selbstaufwand erforderlich, der darin besteht, die dem Mediatorenamt inhärenten Spannungen innerlich auszutarieren, damit sie den Verfahrensverlauf möglichst nicht beeinträchtigen. Intrapersonale Stabilisierungsmaßnahmen sind also deswegen so bedeutsam, weil sie schließlich in interpersonale münden. 375 A. a. O., 152. 376 Vgl. Reiner Bastine: Konflikte klären, Probleme lösen, 8.

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Infolgedessen bedarf es eines angemessenen Zustandsmanagements des Mediators, damit sich seine eigene innere Konfliktträchtigkeit so wenig wie möglich in die Mediation einträgt. Je effizienter es ihm deshalb gelingt, Unvereinbarkeiten, die während des Konfliktregulationsprozesses zusammenwirken, innerlich vorstrukturierend zu bearbeiten, desto weniger beeinträchtigen sie die Qualität seiner Aufmerksamkeit. Anders ausgedrückt: »Die persönliche Verfassung äußert sich am Grad der Aufmerksamkeit und der Art der Aufmerksamkeit.«377 Für die eigene ausgeglichene Gemütsverfassung zu sorgen, unterstützt den Mediator also darin, sich auf den Mediationshergang zu konzentrieren.378 Sein Befinden wirkt sich aber nicht nur konstruktiv oder destruktiv auf seine eigene Selbststrukturierung und die Verfahrensgestaltung aus, sondern kann auch die emotionale Verfassung der Medianten beeinflussen. Gelingt es dem Mediator auf öffentlicher und individueller Wirkebene eine positive Grundstimmung zu erzeugen, bietet er den Medianten dadurch an, sie für sich selbst zu übernehmen. Schwermütige Stimmungslagen, die häufig mit der negativen Sinnstiftung in Konflikten einhergehen, können dadurch moduliert werden.379 Infolgedessen lässt sich eine positive Gegensinnstiftung leichter erzeugen, was wiederum einer effizienten Konfliktregulierung zugutekommt. Der hohe Selbstaufwand des Mediators entsteht also deshalb, weil er die Gesamtsituation so aufmerksam wie möglich im Blick behält, das Wahrgenommene hypothetisch einordnet, durch professionelles Handeln darauf einwirkt und sich dabei fortlaufend im höchsten Modus des Selbstreflektierens befindet. Das heißt, wenn der Mediator ein Bild von seiner Sicht auf die Dinge entwirft, reflektiert er zugleich seine Wahrnehmungsposition, aus der heraus er seine Annahmen generiert.380 Er ist sich also dessen bewusst, dass er selbst 377 Anita von Hertel: Professionelle Konfliktlösung, 121 (H. i. O.). 378 Vgl. a. a. O., 124. Anita von Hertel bewertet die Gemütsverfassung des Mediators als »Grundlage gemeinsamen Erfolgs« (a. a. O., 133). Der Autorin zufolge kommt dem Zustandsmanagement des Mediators deshalb auch eine besonders hohe Bedeutung zu: »Sich ›gut‹ zu fühlen, also in guter Verfassung zu sein, beeinflusst Ihre Diagnosefähigkeit, Ihre Verarbeitungsfähigkeit und Ihre Handlungsfähigkeit. Wer in ungeeigneter Verfassung versucht, Lösungsfinder zu begleiten, ist im besten Fall wie ein Kompass im Magnetfeld, bei dem die Nadel konfus in alle Richtungen ausschlägt, im schlimmsten Fall wie ein ins Wasser gefallener Lotse auf der Suche nach dem Rettungsring« (a. a. O., 124). Hinsichtlich seines Zustandsmanagements kann der Mediator auf ein breites Spektrum an unterstützenden Möglichkeiten zugreifen. Dazu gehören Mentaltechniken (vgl. z. B. Barbara Seidl: NLP, 77ff.), aber auch spirituelle und religiöse Formen der Selbstausrichtung, z. B. die Meditation und das Gebet. Während der Mediation entlastet es den Mediator zudem, wenn er möglichst routiniert auf Strukturierungs- und Kommunikationsmethoden, wie z. B. das Spiegeln oder bestimmte Moderationstechniken, zugreifen kann (vgl. z. B. Ewald E. Krainz u. a.: Die Bedeutung der Moderationstechnik für Mediation und Konfliktmanagement, 281ff.). 379 Zu Phänomenen der Gefühlsübernahme vgl. Joachim Bauer : Warum ich fühle, was du fühlst, 11ff. 380 Dies kann gelingen, indem der Mediator gedanklich unterschiedliche Sichtweisen simu-

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grundsätzlich partiell und selektiv wahrnimmt und sein professionelles Handeln nur so weit zu verobjektivieren ist, wie er seine eigene Subjektivität gedanklich durchdringt. Je konsistenter es dem Mediator deshalb gelingt, seine Vorstellungen von dem Konflikt sowie von den daran Beteiligten und dem gemeinsamen Versuch der Konfliktregulation als Projektion seiner Gedankenwelt aufzufassen, desto eher kann er sich von eigenen Wertkategorien distanzieren, die er sonst (unbewusst) in den Verfahrensverlauf eingetragen hätte. Die eigene Wahrnehmung als Produkt von »sinnbezogener Wirklichkeit« anzuerkennen, eröffnet den Weg dahin gehend, bewertungsneutraler auf das Selbsterleben anderer blicken zu können. Wer um den Facettenreichtum seiner eigenen Erlebenskomplexität weiß, wird mit dem Blick auf das Erleben und Verhalten anderer demütiger. Zu erkennen, wie viel vom anderen glaubt und wie wenig tatsächlich gewusst wird381, begünstigt es, sich einer vorschnellen Bewertung zu enthalten. Dabei ist es notwendig, zwischen Beobachtungen und Bewertungen unterscheiden zu können. Hinsichtlich dieser Unterscheidung weist Rosenberg auf den indischen Philosophen Jiddu Krishnamurti hin, der unter der höchsten Form menschlicher Intelligenz verstand, zu beobachten ohne zu bewerten.382 Bewertungen führen häufig dazu, Menschen und Situationen festzulegen. Das zieht nach sich, weniger offen für Wahrnehmungspositionen zu sein, die von der eigenen abweichen. Aufseiten desjenigen, der sich von außen unrechtmäßig festgelegt fühlt, entsteht das Bedürfnis, Klarstellungen vorzunehmen. Interaktionen dienen dann vornehmlich dazu, äußere Bewertungen zur revidieren, was aber häufig in Form von Gegenbewertungen geschieht, die ihrerseits wiederum zu Richtigstellungen herausfordern. Es entsteht ein Kreislauf von Wahrnehmungsdifferenzen, der sich auf der Interaktionsebene von Bewertungen nicht durchbrechen lässt. Infolgedessen erhöht sich das Konfliktpotenzial immer weiter, weil sich aufseiten aller Interagierenden das Gefühl verschärft, unverstanden zu sein. Gelingt es hingegen, Beobachtungen von Bewertungen zu separieren, verminliert. Aus der Perspektive eines Interagierenden kann er sich darüber aufklären, wie er selbst (emotional) auf die Situation reagiert und welche Wünsche und Vorstellungen er hegt. Versetzt er sich gedanklich in die Position eines anderen Situationsbeteiligten, kann er sich in dessen Wahrnehmung hineinführen und dadurch seine eigenen Eindrücke um das potenzielle Erleben des anderen erweitern und dadurch differenzieren. Die (emotionale) Involviertheit lässt sich dann neutralisieren, wenn die Situation aus der Sicht eines unbeteiligten Beobachters betrachtet wird. Perspektivwechsel dieser Art begünstigen es, die erlebte Situation ganzheitlicher wahrzunehmen (vgl. Barbara Seidl: NLP, 52–60, Begriffe übernommen [H. z. S., WLL]). In der Realität vollzieht sich der Wechsel zwischen den unterschiedlichen Wahrnehmungspositionen sowohl sukzessiv als auch ineinander übergreifend. Je differenzierter es dem Mediator dadurch gelingt, die Situation zu erschließen, desto eher lassen sich begründete Verfahrensentscheidungen treffen. 381 Vgl. Anita von Hertel: Professionelle Konfliktlösung, 255. 382 Marshall B. Rosenberg: Gewaltfreie Kommunikation, 48.

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dern sich Verteidigungsreaktionen, weil Interaktionen dann deutlicher sachbezogen erfolgen können und vom Bereich des Persönlichen getrennt gehalten werden. Dadurch wird auch konstatiert, dass Bewertungen als Produkte von Wahrnehmungen differieren und dabei gleichermaßen berechtigt sein können. Die Funktionalität und die Bedeutsamkeit von Allparteilichkeit als inhaltliche Neutralität und menschenorientierte Zugewandtheit zeigen sich darin, möglichst zu beobachten ohne zu bewerten. Dies gelingt insbesondere dann, wenn Personen und Sachangelegenheiten getrennt voneinander wahrgenommen werden. Konfliktdynamiken entwickelt sich gerade daraus, dass eine derartige Trennung mit fortschreitender Eskalation immer weniger erfolgt. Indem unvereinbare Positionen, die von Bewertungen herrühren, eingenommen und verhärtet werden, entsteht negative Sinnstiftung. Um positiven Gegensinn zu generieren, müssen diese Bewertungen deshalb als solche erkannt und von Beobachtungen getrennt werden. Dazu entzieht sich der Mediator der Suche nach der vermeintlichen Wahrheit bzw. der »richtigen« Situationsbewertung und unterlässt es, das Gesagte zu beurteilen. Infolgedessen bleibt die Mehrdeutigkeit der verschiedenen Situationsdarstellungen unaufgelöst bestehen.383 Für den Mediator bedeutet dies einerseits, selbst mit einem hohen Maß an Ambiguitätstoleranz aufwarten zu müssen. Andererseits wünschen sich Konfliktbeteiligte oft, dass herausgearbeitet und festgestellt wird, was wirklich geschehen ist. Dies rührt daher, dass sie sich im Eskalationsgeschehen angeeignet haben, in Kategorien von »Gut« und »Böse« sowie »Richtig« und »Falsch« zu denken und dies mit ihrer eigenen Konfliktwahrheit gleichzusetzen. Da Mediation aber nicht vornehmlich darauf angelegt ist, Vergangenes zu klären, versucht der Mediator aufseiten der Medianten ein Verstehen dafür zu erwirken, dass ein Konflikt nicht gelöst wird, wenn die Beteiligten an ihren (Wert-)Vorstellungen festhalten und darauf bestehen, dass diese vom Gegenüber geteilt werden.384 Deshalb ist zu versuchen, die Aufmerksamkeit von Ansprüchen abzuziehen, die sich aus Bewertungen ergeben, und sie auf den dahinterliegenden Bedarf hin auszurichten, der bewertungsfrei beobachtet werden kann. Schließlich sind es nämlich »nicht die Ansprüche, sondern der Bedarf«385, an dem sich Mediationsentscheidungen und -vereinbarungen orientieren und infolgedessen stabilisieren. Allparteilichkeit muss es deshalb leisten, inhaltliche Neutralität in respektvoller Distanz zu den vorgebrachten Situationsdarstellungen zu gewährleisten und dabei zugleich persönliche Zugewandtheit zu postulieren. In dem Wissen, dass Mediation deswegen erfolgreich ist, weil die Gemeinschaft als Ort der Konsensfindung 383 Vgl. John M. Haynes: Mediation (2000), 72. 384 Vgl. a. a. O., 74. 385 Reiner Bastine: Konflikte klären, Probleme lösen, 43 (H. i. O.).

Zur Bedeutung der Mediatorenpersönlichkeit

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ebenso gewertschätzt wird wie der Konsens selbst386, gilt es deshalb, bedarfsorientiertes – das heißt menschenorientiertes – Denken und Handeln zu initiieren. Weil der Mediator die Situationsdarstellungen der Medianten auch unter dem Eindruck seiner eigenen Wertungen und Vermutungen wahrnimmt, hat er seinen eigenen Selbstaufwand ebenfalls daraufhin auszurichten, die Außenperspektive zu wahren. Innerlich zu klären, worin diese Einschätzungen bestehen und woher sie rühren, ermöglicht es ihm, sie anschließend professionell zu nutzen, um den Prozess der Konfliktregulation für die Medianten förderlich zu leiten.387 Vor dem Hintergrund der dargelegten Anforderungen an den Mediator wird die hohe Bedeutung seiner eigenen Persönlichkeitsdisposition deutlich. Selbstund Fremderwartungen treffen aufeinander und müssen durch bewusste Verhaltenssteuerung kanalisiert werden, damit persönliche und professionelle Stabilität sichergestellt ist. Der Mediator kann nämlich nur in dem Maße als eine verlässliche Orientierungsinstanz für die Medianten fungieren, in dem er dies auch für sich selbst sicherstellen kann. Dafür ist eine entsprechende Verhaltenssicherheit notwendig, die auf konsequenter Selbststeuerung beruht. Woher sich eine dementsprechende Persönlichkeitsstärke des Mediators speist, lässt sich nicht verallgemeinern. Deswegen bleiben die Beschreibungen zur Mediatorenpersönlichkeit in der Literatur auch oft immanent bzw. werden wie im Falle der »Goldenen Regeln« mit allgemeinen Tugendbegriffen umschrieben. Hinsichtlich der Frage, was Mediation als »selbstverantworteter Konsensweg« auf Mediatorenseite auszeichnet, lässt sich allgemein festhalten, dass er sich als Dienst am Menschen realisiert. Aus seiner persönlichen Selbstbeziehung heraus entwickelt der Mediator hinreichende selbstbestimmte Festigkeit dafür, die Fremdbeziehung zu den Medianten so aufnehmen zu können, dass er die professionelle Verantwortung für das Mediationsverfahren übernehmen kann. Seine innere Stabilität gewährleistet dabei, dass Professionalität gewahrt bleibt. Sie ermöglicht es ihm, sich den Medianten und ihren Anliegen mit »Mit-Gefühl« im empathischen Sinne zuzuwenden und dabei zu vermeiden, sich durch »Mit– Leid«388 selbst schwächen und situativ involvieren zu lassen. Vielfältige und häufig unvereinbare eigene und fremde Ansprüche müssen dabei ständig ausbalanciert werden, um zwischen ihnen solchermaßen zu vermitteln, dass ein Konsensweg gangbar wird. Verfahrensverantwortliche Führungsqualität zeigt sich dabei darin, die Selbstbestimmtheit der Konfliktpartner zu akzeptieren und sie als Medianten zugleich durch Veränderungsprozesse hindurch zu begleiten. 386 Vgl. Hans-Joachim Fietkau: Verlusteskalation in einem mediationsähnlichen Entscheidungsspiel, 230. 387 Vgl. Peter Geißler : Mögliche Schnittstellen zwischen Mediation und Psychotherapie, 55f. 388 Beide Zitate Anita von Hertel: Professionelle Konfliktlösung, 121 (H. i. O.).

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Damit ist allgemein ausgesagt, was von Mediatorenseite aus zu gewährleisten ist. Woher sich diese innere Festigkeit jedoch speist, die schließlich dazu führt, die eigene Selbstbestimmungskraft konsistent in Verfahrensverantwortung zu überführen, lässt sich hingegen nicht generalisieren. Wie der Dienst am Menschen also erfolgt, das heißt, wodurch sich die persönliche und infolgedessen unverfügbare menschliche Qualität des Mediators generiert, kann nur für den Einzelfall konkretisiert werden.389 Ausgehend von der Annahme, dass sich Mediation in Hinblick auf die Einzigartigkeit von Konfliktsituationen und die Bedürfnisstrukturen der Medianten stark individualisieren lässt, besteht eine Korrelation zwischen dem Verfahren und allen Beteiligten. Die Korrelation zwischen dem Verfahren und dem Mediator unterscheidet sich von der Korrelation zwischen dem Verfahren und den Medianten durch den Grad an Bewusstheit über das Gesamtvorgehen. Die Rolle des Mediators besteht darin, sachkompetent durch das Verfahren zu führen. Die Rolle der Medianten besteht darin, sich inhaltskompetent auf die Konfliktsituation und eine konstruktive Lösungsfindung zu konzentrieren. Der Mediator wirkt also unmittelbar und gezielt auf den Mediationsverlauf ein, während die Medianten das Verfahren durch ihr Verhalten vornehmlich unbewusst prägen. Bei den vorgenommenen Beschreibungen hinsichtlich des Mediators liegt auf seiner Selbstbeziehung deshalb Gewicht, weil der Selbstregulationskompetenz für den Mediationserfolg eine so entscheidende Bedeutung zukommt. Sie bildet die Basis dafür, die Fremdbeziehung zu den Medianten verfahrensverantwortlich als Dienst am Menschen aufzunehmen. Die Ergebnisbeziehung kommt auf Mediatorenseite nur insofern zum Tragen als die Inhaltsverantwortung der Medianten für ihren Konflikt und infolgedessen die von ihnen selbst erarbeitete Lösung zu akzeptieren ist. Worin diese Inhaltsverantwortung auf Mediantenseite besteht, soll im Folgenden betrachtet werden. Ebenso wie für den Mediator wird sich dabei zeigen, dass sich die Bedeutung der Verantwortung der Medianten nur dann vertiefend herausstellen lässt, wenn Persönlichkeitsaspekte berücksichtigt werden. Diesem Sachverhalt Rechnung tragend, werden Disposition und Relevanz der Mediantenpersönlichkeit in einem zweiten Schritt genauer zu untersuchen sein.

389 Das Verantwortungsverständnis Dietrich Bonhoeffers bietet eine Möglichkeit dazu, die Selbstbestimmtheit des Menschen in der Mediation und seinen Dienst am Mitmenschen religiös konnotiert zu begründen und dadurch für den Einzelfall eines glaubenden Menschen zu beschreiben. Dies wird an späterer Stelle zu zeigen sein (vgl. V. Zur Relevanz der Schnittstelle von Mediation und Theologie).

Die Inhaltsverantwortung als Implikat der Mediantenrolle

4.3

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Die Inhaltsverantwortung als Implikat der Mediantenrolle

Die Literatur zielt vielfach darauf ab, die methodische Seite von Mediation in Form von Lehrwerken zu beschreiben.390 Dadurch wird die Rolle der Medianten aus dem Blickwinkel des verfahrenstechnischen Vorgehens beschrieben. Zwar wird – allein schon durch die Anerkenntnis der Inhaltsverantwortung der Konfliktpartner – konstatiert, dass das Gelingen der Mediation maßgeblich von ihrem (Mit-)Wirken abhängt391, aber es bleibt eher implizit, was dies genau für die Seite der Medianten bedeutet. Die ethische Komponente, die für die Mediatorenpersönlichkeit in unterschiedlichen mediativen Kontexten mitberücksichtigt wird, spielt in Hinblick auf die Medianten zumeist eine untergeordnete Rolle. Zwar stimmen sie mit ihrer Teilnahme an einem Mediationsverfahren in die Grundsätze der Mediation ein, wodurch ein gewisses Maß an Kompatibilität von Verfahrenskomponenten und Mediantenpersönlichkeit vorausgesetzt werden kann, aber die tatsächliche Tiefe der Inhaltsverantwortung bleibt dabei unerschlossen. Dies ist aber dann notwendig, wenn hinterfragt wird, was Mediation wirksam und ein erarbeitetes Ergebnis tragfähig macht. Als Verantwortungsträger sind es schließlich die Konfliktbeteiligten selbst, die ihre individuelle Lösung entwickeln und persönlich dafür Sorge tragen, ihr Handeln verbindlich daraufhin auszurichten. Ähnlich wie für Mediatorenseite dargelegt, korrelieren dabei auch die Rolle und die Persönlichkeit der Medianten. Für die Medianten gilt grundsätzlich, dass sie zwischen der erlebten Destruktivität der Konfliktsituation und der möglichen Konstruktivität einer Konfliktregulation stehen. Das Mediationsverfahren, in dem die Konfliktbeteiligten die Rolle der Medianten annehmen, bildet deshalb die Schnittstelle zwischen Vergangenheits- und Zukunftsorientierung. Es bietet die Möglichkeit zur Veränderung an, der in dem Maße entsprochen werden kann, in dem die Konfliktbeteiligten gewillt sind, sich von der Vergangenheitsorientierung zu lösen und sich dafür zu öffnen, gemeinsam eine Zukunft zu planen, die sich von dem Zurückliegenden in positiver Weise unterscheidet.392 Auf Mediantenseite muss deshalb sowohl bevor eine Mediation aufgenommen wird als auch während des gesamten Mediationsverfahrens die Bereitschaft zu einem entsprechenden 390 Gerhard Gattus Hösl hat mit seiner Veröffentlichung eines der seltenen Beispiele für eine Mediationsliteratur vorgelegt, die sich durch die gewählte Leseransprache explizit auch an Medianten als Adressaten wendet (ders.: Mediation – Die erfolgreiche Konfliktlösung. Grundlagen und praktische Anwendung, München 2009). 391 Beispielhaft vgl. Reiner Bastine: Konflikte klären, Probleme lösen, 22. 392 Vgl. John M. Haynes: Mediation (2000), 81. Je länger die Aufmerksamkeit auf die Vergangenheit gerichtet wird, desto stärker bleibt das negative Erleben des Konfliktgeschehens präsent, wodurch sich konstruktive Konfliktregulierung erschwert. Es gilt also: »je mehr die Leute über die Vergangenheit reden, desto weniger heilsam ist es« (Marshall B. Rosenberg: Konflikte lösen durch Gewaltfreie Kommunikation, 50).

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Perspektivwechsel vorliegen. Es gehört zum Wesen des Konflikts, dass sich das jeweilige Konflikterleben der Beteiligten unvereinbar entgegensteht und sie – wie bereits erwähnt – zumeist unterschiedlich starkes Interesse an einer Mediation haben. Die Gründe dafür sind vielfältig. Anfänglich sind Konfliktbeteiligte häufig unzureichend über das Verfahren informiert. Auch begünstigen es die verhärteten Fronten, einer unbekannten dritten Person zunächst zu misstrauen, weil angenommen werden kann, dass sie die Interessen der Gegenseite vertritt. Aufgrund von bereits erfolglos unternommenen Versuchen, den Konflikt beizulegen, resignieren Konfliktbeteiligte häufig und erwarten nicht, dass es zu einer Einigung kommen könnte oder haben Angst vor einer erneuten Konfrontation. Auch können Konflikte so weit eskaliert sein, dass es den Beteiligten als unvorstellbar erscheint, auf die jeweils gegnerische Partei zu treffen. Hemmnisse rühren auch daher, nicht auf Unterstützung von Dritten zurückgreifen zu wollen.393 Diese und ähnliche Hindernisse müssen daher zunächst so weit überwunden werden, dass eine Mediation von allen freiwillig aufgenommen wird, damit eine grundsätzliche intrinsische Bereitschaft vorausgesetzt werden kann. Damit sich Konfliktbeteiligte für Konfliktregulation einsetzen, müssen sie selbst es wollen. Der Wille einer Person muss in ihrem Inneren so gegründet sein, dass er sich nach außen hin als hinlänglich beständig erweist. Deshalb lässt sich annehmen, dass Konfliktbeteiligte ihren Konflikt aus eigener Kraft reguliert hätten, wenn ihr beiderseitiger Wille dazu stark genug gewesen wäre. Es bedarf also der Unterstützung von außen, damit die Konfliktbeteiligten ihr Handeln an der Schnittstelle von Destruktivität und Konstruktivität willentlich in Richtung Konfliktregulation ausrichten können. Weil die Mediantenrolle nur in Bezug zum Mediationsverfahren und zum Mediator besteht, lässt sie sich nicht unabhängig vom Mediationskontext und meditativem Wirken beschreiben. Das heißt, es bestehen ein Eigen- und ein Fremdanteil, die das Handeln der Medianten von zwei Seiten her bestimmen. Der mediative Fremdanteil besteht darin, die realistische Möglichkeit zur Situationsveränderung glaubhaft zu plausibilisieren und dadurch den Willen zur Konfliktregulation zu stärken. Innere Überzeugungen und äußeres Einwirken greifen dann solchermaßen ineinander, dass sich schließlich das tatsächliche Maß an Bereitschaft zur Konfliktregulation zeigt. Die intrinsische Motivation ist dabei grundsätzlich einflussreicher als extrinsische Motivationsfaktoren. Demgemäß kann zwar von außen unterstützt werden, letztlich bleibt aber unverfügbar, inwieweit sich Konfliktbeteiligte tatsächlich selbstbestimmt für Konfliktregulation entscheiden. Sie nehmen also nur dann freiwillig an einer Mediation teil, wenn sie selbst es für möglich und sinnvoll erachten, die betreffende Konfliktsituation regulieren zu können. 393 Vgl. Reiner Bastine: Konflikte klären, Problem lösen, 22f.

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Ist es gelungen, zwecks einer gemeinsamen Mediation zusammenzukommen, trifft – gemäß der Vielzahl von Ansichten über den Konflikt – auch eine Vielzahl an unterschiedlichen Erwartungen an das gemeinsame Vorgehen aufeinander. Ihren eigenen Vorstellungen entsprechend nehmen die Beteiligten dann ihre Rolle als Medianten innerhalb der gegebenen Personenkonstellation ein. Einige versuchen, sich vom Konfliktproblem unbeteiligt zu zeigen. Dies spiegelt sich häufig in der offenkundig nur begrenzten Bereitschaft dazu wider, sich aktiv in den Verhandlungsprozess einzubringen. Andere stellen ihre Macht- und Hilflosigkeit in den Vordergrund und erhoffen sich, von außen unterstützt zu werden, ohne ihre eigenen Handlungsmöglichkeiten realistisch einzuschätzen und entsprechend auszuschöpfen. Eine weitere Rollenfärbung besteht darin, dass sich Medianten informiert zeigen und bereit dazu sind, sich konstruktiv und kooperativ einzubringen. Dabei kann es möglich sein, dass sich ein gleichmütiger Abstand zum Konflikt und seiner Regulierung ergibt, wodurch sich sachliches Interesse am Angebot der Mediation mit der Tendenz zur emotionalen Indifferenz verbindet.394 Diese und weitere Beziehungsmuster395 eint, dass zwar das notwendige Maß an Bereitschaft besteht, eine Mediation aufzunehmen, damit aber noch nicht unbedingt sichergestellt ist, dass sich die Medianten ihrer Verantwortung für den Konflikt und seinen Ausgang bewusst sind. Dies ist aber notwendig, weil sie diese Verantwortung nur dann übernehmen, wenn sie zuvor anerkennen, dass ihr Verhalten auch dazu beigetragen hat, den Konflikt entstehen zu lassen und infolgedessen nun dazu beitragen muss, ihn beizulegen. Mediation stellt dabei nicht die Lösung der Situation dar. Sie wirkt wegweisend hinsichtlich einer Klärung dessen, was dafür nötig ist, um den Konflikt regulieren zu können. Die Grundlage dafür bilden Informationen, die die Medianten in der Mediation offenlegen. Kommt es zu einer einvernehmlichen Lösung, steht am Ende der Mediation eine Vereinbarung, die umgesetzt werden muss, bevor sich gewünschte Veränderungen realisieren können. Das Handeln der Medianten ist also durchgehend maßgeblich dafür, dass Ergebnisse zunächst entwickelt und anschließend auch verwirklicht werden. Inhaltsverantwortung der Medianten beschreibt deshalb ihre unübertragbare Selbstverantwortung für den Konflikt. Mit der Intention, den Konflikt beizulegen, geht einher, sich so konsequent wie möglich für die Konfliktintervention zu entscheiden und die Rolle des Medianten über der Rolle des Konfliktbeteiligten dominieren zu lassen. Das be394 H. z. S., WLL. Die vorgestellten Beziehungstypen von »Besuchern«, »Klagenden« und »Kunden« gehen auf Beziehungskonstellationen zwischen Klienten und Therapeuten in psychotherapeutischen Zusammenhängen zurück (vgl. Peter de Jong u. a.: Lösungen (er-)finden, 97–116). Ihren Grundtendenzen nach lassen sie sich auch auf den Mediationskontext beziehen (vgl. Reiner Bastine: Konflikte klären, Problem lösen, 23f.). 395 Zur Vertiefung weiterer Beziehungskonstellationen vgl. a. a. O., 24.

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inhaltet, verhaltensregulierend mit Konfliktmustern umzugehen, die insbesondere zu Beginn einer Mediation noch vorherrschen. Ein offensiver Konfliktstil zeichnet sich beispielsweise durch Kampf aus. Ein nach diesem Muster Streitender tritt tendenziell aggressiv und bestimmend auf. Ihm wird häufig eine Täterrolle zugeschrieben. Demgegenüber zeigt sich ein defensiver Konfliktstil in der vorherrschenden Neigung dazu, sich vom Geschehen abzuwenden. Infolgedessen nimmt ein defensiv Streitender innerhalb eines Konflikts vornehmlich die Opferrolle ein. Während der offensiv Streitende durch sein kämpferisches Auftreten Macht ausübt, geht diese vom defensiv Streitenden dadurch aus, Prozesse zu verzögern und zu blockieren, indem er sich zurückzieht.396 Für die Konfliktregulation ist es bedeutsam, dass die Machtverhältnisse ausgeglichen sind. Kampfes- und Rückzugstendenzen gilt es auszutarieren, indem die Beteiligten durch eigene Verhaltenssteuerung zu einer entsprechenden Balance beitragen. Erst dann können persönliche Bedürfnisse und (Miss-)Verständnisse auf der Basis einer gemeinsamen Kommunikationsebene geklärt werden, wodurch sich der Blick für Eigen- und Fremdanteile am Konflikt und seiner Lösung schärft.397 Als kommunikatives Angebot kann Mediation aber nur so weit greifen, wie sich die Medianten unter Mithilfe des Mediators auch über wesentliche Unterschiede austauschen.398 Damit sich Kommunikation konsistent auf das Ziel der Konfliktregulation hin ausrichten lässt, muss die Konfliktgeschichte zuerst von allen relevanten Seiten her beleuchtet werden. Das heißt, dass die Medianten ihr subjektives Erleben der Situation hinsichtlich der Ereignisse, Verletzungen, Schwierigkeiten und Auseinandersetzungen rückblickend schildern können müssen. Dabei führen die anfangs noch konfliktverhafteten Verhaltenstendenzen häufig dazu, dass die subjektive Sicht der Dinge auf Kosten der Gegenpartei dargelegt wird. Dies hat zur Folge, dass sich zwischen dem Darstellenden und dem Zuhörenden eine Brisanz hinsichtlich der Frage entwickelt, was tatsächlich geschehen ist.399 Weil es in der Mediation aber nicht darum geht, die Wahrheit ans Licht zu bringen und die Vergangenheit nur in Hinblick auf Zukunftsgestaltung bedeutsam ist, müssen die Medianten mit einem hohen Maß an Ambiguitätstoleranz aufwarten. Es gilt anzuerkennen, dass der Konfliktfall unterschiedlich wahrgenommen wird. Im Sinne des Mediationsverfahrens ist deshalb dem Bestreben zu widerstehen, die Erzählversion des anderen nach eigenem Ermessen zu korrigieren. Aufgrund der anfangs noch vorherrschenden Gegnerschaft der Medianten, 396 397 398 399

Vgl. a. a. O., 25ff. Vgl. Friedemann Schulz von Thun: Miteinander reden, Bd. 1, 44ff. Vgl. Reiner Bastine: Konflikte klären, Probleme lösen, 44. Vgl. a. a. O., 28.

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versuchen sie sich gegenseitig die Hauptschuld am Konflikt zuzuschreiben. Häufig haben sie auch konkrete Vorstellungen dahin gehend, wie sich das Verhalten des anderen ändern müsste, damit sich der Konflikt auflöst.400 Wenn solchermaßen vorschnell auf Lösungsmöglichkeiten des Konflikts geschlossen wird, sind diese oft einseitig, weil sie die Interessen des Gegenübers den eigenen Vorstellungen unterordnen. Dies begünstigt wiederum, dass sich die Gegenpartei verschließt und eher dazu neigt, sich zu verteidigen als eigene kreative Ideen zu entwickeln und einzubringen.401 Weil dadurch neues Konfliktpotenzial entsteht, müssen die Konfliktbeteiligten ihre Haltung verändern, indem sie die Mediantenrolle einnehmen und sich dadurch aus dem Konfliktverhaftetsein lösen. Dies gelingt umso leichter, je deutlicher sie erkennen können, dass eine für alle Beteiligten vorteilhafte Lösung langfristig tragfähiger ist als eine Lösung, die einseitig bevorteilt. Wenn sich einer vom anderen übervorteilt fühlt, bleibt ein Ungerechtigkeitsempfinden zurück, das die Wahrscheinlichkeit eines späteren »Gegenschlags« erhöht.402 Medianten müssen sich deshalb dazu disziplinieren, ergebnisoffen zu verhandeln. Anfänglich herrscht die Gegnerschaft zumeist noch so sehr vor, dass es Überwindung kostet, sich kooperativ zu verhalten. Gelingt ein Verhaltenswechsel, können innerhalb eines gemeinsamen Dialogs Wahlmöglichkeiten entwickelt werden, weil sich die Erfindungskräfte

400 Vgl. John M. Haynes: Mediation (2000), 66. Individuelle Vorstellungen der Medianten zu spezifischen Konfliktlösungsmöglichkeiten, die nicht auf eine bestimmte Verhaltensänderung des anderen angewiesen sind, können zweckdienlich in die Mediation miteinbezogen werden. Mit der sogenannten BATNA-Frage (Best Alternative to Negotiated Agreement) wird im Vorfeld darüber nachgedacht, welche beste Alternative zum Mediationsergebnis realistisch denkbar ist. Dadurch erweitern sich Verhandlungsspielräume innerhalb der Mediation, weil die Medianten sich selbst darüber bewusst geworden sind, welche anderen guten Möglichkeiten ihnen bleiben, wenn die Mediation nicht erfolgreich ist. Sie vergegenwärtigen sich also, dass sie nicht von dem Mediationserfolg abhängig sind und gelangen dadurch zu mehr Handlungsfreiheit. Die WATNA-Frage (Worst Alternative to Negotiated Agreement) bezieht sich auf die schlechteste, vorstellbare Alternative zu einem Verhandlungsergebnis (vgl. Anita von Hertel: Professionelle Konfliktlösung, 284). Wenn auch sie beantwortet wird, zeigt sich das durch die beste und die schlechteste Alternative zur Mediation begrenzte Spektrum von konkreten Möglichkeiten zum Umgang mit dem bestehenden Konflikt. Wenn es darüber hinaus gelingt, die anfänglichen Erwartungen hinsichtlich der besten Alternative noch zu übertreffen, realisiert sich das über das Verfahren hinausweisende Potenzial von Mediation (vgl. Roger Fisher u. a.: Das Harvard-Konzept, 141ff.; Leo Gielkens: Mehr als Sieg und Niederlage, 207). In solchen Fällen können Prozesse zur persönlichen Weiterentwicklung begünstigt werden, weil die Medianten erlebt haben, dass sich durch ihr konsequentes kooperatives Engagement Lösungen entwickeln ließen, die sie selbst anfänglich nicht für möglich erachtet haben (vgl. Nadja Alexander u. a.: Mediation, Schlichtung, Verhandlungsmanagement, 77). 401 Vgl. Roger Fisher u. a.: Das Harvard-Konzept, 167. 402 Vgl. a. a. O., 90.

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der beteiligten Personen miteinander vereinen.403 Dabei wird erlebbar, wie zentral die kreative Lösungskompetenz aller Konfliktbeteiligten in der Mediation geachtet wird. Weil es nicht darum geht, zu Ergebnissen zu gelangen, die allgemeinen Verbindlichkeitsansprüchen entsprechen, werden die gestalterischen Prozesse am Bedarf der Medianten ausgerichtet und dadurch stark individualisiert. Anstatt nach »Musterlösungen für ähnlich gelagerte Fälle«404 zu suchen, werden Einzelfallentscheidungen getroffen. Damit sich die Wünsche der Beteiligten in realisierbare Ergebnismöglichkeiten ergießen können, müssen sie in der Mediation verfügbar sein, das heißt offengelegt werden. Den eigenen Bedarf kann aber nur derjenige verbalisieren, der sich dessen auch bewusst ist. Das emotionale Erleben im Konfliktfall schränkt es jedoch häufig ein, eigens auf die dafür notwendigen Informationen zugreifen zu können. Deswegen müssen die Medianten dazu bereit sein, persönlich Relevantes in Anwesenheit der anderen Konfliktinvolvierten offenzulegen und sich vom Mediator darin unterstützen zu lassen, diejenigen Aspekte herauszustellen, die für die Konfliktregulation bedeutsam sind. Die Medianten stehen dabei wiederum innerhalb des Spannungsfeldes von destruktiven und konstruktiven Impulsen. Ihre sekundären persönlichen Anliegen beziehen sich beispielsweise darauf, sich mit dem Konfliktpartner auseinandersetzen zu wollen, vielleicht sogar Vergeltung zu üben. Primäre persönliche Anliegen sind hingegen für die Lebensgestaltung der betreffenden Person bedeutsam und weisen aus, wie sich konkrete Zielsetzungen verwirklichen lassen. Weil Mediation der künftigen Lebensgestaltung der Medianten dienlich sein soll, besteht zwar Raum dafür, sekundäre Anliegen auszudrücken, verfahrensbedeutsam sind allerdings die primären persönlichen Anliegen.405 Bis zu ihnen gilt es vorzudringen, indem Fragen von Schuldzuweisungen überwunden werden, damit »Selbstkraft und Kreativität«406 der Medianten dazu genutzt werden können, bedarfsgerechte Lösungen zu entwickeln. Um auf den tatsächlichen Bedarf zugreifen zu können, müssen die miteinander unvereinbaren Konfliktpositionen verlassen werden. Sie erfüllen allenfalls wegweisende Funktion in Hinblick auf die tatsächlichen Interessen und Motivationen. Denn, die Position der Medianten »ist etwas, zu dem sie sich bewusst entschieden haben. Ihre Interessen sind

403 »Wer kreative Wahlmöglichkeiten entwickeln will, muss 1. den Prozess des Findens von Optionen von der Beurteilung eben dieser [sic!] Optionen trennen; 2. danach trachten, die Zahl der Optionen eher zu vermehren als nach der ›einen‹ Lösung zu suchen; 3. nach Vorteilen für alle Seiten Ausschau halten; 4. Vorschläge entwickeln, die den anderen die Entscheidung erleichtern« (a. a. O., 94). 404 Gerhard Gattus Hösl: Mediation, 52. 405 Vgl. Reiner Bastine: Konflikte klären, Probleme lösen, 32. 406 Gerhard Gattus Hösl: Mediation, 52.

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die Gründe, die Sie zu dieser Entscheidung veranlasst haben«407. Im Konfliktfall verbergen sich hinter den Positionen Interessen, die auf unerfüllte Grundbedürfnisse, wie beispielsweise Freiheit, Anerkennung und Glaubwürdigkeit, zurückgehen.408 Positionen werden also vornehmlich aus Selbstschutzgründen eingenommen, wenn sich Menschen in dem, was ihnen wichtig ist, nicht respektiert fühlen. Durch Positionen, die sich in Konflikten verhärten, versuchen die Kontrahenten ihre eigenen Ausgangslagen taktisch zu verbessern und sich selbstschützend abzugrenzen.409 Deshalb ist es folgerichtig, dass sich für die Medianten erneut Handlungsdilemmata ergeben, wenn sie ihre Positionen zu mediativen Zwecken verlassen sollen: In Konfliktverläufen kommt es zu Eskalationssteigerungen, weil Reflexionsleistungen abnehmen, wodurch die Situation im Erleben der Beteiligten zunehmend konfliktträchtiger wird.410 Interventionsmaßnahmen wirken dieser Tendenz entgegen, indem differenzierte Reflexionsleistungen initiiert werden. Dazu müssen Erleben und Reflexion gleichzeitig ins Bewusstsein gehoben werden, wozu es unerlässlich ist, sich zu öffnen.411 Dem Wunsch der Medianten nach Konfliktlösung stehen aber Verletzungen, Verhaltensunsicherheiten und das Bedürfnis nach Selbstschutz gegenüber, die noch von der Konfliktsituation herrühren. Es ergeben sich also intrapersonal widerstreitende Verhaltensimpulse hinsichtlich dessen, wie miteinander umzugehen ist. Nicht selten schätzen die Konfliktparteien einander. Weil sie eigenständig allerdings keinen Weg mehr finden, eine positive Beziehung miteinander zu führen, wird einander bekämpft, um eine – wenn auch negative – Verbindung zueinander aufrechtzuerhalten. Der Konflikt fungiert dann als präventive Maßnahme gegen einen potenziellen Beziehungsabbruch. Denken und Handeln folgen also Zwängen, die im Konflikterleben nicht als solche erkannt werden.412 Durch Reflexionsleistungen im Mediationskontext werden derartige Zusammenhänge bewusst. Die Medianten können dann willentlich darüber entscheiden, inwieweit sie konfliktverhaftete Beziehungsmuster zugunsten der Chance aufgegeben, (wieder) eine positive Beziehung zueinander 407 408 409 410 411

Roger Fisher u. a.: Das Harvard-Konzept, 70. Vgl. Wolfgang Mutzeck: Kooperative Beratung, 124. Vgl. Reiner Bastine: Konflikte klären, Probleme lösen, 28. Vgl. 2.2 Die Eskalationsdynamik in Konflikten. Rationalität und Emotionalität weisen jeweils unterschiedliche Komplexitätsgrade auf. Die komplexeren rationalen Strukturen, die sich in Positionen ausdrücken, müssen aufgelöst werden, um zu den weniger komplexen emotionalen Strukturen vorzudringen, die sich auf Bedürfnislagen beziehen. Weil Interventionsarbeit ursachenbezogen erfolgt, werden komplexitätsreduzierende Maßnahmen eingesetzt, damit emotionale Eskalationsfaktoren zugänglich werden und sich bearbeiten lassen (vgl. Gerhard Schwarz: Führen mit Humor, 177). 412 Vgl. Friedrich Glasl: Konfliktmanagement, 39.

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aufzunehmen. Damit geht allerdings einher, sich entgegen Selbstschutztendenzen öffnen zu müssen, im Mediationskontext trotz konfliktbedingter Vertrauensbrüche zu vertrauen und (persönliche) Informationen offenzulegen.413 Wenn Konfliktpositionen einmal verlassen wurden, ist es für das Interventionsfortkommen erforderlich, dass die Konfliktbeteiligten in Kontakt mit ihren eigenen Interessen und Bedürfnissen kommen und diese nach außen hin vertreten. Menschen sind aber häufig wenig geübt darin, eigenen Belangen nachzuspüren und es fällt ihnen schwer, Gefühle wahrzunehmen und sie auszudrücken.414 Zudem erweisen sich psychosoziale Grundbedürfnisse, wie etwa der Wunsch danach, sich anerkannt und zugehörig zu fühlen, frei agieren zu können und zugleich durch positive Bindungen sozial gehalten zu werden, in Konfliktsituation häufig als unbefriedigt. Dieser Sachverhalt bedingt Verletzungen, die es zusätzlich erschweren, konfliktbezogene Verhaltensweisen konstruktiv zu wenden. Obschon ein vertrauensvoller Mediationsrahmen und die zugewandte Begleitung durch den Mediator darin unterstützen können, dass Verhaltensänderungen gelingen, spielt auch der Umgang der Medianten miteinander eine entscheidende Rolle. Ein hohes Maß an Sozialkompetenz der Beteiligten begünstigt das kooperative Vorgehen erheblich. Je mehr die Konfliktbeteiligten selbst dazu bereit sind, einander zuzuhören und den Wunsch hegen, die Anliegen des anderen zu verstehen, desto eher können Schritte aufeinander zu getan werden, die eine Konsensfindung begünstigen.415 Gegenseitig empfänglich für Werte, Wahrnehmungen, Sorgen, Ängste, Bedürfnisse und Interessen des anderen zu sein, macht eine einvernehmliche Übereinkunft wahrscheinlicher. Dabei ist entscheidend, auf gemeinsame Interessen zu achten und sie solchermaßen in Lösungsüberlegungen mit einzubeziehen, dass sich die Partner auch in den Ideen des jeweils anderen wahrgenommen und berücksichtigt fühlen.416 Sich kooperativ auf die Suche nach geeigneten Lösungen zu begeben, gelingt 413 Je eindrücklicher das Gefühl des Bedrohtseins, als desto bedeutsamer erweist sich eine wertschätzende Mediatorenführung innerhalb des geschützten Interventionsrahmens. Überwinden Medianten ihre anfängliche Zurückhaltung, erleben sie es häufig als befreiend und gemeinschaftsstiftend, über Geschehenes zu sprechen und sich über zukünftige Planungen auszutauschen (vgl. Reiner Bastine: Konflikte klären, Probleme lösen, 31). 414 Vgl. Marshall B. Rosenberg: Die Sprache des Friedens sprechen, 66; ders.: Gewaltfreie Kommunikation, 55ff. 415 Vgl. Roger Fisher u. a.: Das Harvard-Konzept, 245. Es dient der Konsensfindung, nach Synergieeffekten zu suchen: »Je klarer Ihnen die Sorgen der anderen Seite sind, um so besser werden Sie in der Lage sein, ihr mit einem minimalen Aufwand für Sie gerecht zu werden. Suchen Sie nach nicht greifbaren und verborgenen Interessen, die wichtig sein können.« (ebd.). Ressourcenorientierung realisiert sich darin, »nach Punkten zu suchen, die Sie selbst wenig kosten und den anderen große Vorteile bringen, und umgekehrt. Nutzenteilung wird überall dort möglich, wo es unterschiedliche Interessen, Prioritäten, Überzeugungen, Prognosen und Risikobereitschaften gibt« (a. a. O., 114f.). 416 Vgl. a. a. O., 177, 224.

Zur Bedeutung der Mediantenpersönlichkeit

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umso erfolgreicher, je konsequenter die Sache des Konflikts von der Person getrennt wird.417 Wenn sich die Medianten auf ein Vertrauensverhältnis zuerst zum Mediator und schließlich untereinander einlassen, verstärkt sich das Gefühl, persönlich anerkannt zu sein. Dies erleichtert es einerseits, eigene Interessen und Bedürfnisse, Ziele, Wünsche und Ressourcen auszudrücken. Andererseits führt selbsterlebte Akzeptanz in sozialer Hinsicht zu einem respektvolleren Miteinander, wodurch sich die Gemeinschaft stabilisiert.418 Von diesen beiden Seiten her definiert sich die Inhaltsverantwortung, die der Mediantenrolle inne liegt. Die Medianten sind dafür verantwortlich, ihre eigenen Belange zu erkennen und sie in den Verhandlungen zu vertreten. Weil ein Konsens die Anliegen aller Parteien gleichermaßen berücksichtigen soll, müssen die Fremdanliegen entsprechend gewürdigt werden. Die beiden generellen Grundsätze der Mediation, Selbstbestimmtheit und Akzeptanz, greifen also ineinander. Daneben gilt es sicherzustellen, dass diese Form des Selbst- und Fremdbezugs auf der Basis sachlicher Informiertheit erfolgt. Dies ist insbesondere in Hinblick auf ein Ergebnis relevant, das sich in der Realität bewähren soll. Inhaltsverantwortung beinhaltet demgemäß, eigene Interessen zu vertreten, fremde Belange als gleichberechtigt anzuerkennen und informierte Entscheidungen hinsichtlich eines Ergebnisses zu treffen, das die Wertigkeiten aller Beteiligten konsensual so zusammenführt, dass sie der gewünschten Zukunftsgestaltung dienen. Inwieweit Medianten ihrer Inhaltsverantwortung nachkommen (können), korreliert mit ihren Verhandlungs- und Sozialkompetenzen, weil Sachliches und Persönliches in der Mediation oft miteinander verschränkt sind. Im Folgenden soll vertieft werden, wie sich die persönliche Disposition von Medianten auf ihre Rollenübernahme auswirkt. In der Zusammenschau von Rollen- und Persönlichkeitsmerkmalen kann anschließend ausgesagt werden, was Mediation als »selbstverantworteter Konsensweg« auf Mediantenseite auszeichnet.

4.4

Zur Bedeutung der Mediantenpersönlichkeit

Inhaltlich lässt sich die Mediantenrolle insbesondere unter den Begriff der Bereitschaft fassen. Die freiwillige Teilnahme an einer Mediation steht am Anfang eines Prozesses von Folgeentscheidungen darüber, ob sich die Medianten eher konfliktbezogen oder interventionsorientiert verhalten. Weil das Konflikterle417 Zwischen der Sache und dem Menschen zu unterscheiden zeigt sich darin, »dass man den Menschen auf der Gegenseite persönliche Hilfe in genau derselben Stärke zuteil werden lässt, in der man das Problem selbst attackiert« (a. a. O., 87). 418 Vgl. Gerhard Gattus Hösl: Mediation, 71.

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Der Mensch als Verantwortungsträger in der Mediation

ben insbesondere anfänglich noch stark dominiert, müssen sie dazu bereit sein, das dem Mediator erteilte Mandat zur Verfahrensverantwortung konsequent anzuerkennen. Damit lassen sie eine außenstehende dritte Person an zuweilen sehr persönlichen Erlebenszusammenhängen teilhaben und bemächtigen sie dazu, zu konfliktregulierenden Zwecken delegierend einzugreifen. Zugleich besteht diese Form der Delegation aber gerade nicht darin, die inhaltliche Verantwortung für den Konflikt abzugeben. Infolgedessen bedarf es eines Unterscheidungsvermögens dahin gehend, was dem Bereich von Verfahrensrelevanzen zuzuordnen ist und was in den Bereich von Inhaltsrelevanzen fällt. Sich in die Kontextbedingungen der Mediation einzuordnen und sie zugleich inhaltsverantwortlich so für sich zu nutzen, dass individuelle Vorstellungen hinreichend berücksichtigt werden, macht es erforderlich, sich über eigene Belange im Klaren zu sein und für sie eintreten zu können. Trotz der Belastung durch die Konfliktsituation bedarf es deshalb eines grundlegenden Maßes an intrapersonaler Stabilität, die es ermöglicht, innerhalb der notwendigen Kontextabhängigkeit persönlich unabhängig zu bleiben. Die Bereitschaft auf Mediantenseite muss sich deshalb mit Bewusstheit und Befähigung verbinden, damit Mediation wirksam sein kann. Die Bereitschaft der Medianten dazu, sich auf eine Mediation einzulassen und sich innerhalb der Interventionsmaßnahme konstruktiv einzubringen, gründet auf einer Willensentscheidung. Insbesondere, weil das Konflikterleben Eigendynamiken folgt, die zu destruktiven und konflikterhaltenden Verhaltensweisen führen419, bedarf es deutlicher Entscheidungen dafür, sich gegen diese Tendenzen zu verwehren. Der Deeskalationswille muss also so stark sein, dass er auch Hindernissen, wie den beschriebenen Konfliktdilemmata420, standhält. Als »stellungnehmende Wesen«421 entscheiden die Konfliktpartner in der Mediation selbst darüber, inwieweit sie sich für Konfliktregulation einsetzen. Mit der Entscheidung, aus der Eskalationsdynamik herauszutreten, geht demzufolge ein Selbstaufwand einher. Dieser besteht insbesondere darin, rückläufige Verhaltensimpulse, die den Konflikt wieder nähren würden, zu bezwingen. In der Regel erschwert sich dies dadurch, dass die Situation noch von Unvereinbarkeiten geprägt ist, unter deren Eindruck die Medianten mit Irritations- und Verlustempfindungen insbesondere hinsichtlich ihrer zwischenmenschlichen Bindungen konfrontiert sind. Nur deshalb, weil das »Bemühen des Menschen, als Person gesehen zu werden, […] noch über dem, was landläufig als Selbsterhaltungstrieb bezeichnet wird«422 steht, kann es sich überhaupt ereignen, dass 419 420 421 422

Vgl. 2.2 Die Eskalationsdynamik in Konflikten. Vgl. 2.6 Ressourcenorientierte Intervention als Angebot zur Gegensinnstiftung. Arnold Gehlen: Der Mensch, 32. Joachim Bauer : Prinzip Menschlichkeit, 37.

Zur Bedeutung der Mediantenpersönlichkeit

155

die Destruktivität des Konfliktverhaltens schließlich sogar gegen sich selbst gerichtet wird. Daran zeigt sich, dass das Ausmaß des Konflikts mit dem Ausmaß an Verlust von Lebensmotivation schlechthin korreliert, die wiederum den Willen zur Bestands- und Niveausicherung mitbestimmt. Deswegen kann der Wille dazu, Leben zu gestalten, durch Konflikte erheblich geschwächt werden. Wenn es aber gelingt, den Medianten realistische Möglichkeiten dahin gehend aufzuzeigen, wie sie ihre eigene zukünftige Erlebenswelt so mitgestalten können, dass sie sich in positiver Weise signifikant von der Vergangenheit unterscheidet, erhöht sich ihre Handlungsmotivation. Dann dominiert der auf konstruktive Zukunftsgestaltung ausgerichtete Wille über Zerstörungstendenzen. Von hierher speist sich schließlich auch der aufrichtige Wunsch danach, Verantwortung für den Konflikt und seine Regulierung zu übernehmen, worin sich die Mediationsbereitschaft konkretisiert.423 Damit gründet der Mediationswille auf dem grundsätzlichen Willen zu einer Lebensgestaltung, die darauf ausgerichtet ist, Bestand und Niveau zu sichern. Bereit dazu zu sein, den eigenen Anteil an Gestaltungsleistung zu erbringen und sich darin zugleich mediativ unterstützen zu lassen, setzt wiederum voraus, über ein gewisses Maß an Situationsbewusstheit zu verfügen und zugleich offen dafür zu sein, diese Bewusstheit auszuweiten. Ebenso wie für den Willen in der Mediation gilt, dass er auf einer grundlegenderen Form des Willens basiert, lassen sich auch für die Bewusstheit zwei Ebenen voneinander unterscheiden. Eine generelle Bewusstheit des Menschen ist die Voraussetzung dafür, dass sich mediationsbezogene Bewusstseinsprozesse vollziehen können. Das bedeutet, damit Medianten ihr Konflikterleben zu Interventionszwecken gedanklich und kommunikativ durchdringen können, müssen sie die dafür notwendigen Reflexionsleistungen erbringen. Dazu greifen sie auf die anthropologische Möglichkeit zu, sich aus der Identifikation mit der Umwelt und mit sich selbst zu lösen.424 Für Interventionszwecke ist es bedeutsam, dass Medianten diese Form der Selbstdistanzierung auf ihr Konflikterleben anwenden können und dazu in der Lage sind, es unter Anleitung zu reflektieren. Indem Erleben und Reflexion dann zugleich ins Bewusstsein gehoben werden, können interventionsrelevante Klärungen vorgenommen werden. Die generelle Bewusstheit wird also dazu genutzt, sie in Form von situationsbezogener Bewusstheit – im Mediationsfalle hinsichtlich konstruktiver Konfliktregulierung – anzuwenden. Dazu gehört es beispielsweise, unterscheiden zu können, welches Verhalten sich konfliktsteigernd und welches sich konfliktvermindernd auswirkt. Auch gilt es zu erkennen, welche persönlichen Bedürfnisse und Interessen so weit eingeschränkt wurden, dass sich die daraus resultierende Unzufrieden423 Reiner Bastine: Konflikte klären, Probleme lösen, 23f. 424 Vgl. 2.4 Die Konfliktträchtigkeit des Menschen – Anthropologische Vorüberlegungen.

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Der Mensch als Verantwortungsträger in der Mediation

heit in Form eines Konflikts ausgedrückt hat. Das heißt, dass den Medianten der Zusammenhang von Intrapersonalität und Interpersonalität umso deutlicher werden kann, je mehr es ihnen gelingt, in Kontakt mit sich selbst zu kommen und infolgedessen ihre Selbst-Bewusstheit zu steigern. Dies wiederum erhöht die Wahrscheinlichkeit, intrapersonale Konfliktträchtigkeiten zu erkennen und solchermaßen auszudrücken, dass sie sich nicht mehr unkontrolliert entladen, sondern mediativ reguliert werden können. Auch hier ist wieder eine willentliche Verhaltenssteuerung angezeigt, die sich von der Bewusstheit darüber speist, selbst dazu fähig zu sein, Prozesse steuernd zu gestalten. Bereitschaft und Bewusstheit bereiten im Inneren der Medianten vor, was sich schließlich im Verhalten zeigen soll. Entscheidungen können allerdings nur so weit realisiert werden, wie ein Mensch auch dazu fähig ist, sie tatsächlich umzusetzen. Die Frage nach der Befähigung von Menschen dazu, die Rolle der Medianten verfahrensgemäß auszufüllen, wird in Mediationskontexten mit Recht sehr zurückhaltend behandelt. Duss-von Werdt beispielsweise empfiehlt, ganz davon abzusehen, die Medianteneignung allgemein bestimmen zu wollen: »Ob Vermittlung in Gang kommt, zeigt sich meiner Ansicht nach erst dann, wenn man beginnt, sie in Gang zu bringen. Nicht wer für Mediation, sondern für wen sie geeignet sei, ist die Frage.«425 Mit seinem Hinweis trägt er der Tatsache Rechnung, dass sich nicht kategorisch aussagen lässt, was in Menschen den lebendigen Wunsch entfacht, sich für eine Sache – im Falle der Mediation für die Sache der Konfliktregulation – einzusetzen. Zahlreiche Praxiserfahrungen zeigen, dass Menschen unterschiedlicher Herkunft, verschiedener Bildungsniveaus und heterogener persönlicher Vorprägungen in unerwarteter Weise konfliktregulierend handeln können.426 Demgegenüber legen mediationstheoretische 425 Josef Duss-von Werdt: homo mediator, 168. 426 Ein eindrückliches Beispiel dafür, warum die Frage nach der Befähigung von Menschen zur Mediation zurückhaltend behandelt werden sollte, gibt Marshall B. Rosenberg: Als er in einer Kirchengemeinde innerhalb eines Schwarzenviertels in St. Louis, Missouri (USA) einen Workshop abhielt, kam der Anführer einer schwarzen Gang in den Raum, setzte sich ungebeten dazu und beobachtete den Verlauf des Workshops, bis er schließlich unterbrach: »Weißt du, wie du den Schwarzen hier in der Gegend helfen kannst? Gib ihnen dein Geld, damit sie sich Knarren kaufen und Leute wie dich umlegen können.« Rosenberg antwortete darauf folgendermaßen: »›Sind Sie wütend darüber, dass ein Weißer einfach daherkommt und den Schwarzen erklären will, wie sie miteinander reden sollen? Wollen sie, dass ich Ihre Art, mit Konflikten umzugehen, respektiere?‹ Da hat er mich völlig überrascht angeschaut und dann gesagt: ›Sie haben es begriffen, Mann!‹ Und dann setzte er sich wieder hin und sagte nichts mehr.« Erst im Anschluss an die Veranstaltung fragte er : »Sag mal, was hast du eigentlich da drin mit mir gemacht? […] Dieses Zeugs, was du da machst, ich will es wissen, wie das geht, damit ich es den Zulus [»Zulus 1200« ist der Name einer Gang] beibringen kann« (ders.: Konflikte lösen durch Gewaltfreie Kommunikation, 70). Diesem Erstkontakt folgten dreizehn Jahre der Zusammenarbeit mit dem Ziel, Gewaltfreie Kommunikation empfängergerecht aufbereitet Schwarzen und Weißen gleichermaßen beizubringen und die Gruppen anschließend zusammenzuführen. Rosenberg bezeichnet es als »ein Wunder, dass

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Reflexionen eine Komplexität offen, die Mediation als ein hochschwelliges Angebot erscheinen lässt, das sich nur für ausgewählte Zielgruppen eignet. Diesem evidenten Unterschied zwischen Praxis und Theorie muss deshalb Rechnung getragen werden. Es gilt anzuerkennen, dass sich im praktischen Vollzug viele notwendigen Prozesse im und zwischen Menschen natürlicherweise ereignen. Selbst im Einzelfall lässt sich nicht immer eindeutig bestimmen, warum sie sich vollziehen. Für die Befähigung gilt deshalb, dass der Mensch aufgrund seiner anthropologischen Beschaffenheit über alles verfügt, was ihn für Konfliktregulation qualifiziert. Allerdings unterscheiden sich Menschen hinsichtlich ihres persönlichen Entwicklungsstandes und ihre Lebenssituationen können sich begünstigend oder beeinträchtigend auf ihre Mediationsfähigkeit auswirken. Das heißt, dass die Befähigung zur Mediation davon abhängt, wie sehr Menschen auf ihre Selbstbestimmungskräfte zugreifen (können). Kategorische Festlegungen bezüglich der Mediationsfähigkeit weitgehend zu unterlassen, um auch in dieser Hinsicht die konzeptimmanente Adaptivität zu berücksichtigen, schließt allerdings nicht aus, manches Allgemeine zur Funktionalität von Mediation aussagen zu können. Konflikt- und Interventionsrelevantes kann innerhalb des mediativen Kommunikationsrahmens nur dann geklärt werden, wenn Kommunikation ausreichend komplex möglich ist.427 Es ist also zu gewährleisten, dass alle für die Konfliktregulation bedeutsamen Aspekte mit oder ohne Unterstützung des Mediators ausgedrückt werden können. Dabei wird auf grundlegende Fähigkeiten rekurriert, Gespräche zu führen und sich zu einigen.428 Weil eine hinreichende Konfliktdiagnose Zeit benötigt, ist von Mediantenseite aus zu dulden, wenn Prozesse nicht den individuellen (zeitlichen) Vorstellungen gemäß verlaufen. Es bedarf also sowohl der Fähigkeit, sich einzubringen, als auch sich zurückzuhalten. Zudem werden Konflikte diagnostisch so beleuchtet, dass persönliche Anteile offenkundig werden. Ohne dass ein adäquater Umgang mit sensiblen Informationen sichergestellt werden kann oder vorauszusagen ist, wie sie sich auf den Ausgang der Mediation auswirken, erfordert es Mut, sich darauf einzulassen.429 Damit eine Mediation ihren Grundsätzen gemäß durchgeführt werden kann, setzt sie des Weiteren voraus, dass »die Selbstbelebungs-, die Selbstaktualisierungskräfte zur Konfliktbereinigung abrufbar sind«430. Faktoren wie psychische Beeinträchtigungen, Erkrankungen, Abhängigkeiten und übermäßig starke emotionale Gefühle von Schuld, Hass

427 428 429 430

sich das so ergeben hat. Es ist nicht immer so einfach« (a. a. O., 71). Dieses Beispiel steht für Hergänge in der Mediation, die – einem »Wunder« gleichend – kaum erklärbar sind. Sie weisen auf eine transzendente Dimension der Mediation hin, die an späterer Stelle untersucht wird (vgl. 5 Die Dimension hinter der Mediation – Religiöse Bezüge). Vgl. 3.6 Kommunikation als mediatives Mittel zur Übernahme von Verantwortung. Vgl. Reiner Bastine: Konflikte klären, Probleme lösen, 24f. Vgl. Bernhard Pesendorfer : Diagnose-Instrumente für Konflikte, 271. Gerhard Gattus Hösl: Mediation, 56.

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Der Mensch als Verantwortungsträger in der Mediation

und Rache gegenüber dem anderen können den Zugang zu diesen Kräften verstellen.431 In Hinblick auf die Befähigung der Medianten ist es deshalb bedeutsam, dass derartige Einschränkungen in ihren Möglichkeiten zur Selbstbestimmung frühzeitig erkannt werden, um zu überprüfen, ob und inwieweit Mediation gewinnbringend durchgeführt werden kann. Im Gegenzug gilt, dass ausgeprägte Sozial- und Verhandlungskompetenzen es begünstigen können, sich selbstverantwortlich sowohl zum eigenen als auch zum Vorteil der anderen in die Mediation einzubringen. Insgesamt wird es den Medianten umso leichter gelingen, eigenverantwortlich und zweckdienlich zu handeln, je selbstkompetenter sie sich selbst reflektieren, das Ergebnis ihrer Selbstwahrnehmung verbalisieren und es sozial einbinden können.432 Für Medianten ist Mediation nämlich in erster Linie »Hilfe zur Selbsthilfe«. Sie fungiert als »regulierende Selbstregulierung«433, indem die Autonomisierung der Medianten dahin gehend unterstützt wird, dass sie ihre Interdependenz erkennen und ausdrücken.434 Dazu muss sich eine Transformation in ihrer Selbstbeziehung vollziehen. Durch die Destruktivität des Konflikterlebens erschwert sich der Zugang zu sich selbst. Die Selbst- und Fremdbezogenheit sind von Negativität geprägt, d. h. das Bild, was die Medianten von sich selbst und anderen haben, ist ablehnend und verneinend. Mediativ angeleitete Selbsterkenntnis soll es ermöglichen, die Destruktivität derartiger gedanklicher Festlegungen zu erkennen und zu ergründen, woher sie sich speisen. Dadurch kommen Medianten wieder solchermaßen in Kontakt mit ihren eigenen intrapersonalen Vorgängen, dass sie ihre individuellen Möglichkeiten zu positiven Verhaltensänderungen erkennen. Dann kann es gelingen, Wandlungen in Gang zu setzen, die das innere System in lebensbejahender Weise transformieren. 431 Vgl. Reiner Bastine: Konflikte klären, Probleme lösen, 25. 432 Marshall B. Rosenberg weist darauf hin, dass die Gefühle von Menschen gesellschaftlich wenig relevant sind und dadurch deutlich unterbewertet werden. Wenn Menschen sozialisationsbedingt nicht über hinreichende Möglichkeiten verfügen, um ihre Gefühle auszudrücken, fällt es ihnen einerseits schwerer, mit ihrem eigenen Selbsterleben in Kontakt zu kommen. Andererseits entladen sich unterdrückte Gefühle in sozialen Zusammenhängen dann umso schneller und es entsteht Konfliktpotenzial (zur Bedeutung von Gefühlen und Möglichkeiten, sie gewaltfrei auszudrücken vgl. ders.: Gewaltfreie Kommunikation, 57– 66). Sich selbst und die Situation beobachten zu können, eigene Gefühle wahrzunehmen und dadurch individuellen Bedarf zu klären, mündet schließlich in einer Bitte. Mit ihr werden eigene Interessen und Bedürfnisse verbalisiert und dadurch offenkundig. Je deutlicher eine Bitte formuliert wird, desto eher kann für andere Situationsbeteiligte geklärt werden, welche ihrer Handlungen den Bedarf der bittenden Person decken können (dazu, wie hörergerechte Bitten die Wahrscheinlichkeit positiver Resonanzen erhöhen und Konfliktpotenzial verringern können vgl. a. a. O., 87–109). 433 Beide Zitate Gerhard Gattus Hösl: Mediation, 73. 434 Mediation kann geeignete Hilfsmittel dafür an die Hand geben, die eigene Handlungsfähigkeit wieder zu entdecken und aktiv zu nutzen (vgl. Josef Duss-von Werdt: homo mediator, 231, 229).

Zur Bedeutung der Mediantenpersönlichkeit

159

Infolgedessen nimmt konfliktbedingte Negativität ab und Fragen von Schuld, Ablehnung, Bestrafungen etc. verlieren an Bedeutung.435 Den Blick zugleich vornehmlich auf das Veränderungspotenzial zu richten, begünstigt es, die eigene wiederentdeckte Handlungsfähigkeit auf der Basis stabilisierter Selbstbezogenheit sozial zu beziehen. Dann wird Mediation zu einer »sozialen ›Technik‹«436, die Wege aufzeigt, um die individuellen Handlungsmöglichkeiten zusammenzuschließen und sie gemeinsam erfolgreich auf ein konkretes einvernehmliches Ziel hin auszurichten. Eine stabilisierte Selbstbeziehung, die sich in die Fremdbeziehung zu anderen Konfliktbeteiligten hinein entfaltet, ermöglicht es den Medianten, zu erkennen, welche Vorstellungen, Werte, Forderungen etc. ihre Gemeinsamkeit destruktiv beeinflussen und zu lernen, diese aktiv zu vermeiden. Damit ist die Beziehung zwischen den Medianten in der Regel noch nicht wieder vollständig konfliktfrei, aber es ist ein Etappenziel im Prozess des mediativen Verfahrens, dass sich die Konfliktpartner auf die »Kontrolle der regulierbaren Faktoren als Basis für gegenseitige Duldung und Koexistenz«437 einigen. Es genügt also vorerst, zu erkennen, dass Formen des einvernehmlichen Handelns darauf angewiesen sind, sich kooperativ zu orientieren und verbindlich zu verhalten. Zu erkennen, dass gemeinschaftlich kanalisierte Handlungsmacht wirkungsvoller und nachhaltiger eingesetzt werden kann, als wenn sie nebeneinander oder gar gegeneinander ausgerichtet wird, erlaubt es, sich trotz beziehungsbedingter Vorbehalte in der Sache der Konfliktregulation aufeinander zu beziehen. Es handelt sich also um eine Vernunftsentscheidung, neben den eigenen Erfahrungen auch die des Gegenübers willentlich zu berücksichtigen. Die Medianten profitieren dann von ihrer eigenen Einsicht, dass sich Handlungsmöglichkeiten vervielfachen, wenn alle Sichtweisen als Bestandteile ein und desselben Konflikts anerkannt werden.438 Je konsistenter sich positive Einsichten dieser Art in der Selbstbeziehung formieren und je verbindlicher die Fremdbeziehung geführt wird, desto höher ist die Bereitschaft dazu, sich in kreativen Lösungsprozessen einzubringen, wodurch sich eine stabile Ergebnisbeziehung vorbereiten lässt. Die Ergebnisbeziehung nimmt auf Mediantenseite eine bedeutsame Rolle ein. In einer kooperativ erarbeiteten Lösung zeigt sich der Ertrag aus der intrapersonalen und interpersonalen Beziehungsarbeit. Indem das Ziel verfolgt wird, dass die Lösung allen Beteiligten dient und sie ihr auch aus ihren unterschiedlichen Erlebenszusammenhängen des Konflikts heraus zustimmen können, werden zwei wesentliche Aspekte berücksichtigt. Erstens wird dem intuitiven 435 436 437 438

Vgl. Marshall B. Rosenberg: Konflikte lösen durch Gewaltfreie Kommunikation, 35. Gerhard Gattus Hösl: Mediation, 73. Friedrich Glasl: Konfliktmanagement, 419. Vgl. Gerhard Gattus Hösl: Mediation, 72.

160

Der Mensch als Verantwortungsträger in der Mediation

Wissen darum Rechnung getragen, dass eine für alle Beteiligten vorteilhafte Lösung langfristig tragfähiger ist, als wenn sich einer vom anderen übervorteilt fühlt.439 Ein diesem Bestreben entsprechendes Gerechtigkeitsempfinden entsteht dann, wenn wesentliche persönliche Anliegen adäquat berücksichtigt werden. Dadurch wird ein Ergebnis individuell bedeutsam und lässt sich demzufolge in das Selbstkonzept einer Person integrieren. Infolgedessen ist zweitens wünschenswert, dass das Ergebnis im individuellen Erleben jedes Beteiligten einen so hohen Wert hat, dass eine große Bereitschaft besteht, sich ihm gegenüber vereinbarungsgemäß handelnd zu verpflichten. Dass beides ineinandergreift, ist deshalb so bedeutsam, weil Mediation ein Kontext ist, den die Medianten wieder verlassen, nachdem das Verfahren beendet ist. Weil Menschen dazu neigen, kontextabhängig zu bewerten, ändert sich ihr Denken, Fühlen und Verhalten in Abhängigkeit von den situativen Umständen.440 Insbesondere dann, wenn Menschen nach einer Mediation in die Kontexte zurückkehren, in denen sich der bearbeitete Konflikt zugetragen hat, werden sie durch ihr soziales Umfeld häufig kritisch hinterfragt. Dadurch wird begünstigt, dass (kleinere) Inkonsistenzen des Verhandlungsergebnisses bedeutsamer erscheinen als noch im Mediationskontext. Wenn die Selbstbestimmungskraft und der Wille zur Verantwortungsübernahme dann nicht stark genug sind, kann es dazu kommen, dass die individuelle Handlungsverbindlichkeit verwässert wird. Mit der persönlichen Disposition der Medianten korreliert also, wie tragfähig die in der Mediation übernommene Inhaltsverantwortung auch über den Verfahrenskontext hinaus ist.441 Allgemein lässt sich vermuten, dass eine bewusste und positive Selbstbeziehung die Persönlichkeitsstruktur von Menschen stärkt. Dadurch können sie eher auf ihre Wünsche, Anliegen und Vorstellungen zugreifen und sich ihnen gemäß verhalten. In ihrem Handeln spiegelt sich dann wider, dass dem sich selbst gegenüber verpflichteten Umgang mit eigenen Wertigkeiten tendenziell mehr Bedeutung beigemessen wird, als kontextual bedingten Fremdansprüchen. Menschen unterstellen ihr Handeln dann weniger situativen Eigendynamiken, sondern sind eher zu willentlicher Selbststeuerung in der Lage. In der Mediation können sie sich dann im notwendigen Umfang so weit eigenverantwortlich selbst vertreten442, wie sie Eigenverantwortung für das Gelingen ihres 439 Vgl. Roger Fisher u. a.: Das Harvard-Konzept, 90. 440 Vgl. Rainer Schwing u. a.: Systemisches Handwerk, 326. 441 Im Ergebnis dieser Untersuchung wird sich zeigen, dass die persönliche Disposition eines Menschen individuelle Kategorien von Sinn generiert. Ein Verhandlungsergebnis wird diesen Sinnstrukturen zugeordnet und dadurch bewertet. Je höher die zugeschriebene Wertigkeit, desto stärker die intrinsisch motivierte Handlungsverpflichtung (vgl. II. Zur Unterscheidung von vordergründiger und hintergründiger Sinnstruktur). 442 Reiner Bastine: Konflikte klären, Probleme lösen, 25.

Zur Bedeutung der Mediantenpersönlichkeit

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Lebens überhaupt übernehmen. Die Rolle der Medianten betrifft zwar nur einen Teil ihres Menschseins, bleibt aber gerade dadurch in einen größeren Lebenskontext eingebettet. Autonomie und Selbstverantwortung, die als Basis des Verfahrens fungieren443, müssen von der persönlichen Disposition des Menschen her gespeist sein. Das bedeutet, dass die Persönlichkeitsstruktur dahin gehend prägend ist, wie verantwortliches Handeln konkret erfolgt. Weil hierin der generelle Grundsatz der Selbstbestimmtheit zum Tragen kommt, handelt es sich um einen Aspekt von Mediation, der für das Verfahren selbst unverfügbar bleibt.444 Zwar kann die Selbstbeziehung durch die intrapersonale Zielsetzung445 in der Mediation auf positive Weise transformiert werden, aber dies gelingt nur so weit, wie es die jeweiligen persönlichen Qualitäten der Medianten zulassen. Es muss also ein allgemeinerer Rahmen gefunden werden, um untersuchen zu können, inwieweit die Inhaltsverantwortung mit persönlichkeitsstrukturellen Aspekten zusammenhängt. Die Verantwortungsethik bietet eine Orientierung dahin gehend, wie sich die Verantwortungsübernahme des Menschen beschreiben lässt und gibt deshalb auch Aufschluss darüber, wie Verantwortung für Konfliktregulation übernommen werden kann: »Der verantwortungsethische Weg vereint die subjektiven Komponenten sowohl einer guten Absicht und inneren Motivation für den Einzelfall als auch einer Gesinnung und Grundhaltung, die unsere Absicht zeigt […], mit den objektiven Komponenten des sach- und wirklichkeitsgerechten Verhaltens […], das sich in der Wahl der eingesetzten Mittel und dem Bedenken der Folgen zeigt.«446

In Hinblick auf Mediation bedeutet dies, dass sich die Gesinnung der Medianten in ihrer Absicht zur Konfliktregulation widerspiegelt. Durch mediative Möglichkeiten wird unterstützt, sich über Folgen des eigenen Handelns klar zu werden, es entsprechend willentlich auszurichten und Umsetzungsmöglichkeiten hinsichtlich ihrer Eignung zu überprüfen. Medianten müssen dazu anerkannt haben, dass ihre Autonomie eine unübertragbare Verantwortung mit sich 443 444 445 446

Vgl. Wolfgang Mutzeck: Kooperative Beratung, 118. Vgl. 3.3 Verfahrensgrundsätze als Angebot zur Änderung von Verhalten. Vgl. 3.4 Zur selbstbestimmten Verantwortung als Ziel der Mediation. Gerhard Gattus Hösl: Mediation, 49 (H. i. O.). Dadurch, dass die Mediationsliteratur selbst auf die Verantwortungsethik rekurriert, um die Tiefenstruktur der Inhaltsverantwortung zu beschreiben, ist es angezeigt, diese Spur weiter zu verfolgen. Dazu soll der Verantwortungsbegriff an späterer Stelle zunächst allgemein vertieft werden (vgl. Teil 2: Verantwortung und konsensuales Handeln). Anschließend kann anhand der verantwortungsethischen Erwägungen Dietrich Bonhoeffers aufgezeigt werden, wie sich Verantwortung religiös konnotieren lässt. Daran wird ersichtlich, wie das Bewusstsein des Menschen durch seine Gottesbeziehung geprägt und die individuelle »sinnbezogene Wirklichkeit« vor dem Horizont des Glaubens spezifisch ausgelegt wird (vgl. Teil 3: Der Verantwortungsbegriff bei Dietrich Bonhoeffer).

162

Der Mensch als Verantwortungsträger in der Mediation

bringt, aufgrund derer sie nicht nur zu Entscheidungen berechtigt, sondern auch zu ihnen verpflichtet sind.447 Sie entscheiden selbst darüber, wie sie ihre Autonomie gestalten, wobei auch ein Nichthandeln einer Entscheidung gleichkommt. Es fällt also in den persönlichen Ermessensbereich der Medianten hinein, »dem Leben zu dienen oder Leben zu zerstören«448. Der unmittelbarste Bezug besteht zum eigenen Leben. Deshalb bezieht sich Mediation als »selbstverantworteter Konsensweg« zuerst darauf, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen und sich so zu verhalten, dass es dem eigenen Leben dient. Mit der Konsensabsicht kommen dann die Belange der Gegenseite hinzu, sodass sich Selbstbestimmtheit mit Akzeptanz verbindet. Während der Dienst am Menschen auf Mediatorenseite vornehmlich unter professionelle Gesichtspunkte zu fassen ist, zeichnet er sich auf Mediantenseite stärker durch ein inhaltliches Eigeninteresse aus. Dadurch steht er in enger Verbindung zur Ergebnisbeziehung der Medianten. Die Medianten verfolgen die Absicht, zu einem Ergebnis zu gelangen, das die eigenen Belange adäquat berücksichtigt. Dafür stehen sie selbst mit ihrer inhaltlichen Verantwortung ein. Zugleich entscheiden sie sich mit der Aufnahme einer Mediation dazu, eine konsensuale Lösung entwickeln zu wollen. Neben die selbstbestimmte Bedürfnis- und Interessenvertretung, tritt deshalb, fremde Belange zu akzeptieren.449 Die persönliche Disposition von Medianten muss deshalb so beschaffen sein, dass sie in der Lage dazu sind, beide Komponenten in ihrem Handeln zu vereinen und sie sowohl bewusst als auch willentlich auf ein gemeinsames Ergebnis hin auszurichten. Wie schon hinsichtlich der Mediatorenpersönlichkeit ausgesagt, muss dabei auf persönliche Qualitäten zurückgegriffen werden, die erst zu einem solchen Vorgehen befähigen. Woher sich diese persönliche Befähigung speist und worin sie genau besteht, lässt sich allerdings nur einzelfallbezogen bestimmen. Allgemeine Beschreibungen müssen deshalb auf die Feststellung begrenzt werden, dass der Grad an Bereitschaft, Bewusstheit und Befähigung von Medianten mit dem Mediationserfolg korreliert. Von hierher formiert sich der Eigenanteil des Handelns der Medianten. Die Verantwortung für den Konflikt und seine Regulierung ist zwar vollumfänglich diesem persönlichen Eigenanteil zuzuordnen, aber diese Verantwortung wird innerhalb der Mediantenrolle übernommen. Deshalb steht sie in einem Zusammenhang mit dem Kontext der Mediation. Der mediative Fremdanteil, der darin besteht, die Medianten sachgemäß zu begleiten, wirkt daher ebenfalls auf die Möglichkeiten der Medianten ein, ihre Verantwortung zu übernehmen. Dies ist insofern bedeutsam als der strukturierte Interventionsrahmen dazu beiträgt, Verantwortung realistisch einzuschätzen und sie sinnvoll 447 Vgl. a. a. O., 50. 448 Marshall B. Rosenberg: Konflikte lösen durch Gewaltfreie Kommunikation, 37. 449 Vgl. Gerhard Gattus Hösl: Mediation, 71.

Die Zentralstellung des Menschen in der Mediation

163

zu begrenzen. Durch diese Komplexitätsreduktion zu Mediationszwecken erhalten Medianten das niederschwellige Angebot, sich mediativ unterstützt darin zu erproben, Verantwortung zu übernehmen. Durch Erfolge, die sich innerhalb des klar definierten Verantwortungsrahmens einstellen, kann dann einerseits das Vertrauen in die Selbstbestimmungskräfte so weit gestärkt werden, dass die Handlungsverpflichtung gegenüber dem Verhandlungsergebnis umso tragfähiger wird. Andererseits können positive Mediationserfahrungen insoweit über sich hinausweisen, als sich von ihnen ausgehend auch die Wahrscheinlichkeit erhöht, in anderen Kontexten eher Verantwortung zu übernehmen. Indem also der Wille gefasst wird, die Inhaltsverantwortung im Prozess der Konfliktregulierung zu übernehmen, können Medianten innerhalb eines geschützten Rahmens erfahren: »Wir können unser Menschsein ver-laut-baren, ver-ant-wort-en, wir können unsere Selbstkraft im Tun erweisen […] Menschliche Freiheit ist damit zur (Ver)Antwort(ung) gerufene Freiheit. Deshalb ist sie dialogisch und dramatisch, also gesprächs- und handlungsbestimmt. Es geht um unsere unvertretbare personale Antwort.«450

Im begrenzten Umfang spiegelt sich in der Inhaltsverantwortung der Medianten also ihre einzigartige personale Antwort darauf wider, zur Übernahme von Verantwortung schlechthin gerufen zu sein. Als Kommunikationsangebot ist Mediation daraufhin ausgerichtet, alle wesentlichen Faktoren zur Konfliktregulation zu klären. Dadurch bereitet das Verfahren zugleich konkrete Handlungen vor. Es vollzieht sich eine permanente Wechselwirkung zwischen Selbstund Fremdbeziehung, wodurch die dialogischen und dramatischen Komponenten zur freiheitlichen Lebensgestaltung so ineinandergreifen, dass sich verantwortliches Handeln konkretisiert. Der Mensch steht dabei mit seinen kommunikativen Möglichkeiten und seinen Handlungspotenzialen im Mittelpunkt. Im Folgenden soll diese Zentralstellung des Menschen in Hinblick darauf vertieft werden, wie sich Vorstellungen vom Menschsein auf das Verfahren Mediation auswirken.

4.5

Die Zentralstellung des Menschen in der Mediation

Ausgehend von den dargelegten Überlegungen zu Rollen- und Persönlichkeitsmerkmalen von Mediatoren und Medianten lässt sich berechtigt anfragen: »Für Mediation alles zu viel?«451 Weisen diese Vorstellungen vom Menschsein nicht weit über ein angemessenes Maß hinaus und sind deshalb für Media450 Gerhard Gattus Hösl: Mediation, 49f. (H. i. O.). 451 A. a. O., 49.

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Der Mensch als Verantwortungsträger in der Mediation

tionszwecke zu umfassend? Inwiefern geht der ganze Mensch überhaupt in einem Verfahren auf, das sich auf klar umgrenzte Konfliktregulierung beschränkt? Anfragen dieser Art lassen sich dann sinnvoll beantworten, wenn zuvor geklärt ist, von welchem Ausgangspunkt her argumentiert werden soll; das heißt, welche Definition von Mediation zugrunde liegt. Es macht einen Unterschied, ob Mediation vornehmlich als ein praktisches Verfahren zur Regulierung von Konflikten betrachtet wird oder auch als eine Möglichkeit dazu, Menschsein unter dem Eindruck anthropologischer Konfliktträchtigkeit verantwortlich zu gestalten. Wird Mediation ausschließlich unter Verfahrensgesichtspunkten betrachtet, ist insbesondere ihre Praktikabilität von Interesse. Dann lassen sich allgemeine Aussagen zum Menschsein auf diejenigen Aspekte reduzieren, die von primärem methodischem Interesse sind. Infolgedessen erscheint es weniger bedeutsam zu sein, den Menschen möglichst ganzheitlich zu betrachten, weil es genügt, ihn auf wesentliche Rollenmerkmale hin zu begrenzen. Die Zusammenschau von Rollen- und Persönlichkeitseigenschaften von Mediationsbeteiligten hat aber gezeigt, dass die Grenzen zwischen direkter Verfahrensrelevanz und darüber hinausgehenden Aspekten des Menschseins fließend sind. Insbesondere dann, wenn Mediation etwa als »Standpunkt«452 oder auch als »selbstverantworteter Konsensweg«453 verstanden wird, kommt der Fragende nicht umhin, über den Bereich von primären Verfahrensrelevanzen hinauszugehen und dahinterliegende Zusammenhänge zu ergründen. Dabei zeigt sich, dass diese das Mediationsverfahren zwar nicht in jedem Falle direkt betreffen müssen, aber sie haben sekundäre Relevanz. Spätestens dann, wenn Medianten den Mediationskontext verlassen und sich die erarbeiteten Lösungen außerhalb des strukturierten Rahmens zu bewähren haben, agieren die Beteiligten außerhalb ihrer Rollen. Dann handeln sie aus ihrem Menschsein heraus, das sich zwar in dem Aspekt der Konfliktregulationsfertigkeit transformiert haben mag, aber in komplexe Lebenskontexte eingebettet bleibt und von hierher zusätzlich geformt wird. Es ist evident, dass sich der Mensch in der Mediation nicht von seinen existenzbestimmenden Lebensbedingungen trennen lässt. Deswegen genügt es auch nicht allein, festgelegte Verfahrensschritte in einer vorgegebenen Reihenfolge zu durchlaufen, um dadurch einen Mediationserfolg gewährleisten zu wollen.454 Sondern Mediation ist auf den Versuch angewiesen, Verfahrensstruktur und Menschsein miteinander in Beziehung zu bringen. Dies gelingt umso konsistenter, je tiefgehender beide Komponenten erschlossen sind. Insbesondere für die Seite des Menschseins gilt, dass nur Ansätze dafür ge452 Josef Duss-von Werdt: homo mediator, 149. 453 Gisela Mähler: Gerechtigkeit in der Mediation, 18. 454 Vgl. Axel Mecke: Die Sprache der Mediation, 278.

Die Zentralstellung des Menschen in der Mediation

165

funden werden können, das Wesen des Menschen allgemein sowie einzelfallbezogen zu beschreiben. In beiden Fällen werden die Beschreibungsversuche mit einem Konglomerat aus einer unübersehbaren Vielfalt von Einzelfaktoren konfrontiert. Weil sich die Existenzbedingungen des Menschen, auf denen seine individuelle Art des Seins gründet, nicht vollständig eruieren lassen, bleibt seine tatsächliche Wesenheit ebenfalls unerschließbar. Der solchermaßen »unkoordinierbare Mensch«455 lässt sich folglicherweise auch nicht auf sein kontextuelles Merkmal einer mediativen Rolle begrenzen. Der ganze Mensch geht also nicht in der Mediation auf. Gleichermaßen gilt aber, dass es des ganzen Menschen bedarf, damit dieser die konsensuale Lösung in das Gesamtkonzept seines gegenwärtigen Lebens zuverlässig einbindet. Indem sich die Beteiligten über diese Tatsache bewusst sind, wird ihr mediativ in folgender Weise Rechnung getragen: Menschen können nicht »un-vermittelt«456 miteinander in Beziehung treten. Das vermittelnde, beziehungsstiftende Element ist das Bild, das sich Menschen voneinander machen. Indem sie bestimmte Vor-Stellungen vom anderen haben, begrenzen sie seine reale Komplexität. Dadurch bilden sie den anderen ab und stellen ihre eigene gedankliche Konstruktion seines Menschseins vor dessen reale Existenz. Dieses Modell von einem Menschen abstrahiert dann das, was er in Wirklichkeit ist. In Mediationskontexten wird offenkundig, dass es gerade diese begrenzenden Vorstellungen sind, die dazu führen, sich gegenseitig zu missverstehen und dadurch soziales Konfliktpotenzial zu evozieren.457 Zu Deeskalationszwecken muss deshalb bewusst werden, dass es zwar unumgänglich ist, die Existenz des anderen abzubilden, dass aber vermieden werden kann, das eigene Abbild von der anderen Person mit dessen realer Existenz gleichzusetzen. Allen Mediationsbeteiligten muss dementsprechend deutlich sein, dass in der Mediation konkrete Menschen agieren. Weil alles Konkrete komplex ist, muss es zum Zwecke der Konfliktregulierung auf die dafür relevanten Aspekte reduziert werden. Solchermaßen zu begrenzen, ermöglicht es handlungsfähig zu sein.458 Daraus ergeben sich die entsprechenden mediativen Rollenverständnisse, in denen der ganze Mensch nur vordergründig auf seine Rolle in der Mediation begrenzt wird. Die Komplexität seines konkreten Menschseins bleibt im Hintergrund nicht nur bestehen, sondern es herrscht auch eine Bewusstheit darüber, dass sie nicht in der Mediationsrolle aufgehen kann. Mediation versucht also zu berücksichtigen, dass es »jenseits vom Seh- und Handlungsraum noch viel mehr gibt, das in das Hier und Jetzt hineinwirkt, auch wenn ich nicht darauf fokussiere«459. Auch durch Interventionsmaßnahmen lassen sich nicht alle 455 456 457 458 459

Josef Duss-von Werdt: homo mediator, 164. Ebd. Vgl. Anita von Hertel: Professionelle Konfliktlösung, 175. Vgl. Josef Duss-von Werdt: homo mediator, 178f. A. a. O., 179.

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Der Mensch als Verantwortungsträger in der Mediation

Faktoren herausarbeiten, die in Konfliktsituationen hineinspielen. Deshalb bedarf es einer grundsätzlichen Offenheit für ein Vorgehen, das sich am Menschen orientiert, ohne ihn dafür vollständig verstehend durchdrungen haben zu müssen. Von hierher begründet sich die Zentralstellung des »unkoordinierbaren Menschen« in der Mediation. Durchführungspraktisch konkretisiert sie sich in der konzeptimmanenten Adaptivität, die es gebietet, das mediative Vorgehen konsequent am konkreten Menschen auszurichten. Den Umgang miteinander prägt das Wissen um die Komplexität von der Individualität des Gegenübers in Form von der Annahme, dass jeder Mensch im Kontext seiner einzigartigen Lebensbedingungen sinnvoll agiert. Für Mediationskontexte wird dafür der Terminus der »plausiblen Intention« verwendet.

4.6

Die »plausible Intention«

Das Prinzip der »plausiblen Intention« besagt, »dass jeder Mensch zu jedem Zeitpunkt aufgrund von Vorerfahrungen, für ihn schlüssigen Motiven sowie erlernten und ererbten Fähigkeiten so handelt, wie er handelt«460. Die »sinnbezogene Wirklichkeit« des Einzelnen als sein situatives Erleben im Gesamtkontext seines konkreten Menschseins generiert sein Verhalten, das vor dem Hintergrund seines Selbsterlebens sinnvoll ist. Dieser Sinn ist in Interaktionen nicht immer offenkundig. Teilweise sind Grenzen des Kommunizierbaren und Verstehbaren461 erreicht, sodass Menschen das Verhalten ihres Gegenübers nicht nachvollziehen können. Akzeptanz und Anerkennung zeigen sich dann darin, sie nicht an die Bedingung des eigenen Verstehens zu knüpfen, sondern fremdes Verhalten unabhängig von eigenen Ansichten gelten zu lassen.462 Im Hintergrund des situativen Verhaltens eines jeden Menschen stehen stets seine individuellen Existenzbedingungen, die ihn hinsichtlich seiner eigenen Bestandsund Niveausicherung beanspruchen.463 Deswegen ist davon auszugehen, dass das Verhalten eines Menschen bestimmten Logiken folgt, die seinem subjektiven Wirklichkeitserleben entsprechen. Wirklichkeit wird in der Mediation unter konstruktivistischen Gesichtspunkten betrachtet.464 Jedes Verständnis von 460 Beide Zitate Anita von Hertel: Professionelle Konfliktlösung, 196. 461 Vgl. 3.6 Kommunikation als mediatives Mittel zur Übernahme von Verantwortung. 462 Vgl. Martin Carmann u. a.: Fragen und Zuhören, 299; Roger Fisher u. a.: Das HarvardKonzept, 63. 463 Mit der »plausiblen Intention« verbindet sich die Annahme, dass der Mensch über unerschöpflichen Ressourcenreichtum verfügt, der es ihm ermöglicht, aus einer Vielzahl von kreativen Lösungsmöglichkeiten auszuwählen und gestaltend tätig zu werden (vgl. Rainer Schwing u. a.: Systemisches Handwerk, 326). 464 Vgl. Peter Geißler : Mögliche Schnittstellen zwischen Mediation und Psychotherapie, 62. Anhand von Versuchen zeigt Humberto R. Maturana auf, dass »unsere Erfahrung in un-

Die »plausible Intention«

167

Wirklichkeit gilt deshalb als logisch, weil es den Ertrag aus subjektiven Verarbeitungsprozessen darstellt. Es muss sich dabei nicht um objektive Logiken handeln, sondern Wirklichkeiten gelten als »psycho-logisch«465. Damit soll dem Zusammenhang zwischen Beobachter und Beobachtetem466 Rechnung getragen werden. Ihm zufolge korrelieren Vorstellungen von der Wirklichkeit, als wahrnehmbare Erscheinung des Seins, und Wahrheit, als mit der Wirklichkeit übereinstimmende Aussage, mit dem Menschseins desjenigen, der sie subjektiv bestimmt. Weil Menschen insbesondere in Konflikten gegenläufige Vorstellungen von Wahrheit konstruieren467, gilt mit konfliktregulierender Intention insbesondere für Mediationskontexte, dass niemand für sich beanspruchen kann, über objektive Wahrheiten zu verfügen. Die subjektiven Sicht- und entsprechende Verhaltensweisen hingegen werden in ihrer »Psycho-Logik« als plausibel intendiert anerkannt.468 Aus der Grundannahme, dass jede Selbstaussage immer zu demjenigen Kontext passt, aus dem heraus sie entsteht, und deshalb abseits von objektiver Wahrheit wurzelt, folgt für Mediation, dass unabhängig von der Wahrheit zu intervenieren ist. Einerseits wirkt dies dahin gehend entlastend, dass die Suche nach der Wahrheit, die unter dem Eindruck vielfältiger Positionen und Konfliktdeterminanten stünde, von vornherein unterlassen werden kann.469 Andererseits gilt es auszuhalten, dass persönlichen Wahrheitsvorstellungen nicht zu einem allgemeingültigen Recht verholfen wird, sondern sie stets in Relation zu dem gleichermaßen berechtigten Wahrheitsbewusstsein anderer gestellt werden. Aus sich widersprechenden Vorstellungen ergeben sich dann unvermeidbare Spannungsfelder.470 Wenn allerdings die Idee aufgegeben wird, dass sich die tatsächliche Konfliktwahrheit ergründen lässt, stehen nicht mehr die miteinander unvereinbaren Wahrheitsvorstellungen im Vordergrund, sondern es überwiegt das Bestreben, den Konflikt abseits von Richtig und Falsch zu lösen.

465 466 467 468 469 470

auflöslicher Weise mit unserer Struktur verknüpft ist. Wir sehen nicht den ›Raum‹ der Welt, sondern wir erleben unser visuelles Feld; wir sehen nicht die ›Farben‹ der Welt, sondern wir erleben unseren chromatischen Raum. Dennoch sind wir ohne Zweifel in einer Welt. Aber wenn wir näher untersuchen, wie wir dazu kommen, diese Welt zu erkennen, werden wir immer wieder finden, daß wir die Geschichte unserer biologischen und sozialen Handlungen von dem, wie uns die Welt erscheint, nicht trennen können. Dies ist so augenfällig und naheliegend, daß es besonders schwer zu erkennen ist« (ders.: Der Baum der Erkenntnis, 28). Wolfgang Mutzeck: Kooperative Beratung, 100 (H. i. O.). Vgl. Josef Duss-von Werdt: homo mediator, 151. Dies gilt insbesondere für verzerrte Eigen- und Fremdbilder, die im Zuge von Eskalationssteigerungen in ein dualistisches Schwarz-Weiß-Denken münden (vgl. Friedrich Glasl: Konfliktmanagement, 41). Vgl. Nadja Alexander u. a.: Mediation, Schlichtung, Verhandlungsmanagement, 76; Rainer Schwing u. a.: Systemisches Handwerk, 327. Vgl. Josef Duss-von Werdt: homo mediator, 149f. Vgl. Gerhard Schwarz: Führen mit Humor, 173; John M. Haynes: Mediation (2000), 72.

168

Der Mensch als Verantwortungsträger in der Mediation

Dadurch erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, die Verantwortung für den Konflikt und seinen Ausgang zu teilen.471 Unterschiede und damit verbundene Spannungen können und sollen also nicht eliminiert werden, sondern es wird ein »Frieden der Vielfalt«472 angestrebt. Demzufolge geht es nicht darum, einen wertneutralen Raum zu schaffen. In den Werten eines Menschen drückt sich sein individuelles Wirklichkeitserleben komprimiert aus. Sie dienen ihm dazu, seine Existenz und sein Handeln subjektiv sinnvoll auszurichten.473 Deswegen haben sie innerhalb der Mediation ihre Berechtigung, obwohl Disharmonien dadurch unvermeidbar werden. Diese Tatsache fordert von den Konfliktbeteiligten aufrichtige und konsequente Akzeptanz dessen ein, dass alle Personen in der Mediation uneingeschränkt gleichberechtigt sind. Sie sollen erleben können, dass sich ihre Anliegen in mancher Hinsicht gleichen und sich wiederum in anderen Aspekten unterscheiden, woran sich »die Andersheit in der Gleichheit und Gleichsein im Anderssein«474 zeigt. Das Mediationsverfahren zielt darauf ab, Gleichheiten für ein tragfähiges Fundament der Konfliktregulation genauso zu nutzen wie die Differenzen, aus denen sich dann Synergieeffekte ergeben, wenn sie konstruktiv in Beziehung zueinander gesetzt werden. Insbesondere für die konfliktregulative Arbeit mit den Unterschieden bedarf es intrapersonaler Selbstregulationskraft, die von einer stabilen Selbstbeziehung herrührt und Belastungen standhält. Je mehr es Menschen gelingt, sich über ihre eigenen inneren Vorgänge und Möglichkeiten Klarheit zu verschaffen, desto eher sind sie auch dazu in der Lage, Erkenntnisse über das Selbsterleben anderer zu gewinnen und es anzuerkennen, ohne unterschiedliche Sichtweisen vereinheitlichen zu müssen.475 Die Selbst- und Fremdbeziehung korrelieren auf diese Weise miteinander. Der Mensch überprüft für sich selbst, inwieweit er seinen eigenen Bedürfnissen gerecht werden kann und welche äußeren Bedingungen diesem Ziel zuträglich sind. Wenn er sein Selbsterleben solchermaßen reflektiert und seine Erkenntnisse in seine Beziehung zum Gegenüber einpflegt, entsteht soziale Ausgewogenheit in dem Maße, in dem die beiden Eigengerechtigkeiten gleich gewichtet sind.476 Weil in der Mediation keine äußere Instanz die jeweiligen Umstände als gerecht oder ungerecht deklariert, entscheiden die Beteiligten selbst darüber. Sie erkennen, dass mit dem Konflikt eine negative Sinnstiftung erfolgt ist, die der eigenen Bestands- und Niveausicherung entgegensteht. Daraus gewinnen sie Einsich471 472 473 474 475 476

Vgl. a. a. O., 75, 67. Vgl. Hans-Georg Mähler : Macht – Gesetz – Konsens, 103. Vgl. Josef Duss-von Werdt: homo mediator, 256. A. a. O., 178. Vgl. Gerhard Gattus Hösl: Mediation, 72. Zur Eigen- und Beziehungsgerechtigkeit vgl. Gisela Mähler u. a.: Gerechtigkeit in der Mediation, 27.

Die »plausible Intention«

169

ten dahin gehend, was anders sein müsste, um zu einer positiven Gegensinnstiftung zu gelangen. Selbst- und Fremderkenntnisse ergänzen sich dabei und generieren schließlich eine kreative Konfliktlösung, die den individuellen Gerechtigkeitsvorstellungen entspricht, ohne dass Unterschiede eliminiert werden müssten. Das bis hierher Gesagte lässt sich in Hinblick auf ein bestimmtes Bild vom Menschen folgendermaßen zusammenfassen: Mediation liegt die Annahme zugrunde, dass sich dem Menschen durch die Irritationen im Konflikterleben Möglichkeiten zu einer Fortentwicklung bieten. Um diese nutzen zu können, muss er sich willentlich dafür entscheiden und sein Handeln demgemäß konsequent auf die entsprechenden Veränderungspotenziale hin ausrichten. Dies wiederum setzt voraus, dass sich der Mensch selbst als freies und willensbegabtes Wesen erkennt. Erst wenn er um seine eigenen Gestaltungsmöglichkeiten weiß, wird er es auch anstreben, Modifikationen innerhalb seines Lebens vorzunehmen. Die Bewusstheit über intrapersonale Prozesse in Verbindung mit dem Vermögen, zielgerichtet über sie reflektieren zu können, bilden die Basis dafür, eigene Belange zu vertreten. Aus dem Wissen um und dem Vertrauen auf seine natürlichen Kompetenzen kann der Mensch schließlich seine Selbstbestimmungskraft daraufhin ausrichten, Verantwortung für sich und die Sache der Konfliktregulation zu übernehmen. Für Mediationskontexte ist diese Selbstverantwortung immer auch an die Verantwortung gegenüber den anderen Beteiligten und schließlich an das Verhandlungsergebnis gebunden. Es wird anerkannt, dass differierende subjektive Wahrheitsvorstellungen plausibel intendiertes Verhalten generieren. Die konzeptimmanente Adaptivität versucht sicherzustellen, dass dieses individuelle Menschsein mit der Verfahrensstruktur in Beziehung gebracht wird und der Mensch dabei im Vordergrund steht. Von hierher begründet sich die Zentralstellung des Menschen in der Mediation. Duss-von Werdt scheint hinsichtlich dieses Aspekts gegenteilig zu argumentieren, wenn er darauf verweist, dass die Sachangelegenheit und nicht der Mensch im Vordergrund steht: »Die Mitte bilden also nicht Personen, sondern ihre Sachanliegen wie etwa Lebens- und Arbeitsbedingung, Formen des Umgang mit dem anderen, Gemeinsames und Trennendes in Gegenwart und Zukunft – die ›Verhandlungsgegenstände‹.«477 Für die reine Verfahrensebene ist ihm in dieser Einschätzung beizupflichten, weil die kontraktuelle Zielsetzung das Verfahren deutlich daraufhin ausrichtet, zu einem Konsens hinsichtlich einer Sachangelegenheit zu gelangen. Allerdings stehen die Verhandlungsgegenstände in einem Zusammenhang mit dem individuellen Menschsein desjenigen, für den sie bedeutsam sind. Die Sachanliegen bilden deshalb bestimmte individuelle Vorstellungen ab, hinter denen die eigentliche Komplexität des konkreten 477 Josef Duss-von Werdt: homo mediator, 169.

170

Der Mensch als Verantwortungsträger in der Mediation

Menschen steht und entsprechend auf sie einwirkt. Verhandlungsgegenstände fungieren als Anlass dazu, dass sich Menschen mit sich selbst und anderen hinsichtlich der Konfliktangelegenheit befassen. Um in der Sache (ver-)handlungsfähig zu sein, nehmen sie dazu mediative Rollen ein. Sie aber darauf zu beschränken, wäre vordergründig. Entscheidungen bezüglich der zu verhandelnden Sachanliegen haben sich am konkreten Menschen zu bewähren, der unter dem Eindruck individueller komplexer Lebensbedingungen steht, die die Verhandlungsgegenstände erst hervorgebracht haben. Demgemäß stellt mediatives Vorgehen zwar in erster Linie darauf ab, Sachangelegenheiten zu regeln, aber damit es darin auch erfolgreich sein kann, ist es unumgänglich, sich in allen sachlichen Klärungen am konkreten Menschen zu orientieren. Auf diese Weise steht der Mensch im Zentrum von einer Mediation, die dazu beitragen will, Menschsein unter dem Eindruck von anthropologischer Konfliktträchtigkeit verantwortlich zu gestalten. Der Versuch, die Bedeutung des Menschen in der Mediation zu betrachten, hat gezeigt, dass es Grenzen des Beschreibbaren gibt. Sie liegen darin begründet, dass der nur ansatzweise zu erschließende konkrete Mensch das Verfahren in einer Weise prägt, die weder vorhersagbar noch vollumfänglich erklärbar ist. In Interaktionen vollziehen sich deshalb Ereignisse, durch die eine transzendente Dimension von Mediation aufscheint. Sie zeugen von Grunderfahrungen des Menschseins zwischen Leid und Freude, Ablehnung und Zugewandtheit, Resignation und Hoffnung, Schuld und Versöhnung, in denen Kräfte wirksam werden, die außerhalb menschlicher Verfügbarkeit liegen. In der Literatur zu Mediation, Konfliktmanagement und Gewaltfreier Kommunikation478 werden sie zu umschreiben versucht, indem auf religiöse Sprachsymboliken zugegriffen wird. Darin zeigt sich der Versuch, sich den hinweisenden Charakter eines religiösen und spirituellen Sprachduktus zu Erklärungszwecken zunutze zu machen. Solche Tendenzen, die sich insbesondere in Form von christlich konnotierten Aussagen vorfinden lassen, werden im Folgenden dargestellt.479 Es steht dabei nicht im Vordergrund, zu überprüfen, inwieweit die religiösen 478 Der Begründer der Gewaltfreien Kommunikation (GFK) Marshall B. Rosenberg ist selbst als international bekannter Mediator tätig. Die nach seiner Methode praktizierte Form kommunikativen Denkens und Handelns ist bedeutsam für die Mediatorentätigkeit und lässt sich als Bestandteil vieler Ausbildungscurricula vorfinden. 479 In deutlich geringerem Umfang finden sich auch Anklänge an andere Religionen, wie beispielsweise den Buddhismus. Zum Thema Bedürfnisse tätigt Marshall B. Rosenberg folgende Aussage: »ich schätze den Buddhismus sehr, ich habe einen Großteil meiner Ideen von Buddha geklaut. Aber ich glaube nicht, dass Buddha jemals gesagt hat: Habe keine Bedürfnisse« (ders.: Konflikte lösen durch Gewaltfreie Kommunikation, 34). Gerhard Schwarz vergleicht die christliche Erlösung mit der buddhistischen Erleuchtung und legt beide in Hinblick auf die Selbstbestimmung des Menschen aus (vgl. ders.: Was Jesus wirklich sagte, 204; s. a. ders.: Führen mit Humor, 161ff.).

Die »plausible Intention«

171

Konnotationen im Einzelfall einem wissenschaftlichen theologischen Anspruch genügen. Zu veranschaulichen, auf welche Weise sich die Mediationsliteratur religiöser Metaphorik bedient, soll vielmehr ausweisen, wo sie selbst Anknüpfungspunkte dafür bietet, diese Ansätze theologisch zu vertiefen.480

480 Anhand des Verantwortungsverständnisses Dietrich Bonhoeffers wird die religiöse Dimension an späterer Stelle theologisch vertieft (vgl. Teil 3: Der Verantwortungsbegriff bei Dietrich Bonhoeffer). Dies ersetzt es, die in der Mediationsliteratur aufscheinenden und für den Kontext dieser Untersuchung relevanten religiösen Bezüge im Einzelnen (kritisch) zu betrachten. An dieser Stelle genügt es, sie aufzuzeigen. Weil der von den Autoren selbst gewählte religiöse Sprachduktus vorgestellt werden soll, sind vermehrte Zitationen in Kauf zu nehmen. Insbesondere unter durchführungspraktischen Gesichtspunkten ist zudem darauf hinzuweisen, dass religiöse Wahrheiten vom Standpunkt der Mediation aus gleichwertig mit anderen Wahrheitsvorstellungen sind; sie können also keinen Exklusivitätsanspruch erheben.

5

Die Dimension hinter der Mediation – Religiöse Bezüge

5.1

Der Mensch als freies Wesen vor Gott

An die vorangegangenen Überlegungen anknüpfend lässt sich ausgehend vom Literaturbefund als ein erster religiöser Bezug ein christlich geprägtes Verständnis vom Menschen benennen. Die drei miteinander verbundenen Wesensteile Körper, Seele und Geist bilden das ganzheitliche System Mensch, in dem die Bedürfnisse auf physischer, psychisch-emotionaler und spiritueller Ebene zusammenkommen. In dieser Konstitution des Menschseins erkennt Glasl eine Äquivalenz zur christlichen Gottebenbildlichkeit: »Das Wesen des Menschen ist nach dem Wesen Gottes gestaltet. Der Mensch ist in seinem dreifältigen Wesen ein Bild, ein Gleichnis des Wesens des dreifaltigen Gottes. Während die göttliche Dreifaltigkeit die Person des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes umfasst, ist der Mensch seinem eigentlichen Wesen nach ein Dreiklang von Leib, Seele und Geist. Dem Geiste nach ist das Ich des Menschen göttlicher Natur; der Seele nach steht der Mensch zwischen geistiger Welt und materieller Welt und im Verkehr mit anderen beseelten Wesen; und dem Körper nach nimmt der Mensch an der stofflichen Welt teil.«481

Glasl expliziert diese Gegenüberstellung beider Dreigliedrigkeiten nicht näher, sondern belässt es bei dem Hinweis darauf, dass sich in der Wesenhaftigkeit des Menschen »auch der Kern des christlichen Menschenbildes [zeige], das allen konfessionellen Ausprägungen eigen«482 sei. Der Autor bleibt es dem Leser also schuldig, die Imago Dei differenziert zu betrachten und den von ihm vorgenommenen Vergleich nachvollziehbar zu begründen. Deshalb bleibt auch offen, ob er die einzelnen Wesensglieder von Mensch und Gott einander konkret zuordnen würde oder ob das Anliegen dieses Vergleichs lediglich darin besteht, aufzuzeigen, dass sich das Muster einer Dreigliedrigkeit ähnelt. Die Aussage, dass das menschliche Ich göttlicher Natur sei, weist jedenfalls über die physische 481 Friedrich Glasl: Konfliktmanagement, 30. 482 Ebd.

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Die Dimension hinter der Mediation – Religiöse Bezüge

und psychische Natur des Menschen hinaus auf Wesensmerkmale hin, denen etwas Unerklärliches und Unverfügbares innewohnt. Sie stellt auch das Potenzial in Aussicht, über die Begrenzungen des Menschseins hinausgehen zu können.483 Auch bei Schwarz484 findet sich der Gedanke der Gottebenbildlichkeit. Allerdings wird er von ihm in einer anderen Weise pointiert. Sein Fokus richtet sich darauf, den Menschen als Geschöpf Gottes zwischen Abhängigkeit und Freiheit zu beschreiben. Abhängig erlebte sich der Mensch zunächst insbesondere von Naturgewalten. Er personifizierte sie, um Kontakt zu den Mächten aufzunehmen, von denen er sich abhängig fühlte. Der Mensch versuchte also, seiner willkürlichen Abhängigkeit zu entfliehen und sich damit dem Ideal anzunähern, sein Ausgeliefertsein aufzulösen.485 Religion ließe sich demnach als der »Versuch der Menschen [beschreiben], sich mit ihren Abhängigkeiten auseinanderzusetzen«486. Dadurch, dass es dem Menschen zunehmend gelang, die Regelmäßigkeit von Naturvorgängen zu erkennen, gelangte er zu einer Ahnung von seiner tatsächlichen Freiheit und »während er die Götter immer noch unter dem Zwang des Naturgeschehens vermutete –, interpretierte [er] sich selbst als göttlich oder gottähnlich (Ebenbild Gottes in der Bibel)«487. Indem der Mensch seine eigene Endlichkeit mit der göttlichen Erhabenheit konfrontiert sieht, erkennt er sowohl seine eigenen Begrenzungen als auch sein Freiheitspotenzial, das er selbst entfalten kann: »Der Mensch erfüllt als ›Freigelassener der Schöpfung‹ ein Programm, das überall, wo es zum Tragen kommt, Freude auslöst. Es ist die Freude über die Freiheit und – wie ich meine – wahrscheinlich die stärkste Kraft im menschlichen Dasein«488. Im Menschen kommen also Geschöpflichkeit und Schöpfertum zusammen. Als Geschöpf Gottes ist der Mensch ein geschaffenes Wesen, also empfangend und abhängig von Kräften, 483 Der von dem Politikwissenschaftler und Konfliktforscher Friedrich Glasl vorgenommene Vergleich muss daraufhin kontextualisiert werden, dass der Autor Aussagen zum Menschenbild tätigt, von denen ausgehend soziale Konflikte erklärt werden sollen. Der christliche Rekurs ist dabei nur ein Teilaspekt seiner Argumentationsführung. Diese beinhaltet beispielsweise auch psychologische Erklärungsmuster. Grundsätzlich gilt, dass theologische Aussagen vertiefend zu begründen wären. Die Begriffe der »Gottebenbildlichkeit« und der »Trinität«, die Glasl mit seinem Vergleich zwischen dem Wesen des Menschen und dem Wesen Gottes gedanklich zusammenführt, haben beispielsweise traditionsgeschichtliche Entwicklungen durchlaufen. Schon deswegen wäre es geboten, dogmatisch zu differenzieren und von hierher zu begründen, inwiefern und unter welchen Prämissen ein derartiger Vergleich theologisch haltbar sein kann. 484 Gerhard Schwarz hat Naturwissenschaften, Theologie und Philosophie studiert. Als habilitierter Philosoph versucht er religionsphilosophische Studien mit Fragen zu Konfliktmanagement und Organisationsentwicklung zusammenzuführen. 485 Vgl. Gerhard Schwarz: Führen mit Humor, 165. 486 Ebd. 487 A. a. O., 165f. 488 A. a. O., 174.

Die Sünde als vom Leben trennende Kraft

175

die sein Leben erschaffen haben und es erhalten. Als zur Freiheit befähigtes Geschöpf ist er zugleich auch Gestalter dieser Freiheit, die ihm mit seinem Leben gegeben ist. Er verfügt also selbst über Schöpferkraft, mit der er seine Existenz autonom formen kann. Diese Handlungsmöglichkeiten des Menschen stehen aber nicht nur im Spannungsfeld zwischen Gottesabhängigkeit und selbsteigener Freiheit, sondern sie sind auch durch die Freiheit anderer begrenzt. Menschen sind aufeinander angewiesen, weil sie ihre lebenssichernden Umstände gemeinschaftlich schaffen müssen. Jegliche Formen des Zusammenlebens und des Auseinandersetzens miteinander sind deshalb notwendig, um sich sozial aufeinander zu beziehen.489 Die Freiheit des einen ist also – der gemeinsamen Existenzsicherung wegen – daran gebunden, die Freiheit des anderen zu berücksichtigen. In der Konsensfindung setzt sich diese freiheitliche Bezugnahme aufeinander lebenspraktisch um. Erleben und Reflektieren gilt es dafür möglichst zeitgleich ins Bewusstsein zu heben, wodurch sich der Sinn von Prozessen, noch während sie geschehen, zeigt.490 Dies ist möglich, weil »die göttliche Geistbestimmung und das irdische Leben in eines zusammen[kommen]«491. Die Verbindung zwischen Göttlichem und Menschlichem, die sich Schwarz zufolge in Selbstreflexionsprozessen realisiert, ist die Voraussetzung dafür, dass der Mensch bestands- und niveausichernd tätig werden kann. Dieser Annahme entsprechend ist der Mensch nur bewusstseins- und handlungsfähig, wenn »das Göttliche« in ihm wirksam wird. Im Konfliktfall ist die Verbindung des Menschen zu sich selbst und anderen belastet oder gar unterbrochen. Die »göttliche Geistbestimmung« drückt sich dann nur eingeschränkt aus. Dafür wird in der Literatur der Begriff der Sünde verwendet.

5.2

Die Sünde als vom Leben trennende Kraft

Die Erörterungen zur Eskalationsdynamik haben gezeigt, dass Menschen in Konflikten negative Sinnstiftung hervorbringen. Sich selbst und anderen gegenüber verhalten sie sich dabei zunehmend zerstörerisch.492 Dieses Verhalten kann als eine Form des Nichtwissens gedeutet werden, das entsteht, wenn ein Mensch »die Verbindung zu seiner Menschlichkeit verloren hat, einfach jene Kraft in sich vergessen hat, mit der er Schönheit und Fülle in das Leben bringen 489 490 491 492

Vgl. Josef Duss-von Werdt: homo mediator, 161. Vgl. 4.3 Die Inhaltsverantwortung als Implikat der Mediantenrolle. Gerhard Schwarz: Führen mit Humor, 168. Vgl. 2.2 Die Eskalationsdynamik in Konflikten.

176

Die Dimension hinter der Mediation – Religiöse Bezüge

kann«493. Durch ein Getrenntsein von sich selbst, scheidet sich der Mensch dann vom Leben überhaupt. Seine fehlende positive Selbstbeziehung führt dazu, dass er nur noch eingeschränkt liebesfähig ist. Es ereignen sich destruktive und ungewollte Handlungen, weil der Mensch seinem Selbsterleben nach nicht mehr hinreichend über sich verfügen kann. Um diesen für Konfliktverstehen bedeutsamen Zusammenhang zu beschreiben, rekurriert die Literatur auf den Sündenbegriff: »Dieser Zustand nicht selbst sein können, nicht über sich verfügen zu können, sondern etwas zu tun oder zu denken, was man eigentlich nicht tun oder denken wollte, heißt bei Jesus auch ›Sünde‹. Noch etwas brutaler vergleicht Jesus diesen Zustand als bei lebendigem Leibe tot sein.«494

Vor dem Hintergrund eines Menschenbildes, das den Menschen als ein Geschöpf Gottes ausweist, das wesenhaft mit dem Göttlichen verbunden ist, bedeutet die Entfernung des Menschen von sich selbst dann zugleich auch die Entfernung und Entfremdung von Gott.495 Weil Gott die lebensschaffende und lebenserhaltende Kraft ist, ist fehlender Selbst- und Gotteskontakt auch eine Kontaktlosigkeit zum Leben selbst. Damit ist der Konflikt nach referierter Auslegung ein Ausdruck von Sünde als eine vom Leben trennende Kraft, durch die die Selbstbestimmung des Menschen verloren geht, zu der er aufgrund seiner Gottebenbildlichkeit berufen ist.496 Die Selbstbestimmung des Menschen, die im Konfliktfall verloren zu gehen droht, ist im Umkehrschluss wiederum genau die Kraft, mit der es gelingen kann, die lebenstrennende Situation zu überwinden: »ob mit oder ohne Gott (inscende in te et transcende); ob mit oder ohne Kirche, ob mit oder ohne Autorität jeder Art. Aus Krisen kommt man nur durch Selbstbestimmung heraus, und dies erreicht man durch Reflexion auf die Voraussetzungen. Dazu gehört 493 Marshall B. Rosenberg: Konflikte lösen durch Gewaltfreie Kommunikation, 75. Rosenberg steht bei diesem Hinweis die Praktik eines Naturvolkes (Negrito) vor Augen, die mit Anliegen zum Täter-Opfer-Ausgleich folgendermaßen umzugehen pflegen: »Wenn jemand dort einem anderen Schaden zufügt, seine Hühner stiehlt oder das Haus des Nachbarn anzündet oder was auch immer, dann wird die Person, die das getan hat, in die Mitte eines Kreises gestellt, umringt von den Menschen, die diese Person kennen. Und sie verbringen einen ganzen Tag damit, dass jeder einzelne aus der Gruppe dieser Person erzählt, durch welche wundervollen Dinge, die sie getan hat, sein Leben bereichert wurde. […] Diese Rechtspraxis hat ein Menschenbild vor Augen, das aus der Vorstellung entstanden ist, dass es unserer menschlichen Natur entspricht, dass wir, wenn wir mit uns verbunden sind, nichts lieber tun als zum Wohlergehen anderer beizutragen« (A. a. O., 74). Die Darstellung bezieht sich auf Walter Wink: Engaging the Powers. Discernment and Resistance in a World of Domination, Minneapolis 1992. 494 Gerhard Schwarz: Was Jesus wirklich sagte, 9. 495 Vgl. 9.2 Der Mensch als gerechtfertigtes Wesen vor Gott. 496 Vgl. a. a. O., 190.

Die Sünde als vom Leben trennende Kraft

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Mut und es ist anstrengend. Im Prinzip ist es die alte Weisheit des Essens vom Baum der Erkenntnis, die den Menschen gottebenbildlich macht. Allerdings um den Preis des Verlustes des Paradieses.«497

Aus dem sündhaften Zustand des Getrenntseins erlöst zu werden, kann gelingen, indem sich der Mensch seiner Handlungsfreiheit (Selbstbestimmung) und seiner Unterscheidungsgabe (Selbstreflexion) zwischen lebensförderndem und lebensverneinendem Handeln bewusst wird.498 Durch die Liebe – von Schwarz verstanden als Konsensfindung – vollzieht sich dann eine Auferstehung inmitten des irdischen Lebens.499 Dieser Prozess, in dem sich der Mensch kraft seines Willens dafür einsetzt, die Konfliktsituation konsensual zu wenden, ist für die betroffenen Personen häufig selbstkonfrontativ und infolgedessen auch schmerzhaft. Das Ausmaß, in dem das Selbst des Menschen zu Veränderungen veranlasst wird, korreliert jedoch mit seinem Potenzial, sich weiterzuentwickeln. Je herausfordernder also die Hindernisse, die zu überwinden sind, desto kraftvoller können sich auch Wandlungsprozesse vollziehen.500 Glasl stellt für das Durchleiden einer konfliktären Situation eine Analogie zum christlichen Sterbe- und Auferstehungsprozess her und reichert das Konfliktleiden dadurch mit Sinngehalt an501: »In ihm [dem Sterbe- und Auferstehungsprozess] können wir erleben, dass Leiden wirklich sinnvoll ist – wenn wir in den dunkelsten Tiefpunkten die Perspektive eines christlichen Menschenverständnisses nicht verlieren.«502 Das Bild des Sterbe- und Auferstehungsprozesses hat hinweisenden Charakter dahin gehend, dass sich Leiden positiv wenden lässt. In ihm komprimiert sich die Erfahrung des Menschen, dass sich sowohl seine individuelle als auch die kollektive Weiterentwicklung in antithetischen Spannungsverhältnissen vollzieht. Nur inmitten von Polaritäten, die die wesenhafte Konfliktträchtigkeit im Menschen so weit erhöhen, dass sie sein nach Ausgleich strebendes Handeln erzwingen, vollzieht sich Wachstum. Gäbe es diese Spannungsverhältnisse nicht, würde sich »Stillstand, das ist geistiger Tod«503 ein497 A. a. O., 193. Mit »inscende in te et transcende« bezieht sich Gerhard Schwarz auf Augustinus: »Die Gottheit ist in dir, nicht in einem Jenseits« (a. a. O., 190). 498 Unter Erlösung versteht Gerhard Schwarz die Einheit von Gott und Mensch (vgl. a. a. O., 198). 499 Vgl. a. a. O., 9. 500 Vgl. Friedrich Glasl: Konfliktmanagement, 478. 501 Zu allen Zeiten wurde das Kreuzesgeschehen eingesetzt, um dem Leiden der Menschen einen Sinn zu verleihen. Dass der Sinn der Erlösung durch Jesus Christus darin nicht aufgeht, ist evident. In dem Versuch, die Hoffnungsdimension auf das irdische Leben zu übertragen, scheint aber ein grundlegendes Bedürfnis nach Sinnstiftung auf, die konstitutiv für Lebensdeutung schlechthin ist (vgl. IV. Zur Bedeutung einer christlichen Bewusstseinsdimension für die sinnhafte Selbstbestimmung des Menschen). 502 Ebd. 503 Gerhard Schwarz: Konfliktmanagement, 30.

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Die Dimension hinter der Mediation – Religiöse Bezüge

stellen. Gerade Dualitäten erzeugen Unvereinbarkeiten, die den Menschen auf seine Selbstbestimmungsfähigkeit zurückverweisen, weil er sich positionieren muss. Schwarz sieht dieses grundsätzliche Prinzip auch in Mythos und Religion angelegt: »Nirgends kommt Gott in die Hölle oder Satan in den Himmel«504. Unterscheidungen zwischen »Himmel und Hölle« und »Gut und Böse« bleiben in jedem Falle unaufhebbar. In Konflikten dienen sie als Erkenntnisprinzipien, weil gerade ihre Unversöhnlichkeit die Entscheidungsnotwendigkeit im Menschen dahin gehend hervorruft, sich konfliktfördernd oder interventionsorientiert zu verhalten.505 Diese Spannung religiös konnotiert zu beschreiben, verweist auf eine Hoffnungdimension, die für Menschen konkret erlebbar werden kann. Einerseits stellt sie in Aussicht, dass es überhaupt möglich und sinnvoll ist, Leid zu überwinden. Andererseits führt sie dem Menschen vor Augen, dass selbstbestimmtes Handeln nicht bedeuten muss, vollständig auf sich selbst gewiesen zu sein. Wenn sich der Mensch seiner Beziehung zu Gott gewahr wird, können von hierher Kräfte freigesetzt werden, die es erleichtern, Konfliktbeschwernisse zu durchleben und sie als einen Teil von notwendigen Entwicklungen innerhalb eines größeren Ganzen anzuerkennen. Dabei wird offenkundig, dass Altes zuerst vergehen muss, bevor Neues entstehen kann. Aus der Hoffnung auf einen persönlichen Gott, der den Menschen auch in seinem konfliktären Leiden nicht verlässt, kann Zuversicht erwachsen, siegreich durch die negative Sinnstiftung in Konflikten hindurchgehen zu können. Der Mensch, der sich Gott hingibt, ordnet die begrenzten Möglichkeiten seines eigenen Verstehens und Handelns vertrauensvoll in einen für ihn unverfügbaren größeren Sinnkontext ein. Das aktive, selbstbestimmte Handeln des Menschen verbindet sich dementsprechend mit Demut vor einer größeren Weisheit, die ihn die situativen Gegebenheiten zuversichtlich annehmen und durchleben lässt.506 Das heißt, dass in der Gottesbeziehung schon eine positive Gegensinnstiftung angelegt ist. Vor dem Hintergrund des Gesagten lässt sich die konfliktträchtige, lebenstrennende Kraft, die Eskalationsdynamiken befördert, als Sünde beschreiben. Der Eigenverantwortlichkeit des Menschen, die Schwarz in der christlichen 504 A. a. O., 29. 505 Vgl. ebd. 506 Wenn auch etwas überschießend visionär formuliert drückt John M. Haynes in folgendem Zitat aus, wie der Mensch sein Denken und Handeln von der Konfliktorientierung befreien kann und sich einem Veränderungsprozess hingibt, um eine Zukunft zu planen, »die eine andere ist – eine Zukunft, in der das, was uns Schmerz bereitet hat, nicht mehr geschieht; eine Zukunft, in der unerfreuliche Beziehungen erfreulicher werden. Eine Zukunft, in der Familien, Gruppen und Gemeinschaften eine gemeinsame Übereinstimmung hinsichtlich bestimmter moralischer Werte erzielt haben. Eine Zukunft, die wir kontrollieren können. Daher ist der einzig vernünftige Prediger der, der sagt: Lieber Gott, was kann ich anders machen?« (ders.: Mediation [2000], 81 [H. i. O.]).

Die »göttliche Energie« als Heilungskraft

179

Dogmatik fest verankert sieht507, kommt in Konfliktfällen entscheidende Bedeutung zu, weil sie unerlässlich ist, um diese Sünde zu überwinden. Der Autor geht aber noch darüber hinaus, wenn er das Erlösungsgeschehen in einen Zusammenhang mit der Selbstbestimmungskraft des Menschen stellt: »Die Erlösung (im Christentum) oder Erleuchtung (im Buddhismus) beruht auf der Selbstbestimmung oder dem Selbstbesitzen bei den wichtigen Entscheidungen des Lebens, nämlich der Frage über gut und böse und der Frage der Beziehungen.«508 Obschon sich plausibilisieren lässt, warum Selbstbestimmung in Konfliktfällen besonders bedeutsam ist, darf ihre Wirksamkeit im Gegenzug jedoch auch nicht überschätzt werden. In Interventionshergängen können sich auch Situationen ereignen, die sich nicht ausschließlich dem autonomen Handeln des Menschen zuordnen lassen. Dabei handelt es sich beispielsweise um Versöhnungsgeschehen, die noch über das Anliegen hinausgehen, einen Konflikt zu regulieren.

5.3

Die »göttliche Energie« als Heilungskraft

Anklänge an spirituelle Vorstellungen von einer über den Menschen hinausweisenden und zugleich durch ihn hindurchwirkenden Kraft lassen sich insbesondere im Bereich der Gewaltfreien Kommunikation finden. Auf die Frage, ob er an Gott glaube, antwortet Rosenberg: »Ich würde nicht sagen, dass ich an irgendetwas glaube, ich erfahre es. Was soll das sonst sein, was ich in der Heilungs- oder Versöhnungsarbeit erlebe? Ich glaube nicht daran, ich sehe es jeden Tag, ich erfahre diese göttliche Energie, die Menschen verbinden kann. Ich glaube auch nicht an Elektrizität, aber ich weiß, was passiert, wenn ich den Lichtschalter betätigte, ich kann das Licht sehen und die Verbindungskabel. Es muss also irgendwo herkommen.«509

507 Vgl. Gerhard Schwarz: Was Jesus wirklich sagte, 10. 508 A. a. O., 204; vgl. ders: Führen mit Humor, 161ff. Theologisch wäre auch hier wieder angezeigt, die Begriffe von »Sünde« und »Erlösung« differenzierter zu vertiefen. Ansätze dazu finden sich an späterer Stelle (vgl. 9.2 Der Mensch als gerechtfertigtes Wesen vor Gott; 11.1 Die Bedeutung des Versöhnungsgeschehens). 509 Marshall B. Rosenberg: Konflikte lösen durch Gewaltfreie Kommunikation, 57. Die Gesamtkonzeption der Gewaltfreien Kommunikation ist so angelegt, dass sie nicht nur Konfliktregulation bezweckt, sondern Menschen darüber hinausgehende Möglichkeiten eröffnet, um wertschätzend und rücksichtsvoll miteinander umzugehen. Die von Rosenberg verwendeten Termini »Heilung« und »Versöhnung« weisen darauf hin, dass es ihm darum geht, kommunikative Räume zu schaffen, in denen sich lebensbejahende menschliche Beziehungen wiederherstellen lassen und aufrechterhalten werden können.

180

Die Dimension hinter der Mediation – Religiöse Bezüge

Aus dem Versuch heraus, sich über das bewusst zu werden, was Rosenberg als »geliebte göttliche Energie«510 bezeichnet, entwickelte er schließlich die Gewaltfreie Kommunikation. In ihr soll sich das konkrete menschliche Kommunikationshandeln mit einer Kraft verbinden, die für den Menschen zwar unverfügbar ist und bleibt, die sich aber in Handlungsprozesse eintragen kann, wenn sich der Mensch dafür öffnet, »die göttliche Energie« durch sich hindurchwirken zu lassen. Das von Rosenberg Gemeinte beschreibt er selbst als »schwer zu fassen, es sind immer nur Worte«. Die Ausdrücke »göttliche Energie«, »das, was lebendig ist« bzw. das »Leben« verwendet er dementsprechend synonym für diese Kraft, die »durch die Person fließt«.511 Solche Momente können sich seiner Beschreibung nach dann ereignen, wenn es einem Menschen gelingt, vollständig präsent im gegenwärtigen Augenblick zu sein und sich mit der anderen Person empathisch zu verbinden.512 Dahinter liegt die Vorstellung, dass es auf der von ihm beschriebenen Ebene der Energie keine Unterschiede zwischen Menschen gibt: »Wir sind alle ein Teil der göttlichen Energie, wir sind alle Eins.«513 Aus dieser Auffassung ergeben sich Konsequenzen für das Verständnis von Konfliktregulation. Zwar gibt es Techniken, die sachkompetent zu Interventionszwecken eingesetzt werden können, aber sie sind aus sich selbst heraus nur begrenzt wirksam. Ihre tatsächliche Reichweite zeigt sich erst dann, wenn sie »im Dienste des spirituellen Ziels des Prozesses eingesetzt werden – eine Verbindung herzustellen, sodass Menschen aus einer göttlichen Kraft heraus antworten können, aus Freude am Mitfühlen, aus Freude am Geben«514. Die Hauptsache des konfliktregulierenden Tuns besteht dieser Ansicht zufolge darin, sich einander einfühlsam und verständnisvoll zuzuwenden. Es gilt anzuerkennen, dass Konfliktbeilegung weder dadurch gelingt, eine reine Technik anzuwenden, noch ausschließlich Menschenwerk ist, sondern erst geschieht, wenn auch eine größere Kraft in das Geschehen hineinwirkt.515 Das Zutun des Menschen besteht also insbesondere in dem oft herausfordernden Versuch, die trennenden Faktoren, wie ideologische und moralischethische Ansichten, zugunsten eines offenen Kontakts zueinander zu überwinden und tragfähige Beziehungsarbeit zu leisten.516 Dies wird dann begünstigt, wenn Vertrauen in die eigenen verfügbaren Kräfte ebenso gegeben ist wie das Vertrauen in die unverfügbaren Kräfte, die in den professionell begleiteten Kontakt zwischen einander hineinwirken. Dann kann es beispielsweise ge510 511 512 513 514 515 516

Ders.: Lebendige Spiritualität, 11. Alle Zitate ders.: Konflikte lösen durch Gewaltfreie Kommunikation, 45. Vgl. a. a. O., 43. A. a. O., 51. Ders.: Die Sprache des Friedens sprechen, 53. Vgl. ders.: Konflikte lösen durch Gewaltfreie Kommunikation, 57. Vgl. Friedrich Glasl: Konfliktmanagement, 396.

Die Liebe als gelebte Konsensfähigkeit

181

schehen, dass einer der Beteiligten damit anfängt, »daß er dem anderen recht gibt, darauf faßt auch der andere sich ein Herz und beginnt im Sinne seines Gegners zu denken, was bei diesem wiederum einen zusätzlichen Vertrauensschub auslöst usw.«517. Situationen dieser Art, in denen Diskrepanzen unbedeutend werden und neuartige Formen des Miteinanders aufscheinen, erleben die Konfliktpartner als ein »großes Wunder«518. Darin erfolgreich zu sein, um Gemeinschaft zu ringen, ohne genau aussagen zu können, welche Faktoren tatsächlich wirksam geworden sind, zeugt von der Ahnung, dass es nicht ausschließlich auf eigenes Handeln ankommt. Diese Vorstellung bezieht sich sowohl auf die Beziehung der Konfliktpartner untereinander als auch auf ihre Verbindung zum Vermittler. Haynes verweist darauf, dass eine gute Beziehung zu den Klienten zu dem Glauben daran führt, »daß Gott in jedem von uns ist, und meine Aufgabe als Mediator darin besteht, den Klienten mit dem Gott in sich in Verbindung zu bringen«519. Deutlicher christlich konnotiert beschreibt es Rosenberg insbesondere für Versöhnungsarbeit, die über reine Konfliktregulation hinausgeht und heilend wirken kann: »In der christlichen Tradition heißt es: ›Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, dann [sic!] bin ich mitten unter ihnen.‹ Das ist etwas, was mir hilft, diese Heilungskraft zu verstehen, so wie ich sie immer wieder erlebe. Wenn ich mich mit dieser göttlichen Energie verbinde, kann ich sie durch mich hindurch fließen lassen und schwere Wunden heilen, schneller als ich es mir jemals hätte vorstellen können.«520

Das Zutun des Menschen in Hinblick auf die beschriebene Beziehungsarbeit ähnelt den jüdisch-christlichen Konzepten, seinen Nächsten zu lieben und von einem Eigenurteil über ihn abzusehen.521 Die »göttliche Energie«, die dann aufseiten des handelnden Menschen wirksam werden kann, lässt sich unter den Begriff der Liebe fassen.

5.4

Die Liebe als gelebte Konsensfähigkeit

Unter Liebe kann Vielfältiges verstanden werden. Im Kontext von Konfliktregulation steht nicht ein romantischer Liebesbegriff im Vordergrund. Es geht also weniger um ein Gefühl, sondern um etwas, »das wir ausdrücken, etwas, das wir machen, etwas, das wir haben. Und wie drückt es sich aus? Indem wir etwas von 517 518 519 520 521

Gerhard Schwarz: Was Jesus wirklich sagte, 211. Ebd. John M. Haynes: Mediation (2000), 67f. Marshall B. Rosenberg: Konflikte lösen durch Gewaltfreie Kommunikation, 55. Vgl. ders.: Wie ich dich lieben kann, wenn ich mich selbst liebe, 63.

182

Die Dimension hinter der Mediation – Religiöse Bezüge

uns selbst auf eine ganz bestimmt Art geben«522. Diese Art des Gebens zielt darauf ab, das Bedürfnis nach Liebe, das Menschen miteinander verbindet, weil sie sich in dem Wunsch, geliebt zu werden, gleichen, zu erfüllen.523 Empfangen und Geben sind dabei eng miteinander verbunden. Hingabe, die sich als Ausdruck von Liebe ereignet, zeigt sich darin, sich einem anderen Menschen gegenüber zu öffnen und Inneres vertrauensvoll zu offenbaren: »Es ist ein Geschenk, wenn du dich selbst entblößt und ehrlich zeigst – in jedem nur denkbaren Augenblick – zu keinem anderen Zweck, als zu offenbaren, was in dir selbst lebendig ist. Nicht anzuklagen, zu kritisieren oder zu bestrafen. Nur einfach ›Hier bin ich und hier ist das, was ich gern hätte. Dies ist meine ganze Verwundbarkeit in diesem Moment.‹ Für mich ist diese Art zu geben eine Manifestation von Liebe.«524

Die Verbundenheit stärkt sich in dieser Form des Liebesausdrucks dadurch, dass Menschen einander in ihrem Bedürfnis nach Nähe und Intimität wahrnehmen und sich unter dem Eindruck der sich darin offenbarenden Verletzlichkeit respektvoll begegnen.525 Die erkannte Gleichheit begünstigt, mit Unterschieden achtsam und akzeptierend umgehen zu können. Eine einfühlsame und von Liebe bestimmte Beziehung zwischen Menschen ist dann durch das Wechselspiel von Freiheit und Selbstbestimmung geprägt. Freiheit und Selbstbestimmung des einen ist begrenzt durch Freiheit und Selbstbestimmung des anderen. Die Achtung dieser Grenze erfolgt aus einer Liebe, durch die sich der Mensch willentlich selbst begrenzt und dadurch anerkennt, dass sein freies und selbstbestimmtes Handeln konsenspflichtig ist.526 Der Wille, einander auf beschriebene Weise zu begegnen, lässt sich religiös begründen. Sich dem Gott der Liebe zuzuwenden, ist mit dem Anschluss an eine Gemeinschaft verbunden, in der sich Gott als Liebe zwischenmenschlich zeigen kann. Schwarz versteht Gott demgemäß als »ein (Konsens-) Prinzip des Zusammenlebens«527. Wie oben schon ausgeführt, deutet er Religion – rekurrierend auf den Religionsbegriff Friedrich Schleiermachers – als Versuch des Menschen, autoritäre Gottheiten zu beeinflussen und sich aus der Abhängigkeit von ihnen zu lösen.528 In den Erlösungsreligionen werden solchermaßen personifizierte Gottheiten durch abstrakte Prinzipien ersetzt, die sich dann an Ders.: Lebendige Spiritualität, 12. Vgl. a. a. O., 23. Ders.: Wie ich dich lieben kann, wenn ich mich selbst liebe, 62 (H. i. O.). Nähe und Intimität sind Marshall B. Rosenberg zufolge keine exklusiven Bedürfnisse, die nur in sexueller Hinsicht zu stillen wären, sondern können auch in einfühlsamen Verbindungen zwischen Menschen erfüllt werden (vgl. ders.: Konflikte lösen durch Gewaltfreie Kommunikation, 89). 526 Vgl. Gerhard Schwarz: Führen mit Humor, 177. 527 A. a. O., 183. 528 Vgl. 9.1 Religiöse Freiheit als gebundene Freiheit.

522 523 524 525

Die Liebe als gelebte Konsensfähigkeit

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Personen verwirklichen können. Als christliches Prinzip benennt Schwarz die Liebe, von der es im Johannesevangelium heißt, dass sie das Wesen Gottes ist.529 An Jesus zeigt sich in personifizierter Form, dass es bei dem Liebesprinzip darum geht, Sünde und Schuld durch Liebe zu überwinden. Dadurch hat der Mensch an der Versöhnung durch Jesus Christus Anteil, die sich konkretisiert, indem Leid und Tod durch Freiheit und Liebe sinnhaft werden: »Insofern lebt Jesus in der Welt mit einer großen Realistik – er übersieht nichts, aber er dringt in Liebe durch Sünde, Leid und Trauer zu einer Bejahung der Welt und des Menschen durch.«530

Endlichkeit und Bedrückung im Leben werden also nicht eliminiert, sondern sie werden als Tatsachen angenommen, liebend durchdrungen und infolgedessen auch überwunden. Indem Jesus das abstrakte Prinzip Liebe personifiziert, konkretisiert es sich für den Menschen und beauftragt ihn damit, die ihm von Gott gegebenen Liebesfähigkeit einzusetzen. Demgemäß versteht Haynes die Liebe über die Vorstellung eines »(Konsens-) Prinzips« hinaus auch als Gotteswillen, der an den Menschen gerichtet ist: »Wenn es für uns Menschen noch irgendeinen Sinn auf diesem Planenten gibt außer dem, zu überleben, dann besteht er darin, Gottes Willen nach außen zu tragen und alle zu lieben, denen wir begegnen.«531 Die Liebe im Sinne christlicher Agape532 lässt sich dabei nicht normieren, sondern nimmt stets neuen Formen an. Das heißt, sie »gebietet nicht etwas Bestimmtes ein für allemal, sondern Anwendungen, die von Mal zu Mal im Dialog mit den spezifischen Situationen (…) ›erfunden‹ werden müssen.‹533 Ist Vermittlung nicht auch eine solche Erfindung?«534 Wenn Vermittlung als eine solche Erfindung gelten kann, dann, weil sie dazu beiträgt, die Lieblosigkeit, die in Konflikten vorherrscht, zu überwinden. Sie ist aber nicht nur selbst eine Erfindung, sondern leitet auch zu Erfindungen an, die zwischen Menschen vermitteln sollen. Ihr Beitrag zur Realisierung des Liebesgebots besteht deshalb darin, dass zu konsensualen Lösungen gefunden wird, die das Ergebnis eines Ringens um Gemeinschaft sind.535 Die konzeptimmanente Adaptivität, mit der die Kon529 Vgl. a. a. O., 182. Johannesverweis bei Gerhard Schwarz: »Geliebte, lasst uns einander lieben, denn die Liebe ist aus Gott; und jeder, der liebt, ist aus Gott geboren und erkennt Gott; wer nicht liebt, der kennt Gott nicht; denn Gott ist die Liebe. … Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm« (ebd., H. i. O.). 530 Ders.: Was Jesus wirklich sagte, 132; vgl. 10.3 Das »Wirklichkeitsgemäße« als das konkrete »Gute«. 531 John M. Haynes: Mediation (2000), 80. 532 Vgl. Gerhard Schwarz: Was Jesus wirklich sagte, 134. 533 Anm. 12 i. O.: Vattimo 1997, 71. 534 Josef Duss-von Werdt: homo mediator, 166. 535 »Und es trat zu ihm einer von den Schriftgelehrten, der ihnen zugehört hatte, wie sie

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Die Dimension hinter der Mediation – Religiöse Bezüge

fliktregulation so flexibilisiert wird, dass sie sich person- und situationsangemessen durchführen lässt, kann dem dargelegten Verständnis nach als eine verfahrenstheoretische Antwort auf die Frage fungieren, wie sich Liebe als immer neu zu erfindendes »(Konsens-) Prinzip« in der Mediation zeigen kann.536 Dass Liebe nicht an Sympathie gebunden sein muss, ist insbesondere für Konfliktfälle bedeutsam. Unabhängig von Gefühlen kann sie sich in einer Grundhaltung zeigen, die willentlich eingenommen wird. Die Handlungen des anderen müssen dafür nicht gutgeheißen werden. Dann, wenn sich die bedingungslose Liebe über die Beziehung zwischen Menschen hinaus weitet, wird sie zudem zu einer spirituellen Einstellung: »Wenn ich von der spirituellen Dimension spreche, dann bezieht sich meine Liebe auf alle Menschen, auf alle lebenden Wesen, auf die Bäume, auf das Meer, auf die Luft, auf die göttliche Energie. […] In Bezug auf Menschen kann ich diese spirituelle Dimension der Liebe auch für eine Person empfinden, die ich nicht besonders gerne mag oder sogar überhaupt nicht mag. Ich kann trotzdem dazu beitragen, dass es ihr gut geht. Jedem menschlichen Wesen eine grundsätzliche Wertschätzung entgegenzubringen ist die schönste Umgangsform, die wir uns selbst gegenüber wählen können.«537

Für Interventionszusammenhänge ist vornehmlich ein solches Liebesverständnis bedeutsam, das nicht an Sympathie gebunden ist. Menschen können dann freigiebig in das Verfahren einbringen, was der gemeinsamen Lösungsfindung dient, ohne etwas vorenthalten zu wollen, um sich gegenseitig zu schaden. Wenn jeder seinen Beitrag in dem Konfliktregulationsprozess leistet, konkretisiert sich Liebe als »(Konsens-) Prinzip« in einer einvernehmlichen Lösungsentscheidung.538 Das Ergebnis berücksichtigt in einem solchen Falle miteinander stritten. Und als er sah, daß er ihnen gut geantwortet hatte, fragte er ihn: ›Welches ist das höchste Gebot von allen? Jesus aber antwortete ihm: Das höchste Gebot ist das: ›Höre, Israel, der Herr, unserer Gott, ist der Herr allein, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften‹ (5. Mose 6, 4–5). Das andere ist dies: ›Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst‹ (3. Mose 19, 18). Es ist kein anderes Gebot größer als diese« (Mk. 12, 28–31). Jesus erweitert das Doppelgebot der Liebe noch um das »Außerordentliche« (DBW 4, 147; vgl. 11.2 »Stellvertretung« und das Verhältnis von Bindung und Freiheit; 12.2 »Dasein-fürandere« als Ausdruck christusgemäßer »Mündigkeit«): »Ihr habt gehört, daß gesagt ist: ›Du sollst deinen Nächsten lieben‹ (3. Mose 19, 18) und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und läßt regnen über Gerecht und Ungerechte« (Matth. 5, 43–45). Weil das Gebot der Feindesliebe dem Menschen bedingungslose Liebe aufträgt, gebietet es, nach Wegen der Vermittlung im Konflikt zu suchen. 536 Vgl. 3.1 Zur Definition von Mediation. 537 Marshall B. Rosenberg: Konflikte lösen durch Gewaltfreie Kommunikation, 88. 538 Gerhard Schwarz grenzt das »Konsensprinzip« gegen das »Bedürfnisprinzip« und das »Leistungsprinzip« ab. Das »Bedürfnisprinzip« beschreibt er als eine Form des paradoxen

Die Liebe als gelebte Konsensfähigkeit

185

sowohl die eigenen als auch fremde Belange, wenn den beiden generellen Grundsätzen der Selbstbestimmtheit und der Akzeptanz entsprochen wird. Sie lassen sich in Selbst- und Nächstenliebe übersetzen, die sich während des Interventionsvorgehens ineinander verschränken. In der christlichen Tradition hängen die Selbstliebe und die Nächstenliebe untrennbar zusammen. Deswegen ist es auch geboten, den anderen wie sich selbst zu lieben. Liebe ist hier ebenfalls weniger als ein Gefühl zu verstehen, sondern beschreibt das, was in Mediationskontexten unter Selbstbestimmtheit und Selbstverantwortung gefasst wird.539 Mitfühlend geben und dankbar empfangen zu können, hängen auch entscheidend davon ab, inwieweit ein Mensch in eine wertschätzende Selbstbeziehung eintreten kann, um sich über seine eigenen Gefühle und Bedürfnisse im Klaren zu werden und sie anschließend zu vertreten. Demzufolge zeigt sich auch hier wieder der Zusammenhang von Intrapersonalität und Interpersonalität. Durch »Selbsteinfühlung« kann es gelingen, sich »selbst in ein lebensbejahendes System, ohne Vorwürfe, ohne Strafe, ohne Scham, ohne Schuld«540 zu transformieren. Dass sich Menschen in sich selbst einfühlen können, ist eine grundlegende Bedingung dafür, dass sie auch einen einfühlenden Zugang zu anderen finden. Deshalb gilt, dass sich soziale Zusammenhänge vorteilhaft verändern lassen, wenn es gelingt, die Selbstbeziehung des Einzelnen in positiver Weise zu transformieren.541 Innerhalb von Beziehungen wird dann erfahrbar, dass Geben und Empfangen zum Vorteil aller wechselseitig ineinandergreifen und jeder Beteiligte individuell entsprechend bereichert wird. Mit Schwarz lässt sich diese Reziprozität von Selbst- und Nächstenliebe folgendermaßen zusammenfassen: »In den Beziehungen verliert sich dieses Ich [im Sinne von Selbstbesitzen] wiederum. Der auf Freiwilligkeit beruhende Akt der Zuwendung, des Ich–Verlusts läßt dieses Ich wieder zurückgewinnen, reicher geworden durch die Anteile des anderen. ›Im anderen bei sich sein‹, nennt Hegel später diese Verlust-Gewinn-Dialektik der Liebe. ›Liebe deinen Nächsten wie dich selbst‹, heißt es bei Jesus.«542

539 540 541 542

Umgangs mit eigenen und fremden Bedürfnissen, wobei ein Mensch nicht für seine eigenen Bedürfnisse Sorge trägt, sondern ausschließlich für die des anderen. Nach dem »Leistungsprinzip« folgt das, was ein Mensch erhält, seinen Leistungen. Je mehr Leistung er erbringt, desto mehr erhält er auch (vgl. ders.: Was Jesus wirklich sagte, 213). Vgl. a. a. O., 203. Beide Zitate Marshall B. Rosenberg: Konflikte lösen durch Gewaltfreie Kommunikation, 35. Vgl. ders.: Die Sprache des Friedens sprechen, 43. Gerhard Schwarz: Was Jesus wirklich sagte, 204.

186

5.5

Die Dimension hinter der Mediation – Religiöse Bezüge

Verantwortung im Spannungsfeld von Selbstbestimmtheit und Hingabe

Die in der Literatur vorfindbaren religiösen Anklänge lassen sich als eine Suchbewegung lesen, mit der das Erleben in Konflikt- und Interventionszusammenhängen sinngebend zu beschreiben versucht wird. Sie zeugen davon, dass der Mensch in seinem Fragen nach seinen eigenen Grunderfahrungen des Daseins einerseits auf sich selbst verwiesen wird, weil er nicht nur Fragender ist, sondern auch auf seine eigens gestellten Fragen zu antworten hat. Andererseits wird er sich bei Antwortversuchen dessen gewahr, dass sie sich auch aus einem Bereich speisen, der sich seinen Erklärungsmöglichkeiten entzieht und infolgedessen unverfügbar für ihn bleibt. Darin scheint die transzendente Komponente des Menschseins auf, dass sich alles Erleben vor dem Hintergrund einer Dimension ereignet, die jenseits des unmittelbar Erfahrbaren und Erklärbaren liegt. Rekurrierend auf die dargelegten religiösen Bezüge lässt sich diese Grunderfahrung des Menschseins hinsichtlich des Konfliktphänomens folgendermaßen zusammenfassend beschreiben: Der Mensch ist ein freies Wesen, das selbst für Bedingungen zu sorgen hat, die seinem Lebenserhalt zuträglich sind. Konflikte sind zwar unvermeidbar und dienen Veränderungsprozessen, die auf Weiterentwicklung abzielen, aber ihre Eigendynamiken wirken beziehungszerstörend und trennen den Menschen vom Leben selbst ab. Um diese Destruktivität zu überwinden, muss er willensbestimmt handeln. Das zwischenmenschliche Verfehlen, das sich in Konflikten zuträgt, gilt es dadurch zu ersetzen, dass wieder eine Beziehung zueinander aufgenommen wird. Die Kraft, durch die die entstandenen Zwiespältigkeiten überwunden werden können, ist die Liebe. Sie wird dann wirksam, wenn sie nicht an – in Konflikten zumeist fehlende – Sympathie gebunden ist. Liebe zeigt sich in Interventionen darin, dass gemeinsam um einen Konsens gerungen wird. Weil dafür eigene und fremde Bedürfnisse gleichrangig berücksichtigt werden müssen, kommen die Beteiligten nicht umhin, sowohl eine lebensbejahende Selbstbeziehung aufzunehmen als auch eine einfühlsame Fremdbeziehung einzugehen. Der Erfolg von Konfliktregulationen hängt aber nicht ausschließlich von dem selbstbestimmten Handeln der Beteiligten ab. Interventionsgeschehen zeugen davon, dass auch Kräfte wirksam werden, die außerhalb des direkten Verfügens durch den Menschen liegen. Wenn es gelingt, sich ihnen hinzugeben, kann die daraus resultierende positive Eigendynamik für eine deeskalationsfördernde positive Gegensinnstiftung genutzt werden. Dann kann sich eine Wechselwirkung von Selbstbestimmtheit und Hingabe vollziehen, die den Menschen aus seiner Konfliktverhaftetheit herauslöst und ihn wieder für ein Miteinander freisetzt, das von gegenseitiger Akzeptanz geprägt ist.

Verantwortung im Spannungsfeld von Selbstbestimmtheit und Hingabe

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Dass sich das Selbsttun des Menschen mit seiner Ergebenheit zu verbinden hat, führt zu der Frage nach einer Verhältnisbestimmung von diesen beiden konträren Tendenzen. Gäbe es ausschließlich ein vorherbestimmtes Schicksal bzw. einen Gott, der die Geschicke der Welt lenkt, beschränkte sich das Tun des Menschen darauf, eine Vorherbestimmung zu erfüllen. Er würde dann nicht selbstbestimmt handeln und wäre von seiner eigenen Verantwortung entbunden. Wenn es weder ein Schicksal noch einen Gott gäbe, wäre der Mensch allein auf sich selbst verwiesen und alles Tun erschöpfte sich in sich selbst, weil es keinen größeren Sinn- und Hoffnungszusammenhang gäbe, in den das eigene Schaffen einzubetten wäre. Dann gäbe es nur die Alternative: »Entweder gibt es keinen Gott, und der Sinn des Handelns erschöpft sich im Praktischen, oder es gibt einen Gott im Jenseits, dann liegt überhaupt kein Sinn im Praktischen.«543 Der christliche Glaube daran, dass Gott in Jesus Christus Mensch geworden ist, verweist durch die Ausschließlichkeit beider Alternativen hindurch auf ihre Einheit hin. In Jesus Christus hebt sich die Trennung zwischen Welt und Gott auf. Die Vorstellung von einem jenseitigen Gott, der die Geschicke der Welt lenkt und damit auch die Freiheit des Menschen beschränkt, wird mit Jesus dadurch ersetzt, »Schicksal und Freiheit so zueinander [zu] vermitteln, daß nicht nur eines auf Kosten des anderen Sinn bekommen kann«544. Infolgedessen lässt sich eine Sicherheit, die daraus hervorgehen könnte, dass menschliches Tun angesichts eines größeren Gottesplans nur eingeschränkt bedeutsam oder gar unbedeutend wäre, nicht länger plausibilisieren. Weil dem Menschen die Verantwortung für sein eigenes Tun obliegt, ist er für den Lauf der Geschichte mitverantwortlich. Weltflucht schließt sich dadurch aus und es ist eine Verantwortung geboten, die sich ganz praktisch im individuellen Lebensvollzug zu realisieren hat. Das bedeutet, dass der Mensch uneingeschränkt selbstverantwortlich für sein Handeln ist. Zugleich gilt jedoch, dass die Freiheit des Menschen mit der Vorsehung Gottes korrespondiert. Durch den Sinn, den der Mensch seinem Selbstsein zuschreibt, prägt er seine eigene Existenz. Diese wiederum ordnet er einem größeren Deutungshorizont zu, der sich ihm selbst nicht vollständig erschließt, weil er das große Ganze der Weisheit Gottes darstellt, einschließlich der Deutung des menschlichen Selbstseins von Gott her. Menschliche Verantwortung vollzieht sich demnach im Spannungsfeld von einer Selbstbestimmtheit, die nicht von Gott beschränkt wird, und einer Hingabe an einen Gott, der selbst die Grenze der Selbstbestimmtheit des Menschen ist. Dass der Mensch über seine ihm von Gott gegebenen Handlungsmöglichkeiten verfügen kann, nicht aber über Gott selbst, fordert ihn sowohl zu einem Selbsttun als auch zu einem Akt des Vertrauens heraus. 543 A. a. O., 84. 544 Ebd.

188

Die Dimension hinter der Mediation – Religiöse Bezüge

Das Selbsttun zeigt sich in der Mediation darin, dass sich der zur Konfliktregulation entschiedene Mensch ein strukturiertes Verfahren zunutze macht, um Veränderungen hervorzubringen. Weil mediatives Vorgehen auf Interaktionen basiert, spielen in den Gesamthergang vielfältige Faktoren hinein, die von allen Beteiligten in je individueller Weise ausgehen. In ihrem Zusammenspiel zeigt sich, dass sich nicht nur im Konfliktfall Eigendynamiken ergeben, sondern auch in Interventionsverläufen. Wenn sich erspüren lässt, dass diese Eigendynamiken der positiven Gegensinnstiftung dienen, ist es angezeigt, sich ihnen vertrauensvoll hinzugeben. In dieser Hingabe verliert sich der Verantwortungsauftrag allerdings nicht. Im Spannungsfeld von Selbstbestimmtheit und Hingabe bleiben die Beteiligten eigenverantwortlich für ihr Tun und Unterlassen. Dass Verantwortung übernommen werden muss, steht also außer Frage. Weil der Verantwortungsbegriff in der Literatur zwar gebraucht, aber inhaltlich nicht hinreichend erschlossen wird, ist es notwendig, einen allgemeineren Rahmen aufzuspannen, um weiterführende normative Klärungen herbeizuführen. Dies dient dazu, die zentrale Bedeutung von Verantwortung für Mediation vertiefend herauszuarbeiten. Dafür soll der nächste Teil dieser Untersuchung einstehen.

Teil 2

Verantwortung und konsensuales Handeln

Es wurde gezeigt, dass Mediation auf den Versuch angewiesen ist, Verfahrensstruktur und Menschsein miteinander in Beziehung zu bringen. Dies soll auf der Basis eines Handelns gelingen, das – den Grundsätzen der Mediation gemäß – insbesondere von Selbstbestimmtheit und Akzeptanz geprägt ist. Zwar können und sollen durch den Mediator konfliktregulierende Verhaltensmodelle zur Orientierung angeboten werden, aber die tatsächliche Verhaltenskontrolle kann nur von den agierenden Personen selbst gewährleistet werden. Ausgehend von einer dafür notwendigen Bewusstheit über sich selbst, die Aufschluss über die eigenen Bedürfnisse und Interessen gibt, bedarf es dazu auch einer fremdbezogenen Aufmerksamkeit. Dadurch gerät die ethische Komponente eines selbstbestimmten Handelns in den Blick. Die soziale Relevanz von Selbstbestimmtheit besteht darin, dass die Selbstbestimmtheit des einen mit der Selbstbestimmtheit des anderen vermittelt werden muss. Wenn es im Folgenden also darum geht, Verantwortung in Hinblick auf ihre allgemeinen Implikationen zu durchdenken, liegt der Fokus demgemäß auf dem Zusammenhang zwischen der individualethischen und sozialethischen Dimension. Verantwortungsübernahme wird demnach als eine Möglichkeit expliziert, Sozialleben selbstbestimmt zu gestalten. Verantwortung als ethischer Grundbegriff545 verweist auf den bewussten und reflektierten Umgang mit eigenen Handlungsmöglichkeiten, für den Mediation einen strukturieren Rahmen schaffen will. Die strikt mediationsorientierte Perspektive dieser Untersuchung entbindet davon, eine Begriffsgeschichte der Verantwortung vorzulegen. Des Weiteren lässt der thematische Zuschnitt es zu, die folgenden Ausführungen zum Verantwortungsphänomen auf jene Aspekte zu beschränken, die in direktem Bezug zum Erkenntnisinteresse vorliegender Untersuchung stehen. Der Verantwortungsbegriff wird demnach ausdrücklich selektiv betrachtet. Der Zuwachs an 545 Zur Unterscheidung von Moral und Ethik: »Moral überliefert, was man tut, während Ethik bewußt und reflektiert prüft, ob das, was man tut, auch wirklich gut ist.« (Martin Honecker : Das Recht des Menschen, 39).

192

Verantwortung und konsensuales Handeln

Bestimmungen zielt darauf ab, ausgewählte Charakteristiken herauszustellen. Einerseits wird Verantwortung dadurch hinsichtlich ihres Vorkommens im Mediationskontext vertieft. Andererseits wird das Fundament dafür gelegt, die religiöse Dimension des Begriffs freizulegen, um sie später rekurrierend auf den Verantwortungsbegriff Dietrich Bonhoeffers weiterführend zu reflektieren. Den Ausgangspunkt der weiteren Überlegungen bilden einige allgemeine Grundannahmen zur Verantwortungsfähigkeit des freien Menschen. Mit dem ersten Kapitel dieses Untersuchungsteils gilt es aufzuzeigen, dass der Mensch dann zur Übernahme von Verantwortung bereit ist, wenn er sich konkret dazu veranlasst sieht. Dabei muss er es für realistisch halten, dass sich Lebensumstände durch sein Handeln verändern. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund bedeutsam, dass sich Verantwortungsanforderungen angesichts zunehmender lebensweltlicher Komplexität des modernen Menschen verkomplizieren. Es wird zu zeigen sein, dass Mediation selbst zu den konkreten Möglichkeiten gehört, um Verantwortung solchermaßen übernehmen zu können, dass die (post-)modernen Lebensbedingungen berücksichtigt werden, indem Komplexität sowohl anerkannt als auch zweckgerichtet reduziert wird. Im zweiten Kapitel wird Verantwortung hinsichtlich ihrer sozialethischen Beschaffenheit untersucht. Es wird sich verdeutlichen, dass Verantwortung außerhalb von sozialen Strukturen nicht sinnvoll durchdacht werden kann. Allerdings muss sich der Mensch seine Selbstverantwortung vergegenwärtigt haben, bevor er sein verantwortliches Handeln sozial ausrichtet. Damit ist die Selbstverantwortung als eine Grundvoraussetzung für Verantwortungsübernahme schlechthin zu begründen. Auch hier gilt es im Anschluss an die allgemeinen Überlegungen den Brückenschlag zu Mediation zu vollziehen und die mediative Bedeutung von Selbstverantwortung aufzuzeigen. Im Rekurs auf zwei Theorien zu Verantwortung werden die Aspekte Sozialität und Selbstbezogenheit anschließend vertieft. Zunächst soll anhand Max Webers Auffassung aufgezeigt werden, in welcher Hinsicht sich ein verantwortungsethisches Grundverständnis von einem gesinnungsethischen unterscheidet und inwiefern sich dies begünstigend darauf auswirkt, gestaltend in die Wirklichkeit einzugreifen. Die Anknüpfungspunkte, die der webersche Verantwortungsbegriff hinsichtlich der persönlichen Qualitäten des Menschseins bietet, gilt es anschließend existenzphilosophisch zu vertiefen. Dabei wird Wilhelm Weischedels Versuch herangezogen, das Wesen der Verantwortung zu beschreiben. Ihm zufolge ist die Selbstverantwortung des Menschen seine tiefste Verantwortlichkeit. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass der Mensch sich selbst befragt und dadurch seine Existenz reflektiert. Über das Frageverständnis Weischedels gelingt es schließlich, Verantwortung unter dem Aspekt der Reflexivität zu deuten und herauszustellen, welche ethischen Im-

Verantwortung und konsensuales Handeln

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plikationen sich daraus ergeben. Auf der Grundlage des bis dahin Ausgeführten lässt sich die Bestimmung von Mediation am Ende dieses dritten Kapitels hinsichtlich der Reflexivitätskomponente erweitern. Der Aspekt der Reflexivität wird im vierten Kapitel unter christlich theologischen Gesichtspunkten inhaltlich exemplifiziert, wodurch die religiöse Dimension von Verantwortung freigelegt wird.546 Dies geschieht ausgehend von der Grundannahme, dass es lebenspraktische Konsequenzen hat, wenn ein glaubender Mensch sein Leben vor dem Horizont des christlichen Glaubens deutet. Sie zeigen sich darin, dass Welt- und Glaubenserleben nicht voneinander getrennt werden, sondern ineinandergreifen, sich also gegenseitig durchziehen. Das alltägliche Leben wird demgemäß auf Erkenntnisse im Glauben hingeordnet. Damit eröffnet der Gottesglaube die Möglichkeit, Verantwortungsübernahme religiös reflexiv zu bedenken und ihr damit Sinn zu verleihen. Das heißt, dass sich aus dem Glauben heraus spezifische Interpretationsmöglichkeiten von Verantwortung ergeben, die es nicht nur nahelegen, Verantwortung tatsächlich zu übernehmen, sondern es gar gebieten können. Bei dieser Herleitung zur religiösen Vertiefung wird auf Grundannahmen bereits vorgeprägter ethischer Verantwortungsbegriffe rekurriert, wie sie insbesondere die evangelischen Theologen Ulrich Körtner und Martin Honecker vorlegen.

546 Georg Picht weist darauf hin, dass Verantwortung häufig in einen Zusammenhang mit der unausweichlichen Rechenschaftspflicht vor Gott gestellt wird. Von hierher ließe sich begründen, warum »der Begriff der Verantwortung in Deutschland, in England und in Frankreich vom Bereich des Rechtslebens auf den Bereich der gesamten Ethik übertragen wurde, während im Lateinischen diese Übertragung nicht vorkommt, weil der römischen Ethik der Gedanke fremd ist, daß man auch für sein moralisches Verhalten, ja sogar für seine bloßen Gedanken vor dem höchsten Richter zur Verantwortung gezogen werden könne« (ders.: Wahrheit, Vernunft, Verantwortung, 319). Daraus folgert Picht, dass das moralische Begriffsverständnis von Verantwortung christlichen Ursprungs ist und Verantwortung demgemäß ein »eschatologischer Begriff« (ebd.) ist.

6

Grundannahmen zur Verantwortungsfähigkeit des Menschen

6.1

Verantwortung als konstitutives Merkmal freien Menschseins

In unterschiedlichen Fachdisziplinen wird Verantwortung dem jeweils vorherrschenden Erkenntnisinteresse gemäß untersucht und mit entsprechend verschiedenen Schwerpunktsetzungen charakterisiert.547 Die enge Verbundenheit des Verantwortungsverständnisses mit der Willensfreiheit des Menschen lässt sich insbesondere im philosophischen Nachdenken feststellen. Theologisch geraten vornehmlich Fragen zur Rechtfertigung des Menschen in den Blick, wodurch Verantwortung im Zusammenhang mit Schuld, Sünde und Sühne betrachtet wird. Juristisch geht es vorrangig um Aspekte der Zurechenbarkeit von Handlungen und ihren Folgen, während sich das soziologische Interesse an Verantwortung besonders auf Anforderungen an Rollen- und Funktionsträger bezieht.548 Die disziplinspezifischen Auslegungen ähneln sich in der Grundannahme, dass der freie Mensch über vielfältige Handlungsmöglichkeiten verfügt und sich darüber klar werden kann, selbst der Urheber seiner Handlungsentscheidungen zu sein. Dies beinhaltet, dem Menschen zu unterstellen, dass er sein Handeln unter der Maßgabe auswählen kann, sich potenzielle Folgen im Vorfeld zu vergegenwärtigen. Diese gedankliche Vorbedingung lässt sich handlungstheoretisch zwar nicht einheitlich begründen, weil von unterschiedlichen fachspezifischen Prämissen ausgegangen wird, aber gemeinsamer Ausgangspunkt des Nachdenkens ist eine »Konzeption des Menschen als eines bewußten (und d. h. potentiell reflexiven) Akteurs, der über sein Tun und Lassen prinzipiell Rechenschaft ablegen kann, vor Anderen wie vor sich selbst«549. Für einen 547 Zur Unterscheidung von »philosophischer«, »juristischer«, »politischer Verantwortung« und »Aufgabenverantwortung« vgl. Franz-Xaver Kaufmann: Der Ruf nach Verantwortung, 41–46. 548 Vgl. Carl F. Graumann: Verantwortung als soziales Konstrukt, 188. 549 Ebd.

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Grundannahmen zur Verantwortungsfähigkeit des Menschen

Verantwortungsträger gilt deshalb, dass er als ein mit Bewusstsein begabtes und zur Reflexion fähiges Subjekt dazu in der Lage sein muss, zu verstehen, was Verantwortung ist, bevor er seine theoretischen Erwägungen in einem zweiten Schritt auch vollzieht und dadurch verantwortlich handelt.550 Dies ist nur dann sinnvoll denkbar, wenn vorausgesetzt werden kann, dass der Mensch auch ein freies Wesen ist. Der Begriff der Freiheit lässt sich sowohl auf die äußeren Lebensverhältnisse des Menschen beziehen als auch auf sein Subjektinneres. Von äußerer Freiheit ist dann zu sprechen, wenn Menschen abseits von lebensweltlich bedingten Zwängen handeln können. Dann verfügen sie über die Möglichkeit und das Recht dazu, sich selbstbestimmt und selbstverwirklichend zu entfalten und damit weitgehend unabhängig agieren zu können. Als politischer und gesellschaftlicher Grundwert beschreibt Freiheit dementsprechend die Subjektautonomie des Menschen.551 Das Leben des Menschen als ein soziales Wesen ist in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext eingebettet, durch den die Einzelexistenz lebenserhaltend und -prägend mitbestimmt wird. Das beinhaltet, dass die Freiheit des Einzelnen stets mit der Freiheit anderer korreliert.552 Die äußere Freiheit als ein Grundwert des autonomen Menschen ist deshalb keine grenzenlose, sondern wird durch seine Mitmenschen und damit gesellschaftlich begrenzt. Eine solche Begrenzung ist notwendig, damit Autonomieansprüche von Einzelpersonen solchermaßen aufeinander bezogen werden können, dass die Funktionsfähigkeit von der Gemeinschaft gewährleistet bleibt.553 Eine sozialethische Dimension äußerer Freiheit kommt insofern hinzu als es im Ermessen der Einzelperson liegt, die eigene Freiheit angesichts der Freiheit des anderen willentlich zu begrenzen. Die Willensbegabung des Menschen ist allerdings nicht nur sozialethisch relevant, sondern sie ist auch konstitutiv für seine innere Freiheit. Die anthropologische Vorbestimmung besteht darin, dass der Mensch über »Wollen-können«554 verfügt. Die vorausgesetzte Fähigkeit, seinen Willen konkret auszurichten, lässt den Menschen zwischen Wollen und Nicht-Wollen unterscheiden. Entscheidend ist dabei weniger die Faktizität der menschlichen 550 Vgl. Georg Picht: Wahrheit, Vernunft, Verantwortung, 342. 551 Vgl. Martin Honecker : Das Recht des Menschen, 172. 552 Die »Freiheit ist nie wirklich als Freiheit bloß Einzelner. Jeder Einzelne ist frei in dem Maße, als die Anderen frei sind. Darum wird der lebendige Humanismus im Bunde sein mit den Kräften, die wahrhaftig das Schicksal und die Chancen Aller fördern wollen« (vgl. Karl Jaspers: Rechenschaft und Ausblick, 324). 553 Hinsichtlich des Konfliktsinns wurde gezeigt, dass Konflikte dazu beitragen können, soziale Komplexität weiterzuentwickeln. Dabei ist es notwendig, Spezielles langfristig dem Allgemeinen wieder unterzuordnen und infolgedessen zu einer neuen gemeinschaftlichen Einheit zu gelangen (vgl. 2.5 Zum Sinn von Konflikten). 554 Martin Honecker : Das Recht des Menschen, 172.

Verantwortung als konstitutives Merkmal freien Menschseins

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Freiheit als vielmehr das Selbsterleben des Menschen.555 Nur dann, wenn der Mensch sich selbst als freies Wesen erkennt und sich von hierher bestimmt, hat es für ihn auch Sinn, seine Existenz aktiv zu gestalten. Verstünde er sich hingegen als ein determiniertes Subjekt, wäre sein Handeln fremdbestimmt und läge dementsprechend auch außerhalb seiner eigenen Verantwortung. Das bedeutet, dass der Mensch nur dann Verantwortung übernimmt – und sie sich ihm auch nur dann begründet von außen zuschreiben lässt –, wenn er wissend und frei über sein Handeln entscheiden kann.556 Dazu muss er sich als denkendes, zur Reflexion und zum selbstständigen Handeln befähigtes Wesen wahrnehmen, wodurch sich die Annahme eines freien Selbst konstruiert. Als freies Selbst verfügt der Mensch über Entscheidungsfähigkeit. Er ist dazu in der Lage, seine selbsterlebte Freiheit zielgerichtet zu formen und damit auf Lebensumstände einzuwirken. Im Entscheidungsfalle begrenzt er seine eigene Freiheit zugunsten willentlicher Lebensgestaltung. In einer Entscheidung zeigt sich dann das »mit Erwägung verbundene Streben nach dem, was in unserer Macht steht«557. Während sich Abwägungsprozesse dadurch auszeichnen, dass sie sich theoretisch vollziehen und deshalb nur durch die Grenzen des menschlichen Vorstellungsvermögens beschränkt sind, ist eine Entscheidung an die tatsächliche Möglichkeit ihrer Realisierung gebunden. Wenn sich der Mensch entscheidet, legt er sich konkret fest. Weil eine Entscheidung die Priorisierungen des Menschen abbildet, werden seine persönlichen Sinnzuschreibungen darin offenkundig, was einer individuellen Selbstauskunft entspricht. Damit zeigt eine Entscheidung das tatsächliche »Maß des Wollens«558 an. Sie gibt also Aufschluss darüber, inwieweit ein Mensch gewillt ist, sich selbst festlegend 555 Eine Diskussion über Determinismus und Indeterminismus des Menschen soll hier nicht geführt werden. Neurowissenschaftliche, philosophische und theologische Erklärungsund Begründungsversuche etwa kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Allgemein kann aber festgehalten werden, dass Menschen so miteinander umgehen, als wären sie willensfrei. Die vorausgesetzte Freiheit des Menschen bezeichnet Kurt Bayertz als »normatives Prädikat« (ders.: Eine kurze Geschichte der Herkunft der Verantwortung, 12 [H. i. O.]), das es erst ermöglicht, einander zur Rechenschaft zu ziehen. Moralische und rechtliche Verantwortung ist an die Zurechnungsfähigkeit des Menschen gebunden, die wiederum seine Freiheit voraussetzt. Für den Kontext dieser Untersuchung kann die Frage nach der Faktizität der menschlichen Freiheit nachrangig behandelt werden, weil vornehmlich sein Selbsterleben von Bedeutung ist. Solange der Mensch davon ausgeht, willensfrei zu handeln und eigens auf entsprechende Gestaltungskräfte zugreifen zu können, sind die Voraussetzungen dafür gegeben, von seiner Verantwortungsfähigkeit ausgehen zu können, an die die Funktionalität des Mediationsverfahrens gebunden ist. 556 Nach der Definition von Freiwilligkeit nach Aristoteles steht Wissen und Freiheit in einem Zusammenhang: »Da unfreiwillig ist, was aus Zwang oder Unwissenheit geschieht, so möchte freiwillig sein, dessen Prinzip in dem Handelnden ist und zwar so, daß er auch die einzelnen Umstände der Handlung kennt.« (Ders.: Nikomanische Ethik, 48 [H. i. O.]). 557 Christof Rapp: Freiwilligkeit, Entscheidung und Verantwortlichkeit (III 1–7), 123. 558 Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung, 160.

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Grundannahmen zur Verantwortungsfähigkeit des Menschen

zu verpflichten. Damit ist die Entscheidung des Menschen der Kulminationspunkt von Verantwortung. Ihre prospektive Bedeutung besteht darin, dass sie das handelnde Streben des Menschen konkret ausrichtet. Retrospektiv ist sie dahin gehend bedeutsam, dass sie im Rechenschaftsfalle von außen hinterfragt wird und von dem Entscheidungsträger begründet werden muss. Die Möglichkeit, Rechenschaft vor sich und anderen abzulegen, ist ebenso wie die Reflexionsfähigkeit des Menschen an seine Sprachfähigkeit gebunden. Er kann also nur deshalb zur Rechenschaft für sein Tun gezogen werden, weil er als sprachfähiges Wesen dazu in der Lage ist, über seine Handlungsmotive Auskunft zu geben.559 Verantwortung kann also nur derjenige übernehmen, der über die Bewusstheit verfügt, ihren Inhalt zu klären, dabei so weit handlungsfähig ist, dass er sein Handeln zielgerichtet ausrichten kann und zudem über die Sprachfähigkeit verfügt, sein Denken und Tun auszudrücken. Insbesondere das Merkmal der Sprachfähigkeit zeigt an, dass Verantwortung nicht bezugslos zu denken ist. Mit der Sprache als Medium des Denkens bezieht sich der Mensch auf sich selbst. Als Medium der Verständigung ermöglicht es Sprache, dass Menschen eine Beziehung zueinander aufnehmen. Die Art und Weise, wie ein Mensch den Kontakt zu seinen Mitmenschen gestaltet, steht wiederum in einem Zusammenhang mit seiner Moralfähigkeit. Im Umgang miteinander konkretisiert sich nämlich eine moralische Vorentscheidung des Menschen dahin gehend, wie er sich in sozialer Hinsicht verhalten will. Im kommunikativen Akt ist schon der Anspruch angelegt, den anderen anzuerkennen. Jemanden anzusprechen, impliziert den Anspruch, dass derjenige, der angesprochen wurde, Stellung bezieht. Aufgrund dessen wird es für ihn notwendig, Verantwortung zu übernehmen, indem er auf die Anrede reagiert und sich dadurch positioniert.560 Dem geht wiederum voraus, als bewusstseinsbegabtes Wesen darüber zu reflektieren, wie sich in dieser Stellungnahme die eigene Selbstbestimmtheit ausdrücken soll. Beide Bezugskomponenten, d. h. die Beziehung des Menschen zu sich selbst und zu anderen, greifen also eng ineinander und sind konstitutiv für Verantwortung. Der Mensch gerät sowohl als selbstbestimmtes Wesen in den Blick als auch als moralisches Subjekt und damit unter dem Aspekt seiner Gemeinschaftsbezogenheit. Sich selbstbestimmt und zugleich gemeinschaftsorientiert zu verhalten, ist dem Bestreben des Menschen nach eigenem Bestands- und Niveauerhalt zuzuordnen. Ausgehend von den oben vorgenommenen anthropologischen Überlegungen ist mit Gehlen davon auszugehen, dass der Mensch darauf angewiesen ist, seine artspezifischen Mängel zu kompensieren.561 Weil er biolo559 Vgl. Martin Honecker : Wege evangelischer Ethik, 236. 560 Vgl. Ulrich H. J. Körtner : Freiheit und Verantwortung, 105. 561 Vgl. 2.4 Die Konfliktträchtigkeit des Menschen – Anthropologische Vorüberlegungen.

Verantwortung als konstitutives Merkmal freien Menschseins

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gisch nicht determiniert ist, gehören Kompensationsleistungen um seines Überlebens willen zu den Grundanforderungen seines Daseins. Aus der ihm gegebenen Vielzahl an Handlungsmöglichkeiten ergibt sich eine grundsätzliche Entscheidungsnotwendigkeit. Um entsprechende Entscheidungen treffen zu können, muss sich der Mensch orientieren. Orientierungspunkte sind ihm allerdings nicht natürlich gegeben, sondern müssen kulturell hervorgebracht werden. Normen und Werte562 erfüllen die Funktion, Grundorientierungen des Menschen kulturell zu festigen und entlasten ihn somit davon, sich situativ immer wieder grundlegend neu orientieren zu müssen.563 Dass sich menschliches Handeln gerade nicht nur aus seiner naturgegebenen biologischen Beschaffenheit heraus ergibt, verweist auf das »Entscheidende und Unterscheidende des Menschseins«564. Es besteht darin, sich – bis zu einem gewissen Grad – sowohl für Handlungen entscheiden zu können, die naturgemäß sind, als auch für solche, die der Natur entgegenstehen. Um seinen physischen Körper zu erhalten, konsumiert der Mensch und vernichtet dadurch Leben. Dieses naturgemäße Verhalten dient der eigenen Selbsterhaltung. In Bedrohungssituationen kann es sich in unumsichtlicher asozialer Weise zeigen, wenn der eigene Überlebenswille solchermaßen vorherrscht, dass nur begrenzt oder gar nicht Rücksicht auf andere genommen wird. Im Umkehrschluss gilt gleichermaßen, dass der Mensch seinen Bestandserhalt gemeinschaftlich sichert. Über den Aspekt der Fortpflanzung hinaus werden lebenserhaltende Güter und Nahrungsmittel arbeitsteilig so hergestellt und aufbereitet, dass der Einzelne anschließend über seinen Anteil verfügen kann. Sozialität spielt auch in Hinblick auf den Niveauerhalt des Menschen eine entscheidende Rolle. Respektvolle Beziehungen untereinander tragen dazu bei, dass sich Menschen persönlich gestärkt und gemeinschaftlich gehalten fühlen. Das heißt, dass der Mensch auf geistig-seelischer Ebene auf eine ihn mittragende Gemeinschaft angewiesen ist.565 Als soziales Wesen erkennt und anerkennt er eigene und fremde Bedürfnisse, Rechte und Pflichten als gleichwertig. Sich auf dieser Basis respektvoll zu 562 »Werte« beziehen sich relativ auf die Bedürfnisse von Menschen: »Sie sind die Direktiven der Gestaltung seiner selbst und seiner Welt. Daher sind Werte Geltungsprinzipien. In dem Maße, in dem sie für das Subjekt normierend sind, sind seine theoretischen und atheoretischen Leistungen gültig« (Christian Krijnen: Art. Wert, 528f.). Unter »Normen« lassen sich »sozial kodierte und sanktionierte Methoden« (Gerhard Schweppenhäuser : Grundbegriffe der Ethik, 12f.) fassen, die der Verwirklichung von Werten dienen sollen. 563 Vgl. Hans Ruh u. a.: Die Zukunft ist ethisch – oder gar nicht, 52f. 564 A. a. O., 53. Mit Technologien kann der Mensch »geographische, saisonale, klimatische, körperliche, biologische, genetische Grenzen überschreiten« (a. a. O., 49). 565 Für den Kontext von Konflikt- und Interventionsfragen stellt Friedrich Glasl die Unterschiede zwischen dem Menschen als »biologisches«, »seelisches« und »geistiges« Wesen heraus. Rekurrierend auf Dieter Brüll zeigt er anhand dieser drei Wesensdimensionen auf, in welcher Hinsicht sich der Mensch aufgrund verschiedenartiger Lebensbedürfnisse »antisozial«, »sozial« und »a-sozial« verhält (vgl. ders.: Konfliktmanagement, 31–36).

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Grundannahmen zur Verantwortungsfähigkeit des Menschen

begegnen und die Würde des anderen als unantastbar anzuerkennen, ist nicht naturgegeben, sondern eine kulturelle Leistung.566 Sie muss hervorgebracht und erhalten werden.567 Dazu ist es notwendig, dass sich der Einzelne darüber bewusst ist, mit seinem Verhalten kulturelle Strukturen des gesellschaftlichen Zusammenlebens mitzuprägen. Demgemäß hat er Verantwortung für seinen persönlichen Anteil daran, Gemeinschaft moralisch zu gestalten, indem er gemeinschaftsrelevante Aspekte bei seinen Handlungsentscheidungen mitberücksichtigt und sein selbstbestimmtes Handeln auch unter sozialen Gesichtspunkten ausrichtet. Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass Verantwortung eng an den Personbegriff gebunden ist. Die Verantwortungsfähigkeit des Menschen setzt eine Vielzahl anderer Fähigkeiten voraus, auf die der Mensch rekurriert, um verantwortlich handeln zu können: Als bewusstseinsbegabtes Wesen ist er zur Reflexion fähig und kann Inhalte klären. Seine Handlungsfähigkeit ermöglicht es ihm, Handlungen zielgerichtet umzusetzen. Der Mensch kann seinem Handeln eine Richtung vorgeben, sofern er sich als äußerlich und innerlich frei empfindet. Als willensbegabtes Wesen unterscheidet er zwischen Wollen und NichtWollen, um das Maß seines Wollens schließlich durch seine Entscheidungskraft festzulegen. Als sprachfähiges Wesen kann er sein Denken und Tun ausdrücken und sich dadurch vor sich selbst und anderen rechtfertigend erklären. Sowohl seine Moralfähigkeit als auch seine Kulturfähigkeit versetzen den Menschen in die Lage dazu, die Beziehungen zu anderen sozial zu gestalten. Damit sich diese dem Menschsein immanenten Qualitäten in Verantwortungsfähigkeit ergießen, bedarf es ihrer Koordinierung, die der Mensch selbstbestimmt vornimmt. Diese Selbstbestimmtheit ist aber nicht bezugslos, sondern steht in einem Verhältnis zu Faktoren, die für die kulturelle Funktionalität von Gemeinschaft bedeutsam sind. Indem die Mitglieder einer Gesellschaft Verantwortung übernehmen, verpflichten sie sich dazu, für jemanden oder etwas Sorge zu tragen. Sodann stehen sie in der Pflicht, vor jemandem (auch vor sich selbst) bzw. einer Instanz (z. B. einem Gericht) für ihr Handeln Rechenschaft abzulegen. Der Pflichtcharakter von Verantwortung offenbart sich also im »Antworten-müssen«568 gegenüber einem berechtigt Fragenden. Vor dem Hintergrund einer jeweiligen Verantwortungspflicht, urteilt der Fragende über die Adäquatheit der entsprechenden Handlung. Dieser für Verantwortung typische Antwortcharakter ist 566 Dass die Unantastbarkeit der Menschenwürde in Art. 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland verankert ist, bildet ab, dass es sich bei diesem Grundsatz um eine kulturelle Leistung handelt, der gegenüber sich der Mensch verpflichten kann und auch muss, sofern ein gemeinschaftsbezogener Geltungsanspruch erhoben werden soll. 567 Hans Ruh u. a.: Die Zukunft ist ethisch – oder gar nicht, 53. 568 Carl F. Graumann: Verantwortung als soziales Konstrukt, 185.

Das Phänomen Verantwortung zwischen Entscheidung und Haftung

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nur denkbar, wenn eine Beziehung zwischen einem Fragenden und einem Antwortenden existiert. Demgemäß ist Verantwortung grundsätzlich Teil eines Beziehungsgefüges, wie das folgendes Unterkapitel konkretisieren wird.

6.2

Das Phänomen Verantwortung zwischen Entscheidung und Haftung

Verantwortung als ein mehrstelliger Relationsbegriff lässt sich weder unabhängig von Verhältnismäßigkeiten denken noch aus sich selbst heraus bestimmen. Als Phänomen entwickelt sie sich aus einem Konglomerat von wechselseitig ineinandergreifenden und aufeinander einwirkenden Beziehungsgefügen heraus. In der Literatur variieren die Angaben über die Anzahl der Relationsglieder von Verantwortung.569 Die komprimierteste Form dieser Relationalität besteht darin, sie auf die schon erwähnten beiden Bindungskomponenten »für« und »vor« zu begrenzen, wodurch sich zeigt, dass Verantwortung wesentlich von diesen beiden Seiten her bestimmt wird. Georg Picht bezeichnet diese Bipolarität als »doppelte Verweisung«570. Mit ihr klären sich die beiden Grundfragen des Verantwortungsbegriffs, nämlich »wofür« Verantwortung übernommen wird und »gegenüber wem«571. Die komplexe Relationalität des Verantwortungsbegriffs formal auf diese beiden Bindungsbezüge zu reduzieren, ist deshalb zulässig, weil sich alle weiteren Differenzierungen bezüglich der Relationsglieder von dieser charakteristischen »doppelten Verweisung« her erschließen lassen. Eine Handlung kann beispielsweise nur dann als verantwortlich oder als unverantwortlich gelten, wenn bestimmt wird, welche Normen zugrunde liegen. Diese Normen sind kontextabhängig und ergeben sich aus dem Bezug zu der Instanz, vor der Rechenschaft abgelegt wird. Deshalb müssen sie nicht notwendigerweise als ein separates 569 Hans-Richard Reuter geht von einer mindestens dreistelligen Relation aus : »Ich verantworte mich für etwas (oder jemanden) vor einer Instanz« (ders.: Verantwortung, 301 [H. i. O.]). Zu einer vierstelligen Relation lässt sich Verantwortung dann erweitern, wenn die Normen, an denen der Grad der Pflichterfüllung gemessen wird, hinzugezogen werden: »Jemand (der Angeklagte) ist für etwas (seine Tat) vor einer Instanz (dem Gericht) in bezug auf bestimmte Normen (die Gesetze) verantwortlich« (Héctor Wittwer : Art. Verantwortung, 575 [H. i. O.]). Die Relationsglieder können auch dadurch noch erweitert werden, dass die Verantwortung des Menschen vor Gott explizit mit aufgenommen wird. Dann handelt es sich um »Verantwortung der menschlichen Person ›vor‹ Gott und auch ›vor‹ ethischen Werten ›für‹ ihr Tun oder Unterlassen ›in bezug auf‹ einzelne Gegenstandsbereiche und Handlungsfelder sowie ›in bezug auf‹ die Zeitmodi von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft« (Hartmut Kreß: Art. Verantwortung, 579). 570 Georg Picht: Wahrheit, Vernunft, Verantwortung, 319. 571 Beide Zitate Franz-Xaver Kaufmann: Der Ruf nach Verantwortung, 24.

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Grundannahmen zur Verantwortungsfähigkeit des Menschen

Glied in die Relationsbeschreibung mit aufgenommen werden. Sodann ist Verantwortung nicht ohne ein Subjekt denkbar, das sie übernimmt.572 Diese subjektbezogene Immanenz des Begriffs befreit ebenfalls davon, den Verantwortungsträger als ein eigenständiges Relationsglied benennen zu müssen. Demgemäß kann gegen Hans-Richard Reuter, der Verantwortung als mindestens dreistelligen Relationsbegriff versteht573, davon ausgegangen werden, dass die »doppelte Verweisung« Pichts ausreicht, um den Bindungscharakter von Verantwortung formal zu bestimmen. Alle darüber hinausgehenden Konkretisierungen müssen dann bezugnehmend auf den jeweiligen Verantwortungskontext situativ spezifiziert werden. Die grundlegende Kontextabhängigkeit von Verantwortung bedingt, dass sich die Bezüge des »für« und »vor« nicht allgemein, sondern nur spezifisch bestimmen lassen. Insbesondere das philosophische Durchdenken von Verantwortung klärt auf, dass der Inhalt von Verantwortungsübernahme generell unbestimmt bleibt, weil er mit der menschlichen Freiheit korreliert. Sofern der Mensch als ein bewusstseinsbegabtes Wesen verstanden wird, dem die Urheberschaft seiner Handlungen zuzuschreiben ist, gilt er als frei darin, sein Können, Wollen und Tun gezielt auszurichten. Die Willensbestimmung des Handelnden formiert sich, indem er Verantwortung inhaltlich konkretisiert und sich dazu verpflichtet, sowohl ausführend als auch rechtfertigend dafür einzustehen. Der philosophische Verantwortungsbegriff bezieht sich demgemäß »nicht auf bestimmte Pflichten, sondern nur auf die Verpflichtungsfähigkeit des Subjektes an sich«574. Deshalb fällt es auch nicht in den Bereich verantwortungsethischen Fragens, Verantwortung inhaltlich zu füllen. Vielmehr geht es darum, die Fähigkeit des freien Menschen dazu, sich selbst zu verpflichten, hinsichtlich der Verantwortungsthematik denkend zu entfalten und die Erkenntnisse für praktisch-ethisches Fragen nutzbar zu machen. Dafür ist es bedeutsam zwischen moralischer und moralisch-indifferenter Verantwortung zu unterscheiden. Bei ersterer Form bezieht sich Verantwortung vornehmlich auf den sittlichen Wert von Handlungen, also auf ihre moralische Beschaffenheit. In letzterem Fall geht es vor allem um sachliche Zuständigkeiten.575 Formal lassen sich die beiden Verantwortungskategorien zwar vonein572 Hier sind auch Fälle der Gerichtsbarkeit mit eingeschlossen, in denen Menschen nicht freiwillig verantwortlich einstehen oder zu Unrecht verurteilt werden. 573 Vgl. Hans-Richard Reuter: Verantwortung, 301. 574 Franz-Xaver Kaufmann: Der Ruf nach Verantwortung, 41f. (H. i. O.). 575 Franz-Xaver Kaufmann setzt den Verantwortungsbegriff in Verbindung zum Risikobegriff (zum Zusammenhang von Risiko und Verantwortung vgl. ders.: Risiko, Verantwortung und gesellschaftliche Komplexität, 76–79). Infolgedessen versteht er verantwortungsvolle Aufgaben als solche Aufgaben, »zu deren Erledigung eine komplexe Risikoeinschätzung für erforderlich gehalten wird und deren Erledigung sich deshalb nicht in Form eindeutiger Regeln oder gar Handlungsanweisungen programmieren läßt« (a. a. O., 83 [H. i. O.]). Er

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ander unterscheiden, aber die Trennschärfe ist in der Realität unhaltbar. Ressorts können z. B. unabhängig von ausführenden Personen sachlich beschrieben werden, sie sind aber in dem Moment an einen konkreten Menschen gebunden, in dem ihm eine entsprechende Zuständigkeit obliegt. Durch seine individuelle Art, Tätigkeiten auszuführen, prägt er den entsprechenden Aufgabenbereich. In Grenzfällen wird die moralische Relevanz dieses Umstands offenkundig. Reichen allgemeine Bestimmungen nicht mehr aus, um eine adäquate Einzelfallentscheidung zu treffen, ist der Ausführende gefragt, verschiedenartige normative und situative Geltungsansprüche abzuwägen, sie zu priorisieren und eine Handlungsentscheidung zu treffen. Zwangsläufig bildet eine solche auf Abwägung basierende Wahl die subjektive Interpretation einer Situation ab. Das beinhaltet, dass mit ihr bestimmte Geltungsansprüche berücksichtigt werden und andere nicht. Aufgrund dessen besteht eine »prinzipielle Interpretiertheit«576, die für Verantwortung charakteristisch ist. Weil der Mensch diejenige Instanz ist, die interpretiert und priorisiert, ist sowohl moralische als auch moralisch-indifferente Verantwortung an den konkreten Menschen als ein sich selbst beschreibendes kulturelles Wesen gebunden. In beiden Verantwortungsfällen kommt er mehr oder weniger deutlich als moralisches Subjekt zum Tragen. Die prinzipielle Interpretiertheit von Verantwortung, durch die sie inhaltlich hinsichtlich des »für« spezifiziert wird, bleibt von außen nicht unbewertet. Damit gerät der zweite Bindungsbezug der »doppelten Verweisung«, das »vor«, in den Blick. Etymologisch lässt sich Verantwortung ursprünglich als gerichtsnah verorten. Das Verb »verantworten« beinhaltet, auf etwas zu »antworten« und ist seiner Herkunft nach auf das mittelhochdeutsche Verb »verantwürten« zurückzuführen. Es bezieht sich ursprünglich auf einen Angeklagten, der seiner Rechenschaftspflicht vor Gericht dadurch nachzukommen hat, dass er auf eine an ihn gerichtete Anklage antwortet, sich also verteidigt.577 Dieses ursprüngliche Verständnis des Verantwortens, das sich auf die öffentlichste Form von Verantwortungsübernahme bezieht, nämlich die Haftbarkeit von Menschen für ihre Handlungen und Unterlassungen vor Gericht, ist tief im kollektiven gesellschaftlichen Bewusstsein verankert. Von hierher lässt sich plausibilisieren, vermutet, dass es sich dabei um die vielleicht verbreitetste Form von Verantwortung handelt. Verantwortung ist dann aber grundsätzlich nicht mit einer reinen Zuständigkeit gleichzusetzen, weil es nicht nur darum geht, eine klar definierte Aufgabe zu erfüllen, sondern auch darum, sich innerhalb gegebener Handlungsspielräume eigenständig für ein Handeln zu entscheiden. Nach Kaufmann kann von Verantwortung deshalb nur dann gesprochen werden, wenn mit einer Zuständigkeit auch eine Rechenschaftspflicht und eine Kontrollmöglichkeit einhergehen. Andernfalls handelt es sich um eine Aufgabe und nicht notwendig um Verantwortung (vgl. a. a. O., 82, Anm. 2). 576 Carl F. Graumann: Verantwortung als soziales Konstrukt, 189 (H. i. O.). 577 Vgl. Friedrich Kluge u. a.: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 950.

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warum Verantwortungsvorstellungen häufig mit negativen Konnotationen behaftet sind: Eine Handlungsentscheidung erfolgt gegenwärtig, ist also an die unmittelbare Momentaufnahme einer Situation gebunden. Im Rechenschaftsfalle wird diese erfolgte Handlung retrospektiv auf ihre Güte hin überprüft und beurteilt. Dem geht voraus, dass ein Zustand eingetreten ist, von dem angenommen wird, dass die Handlungswahl ihn (mit-)verursacht hat. Weil dieses Geschehnis, das auf die Handlung des Menschen zurückverweist, im Moment des Entscheidens noch zu den Möglichkeiten zukünftiger Folgen zählte, verantwortet sich der Mensch im Rechtfertigungsmoment retrospektiv für etwas, das er bei seiner Handlungswahl allenfalls aufgrund von Vorahnungen prospektiv hätte berücksichtigen können. Die Handlungsentscheidung wird also unter dem Eindruck von Unsicherheit über zukünftige Folgen getroffen. Damit erfolgt sie aus einem für Entscheidungen konstitutiven und deshalb unvermeidbaren Nichtwissen heraus, ob das durch die Handlung eintretende Geschehen578 zu einem späteren Zeitpunkt negativ auf den Handelnden zurückverweisen wird. Gegenstand der Rechtsprechung ist ein dem Menschen unterstelltes Fehlverhalten in Bezug auf ein geltendes Recht. Weil sich vergangenes Geschehen nicht revidieren lässt, kann sich der zur Verantwortung Gezogene lediglich zu erklären versuchen. Inwieweit seine Antwort auf eine jeweilige Anklage aber zur Entlastung beiträgt, liegt außerhalb der tatsächlichen Einflussmöglichkeiten des Angeklagten. Das Gericht als gesellschaftlich dazu legitimierte Instanz fordert Rechenschaft ein, entscheidet über Rechtskompatibilität und Plausibilität von Handlung und Erklärung und kommt schließlich zu einem Urteil. Gerichtsbarkeit beinhaltet demzufolge eine grundlegende Abhängigkeit des Angeklagten vom Urteilenden, womit aufgrund der eingeschränkten Handlungsmacht des Angeklagten Gefühle des Ausgeliefertseins verbunden sein können.579 Um 578 Als »Geschehnis« beschreibt Georg Picht einen Vorgang, »der innerhalb der Reichweite menschlichen Daseins liegt. Dabei ist wichtig, daß wir als Geschehnis in diesem Sinne nicht nur Vorgänge bezeichnen, die von Menschen verursacht worden sind, sondern auch solche Vorgänge, die ohne menschliches Zutun verlaufen, aber in einen Bereich gehören, der dem möglichen Einfluß des Menschen unterliegt« (ders.: Wahrheit, Vernunft, Verantwortung, 327). 579 Juristisch werden Menschen im Falle eines gegen geltendes Recht erfolgten Verhaltens belangt. Rechtsordnungen sind gesellschaftlich relevant, weil sie gemeinschaftsstabilisierend wirken und den Schutz von Bürgern gewährleistet sollen. Dieser Sachverhalt ist ambivalent. Einerseits befürworten Menschen die Gesellschaftsordnung um ihres eigenen Schutzes willen, andererseits besteht eine latente Sorge darin, selbst belangt werden zu können. Urteile sind nicht notwendigerweise von dem Wissen des Angeklagten um sein eigenes Fehlverhalten abhängig. Erstens kann auch derjenige belangt werden, der sich seiner Schuldigkeit selbst nicht bewusst ist. Zweitens besteht die Möglichkeit eines Fehlurteils, dem sich der Rechenschaftspflichtige aufgrund der gesellschaftlichen Legitimation gerichtlichen Vorgehens beugen müsste. Der Unterschied zwischen Innen- und Außen-

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nachträglich möglichst nicht für Handlungsentscheidungen belangt zu werden, besteht das allgemeine Bestreben darin, so zu handeln, dass Fehlverhalten vermieden wird. Je fürsorglicher einer bestimmten Verpflichtung nachgekommen wird, als desto geringer wird die Wahrscheinlichkeit eingeschätzt, dass es zu einem Fehlverhalten kommt, für das Rechenschaft eingefordert wird. Sorge, Pflicht580 und Verantwortung hängen deshalb eng miteinander zusammen und entsprechen sich darin, dass ihnen allen gleichermaßen ein »Last-Charakter«581 anhaftet, der sich im allgemeinen Sprachgebrauch widerspiegelt: Verantwortung wird »getragen«, Menschen lassen sich Pflichten »auferlegen« oder »erlegen sie sich selbst auf« und auf jemandem »lasten« Sorgen. Formulierungen wie diese, die belastende Merkmale von Verantwortung betonen, begünstigen eine grundsätzliche Zurückhaltung dahin gehend, Verantwortung konkret zu übernehmen, was insbesondere den Prozess des Abwägens von Handlungsentscheidungen prägt.582 Das bedeutet, dass sich die potenzielle Wahrscheinlichkeit, im Falle von Fehlentscheidungen belangt zu werden, auf die Art und Weise auswirkt, wie der Mensch von seiner Verantwortungsfähigkeit Gebrauch macht. Das Verantwortungsthema verweist darauf, dass sich der freie Mensch selbstverpflichtet. Dieser Sachverhalt ist ambivalent, weil er auf eine bipolare Potenzialität hinweist. Auf der einen Seite kann der Mensch seine Handlungsfreiheit dafür nutzen, sein Leben gestaltend zu entfalten. Indem er Handlungsentscheidungen trifft, richtet er seine Tatkraft zielgerichtet aus, was für seine Bestands- und Niveausicherung unerlässlich ist. Schaffenskraft zu kanalisieren, bedeutet auf der anderen Seite aber auch, damit rechnen zu müssen, dass Handlungen destruktive Folgen nach sich ziehen können. Dann stellten sich Entschlüsse nachträglich als »Fehlentscheidungen« heraus, deren Konsequenperspektive im Verantwortungsfalle ist deshalb evident: Selbst rechenschaftspflichtig zu sein, macht die unübertragbare Bürde von Verantwortung konkret erfahrbar. Die Verantwortung anderer bzw. die Anonymität eines allgemeinen Rufs nach Verantwortung tangieren das Selbsterleben allenfalls peripher (vgl. 7.1 Verantwortung als soziale Konstruktion). 580 Die Pflicht, der es mit verantwortlichem Handeln nachzukommen gilt, kann sich erstens entweder aus kulturell bedingten und infolgedessen internalisierten Rollenverständnissen ergeben, sie kann zweitens von außen zugesprochen werden oder sich drittens darin zeigen, dass sich jemand selbst verpflichtet. Als Beispiele für die drei genannten Verpflichtungsarten nennt Carl F. Graumann einmal Verbindlichkeiten, die in bestimmten Kulturen selbstverständlich dem ältesten Sohn obliegen, sodann Versprechen, die jemandem – etwa auf die Verfassung – abgenommen werden und ihn dadurch verpflichten sowie schließlich Selbstverpflichtungen, die sich dann ergeben, wenn sich jemand für eine Tätigkeit oder ein öffentliches Amt bewirbt. Auf die Pflichterfüllung hingeordnet wird Sorge dann im Sinne eines fürsorglichen Einstehens für jemanden oder etwas verstanden (vgl. ders.: Verantwortung als soziales Konstrukt, 185). 581 Ebd. (H. i. O.). 582 Vgl. ebd.

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zen auf den Verantwortungsträger zurückfallen.583 Verantwortung zeichnet sich also auch durch ihren unvermeidlichen Wagnischarakter aus. Dieser liegt darin begründet, dass in jeder Handlungsentscheidung, die aus einer Interpretationsleistung und infolgedessen einer Priorisierung von unvereinbaren Geltungsansprüchen hervorgeht, sowohl potenzielle Positiv- als auch Negativfolgen angelegt sind. Im Vorfeld bleibt die Güte der tatsächlichen Konsequenzen aber unabschätzbar, sodass ein Risiko eingegangen werden muss. Prospektives Entscheiden und retrospektive Rechfertigung typisieren Verantwortung hinsichtlich ihrer zeitlichen Dimension. Dazu lassen sich zwei Verantwortungsarten voneinander unterscheiden, nämlich die »Haftungsverantwortung« und die »Entscheidungsverantwortung«584. Das oben zur juridischen Prägung des Verantwortungsbegriffs Ausgesagte bezieht sich auf die »Haftungsverantwortung«. Haftungsfragen lassen sich normativ klären, indem klar abgrenzbare Pflichten mit tatsächlich erfolgten Handlungen nachträglich abgeglichen werden. »Haftungsverantwortung« ist also retrospektiv angelegt und kann, wie im Falle von Gerichtsbarkeit, von außen zugeschrieben werden. Ziel ist es, zu ermitteln, inwieweit Taten als pflichtgemäß oder pflichtverletzend zu bewerten sind. Eine wesentliche Charakteristik von »Haftungsverantwortung« ergibt sich aus der Irreversibilität der Zeit. In der Verantwortung für vergangene Handlungen zu stehen, kann ebenso wenig rückgängig gemacht werden wie ein zurückliegendes Geschehen selbst nachträglich verändert werden kann. Über das schon beschriebene Gefühl des Ausgeliefertseins hinaus ist mit dieser Tatsache noch eine Besonderheit des Verweisungscharakters zwischen Geschehnissen und Menschen verbunden.585 Zwar wird ein Mensch für seine Handlungen verantwortlich gemacht, allerdings orientieren sich Haftungsfragen an dem, was tatsächlich geschehen ist und verweisen von hierher auf die Handlungen eines moralischen Subjekts. Das bedeutet, dass nicht zuerst der Mensch im Fokus steht, sondern ein Geschehen, hinsichtlich dessen erst in einem zweiten Schritt überprüft wird, inwieweit es sich ursächlich auf die Handlung eines Menschen zurückführen lässt. Daraus ergibt sich, »daß es durchaus nicht nur, ja nicht einmal primär das eigene Handeln ist, für das man Verantwortung trägt; man ist vielmehr verantwortlich für alles, was im Zusammenhang mit bestimmten Menschen oder Sachen geschieht«586. Ein Geschehen ist von Umständen abhängig, die nicht vollständig im Bereich der Verfügungsgewalt des einzelnen Menschen liegen. Es können sich 583 Dementsprechend wird z. B. in der Wirtschaft mehr Verantwortung mit mehr Entlohnung oder in der Politik mehr Verantwortung mit mehr Macht »erkauft«. 584 Beide Zitate Franz-Xaver Kaufmann: Der Ruf nach Verantwortung, 98. 585 Zum Verweisungszusammenhang zwischen Geschehnissen und Menschen vgl. Georg Picht: Wahrheit, Vernunft, Verantwortung, 324ff. 586 A. a. O., 324 (H. i. O.).

Das Phänomen Verantwortung zwischen Entscheidung und Haftung

207

Ereigniskausalitäten ergeben, die zwar durch eine Handlung mitverursacht wurden, deren Eintreten aber weder überschaubar noch kontrollierbar gewesen wäre. Obwohl Folgerichtigkeiten dieser Art erst nachträglich erkennbar sind, fallen sie dennoch mit in den Verantwortungsbereich des Handelnden hinein. Die »Entscheidungsverantwortung« bezieht sich auf genau diesen Moment, in dem Handlungsentscheidungen getroffen werden, ohne sich über die Folgen sicher sein zu können. Im Entschlussmoment haben sich die tatsächlichen Folgen von Handlungsentscheidungen noch nicht realisiert. Sie liegen also noch im Bereich des Möglichen und können allenfalls in Hinblick auf die Wahrscheinlichkeit ihres Eintretens abgeschätzt werden. Diese prospektive Dimension von Verantwortung beinhaltet demzufolge ein Spektrum an Handlungsalternativen, das für Verantwortung konstitutiv ist. Dieses Spektrum ist von zwei Seiten her begrenzt, nämlich durch das, was notwendig ist und durch das, was unmöglich ist. Notwendigkeit und Unmöglichkeit ist gemeinsam, dass sie beide keine Wahl zulassen. Nur dann, wenn eine Handlung das Ergebnis einer Auswahl an Möglichkeiten ist, kann von Verantwortung für die gewählte Handlung gesprochen werden.587 »Entscheidungsverantwortung« zu übernehmen, beruht also auf dem freiwilligen Akt einer Selbstverpflichtung, weil persönliche Entscheidungen erstens nicht von außen erzwungen werden können und zweitens nur dann auch umgesetzt werden, wenn der Mensch tatsächlich ihnen gemäß handelt.588 Die »Entscheidungsverantwortung« zielt deshalb offensichtlicher auf die persönliche Disposition des Verantwortungsträgers ab als die »Haftungsverantwortung«. Der Wagnischarakter herrscht hier vor und fordert den Entscheidenden dazu heraus, Unsicherheiten auf sich zu nehmen, die abseits von regelhaften Vorschriften unvermeidbar werden.589 Je vielschichtiger die Wirklichkeitszusammenhänge sind, in denen Verantwortung übernommen wird, desto breiter ist das Möglichkeitenspektrum für eine Handlungswahl und desto höher ist das persönlich zu tragende Risiko. Mit zunehmendem Risiko steigt die Wagniskomponente von Verantwortung im Selbsterleben eines Menschen. Eine solche Risikosteigerung scheint sich durch erhöhte lebensweltliche Komplexität des modernen Menschen in besonderem Ausmaß ergeben zu haben.

587 Vgl. a. a. O., 323f. 588 Vgl. Franz-Xaver Kaufmann: Der Ruf nach Verantwortung, 96ff. 589 Vgl. a. a. O., 97.

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6.3

Grundannahmen zur Verantwortungsfähigkeit des Menschen

Lebensweltliche Komplexität und die Verantwortung des konkreten Menschen

Es gibt mehrere Ursachen dafür, warum sich die Lebensbedingungen des Menschen dahin gehend gewandelt haben, dass sie ihn zunehmend mit Mehrdimensionalität konfrontieren. Zu einer grundsätzlichen Komplexitätssteigerung hat erstens ein zunehmender anthropogener Einfluss geführt. Als einer der Pioniere führt Hans Jonas die Notwendigkeit, den Verantwortungsbegriff aktualitätsbezogen neu zu durchdenken, kausal auf die fortschreitende Technisierung der Menschheit zurück.590 Die Ausgangsthese seiner Schrift zum Prinzip Verantwortung besteht darin, dass »die Verheißung der modernen Technik in Drohung umgeschlagen ist, oder diese sich mit jener unlösbar verbunden hat«591. Indem der Mensch moderne Techniken erfolgreich entwickelt hat und sie einsetzt, um sich die Natur zu unterwerfen, hat er sich selbst eine seiner größten Herausforderungen geschaffen: Um zu gewährleisten, dass dieser Fortschritt handhabbar bleibt, muss er seine eigene Existenz mit ihm synchronisieren. Dies stellt den Menschen vor eine kaum zu bewältigende Aufgabe. Der Mensch kann durch seine technischen Errungenschaften so weitreichende Wirkungen erzeugen, dass sich sein Handeln über Zeit- und Raumgrenzen hinweg auswirkt. Handlungsfolgen übersteigen seinen unmittelbaren Lebensraum deshalb so weit, dass sie weder vollständig nachvollziehbar noch kontrollierbar sind. Mit diesem Aspekt ist ein zweiter Gesichtspunkt verbunden, nämlich eine neuartige Form von Wissensverfügbarkeit. Weit entwickelte Informations- und Kommunikationstechnologien vereinfachen und beschleunigen den Zugriff auf Informationen in noch nicht dagewesenem Umfang. Kommunikation und Wissenstransfer erfolgen demzufolge über weite geographische und lebensweltliche Grenzen hinweg. Ethisches Entscheiden bleibt davon nicht unberührt. 590 Bei den philosophisch-ethischen Überlegungen von Hans Jonas spielen weniger – wie etwa bei Max Weber und Dietrich Bonhoeffer vorherrschend – politische Erwägungen in die Frage nach dem Verantwortungsbegriff hinein. Für ihn stehen technologische Entwicklungen im Vordergrund und mit dem Prinzip Verantwortung legt er erstmalig einen umfassenden Antwortversuch in Hinblick auf ethische Relevanzen dieser neuartigen zivilisatorischen Entwicklung vor. In Pionierarbeit erkennt Jonas, dass der vom Menschen selbst erschaffene technische Fortschritt, ihn potenziell selbst zerstört, wodurch neues ethisches Nachdenken erforderlich wird (vgl. Wolfgang Huber : Konflikt und Konsens, 145). Dabei thematisiert er Verantwortung lediglich in einfacher Bezogenheit. Er stellt die Frage nach dem »für«, unterlässt es aber, das »vor« zu klären. Überlegungen dahin gehend anzustellen, vor wem der Mensch Verantwortung zu tragen habe, hieße – aufgrund der Umfassendheit des anthropogenen Einflusses –, die Gottesfrage thematisieren zu müssen (vgl. a. a. O., 147). 591 Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung, 7.

Lebensweltliche Komplexität und die Verantwortung des konkreten Menschen

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Informiert und wissend über Handlungen zu entscheiden, bedeutet aufgrund des globalen anthropogenen Einflusses in Verbindung mit zunehmender Umfassendheit und Verfügbarkeit von Wissen, dass der Mensch permanent über sich selbst und seinen unmittelbaren Wirkungsbereich hinausdenken muss. Seine ethische Pflicht erkennt er zwar darin, dass sein wissendes Entscheiden »dem kausalen Anspruch unseres Handelns größengleich sein [muss]. Die Tatsache aber, daß es ihm nicht wirklich größengleich sein kann, daß heißt, daß das vorhersagende Wissen hinter dem technischen Wissen, das unserem Handeln die Macht gibt zurückbleibt, nimmt selbst ethische Bedeutung an. Die Kluft zwischen Kraft des Vorherwissens und Macht des Tuns erzeugt ein neues ethisches Problem«592.

Handlungsentscheidungen können also einerseits nur teilinformiert getroffen werden, weil die Überfülle an Informationen die Möglichkeiten der Einzelperson dazu, sie umfassend zu bedenken und abzuwägen, übersteigt. Mit der Verwobenheit unterschiedlicher Daseinsbereiche geht andererseits einher, sich darüber im Klaren zu sein, dass die Konsequenzen des eigenen Handelns unvorhersagbare (globale) Ausmaße annehmen können: »Tiefe und Häufigkeit anthropogener Einflüsse, Komplexität der Systeme, Veränderungen in der Lufthülle der Erde usw. sind also Faktoren, welche Aussagen über die Folgen von Handlungen immer schwieriger werden lassen.«593 Die unübersehbare, vielfältige Folgenkomplexität erhöht den Wagnischarakter von Verantwortungsübernahme, weil unter einem zunehmenden Eindruck von Unsicherheit über Handlungen entschieden werden muss.594 Die Ambivalenz des Wissensaspekts besteht also darin, dass wissenschaftliche, technische, rechtliche und organisatorische Fortschritte einerseits dazu führen, dass immer genauer vorausgesagt werden kann, mit welcher Wahrscheinlichkeit Ereignisse eintreten. Durch Berechnungsmöglichkeiten von Erwartbarkeit erhöhen sich Lebenssicherheiten. Andererseits steht der potenziellen Möglichkeit, Folgen abzuschätzen, die Unmöglichkeit gegenüber, Handlungs- und Ereignisketten tatsächlich zu überblicken.595 Der Sachverhalt einer solchen Verwobenheit von Geschehnissen geht auch auf erhöhte Arbeitsteilung zurück, die der Mensch vornehmlich nutzt, um seine lebensweltlichen Gestaltungsmöglichkeiten durch Synergieeffekte zu differenzieren und zu erweitern. Sie lässt sich als ein dritter Grund für die Komplexitätssteigerung realer Lebensbedingungen anführen. Eine umfassendere Form von Spezialisierung führt dazu, dass viele Teilschritte erforderlich sind, bis 592 A. a. O., 28 (H. i. O.), vgl. 29. 593 Hans Ruh u. a.: Die Zukunft ist ethisch – oder gar nicht, 67. 594 Vgl. a. a. O., 68; Franz-Xaver Kaufmann: Risiko, Verantwortung und gesellschaftliche Komplexität, 76. 595 Vgl. a. a. O., 87; ders.: Der Ruf nach Verantwortung, 48–56.

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Grundannahmen zur Verantwortungsfähigkeit des Menschen

Güter oder Dienstleistungen tatsächlich lebenspraktisch zum Einsatz kommen. Allerdings zeigt sich nicht am Teilergebnis, ob im Einzelfall richtige Entscheidungen getroffen wurden und verantwortliche Qualität gewährleistet ist, sondern es zeigt sich erst im Endergebnis. Dadurch erschwert es sich für die Einzelperson erheblich, die Effekte ihres Handelns unmittelbar zu überprüfen. Hinsichtlich eines Schadensfalles lässt sich schließlich nur eingeschränkt oder teilweise gar nicht mehr nachvollziehen, auf welches Fehlverhalten welcher Einzelperson er zurückzuführen ist. Aufgrund der Fülle von Einzelvorkommnissen ist die Reichweite von Handlungen also sowohl für die ausführende Person als auch für die Zuschreibenden von Verantwortung unübersehbar.596 Im Zusammenhang mit den Aspekten des zunehmenden anthropogenen Einflusses und der erhöhten Verfügbarkeit von Wissen lässt sich feststellen, dass sich nicht unbedingt die Gefahren selbst erhöhen, die unmittelbar eintreten können. Verunsicherungen hinsichtlich Handlungsentscheidungen resultieren vielmehr aus Lebensverhältnissen, die sich aufgrund von verlängerten Handlungsketten schwerer überschauen lassen. Damit geht einher, dass immer weniger von der Monokausalität von Einzelhandlungen ausgegangen werden kann, sondern Kausalitätsketten angenommen werden müssen. »Entscheidungsverantwortung« steht also stärker unter dem Eindruck von Ungewissheit, weil sich das einzugehende Risiko weniger kalkulieren lässt. Dadurch verschärft sich der Verweisungszusammenhang zwischen Geschehnissen und Menschen derart, dass vielfältige andere Glieder der Kausalitätskette in die individuelle »Haftungsverantwortung« hineinspielen können als nur die eigene Handlung und Einflüsse aus dem unmittelbaren Lebensumfeld.597 Dies begünstigt, dass sich Unsicherheiten hinsichtlich von »Entscheidungsverantwortung« im persönlichen Selbsterleben von Menschen erhöhen, was sich einschränkend auf die Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme auswirken kann. Als vierter Aspekt wirkt sich die zunehmende gesellschaftliche Pluralisierung auf die Komplexität von lebensweltlichen Bedingungen des modernen Menschen aus. Die plurale Wertekultur, die ebenfalls eine Folge von zunehmend globalisierten Lebensformen ist, begünstigt, dass vielfältige ethisch plausibel 596 Vgl. Franz-Xaver Kaufmann: Risiko, Verantwortung und gesellschaftliche Komplexität, 87. 597 Dazu gehört auch, dass sich die Gefährdungsarten gesellschaftsbedingt verändert haben. Waren Menschen anfangs insbesondere durch Naturgewalten bedroht, haben zivilisatorische Verdichtungen von Lebensräumen zu Konflikten geführt, durch die sich die Menschen gegenseitig zur Bedrohung wurden. Neuartige Gefährdungsformen bestehen insbesondere darin, dass sie sich aus Entscheidungen und Entwicklungen von Menschen ergeben, die nicht – wie im Konflikt- bzw. Kriegsfalle – dezidiert darauf abzielen, anderen zu schaden. Der Schadensfall tritt hier vornehmlich kollateral auf, weil die lebensweltliche Komplexität prospektive Vorhersagen nicht hinreichend zuließ (vgl. Franz-Xaver Kaufmann: Der Ruf nach Verantwortung, 57f.).

Lebensweltliche Komplexität und die Verantwortung des konkreten Menschen

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begründbare Handlungsmöglichkeiten nebeneinanderstehen. Ihnen wird kontextbezogen zu- oder abgesprochen, berechtigt zu sein. Das beinhaltet, dass sich der Mensch innerhalb von Wertediskussionen orientieren und sich selbst positionieren muss, ohne dabei auf feststehende Grundwerte zurückgreifen zu können. Vor dem Hintergrund der genannten Faktoren, die die lebensweltliche Komplexitätssteigerung bedingen, besteht das Desiderat bisheriger Ethiken darin, die von ihnen ausgehenden Anhaltspunkte für »rechtes sittliches Verhalten« nicht ausreichend flexibilisieren zu können. Dadurch lassen sie sich den neuartigen Bedingungen menschlichen Lebens nicht adäquat anpassen.598 Mit Blick auf die Begriffsgeschichte des 20. Jahrhunderts können dementsprechende Tendenzen festgestellt werden, Begriffe wie »Pflicht«599 oder »Schuld«, die nicht mehr eindeutig bestimmbar zu sein scheinen, durch den Begriff der »Verantwortung« zu substituieren. Dies hat seinen Grund auch darin, dass unter den Terminus Verantwortung eher auch universales Fragen gefasst werden kann, das angesichts moderner Lebensbedingungen bedeutsamer zu werden scheint.600 Der Verantwortungsbegriff eignet sich also dafür, ihn auf das Lebensganze hin auszuweiten, auf den Erhalt der Umwelt und auf Aspekte allgemeingesellschaftlicher Veränderungen. Verantwortung wird beispielsweise in globaler Hinsicht ausgeweitet. Dies begründet sich in den umfassenden anthropogenen Einflussmöglichkeiten, die das menschliche Handeln weltumspannend relevant werden lassen. Dies steht in enger Verbindung mit einem in zeitlicher Hinsicht erweiterten Verantwortungsbewusstsein. Danach sind Handlungen auch daraufhin zu überprüfen, wie sie sich auf die Lebensbedingungen zukünftiger Generationen auswirken können.601 Eine dritte Tendenz, Verantwortung zu 598 Vgl. Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung, 7. 599 Klassisch für ein pflichtgemäßes ethisches Prinzip, das die Unmittelbarkeit von Handlungen und ihren Folgen zugrunde legt, ist der Kategorische Imperativ von Immanuel Kant: »handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde« (ders.: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 36 [H. i. O.]). Als Grundsatz für Handlungsentscheidungen gebietet er, sich darüber klar zu werden, ob sich für eine Einzelhandlung rechtfertigen ließe, sie in prinzipieller Weise zu verallgemeinern. Mit zunehmender lebensweltlicher Komplexität nehmen allerdings auch diejenigen Aspekte zu, die hinsichtlich dieser Frage überprüft werden müssten. Dadurch erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass sich berechtigte Argumente für und gegen Handlungsentscheidungen unauflöslich gegenüberstehen und es unumgänglich wird, abseits von eindeutig gebotenen Handlungen zu agieren. 600 Zum Überblick bezüglich der historischen Wandlung des Begriffs vgl. Héctor Wittwer : Art. Verantwortung, 574f. 601 Ein solches Erfordernis stärkt beispielsweise Hans Jonas in seinem Ökologischen Imperativ, der besagt: »Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden« (ders.: Das Prinzip Verantwortung, 36). Ausweitungstendenzen dieser Art werden berechtigter Weise hinterfragt. Zwar dürfen Reichweiten von Handlungen beim verantwortungsethischen Entscheiden nicht

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Grundannahmen zur Verantwortungsfähigkeit des Menschen

entgrenzen, besteht darin, sie über den Bereich des humanen Lebens hinaus auf die Gesamtheit des Lebendigen hin auszuweiten.602 Der Verantwortungsbegriff wird oftmals mit der Suggestion verbunden, dass es einen Verantwortlichen geben kann, der die Folgen seiner Handlungen souverän überschaut, weil er Ziele überlegt bestimmt und die Mittel, mit denen sie erreicht werden sollen, mit Bedacht wählt. Damit wird grundsätzlich schon eine an Idealisierung grenzende Rundumbestimmung erwartet, die Zumutungen, Widerstände, Dilemmata oder Kontingenzen ausblendet. Sie muss schließlich an der Komplexität der Wirklichkeit scheitern, insbesondere unter den zusätzlichen Anforderungen, die sich aus den beschriebenen Ausweitungstendenzen ergeben. Der Sachverhalt, dass sich der Bedarf an Verantwortung vervielfacht und die Wahrnehmung von Verantwortung erheblich verkompliziert hat, ist ambivalent. Einerseits wird der Einzelne dadurch erst genommen und erfährt Anerkennung. Andererseits wird er zugleich oft überfordert und vorschnell auch für Begebenheiten zur Rechenschaft gezogen, die seine Einflussmöglichkeiten weit übersteigen. Dementsprechend verwundert es nicht, dass sich hinsichtlich der Verwendung des Verantwortungsbegriffs gegenläufige Tendenzen festgestellt lassen. Als eine Grundkategorie gesellschaftlichen Handelns wird er teilweise in fast inflationärer Weise verwendet, wenn nach den Verantwortlichen für Geschehen in privaten und beruflichen Kontexten gefragt wird. Im wissenschaftlichen Diskurs hingegen fallen die Versuche, Verantwortung als eine aktuelle Kategorie menschlichen Handelns zu beschreiben, zurückhaltender aus. Es wird hinterfragt, ob der Begriff überhaupt noch zeitgemäß ist und versucht, die Notwendigkeit herauszustellen, Verantwortung zu begrenzen. Diese vielfach diskutierte Ambivalenz603, die sich daraus ergibt, dass sich die sozialen Verhältnisse in einer Weise verändert haben, die es zeitgleich notwendiger und schwieriger macht, Verantwortung zu übernehmen, fasst Franz-Xaver Kaufmann folgendermaßen zusammen: »Einerseits wird Verantwortung für alles und jedes gefordert, also eine Ausdehnung der Verantwortungsbereiche angestrebt. Andererseits werden – nicht zuletzt in der [sic!] geistes- und sozialwissenschaftlichen Debatten – die Grenzen menschlicher Verantunberücksichtigt bleiben, aber es ist durchaus angezeigt, zu überprüfen, inwieweit es realistisch und sinnvoll ist, Folgen über zukünftige Generationen hinweg abschätzen zu wollen (vgl. Ulrich H. J. Körtner : Freiheit und Verantwortung, 53). 602 Vgl. Dieter Birnbacher: Grenzen der Verantwortung, 143f., Begriffe übernommen (H. z. S., WLL). 603 Zur Diskussion um den ambivalenten Gebrauch des Verantwortungsbegriffs vgl. etwa Ulrich H. J. Körtner : Freiheit und Verantwortung, 45f., Dieter Birnbacher : Grenzen der Verantwortung, 143 und Martin Honecker : Wege evangelischer Ethik, 235. Honecker weist darauf hin, dass auch einem christlichen Verweis auf eine »universale ›Welt‹verantwortung« zurückhaltend zu begegnen sei: »Solche umfassende Verantwortung setzt nämlich Allzuständigkeit, sogar Allmacht voraus« (ebd.).

Lebensweltliche Komplexität und die Verantwortung des konkreten Menschen

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wortungsfähigkeit thematisiert, indem der Einzelne eher als Opfer denn als Täter der Verhältnisse beschrieben wird.«604

Die Diskussion um die Aktualität des Verantwortungsbegriffs kann zu dem Ergebnis kommen, dass eine Ethik der Verantwortung als grundsätzlich inkompatibel mit der Lebenswelt des modernen Menschen zu beurteilen ist. Stefan Breuer etwa vertritt folgende Ansicht: »Der Begriff der Verantwortungsethik, so scheint es, gehört in eine Welt, die nicht mehr die unsere ist. Jeder Versuch, ihn festzuhalten, führt zu Illusionen und Selbsttäuschungen und hindert an der Erkenntnis der Lage.«605

Dem kann mit Ulrich H. J. Körtner entgegengehalten werden, dass es gerade darum gehen muss, durch die Erkenntnis der Lage neu auf den Verantwortungsbegriff zu schließen und nicht andersherum. Dadurch können bestehende ethische Desiderate diskursiv erschlossen werden, um nach Maßnahmen zu suchen, mit denen sich Verantwortungsethik aktualitätskompatibel beschreiben lässt.606 Eine Gegenläufigkeit von Ausdehnung und Begrenzung ist schon im Verantwortungsbegriff selbst angelegt. Die Fähigkeit des Menschen zum entgrenzenden Denken begünstigt es, sich allumfassende Verantwortungsanforderungen vergegenwärtigen zu können. Von derartigen, zwar vorstellbaren, aber nicht unbedingt wirklichkeitsgemäßen Anmutungen ist insbesondere dann abzusehen, wenn der Verantwortungsbegriff als aktualitätskompatible ethische Kategorie auch unter dem Eindruck beschriebener lebensweltlicher Komplexitätssteigerungen erhalten werden soll. Ansprüche an verantwortliches Handeln müssen auf ein realistisch zumutbares Ausmaß reduziert werden.607 Indem Verantwortung bewusst begrenzt wird, lösen sich die ihr impliziten Ausweitungstendenzen zwar nicht vollständig auf, aber sie werden sinnvoll gemäßigt und situativ handhabbar gemacht.608 Ethische Diskurse müssen zu entspre-

604 Franz-Xaver Kaufmann: Risiko, Verantwortung und gesellschaftliche Komplexität, 75 (H. i. O.). 605 Stefan Breuer: Verantwortungsethik als Ideologie, 99. 606 Vgl. Ulrich H. J. Körtner : Freiheit und Verantwortung, 101f. 607 Das Problem der Begrenzung ist dabei kein spezifisch verantwortungsethisches. Angesichts beschriebener Überkomplexität weist es auf die grundsätzliche Fragenotwendigkeit jeder Ethik hin (vgl. Niklas Luhmann: Soziologie der Moral, 80ff.). Niklas Luhmann hinterfragt den geltenden Bezug der Ethik zur gesellschaftlichen Realität grundsätzlich. Seiner Ansicht nach kann es nicht darum gehen, Moral deswegen als generell überholt zu bewerten, weil sich ihre Umsetzungsbedingungen erschweren. Ethiken müssen jedoch daraufhin überprüft werden, inwieweit sie dazu in der Lage sind, ihrer Aufgabe, Stellung zu moralischen Fragen zu beziehen, adäquat nachzukommen (vgl. ders.: Paradigm lost, 36ff.). 608 In diesem Sinne weist auch Georg Picht darauf hin, dass der Verantwortungsbegriff durch »eine schrankenlose Expansion nicht weniger verfehlt [wird] als durch den Versuch, ihn in

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Grundannahmen zur Verantwortungsfähigkeit des Menschen

chenden Klärungen beitragen, obschon sie selbst zunehmend vielschichtiger werden, weil sich die Komplexität realer Verhältnisse ebenso gesteigert hat wie die Kenntnis über sie.609 Hinsichtlich des bis hierher Ausgesagten lässt sich festhalten, dass die Frage nach der Aktualität von Verantwortung mit ihrer Eigenschaft der prinzipiellen Interpretiertheit korreliert. Erschwert sich eine Interpretation etwa durch eine erhöhte lebensweltliche Komplexität und einen zunehmenden gesellschaftlichen Pluralismus, wird es fraglich, ob und inwieweit Verantwortung noch sachgerecht in den Lebenswandel des heutigen Menschen integriert werden kann. Die Frage nach dem ob muss allerdings angesichts der Tatsache überwunden werden, dass Verantwortung ein konstitutives Merkmal des Menschen als ein freies und soziales Wesen ist. Es ist also weder möglich noch sinnvoll, Verantwortung aus dem Leben des Menschen zu eliminieren. Demzufolge gilt es der Frage nach dem inwieweit weiter nachzugehen. Ihre Beantwortung zielt darauf ab, Verantwortung begründbar und sinnvoll zu interpretieren und sie dadurch zu ajourieren. Eine Spur dahin gehend, die innere Gegenläufigkeit von Ausdehnung und Begrenzung des Verantwortungsbegriffs realitätsbezogen auszuwerten, besteht darin, das Verhältnis von Individual- und Globalverantwortung zu klären. Ausgangspunkt einer solchen Verhältnisbestimmung ist die grundsätzliche Erkenntnis hinsichtlich folgender Kohärenz: Die beschriebene Komplexitätssteigerung lebensweltlicher Zusammenhänge zieht nach sich, dass Verantwortung zunehmend global gedacht wird. Damit erhalten die dem Verantwortungsbegriff immanenten Ausdehnungstendenzen eine deutliche Vormachtstellung gegenüber Bestrebungen, Verantwortung zu begrenzen. Jede Begrenzung, so scheint es, führt angesichts neuartiger Verantwortungsherausforderungen zu einem unzulänglichen Handeln. Je entgrenzender Verantwortung jedoch gedacht wird, desto unkonkreter wird sie für die Einzelperson, weil ihr Handeln dem globalen Anspruch in keinem Falle größengleich sein kann. Dadurch verliert Verantwortungsübernahme an Dringlichkeit für tatsächliches Handeln und wird schließlich nicht mehr als eine reale Möglichkeit dazu wahrgenommen, Lebenszusammenhänge wirksam zu beeinflussen. Dahin gehend ist Körtners Hinweis zu verstehen, dass mit dem »Telos menschlichen Tuns […] die Zukunft als Horizont der Ethik aus dem Blickfeld [verschwindet] und mit ihr die Verantwortung«610. Mit dem Ziel, Verantwortungsethik neu zu beschreiben, muss es deshalb darum gehen, diesen Tendenzen entgegenzusteuern. Die Einzelperson den Maschen möglicher Haftbarkeit gefangen zu halten« (ders.: Wahrheit, Vernunft, Verantwortung, 335). 609 Vgl. Franz-Xaver Kaufmann: Risiko, Verantwortung und gesellschaftliche Komplexität, 86. 610 Ulrich H. J. Körtner : Freiheit und Verantwortung, 46; s. a. Carl F. Graumann: Verantwortung als soziales Konstrukt, 190.

Lebensweltliche Komplexität und die Verantwortung des konkreten Menschen

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muss sich darüber bewusst werden, inwieweit ihr Handeln das Potenzial dazu hat, reale lebensweltliche Veränderungen herbeizuführen. Daraus kann sich die Bereitschaft dazu entwickeln, Verantwortung auch konkret zu übernehmen.611 Daneben, Ausdehnungstendenzen von Verantwortungsansprüchen zu begrenzen, ist es relevant, sich darüber klar zu werden, dass verantwortungsethisches Entscheiden aufgrund beschriebener Komplexität zunehmend unter dem Eindruck von Nichtwissen und persönlicher Unsicherheit steht. Begrenzungsnotwendigkeit und Entscheidungsunsicherheiten werden dadurch selbst zum verantwortungsethischen Gegenstand. Weil sie aus der lebensweltlichen Komplexität resultieren, muss anerkannt werden, dass sie in eine Theorie der Verantwortungsethik sinnvoll integriert werden müssen. Zugleich bleibt die vom Zeitgeschehen unabhängige Tatsache bestehen, dass sich unter dem großen Ganzen des Welt- und Geschichtsverlaufs die Handlungsentscheidungen von Einzelpersonen subsumieren. Auf diese Weise sind Individual- und Globalverantwortung miteinander verbunden. Denn »der Mensch ist, insofern er Verantwortung trägt, als ein Wesen bestimmt, das sein Selbstsein nicht in sich selbst, sondern außer sich hat. Er hat sein Selbstsein durch die Geschichte vermittelt in der Natur; er hat sein Selbstsein durch die Natur vermittelt in der Geschichte«612.

In dem Maße also, in dem der Mensch erkennt, dass seine Einzelexistenz in die Fortschritte und Verschuldungen vergangener Generationen eingebettet ist und sich zugleich auf die Lebensbedingungen zukünftiger Generationen auswirkt, erkennt er die Notwendigkeit dahin gehend, Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen. Um es mit Picht auszudrücken, geht es um das Bewusstsein, dass wir mit »jeder Verantwortung, die wir überhaupt übernehmen, […] auch schon die Verantwortung für die bisherige Geschichte übernommen [haben]. Wer diese Verantwortung ablehnen will, wer die bisherige Geschichte vergißt, der beraubt in genau dem gleichen Maße, in dem er das tut, sich selbst der Möglichkeit, verantwortlich zu denken und zu handeln«613.

Wenn der Mensch also erklärt, Verantwortung sei als aktuelle ethische Kategorie unbrauchbar, entzieht er sich seiner Verantwortung für vergangenes und infolgedessen auch für zukünftiges Geschehen. Denn, wenn die Faktizitäten seiner Lebenswelt von seinem Denken und Handeln mitbestimmt werden, steht der Mensch unabhängig davon, ob er sich dessen bewusst ist, in einer Mitverant611 Vgl. Ulrich H. J. Körtner : Freiheit und Verantwortung, 46. 612 Georg Picht: Wahrheit, Vernunft, Verantwortung, 328. 613 A. a. O., 329, vgl. 328ff.

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Grundannahmen zur Verantwortungsfähigkeit des Menschen

wortung.614 Die natürlichen verantwortungsimmanenten Grenzen ergeben sich dementsprechend aus den realen anthropogenen Einflussmöglichkeiten. Weil allerdings die Ausübung menschlicher Macht so weit reichen konnte, dass die Komplexität von Lebensbedingungen erheblich zugenommen hat, wird der oben beschriebene Verweisungszusammenhang von Geschehnissen und Menschen universal bedeutsam. Ein aktualitätsbezogener Verantwortungsbegriff muss deshalb gewährleisten, die Individualverantwortung so mit der Globalverantwortung zu vermitteln, dass die mögliche universale Bedeutsamkeit von verantwortungsethischem Handeln anerkannt wird, ohne die Einzelperson zu überfordern. Demgemäß ist erstens festzuhalten, dass Verantwortung in zeitgemäßer Weise interpretiert werden muss. Zweitens ist und bleibt Verantwortung grundlegend dafür, dass gesellschaftliche Strukturen kulturell geschaffen und erhalten werden können. Dies ist nur dann weiterhin sichergestellt, wenn sich diese Erkenntnis auch im Bewusstsein des konkreten Menschen widerspiegelt und er sein Handeln selbst als bedeutsam erkennt und anerkennt.

6.4

Mediation als eine Möglichkeit zur Verantwortungsübernahme

Am Ende dieser komprimierten Betrachtung ausgewählter grundlegender Merkmale von Verantwortung sollen die Bestimmungen daraufhin überprüft werden, wie sie sich hinsichtlich des Mediationskontextes konkretisieren lassen. Dies erfolgt ausgehend von einem Ergebnis, zu dem Martin Honecker auf der Grundlage seiner Zusammenschau von verantwortungsethisch relevanten Denkansätzen des 20. Jahrhunderts kommt. Es kann hilfreich hinzugezogen werden, weil es wesentliche Aspekte des bis hierher Gesagten zusammenfasst und drei Prämissen von Verantwortung aufzeigt, die Anknüpfungspunkte dafür bieten, sie situativ – hier mediativ – anzureichern: »Verantwortung hat einen Außenbezug, einen ›Gegenstand‹. Sie ist konkret Verantwortung für etwas. Verantwortung setzt ferner eine Orientierung an praktischen Gesetzen, Regeln, Normen voraus (Gemäß welchem Maßstab wird gehandelt?) oder einen Konsens darüber, was man zu tun hat und was man unterlässt. Verantwortung hat sodann einen Regelbezug. Sie geschieht konkret in der Selbstbindung an anerkannte praktische Grundsätze. Unterstellt wird dabei jedoch eine zustimmungsfähige Einsicht, die Plausibilität von Vernunft.«615

Der Außenbezug als erstgenannte Prämisse ist im Falle von Mediation zugleich ihr Klärungsgegenstand, nämlich der Konflikt. Indem Menschen eine Mediation 614 Vgl. a. a. O., 334. 615 Martin Honecker : Wege evangelischer Ethik, 238f.

Mediation als eine Möglichkeit zur Verantwortungsübernahme

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aufnehmen, übernehmen sie zugleich die Verantwortung für ihren Konflikt und seine Bearbeitung. Sie stehen in der Inhaltsverantwortung dafür, dass alle für die Konfliktregulierung bedeutsamen Aspekte so geklärt werden, dass der Weg für eine einvernehmliche Lösung gebahnt werden kann. Dabei orientieren sie sich an Maßstäben – die zweite Prämisse Honeckers –, die sie unter Maßgabe des Verfahrens selber und konsensual festlegen. Dies erfolgt ausgehend von den individuellen »sinnbezogenen Wirklichkeiten« der Beteiligten. In diesem Zusammenhang sei an die oben vorgenommene Unterscheidung zwischen Selbst-, Fremd- und Ergebnisbeziehung erinnert.616 Ausgehend von dem persönlichen Erleben des Einzelnen werden die eigenen und fremden Bedürfnisse und Interessen innerhalb des Verfahrens so geklärt, dass sich daraus ergibt, welche Handlungsmaßstäbe mit ihnen kompatibel sind.617 Das eigene Interesse an einem konfliktregulierenden Verhandlungsergebnis wird dadurch zunehmend auch als ein gemeinsames Interesse erkannt, dem es konsensual nachzugehen gilt. Dadurch lassen sich die auf Konfliktregulation ausgerichteten Motivationen und Handlungen so zusammenschließen, dass mit ihnen eigene und fremde Handlungsmaßstäbe geachtet werden, um auf dieser Grundlage zu einem einvernehmlichen Ergebnis zu gelangen. Dies realisiert sich über selbstbestimmtes und akzeptierendes Handeln, das in die dritte Prämisse, den Regelbezug, einer so gearteten Inhaltsverantwortung in der Mediation hineinverweist. Ein Mediationsverfahren freiwillig aufzunehmen, beinhaltet, sich den Grundsätzen der Mediation und der Struktur des Verfahrens gegenüber zu verpflichten. Dazu gilt es, sich darüber bewusst zu werden und anzuerkennen, dass die mediativen Verfahrensvorgaben sinnvoll darin unterstützen können, der eigenen Inhaltsverantwortung für den Konflikt konstruktiv nachzukommen. Bezugnehmend auf die oben beschriebene »doppelte Verweisung« fällt auf, dass Honeckers Ergebnis zwar den Bindungsbezug des »für« berücksichtigt, aber den des »vor« auslässt. Für den Kontext Mediation handelt es sich dabei aber um einen sehr bedeutsamen Aspekt, um den es seine Überlegungen hier mediationsbezogen noch zu ergänzen gilt. Es wurde dargelegt, dass sich die negative Konnotation von Verantwortung insbesondere von ihrem juridischen Bezug her erklären lässt. Menschen stehen vor Gericht in der »Haftungsver616 Vgl. 2.6 Ressourcenorientierte Intervention als Angebot zur Gegensinnstiftung. 617 Darauf zielen die drei grundlegenden Fragen in der Gewaltfreien Kommunikation ab: »Frage Nummer eins: Was ist in uns lebendig? (Dazu gehören auch die Fragen: Was ist in mir lebendig? Was ist in dir lebendig?) […] Die zweite Frage – sie hängt mit der ersten zusammen – lautet: Was können wir tun, um das Leben schöner zu machen? (Dazu gehören auch die Fragen: Was kannst du tun, um das Leben für mich schöner zu machen? Was kann ich tun, um das Leben für dich schöner zu machen?)« (Marshall B. Rosenberg: Die Sprache des Friedens sprechen, 23; vgl. ders.: Konflikte lösen durch Gewaltfreie Kommunikation, 27; 3.6 Kommunikation als mediatives Mittel zur Übernahme von Verantwortung).

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Grundannahmen zur Verantwortungsfähigkeit des Menschen

antwortung« für ihre Handlungen oder Unterlassungen, auf die ein eingetretenes Geschehnis zurückverweist. Dieser Verweisungszusammenhang gilt im Falle von Konflikten gleichermaßen. Das Konfliktgeschehen verweist auf das Verhalten der Beteiligten, das für sie aufgrund der beschriebenen Eigendynamik von Konflikten nur teilweise kontrollierbar zu sein schien. In der Mediation wird dieser Verweisungszusammenhang nur insofern genutzt als er ausweist, wer in der Inhaltsverantwortung für die Regulierung des Konflikts steht. Darüber hinaus vollzieht sich das mediative Vorgehen abseits von Haftungsfragen, sofern diese nicht für die Konfliktklärung notwendig miteinbezogen werden müssen, um die Situation sachkompetent bearbeiten zu können. Es wird versucht, die Befähigung der Beteiligten, »Entscheidungsverantwortung« aus der Konfliktsituation heraus zu übernehmen, zu stärken, damit sie wieder an Handlungsmacht gewinnen. Deswegen geht es auch nicht vornehmlich darum, Vergangenes zu rekonstruieren, sondern dem Mediationsgrundsatz der Zukunftorientierung gemäß vorzugehen. Dabei werden sich die Konfliktbeteiligten darüber bewusst, dass die handelnde und die rechenschaftseinfordernde Instanz innerhalb des mediativen Kontextes in einer Person zusammenkommen.618 Ihre Inhaltsverantwortung, mit der sie für die Situation einstehen, zeichnet sich also zugleich dadurch aus, vor sich selbst verantwortlich zu sein. Weil die Medianten nicht von außen kontrolliert werden, sondern sich selbst daraufhin zu überprüfen haben, inwieweit ihr Handeln ihrem Selbstauftrag entspricht, ist ihre Selbstverpflichtung so bedeutsam. Das heißt, dass die Konfliktbeteiligten vor sich selbst in der retrospektiven »Haftungsverantwortung« stehen und sich zugleich über ihre prospektive »Entscheidungsverantwortung« aufklären müssen, die dazu dienen kann, Konfliktregulation konstruktiv mitzugestalten. Mediation bietet dafür nicht nur konkrete Maßnahmen an, sondern sie gehört selbst zu den Möglichkeiten innerhalb des für Verantwortung konstitutiven Spektrums zwischen dem Notwendigen und dem Unmöglichen. Das Angebot einer Mediation für sich in Anspruch zu nehmen, ist also schon Teil von »Entscheidungsverantwortung«, weil die freiwillige Selbstverpflichtung der Konfliktbeteiligten vorausgeht. Dadurch, dass Mediation grundlegend von einem Gerichtsverfahren verschieden ist, unterscheiden sich auch die Verantwortungsarten. Jenseits von Haftungsfragen geht es darum, Veränderungspotenziale aus einer gegenwärtigen Situation herauszuarbeiten und sie dafür zu nutzen, die Zukunft nach eigenen Vorstellungen bewusst zu gestalten. Die beiden Kriterien der »Entschei618 Selbst dann, wenn der Klärungsgegenstand Bereiche der Gerichtsbarkeit tangiert oder die Konfliktbeteiligten anderen gegenüber Rechenschaft abzulegen haben (z. B. dem Arbeitgeber) sind sie innerhalb der Mediation nur sich selbst gegenüber rechenschaftspflichtig. Andernfalls könnte nicht vollumfänglich gewährleistet werden, dass das Verfahren dem Grundsatz der Freiwilligkeit gemäß durchgeführt wird. Inwieweit Haftungsfragen dann im Mediationsergebnis mitberücksichtigt werden müssen, ist im Einzelfall zu überprüfen.

Mediation als eine Möglichkeit zur Verantwortungsübernahme

219

dungsverantwortung«, nämlich, dass sie prospektiv ist und dass sie die freie Entscheidung des Verantwortungsträgers voraussetzt, finden ihre Analogie dabei in den Mediationsgrundsätzen der Zukunftsorientierung und der Freiwilligkeit.619 Es geht also im folgenden Nachdenken vornehmlich um die »Entscheidungsverantwortung« von Personen, wodurch sich die bereits herausgestellte Bedeutsamkeit von Selbstverpflichtung noch vertiefen wird, weil sie konstitutiv für diese Verantwortungsart ist. »Entscheidungsverantwortung« spiegelt sich in der Selbstbestimmtheit als genereller Grundsatz der Mediation wider. Für Mediation ist die Selbstbestimmtheit der Konfliktbeteiligten sowohl in moralischer als auch in moralisch-indifferenter Hinsicht bedeutsam. Der moralischen Verantwortung kommen die Beteiligten in dem Maße nach, indem sie sich zu einem Handeln entscheiden, das Akzeptanz gegenüber den jeweils anderen mit ihren Interessen und Bedürfnissen ausdrückt. Der moralische Verantwortungsaspekt bezieht sich also auf den sittlichen Wert, den die Personen in ihre jeweilige Rolle eintragen. Sodann müssen sich die Medianten auch dem Verhandlungsergebnis gegenüber selbstverpflichten, weil sie entsprechend handeln müssen, damit sich eine erarbeitete Vereinbarung realisiert. Sie verbürgen sich also in moralisch-indifferenter Weise dafür, dass sie ihren Zuständigkeiten hinsichtlich des Ergebnisses zuverlässig nachkommen. Inwieweit sich Individualverantwortung sozial kontextualisieren lässt, wird mit dem Folgenden konkretisiert.

619 Vgl. 3.3 Verfahrensgrundsätze als Angebot zur Änderung von Verhalten.

7

Verantwortung als Phänomen zwischen Individualität und Sozialität

7.1

Verantwortung als soziale Konstruktion

Die im Vorangegangen dargelegten Verantwortungsaspekte gehen allesamt von dem Menschen als »Handlungssubjekt in einem sozialen Kontext«620 aus. Die beiden Bindungsbezüge des »für« und »vor«, die konstitutiv für Verantwortung sind, können sich nur aus Beziehungszusammenhängen heraus ergeben. Die soziale Relevanz von Verantwortung ergibt sich daraus, dass Verantwortung selbst zu den Bedingungen sozialen Handelns zählt. Im Akt der Verantwortung kommt die Willensbestimmung eines Menschen mit der Ausführung von Handlungen zusammen. Handlungsvorstellungen, die sich im Inneren des Menschen gebildet haben, werden auf ein Außen bezogen, indem sie kommuniziert und durchgeführt werden. Intrapersonale und interpersonale Prozesse greifen also eng ineinander, sodass sich Verantwortung weder allein in der intrinsischen Motivation eines Menschen erschöpft noch etwa in Zusammenhängen externer Zuschreibungen. Sie lässt sich nur sinnvoll erklären, wenn die Wechselseitigkeit zwischen kognitiven, emotionalen sowie motivationalen Merkmalen von Einzelpersonen und den sozialen Zusammenhängen, in denen diese agieren, berücksichtigt werden.621 Im zwischenmenschlichen Zusammenleben bestimmen Werte und Normen, in welcher Hinsicht Menschen einander rechenschaftsverpflichtet sind. Verantwortung ist also eine »soziale Konstruktion«622 und damit grundlegend für soziale Identität. Wie schon in Hinblick auf die Verhältnisbestimmung von Individual- und Globalverantwortung ausgesagt, gilt auch in begrenzteren Gemeinschaftskontexten, dass sich Menschen verantwortlich fühlen müssen, damit sie tätig werden. Ein solches Verantwortungsgefühl wird zu einem erheblichen Teil sozial 620 Hans Werner Bierhoff: Verantwortungsbereitschaft, -abwehr und -zuschreibung, 217. 621 Vgl. Carl F. Graumann: Verantwortung als soziales Konstrukt, 190. 622 Ulrich H. J. Körtner : Freiheit und Verantwortung, 103; vgl. Carl F. Graumann: Verantwortung als soziales Konstrukt, 190.

222

Verantwortung als Phänomen zwischen Individualität und Sozialität

konstruiert. Zu den Faktoren, die die persönliche Bereitschaft von Einzelpersonen zur Verantwortungsübernahme beeinflussen, zählt Carl F. Graumann »die Konkretheit vs. Abstraktheit, die soziale Nähe vs. Distanz, die soziale Macht vs. Machtlosigkeit, die Individualität vs. Anonymität des ›Gegenübers‹«623. Grundsätzlich gilt, dass sich die Konkretheit des Verantwortungsbewusstseins proportional zu der Konkretheit des Handlungsbedarfs verhält, welcher wiederum mit den (sozialen) Lebensbedingungen zusammenhängt: Der konkrete Mensch fühlt sich also dann verantwortlich, wenn sich ihm ein konkretes Verantwortungserfordernis erschließt und ihm sein reales Handlungspotenzial adäquate Möglichkeiten bietet, um sinnvoll dazu beitragen zu können, den Verantwortungsbedarf zu decken. Die Bedingungen, unter denen sich ein Mensch letztendlich dazu entschließt, Verantwortung zu übernehmen, können entweder sein, dass er sich selbst dazu verpflichtet oder dass ihm Verantwortung sozial zugeschrieben wird.624 Dabei handelt es sich um zwei Aspekte des Gesamtphänomens Verantwortung, die in Beziehung zueinander stehen.625 Zugeschriebene Verantwortung wird nur dann übernommen, wenn eine grundlegende innere Bereitschaft aufseiten desjenigen vorliegt, dem Verantwortung übertragen werden soll. Ein Mindestmaß an Kompatibilität von sozialen und persönlichen Normen muss deshalb vorausgesetzt werden können, damit intrinsische und extrinsische Motivationen ineinandergreifen. Erst daraus, dass soziale Normen internalisiert und dann individuell so verarbeitet werden, dass sich ein Gefühl von Selbstverpflichtung entwickelt, ergibt sich auch ein Verantwortungsbewusstsein.626 Ob zugeschriebene Verantwortung übernommen oder abgewehrt wird, liegt deshalb letztlich im Ermessensbereich desjenigen, der sich mit einem Verantwortungsanspruch konfrontiert sieht.627 Insbesondere, wenn eine Verantwortung übertragen wird, die über eine reine Pflichterfüllung hinausgeht, beinhaltet diese Zuschreibung ein grundlegendes Maß an Vertrauen in die Fähigkeit zur Verantwortungsübernahme desjenigen, 623 A. a. O., 191. 624 Vgl. Franz-Xaver Kaufmann: Risiko, Verantwortung und gesellschaftliche Komplexität; ders.: Der Ruf nach Verantwortung, 41. 625 Vgl. Carl F. Graumann: Verantwortung als soziales Konstrukt, 187. Am Beispiel der Psychologie macht Graumann deutlich, dass wissenschaftlich durchaus versucht wird, beides voneinander zu trennen: »Da ist die Zuschreibung von Verantwortung ein Forschungsgebiet, die Übernahme und das Tragen von Verantwortung ein anderes, und zwischen beiden besteht wenig Beziehung« (ebd.). 626 Vgl. a. a. O., 189. 627 Verantwortungszuschreibung und -abwehr vermutet Hans Werner Bierhoff als eine der »grundlegenden Ambivalenzen des sozialen Lebens« (ders.: Verantwortungsbereitschaft, -abwehr, -zuschreibung, 224). Altruistische und egoistische Motive konfligieren teilweise miteinander, wenn entschieden werden muss, ob Verantwortungsansprüchen entsprochen wird oder nicht.

Verantwortung als soziale Konstruktion

223

dem das Anliegen angetragen wird. Es wird also angenommen, dass der potenzielle Verantwortungsträger über Qualitäten und Fähigkeiten verfügt, die dafür notwendig sind, um dem jeweiligen Verantwortungsanspruch gerecht werden zu können. Dabei handelt es sich um einen Vorschuss an Vertrauen, weil im Vorfeld unabsehbar ist, inwieweit der Verantwortungspflicht auch tatsächlich angemessen nachgekommen wird bzw. nachgekommen werden kann.628 Zudem zeichnen sich verantwortungsvolle Aufgaben häufig dadurch aus, dass sich die Zuschreibenden selber für weniger kompetent in der entsprechenden Angelegenheit halten als denjenigen, dem sie die Aufgabe übertragen wollen. Demgemäß fehlt es vonseiten der Zuschreibenden an Kontrollmöglichkeiten, was wiederum Vertrauen in die Integrität eines sach- und moralkompetenten Verantwortungsträgers erforderlich macht. Das bedeutet, dass Verantwortungszuschreibung daran orientiert wird, »ob jemandem zugetraut wird, daß er eine Aufgabe erfüllen kann, die weder hinsichtlich ihres konkreten Inhaltes noch ihres optimalen Ergebnisses im Voraus eindeutlich bestimmt werden kann«629.

Unter dem Eindruck der zugeschriebenen Entscheidungs- und Handlungsbefugnis werden die persönlichen Qualitäten des Verantwortungsträgers insbesondere in Konfliktfällen auf die Probe gestellt. Personen, die verantwortungsvolle Aufgaben übernommen haben, müssen gewährleisten, »angesichts konfligierender Pflichten und Erwartungen gegebene Handlungsspielräume so zu nutzen, daß unter Erwägung aller ›bedeutungsvollen‹ Gesichtspunkte eine ›zweckmäßige‹ Entscheidung getroffen wird, d. h. eine Entscheidung, deren vielfältige Folgen sich im nachhinein insgesamt rechtfertigen lassen«630.

Das »insgesamt« zeigt an, dass Handlungsbefugnis so weit übertragen wird, dass nicht alle Einzelvorkommnisse gerechtfertigt werden müssen. Demgemäß bewährt sich ein Verantwortungsträger dann als qualifiziert, wenn es ihm gelingt, solchermaßen mit unvermeidbar konfligierenden Geltungsansprüchen umzugehen, dass die Stabilität des gesamten Verantwortungsunterfangens gewährleistet bleibt. Es ist evident, dass die innere Perspektive des Verantwortungsträgers als Akteur von der äußeren Sicht der Beobachtenden auf das Verantwortungsgeschehen verschieden ist. Unterschiedliche Wahrnehmungen der Situation bedingen, dass Urteile divergieren (können).631 Dies lässt sich auch auf den un628 Vgl. Franz-Xaver Kaufmann: Risiko, Verantwortung und gesellschaftliche Komplexität, 83. 629 Ders.: Der Ruf nach Verantwortung, 45. 630 A. a. O., 77 (H. i. O.). 631 Vgl. Hans Werner Bierhoff: Verantwortungsbereitschaft, -abwehr und -zuschreibung, 217.

224

Verantwortung als Phänomen zwischen Individualität und Sozialität

terschiedlichen Grad an Involviertheit zurückführen. Während der Handelnde unmittelbar am Geschehen teilnimmt, stehen die Beobachter – selbst wenn sie von Handlungsfolgen betroffen sind – abseits. Während für den Verantwortungsträger im Vordergrund steht, seine Handlungsabsichten umzusetzen, und damit auch der Unübertragbarkeit seiner Verantwortung Rechnung zu tragen, steht aus Sicht der Beobachtenden im Vordergrund, Verantwortung deskriptiv und normativ zuzuschreiben und schließlich die Adäquatheit von Handlungen zu bewerten.632 Beurteilungsfragen stellen sich hauptsächlich dann, wenn personale oder sachliche Schädigungen eingetreten sind. Ziehen Handlungen Negativfolgen nach sich, liegt es für Außenstehende auf der Hand, zu überprüfen, inwieweit der Vertrauensvorschuss gerechtfertigt war. Dazu wird die Intentionalität des Verantwortungsträgers hinterfragt, wenn davon auszugehen ist, dass er aus mehreren zweckdienlichen Möglichkeiten frei auswählen konnte, um ein angestrebtes Ziel zu erreichen. Eng damit ist der Versuch verbunden, die Handlungsmotivation des Verantwortlichen vor dem Hintergrund normativer Beurteilungsmaßstäbe daraufhin zu überprüfen, ob sie als akzeptabel oder inakzeptabel zu bewerten ist. Zudem wird angestrebt, nachzuhalten, inwieweit Handlungskonsequenzen hätten vorhergesehen werden können.633 Kriterien, wie die hier genannten, sind unerlässlich, um aus einer Außenperspektive heraus zu Einschätzungen hinsichtlich der Güte von Handlungen zu gelangen. Die Vielschichtigkeit intrapersonaler Prozesse, die sich durch die Verantwortungsübernahme im Selbsterleben des Verantwortlichen zutragen, geht darin jedoch nicht auf und bleibt vielfach unberücksichtigt. Die eigentliche Zumutung von zugeschriebener Verantwortung besteht deshalb nicht unbedingt in dem, was sie inhaltlich auszeichnet, sondern vielmehr in der Verpflichtung, die ein Mensch eingeht, wenn er sich zur Verantwortungsübernahme entscheidet.634 Diese Verpflichtung wird ihm zu einer eigenen intrapersonalen Aufgabe, in die mehrere Faktoren hineinspielen. Ein innerer moralischer Druck führt dazu, eigenes Handeln dezidierter zur überprüfen und erhöht die Sensibilität hinsichtlich berechtigter und unberechtigter Ermahnungen von außen. Das Wissen darum, dass sich mit der Verantwortungsübernahme das Risiko der Eigenschuld erhöht, kann sich im Selbsterleben einer Person belastend auswirken. Um der übernommenen Verantwortung entsprechen zu können, muss der Verantwortungsträger seiner Pflicht zur zunehmenden Aufmerksamkeit nachkommen. Möglichst fortwährend analysiert er die situativen Begebenheiten und überprüft daran, inwieweit sein Handeln adäquat ist. Eine Handlungsentscheidung zu treffen, zieht es nach sich, eigene Ressourcen zu bündeln. Damit geht eine Re632 Vgl. a. a. O., 237. 633 Vgl. a. a. O., 229ff., Begriffe übernommen (H. z. S., WLL). 634 Vgl. Franz-Xaver Kaufmann: Der Ruf nach Verantwortung, 61.

Verantwortungsethik als Sozialethik

225

duktion von Optionen einher. Indem sich der Mensch festlegt, bindet er die Möglichkeiten seines eigenen Handelns an seine freie Entscheidung und wird dadurch unfrei für andere Handlungsoptionen.635 Das heißt, dass sich für den Verantwortungsträger aufgrund der genannten psychischen Faktoren erhebliche Selbsteinschränkungen ergeben können. Gepaart mit der Verpflichtung denjenigen gegenüber, die in der Verantwortungsübertragung ihr Vertrauen ausdrücken, ergibt sich für den Verantwortlichen die Anmutung, Selbst- und Fremdansprüche vor dem Hintergrund situativer Aspekte der Verantwortungssituation auszutarieren. Verantwortungsübernahme zeichnet sich demgemäß dadurch aus, dass Menschen sowohl der Unübertragbarkeit ihrer eigenen Verantwortung als auch der sozialen Konstruiertheit von Verantwortung schlechthin selbstbestimmt Rechnung tragen müssen. Bestimmte Qualitäten des Menschseins begünstigen es, Verantwortung sach- und personengerecht übernehmen können, wie folgende Erwägungen konkretisieren.

7.2

Verantwortungsethik als Sozialethik

Zu den individuellen Voraussetzungen, die einen Menschen dazu befähigen, verantwortlich zu handeln, zählt Kaufmann »kognitive«, »moralische« und »kommunikative Fähigkeiten«. Erstens muss eine Person dazu in der Lage sein, die Komplexität einer Situation kognitiv in der Weise zu durchdringen, dass sie die bestehenden Anforderungen und Probleme erfassen kann. Dies ist die Voraussetzung dafür, die vielfältigen situativ bedeutsamen Gesichtspunkte solchermaßen zu erschließen, dass Handlungsoptionen begründet gegeneinander abgewogen werden können. Zweitens bedarf es aufseiten des Verantwortlichen eines grundlegenden moralischen Bewusstseins. Das beinhaltet, dass die verantwortliche Person sich selbst dahin gehend verpflichtet, auch und insbesondere in denjenigen Handlungsbereichen, die sich einer äußeren Kontrolle durch Dritte entziehen, gemäß der im Handlungsbereich vorherrschenden Regeln und Wertvorstellungen zu agieren. Dazu gehört es beispielsweise, eigene Interessen zugunsten berechtigter fremder zurückzustellen und damit dem von außen entgegengebrachten Vertrauen Rechnung zu tragen. Drittens dienen kommunikative Fähigkeiten dazu, sich Dritten gegenüber verständlich zu machen, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Der kommunikative Akt trägt also dazu bei, Handeln zu plausibilisieren, wodurch sich die Übernahme von Verant-

635 Zu den vier angeführten psychischen Faktoren vgl. Dieter Birnbacher : Grenzen der Verantwortung, 167, Begriffe übernommen (H. z. S., WLL).

226

Verantwortung als Phänomen zwischen Individualität und Sozialität

wortung glaubhaft legitimeren lässt, weil Verstehen Vertrauen erzeugen kann.636 Kognitive, moralische und kommunikative Kompetenzen637 müssen im Verantwortungsfall so ineinandergreifen, dass die innere Plausibilität von Handlungen gewährleistet bleibt. Die moralische Kompetenz ist allerdings deshalb herauszustellen, weil sie sich in besonderer Weise auf den Bereich der von außen unverfügbaren Selbstverpflichtung einer Person bezieht und dadurch eine bedeutsame Gegenkraft zu Verantwortungsmissbrauch darstellt.638 Die moralische Kompetenz gibt Aufschluss darüber, inwieweit sich eine Person anderen gegenüber ethisch verpflichtet. Das bedeutet, sie beschreibt den Bereich der Selbstverpflichtung eines Verantwortungsträgers, der sich über die Orientierung am Wohlergehen anderer definiert. Damit erschließt sich die moralische Komponente zwar vornehmlich von den Fremdbeziehungen einer Person her, sie gründet aber im Bereich der Innerlichkeit des Menschen. Die von Kaufmann dargestellte Trias individueller Voraussetzungen zur Verantwortungsübernahme lässt diesen intrapersonalen Bereich, nämlich die Selbstverantwortung, weitgehend unberücksichtigt. Zwar weist der Autor darauf hin, dass Verantwortlichkeit »an die Selbstverpflichtung des Verantwortungsträgers im Sinne einer nichtprogrammierbaren Handlungsbereitschaft im Zusammenhang mit spezifischen Verantwortungen«639 636 Vgl. Franz-Xaver Kaufmann: Risiko, Verantwortung und gesellschaftliche Komplexität, 89f.; ders.: Der Ruf nach Verantwortung, 75–81, (H. z. S., WLL). 637 Der Terminus »Fähigkeit« – wie von Franz-Xaver Kaufmann verwendet – und der Begriff »Kompetenz« werden im Folgenden synonym verwendet. Während »Fähigkeit« sich insbesondere auf das Vermögen, etwas zu tun, bezieht, nimmt »Kompetenz« auch in den Blick, dass sich ein Mensch dafür zuständig fühlen muss, dieses Vermögen auch konkret in Handlung zu überführen und dementsprechend agiert. 638 Franz-Xaver Kaufmann weist drauf hin, dass Handlungszusammenhänge für Außenstehende oft nicht durchschaubar sind. Deswegen kann es Verantwortungsträgern beispielsweise gelingen, ihre kognitiven und moralischen Kompetenzen kommunikativ glaubhaft aufzuwerten. Dieses Phänomen lässt sich insbesondere im öffentlichen politischen und unternehmerischen Bereich feststellen, in dem kommunikative Kompetenzen dazu eingesetzt werden, Vertrauensvorschüsse zu erlangen, die zukünftige Handlungsspielräume erweitern, ohne die tatsächlichen Kompetenzen notwendigerweise nachweisen zu müssen (vgl. ders.: Risiko, Verantwortung und gesellschaftliche Komplexität, 90). 639 A. a. O., 88 (H. i. O.). Franz-Xaver Kaufmann unterscheidet »Verantwortung« von »Verantwortlichkeit«. Unter »Verantwortung« fasst er Aufgaben- oder Rollenverantwortung als eine »mit der Übertragung oder freiwilligen Übernahme von bestimmten Aufgaben verbundene[…] Erwartung an eine nicht nur pflichtgemäße, sondern im Regelfalle auch erfolgreiche Aufgabenerfüllung« (ebd.). Dementsprechend bezieht er den Begriff »Verantwortung« vornehmlich auf Handlungsbereiche und damit auf Organisationen. Den Terminus »Verantwortlichkeit« verwendet er für Personen, die die entsprechenden Verantwortungen als Verantwortungsträger übernehmen (vgl. ebd.). Carl F. Graumann weist darauf hin, dass es nicht zu den allgemein akzeptierten Unterscheidungen gehört, zwischen Verantwortung und Verantwortlichkeit zu differenzieren (vgl. ders.: Verantwortung als

Verantwortungsethik als Sozialethik

227

appelliert, aber die von ihm angeführten Kompetenzen weisen lediglich implizit auf die notwendige Bedingung der Selbstverpflichtung hin. In seinen Schlussbemerkungen wirft Kaufmann ein grundsätzliches Problem hinsichtlich dieses Aspekts auf. Er hinterfragt, »ob möglicherweise in der neuzeitlichen Gesellschaftsentwicklung Tendenzen angelegt sind, welche die individuellen Voraussetzungen der Verantwortlichkeit schwächen«640.

Ohne dieser Frage vertiefend nachzugehen, weist er auf vermehrte Klagen darüber hin, dass sich jüngere Generationen zunehmend vor der Übernahme von Verantwortungen scheuen und »opportunistische und egozentrische Einstellungen mehr und mehr ältere Formen des Pflichtbewußtseins verdrängen«641. Entscheidend für die Beantwortung dieser Frage ist es, zwischen zwei Verantwortungskategorien zu unterscheiden. Um verantwortungsvolle Aufgaben adsoziales Konstrukt, 88). Für den Kontext dieser Untersuchung ist die begriffliche Unterscheidung wenig sachdienlich, sodass davon abgesehen wird. 640 Franz-Xaver Kaufmann: Risiko, Verantwortung und gesellschaftliche Komplexität, 95 (H. i. O.). 641 Ebd. In Hinblick auf diese offene Frage, ob in der neuzeitlichen Gesellschaftsentwicklung ein Verlust an Pflichtbewusstsein verzeichnet werden kann, der Verantwortungslosigkeit begünstigt, soll hier auf Überlegungen von Hans Werner Bierhoff hingewiesen werden. Er untersucht Verantwortung unter psychologischen Gesichtspunkten. Bierhoff nimmt in Anlehnung an Shalom H. Schwartz (ders.: Normative Influences on Altruism, in: Advances in Experimental Social Psychology 10, 221–279, 1977) an, dass Normen hinsichtlich sozialer Verantwortung durch Internalisierungsprozesse zur persönlichen Norm werden können. Demgemäß lässt sich ein Zusammenhang zwischen individuellen Persönlichkeitsmerkmalen und gesellschaftlicher Prägung herstellen (vgl. Hans Werner Bierhoff: Verantwortungsbereitschaft, -abwehr und -zuschreibung, 221). Bierhoffs Ausführungen liegen Ergebnisse eines Fragebogens zugrunde, der die individuelle Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme ermitteln soll (a. a. O., 219. Anm. 1: »Die genannten Fragestellungen beruhen auf dem Fragebogen von L. Berkowitz & K.G. Luttermann (1968). Die deutsche Übersetzung des Fragebogens wurde in einer Untersuchung, in der Ersthelfer bei Verkehrsunfällen befragt wurden, angewandt, cf. Bierhoff, Klein, Kramp 1991.«). Aussagen, zu denen sich die Probanten zwischen »stimmt« und »stimmt nicht« selbst verorten sollten, lauteten beispielsweise: »Ich gehöre zu der Art von Menschen, auf die andere sich verlassen können.« oder »Ich erledige meine Aufgaben im allgemeinen so gut ich kann.« (ebd.). Fragen dieser Art binden soziale Verantwortung an das Pflichtbewusstsein des Menschen, indem sie auf seine Bereitschaft zur Selbstverpflichtung abstellen. Die gegebenen Antworten lassen sich dahin gehend typisieren, dass sie Menschen tendenziell als zu- oder abgeneigt hinsichtlich von Verantwortungsübernahme charakterisieren. Daraus schließt Bierhoff, dass »soziale Verantwortung als Persönlichkeitsmerkmal aufgefaßt werden kann, in dem sich die Menschen systematisch unterscheiden« (a. a. O., 220). Die Neigung zur Verantwortungsübernahme gibt Aufschluss über die internalisierte Pflichtbereischaft von Menschen. Weil die personale Verschiedenheit in diesem Aspekt aber nicht (nur) auf veranlagte Wesenszüge zurückgeführt wird, sondern vornehmlich auf sozialisationsbedingte Faktoren, kann Pflichtbereitschaft gesellschaftlich begünstigt oder beeinträchtigt werden. Hinsichtlich des Verantwortungsbegriffs bedeutet dies, dass er den Pflichtbegriff zwar weitgehend ersetzt haben mag, Pflicht ihrem Inhalt nach aber nicht aus einem Verhalten herauszulösen ist, das als verantwortlich bezeichnet wird.

228

Verantwortung als Phänomen zwischen Individualität und Sozialität

äquat zu erfüllen, reicht es vielfach aus, wenn sich der Verantwortungsträger mit den Normen und Werten identifizieren kann, die für den Handlungsbereich gelten, dem seine Verantwortung zugeordnet ist. Das beinhaltet, dass dabei eine situationsspezifische Normen- und Wertorientierung des Verantwortungsträgers vorherrscht. Eine zweite Kategorie von Verantwortungssituationen verlangt es dem Verantwortungsträger hingegen ab, Gesichtspunkte zu berücksichtigen, die über den situativ unmittelbaren Verantwortungsbereich hinausgehen. Dabei können sowohl Normen und Werte aus anderen Handlungsbereichen zum Tragen kommen als auch die persönlichen Überzeugungen der verantwortlichen Person.642 Insbesondere letzterer Aspekt wird mit der Trias der Kompetenzen nicht hinreichend berücksichtigt. Die kognitiven und kommunikativen Kompetenzen ergeben sich aus dem Zusammenspiel von natürlicher Disposition und Sozialisation bzw. Bildung des Menschen. Die moralische Kompetenz kann vornehmlich als ein Produkt ethischer Formung durch die Gesellschaft angenommen werden. Sodann orientieren sich die moralische und die kommunikative Kompetenz nach außen hin, weil sich die Moral und die hier gemeinte zwischenmenschliche Kommunikation nur als Bestandteil sozialer Beziehungen sinnvoll beschreiben lassen. Die kognitive Kompetenz dient der Person hingegen dazu, die Komplexität einer Situation gedanklich zu durchdringen und sich daraufhin innerlich so zu organisieren, dass Verhaltenssicherheit gewonnen wird. Diese Sicherheit speist sich aber nicht ausschließlich aus kognitiver Klarheit. Die Fähigkeit, den Handlungswillen – auch unter dem Eindruck von Hindernissen – zu realisieren, hängt von der Selbstbestimmungskompetenz einer Person ab. Äußerlich zeigt sie sich in dem, was unter »Pflichtbewusstsein« verstanden werden kann. Dass sich ein Mensch über seine angenommene Pflicht bewusst ist, wird für Außenstehende erkennbar, indem er sein Handeln konsequent auf ein definiertes Ziel hin ausrichtet. Um sowohl dieser angenommenen äußerlich sichtbaren Pflicht als auch einer grundsätzlichen Authentizitätsverpflichtung sich selbst gegenüber gerecht werden zu können, bedarf es der Selbstbestimmungskompetenz einer Person. Sie bezieht sich insbesondere auf die persönliche Integrität eines Menschen, die nicht nur an äußeren Verpflichtungen orientiert wird, sondern auch intrapersonale Verbindlichkeiten zu berücksichtigen versucht. Glaubhaftes verantwortliches Handeln zeigt sich deshalb darin, dass es in Hinblick auf interpersonale und intrapersonale Verpflichtungen eine innere Stimmigkeit zu erzielen versucht. Rekurrierend auf die oben ausgeführte Unterscheidung von Selbst-, Fremd- und Ergebnisbezie642 Franz-Xaver Kaufmann vermutet, dass sich die Verantwortungssituationen zweiter Kategorie häufen, z. B. in Bezug auf aktuelle Themen zu »technisch induzierte[n] Großrisiken« (ders.: Risiko, Verantwortung und gesellschaftliche Komplexität, 95).

Verantwortungsethik als Sozialethik

229

hung643 kann die hier gemeinte Selbstbestimmungskompetenz folgendermaßen beschrieben werden: Durch die Fähigkeit des Menschen, sich über sich selbst bewusst zu werden, also eine Beziehung zu sich selbst aufzubauen, kann er seine eigenen Bedürfnisse und Interessen klären. Er ist dazu in der Lage, sich seine persönliche Werthierarchie zu vergegenwärtigen und zu erkennen, wie sie ihm zur individuellen Handlungsnorm wird. Diese Selbstklärung dient dazu, eine Handlungswahl zu treffen, die die Selbstbewusstheit mit Einflüssen und Ansprüchen der (sozialen) Umwelt vermittelt. Infolgedessen ist verantwortliches Handeln das Ergebnis des Versuchs, Intrapersonalität und Interpersonalität möglichst stimmig miteinander in Einklang zu bringen und eine Entscheidung selbstbestimmt, d. h. selbstverpflichtend, unter dem Eindruck von spezifischen Situationsanforderungen umzusetzen. Das Element der Selbstbestimmungskompetenz ist vor dem Hintergrund neuzeitlicher gesellschaftlicher Entwicklungen von besonderer verantwortungsethischer Relevanz. Zur Begründung dieser Annahme lässt sich die Schilderung Wolfgang Hubers hilfreich heranziehen, mit der er entwicklungslogisch beschreibt, wie der Verantwortungsethik insbesondere zwei Ethikkonzepte vorausgingen. Als ersten Ethiktyp beschreibt Huber die Gesetzesethik. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass Handlungen durch äußere Zwänge vorgeschrieben sind. Eine entsprechende soziale Umwelt dient als Kontrollinstanz dafür, dass überlieferte Normen für das Handeln des Einzelnen verbindlich werden, indem sie normgemäßes Handeln unterstützt und Übertretungen sanktioniert. Damit steht die Handlungswahl der Einzelperson unter einem äußeren Zwang. Mit dem Übergang zum zweiten Ethiktyp, der Gesinnungsethik, vollzieht sich eine Wandlung in Hinblick auf die Instanz, die den Handlungszwang ausübt. An die Stelle der äußeren Kontrolle durch soziale Zusammenhänge tritt der eigene Selbstzwang, wodurch eine Norm durch das autonome Entscheiden der Einzelperson gültig und dadurch von äußeren Abhängigkeiten weitgehend entkoppelt wird. Der Fokus erweitert sich dabei von Einzelhandlungen hin zur gesamten Lebensführung von Personen, sodass sich ethisch relevantes Fragen auf allgemeine Prinzipien des individuellen Handelns bezieht. Damit die dazugewonnene Autonomie in Handlungsentscheidungen nicht die gesellschaftliche Stabilität gefährdet, ist im Falle der Gesinnungsethik vorausgesetzt, dass relativ homogene innergesellschaftliche ethische Orientierungen vorherrschen. In der neuzeitlichen Ethik kommt der Gewissensfreiheit der Einzelperson eine noch bedeutsamere Rolle zu, weil sich ethisches Entscheiden im Vergleich zur Gesinnungsethik weiter individualisiert. Die hinzutretende sozialgesellschaftliche Komponente, die ethisches Entscheiden erheblich verkompliziert, liegt in der Pluralität verschiedenartiger Gewissensorientierungen. 643 Vgl. 2.6 Ressourcenorientierte Intervention als Angebot zur Gegensinnstiftung.

230

Verantwortung als Phänomen zwischen Individualität und Sozialität

Ein sozialer und religiöser Pluralismus bedingt, dass sich Gewissensorientierungen in so unterschiedliche Richtungen entwickeln, dass gemeinsam teilbare Prinzipien immer weniger vorausgesetzt werden können.644 Hinsichtlich des Aspekts der Selbstbestimmung des Einzelnen ergibt sich daraus eine dreifache Konsequenz: Erstens wird das freiheitliche Handeln des Einzelnen bedeutsamer. Dies kann ihm sowohl zu einem Privileg als auch zu einer Bürde werden. Zweitens bietet eine plurale Gesellschaftsstruktur eine solche Vielfalt an ethischen Orientierungsmöglichkeiten an, dass sie dem Einzelnen nicht mehr als eine eindeutige stabilisierende Größe zur Bewertung ethischer Fragen fungieren kann. Das zieht drittens nach sich, dass der Einzelne stärker auf sich selbst gewiesen ist und dafür Sorge zu tragen hat, seine Freiheit im Sinne einer person- und gesellschaftszuträglichen Art zu gestalten. Als soziales Wesen ist er zudem darauf angewiesen, nach Strukturen zu suchen, die die Ergebnisse seiner eigenen Gewissensbildung stabilisieren. Eine solche äußere Stabilität ersetzt dabei allerdings nicht die intrapersonale Festigkeit, die dazu beiträgt, eigene Gewissensüberzeugungen auch unter dem Eindruck von Widerständen und Konflikten selbstbestimmt zu vertreten. Dabei muss für sich selbst das Recht auf gewissensbestimmte Handlungsorientierung beansprucht werden, was nur dann glaubhaft zu vertreten ist, wenn anderen Gleiches zugestanden wird. Aufgrund einer zunehmenden Pluralität wird es notwendig, sich über unterschiedliche Gewissensüberzeugungen auszutauschen und nach Wegen zu suchen, um Selbstbestimmtheit und Akzeptanz situationsangemessen miteinander zu verbinden. Ein solchermaßen dialogisches Vorgehen wird umso bedeutsamer und zugleich komplexer, je stärker sich Gewissensbindungen voneinander unterscheiden. Je weniger selbstverständlich gemeinschaftlich anerkannte Handlungsprinzipien vorausgesetzt werden können, desto mehr müssen Konsense kommunikativ erarbeitet werden.645 Dahinter steht eine grundlegende Einsicht, die sich auf ein gleichberechtigtes und würdevolles Miteinander bezieht, das auch Verschiedenheiten inkludiert: Erst »wenn man die Gewissensfreiheit des anderen so ernst nimmt wie die eigene, erst wenn man die personale Verantwortung, die man selbst in Anspruch nimmt, auch dem anderen zuerkennt, hat man den Weg einer sozialen Ethik betreten, die den Namen ›Verantwortungsethik‹ verdient«646.

Wenn Verantwortung also als moralische Kategorie gedacht werden soll, ist es folgerichtig, eine Ethik der Verantwortung als Sozialethik zu entfalten, deren 644 Vgl. Wolfgang Huber : Konflikt und Konsens, 149f., Begriffe übernommen (H. z. S., WLL). 645 Vgl. a. a. O., 150. 646 A. a. O., 151.

Selbstverantwortung als Grundvoraussetzung für Verantwortung

231

notwendige Bedingung darin besteht, die Gewissensfreiheit des anderen anzuerkennen.647 Einer solchen Haltung liegt das Bewusstsein zugrunde, dass es in sozialen Zusammenhängen unvermeidbar ist, dass verschiedenartige »sinnbezogene Wirklichkeiten« aufeinandertreffen. Innere Plausibilitäten für Handlungen resultieren aus individuellen Lebenswirklichkeiten. Dies grundsätzlich anzuerkennen, bedeutet, subjektives Selbsterleben zu würdigen und damit zugleich die Person anzuerkennen, die unter dem Eindruck dieses Selbsterlebens gehandelt hat. Eigene und fremde Handlungsmotivationen als gleichwertig anzuerkennen, realisiert sich dann, wenn voneinander angenommen wird, dass Handlungsintentionen nicht nur vom eigenen Vorteilsdenken her motiviert sind. Eine Ethik der Verantwortung zeichnet sich dadurch aus, dass sie ihre eigene soziale Konstruiertheit berücksichtigt: Ihr »Thema ist die Frage nach den Möglichkeiten eines gemeinsamen Lebens, in dem Menschen das Faktum annehmen, daß sie aufeinander angewiesen sind. Ihr Thema ist die Gestaltung menschlicher Sozialität aus dem Geist der Liebe«648. Dass Verantwortung unter dieser Maßgabe übernommen wird, setzt voraus, von der eigenen Freiheit Gebrauch zu machen und sie zugleich zu begrenzen, indem sie in den Bezug zur Freiheit des anderen gestellt wird. Gesellschaftliche Funktionalität, die sozial orientiert ist, kann nur realisiert werden, wenn auf die Subjektautonomie des einzelnen Menschen gesetzt wird, der sich selbst als Gemeinschaftswesen definiert. Ob und inwieweit Selbstverantwortung deshalb als Grundvoraussetzung für Verantwortung schlechthin zu gelten hat, wird im Folgenden zu überprüfen sein.

7.3

Selbstverantwortung als Grundvoraussetzung für Verantwortung

Um die Bedeutung von Selbstverantwortung sinnvoll klären zu können, muss zunächst auf die Unterscheidung zwischen moralisch-indifferenter und moralischer Verantwortung zurückgegriffen werden. Im moralisch-indifferenten Fall lässt sich das Ausmaß von Selbstverantwortung nicht unbedingt eindeutig bestimmten, weil sich Verantwortungszuschreibungen unter dem Eindruck erhöhter lebensweltlicher Komplexität erschwert haben. Insbesondere die damit verbundenen Formen differenzierter Arbeitsteilung lassen Verantwortungsentscheidungen oftmals nicht mehr allein auf eine Einzelperson zurückführen. In Organisationszusammenhängen erfolgen Entscheidungen häufig, indem sie für den Entscheidungsträger von (mehreren) Personen vorbereitet werden. 647 Vgl. a. a. O., 137. Wolfgang Huber rekurriert hier auf den Sozialethiker Stephan Pfürtner. 648 A. a. O., 149.

232

Verantwortung als Phänomen zwischen Individualität und Sozialität

Vorgeschaltete Selektionsvorgänge dieser Art führen dann dazu, dass anschließend nicht mehr unbedingt eindeutig bestimmt werden kann, auf wie viele und auf welche Personen Entscheidungsprozesse zurückzuführen sind. Kaufmann sieht darin eine grundsätzliche »Diffusität von Verantwortungszuschreibung«, die sich überwinden lässt, »sobald wir uns von der Prämisse lösen, Verantwortung sei primär ein Problem der moralischen Selbstverpflichtung von Individuen und daher ein ethisches Problem«649. Kaufmann bezieht seine Ausführungen vornehmlich auf Verantwortung als Aufgaben- bzw. Rollenverantwortung. Er berücksichtigt dabei, dass die Selbstverpflichtung des Einzelnen dann bedeutsam wird, wenn Menschen solche Verantwortungen übernehmen, die sich nur begrenzt von außen definieren und kontrollieren lassen. Hier greift dann das, was der Autor unter Verantwortlichkeit versteht: »Verantwortlichkeit appelliert an die Selbstverpflichtung des Verantwortungsträgers im Sinne einer nicht-programmierbaren Handlungsbereitschaft.«650 Über den Begriff der Verantwortlichkeit personalisiert Kaufmann Verantwortung demnach so weit, dass die Bedeutsamkeit der Selbstverantwortung bzw. Selbstverpflichtung zutage tritt. Für die moralisch-indifferente Verantwortung, die sich vornehmlich auf Zuständigkeiten bezieht, gilt deshalb, dass die Selbstverantwortung umso bedeutsamer wird, je weniger die Zuständigkeitsbereiche reglementiert sind. In einem solchen Fall erweitern sich nämlich Handlungsspielräume, die wiederum ein breiteres Spektrum an Entscheidungsmöglichkeiten eröffnen, aus dem der Verantwortungsträger als moralisches Subjekt auswählt. Dann kommt der oben ausgeführte Zusammenhang zum Tragen, dass Moralität in moralisch-indifferenten Kontexten an Bedeutung gewinnt, wenn allgemeine Beschreibungen hinsichtlich von Zuständigkeiten nicht mehr hinreichend greifen.651 Steht die Moralität hingegen schon deshalb stärker im Vordergrund, weil der Verantwortungssachverhalt als ein moralischer es vorgibt, ist die Bedeutsamkeit von Selbstverantwortung von vornherein offensichtlicher. In solchen Fällen ist der Verantwortliche selbst stärker gefragt, Deutungsleistungen zu vollbringen, um zu Handlungsentscheidungen zu gelangen, weil sie ihm weniger von außen vorgegeben sind als wenn er Zuständigkeiten zu erfüllen hat. Wenn der moralischen Selbstverpflichtung des Verantwortungsträgers eine hohe Bedeutung zugesprochen wird, erhöht sich die Gefahr, dass die soziale Konstruiertheit von Verantwortung652 in den Hintergrund gerät. Es darf nicht dazu kommen, Verantwortung ihrer äußeren Bezüge entledigen zu wollen. Dahin gehend ist auch Pichts Kritik zu verstehen, dass es dann zu einer »Indi649 650 651 652

Beide Zitate Franz-Xaver Kaufmann: Der Ruf nach Verantwortung, 67 (H. i. O.). A. a. O., 75. Vgl. 6.2 Das Phänomen Verantwortung zwischen Entscheidung und Haftung. Vgl. Ulrich H. J. Körtner : Freiheit und Verantwortung, 103; Carl F. Graumann: Verantwortung als soziales Konstrukt, 190.

Selbstverantwortung als Grundvoraussetzung für Verantwortung

233

vidualethik« käme, die Verantwortung darauf zu beschränken versucht, dass der Mensch »vor sich selbst und für sich selbst«653 verantwortlich ist. Das Selbstsein als Instanz, auf die sich die Bezüge des »für« und des »vor« dann vornehmlich ausrichten, ist die »autonome Vernunft« des Menschen. Picht sieht im Kategorischen Imperativ Immanuel Kants die klassische Formel dafür, dass der Begriff der Verantwortung auf die autonome Vernunft zurückbezogen wird.654 Nach der oben vorgenommen entwicklungslogischen Unterscheidung zwischen Gesetzesethik, Gesinnungsethik und neuzeitlicher Ethik655 beziehen sich Pichts kritische Überlegungen auf gesinnungsethische Neigungen, die die Vormachtstellung von Selbstverantwortung herausstellen. Gegen solche Verinnerlichungstendenzen verwehrt er sich, wie im Folgenden zu exzerpieren ist. Picht argumentiert von seinem Grundgedanken der Rückverweisung her. Dieser Gedanke basiert auf der Annahme, dass von Verantwortung zu sprechen voraussetzt, Zuständigkeitsbereiche656 bestimmen zu können. Die Frage der Verantwortlichkeit klärt sich deshalb darüber, wer innerhalb des Bereichs, dem das betreffende Geschehen zuzuordnen ist, zuständig ist.657 Es wird also vom Geschehen her, der Objektebene, auf den Verantwortungsträger, die Subjektebene, geschlossen und nicht andersherum. Die Zuständigkeit einer Person ergibt sich demnach nicht aus der Person selbst heraus, sondern aus dem Zuständigkeitsbereich, dem sich ihr Handeln zuordnen lässt. Als Vorbestimmung für Pichts Argumentationsgang ist also festzuhalten, dass sich der »Inhalt der Aufgaben […] nicht aus dem souveränen Willen des Subjektes, das sich diese Aufgaben setzt [bestimmt], sondern er bestimmt sich durch die Struktur der Sachprobleme, die der jeweils Zuständige zu lösen hat, wenn er der ihm gestellten Aufgabe gerecht werden will«658.

Dementsprechend ist nicht die »Struktur des Subjektes«, sondern die »Struktur der Aufgabe«659 maßgebend dafür, von welcher Art eine Verantwortungsübernahme sein muss, damit sie den Anforderungen des jeweiligen Handlungsbereichs entspricht. Damit konstituiert die Aufgabe das Subjekt.660 Der Verantwortungsträger passt sein Handeln den zuständigkeitsbedingten Begebenheiten 653 654 655 656 657 658 659 660

Georg Picht: Wahrheit, Vernunft, Verantwortung, 321 (H. i. O.). Ebd. Vgl. 7.2 Verantwortungsethik als Sozialethik. Die Begriff »Zuständigkeitsbereich« und »Verantwortungsbereich« verwendet Georg Picht synonym (vgl. a. a. O., 336). Vgl. ebd. A. a. O., 336f. Beide Zitate a. a. O., 337. Vgl. ebd. Aus der Annahme, dass die Aufgabe das Subjekt konstituiert, folgt, dass es unterschiedlicher Subjekte bedarf, die als Träger der jeweiligen verschiedenartigen Verantwortungen fungieren können (vgl. ebd.).

234

Verantwortung als Phänomen zwischen Individualität und Sozialität

solchermaßen an, dass er damit eine Rolle erfüllt. Dabei ist »man genötigt aus sich herauszutreten; man ist beim Erfüllen der Rolle immer ein anderer als man selbst«661. Weil eine Rolle nur dann übernommen werden kann, wenn die »Haltung der Selbstvergessenheit«662 eingenommen wird, beurteilt Picht den Verantwortungsbegriff dann als verfälscht, wenn er auf die Selbstverantwortung des Menschen zurückgeführt wird.663 Diese Schlussfolgerung enthält zwei wesentliche Implikationen, die miteinander korrelieren: Erstens wird die Authentizität des Verantwortungsträgers in Frage gestellt. Die Argumentationslinie berücksichtigt nicht hinreichend, dass jede Aufgabe, die erfüllt wird, immer nur einen Teilbereich des Menschseins betreffen kann. Das bedeutet, dass sie stets vor dem Hintergrund einer ganzheitlichen persönlichen Konstitution erfolgt. Zweitens ergibt sich unter haftungsverantwortlichen Gesichtspunkten die Frage, inwieweit der Mensch tatsächlich zur Rechenschaft gezogen werden kann, wenn er lediglich eine Rolle innehatte, die sich von ihm als Person unterscheidet. Der Zusammenhang zwischen der Rolle und der Person müsste deshalb vertiefend geklärt werden. Unter der »Dialektik der Herrschaft«664 versteht Picht, dass neben der Priorität, einer Zuständigkeit zu entsprechen, die Priorität des Subjekts steht, sich selbst zu erhalten. Dies erkennt Picht insoweit an, als dass nur ein sich selbst erhaltendes Subjekt Verantwortung übernehmen kann. Unterschiedliche kollidierende Zuständigkeiten müssen von dem Verantwortungsträger so hierarchisiert werden, dass die dadurch entstehende Priorisierung klärt, gegenüber welcher Aufgabe sich der Verantwortungsträger selbstverpflichtend und im Sinne Pichts selbstvergessend einsetzt.665 Die Argumentationsführung soll erhellen, dass sich der Verantwortungsträger nur im unbedingt notwendigen Umfang auf sich selbst beziehen darf und sein Hauptaugenmerk infolgedessen darauf zu legen hat, sich der Verantwortung hinzugeben. Picht versucht also der Gefahr entgegenzuwirken, dass der Mensch, Zuständigkeiten nicht um ihrer selbst willen erfüllt und sich für sie entäußert, sondern sie zum eigenen Machtvorteil missbraucht. Denn, der »herrschende Wille versteht sich absolut. Der Bereich, für den er da sein sollte, verwandelt sich in einen Bereich, der für ihn da ist; und als die Instanz, vor der er verantwortlich sein sollte, versteht er nur noch sich selbst«666. Dadurch kann eine durch den Begriff von Selbstver661 662 663 664 665 666

A. a. O., 338. Ebd. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. a. a. O., 338f. A. a. O., 339. Dieser Gedanke muss historisch kontextualisiert werden. Georg Picht stehen diktatoriale Herrschaftsformen vor Augen, bei denen die Macht des Einzelnen über den sich selbst hingebenden Dienst dominiert: »Das totalitäre Denken jeglicher Observanz, bei

Selbstverantwortung als Grundvoraussetzung für Verantwortung

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antwortung verklausulierte Form des Egoismus entstehen, die ihrem Wesen nach einer Verantwortungslosigkeit gleichkommt. Dieser folgerichtige Gedanke muss allerdings noch weitergeführt werden als Picht selbst es tut: An dem Punkt, an dem die Gefahr des Egoismus besteht, muss eine Art von Selbstverpflichtung einsetzen, deren charakteristische Aufgabe gerade darin besteht, dass der Mensch sich selbst kontrolliert. Dazu muss er egozentrische Tendenzen im eigenen Denken und Handeln als solche erkennen, um sich ihnen gegenüber bewusst verwehren zu können. Dass Sachstrukturen die Voraussetzungen für verantwortliches Handeln vorgeben, bleibt davon unberührt. Die Subjektstruktur des Verantwortungsträgers gibt allerdings vor, inwieweit er tatsächlich dazu in der Lage und gewillt ist, den von der Sache ausgehenden Anforderungen in verantwortlicher und hingebungsvoller Weise gerecht zu werden. Das beinhaltet insbesondere, abseits von erkannten Tendenzen eines egozentrierten Handelns zu agieren. Demzufolge besteht ein unauflöslicher Zusammenhang zwischen den Sachstrukturen der Verantwortung und den Subjektstrukturen des Verantwortungsträgers. Diese Kohärenz bestätigt die Relevanz der oben ausgeführten Qualitäten des Verantwortungsträgers, denen zusätzlich die Selbstbestimmungskompetenz zugeordnet wurde.667 Im Anschluss an den skizzierten Argumentationsgang ist Picht darin zuzustimmen, dass sich die Verantwortungsart nicht vom Verantwortungsträger her bestimmen lässt, sondern die situativen Gegebenheiten Verantwortung inhaltlich generieren. Weil Verantwortung aber nicht ohne das konkrete Handeln eines Subjekts denkbar ist, bedarf es einer willentlichen Entscheidung dafür, handelnd auf den situativen Bedarf zu reagieren. Je höher dabei die subjektive Sinnhaftigkeit, desto belastbarer ist die willentliche Selbstverpflichtung hinsichtlich der Übernahme von Verantwortung. Deshalb kann der Selbstverantwortung – entgegen der Ausführungen Pichts668 – vor dem Hintergrund der Korrelation von Intrapersonalität und Interpersonalität berechtigterweise ein hoher Stellenwert eingeräumt werden. Die Selbstverantwortung ist ein Maßstab dafür, welche Verbindlichkeit der Mensch zunächst in seiner Beziehung zu sich selbst eingeht. Die intrapersonale Selbstverpflichtung zeigt sich dann nach außen hin in interpersonaler Form. Das bedeutet, dass sich in den Fremdbeziehungen rund um den Verantwortungsgegenstand die Verbindlichkeit des Verantwortungsträgers Hitler, bei Stalin, aber auch bei de Gaulle, huldigt dem Wahn, der ideale Zustand sei dann erreicht, wenn alle im Staat überhaupt mögliche Verantwortung sich aus der höchsten und alleinigen Verantwortung eines obersten Trägers der Staatsgewalt herleitet. Wäre Verantwortung immer als Selbstverantwortung zu interpretieren, so wäre diese politische Form in der Tat die reinste Verwirklichung der Struktur des Begriffs« (vgl. ebd.). 667 Vgl. 7.2 Verantwortungsethik als Sozialethik. 668 Inwieweit Georg Picht hinter die Erkenntnis Wilhelm Weischedels zurückgeht, die die Selbstverantwortung als tiefste Form von Verantwortung ausweisen, zeigt sich an späterer Stelle (vgl. 8.2 Selbstverantwortung als tiefste Verantwortungsart).

236

Verantwortung als Phänomen zwischen Individualität und Sozialität

in seiner Selbstbeziehung spiegelt. Diese Verbindlichkeit ergibt sich daraus, dass es im subjektiven Erleben, d. h. aus der eigenen »sinnbezogenen Wirklichkeit« heraus, sinnvoll erscheint, sich einer jeweiligen Verantwortung gegenüber zu verpflichten. Damit ist ausgesagt, dass Sinn Selbstverbindlichkeit generiert. Diese führt wiederum dazu, dass Verantwortung übernommen wird.669 Es bedarf also einer Sinnzuschreibung, die einen Verantwortungsbedarf solchermaßen charakterisiert, dass er mit den individuellen Eigenansprüchen einer Person kompatibel wird. Erst dadurch wird eine Verantwortungsübernahme im Selbsterleben der Person ausreichend bedeutsam. Für den Verbindlichkeitsaspekt von Verantwortung steht eine Selbstverantwortung ein, bei der sich kognitive, kommunikative und moralische Kompetenzen derart mit der Selbstbestimmungskompetenz eines Menschen verbinden, dass sich dieser der Sache der Verantwortung hingibt und dabei zugleich seine authentische Selbsterhaltung gewährleistet. Der Selbstverantwortung kommt für Verantwortung schlechthin also deshalb eine so zentrale Bedeutung zu, weil Verpflichtungen gegenüber den äußeren Geltungsansprüchen nur dann verantwortlich nachgekommen wird, wenn die entsprechenden Voraussetzungen dafür im Selbsterleben der Person geschaffen werden. Dies impliziert, dass die reine gesinnungsethische Innerlichkeit zugunsten einer Innerlichkeit überwunden wird, die für sich zwar das Recht auf Gewissensorientierung beansprucht, sich aber immer ihrer sozialethischen Bezüge bewusst bleibt. Demnach ist Selbstverantwortung dann für Verantwortung schlechthin konstitutiv, wenn sie die Selbstverpflichtungsfähigkeit des Menschen dahin gehend kontrolliert, dass insgesamt eine ausgewogene Verhältnismäßigkeit zwischen inneren und äußeren Geltungsansprüchen gewährleistet bleibt. Balanceleistungen dieser Art sind für Mediationskontexte besonders relevant. Im Folgenden wird sich konkretisieren, worin die mediative Relevanz der bisherigen Erwägungen liegt.

7.4

Zur Bedeutung von Selbstverantwortung in der Mediation

Im Zentrum der Konfliktaustragung steht der Mensch mit seinen Beziehungen. Eskalation und Deeskalation sind an das Handeln von Einzelpersonen gebunden. Weil Verhaltenssteuerung nur begrenzt von außen beeinflussbar ist und die Inhaltsverantwortung allein bei den Konfliktbeteiligten liegt, kann eine friedvolle Konfliktregulierung nur gelingen, wenn die Selbstverpflichtungsfähigkeit zu Deeskalationszwecken genutzt wird. Dies zu gewährleisten, fällt in den Bereich der Selbstverantwortung. Infolgedessen kommt zugeschriebene Verant669 Vgl. III. Zur sinnhaften Selbstbestimmung als Determinante verantwortlichen Handelns.

Zur Bedeutung von Selbstverantwortung in der Mediation

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wortung für Mediationszwecke nur so weit zum Tragen, wie sie für den Konfliktgegentand relevant ist. Wenn z. B. ein Konflikt thematisch einen Bereich tangiert, in dem es um die Führungsqualitäten einer Person geht, dann gehört zugeschriebene Verantwortung in den Bereich der Konfliktbearbeitung, weil die Führungsperson von anderen zu ihrer Aufgabe autorisiert wurde. In Hinblick auf das Mediationsergebnis ist zugeschriebene Verantwortung zweitrangig. Wenn ein Ergebnis einvernehmlich beschlossen wird, verpflichten sich alle Beteiligten ihm gegenüber freiwillig. Verantwortung lässt sich deshalb nur in dem Maße gegenseitig zuschreiben, in dem sich die Beteiligten zuvor schon eigens verpflichtet haben. Wesentlich ist also die Selbstverantwortung, die sich in der Mediation durch selbstbestimmtes Handeln ausdrückt und sich dabei sozialethisch orientiert. Nur so kann dem Wesen des Konsenses Rechnung getragen werden, das darin besteht, eigene und fremde Bedürfnisse und Interessen als gleichwertig anzuerkennen. Die Basis dieser Anerkenntnis bildet die Annahme, dass alles Handeln in der Unmittelbarkeit der (Konflikt-)Situation plausibel intendiert war. Anstatt zu bewerten, steht im Vordergrund, zu beobachten und auf der Grundlage von Beobachtungen hinsichtlich Intentionalität, Handlungsmotivation und Handlungskonsequenzen zukünftige konfliktregulierende Gestaltungsmöglichkeiten zu entwickeln.670 Die Lösung, zu der die Medianten gefunden haben, realisiert sich, wenn diese ihr Wollen, Können und Tun so zusammenschließen, dass sie ihrer selbst eingegangenen Verpflichtung verbindlich nachkommen. Für Mediation lassen sich daraus verfahrenstheoretische Rückschlüsse ziehen. Sie erklären sich von der dreifachen Beziehungshaftigkeit der Medianten her, nämlich ihrer Bereitschaft, Bewusstheit und Befähigung.671 Mediation kann nur dann wirksam sein, wenn Konfliktbeteiligte dazu bereit sind, konfliktsteigernde Eigendynamiken willentlich zu durchbrechen. Sie nehmen zur bestehenden Konfliktsituation Stellung672, indem sie sich dafür entscheiden, einen Selbstaufwand auf sich zu nehmen, um Veränderungsprozesse eigenmächtig zu gestalten. Mit dieser Entscheidung geht einher, dass sich Menschen generell darüber bewusst sind, dass sie über die Möglichkeiten verfügen, sinnvoll verantwortlich handeln zu können. Das heißt, sie sind sich darüber im Klaren, dass ihre Individualverantwortung – zumindest hinsichtlich der begrenzten Konfliktsituation – bedeutsam ist. Mit der Entscheidung, von der Möglichkeit einer Mediation Gebrauch zu machen, öffnen sie sich zugleich dafür, die Konfliktsituation gedanklich und kommunikativ zu durchdringen. Das mediative Vorge670 Vgl. 4.2 Zur Bedeutung der Mediatorenpersönlichkeit. 671 Vgl. 4.4 Zur Bedeutung der Mediantenpersönlichkeit. 672 Dabei rekurrieren Konfliktbeteiligte auf ihre anthropologische Beschaffenheit als »stellungnehmendes Wesen« (Arnold Gehlen: Der Mensch, 23; vgl. 2.4 Die Konfliktträchtigkeit des Menschen – Anthropologische Vorüberlegungen).

238

Verantwortung als Phänomen zwischen Individualität und Sozialität

hen dient dazu, die situationsbezogene Bewusstheit der Medianten dahin gehend zu erweitern, dass sie selbst neue Möglichkeiten hinsichtlich konfliktregulierenden Handelns erschließen können. Auf diese Weise greifen Bereitschaft und Bewusstheit wechselseitig ineinander. Denn für Mediation gilt ebenso wie für andere Kontexte auch, dass nur »wenn Einzelne sich entschließen, Verantwortung zu übernehmen, […] diese überhaupt als zu realisierende Möglichkeit neu entdeckt und wahrgenommen [wird]. Verantwortung erkennen und übernehmen kann nur der, welcher sich zur Verantwortung gerufen und so als ethisches Subjekt begründet weiß«673.

Vonseiten des mediativen Verfahrens muss deshalb auf die Bereitschaft und die Bewusstheit der Medianten solchermaßen geantwortet werden, dass das Verhältnis von Ausdehnung und Begrenzung der Verantwortung hinsichtlich des Konfliktgegenstands angemessen geklärt wird. Dazu wird die Komplexität realer Verhältnisse anerkannt, ohne zu beanspruchen, dass konfliktregulierendes Handeln nur dann als verantwortlich gelten kann, wenn es den Gesamtzusammenhängen größengleich ist. Dazu wird der Klärungsgegenstand innerhalb des Verfahrens einvernehmlich bestimmt und klar umgrenzt. Dies begünstigt, dass sich Unsicherheiten bezüglich zukünftigen Handelns reduzieren, weil der Grad an Konkretheit erhöht wird. Innerhalb des Verfahrens kann dann vorbereitet werden, dass »Entscheidungsverantwortung« in dem Maße übernommen wird, in dem sich die Beteiligten selbst als dazu fähig einschätzen. Das Vertrauen in die eigene Befähigung dazu, durch bewusste und willentliche Steuerung eigenen Handelns zur Regulierung der Konfliktsituation beitragen zu können, vertiefen die Konfliktpartner durch kommunikative Erfahrungen innerhalb der Mediation. Wie oben beschrieben674, macht es zwischenmenschliche Kommunikation notwendig, eigens Stellung zu beziehen und zugleich den Kommunikationspartner anzuerkennen, weil Interaktionsprozesse nur funktionieren, wenn sich Menschen aufeinander beziehen. Idealerweise wird deshalb in der Mediation kommunikativ geübt, eigene Belange selbstbestimmt auszudrücken und sich dabei willentlich so auf den anderen zu beziehen, dass für diesen die Akzeptanz auch seiner Belange ersichtlich wird.675 Schließen sich Selbstbestimmungskraft und konkrete Willensbestimmung einer Person auf diese Weise innerhalb von kommunikativen Prozessen zusammen, können sie sich umso leichter auch in Handlungszusammenhängen außerhalb des Mediationskontextes verwirklichen. Damit dies erfolgen kann, klärt die mediative Kommunikation, worin die Verantwortung konkret besteht, die von 673 Ulrich H. J. Körtner : Freiheit und Verantwortung, 106. 674 Vgl. 3.6 Kommunikation als mediatives Mittel zur Übernahme von Verantwortung. 675 Dies wird an späterer Stelle als »Moral des Sprechens« bezeichnet (vgl. 8.3 Verantwortungsethik als fragende Ethik).

Zur Bedeutung von Selbstverantwortung in der Mediation

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den Beteiligten selbst in Hinblick auf den Konfliktgegenstand gezielt übernommen werden soll. Auf diese Weise trägt das Verfahren der prinzipiellen Interpretiertheit von Verantwortung Rechnung, weil es zu Möglichkeiten des Priorisierens von Geltungsansprüchen anleitet und die Art der Verantwortungsübernahme dadurch einzelfallbezogen zuschneidet.676 Auf die beschriebene Weise kann es gelingen, zu Ergebnissen zu gelangen, die sich sowohl in Hinblick auf die situativen Gegebenheiten als auch hinsichtlich der persönlichen Grundwerte der Konfliktbeteiligten als sinnvoll und praktikabel erweisen. Im Zuge dessen, Lösungen zu entwickeln und umzusetzen, greifen moralischindifferente und moralische Verantwortungsaspekte ineinander. Das bedeutet, es geht einerseits darum, Zuständigkeiten zu klären und dabei andererseits auf die persönliche Integrität, die Subjektautonomie der Beteiligten, zu setzen. Dementsprechend stellt sich die Frage, was eine Verantwortungsübernahme auszeichnet, die die Tragfähigkeit von Ergebnissen aus Konfliktregulationsversuchen begünstigt. Für einen Antwortversuch wird Max Webers Unterscheidung zwischen Verantwortungs- und Gesinnungsethik vor dem Hintergrund ausgewählter kulturwissenschaftlicher Prämissen seines Denkens hilfreich hinzugezogen. Durch sie zeigt sich die ethische Relevanz von Verantwortung dahin gehend, gestaltend in die Wirklichkeit einzugreifen, indem Handlungsmöglichkeiten verlässlich in den Dienst von Sachangelegenheiten gestellt werden. Für den Kontext dieser Untersuchung werden diesbezügliche Anknüpfungspunkte, die Webers Ausführungen bieten, herausgestellt. Demgemäß beschränkt sich das Folgende auf ein Destillat von untersuchungsrelevanten Aspekten.677 Sie werden auf den Persönlichkeitsbegriff Webers hin verdichtet, womit eine Grundlage dafür geschaffen wird, an späterer Stelle theologische Ausdeutungen anhand des Verantwortungsbegriffs Bonhoeffers vornehmen zu können. Dieses Vorgehen dient dazu, die verantwortungsethische Bedeutung der Zentralstellung des Menschen in der Mediation vertiefend zu reflektieren. Eingangs werden einige allgemeine Vorbemerkungen vorangestellt, um besser einordnen zu können, in welche Situation hinein Weber seinen Begriff von Verantwortungsethik entfaltet.

676 Vgl. 6.2 Das Phänomen Verantwortung zwischen Entscheidung und Haftung. 677 Die folgenden Ausführungen sind darauf ausgerichtet, Anknüpfungspunkte, die das webersche Nachdenken bietet, für die spezielle Gedankenführung dieser Untersuchung fruchtbar zu machen. Dies entbindet von einer umfassenden Weberdeutung sowie einer weitreichenden historischen Kontextualisierung. Die Theorie wird dementsprechend zielgemäß entschlackt und es werden der besseren Kontextualisierung halber nur ausgewählte allgemeine Hinweise gegeben. An einigen Stellen finden sich vermehrt Zitationen, die auf Präzisierung abzielen und den originalsprachlichen Duktus mitführen sollen, der teilweise den Zeitgeist abbildet, unter dessen Eindruck die Ausführungen Max Webers zu verstehen sind.

8

Selbstverantwortung und Verantwortungsethik

8.1

Verantwortungsethik als Antwort auf konfliktträchtige Lebenswirklichkeit

An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert lässt sich eine Dynamisierung der Lebensgewohnheiten feststellen. Die Freizeit- und Reisekultur gewinnt an Bedeutung und die Angebotsvielfalt zur Lebensgestaltung weitet sich durch technische Fortschritte aus. In der Nutzung des Fahrrades spiegelt sich das in die Lebensbedingungen einziehende zunehmende Tempo ebenso wider wie in der Verfügbarkeit von Unterhaltungsmöglichkeiten wie Karussell und Kino, die dem Zeitgeist durch Beschleunigung physischen und visuellen Erlebens Rechnung tragen. Die Lebensverhältnisse stehen – vornehmlich in Großstädten – unter dem Eindruck von fortschreitender Technisierung. Veränderte Arbeits- und Freizeitbedingungen begünstigen Zerstreuungstendenzen, die sich als Reaktion auf eine Realität deuten lassen, die zunehmend sinnentleert erscheint.678 Das Ende des Ersten Weltkriegs stellt die Gesellschaft vor die Aufgabe einer grundlegenden Neuorientierung. Mit »unzulänglichen dilettantischen Kräften«, so schätzt Weber die Lage ein, geht es für die »politisch ungeschulte Nation« darum, »an die Stelle von Bismarcks Werk etwas anderes zu setzen«679. »Neue«

678 Thomas Ebers weist darauf hin, dass der »jede Tätigkeit umspannende Begriff von Zerstreuung« für die damalige Soziologie typisch gewesen sei (ders.: Schreckliche Freiheit und Verantwortung, 103). Zur Vertiefung hinsichtlich des gesellschaftlichen Lebenswandels vgl. a. a. O., 101–106. 679 Alle Zitate GPS, 449. Anfang 1919 wurde Deutschlands künftige Staatform von der Frankfurter Zeitung als Sonderdruck in der Schriftreihe Zur deutschen Revolution (Heft 2) herausgegeben. Zu seinen »Skizzen« merkt Max Weber an, dass es sich um »reine politische Gelegenheitsarbeiten ohne allen und jeden Anspruch auf ›wissenschaftliche‹ Geltung« handle. Seinen Vorbemerkungen zufolge will er zeigen, »daß eine republikanische, großdeutsche und nicht großpreußische Staatsform föderativen und dabei demokratischen Charakters nicht, wie vielfach geglaubt wird, überhaupt unmöglich ist, und die Diskussion in Fluß bringen« (a. a. O., 448).

242

Selbstverantwortung und Verantwortungsethik

politische Herausforderungen müssen bewältigt werden.680 Vor diesem Hintergrund lässt sich Webers Deutung von Verantwortungsethik den Versuchen zuordnen, eine Handlungssouveränität dort wieder herzustellen, wo die politische Situation zu gesellschaftlicher Desorientierung geführt hat.681 In Bezug auf die Wissenschaft stellt Weber zudem ein »Chaos von Wertmaßstäben teils eudämonistischer, teils ethischer Art, oft beider in unklarer Identität«682 fest. Es tritt bei dem Versuch zutage, die wissenschaftliche Literatur auf diejenigen Grundlagen hin zu überprüfen, die ihren Bewertungsmaßstäben zugrunde liegen. Weber mahnt fehlende »bewußte Selbstkontrolle«683 an, die dazu führt, dass innere Widersprüche von Urteilen, die der Wissenschaft zurecht abverlangt werden, nicht hinreichend ins Bewusstsein gelangen. Von diesem Desiderat ausgehend handele es sich tendenziell eher um eine Ausnahme, wenn »der Urteilende andere und sich selbst ins Klare setzt über den letzten subjektiven Kern seiner Urteile, eben über seine Ideale, von welchen aus er zur Beurteilung der beobachteten Vorgänge schreitet«684. Webers Einschätzung nach fehlt es also an Bewusstheit und an einem klaren Blick auf die Faktizitäten der Wirklichkeit685, der sich daran messen lassen müsste, seine eigenen Beurteilungsmaßstäbe zu durchschauen. Damit ist freigelegt, worum es Weber grundsätzlich geht: »Die Situation klar erkennen und aus Wahrhaftigkeit heraus sich bietende (Schein-)Auswege nicht beschreiten, sondern die Situation aushalten.«686 Zu dieser Situation, also zum »Schicksal unserer Zeit«, gehören Weber zufolge »Rationalisierung und Intellektualisierung«687, die zu einer »Entzauberung der Welt«688 geführt haben. Im Sinne einer klaren Situationserkenntnis gilt es anzuerkennen, dass der Mensch durch »technische Mittel und Berechnung« 680 Vgl. a. a. O., 455. 681 Vgl. Thomas Ebers: Schreckliche Freiheit und Verantwortung, 102. Ebers weist darauf hin, dass auf Martin Heidegger die philosophisch umfassendsten Bemühungen dieser Art zurückgehen. Zur Untersuchung von Christian von Krockow (Die Entscheidung, Stuttgart 1958) über Carl Schmitt, Ernst Jünger und Heidegger merkt er zudem an, dass auch Max Weber gleichermaßen unter dem Schlüsselbegriff der Entscheidung hätte analysiert werden können (vgl. ebd., Anm. 47). 682 GPS, 16 (H. i. O.). 683 Ebd. 684 Ebd. (H. i. O.). 685 Max Weber versteht Soziologie als »Wirklichkeitswissenschaft«, die dazu beitragen soll, die Wirklichkeit zu verstehen, indem sie ihr »So-und-nicht-anders-Gewordensein« erforscht (beide Zitate WL, 171). 686 Thomas Ebers: Schreckliche Freiheit und Verantwortung, 105. 687 »Rationalisierung nennt Weber jede Erweiterung des empirischen Wissens, der Prognosefähigkeit, der instrumentellen und organisatorischen Beherrschung empirischer Vorgänge« (Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, 228). 688 Alle Zitate WL, 596. Zur Vertiefung des Begriffs »Entzauberung der Welt« vgl. Joachim Vahland: Max Webers entzauberte Welt, insb. 131–156.

Verantwortungsethik als Antwort auf konfliktträchtige Lebenswirklichkeit

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grundsätzlich dazu in der Lage ist, seine eigenen Lebensbedingungen immer weiter zu durchschauen, ohne noch »zu magischen Mitteln greifen [zu müssen], um die Geister zu beherrschen oder zu erbitten«689. Eine entzauberte und intellektualisierte Welt zeichnet sich also dadurch aus, dass der Mensch »alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnung beherrschen«690 könnte. Allerdings erschließen Berechnungsmöglichkeiten dem Menschen nicht tiefere Erkenntnisse hinsichtlich des Sinns der Welt. Denn wer »– außer einigen großen Kindern, wie sie sich gerade in den Naturwissenschaften finden – glaubt heute noch, daß Erkenntnisse der Astronomie oder der Biologie oder der Physik oder der Chemie uns etwas über den Sinn der Welt, ja auch nur etwas darüber lehren könnten: auf welchem Weg man einem solchen ›Sinn‹ – wenn es ihn gibt – auf die Spur kommen könnte? Wenn irgend etwas, so sind sie geeignet, den Glauben daran: daß es so etwas wie einen ›Sinn‹ der Welt gebe, in der Wurzel absterben zu lassen! Und vollends: die Wissenschaft als Weg ›zu Gott‹? Sie, die spezifisch gottfremde Macht?«691

Auch für die Kulturwissenschaften gilt, sich grundsätzlich davon verabschieden zu müssen, zu meinen, dass es möglich wäre, die Wirklichkeit in einer »endgültigen Gliederung«692 zusammenzufassen. Die dem Wandel der Zeit unterliegenden und sich damit ständig verändernden Kulturprobleme veranlassen dauerhaft dazu, die wissenschaftliche Betrachtung anzupassen. Dazu gehört es, sich über seinen eigenen Beurteilungsstandpunkt im Klaren zu werden und ihn nicht zu verabsolutieren. Charakteristisch für Webers Denken ist demzufolge ein grundsätzlicher Perspektivismus.693 Die soziale Wirklichkeit erweist sich faktisch als so komplex, dass es nicht möglich ist, sie hinreichend realitätsnah zu beschreiben. Für kulturwissenschaftliche Bemühungen dahin gehend, die Wirklichkeit verstehend zu durchdringen, ist es deshalb geboten, zuerst Reduktionen auf Weltausschnitte vorzunehmen. Eben dadurch trägt die Kulturwissenschaft dem Umstand Rechnung, dass es ihr aufgrund der Vielfältigkeit von Kulturproblemen nicht möglich ist, ein »geschlossenes System von Begriffen«694 zu erarbeiten. Für Verstehensprozesse ist es deshalb unumgänglich, sich darüber im Klaren zu sein, dass die eigene Standpunktbestimmung aus einem Auswahlprozess re689 Beide Zitate WL, 578. 690 Ebd. (H. i. O.). Den folgerichtigen Zusammenhang zwischen »Berechenbarkeit« und »Beherrschbarkeit« hinterfragt Joachim Vahland: »Planetenbewegungen z. B. lassen sich berechnen, ohne deshalb schon beherrschbar zu sein« (Ders.: Max Webers entzauberte Welt, 148). 691 WL, 581f. (H. i. O.). 692 A. a. O., 184 (H. i. O.). 693 Vgl. Thomas Ebers: Schreckliche Freiheit und Verantwortung, 110. 694 WL, 184.

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Selbstverantwortung und Verantwortungsethik

sultiert. Aufgrund dieser Prämisse ist ein stellungnehmendes und sinnverleihendes Untersuchen der Wirklichkeit von dem zuvor gewählten Wirklichkeitsausschnitt abhängig. Es handelt sich dabei stets um eine wertbezogene Perspektive, die die Wirklichkeit konstruiert: Die »empirische Wirklichkeit ist für uns ›Kultur‹, weil und sofern wir sie mit Wertideen in Beziehung setzen; sie umfaßt diejenigen Bestandteile der Wirklichkeit, welche durch jene Beziehung für uns bedeutsam werden, und nur diese. Ein winziger Teil der jeweils betrachteten individuellen Wirklichkeit wird von unserem durch jene Wertideen bedingten Interesse gefärbt, er allein hat Bedeutung für uns, er hat sie, weil er Beziehungen aufweist, die für uns infolge ihrer Verknüpfung mit Wertideen wichtig sind«695.

Wenn jedes Ergebnis von Wirklichkeitsbetrachtung an die Beziehung zur Wirklichkeit gebunden ist, die für den Betrachtenden relevant ist, dann muss die Suche nach einer Perspektive, aus der heraus eine einheitliche Wirklichkeitsbetrachtung unabhängig vom Betrachter möglich ist, aufgegeben werden. Stattdessen gilt es, den »Perspektivismus idealtypischer Konstruktionen«696 als Implikat von Verstehens- und Sinngebungshergängen anzuerkennen und sie in ihrer Relevanz für jeweilige Wirklichkeitsdeutungen zu berücksichtigen. Es gehört also nicht zu den folgerichtigen Ergebnissen von Erforschungen, den Sinn von Weltgeschehen zu erfassen. Sinnverstehen resultiert aus Zuschreibungen, die wiederum nicht voraussetzungslos erfolgen, sondern auf der Festlegung hinsichtlich eines Untersuchungsgegenstands beruhen.697 Daneben, dass diese Grundannahme für Versuche theoretischen Weltverstehens relevant ist, hat sie auch Konsequenzen für die praktische Lebensführung des einzelnen Menschen und infolgedessen für verantwortungsethisches Handeln. In einer entzauberten Welt geht der Glaube an die Welt, als »ein gottgeordneter, also irgendwie ethisch sinnvoll orientierter Kosmos« verloren. Das bedeutet, dass der Mensch abseits von allgemeingültigen metaphysischen Welterklärungsversuchen auf sich selbst verwiesen wird. Perspektivismus und Wertepluralität offenbaren die Irrationalität der Welt als unüberwindbares Faktum. Jeden Versuch, dem »ethischen Postulat«698 einer eindeutigen Gottesordnung anzuhaften, bewertet Weber als »Schwäche« dahin gehend, »dem Schicksal der Zeit nicht in sein ernstes Antlitz blicken zu können«699. Dement695 696 697 698 699

WL, 175 (H. i. O.); vgl. Thomas Ebers: Schreckliche Freiheit und Verantwortung, 111. A. a. O., 113. Vgl. WL, 154, 175f., 597f. Beide Zitate RS, Bd. 1, 564. WL, 589. In Hinblick auf die Wissenschaft steht Max Weber eine »Professorenprophetie« vor Augen, die darauf abzielt, für Eigenurteile wissenschaftliche Legitimität zu beanspruchen, ohne kenntlich zu machen, dass es sich um einen perspektivischen Standpunkt handelt. Im politischen Sektor sind mit den »Schwachen« diejenigen am politisch linken und rechten Rand gemeint, die sich nicht damit abfinden wollen, dass die Entzauberung der

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sprechend ist die Abkehr von religiösen und geschichtsphilosophischen Sinngebungsversuchen unausweichlich, die an dem »Einen, das not tut!«700 festzuhalten versuchen. Am Ende der heilsgeschichtlichen Denktradition muss eine Ethik stehen, die sich ihrem Selbstverständnis nach dadurch auszeichnet, »wirklichkeitsgemäß« und »illusionslos« zu sein.701 Religiöse Prophetie, die darauf abzielt, den Geschichtsverlauf als sinnvolle und planmäßige Erfüllung des Gotteswillens einheitlich zu deuten, begünstigt dem weberschen Verständnis nach die Entfremdung des Menschen von der Realität.702 Indem sie vorgibt, der Welt endgültig ist und sich infolgedessen auch der Wertediskussion entziehen, die mit der Anerkenntnis unüberwindbarer ethischer Irrationalität einhergeht (vgl. Thomas Ebers: Schreckliche Freiheit und Verantwortung, 121f.). 700 WL, 589. Monotheismus gilt als »Chiffre für Eindeutigkeit« (vgl. Thomas Ebers: Schreckliche Freiheit und Verantwortung, 168). 701 Hierzu Thomas Ebers: »Der Verlust räumlicher Sicherheit ließ religionsgeschichtlich das Ausweichen in die Zeit notwendig werden. Israels Verwurzelung in der Zeit war Ergebnis der räumlichen Entwurzelung zur Zeit des Exils. [Anm. 129: Vgl. Taubes 1991, S. 12.] Der Verlust der Heimat veranlasste die Propheten dazu, ›als erste der Geschichte einen Wert‹ zu verleihen [Anm. 130: Eliade 1984, S. 117.]. Die Bundeslade als ›portatives Vaterland‹ (Heine) ist Ausdruck und Ergebnis dieser Ortlosigkeit. Die zeitliche Orientierung in der Frühaufklärung schließt an die (in jüdisch-christlicher Tradition stehende) Auffassung von der Geschichte als Heilsgeschehen an. [Anm. 131: Löwith 1979]« (ders.: Schreckliche Freiheit und Verantwortung, 124). 702 Vgl. RS, Bd. 1, 571. In diesem Zusammenhang sei auf die Kritik von Joachim Vahland an Wolfgang Schluchters Lesart hingewiesen, »deutungsgeschichtliche Entscheidungen für so etwas wie Seinsgeschick auszugeben. […] Wo Weber lediglich referierend die ›Spannung‹ zwischen konkurrierenden ›Betrachtungsweisen‹ hervorhebt, will Schluchter ihm eine Parteinahme für den exklusiven Geltungsanspruch naturwissenschaftlicher Weltdeutung zuschreiben« (Joachim Vahland: Max Webers entzauberte Welt, 144 [H. i. O.]. Die Kritik bezieht sich auf Wolfgang Schluchter : Unversöhnte Moderne, 228, wobei Schluchter als Beleg für seine Deutung RS, Bd. 1, 564 anführt). Jede wissenschaftstheoretische Beurteilung – und dies entspricht Max Webers wissenschaftlichem Selbstverständnis – muss sich ihres eigenen Standpunktes bewusst sein, von dem aus sie urteilt. In der Konsequenz bedeutet das, dass Weber selbst einen solchen Standpunkt des Wertens einnimmt. Dieser zeichnet sich aber weniger dadurch aus, sich für ein bestimmtes Sinnverstehen der Welt zu verbürgen, sondern Klarheit darüber zu verschaffen, das Weltbilder – das platonische ebenso wie das christliche – in einer rationalisierten Welt gleichberechtigt neben unzähligen anderen sinngebenden Weltverstehensversuchen zu stehen kommen müssen. Deswegen ist mit Vahland festzustellen, »daß derjenige ›subjektive Sinn‹, den der Sozialwissenschaftler – als soziologisch Handelnder – den sozial Handelnden als deren ›subjektiven Sinn‹ fingiert, unvermeidlich eine – subjektive – Beurteilung ihrer Motive wie ihrer Folgen zum Ausdruck bringt. […] Da Deutung mit Wertung einhergeht, besitzt ›Entzauberung‹ – wie bereits die Wahl der Vokabel nahelegt – eine kulturkritische Spitze, die sich gegen ein bestimmtes Weltverhalten richtet, und zwar gegen jenes, das der wahren Natur des Menschen, seinem Subjektsein widerspreche. Und da der Entzauberungsprozeß durch das intellektuelle Bedürfnis nach ›Sinn‹, das Bedürfnis zu ›verstehen‹ ausgelöst wurde – ein Bedürfnis nach konstituiertem, also selbsterzeugtem Sinn, das sich gegen objektiverhafteten Sinn der Tradition richtet –, kann es sich auch nur um eine Form von Intellektuellenkritik handeln« (Joachim Vahland: Max Webers entzauberte Welt, 144f. [H. i. O.]). Zugleich aber muss konstatiert werden, dass der Zusammenhang zwischen Berechenbarkeit und Beherrsch-

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Welt einen eindeutigen Sinn geben zu können, entbindet sie den Einzelnen von seiner Verantwortung. Sie lässt Individualhandeln als grundsätzlich sinnlos erscheinen und bietet dem Menschen dadurch eine Scheinbegründung dafür an, auf Wirklichkeitsgestaltung zu verzichten. Mit diesem Versuch, eine Illusion von Wirklichkeitseindeutigkeit aufrecht zu erhalten, wird Wirklichkeisflucht begünstigt. Um dieser Tendenz entgegenzuwirken ist es unumgänglich, die Perspektivität anzuerkennen, die Wahrheitsbewusstsein als subjektiv aufdeckt. Zur Erkenntnis der Lage gehört es also, sich darüber klar zu werden, dass der Polytheismus in neuer Form zurückgekehrt ist: »Die alten vielen Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf.«703 Die Göttermetaphorik bezieht sich darauf, dass vielfältige von auf den okzidentalen Rationalismus zurückzuführende Erscheinungen permanent miteinander konkurrieren und unversöhnliche Geltungsansprüche erheben. Diese miteinander konkurrierenden Ausdifferenzierungen sind gesellschaftlicher, kultureller und persönlicher Art.704 Jürgen Habermas unterscheidet diese Bereiche als »drei Wertsphären, die jeweils einer eigenen Logik folgen«705. Es bestehen also »innere Eigengesetzlichkeiten«706, die es verunmöglichen, einheitliche gesellschaftliche Werte vernunftgemäß zu sichern. Die Herausforderung, die sich dadurch für den modernen Menschen ergibt, besteht darin, »einem solchen Alltag gewachsen zu sein«707. Darauf zu hoffen, dass die verloren Einheit durch einen »Führer«708 – z. B. in Professorengestalt – wieder hergestellt werden könnte, ist nichts weiter als ein Scheinweg, der ver-

703 704

705 706 707 708

barkeit, den Weber aufmacht, um einen Paradigmenwechsel aufzuzeigen, auf einen echten Fortschritt hinweist, weil sich magische Erklärungsversuche dadurch als tatsächlich überholt erweisen. Es muss also angefragt werden, inwieweit doch »von einer ontologischen Überlegenheit des wissenschaftlichen Paradigmas gegenüber dem magischen auszugehen« (a. a. O., 148) ist. Die Diskussion um den skizzierten Aspekt der Weberdeutung zeigt exemplarisch auf, was unter der unauflöslichen Paradoxie zu verstehen ist, die sich unweigerlich ergibt, wenn unterschiedliche Wertsphären (s. Einordnungen im Folgenden) einander mit unvereinbaren Geltungsansprüchen gegenüberstehen, die sich nicht rational priorisieren lassen (vgl. a. a. O., 151). WL, 589. Dass sich das kapitalistische Wirtschaften und der moderne Staat ausdifferenziert haben, bedingt die Modernisierungstendenzen der gesellschaftlichen Wertsphäre. Kulturelle Ausdifferenzierungen bestehen darin, dass einheitliche religiöse Weltbilder in einen wissenschaftlichen und technischen Bereich aufgesplittert werden, in einen der autonomen Kunst sowie in einen Sektor, dem sich religiös verankerte ethische Prinzipien zuordnen lassen. Hinsichtlich der Persönlichkeitssphäre zeigen sich die Ausdifferenzierungen als methodische Lebensführung (vgl. Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, 226–239; s. a. Annelore Siller : Kirche für die Welt, 65). Jürgen Habermas: Theorie kommunikativen Handelns, Bd. 1, 234 (H. i. O.). Ebd. WL, 589. Ebd. (H. i. O.).

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gebens einzuschlagen versucht wird. Infolgedessen ist es unumgänglich, die Situation auszuhalten und sich darüber bewusst zu werden, dass Anpassung zugunsten von Kampf aufgegeben werden muss.709 Dieser Kampf kann ein »inneres Ringen innerhalb der Seele des Einzelnen selbst mit sich selbst bedeuten – stets ist er da, und oft um so folgenreicher, je weniger er bemerkt wird, je mehr sein Verlauf die Form stumpfen oder bequemen Geschehenlassens oder illusionistischen Selbstbetrugs annimmt«710.

Weber fordert also bewusste Selbstpositionierung ein. Es gilt, die Rationalisierung der äußeren Welt innerlich zu spiegeln, indem ein eigener Standpunkt bezogen wird. Dieser zeichnet sich dadurch aus, dass er auf Klarheit darüber beruht, dass sich die Spannungen zwischen innerem Wollen und der erkannten Irrationalität äußerer Umstände nicht kompromisslos auflösen lassen.711 Die Kampfesmetapher verweist also auf einen grundsätzlichen Widerstreit, einen »entscheidungsoffenen, jeweils neu auszutragenden Antagonismus«712, über den sich der moderne Mensch in einer rationalisierten Welt bewusst sein und mit ihm umgehen können muss. Webers Verantwortungsethik kann als eine von diesen Vorannahmen ausgehende »angemessene Handlungsorientierung in der entzauberten Welt«713 gelesen werden. Die Grundtendenzen der modernen Wirklichkeitswelt, auf die Weber damit antworten will, lassen sich nach Habermas auf die beiden Thesen vom Sinnverlust und Freiheitsverlust hin komprimieren. Erstens bedingen zunehmend ausdifferenzierte und arbeitsteilig erfolgende Prozesse, dass die dadurch vorherrschenden Systemgrenzen Gestaltungsmöglichkeiten einzuschränken scheinen. Neben einseitigen Lebensstilen hat dies einen grundlegenden Sinnverlust zur Folge. Zweitens führen die Vormachtstellung des kapitalistischen Wirtschaftens gegenüber anderen gesellschaftlichen Teilsystemen sowie zunehmende Bürokratisierungstendenzen der politischen Öffentlichkeit dazu, dass sich ein Freiheitsverlust einstellt.714 Vor diesem Hintergrund zeichnet sich verantwortungsethisches Handeln dadurch aus, dass es sich dem drohenden Verlust von Sinn und Freiheit entgegenstellt. Dabei zieht es die Realitäten einer entzauberten, von Sinnverlust geprägten Welt mit ins Kalkül. Zudem antwortet ein solches Handeln auf den drohenden Freiheitsverlust, 709 Vgl. a. a. O., 503. 710 Ebd. 711 Vgl. Wolfgang Schluchter : Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus, 35. Dazu weist Schluchter auf folgende Interpretation hin: Dieter Henrich: Die Einheit der Wissenschaftslehre Max Webers, Tübingen 1952. 712 Joachim Vahland: Max Webers entzauberte Welt, 156. 713 Thomas Ebers: Schreckliche Freiheit und Verantwortung, 109. 714 Vgl. Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, 332–345 sowie Bd. 2, 470–488; s. a. Thomas Ebers: Schreckliche Freiheit und Verantwortung, 110.

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indem es sich nicht der Möglichkeit dessen berauben lassen will, gestaltend in die Wirklichkeit einzugreifen.715 Dies zeichnet die Grundrichtung einer Verantwortungsethik aus, die Weber – von einer Gesinnungsethik abgrenzend – in seinem Vortrag zu Jahresbeginn 1919 und in der bald darauf veröffentlichten erweiterten Schrift Politik als Beruf716 beschreibt. Die von ihm darin ausgeführten politischen Forderungen beziehen sich darauf, dass sich eine deutsche Führungselite zu entwickeln habe, die sich nicht mehr als Teil eines Verwaltungsapparates versteht. Das Beamtentum zeichnet sich nämlich gerade dadurch aus, dass tatsächliche Machtansprüche hinter Bürokratisierung und Treuepflicht gegenüber dem Dienstherrn zurückstehen. Auch stehen Weber die »politischen Propheten« auf den äußeren rechten und linken Flügeln des politischen Spektrums vor Augen, die sich um ihrer Gesinnungstreue willen gegen wirklichkeitsgemäße politische Maßnahmen verwehren. In beiden Fällen fehlt es an einer Regierungsverantwortung, die sich durch das tatsächliche Ringen um Macht auszeichnet, um dadurch gestaltend auf die gesellschaftliche Realität einwirken zu können.717 Die Ausführungen Webers kennzeichnet, dass sie einerseits konkret in den politischen Kontext ihrer Zeit hineinweisen. Dabei kommen in ihnen andererseits persönlichkeitstheoretische Aspekte solchermaßen zum Tragen, dass es kaum verwundert, dass der Verantwortungsbegriff damit in die ethische Diskussion eingeführt wurde und zunehmend den Pflichtbegriff ersetzte.718 Vor dem Hintergrund der ihren Grundzügen nach dargelegten Gegenwarts715 Vgl. a. a. O., 131. 716 Die Ausführungen Max Webers beziehen sich titelgemäß auf die Verantwortung eines Politikers. Dazu unterscheidet er zwischen drei verschiedenartigen Gründen zur Legitimierung einer politischen, staatserhaltenden Macht: Erstens die »Autorität des ›ewig Gestrigen‹«, also die Grundlage eines Patriarchats, einer Herrschaft, die sich aus traditionellen, gewohnheitsmäßigen Einstellungen heraus ergibt. Zweitens die »außeralltägliche, persönliche Gnadengabe« als eine Form charismatischer Führung, die sich durch persönliche Hingabe an das Ethos des Politischen auszeichnet. Drittens die »Herrschaft kraft ›Legitimität‹« als eine Herrschaftsform, die aus dem Glauben an die Geltung von Satzungen hervorgeht (alle Zitate GPS, 507f.). Weber zufolge »wurzelt der Gedanke des Berufs in seiner höchsten Ausprägung« (a. a. O., 508 [H. i. O.]) in der zweiten der genannten Herrschaftsformen. Seine Reflexionen beziehen sich deshalb auf denjenigen, der sich mit Hingabe und hoher intrinsischer Motivation seinem Herrschaftsauftrag widmet. Andere lassen sich von ihm führen, weil sie ihn als »innerlich ›berufene[n]‹ Leiter der Menschen« (ebd.) anerkennen. 717 Nach Max Weber bedarf es einer entsprechenden Bewusstheit hinsichtlich der Potenzialität von politischer Macht, um sie tatsächlich anzustreben. Erst dann, wenn Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Einflussnahme erkannt werden, lässt sich konkret darauf schließen, wie Gestaltungspotenziale durch verantwortliches politisches Handeln zielgerichtet ausgeschöpft werden können (vgl. GPS, 545; s. a. 519f.). Vertiefend zur historischen Kontextualisierung vgl. Christian von Krockow u. a.: Politik als Kampf, 25, 29ff., 36. 718 Vgl. Ulrich H. J. Körtner : Freiheit und Verantwortung, 101.

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analyse Webers lässt sich Verantwortungsethik in Abgrenzung zu einer Gesinnungsethik beschreiben, die sich dadurch auszeichnet, »prinzipiengeleitet und universalistisch«719 zu sein. Eine gesinnungsethische, auf Prinzipientreue ausgerichtete Handlungsausrichtung setzt »logische und spekulative Arbeit« voraus, durch die »metaphysische Dogmatiken«720 produziert werden. Dadurch entstehen gedankliche Konstruktionen von der Wirklichkeit und idealtypische Überlegungen dahin gehend, wie ein Handeln in einer solchermaßen erdachten Wirklichkeit aussehen müsste. Wenn dann »die Folgen einer aus reiner Gesinnung fließenden Handlung üble sind, so gilt ihm [einem überzeugten gesinnungsethischen Syndikalisten] nicht der Handelnde, sondern die Welt dafür verantwortlich, die Dummheit der anderen Menschen oder – der Wille des Gottes, der sie so schuf«721.

Gesinnungsethisches Handeln folgt also Grundideen, die nicht daran gemessen werden, in welchem Maße sie tatsächlich realitätskompatibel sind. Mit dem Ziel, die Reinheit der eigenen Gesinnung zu bewahren, überschreibt eine gedankliche Konstruktion von Wirklichkeit die tatsächliche Wirklichkeit. Infolgedessen wird es nachrangig, situationsangemessen zu handeln, wodurch eine grundsätzliche Abkehr von der Wirklichkeit begünstigt wird. Das schließt auch die programmatische Rücksichtslosigkeit den Handlungsfolgen gegenüber mit ein.722 Eine konsequent gesinnungsethische Handlungsausrichtung muss sich nämlich ihrer eindeutigen Eigengesetzlichkeit verschreiben, indem sie sich für ihre Ideale verbürgt. Sie folgt dann einer inneren Eigenlogik, die darin besteht, dass sich die Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit darauf beschränken kann, sie innerlich und damit hypothetisch zu führen.723 Sich der Multi-Dimensionalität der Wirklichkeit zu stellen, würde hingegen bedeuten, das »Heil der Seele« zu gefährden. Rein gesinnungsethischem Handeln, dem die Bewusstheit über die Faktizitäten der Wirklichkeit fehlt, fehlt auch die »Verantwortung für die Folgen«. Der inneren Eigenlogik des Handelnden bleiben »jene diabolischen Mächte, die im Spiel sind, unbewußt«724, was zu einer grundsätzlichen Diskrepanz zwischen der ideologisierten und der tatsächlichen Wirklichkeit führt. Infolgedessen ist dem Gesinnungsethiker die »ethische Irrationalität der Welt«725 unerträglich, weil sie die Annahme, »daß aus Gutem nur Gutes, aus Bösem nur Böses kommen könne«726 als illusionär entlarvt. Der religionskritische Duktus, 719 720 721 722 723 724 725 726

Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, 232 (H. i. O.). Beide Zitate Wolfgang Schluchter : Religion und Lebensführung, Bd. 1, 223. GPS, 552. Vgl. a. a. O., 548ff. Vgl. Wolfgang Schluchter : Religion und Lebensführung, Bd. 1, 260. Alle Zitate GPS, 558. A. a. O., 553. A. a. O., 554; vgl. Christian von Krockow u. a.: Politik als Kampf, 38f.

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der in Webers Gesinnungsbegriff angelegt ist, bezieht sich auf diesen simplifizierenden Kausalitätszusammenhang. Unter einem religiösen Postulat kann der Eindruck entstehen, dass es den einen auf ein Heilsziel ausgerichteten Handlungsweg gibt, der stringent und infolgedessen kompromisslos verfolgt werden muss, um das Gesollte zu erfüllen.727 Eine Vorherbestimmung des Gesollten begründet zudem, dass handelndes Eingreifen in die Wirklichkeit zu Gestaltungszwecken nur begrenzt oder gar nicht sinnvoll ist. Demgegenüber zeichnet sich Verantwortungsethik durch ein grundsätzliches »Dennoch« aus. Ihr gemäßes Handeln gründet darauf, die tatsächlichen Realitäten als für Abwägungsprozesse entscheidenden Orientierungspunkt anzuerkennen. Im Gegensatz zu einer Gesinnungsethik, deren innere Eigenlogik sich auf Denkprozesse begrenzen kann, ist es für Verantwortungsethik unerlässlich, sich tatsächlich mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen. Handlungsmöglichkeiten werden solchermaßen mit der Realität in Beziehung gesetzt, dass sich zeigt, inwieweit sie wirklichkeitskompatibel sind.728 Unter verantwortungsethischen Gesichtspunkten ist es deshalb nicht nur zulässig, sondern geradezu geboten, Gesinnungsaspekte zu diskutieren, Kompromisse einzugehen, Moralitätsvorstellungen in Relationen zu setzen sowie Werte- und Pflichtenkonflikte auszutragen. Die »ethische Irrationalität der Welt«729 muss also samt der aus ihr resultierenden unauflöslichen Paradoxien mit einkalkuliert werden. Der Verantwortungsethiker rechnet demzufolge auch mit den »durchschnittlichen Defekten der Menschen«. Er beansprucht nicht das Recht, »ihre Güte und Voll727 Wolfgang Schluchter fasst dies begrifflich unter »prinzipielle Systematisierung des Gesollten« (ders.: Religion und Lebensführung, Bd. 1, 222 [H. i. O.]). Die »absolute Ethik des Evangeliums« zeigt nach Max Weber die konsequente Monokausalität zwischen der Güte von Mittel und Zweck auf, denn hier gelte: »Wer zum Schwert greift, wird durch das Schwert umkommen«. Solchermaßen sei es auch mit der Bergpredigt »eine ernstere Sache, als die glauben, die diese Gebote heute gern zitieren. Mit ihr ist nicht zu spaßen. Von ihr gilt, was man von der Kausalität in der Wissenschaft gesagt hat: sie ist kein Fiaker, den man beliebig halten lassen kann, um nach Befinden ein- und auszusteigen. Sondern: ganz oder gar nicht, das gerade ist ihr Sinn, wenn etwas anderes als Trivialitäten herauskommen soll« (alle Zitate GPS, 550 [H. i. O.]). Weber beschreibt Gesinnungsethik also als eine Ethik, die die Güte einer Handlung ausschließlich daran überprüft, inwieweit sie mit moralischen Pflichten übereinstimmt, wodurch die konkreten Handlungsfolgen in den Hintergrund rücken. Dabei stehen ihm die protestantische und die kantische Pflichtmoral vor Augen (vgl. FranzXaver Kaufmann: Risiko, Verantwortung und gesellschaftliche Komplexität, 86). Dass die Schlussfolgerung, religiöse Ethik sei streng gesinnungsethisch, vordergründig ist, wird an späterer Stelle anhand der vertiefenden theologischen Reflexion des Verantwortungsbegriffs aufzuzeigen sein (vgl. 10 Das »Gute« als Sein in der Wirklichkeit). 728 Hierzu Wolfgang Schluchter : »In Abwandlung einer von Weber immer wieder gebrauchten Maxime Goethes kann man formulieren: Wie kannst du deine Gesinnung selbst kennenlernen? Durch Betrachten niemals. Setze sie einer Wertediskussion aus, und du weißt gleich, was an ihr ist« (ders.: Religion und Lebensführung, Bd. 1, 260). 729 GPS, 553.

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kommenheit vorauszusetzen, er fühlt sich nicht in der Lage, die Folgen eigenen Tuns, soweit er sie voraussehen konnte, auf andere abzuwälzen. Er wird sagen: diese Folgen werden meinem Tun zugerechnet«730. Er gibt sich nicht der Illusion hin, die Bedingungen der Wirklichkeit durch sein Handeln beeinflussen zu können. Ihm geht es darum, vorhandene Gestaltungsmöglichkeiten unter »Anerkenntnis des faktischen Lebens«731 situationsangemessen zu nutzen. Sich dem Absolutheitsanspruch einer Gesinnung zu verwehren, bedeutet im Umkehrschluss jedoch nicht, dass »Verantwortungsethik mit Gesinnungslosigkeit identisch wäre«732. Eine sittliche Gesinnung verleiht einem verantwortungsethischen Handeln eine Richtung, ohne dass ihr unbesehen gefolgt wird. Das 730 Beide Zitate a. a. O., 552. 731 Walter Schulz: Max Webers Begriff der Verantwortungsethik, 93. 732 GPS, 551. Max Weber unterscheidet die beiden Ethiktypen zunächst grundsätzlich voneinander : »Wir müssen uns klarmachen, daß alles ethisch orientierte Handeln unter zwei voneinander grundverschiedenen, unaustragbar gegensätzlichen Maximen stehen kann: es kann ›gesinnungsethisch‹ oder ›verantwortungsethisch‹ orientiert sein« (ebd.). Wenig später folgt der hier zitierte Hinweis, dass dies aber nicht bedeute, dass Gesinnungsethik Verantwortungslosigkeit entspräche und Verantwortungsethik Gesinnungslosigkeit. Es ist folgerichtig, die komplementäre Auslegung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik als eine fragwürdige Alternative diskutieren zu können. In Diskursen zu diesem Aspekt dominieren deshalb Versuche, die theoretischen Vorannahmen Webers daraufhin zu untersuchen, inwieweit sie berücksichtigen, dass keine der beiden Ethikformen ohne die jeweils andere auskommt (vgl. etwa Karl-Heinz Nusser : Kausale Prozesse und sinnerfassende Vernunft, 139ff.; Wolfgang Wieland: Verantwortung – Prinzip oder Ethik?, 8ff.; HansRichard Reuter: Verantwortung, 302; Kari Palonen: Eine Lobrede für Politiker, 116ff.; Wolfgang Huber : Konflikt und Konsens, 138; Martin Honecker : Wege evangelische Ethik, 236f.). Die argumentative Inkonsistenz lässt sich auf unterschiedliche begriffliche Verwendungsarten durch Weber selbst zurückführen. Sie voneinander zu unterscheiden, erhellt Möglichkeiten zu einer konsistenteren Verhältnisbestimmung der beiden Ethiken. Die Begriffe »Gesinnungsethik« und »Verantwortungsethik« idealtypisch zu verwenden, zieht nach sich, dass die Ethiken grundsätzlich unvereinbar sind. Werden sie hingegen normativ eingesetzt, ergänzen sie sich sinnvoll und können ihren jeweiligen Perspektiven entsprechend die Komplexität von Wirklichkeitszusammenhängen unterschiedlich richtungweisend beleuchten (vgl. Analyse von Wolfgang Schluchter in ders.: Religion und Lebensführung, Bd. 1, 195–200, insb. 199). Nach einem normativen Verständnis bestehen die Ethikformen dann als »unterschiedliche Akzentuierungen desselben ethischen Problems« (Karl-Heinz Nusser : Kausale Prozesse und sinnerfassende Vernunft, 145, s. a. 157) nebeneinander. Folgender historisierender Hinweis von Franz-Xaver Kaufmann kann ergänzend zu dieser begrifflichen Differenzierung gelesen werden: »Ältere ethische Diskurse sahen noch nicht die Spannung, die zwischen einer Pflichtenorientierung und einer Folgenorientierung des Handelns auftreten kann« (ders.: Risiko, Verantwortung und gesellschaftliche Komplexität, 86 [H. i. O.]; vgl. ders.: Der Ruf nach Verantwortung, 26). Verantwortungsethik von Gesinnungsethik zu unterscheiden, trägt deshalb dem Sachverhalt der zunehmenden lebensweltlichen Komplexität Rechnung, unter deren Eindruck es unzureichend ist, »Pflichten« zu erfüllen, weil diese miteinander in einem unauflöslichen Konflikt stehen (vgl. ders.: Risiko, Verantwortung und gesellschaftliche Komplexität, 86). Eben dadurch grenzt sich Verantwortungsethik von früheren Ethiken ab, die sich auf überblickbare Handlungsradien bezogen.

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beinhaltet, die Gesinnung selbst zum Reflexionsgegenstand zu erheben und einzukalkulieren, dass die Güte von Handlungsintentionen nicht notwendigerweise mit der Güte der daraus resultierenden Folgen übereinstimmt. Insgesamt zeichnet sich verantwortungsethisches Handeln also dadurch aus, dass es einer sittlichen Gesinnung entspringt, auf der Antizipation möglicher Folgen beruht733 und die tatsächlichen Handlungsfolgen selbst mit einschließt. Zum Abschluss der komprimierten Betrachtung zur Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik lässt sich festhalten, dass Weber die Verantwortungsethik als eine »konfligierende, Wertsphären umfassende Ethikkonzeption«734 entfaltet. Diese zielt darauf ab, die Prinzipien und die Bedingungen von Handlungen miteinander in Beziehung zu setzen und sich den irrationalen Realitäten anerkennend zu stellen.735 Praktikable Handlungsentscheidungen generieren sich aus der Analyse der realen Situation. Dazu muss der verantwortungsethisch Handelnde gewährleisten, sowohl die Wirklichkeit als auch seinen eigenen Standpunkt, von dem aus er die Wirklichkeit beurteilt, zu reflektieren. Verantwortungsethik zielt also auf die möglichst breit gefächerte Bewusstwerdung derjenigen Komponenten ab, die für Handlungsentscheidungen und -durchführungen bedeutsam sind. Dazu gehört es, sich über Ziele, zweckdienliche Mittel und potenzielle Handlungsfolgen nicht nur klar zu werden, sondern diese auch konsequent in Kauf nehmen zu wollen, und zwar unabhängig davon, inwieweit sich die tatsächliche Tragweite des Handelns prospektiv abschätzen lässt.736 Das verantwortungsethische Konzept antwortet nicht hinreichend auf die inhaltliche Frage danach, was zu tun ist. Dies hängt mit der prinzipiellen Interpretiertheit von Verantwortung zusammen. Wolfgang Wieland bezeichnet Verantwortungsethik deshalb als eine »Ethik der zweiten Linie«737. Sie hat Regulationsfunktion hinsichtlich von Lebens- und Sachbereichen, die als inhaltlich abgrenzbare Kontexte moralische Prinzipien vorgeben. Infolgedessen kann und muss Verantwortungsethik ihre eigene gesinnungsethische Regulierung nicht aus sich selbst heraus begründen.738 Daraus ergeben sich zwei zentrale Probleme: Wenn eine ethische Korrektur ausbleibt, besteht erstens die Gefahr, dass Handlungen an beliebigen Regeln ausgerichtet werden, die nicht unbedingt moralisch sein müssen. Weil sich verantwortungsethisches Handeln nicht eindeutig normativ orientieren kann, ist es zweitens unumgänglich, das Hand733 734 735 736 737 738

Vgl. Wolfgang Schluchter : Religion und Lebensführung, Bd. 1, 252. Thomas Ebers: Schreckliche Freiheit und Verantwortung, 146. Vgl. Wolfgang Huber : Konflikt und Konsens, 139. Vgl. Wolfgang Wieland: Verantwortung – Prinzip der Ethik?, 98f. A. a. O., 95. Vgl. Kurt Bayertz: Eine kurze Geschichte der Herkunft der Verantwortung, 65; Wolfgang Wieland: Verantwortung – Prinzip der Ethik?, 94, 96.

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lungsentscheidungen die Bereitschaft des Verantwortungsträgers beinhalten, schuldig zu werden.739 Gilt Schuldübernahme allerdings als unvermeidbar, gefährdet dies prinzipiell die moralische Integrität der handelnden Person. Außerdem liegt es nahe, Schuldigkeiten mit ihrer verantwortungsethisch begründbaren Unvermeidbarkeit rechtfertigen zu wollen.740 Obschon die Gefahren der genannten Konsequenzen nicht leugbar sind, bleibt es doch unumgänglich, sie in Kauf zu nehmen, wenn es sich bei Verantwortungsethik um einen konsequenten Antwortversuch auf Sinn- und Freiheitsverlust handeln soll. Nur ein Raum, der Gestaltungsmöglichkeiten gerade dadurch eröffnet, dass er ethisch unreglementiert ist, ermöglicht es auch, tatsächliche Handlungssouveränität zurückzuerlangen. Die Freiheit, aus der sich die genannten Probleme ergeben, ist also die gleiche Freiheit, die subjektive Sinnstiftung erst zulässt. In welcher Art von dieser Freiheit Gebrauch gemacht wird, steht in einem Zusammenhang mit den Qualitäten des Menschseins, die in Webers Ausführungen immer wieder aufscheinen. Zwar entfaltet Weber seine verantwortungsethischen Grundannahmen für den Bereich des Politischen, aber sie gelten nicht nur hier. Er erkennt, dass die sinn- und freiheitsreduzierenden Entwicklungen seiner Zeit politisch besonders deutlich hervortreten, während sie in anderen Lebensbereichen weniger offensichtlich sind.741 Deshalb lassen sich seine Überlegungen begründet auch auf allgemeine Implikationen seines Persönlichkeitsbegriffs742 hin überprüfen und damit für andere Lebenszusammenhänge fruchtbar machen. Die grundsätzliche Haltung des modernen Menschen, die Weber vor Augen steht, zeichnet sich dadurch aus, den ethischen Irrationalitäten der Wirklichkeit innerlich gewachsen zu sein. Sie ist nicht ohne eigenes Zutun natürlicherweise schon vorhanden, sondern reift durch die Auseinandersetzung mit den Faktizitäten der Realität heran und muss dadurch errungen werden.743 Ein solches Ringen ist allerdings nur denkbar, wenn von einer Zirkularität ausgegangen wird. Freiheitsverlust begünstigt Persönlichkeitsverlust, weil sich die Entfaltungs- und Gestaltungsmöglichkeiten von Personen einschränken. Um gegen diesen Freiheitsverlust vorgehen zu können, bedarf es wiederum einer persönlichen 739 Zur Bereitschaft der Schuldübernahme als Implikat verantwortlichen Handelns aus theologischer Perspektive vgl. 12.3 Das Wagnis des Handelns und die Bereitschaft zur Schuldübernahme. 740 Vgl. Thomas Ebers: Schreckliche Freiheit und Verantwortung, 146, 170f. Ebers sieht hierin eine Bruchstelle des Verantwortungsbegriffs (vgl. a. a. O., 186). 741 Vgl. Wolfgang Wieland: Verantwortung – Prinzip der Ethik?, 16f.; Thomas Ebers: Schreckliche Freiheit und Verantwortung, 164. 742 Thomas Ebers weist darauf hin, dass der Persönlichkeitsbegriff Max Webers von dessen Kritik an anderen Persönlichkeitsbegriffen her rekonstruiert werden muss, weil sich bei Weber selbst keine Persönlichkeitstheorie vorfinden lässt (vgl. ebd.). 743 Vgl. ebd.

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Durchsetzungskraft, mit der sich neue freiheitliche Möglichkeiten erschließen und gestalten lassen. Deshalb ist Verantwortungsethik auch so konzipiert, dass sie gegen Freiheits- und Sinnverlust aufbegehrt, denen sich der Mensch in Anbetracht der ihn umgebenen gesellschaftlichen Realitäten gegenübergestellt sieht. In Anbetracht dieser Tatsache verwundert es kaum, dass sich dort, wo in Webers Entwurf des Vortrags Politik als Beruf später von »Verantwortungsethik« die Rede ist, zunächst der Begriff »Machtethik« vorfinden lässt.744 Er steht den Ohnmachtstendenzen terminologisch entgegen. Gemeint ist nicht eine Macht um ihrer selbst willen, sondern ein Machtverständnis im Sinne von einer Handlungsmacht, die dazu befähigt, Gestaltungskräfte in den Dienst einer Sachangelegenheit zu stellen, um sie dadurch zum Erfolg zu führen. Die Komplementarität zwischen einer solchen Macht und dem Kampf, zu dem Weber in einer sinnentleerten und vom Polytheismus der Werte gezeichneten Welt aufruft, ist evident. Es bedarf einer klaren Erkenntnis der Lage und des Willens, die eigene Ohnmacht zu überwinden, um gestaltend in Geschehnisse eingreifen zu können. Das bedeutet: »Jener, der mit dem Sinnverlust rechnet, ist allein derjenige, der sich die Gestaltungsmöglichkeit offen hält. Und umgekehrt gilt, dass der, der gestalten will, mit der Sinnlosigkeit der Welt rechnen muss.«745 Sich über die Verhältnisse der Welt aufzuklären, geht entsprechend eng damit einher, sich über sich selbst aufzuklären. Die Rationalisierung der äußeren Welt hat darin ihre Entsprechung im Bereich der Innerlichkeit des verantwortlichen Menschen. Entscheidungen darüber, welche Mittel in welcher Weise eingesetzt werden, auf welche Ziele hin Handlungen auszurichten sind und an welchen Werten es sich dabei zu orientieren gilt, sind von einer rationalen Nüchternheit geprägt, die es dem Menschen erlaubt, seine »natürliche Triebhaftigkeit«746 zu beherrschen.747 In Politik als Beruf nennt Weber drei Qualitäten des Berufspolitikers, die diesen dazu befähigen, seiner politischen Macht und der mit ihr einhergehenden Verantwortung gerecht werden zu können. Damit erörtert er die ethische Frage danach, »was für ein Mensch man sein muß, um seine Hand in die Speichen des Rades der Geschichte legen zu dürfen«748. Es muss eine nüchterne »Leidenschaft« gegeben sein, mit der sich der Verantwortliche einer »Sache« hingibt. Diese Hingabe darf nicht blind sein, sondern sie hat sich mit einem grundsätzlichen »Verantwortungsgefühl« für die Sachangelegenheit zu verbinden. 744 Vgl. Wolfgang Wieland: Verantwortung – Prinzip der Ethik?, 16. 745 Thomas Ebers: Schreckliche Freiheit und Verantwortung, 131. 746 Max Weber : Wirtschaft und Gesellschaft, 377; vgl. 2.4 Die Konfliktträchtigkeit des Menschen – Anthropologische Vorüberlegungen. 747 Zur methodischen und methodisch-rationalen Lebensführung vgl. Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, 234ff., 244ff. 748 GPS, 545.

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Dazu bedarf es der Fähigkeit zur Distanzeinnahme, um die Umstände einer gegebenen Situation mit »Augenmaß« einschätzen zu können.749 Diese drei unterschiedlichen Qualitäten, die Weber als konstitutiv für die »›Stärke‹ einer politischen ›Persönlichkeit‹«750 beurteilt, bilden eine Spannungseinheit. Ein Mensch, wie er ihm vor Augen steht, soll die inneren Spannungen aushalten und widerstreitende Geltungsansprüche gegeneinander abwägen können. Dahinter, dass sich Menschen in einer solchen Weise selbstverpflichten, steht eine für sie bedeutsame Idee. Das bedeutet, dass immer »irgendein Glaube da sein«751 muss, der von einem persönlichen Ethos herrührt. Insofern ergänzen sich Verantwortungs- und Gesinnungsethik, indem sie Verantwortungsgefühl und Leidenschaft miteinander verbinden und »zusammen erst den echten Menschen ausmachen«752. Dass eine solche Persönlichkeit heranreifen kann, die verantwortungsethische Handlungen wertorientiert disponiert, setzt die Reflexionsfähigkeit eines Menschen voraus und seinen Willen dazu, um einen eigenen Standpunkt zu ringen. Vor dem Hintergrund seiner kulturwissenschaftlichen Grundannahmen ist für Webers Verantwortungsverständnis die illusionslose Auseinandersetzung des reflexionsfähigen und reflexionsbereiten Menschen mit der Wirklichkeit maßgeblich. Die Idee einer Verantwortungsethik entfaltet er in den gesellschaftlichen Kontext seiner Zeit hinein, der durch die Gründung der Weimarer Republik von grundlegenden Veränderungen in der deutschen Politiklandschaft gezeichnet war. In diesem Zusammenhang lässt sich sein verantwortungsethisches Nachdenken als zeitgeschichtlicher Antwortversuch lesen. Sein Argumentationsweg führt ihn von der gegeben Situation ausgehend hin zu Qualitäten des Menschseins, die er als konstitutiv bewertet, um den lebensweltlichen Anfordernissen adäquat standhalten und wirklichkeitsgemäß handeln zu können. Schließlich verweist er also auf den konkreten Menschen, der seine Existenz unter dem Eindruck seiner eigenen Geschichtlichkeit zu verantworten hat. Dieser steht unvertretbar allein vor den Fragen, die sich auf sein verantwortliches und unverantwortliches Handeln beziehen. Seine Entscheidungen gehen von Voraussetzungen aus, die sich daraus ergeben, die Wirklichkeit aus seiner subjektiven Perspektive heraus zu interpretieren. Der Mensch trifft also persönliche Vorentscheidungen hinsichtlich dessen, welche Wirklichkeitsbezüge für ihn relevant sind, um sein Handeln auf dieser Grundlage innerlich vorzubereiten. Prozesse des Vorentscheidens und Abwägens gehen der verantwortlichen Tat voraus und fallen in den Bereich der Selbstverantwortung. 749 750 751 752

Vgl. a. a. O., 545f. A. a. O., 546. A. a. O., 548 (H. i. O.). A. a. O., 559.

256

Selbstverantwortung und Verantwortungsethik

Webers Ausführungen haben gezeigt, dass Verantwortung grundsätzlich auf ihr Implikat Mensch hinweist. Nun wird es darum gehen, diesen Aspekt aufzugreifen und ihn hinsichtlich der Relevanz von unvertretbarer Selbstverantwortung des Einzelnen für Verantwortung schlechthin zu vertiefen. Dazu wird der Versuch Wilhelm Weischedels skizziert, das Wesen der Verantwortung zu bestimmen.

8.2

Selbstverantwortung als tiefste Verantwortungsart

Für die existenzphilosophische Deutung von Verantwortung durch Weischedel steht die Existenz des Menschen im Zentrum des Denkens. Der Mensch wird als freies Wesen angenommen, das sich selbst entwerfen kann. Es gehört zu seinen Möglichkeiten, Verantwortung übernehmen zu können. Nach Weischedel ist Verantwortung eine Entscheidung, die der Mensch über seine Existenz trifft und dadurch eine Bestimmung hinsichtlich seines eigenen Selbstseins vornimmt. Weil derartige Existenzentscheidungen unübertragbar sind, muss der Mensch auf seine eigene Selbstverantwortung rekurrieren und mit ihr dafür einstehen, vor sich selbst und für sich selbst Verantwortung zu übernehmen. Demgemäß bezieht sich Verantwortung auf den »Selbstbezug der Existenz«753. Weischedel begründet Verantwortung also von der Selbstverantwortlichkeit des Menschen her, die er als für menschliche Existenz konstitutiv annimmt und interpretiert sie als absolute Freiheit des Menschen.754 753 Martin Honecker : Wege evangelischer Ethik, 237. 754 Vgl. Wilhelm Weischedel: Das Wesen der Verantwortung, 110. Die Dissertation Weischedels steht unter dem Einfluss seines Lehrers und Doktorvaters Martin Heidegger und orientiert sich an dessen Werk Sein und Zeit. 1933 wurde Weischedel mit seiner Arbeit über Das Wesen der Verantwortung promoviert. Georg Picht weist darauf hin, dass selten »soviel von Verantwortung gesprochen worden [ist], wie in den beiden Jahrzehnten nach dem Kriege, aber fast nie wurde der Versuch gemacht, zu sagen, was der Begriff der Verantwortung bedeutet« (ders.: Wahrheit, Vernunft, Verantwortung, 318). Der einzige ihm bekannte monographische Versuch dieser Art sei Weischedels Dissertation (vgl. ebd., Anm. 1). In seinen eigenen Ausführungen zum Verantwortungsbegriff distanziert sich Picht später davon, Verantwortung auf Selbstverantwortung zurückzuführen, wie oben bereits dargelegt wurde (vgl. 7.3 Selbstverantwortung als Grundvoraussetzung für Verantwortung). Seiner Auffassung nach bedeutet Verantwortung »Selbstentäußerung, denn sie geht in der gestellten Aufgabe auf und unterstellt sich der Fürsorge für jene Menschen und Sachen, die der Verantwortung anvertraut sind« (a. a. O., 338). Diese Annahme begründet sich von daher, »daß die Pluralität der Aufgabenbereiche eine Pluralität von Subjekten verschiedener Struktur konstituieren muß, weil die Verantwortung sich nicht aus dem Willen des Subjekts, sondern aus der spezifischen Form der je zu lösenden Aufgaben bestimmt« (a. a. O., 339). Dazu muss ergänzt werden, dass Selbstreflexion nötig ist, damit sich ein Mensch darüber klar werden kann, ob er gewillt ist, eine bestimmte Verantwortung zu übernehmen und sich ihr infolgedessen hinzugeben. Als Wahl aus einem Möglichkeitenspektrum muss er die Verantwortung (auch) vor sich selbst und für sich selbst recht-

Selbstverantwortung als tiefste Verantwortungsart

257

Seine Ausführungen basieren dabei auf der oben bereits erwähnten Konkretheit von Verantwortung.755 Verantwortung bezieht sich auf den konkreten Menschen und nicht auf »irgendjemanden«. Nur so wird sie sichtbar und kann als Phänomen daraufhin untersucht werden, wie sie sich zeigt. Weischedel beschreibt diese Prämisse seiner weiteren Ausführungen folgendermaßen: »Als Phänomen kommt Verantwortung nicht schlechthin vor, sondern sie kommt je vor den Menschen, der zur Verantwortung gezogen wird, ihre Schwere empfindet, sie auf sich nimmt, ablehnt, etc. In diesen Weisen ihres Erscheinens zeigt sie sich ihm als eine Möglichkeit. Demgemäß muss die Analyse der Verantwortung von dem Menschen ausgehen, dem sich Verantwortung in ihren verschiedenen Formen zeigt, und darf nicht von einem abstrakten ›irgendwer‹ aus Verantwortung ins Auge fassen.«756

Mit dieser Vorbestimmung konkretisiert Weischedel die Richtung seiner Auslegung von Verantwortung. Er intendiert nicht, einen Begriff auszudifferenzieren, der sich auf Fragen zur Praktikabilität von Verantwortung bezieht. Es geht ihm also nicht vornehmlich darum, ein Verantwortungsverständnis zu instituieren, das auf Verantwortungspraxis fokussiert, sondern darum, das Wesen der Verantwortung existenzialontologisch zu beschreiben.757 Im Folgenden werden die entsprechenden Grundgedanken Weischedels skizziert.758 Dies dient dazu, die bei Weber angelegte Qualität des Menschseins zur Verantwortungsübernahme, die er in Politik als Beruf vornehmlich über die Spannungseinheit

755 756 757 758

fertigen. Verantwortung als »Selbstentäußerung« unterscheidet sich deshalb nur dann von distanzloser Selbstvergessenheit, wenn sie bewusst angenommen wird. Das Hauptaugenmerk auf das Objekt der Verantwortung zu richten, wie es Picht vor Augen steht, schließt sich deshalb als Folgeschritt an, steht aber nicht am Anfang einer reflektierten Verantwortungsübernahme. Diese Folgerichtigkeit gilt, sofern davon ausgegangen wird, dass nicht allein die Umstände Verantwortung generieren, sondern die Entscheidung des freien Menschen maßgeblich dafür ist, ob sich Verantwortungsansprüche mit den individuellen Authentizitätsbestrebungen des Verantwortungsträgers decken. Erst dann fühlt sich ein Mensch im Sinne der weberschen Spannungseinheit für eine Sache verantwortlich und gibt sich ihr leidenschaftlich und zugleich distanziert hin. Die Bestimmung von Verantwortung darf deshalb weder allein auf den Willen des Verantwortungsträgers reduziert werden noch auf die Umstände, die einer spezifischen Verantwortung ihre Struktur geben. Dazu, dass Picht mit seinen Ausführungen hinter die Ergebnisse Weischedels zurückfällt vgl. Martin Michael Thomé: Existenz und Verantwortung, 30, Anm. 34. Vgl. 6.3 Lebensweltliche Komplexität und die Verantwortung des konkreten Menschen. Beide Zitate Wilhelm Weischedel: Das Wesen der Verantwortung, 23. Vgl. Martin Michael Thomé: Existenz und Verantwortung, 26f. Weil es hier darum gehen soll, sich auf Einzelaspekte der philosophischen Ausführungen Wilhelm Weischedels zu beziehen, um sie kontextuell für diese Untersuchung fruchtbar zu machen, genügt es, seinen Gedankengang in gebotener Kürze darzustellen, ohne auf Einzelheiten seiner Argumentationsführung eingehen zu müssen. Aufgrund einer Vielzahl von Wortschöpfungen und Wortkombinationen, die einer inneren Sprachlogik folgen, wird durch entsprechende Zitationen versucht, die Stringenz der Argumentationsführung zu bewahren und adäquat abzubilden. Dabei werden auch Begriffe übernommen, die um einer besseren Lesbarkeit und Strukturierung halber hervorgehoben sind.

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Selbstverantwortung und Verantwortungsethik

von »Leidenschaft«, »Verantwortungsgefühl« und »Augenmaß« zu beschreiben versucht, in Hinblick auf die Selbstverantwortung des Menschen zu konkretisieren und begrifflich zu schärfen. Dadurch gelingt es, die an konkreten Wirklichkeitszusammenhängen orientierte Fragebene Webers zunächst zu verlassen und grundsätzliche Strukturmerkmale von Verantwortung freizulegen. Weil Weischedel vom konkreten Menschen ausgeht, können seine Überlegungen hilfreich dazu herangezogen werden, die entwickelte These von der Zentralstellung des Menschen in der Mediation philosophisch weiter zu durchdenken und darüber wiederum praktische Bezüge zu erörtern. Ausgehend von dem oben erwähnten einseitigen Verständnis von Verantwortung759, das von ihrer öffentlichsten Form der Gerichtsbarkeit herrührt und infolgedessen Fehleinschätzungen begünstigt, will Weischedel Differenzierungen vornehmen, um dadurch zu dem »Begriff von Verantwortung überhaupt«760 vorzudringen. Weil Verantwortung dazu nicht in all ihren Ausprägungen untersucht werden kann, ist es notwendig und zulässig, sich auf ihre Grundarten zu beschränken.761 Die Annahme voraussetzend, dass Reflexion ein konstitutiver Bestandteil von Verantwortung ist, können diese Grundarten von der Art der Reflexion hergeleitet werden. Sie zeigt an, »als was sich der Mensch je in seiner Reflexion herholt«762. Diese Deduktion erklärt sich von folgendem Sachverhalt ausgehend: Das »Wovor« ist charakteristisch für Verantwortung. Es verweist auf eine Instanz, von der aus eine Frage an den Menschen ergeht. Diese fragende Instanz, ein »Fragendes«, muss mit dem Menschen in eine dialogische Beziehung eintreten können.763 Um zu klären, welche Verantwortungsarten grundsätzlich voneinander unterschieden werden können, muss deshalb überprüft werden, welche Möglichkeiten des Dialogs für den Menschen existieren. Im Ergebnis zeigt sich, dass der Mensch Zwiesprache mit anderen Menschen, mit Gott und mit sich selbst halten kann.764 Auf der Grundlage dieser Differenzierung ergeben sich die drei Grundarten von Verantwortung als »soziale Verantwortung«, »religiöse Verantwortung« und »Selbstverantwortung«, wobei unbeweisbar bleibt, dass tatsächlich nur sie existieren.765 Alle drei Grundarten Vgl. 6.2 Das Phänomen Verantwortung zwischen Entscheidung und Haftung. Wilhelm Weischedel: Das Wesen der Verantwortung, 13. Vgl. a. a. O., 25. Ebd. Der Mensch verantwortet sich also dadurch, dass er sich zu einer Frage verhält, die von einem »Fragenden« an ihn ergeht. Die fragende Instanz muss dazu über Sprachfähigkeit verfügen. »Tier und Stein gegenüber kann es demnach keine Verantwortung geben, weil sie nicht sprechen können. Nur vor solchem, was den Menschen ansprechen kann, findet Verantwortung statt« (a. a. O., 26; vgl. Martin Michael Thomé: Existenz und Verantwortung, 27). 764 Vgl. Wilhelm Weischedel: Das Wesen der Verantwortung, 26. 765 Vgl. ebd. Im Vorwort zur dritten Auflage von Das Wesen der Verantwortung reflektiert 759 760 761 762 763

Selbstverantwortung als tiefste Verantwortungsart

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treten in vielfältig ausdifferenzierter Form in Erscheinung und bilden den jeweiligen Horizont, vor dem sich das »Worum«, also eine inhaltliche Spezifizierung, als weiteres charakteristisches Element von Verantwortung zeigt.766 Die drei Grundarten von Verantwortung unterscheiden sich hinsichtlich ihres Grades an Intimität. Selbstverantwortung ist die intimste Verantwortungsart. Auf sie gehen sowohl die religiöse als auch die soziale Verantwortung zurück. Mit dieser Tiefe einer Selbstverantwortung, die »in den Grund des menschlichen Daseins hinabreicht«, ist die »Explikation des Verantwortungsphänomens«767 erreicht. Von hierher begründet sich für Weischedel die methodische Entscheidung, seinen Versuch, Verantwortung begrifflich zu bestimmen, von der Selbstverantwortung ausgehend aufzubauen. Er beschreibt die drei Grundarten von Verantwortung einzeln und setzt mit der Bestimmung der Selbstverantwortung als tiefste Grundart ein. Innerhalb dieser Einzelbestimmungen differenziert er noch weiter in dreifacher Hinsicht, indem er »drei Momente des Gesamtgeschehens«768 von Verantwortung für die jeweilige Grundart auslegt. Dabei handelt es sich erstens um die »ursprüngliche Zukunft«769, zweitens um das »Gewesensein«770 und drittens um die »Grund-

766 767 768 769

Wilhelm Weischedel über Kontinuität und Diskontinuität seiner frühen Abhandlung. Dabei weist er darauf hin, dass sich die Bestimmungen von »Selbstverantwortung«, »religiöser Verantwortung« und »sozialer Verantwortung« um weitere Aspekte erweitern ließen, »die sowohl aus dem tätigen Leben wie aus eingehenderer Besinnung herkommen« (a. a. O., 7). Ihm erscheint es weiterhin als notwendig, die Grundarten von Verantwortung begrifflich zu unterscheiden. Zugleich konstatiert er, dass diese Trennschärfe im konkreten Vorkommen der Grundarten aber nicht gegeben ist: »Das Selbst der Selbstverantwortung steht nicht, wie es in der Frühschrift den Anschein haben konnte, rein als solches und ohne Bezug auf die anderen Leitbilder der Verantwortung vor dem Menschen. Es hat vielmehr aus sich selber heraus eine Verbindung zur Welt des Menschen, zur Mitmenschlichkeit. Daß der Mensch, soll er sich richtig verstehen, sich nicht isoliert von seinen gesellschaftlichen Bezügen betrachten kann, ist weithin in das allgemeine Bewußtsein getreten. Zum anderen sind aber auch die religiöse Verantwortung und die Selbstverantwortung nicht so unverbunden, wie es nach der frühen Arbeit den Anschein hat. Denn eben jenes Selbst, vor dem sich der Selbstverantwortliche verantwortlich weiß, ragt in die Religion hinein, in der die religiöse Verantwortung zu Hause ist« (ebd.). Anhand der hier darzustellenden begrifflichen Differenzierung der Grundarten von Verantwortung lässt sich aufschlüsseln, inwieweit sich Verantwortung von der Selbstverantwortung eines Menschen her als »Grundgegebenheit des Menschseins selbst, als eine Konstituente des Menschen als Existierenden« (Martin Michael Thomé: Existenz und Verantwortung, 30 [H. i. O.]) herleiten lässt. Dabei bleibt unbenommen, dass sich die theoretische Explikation von Verantwortung von ihrem tatsächlichen phänomenalen Vorkommen unterscheidet. Vgl. a. a. O., 29. Das erste charakteristische Merkmal »Wovor« ist äquivalent mit dem »vor« der »doppelten Verweisung« bei Georg Picht. Gleiches gilt für das »Worum« und das »für« (vgl. 6.2 Das Phänomen Verantwortung zwischen Entscheidung und Haftung). Beide Zitate Wilhelm Weischedel: Das Wesen der Verantwortung, 78. A. a. O., 81. Zur »ursprünglichen Zukunft« für Selbstverantwortung vgl. a. a. O., 80, für religiöse Verantwortung vgl. a. a. O., 99 und für soziale Verantwortung vgl. a. a. O., 104.

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Selbstverantwortung und Verantwortungsethik

verantwortung«771. Sie drei sind konstitutiv für das Verantwortungsphänomen im Allgemeinen und lassen sich hinsichtlich der Grundarten jeweils spezifizieren. Hinter dem Moment der ursprünglichen Zukunft verbirgt sich ein Anspruch an den Menschen, der je nach Verantwortungsart entweder von dem eigenen Selbst, von Gott oder von anderen Menschen erhoben wird. Dieser Anspruch bildet ab, wie der Mensch sein könnte, zeigt ihm also sein »Seinkönnen«772 auf. Er fordert den Menschen zum »Eins-werden« auf. Im Falle der Selbstverantwortung spezifiziert sich diese Forderung als »Eins-werden mit sich selbst«, im Falle der religiösen Verantwortung als »Gott-zueigen-werden« und im Falle der sozialen Verantwortung als »Zugehören zu der Gemeinschaft«773. In allen drei Fällen handelt es sich jeweils um einen Anspruch, der den Menschen in eine Beziehung zu einem je verschiedenen »Wovor« der Verantwortung zu setzen versucht. Da es sich dabei um eine Vorstellung handelt, ist dem Menschen dieses »Seinkönnen« innerhalb der jeweiligen Beziehung wesenhaft voraus. Das heißt, dass dieses Moment des Gesamtgeschehens von Verantwortung deswegen als »ursprünglich zukünftig« bezeichnet werden kann, weil es dem Menschen eine Möglichkeit aufzeigt, wie sich seine ursprüngliche Existenz entfalten könnte, wenn er dem Anspruch, der an ihn ergeht, entspräche.774 Dieser vorgestellten Zukünftigkeit steht das Moment des »Gewesenseins« gegenüber und damit der Rückblick. Der Rückblick »sieht die Existenz in ihrem Zurücksein, und offenbart sie als überholt«775. In der Zusammenschau von Anspruch und Rückblick zeigt sich für den Menschen, wo seine tatsächliche Existenz von der ursprünglich zukünftigen Möglichkeit abweicht. Es offenbart sich ihm also ein »Zwiespalt«776 zwischen dem, was sein könnte und dem, was tatsächlich war und jetzt seine Gegenwärtigkeit prägt. Im Falle der Selbstverantwortung steht dem Menschen das »schuldhafte Gewesensein des Nichtselbst-seins« vor Augen, im Falle der religiösen Verantwortung das »sündhafte Gewesensein« und im Falle der sozialen Verantwortung das »sozial schuldhafte Gewesensein«777. Das »Gewesensein« offenbart also, inwieweit der Mensch in der Vergangenheit nicht in der für sein Dasein ursprünglich beanspruchten Beziehung zu sich selbst, zu Gott und zu anderen Menschen stand. 770 Zum »Gewesensein« für Selbstverantwortung vgl. a. a. O., 82, für religiöse Verantwortung vgl. a. a. O., 99 und für soziale Verantwortung vgl. a. a. O., 81. 771 Zur »Grundverantwortung« für Selbstverantwortung vgl. a. a. O., 82, für religiöse Verantwortung vgl. a. a. O., 100 und für soziale Verantwortung vgl. a. a. O., 105; s. a. Martin Michael Thomé: Existenz und Verantwortung, 28. 772 Wilhelm Weischedel: Das Wesen der Verantwortung, 79. 773 Alle Zitate a. a. O., 108. 774 Vgl. a. a. O., 79f. 775 A. a. O., 81. 776 A. a. O., 82. 777 Alle Zitate a. a. O., 108.

Selbstverantwortung als tiefste Verantwortungsart

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Vorgriff und Rückschau, die sich als Zukunft und Vergangenheit zeigen, bilden die zeitliche Dimension von Verantwortung ab, die das Dasein des Menschen schlechthin kennzeichnet.778 Diese beiden Momente konstruieren das, was Weischedel die Vorsituation der Grundverantwortung nennt. In dieser Vorsituation ist der Mensch »zwiespältig, weil er seinkönnend seine ursprüngliche Zukunft, und weil er als konkrete Existenz sein schuldhaftes Gewesensein ist. Und zwar ist er beides zugleich. Er ist seine ursprüngliche Zukunft, und ist sie doch noch nicht, er ist sein schuldhaftes Gewesensein, und ist es doch nicht mehr«779.

Der konkret existierende Mensch steht also zwischen dem, was er noch nicht ist und dem, was er nicht mehr ist. Aus diesem Zwiespalt zwischen Anspruch und Rückblick ergibt sich für den Menschen eine Entscheidungssituation. Sowohl sein zukünftiges »Seinkönnen« als auch sein vergangenes Verfehlen treten ihm als Existenzmöglichkeiten vor Augen. Dabei »geht der eigentliche Anspruch von der ursprünglichen Zukunft aus und ruft den Menschen aus seinem schuldhaften Gewesensein heraus«780. Die Aufforderung besteht also darin, sich der vergangenen Schuldigkeit zukünftig zu versagen. Diesem Anspruch tatsächlich zu entsprechen, würde bedeuten, dass sich die Existenz des Menschen solchermaßen verwirklicht, wie sie ursprünglich sein soll. Im Falle der Selbstverantwortung geht es dabei um ein »Sich-vorholen«781 zum »Eins-werden mit dem Selbst«782, im Falle der religiösen Verantwortung handelt es sich um die »Hinkehr zum Gott-zueigen-werden«783 und im Falle der sozialen Verantwortung geht es um das »Zugehörig-werden zu der Gemeinschaft«784. Je nach Verantwortungsart handelt es sich also um den Aufruf zu einer je verschiedenen Einheit mit dem eigenen Selbst, mit Gott oder mit der Gemeinschaft.785 Der Mensch nimmt seine Grundverantwortung dann als ein »Sich-herausholen« aus der eigenen Verfehlung wahr, d. h. er holt sich selbst »in seine Zukunft hinein«786. Wenn er nicht danach strebt, diesem Anspruch zu entsprechen, sondern ihm widerspricht, verfehlt er sein ursprüngliches »Seinkönnen«. Demgemäß bahnt das Ergebnis der Entscheidungssituation im Zwiespalt zwischen Anspruch und Rückblick das tatsächliche zukünftige Sein des Menschen 778 779 780 781 782 783 784 785 786

Vgl. 6.2 Das Phänomen Verantwortung zwischen Entscheidung und Haftung. A. a. O., 82. Ebd. Ebd. (H. i. O.). A. a. O., 109. A. a. O., 100. A. a. O., 105. Vgl. a. a. O., 109. Beide Zitate a. a. O., 82.

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Selbstverantwortung und Verantwortungsethik

an.787 Das »Sich-vorholen« der Grundverantwortung ist dabei kein einmaliger Hergang, sondern lässt sich als eine Art permanent andauernder Existenzzustand des Menschen im Zwiespalt vorstellen. Auch zeichnet es sich nicht dadurch aus, dass der Mensch dem Anspruch, der an ihn ergeht, tatsächlich vollumfänglich entsprechen könnte. Er steht grundsätzlich unter dem Eindruck seines eigenen unvermeidbaren Verfehlens. Deshalb ist vom Menschen eingefordert, »sich in seinem Existieren in eben diesem Zwiespalt zu halten und aus dem Anspruch seines – nie abgeschlossenen und immer gebrochen bleibenden – Seinkönnens heraus eben für die Möglichkeiten seines eigentlichen Selbstseinkönnens zu entscheiden im Entsprechen gegenüber diesem Anspruch«788.

Eine verantwortliche Haltung zeichnet sich also insbesondere durch das Streben danach aus, dem ursprünglich zukünftigen Anspruch entsprechen zu wollen und sich dem unerreichbaren Ideal dadurch anzunähern. Dieser Wille generiert die Entscheidung für ein Handeln, das anspruchsgemäß ausgerichtet wird und damit versucht, Verfehlungen zu vermeiden. Das »Eins-werden« solchermaßen anzustreben, bezeichnet Weischedel als »Verantwortlichkeit, als Sich-an-das›vor‹-halten«789. Es geht also darum, sich selbst dahin gehend zu verpflichten, eigenes Handeln inmitten des unauflöslichen Zwiespalts aus »Gewesensein« und »Seinkönnen« in Richtung ursprünglich zukünftiges »Eins-werden« auszurichten, ohne sich der Illusion hinzugeben, dass sich das vollkommene »Einswerden« mit sich selbst, mit Gott und der Gemeinschaft dadurch tatsächlich realisieren ließe. Von den dargelegten Aspekten her wird verständlich, warum Weischedel die Selbstverantwortung als die tiefste der drei Grundarten annimmt und Verantwortung – wie eingangs bereits erwähnt – als absolute Freiheit des Menschen interpretiert. Für die Entscheidungssituation innerhalb des Zwiespalts gilt, dass der Mensch über Möglichkeiten entscheidet. Ihn als freies Wesen anzunehmen, beinhaltet, dass er diese Entscheidungen aus seinem Selbstsein heraus eigenmächtig trifft. Das Selbst ist also die Instanz des Entscheidens, von der ausgehend der Mensch sich und seine Möglichkeiten bestimmt. Innerhalb des 787 Martin Michael Thom8 fasst die Grundverantwortung demgemäß als »die Integration des Anspruchs auf Zukunft und des Versagens vor diesem Anspruch aus der Gewesenheit« zusammen und beschreibt sie damit als die »Eröffnung des Seins des Menschen in der Verantwortung als Sichvorholen und damit Sichstellen in den Ursprung, der den Menschen in allem, was er ist, bestimmt und ihn immer wieder auf sich in seiner Rätselhaftigkeit zurückbringt« (ders.: Existenz und Verantwortung, 28). 788 A. a. O., 29. 789 Wilhelm Weischedel: Das Wesen der Verantwortung, 109 (H. i. O.). Das »vor« spezifiziert sich je nach Grundart der Verantwortung als »Mit- und Fürverantwortlichkeit, als Verantwortlichkeit vor Gott und als Selbstverantwortlichkeit« (ebd.).

Selbstverantwortung als tiefste Verantwortungsart

263

Bereiches der Selbstverantwortung vollzieht sich hinsichtlich dieser Entscheidungsnotwendigkeit zugleich existentielles Fragen und Antworten in Hinblick darauf, ob der Mensch seinem Selbstanspruch entspricht. Mit einem »Entspruch« sagt der Mensch zu, »sich fortan seinem Selbstsein ent-sprechend zu verhalten«790. Selbstverantwortlichkeit unterliegt allerdings der Gefahr, statisch zu werden und zu verkommen, wenn sie einem festgelegten Bild vom eigenen Selbst anhaftet. Weil sich die Existenz des Menschen im Verlauf der Zeit vollzieht und damit selbst dem Wandel unterliegt, gilt dies auch für die Vorstellung vom eigenen Selbst. Demgemäß muss sich der Mensch für neue Abbilder seiner selbst offenhalten, wenn er nicht in die Verantwortungslosigkeit sich selbst gegenüber abgleiten will. Mit dieser Offenheit gewährleistet er, frei für neue Möglichkeiten seiner Existenz zu sein und zu bleiben. Diese Freiheit gegenüber sich selbst bezeichnet Weischedel als »tiefe Selbstverantwortlichkeit«791. Weil sie nicht anhaftet, »kann sie auch von nichts in den Sturz mitgerissen werden. Dergestalt nur im ›Nichts‹ gründend ist sie im tiefsten Sinne Gelassenheit, die über jeden möglichen Absturz schon hinaus ist. Sie ist das Unfraglichste, weil von ihr her alles Existieren fraglich werden kann. Die letzte Gewißheit des Selbstverantwortlichen ist die radikale Frage«792.

Diese radikale Fraglichkeit bedingt, dass der Mensch einerseits die notwendigen Entscheidungen über sein eigenes Sein treffen und sich positionieren muss, ohne sich selbst eine letztgültige Antwort geben zu können. Soll sich diese Standpunktbestimmung den sich wandelnden Existenzbedingungen anpassen können, muss sie andererseits so weit flexibilisierbar sein, dass sie nicht zum wirklichkeitsfremden Selbstzweck wird. Auf einer Entscheidung hinsichtlich der Selbstverantwortung gründen dann alle weiteren Entscheidungen über Möglichkeiten im Bereich der religiösen sowie der sozialen Verantwortung. Für die religiöse Verantwortung gilt, dass der Mensch sie nur dann für sich anerkennt, wenn er die Voraussetzung des Glaubens zuvor als Möglichkeit angenommen hat und sich auf der Grundlage dieser Entscheidung von Gott her beanspruchen lässt.793 Unter der Voraussetzung des Glaubens kann das Selbst als die essenzielle Instanz der menschlichen Existenz entscheiden, die religiöse Verantwortung als die eigentlich tiefste für sich anzuerkennen. Damit gründet die religiöse Verantwortung in der Selbstverantwortung. Mit Weischedels Worten ausgedrückt: »über die Grundvoraussetzung des Glaubens, die ermöglicht, daß als tiefste Verantwortung die Verantwortung vor Gott verstanden wird, wird entschieden in einem 790 791 792 793

Beide Zitate a. a. O., 74. A. a. O., 75 (H. i. O.). Ebd. Vgl. a. a. O., 96.

264

Selbstverantwortung und Verantwortungsethik

Geschehen von Selbstverantwortung. Das Selbst ist also die letzte Instanz des Menschen. Selbstverantwortung gründet die religiöse Verantwortung und ist demnach die tiefste Art von Verantwortung.«794

Auf der Selbstverantwortung als tiefste Verantwortungsart gründet auch die soziale Verantwortung. Das Verhältnis zwischen dem »Sein mit sich selbst« und dem »Sein mit den anderen«795 bestimmt sich deshalb vom Selbstsein des Menschen her. Im Bereich seiner Selbstverantwortung entscheidet der Mensch darüber, welchen sozialen Verantwortlichkeiten er entspricht und welchen er widerspricht. In diesem Sinne ist Selbstverantwortlichkeit auch die »Instanz für soziale Verantwortlichkeit«796. Gemäß dem bis hierher Ausgeführten kann Selbstverantwortung deshalb als Prämisse für Verantwortung schlechthin angenommen werden, weil sich jede andere Verantwortungsart samt ihrer vielfältigen Ausprägungen auf den »Selbstbezug der Existenz«797 zurückführen lässt. Die Entscheidungen, die der Mensch im Bereich seiner Selbstverantwortung trifft, bilden das Fundament dafür, sich zu verantworten. Wie eingangs erwähnt, gehen sie auf Reflexionsprozesse zurück, die wiederum darüber entscheiden, »als was sich der Mensch je in seiner Reflexion herholt«798. Der jeweiligen Dialogform entsprechend lässt sich der Mensch – ausgehend von Weischedels Erwägungen – als ein gemeinschaftsbezogenes Wesen, als ein gottbezogenes Wesen oder als ein selbstbezogenes Wesen beschreiben, das sich selbst durch die jeweilige Bezogenheit definiert. Die dafür notwendige Selbstreflexion ist bei Weischedel nicht ohne die schon erwähnte radikale Fraglichkeit denkbar. Sie durchzieht alles Existieren und bildet deshalb die letzte Gewissheit des Selbstverantwortlichen. Diese Gewissheit geht daraus hervor, dass die Wirklichkeit selbst als Fraglichkeit erkannt wird. Fraglichkeit, wie sie Weischedel vor Augen steht, ist eine menschliche Grunderfahrung, die sich in Missständen, Schwierigkeiten und schließlich in der Vergänglichkeit des Lebens offenbart. Eine derart lebensnahe und damit konkrete Erfahrung der Fraglichkeit löst die Grunderfahrung der radikalen Fraglichkeit aus.799 In ihrem Angesicht erlebt sich der Mensch als ohnmächtig und sein Schaffen – einschließlich jeden Antwortversuchs – ist davon bedroht, durch die im Fraglichen aufscheinende Sinnlosigkeit zunichte gemacht zu werden.800 Der Mensch muss sich aber dagegen verwehren, sich von übermächtiger Resignation und Verzweiflung überwältigen zu lassen und der Radikalität von 794 795 796 797 798 799 800

A. a. O., 97 (H. i. O.). Beide Zitate a. a. O., 101. A. a. O., 102 (H. i. O.). Martin Honecker : Wege evangelischer Ethik, 237. Wilhelm Weischedel: Das Wesen der Verantwortung, 25. Vgl. Johannes Hieber : Interrogative Ethik, 121. Vgl. Wilhelm Weischedel: Der Gott der Philosophen, Bd. 2, 205f.

Selbstverantwortung als tiefste Verantwortungsart

265

Fraglichkeit standhalten. Dadurch entsteht eine eigentümliche Dialektik zwischen Antwort- und Fragecharakter von Verantwortung. Obschon jeder Antwortversuch nur vorläufig und angesichts der Fraglichkeit unzureichend ist, handelt der Mensch nur dann selbstverantwortlich, wenn er um Antworten ringt. Dieses Ringen orientiert sich daran, sich selbst immer wieder in Richtung eines je unterschiedlichen »Eins-werdens« auszurichten, das sich durch den von der ursprünglichen Zukunft ausgehenden Anspruch als die erstrebenswerte Existenzform des Menschen zeigt. Für ein solches Streben muss es gleichgültig sein, ob Ansprüchen tatsächlich entsprochen werden kann. Nur, wenn es sich nicht von tatsächlicher Zielerreichbarkeit abhängig macht, kann es – aller vermeintlichen Sinnlosigkeit zum Trotz – als Motor für verantwortliches Handeln fungieren.801 Die Schwere von Verantwortung als die Schwere der Nichtigkeit von Existenz schlechthin zu erkennen, befreit dazu, sie anzunehmen. Das ist die tiefe Selbstverantwortlichkeit, die gerade dadurch, dass sie mit dem Nichts rechnet und sich zugleich in ebendiesem Nichts gründet, frei und gelassen wird. Die Intention, die dargelegten Grundannahmen Weischedels vor dem Hintergrund eines übergeordneten mediationsbezogenen Erkenntnisinteresses hinsichtlich des Verantwortungsbegriffs zu deuten und weiterzudenken, macht es notwendig, seine substanziellen existenzphilosophischen Überlegungen so aufzufächern, dass ihr Sinn auch dann erhalten bleibt, wenn versucht wird, praxisrelevante Bezüge freizulegen. Das radikale Frageverständnis Weischedels bietet hierfür den Ausgangspunkt, weil es essenziell für die Selbstverantwortung des Menschen ist, auf welcher wiederum alle anderen Verantwortlichkeiten gründen. Der Brückenschlag zu einer Verantwortungsethik, die schließlich auch auf ihre Praktikabilität hin zu befragen ist, soll gelingen, indem ausgewählte Grundannahmen einer Interrogativen Ethik, die Johannes Hieber zu begründen versucht, ergänzend hinzugezogen werden. Dabei können und sollen nur einige ihrer Voraussetzungen skizziert werden, sodass sich nicht für Vollständigkeit zu verbürgen ist. Im Sinne des Erkenntnisinteresses dieser Untersuchung geht es anschließend darum, den interrogativ-ethischen Ansatz mit den Grundarten der 801 Wilhelm Weischedel differenziert zwischen »Verantwortung im eigentlichen Sinne« und »Verantwortung im formalen Sinne«. Unter »Verantwortung im eigentlichen Sinne« fasst er, dass sich ein Mensch in seiner Verantwortung »bis zum Ende offenbarmachen« (ders.: Das Wesen der Verantwortung, 29) kann. Das beinhaltet die reale Möglichkeit, einer Anklage gegenüber tatsächlich standhalten zu können (a. a. O., 30). Als »Verantwortung im formalen Sinne« bezeichnet er ein Verantwortungsgeschehen, »das gleichgültig darum ist, ob das zu Verantwortende bestehen kann oder nicht« (ebd.). Während sich eine Verantwortung im eigentlichen Sinne also an ihrer Wirklichkeitsgemäßheit messen lassen muss, kann sich eine Verantwortung im formalen Sinne auf den Bereich des Hypothetischen beschränken. Das formale Verantwortungsverständnis dient dem eigentlichen insbesondere dadurch, dass es das beschriebene Streben generiert, nach dem sich das tatsächliche Verantwortungshandeln ausrichtet.

266

Selbstverantwortung und Verantwortungsethik

Verantwortung nach Weischedel zu verknüpfen und vor dem Hintergrund des weberschen Verständnisses von Verantwortungsethik auszudeuten. Von hierher wird sich dann eine Erweiterung der Begriffsbestimmung von Mediation ergeben.

8.3

Verantwortungsethik als fragende Ethik

Die Hauptbedeutung des Begriffs »Interrogation« bezieht sich auf die »allgemeine Frage«. Vom lateinischen »interrogare« bzw. »interrogatio« abstammend meint er »fragen«, »befragen«, »Frage«, »Befragung«.802 Ihrer Wortkombination gemäß geht es bei einer Interrogativen Ethik darum, die beiden Momente »Frage« und »Ethik« zusammenzubringen. Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass das Fragen einen besonderen Faktor der Reflexion darstellt. Eine interrogative Sichtweise dient im Falle des ethischen Reflektierens dazu, diejenigen Bedingungen offenzulegen, die einer ethischen Reflexion zugrunde liegen. Im Ergebnis geht es bei diesem Reflexionsvorgang darum, sich selbst über eigene Voraussetzungen des ethischen Urteilens aufzuklären, sie offenzulegen und zur Diskussion zu stellen.803 Dabei verbietet sich ein »Frageverständnis von der Antwort her«. Eine Frage von der Antwort her zu interpretieren, käme einem rhetorischen Fragen gleich, weil damit schon von einer bestimmten Beantwortung auszugehen wäre. Dadurch erwiese sich die Frage schließlich als inhaltsleer. Die Interrogative Ethik zielt also auf eine bestimmte Art des Fragens ab. Als reine Methode geht es ihr nur darum, sich auf die »Bedingungen der Möglichkeit des Fragens«804 zu besinnen, was sie davon entbindet, ihre eigene Praktikabilität begründen zu müssen. Die Bedingungen des Fragens bestimmen die Antwortmöglichkeiten, die auf die jeweiligen Fragen gegeben werden können. Dass sich etwas neu erschließt, ist das Wesen eines Fragens, das die Antwort noch nicht kennt. Der Grad der Offenheit des Fragens korrespondiert demgemäß mit den Arten von Antworten, die auf das jeweilige Fragen folgen können. Das bedeutet: Je eingeschränkter die Bedingungen des Fragens sind, desto begrenzter ist das Spektrum an Antwortmöglichkeiten. Von dem Raum für Antwortmöglichkeiten hängt wiederum ab, inwieweit sich tatsächliche Neuerungen entwickeln lassen. Eine Vielfalt an Beantwortungsoptionen weitet das Innovationspotenzial. Das schöpferische Vermögen des Fragebegriffs liegt darin, dass es von der Frage aus möglich wird, 802 Vgl. Johannes Hieber : Interrogative Ethik, 32f. 803 Vgl. a. a. O., 13f. 804 Beide Zitate a. a. O., 341.

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zu neuen Erkenntnissen und Handlungsoptionen zu gelangen.805 Dieser Sachverhalt ist für Verantwortung insbesondere deshalb bedeutsam, weil ihre prinzipielle Interpretiertheit danach verlangt, unterschiedliche Geltungsansprüche zu priorisieren. Begründet abzuwägen, ist aber nur dann sinnvoll möglich, wenn Alternativen gegeben sind. Je größer deshalb das Antwortspektrum, desto wahrscheinlicher ist es auch, dass sich aus Erkenntnissen Handlungsentscheidungen formieren, die den jeweiligen Verantwortungserfordernissen entsprechen. Sind bestimmte Bedingungen des Fragens allerdings schon von vornherein festgelegt, schränken sie das Innovationspotenzial entsprechend ein. Das heißt, »Erfindungskunst ist Fragekunst«806 und zwar in dem Maße, in dem eine Frageauffassung vorliegt, mit der auf empirische und logische Voraussetzungen ihrerselbst verzichtet wird. In Hinblick auf den Verantwortungsbegriff kann eine interrogative Sichtweise insofern einen Beitrag leisten als sie dem Antwortcharakter, der das allgemeine Verständnis von Verantwortung prägt, den Fragecharakter als Gegengewicht gegenüberstellt. Damit bietet sie eine Interpretationsmöglichkeit von Verantwortung an, »die den methodenbewusst formulierten Fragebegriff als Grundbedeutung der Verantwortung vertritt«807. Verantworten wird dadurch als Fragen aufgefasst.808 Ein solches Grundverständnis dient dazu, den oben beschriebenen Schwächungstendenzen und Legitimationsschwierigkeiten des Verantwortungsbegriffs entgegenzuwirken.809 Die Komplexitätssteigerung lebensweltlicher Bedingungen zieht nach sich, dass der Ruf nach verantwortungsethischen Antworten auf aktuelle Fragen immer lauter wird. Zugleich scheinen die Antwortversuche angesichts der realen Verhältnisse vermehrt unzureichend zu sein. Ein Verantwortungsverständnis aus der Perspektive des Fragens wendet den Blick von der vorherrschenden Antwortorientierung ab und versucht eine deutlichere Verantwortungsorientierung zu initiieren.810 Von diesen Bestrebungen ausgehend ist Verantwortung »nicht nur als empirischer, logischer oder metaphysischer Grund der Antwort zu verstehen, sondern als schöpferischer, ohne den der Antwortbegriff überhaupt nicht gebildet werden kann. Empirie, Logik und Metaphysik sind selbst Antworten und so immer Grund des inneren Widerspruchs in der Formulierung des Verantwortungsbegriffs, wenn sie als Bedingungen der Antwort verstanden werden«811.

805 806 807 808 809 810 811

Vgl. ebd. A. a. O., 340 (H. i. O.). A. a. O., 361. Vgl. ebd. Vgl. 6.3 Lebensweltliche Komplexität und die Verantwortung des konkreten Menschen. Vgl. a. a. O., 359. A. a. O., 361.

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Das Fragen stärker zu fokussieren, führt also dazu, dass der Anspruch an Ethiken gemäßigt wird. Nicht von ihnen allein her müssen sich Antworten dahin gehend erschließen lassen können, was unter verantwortungsethischen Gesichtspunkten zu tun oder zu unterlassen ist, sondern vom Fragen des Menschen aus muss darauf geschlossen werden. Um das dazu notwendige Erfindungspotenzial freizulegen, reicht es nicht aus, nach dem Inhalt von Verantwortung zu fragen, sondern es wird erforderlich, das Fragen auf seine eigenen Bedingungen hin auszuweiten. Nur dann, wenn die Bedingungen des Fragens kenntlich sind, lässt sich die Folgerichtigkeit bestimmter Antworten aufdecken. Das beinhaltet aber, den Verantwortungsbegriff auf all seine möglichen Implikationen hin zu überprüfen, weil sich Verantwortung dann gerade von daher begründet, dass sie nach ihren eigenen Bedingungen fragt.812 Bei einem solchen Verantwortungsverständnis handelt es sich um ein rein philosophisches.813 Das beinhaltet, dass von ihm ausgehend eine bestimmte Sicht auf die Verantwortungsthematik begründet werden kann, ohne damit notwendigerweise auch Praktikabilität gewährleisten zu müssen. Praxisorientierte Klärungen hinsichtlich von Verantwortungsinhalten sind allerdings nur dann möglich, wenn Bedingungen festgelegt werden, unter denen sie gelten. Eine interrogativ-ethischen Sicht auf Verantwortung kann insofern einen praxisrelevanten Beitrag leisten als sie zu einer Entdokmatisierung von denjenigen Bedingungen einlädt, die Handeln als verantwortlich oder unverantwortlich klassifizieren. Indem sie dazu verpflichtet, die Bedingungen, auf denen verantwortungsethische Antwortversuche fußen, fortlaufend zu reflektieren, erlaubt sie es nicht, sich apodiktisch auf generelle Festlegungen zurückzuziehen. Wenn im Folgenden der Versuch unternommen wird, die Grundarten von Verantwortung nach Weischedel unter der Maßgabe des radikalen Fragens zu reflektieren, wird eine von seiner Untersuchung abweichende Reihenfolge gewählt. Zunächst soll die soziale Verantwortung bedacht werden, um aufzuzeigen, welche verantwortungsethische Relevanz das Fragen im zwischenmenschlichen Bereich haben kann. Weil die soziale Verantwortung auf der Selbstverantwortung gründet, wird anschließend überprüft, worin die Bezüge zwischen diesen beiden Verantwortungsarten bestehen. Dadurch zeigt sich, wie sich intrapersonale Fragevoraussetzungen interpersonal auswirken. Die religiöse Verantwortung gründet ebenfalls auf der Selbstverantwortung und wird schließlich als eine bestimmte Form von Reflexivität beschrieben, die von Bedingungen ausgeht, die im Bereich der Selbstverantwortung festgelegt werden. Im Sinne des Erkenntnisinteresses dieser Untersuchung sollen die folgenden Ausführungen schließlich auch dazu dienlich sein, Weischedels Verantwortungsbegriff unter 812 Vgl. a. a. O., 363. 813 Vgl. a. a. O., 362.

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Berücksichtigung seines radikalen Frageverständnisses für mediative Zusammenhänge fruchtbar zu machen. Der Fokus der sozialen Verantwortung liegt auf der Zugehörigkeit des Menschen zu einer Gemeinschaft. Um einer Gemeinschaft teilhaftig zu werden, muss der Mensch eine Beziehung zu anderen eingehen. Als gemeinschaftsbezogenes Wesen nimmt er dazu einen zwischenmenschlichen Dialog auf, wobei er sich seiner Sprachfähigkeit bedient. Damit Kommunikation gelingen kann, müssen Kommunikationsregeln berücksichtigt werden. Zwischen den Dialogpartnern muss deshalb ein Konsens darüber bestehen, dass bestimmte Regeln für eine bestimmte Dialogsituation von allen Beteiligten als normativ gültig anerkannt werden.814 Ein solcher Konsens gehört zu den Bedingungen des Dialogs. Auf der Bedingungsebene drückt er aus, dass die Dialogpartner dazu bereit sind, sich einander zuzuwenden. Damit resultiert er aus einer »Moral des Sprechens«815. Indem Menschen miteinander sprechen, signalisieren sie, dass sie einander erkennen wollen. Dazu müssen sie sich selbst zu erkennen geben und dem anderen Raum dafür bieten, sich seinerseits zu offenbaren. Um sich gegenseitig Gehör zu verschaffen, bedarf es der persönlichen Anerkennung und des Respekts vor der jeweils individuellen Art und Weise, sich auszudrücken. In diesem Prozess des wechselseitigen Verstehens spielt die Frage eine besondere Rolle. Durch eine offene Frage drückt der Fragende aus, dass er sich für den Inhalt einer Antwort offenhält und damit für das, was für den Antwortenden lebensweltlich relevant ist.816 Dies soll hier als akzeptanzgeleitete Fraglichkeit bezeichnet werden. Die Moral des Sprechens trägt also dem Umstand Rechnung, dass sich die »Lebenswelt der kommunikativ Handelnden […] über ihr Sprachverhältnis von innen her auf[schließt]«817. Die jeweiligen Lebensverhältnisse der Personen bilden die Bedingungen des Dialogs. Im Umkehrschluss gilt, dass die Lebensverhältnisse offenbar werden, wenn die Sprachverhältnisse thematisiert werden. 814 Vgl. a. a. O., 18. 815 A. a. O., 33. Johannes Hieber bezieht sich hierin auf eine Untersuchung von Emmanuel L8vinas, der davon ausgeht, dass das gesprochene Wort noch bevor es zur »Ordnung der Theorie« gehört, einer »Ordnung der Moral« unterliegt: »Sprechen heißt den Anderen erkennen und sich ihm gleichzeitig zu erkennen geben. […] Ich erkenne nicht nur, ich bin auch in Gesellschaft. Ebendieser Umgang, den das gesprochene Wort impliziert, ist das Handeln ohne Gewalt: der Handelnde hat im Augenblick seines Handelns auf alles Beherrschende, auf jede Herrschaft verzichtet, setzt sich bereits, in Erwartung der Antwort, dem Handeln des Anderen aus. Sprechen und Zuhören fallen zusammen, folgen nicht aufeinander. Sprechen begründet somit das moralische Verhältnis der Gleichheit und erkennt folglich die Gerechtigkeit an. Selbst wenn man zu einem Sklaven spricht, spricht man zu einem Gleichen. Was man sagt, der kommunizierte Inhalt, ist nur dank diesem Verhältnis des von Angesicht zu Angesicht möglich, in dem der Andere, noch bevor er erkannt ist, als Gesprächspartner zählt« (alle Zitate ders.: Schwierige Freiheit, 17 [H. i. O.]). 816 Vgl. Johannes Hieber : Interrogative Ethik, 33. 817 A. a. O., 18.

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Wenn also in einem interrogativ-ethischen Sinne nach den Bedingungen gefragt wird, unter denen Dialogpartner zu Kommunikationsergebnissen gelangen, kann von ihren Sprachverhältnissen auf die Lebensverhältnisse der Interagierenden geschlossen werden. Diese bilden als Bedingungen für den Dialog auch die Bedingungen, unter denen inhaltliche Ergebnisse erzielt werden. In der Mediation wird dieser Zusammenhang genutzt, indem die Sprachverhältnisse explizit thematisiert und dadurch bestimmte Dialogformen initiiert werden. Dies entspricht dem Versuch, die Bedingungen, unter denen ein Konflikt entstanden ist, durch neue Bedingungen zu ersetzen, die explizit für den Mediationsrahmen festgelegt werden. Durch mediative Kommunikation gilt es beispielhaft aufzuzeigen, wie sich gegenseitige Akzeptanz in dialogischen Sprachverhältnissen ausdrückt. Dafür wird beispielsweise solange um sprachliche Präzision gerungen, bis sich die Sachverhalte in Ausdrucksformen solchermaßen widerspiegeln, dass alle Beteiligten zustimmen können.818 Hinsichtlich einer sozialen Verantwortung exemplifiziert sich darin, dass Menschen in der gegenseitigen Pflicht stehen, ihre Haltung zu anderen Menschen immer wieder überprüfen zu müssen. Diese Kommunikationsform impliziert also die moralische Forderung, sich wahrhaftig für das offenzuhalten, was der andere von sich zeigt und sich (kommunikativ) darauf einzustellen. Mediation kann ein Setting sein, in dem eine solche Haltung geübt wird. Im Idealfall leistet sie einen vorbereitenden Beitrag dahin gehend, dass die Kommunikationserfahrungen in die Lebensverhältnisse der Dialogpartner hineinwirken. Übertragungen zeigen sich darin, dass auch außerhalb des Mediationskontextes verstärkt nach den Bedingungen des eigenen Sozialverhaltens gefragt wird. Akzeptanz wurde allerdings nicht grundlos zu den prinzipiellen Grundsätzen der Mediation gezählt. Zwar können innerhalb der Mediation akzeptanzfördernde Bedingungen geschaffen werden, aber sie fußen wiederum auf den lebensweltlichen Bedingungen der Medianten, die für mediatives Einwirken – jenseits der beschriebenen Beispielfunktion – unverfügbar bleiben. Das heißt, dass Menschen ihre soziale Verantwortung in dem Maße wahrnehmen, in dem sie um ein »Zugehörigwerden zu der Gemeinschaft«819 ringen. Dieses Ringen bedarf einer eigenen Vorentscheidung dazu, sich als gemeinschaftsbezogenes Wesen aus dem sozialen Verfehlen – in diesem Falle einer Konfliktsituation – selbst hervorholen zu wollen. Dabei ist es geboten, auch dann solidarisch zu bleiben und akzeptanzgeleitet zu fragen, wenn die Vorstellungen hinsichtlich der Bedingungen, unter denen sich eine Gemeinschaftlichkeit verwirklichen könnte, in hohem Maße differieren. Eine dementsprechende Entschlusskraft gründet in der Selbstverantwortung. 818 Vgl. 3.6 Kommunikation als mediatives Mittel zur Übernahme von Verantwortung. 819 Wilhelm Weischedel: Das Wesen der Verantwortung, 105.

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Ebenso, wie sich wahrhaftiges Fragen in sozialen Zusammenhängen dadurch auszeichnet, dass es seine eigene Antwort noch nicht bereithält, gilt dies auch für ein Fragen hinsichtlich des eigenen Selbst. Dies wird hier unter selbstbezogene Fraglichkeit gefasst. Nach Weischedel führt ein solches »Offenstehen in der Fragehandlung« dazu, »dass man selbst in die Frage verwandelt wird«820. Ein fragendes Philosophieren über das eigene Selbst strebt danach, auf den »Grund der eigenen Voraussetzungen« vorzudringen und zielt auf die »Gewinnung eines Grundes für das Existieren«821 ab. Um es rekurrierend auf Weber mit anderen Worten auszudrücken: Der radikal Fragende tritt dem Sinnverlust, der sich in Anbetracht seiner tatsächlichen lebensweltlichen Bedingungen zeigt, entgegen, indem er sich abseits von Scheinwegen für wirklichkeitsgemäße Antworten offenhält. Dies geschieht aus einer Freiheit heraus, die sich in ebendieser Sinnlosigkeit selbst gründet und von Weischedel als tiefe Selbstverantwortlichkeit bezeichnet wird. Indem sich die Selbstverantwortlichkeit dagegen verwehrt, in Anbetracht des Sinnverlusts Handlungsohnmacht des Selbst zuzulassen, generiert sie das »Dennoch« einer Verantwortungsethik, die sich dem Sinn- und Freiheitsverlust gerade durch die Anerkenntnis der Faktizitäten widersetzt und dadurch gestaltungsmächtig wird. Erleben und Reflektieren wird also zugleich ins Bewusstsein gehoben, indem sich der Mensch selbst radikal befragt. Er muss sich auf diese Weise befragen, weil er nur dadurch Wege finden kann, um sich selbst zu beschreiben. Das Fragen ist dann nicht mehr nur Mittel zum Zweck, sondern wird selbst zum ethischen Implikat: »Das I c h f r a g e muss all mein 820 Beide Zitate Johannes Hieber : Interrogative Ethik, 142. Hieber bezieht sich hier auf Wilhelm Weischedel: Abschied vom Christentum, Wissenschaftlicher Nachlass, Kasten 59, 1935, bislang unveröffentlicht, ca. 68 Seiten, Blatt 3. Ein Fragen, das vor sich selbst nicht Halt machen darf, bedingt, dass das »Philosophieren die Radikalität seines Fragens auch gegen sich selber kehren [muss]. Damit aber wird nun alles, sogar das Fragen selber, in den Wirbel der radikalen Fraglichkeit hineingezogen. Nicht nur bricht unter den Hammerschlägen des radikalen Fragens alle Gewißheit zusammen; der Hammer selber wird fraglich. Das Philosophieren gerät in tödliche Gefahr« (ders.: Der Gott der Philosophen, Bd. 1, 33f.). Das Philosophieren darf sein radikales Fragen also auch nicht beenden, wenn es auf das Nichts stößt, sondern es muss den Skeptizismus zum grundsätzlichen Prinzip erklären. Diesen Grundentschluss darf es allerdings nicht absolut setzen, weil es sonst wiederum Gefahr liefe, einer verklausulierten Form des unhinterfragten Dogmatismus zu verfallen (vgl. ders.: Skeptische Ethik, 179f.). Deshalb ist es auch, »kein Standpunkt, in den man sich einwurzeln könnte« (ders.: Wirklichkeit und Wirklichkeiten, 67), die letzten Grundlagen der eigenen Überzeugungen in Frage zu stellen. Für eine Skeptische Ethik, die diesen Grundvoraussetzungen zu entsprechen versucht, leitet Weischedel dann folgenden Imperativ ab: »Handle so, daß du deine Existenz als skeptischer Philosoph so weit als möglich verwirklichst« (ders.: Skeptische Ethik, 182). Wenn das Fragen als Grundprinzip des Fragenden der radikalen Fraglichkeit unterzogen wird und daran zu zerbrechen droht, richtet sich diese Bedrohung auch gegen den Fragenden selbst. Darin erfüllt sich das, was Weischedel unter einer tiefen Selbstverantwortlichkeit versteht, die im Nichts gründet und dadurch auch davon befreit ist, an sich selbst anzuhaften. 821 Beide Zitate ders.: Wirklichkeit und Wirklichkeiten, 67.

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Wollen und mein Handeln begleiten können, denn sonst ist mein Handeln für mich nicht ethisch erschließbar.«822 Unter dieser Prämisse kann das Fragen nicht dort beendet sein, wo sich Antworten zeigen, sondern muss tiefer gehen und auf die Bedingungen seiner selbst abzielen. Es wird also nach den Hintergründen des Fragens gefragt, um sich selbst von dort aus wiederum neu erschließen zu können. Nichts unbefragt zu lassen und sich in einem solchen Fragen radikal offenzuhalten, steht allerdings dem Ziel entgegen, den Grund der eigenen Existenz beantwortend erfassen zu wollen. Eine offene Frage zerstört jede Gewissheit, in der sich das Selbst gründen könnte. Ein Mensch bedient sich aber des Fragens, um zu Antworten zu gelangen, durch die sich seine eigenen Existenzgrundlagen erhellen lassen. Für Weischedel ist dies deshalb gleichzeitig denkbar, weil er von einem Frageverständnis ausgeht, das sowohl auf metaphysischen als auch auf existenziellen Voraussetzungen beruht: »Einmal ist die Radikalität des Fragens für Weischedel ein unendlich offenes Moment des Fragens, eines metaphysikzerstörenden Prozesses, ein anderes Mal ist es gerade ein metaphysikgarantierendes Moment, da die radikale Fraglichkeit und das Vonwoher der radikalen Fraglichkeit dadurch erkennbar werden.«823

Diese Dialektik des Frageverständnisses kommt in Reflexionsprozessen zum Tragen. Der Mensch stellt sich selbst weitmöglichst in Frage und nimmt dadurch intrapersonal Distanz zu sich ein, um sich über sich selbst und die Bedingungen seines Denkens und Handelns aufzuklären. Die Lebensverhältnisse werden also radikal befragt, um sie ins Bewusstsein zu heben und Möglichkeiten des Denkens und Handelns vor diesem Hintergrund abzuwägen. Das Ergebnis solcher Reflexionsbemühungen begrenzt sich dann nicht allein auf inhaltliche Einschätzungen bezüglich eines Verantwortungshandelns. Indem sich der Mensch 822 Johannes Hieber : Interrogative Ethik, 36 (H. i. O.). 823 A. a. O., 121f. Ohne hier in die Tiefen der philosophischen Begriffsbestimmung des Frageverständnisses von Wilhelm Weischedel vordringen zu können, sei darauf hingewiesen, dass Wolfgang Müller-Lauter Weischedel dahin gehend kritisiert, dass er mit seinem Fraglichkeitsverständnis subtil metaphysisch argumentiere (vgl. Wilhelm Weischedel: Philosophische Grenzgänge, 171–178). Weischedel antwortet darauf, indem er sich selbst als einen »heimliche[n] Metaphysiker« (a. a. O., 178) tituliert. Er kennzeichnet das Problem, das sich ihm hinsichtlich der Fraglichkeit stellt, folgendermaßen: »woraus entspringt denn dieses Fragen selber? Wie kommt es, daß der Mensch die Wirklichkeit nicht fraglos hinnimmt, sondern sie in Frage stellt? Das erwächst – nach meiner Auffassung – daraus, daß das Fragen von etwas, das dem Fragenden begegnet, hervorgerufen wird. Was aber kann dies anderes sein, als daß ihm die Wirklichkeit als fraglich erscheint? Das Seiende in seinem scheinbar sicheren Bestehen muß sich als erschüttert zeigen, damit das Fragen erwachen kann. Das aber geschieht, […] in gewissen Grunderfahrungen, in denen sich die Wirklichkeit im Modus der Fraglichkeit zeigt. Eben dies nun ist gemeint, wenn in meiner Konzeption von der Vorgängigkeit der Fraglichkeit vor dem Fragen die Rede ist« (a. a. O., 174f.).

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auch über die Bedingungen klar geworden ist, die zu seinen Einschätzungen geführt haben, kann er sich bewusst dafür offenhalten, unter anderen Bedingungen auch zu neuen Einschätzungen zu gelangen. Durch diese Flexibilität zeichnet sich das selbstbezogene Fragen aus. Es schafft die Bedingungen für eine Vielfalt an schöpferischen Prozessen und es gewährleistet, dass akzeptanzgeleitetes Fragen möglich wird. Denn auch hier gilt der schon vielfach benannte Zusammenhang von Intrapersonalität und Interpersonalität. Sich selbst besser verstehen zu können und sich darüber klar zu sein, dass alles eigene Denken und Handeln auf vorher bestimmte Bedingungen zurückgeht, begünstigt ein Verständnis anderen gegenüber. Für den Mediationskontext wird dies unter den Begriff der »plausiblen Intention« gefasst.824 Er bezieht sich auf genau diesen Zusammenhang, dass alles Denken und Handeln vor dem Hintergrund der Bedingungen, auf denen sie gründen, plausibel ist. Zu diesen Bedingungen gehört auch das Ringen des Menschen um das »Eins-werden mit dem Selbst«825, das konstitutiv dafür ist, Selbstverantwortung zu übernehmen. Im Falle von Konflikten heißt dies konkret, die Eigendynamik willentlich zu durchbrechen, durch die Menschen sich selbst und andere verfehlen, weil sie sich in einer eskalationsfördernden Weise verhalten. Willentliche Verhaltenssteuerungen gehen also auf Selbstreflexionsprozesse zurück, die subjektive Plausibilitäten offenbaren, weil der Mensch die Reflexionsbedingungen selbst festlegt. Zu diesen Bedingungen kann auch die Voraussetzung des Glaubens zählen, unter der sich der Mensch dafür entscheidet, religiöse Verantwortung wahrzunehmen. Wenn die religiöse Verantwortung durch einen Akt der Selbstverantwortung als die eigentlich tiefste angenommen wurde, kennzeichnet sich selbstbezogenes Fragen dadurch, dass es sich unter den Bedingungen des Glaubens vollzieht. Mit dem Ziel, Handlungsfähigkeit zu gewährleisten, müssen Reflexionsbedingungen – seien sie religiös oder areligiös – und Handlungsbedingungen miteinander in Einklang gebracht werden. Der Mensch muss sich also selbstreflexiv über praktikable Handlungsmöglichkeiten aufklären. Dies kann nur aus seiner subjektiven Perspektive heraus erfolgen. Die Bedingungen seiner perspektivischen Sicht sind zum Teil durch seine lebensweltlichen Voraussetzungen festgelegt. Zu einem anderen Teil, kann er sie selbst bestimmen. Diese selbst bestimmbaren Bedingungen, generieren sich durch Kontexte, die der Mensch sich für sein Reflektieren schafft. Sie geben den Rahmen dafür vor, dass sich die beschriebene Paradoxie eines offenen Fragens, das zugleich bestimmten Regeln folgt, zielgerichtet vollziehen kann. Dann werden Erleben und Reflexion gleichzeitig ins Bewusstsein gehoben, um zu Einschätzungen hinsichtlich eines 824 Vgl. 4.6 Die »plausible Intention«. 825 Ders.: Das Wesen der Verantwortung, 109.

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Verantwortungshandelns zu gelangen, deren Bedingungen offenliegen. Sich dabei selbst auf diese Bedingungen hin zu befragen, die solchen Einschätzungen zugrunde liegen, wird hier als reflexive Fraglichkeit bezeichnet. Der Gottesglaube fällt in die Kategorie von Bedingungen, die der Mensch für solche Prozesse der Selbstreflexion festlegt. Fragen und Entscheiden vollziehen sich dann vor dem Hintergrund des Glaubens und zielen darauf ab, sich aus einem »sündhaften Gewesensein«826 selbst hervor zu holen und um die »Hinkehr zum Gott-zueigen-werden«827 zu ringen. Im Falle der religiösen Verantwortung stellt sich die Frage, inwieweit sich ein Gottesglaube, von dem her ein Mensch seine Existenz beschreibt, und eine radikale Fraglichkeit, die es gebietet, auch die Existenz Gottes als Urgrund des eigenen Seins zu hinterfragen, zusammenführen lassen. Nach Weischedel versuchen sowohl das christliche als auch das skeptisch-philosophische Reden auf ihre je eigene Weise – ersteres bildhaft, letzteres unmittelbar – vom Gleichen zu sprechen.828 Dem radikalen Fragen geht eine Rätselhaftigkeit voraus, die überhaupt erst begründet, dass ein solches Fragen entsteht. Gäbe es nichts Geheimnisvolles, wäre das Fragen unnötig. Durch radikales Fragen wird also etwas zu erschließen versucht, das im Moment des Fragens selbst noch »Geheimnis« ist. Zielt das unbeschränkte Fragen darauf ab, die Existenz schlechthin zu ergründen, gelangt es schließlich zu der Einsicht, dass ihm die Wirklichkeit geheimnisvoll ist und bleibt, weil es sich dabei um das »undurchdringliche Geheimnis des Seins selber«829 handelt. Weil das Geheimnisvolle schließlich als unauflösbar erkannt wird, führt das Fragen in Richtung Gottesfrage.830 Hinzu tritt, dass gerade das, was sich als grundsätzlich unerklärlich erweist, alles Wirkliche machtvoll erschüttert und fraglich werden lässt. Diese Mächtigkeit muss einen Ursprung haben, den Weischedel als das »Vonwoher der radikalen Fraglichkeit«831 bezeichnet. Deswegen redet das skeptische Denken dann von Gott, wenn es »das unvordenkliche Geheimnis als seinen eigenen Ursprung und als Mächtigkeit über aller Wirklichkeit erfährt«832. Das unmittelbare skeptischphilosophische Reden von Gott bezieht sich dabei auf ein entpersonalisiertes Sein. Unter den Voraussetzungen des christlichen Glaubens konkretisieren sich hingegen Vorstellungen bezüglich einer personalen Gottesexistenz. Die religiöse Verantwortung zeigt sich dann darin, dass das Selbst erlaubt, von einem per-

826 827 828 829 830 831 832

Ders.: Das Wesen der Verantwortung, 108. A. a. O., 100. Vgl. ders.: Die Frage nach Gott im skeptischen Denken, 31. Beide Zitate a. a. O., 27. Vgl. a. a. O., 29f. A. a. O., 32. Ebd.

Mediation als Inszenierung einer reflexiven Welt

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sönlichen Gott her beansprucht zu werden.833 Das eigene Reflektieren vollzieht sich demgemäß unter der Voraussetzung, dass es in Beziehung zu Gott geschieht. Radikal zu fragen, ist damit in die Weisheit Gottes eingebunden. Die Vernunft des Menschen, derer dieser sich zu Reflexionsprozessen bedient, wird also in einen größeren Gesamtzusammenhang gestellt, aus dem heraus sich neue Gewissheiten ergeben. Unter der Maßgabe der tiefen Selbstverantwortlichkeit müssen diese Gewissheiten des Glaubens, die zu Bedingungen des Fragens werden, wiederum hinterfragt und damit kenntlich gemacht werden.834 Das Fragen setzt sich dadurch über dogmatische Festlegungen hinweg und erhält sich seine Flexibilität und Radikalität. Im folgenden Unterkapitel werden eingangs einige der ausgeführten Kernaussagen komprimiert vergegenwärtig. Dies dient nicht nur der Zusammenschau des bisherigen Ertrags, sondern auch als Grundlage für einen Zugewinn der sich hinsichtlich der Begriffsbestimmung von Mediation ausweisen lässt.

8.4

Mediation als Inszenierung einer reflexiven Welt

Als ein mit Bewusstsein begabtes Wesen kann sich der Mensch selbst als Urheber seiner Handlungsentscheidungen identifizieren. Weil nur dort Entscheidungsanlass besteht, wo ein Spektrum an Möglichkeiten existiert, sind Entscheidungen das Ergebnis von Priorisierungen. Indem eine Entscheidung für etwas getroffen wird, fällt sie zugleich gegen etwas anderes aus, wodurch eine grundsätzliche Festlegung erfolgt. Entscheidungsmächtig zu sein, setzt wiederum Freiheit voraus, weil außerhalb von Freiheit nur Determination denkbar ist. Freiheit eröffnet aber nicht nur das Privileg eines Entscheidens, das Gestaltungspotenziale aufschließt, sondern nimmt zudem in die Entscheidungs833 Dadurch, dass Wilhelm Weischedel die radikale Freiheit des Menschen annimmt, ist es folgerichtig, dass es allein in den Bereich der menschlichen Entscheidung hineinfällt, eine Gottesbeziehung zu bejahen oder sie zu verneinen. Unter den Bedingungen theologischen Reflektierens müsste der Freiheitsbegriff dahin gehend differenziert werden, inwieweit der Freiheit des Menschen der Zuspruch dieser Freiheit durch Gott vorausgegangen sein muss. Die freie Entscheidung des Menschen für Gott vollzöge sich dann schon innerhalb der Gottesbeziehung selbst. Das bedeutet, dass dem »Ja« des Menschen zu Gott, das »Ja« Gottes zum Menschen vorausgegangen sein muss. Dieser Gedanke wird an späterer Stelle – in aller gebotenen Kürze – aufgegriffen (vgl. 9.1 Religiöse Freiheit als gebundene Freiheit). 834 Begründet durch einen historischen Wandel, durch den der metaphysische und philosophisch-theologische Zusammenhang fraglich geworden ist, in den philosophische Ethiken gemeinhin gestellt waren, zieht Wilhelm Weischedel die Konsequenz, dass es »die Aufgabe der Gegenwart, dieser Zeit des radikalen Fragens und der radikalen Fraglichkeit [wäre], eine metaphysische Ethik zu entwerfen oder auf die philosophisch-ethischen Bemühungen überhaupt zu verzichten und das letzte Wort dem reinen Relativismus und Skeptizismus zu geben« (ders.: Skeptische Ethik, 78, s. a. 106f.).

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Selbstverantwortung und Verantwortungsethik

pflicht. Damit ist auch ein Nichtentscheiden eine Form des Entscheidens. Entscheidungen machen es zudem notwendig, sich auf das Wagnis einzulassen, »falsch« zu wählen, sodass die freiheitsbedingte Entscheidungspflicht sich darin als risikobehaftet offenbart. Es bedarf der Erkenntnis lebensweltlicher Bedingungen, um von ihnen ausgehend begründet darauf schließen zu können, wie verantwortungsethisches Handeln zweckdienlich ausgerichtet werden kann. Dazu müssen Tendenzen von Verantwortungsausdehnung und -begrenzung in ein realistisches Verhältnis gesetzt werden, damit es möglich wird, Verantwortungsansprüchen tatsächlich standzuhalten. Aus Sicht einer Verantwortungsethik, die sich dem Anspruch der Wirklichkeitsgemäßheit verschreibt, muss der Urteilende fähig und bereit dazu sein, sich selbst und andere über die subjektiven Plausibilitäten seiner Entscheidungen aufzuklären. Demnach bezieht sich »Wirklichkeitsgemäßheit« nicht nur auf die äußeren Umstände, sondern auch darauf, den eigenen Perspektivismus zu durchschauen und ihn als bestimmenden Faktor für die praktische Lebensführung zu identifizieren. Der eigene Standpunkt relativiert sich durch das Wissen um unzählige von ihm verschiedene Standpunktmöglichkeiten, die es (potenziell) als gleichberechtigt anzuerkennen gilt. Dadurch büßt er jedoch nicht an Legitimität ein. Vielmehr drückt sich in einem Standpunkt ein persönliches Ethos aus, das den Menschen auch gegen Widernisse standhalten lässt und als Motor dafür fungiert, sich leidenschaftlich und zugleich verantwortungsbewusst distanziert für eine Sache einzusetzen.835 Dies geschieht dann abwägend und bewusst, wenn selbstklärende Prozesse vorbereiten, wie Handlungen nach außen hin kommuniziert und durchgeführt werden sollen. Reflexion als konstitutiver Bestandteil von Verantwortung trägt das Moment des Fragens in sich. Sich selbst auf die eigenen Motive für Handlungsentscheidungen hin zu befragen und sich dadurch über die Bedingungen des eigenen Handelns aufzuklären, flexibilisiert den eigenen Standpunkt so weit, dass Handlungsentscheidungen getroffen werden können und als bedingungsabhängig erkannt werden. Schließlich muss es darum gehen, die eigenen Grundannahmen zu verantworten. Dafür muss der Mensch sie kennen und nicht nur nach ihnen fragen, sondern sie auch selbst in Frage stellen. Nach dem interrogativ-ethischen Prinzip müssten dabei alle möglichen Implikationen mitbefragt werden.836 Weil sich dies im konkreten Handlungsfall nicht realisieren lässt, gibt ein solches Fragen lediglich die Tendenz von Reflexionsprozessen vor. Um Praktikabilität gewährleisten zu können, gilt es abzuwägen, welche Ressourcen aufgewendet werden sollen, um zu einer Handlungsentscheidung zu gelangen. Es ist also notwendig, das Fragen sinnvoll zu begrenzen und dadurch 835 Vgl. 8.1 Verantwortungsethik als Antwort auf konfliktträchtige Lebenswirklichkeit. 836 Vgl. 8.3 Verantwortungsethik als fragende Ethik.

Mediation als Inszenierung einer reflexiven Welt

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der Notwendigkeit Rechnung zu tragen, Verantwortungsansprüche weder ins Unendliche auszuweiten noch sie zu sehr zu beschränken. Dementsprechend müssen Bedingungen geschaffen werden, unter denen Reflexionsleistungen zweckdienlich und zielgerichtet erbracht werden können. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass sich das Leben des Menschen zeitgleich in unterschiedlichen Zusammenhängen von Weltwirklichkeit vollzieht. Das Konzept der Lebenswelt, wie es Huber ausführt837, bietet Anhaltspunkte dahin gehend, zu verdeutlichen, in welchen Lebenszusammenhängen der Mensch steht. Die Reflexionsleistung des Menschen, die für die verantwortungsethischen Überlegungen Webers ebenso konstitutiv sind wie für die existenzphilosophische Entfaltung des Verantwortungsbegriffs durch Weischedel, können vor dem Hintergrund des Lebensweltkonzepts einer eigenen Kategorie zugeordnet werden. Dies wird mit den folgenden Ausführungen aufzuzeigen sein, von denen ausgehend sich die begriffliche Bestimmung von Mediation anschließend erweitern lässt. Das Konzept der Lebenswelt unterscheidet drei Bereiche menschlichen Lebens voneinander. Die objektive, den Menschen umgebende »äußere Welt« zeichnet sich durch beobachtbare Sachverhalte aus. Aussagen über sie werden daran gemessen, ob sie der wahrnehmbaren Weltwirklichkeit entsprechen, d. h. ob sie »wahr« sind. Die »soziale Welt« ist der gemeinschaftliche Lebenskontext, aus dem sich normative Ansprüche zu Sitte und Recht ergeben. Sozial kontextualisierte normative Aussagen gelten dann als »richtig«, wenn sie mit den innergemeinschaftlich vorherrschenden Vorstellungen zu Gerechtigkeit kompatibel sind. Die subjektive, »innere Welt« des Menschen entsteht durch die individuellen Erlebnisse einer Person und ermöglicht es ihr, sich auf sich selbst zu beziehen. Aussagen, die sie zu ihrer Innenwelt tätigt, werden daraufhin befragt, inwieweit sie »authentisch«, also wahrhaftig sind. Um die systematische 837 Das Konzept der Lebenswelt geht auf Jürgen Habermas zurück (vgl. ders.: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, 25–38). Wolfgang Huber verwendet den Lebensweltbegriff inhaltlich nicht vollständig äquivalent zur Deutung von Habermas: »Habermas führt den Begriff so ein, daß er zwischen Lebenswelt und System als zwei Aspekten im Begriff der Gesellschaft unterscheidet. Der Lebenswelt ordnet er die privaten wie öffentlichen Prozesse kommunikativer Verständigung zu; für den Aspekt des Systems sind die durch die Medien von Geld und Macht gesteuerten Subsysteme ›Ökonomie‹ und ›Politik‹ kennzeichnend. […] Daß Habermas durch diese Verhältnisbestimmung von Lebenswelt und System mit seiner eigenen Grundbegrifflichkeit in Schwierigkeiten gerät, zeigt sich daran, daß er den Begriff der Lebenswelt, soweit ich sehe, nicht mit den drei Weltkonzepten der objektiven, sozialen und subjektiven Welt ausgleicht, von denen er im übrigen ausgeht. Es bleibt ungeklärt, ob und in welchem Sinn die Lebenswelt als Aspekt oder als Inbegriff dieser Weltkonzepte angesehen werden soll. Als konsequent erscheit mir das zweite. Ich will deshalb versuchen, den Begriff der Lebenswelt als Inbegriff der Weltkonzepte zu verstehen. Daraus ergibt sich, daß der systematische Aspekt von Gesellschaft selbst als Dimension der Lebenswelt und gerade nicht als ihr gleich- und dann im Ergebnis übergeordnet zu betrachten ist« (vgl. Wolfgang Huber : Konflikt und Konsens, 155f., Anm. 59).

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Selbstverantwortung und Verantwortungsethik

Struktur einer Verantwortungsethik zu verdeutlichen, ordnet Huber die Lebenswelten unterschiedlichen Ethiktypen zu. Eine Ethik, die sich vornehmlich an Fragen der Richtigkeit orientiert, die sich von der sozialen Welt her beantworten lassen, zeigt sich als Gesetzesethik. Eine Ethik, deren Fokus auf der Authentizität des persönlichen Handelns liegt und sich damit voranging auf die »innere Welt« bezieht, lässt sich dem Begriff der Gesinnungsethik zuordnen.838 Beide Ethiktypen orientieren sich nicht ausdrücklich an der äußeren Welt. Sie gelangt allerdings insbesondere vor dem Hintergrund beschriebener lebensweltlicher Komplexitätszunahme verstärkt in das Blickfeld ethischen Fragens. Diesem Aspekt Rechnung tragend charakterisiert Huber Verantwortungsethik als einen Versuch, die Weltkonzepte und die für sie jeweils charakteristischen Geltungsansprüche zusammenzuführen: Verantwortungsethik »geht von eigener und fremder Gewissensfreiheit und damit von der Frage nach authentischer Lebensorientierung aus. Doch sie will diese in einen Prozeß der Kommunikation einbringen und dadurch zur Konstitution gemeinsam geteilter normativer Ansprüche beitragen, die auf ihre Richtigkeit befragt werden können. Und sie fragt nach den Handlungsbedingungen und den Handlungsfolgen in der objektiven, äußeren Welt, an welche die Verwirklichung solcher normativer Ansprüche gebunden ist«839.

Verantwortungsethik zeichnet sich also durch den Versuch aus, die Geltungsansprüche von Wahrheit, Richtigkeit und Authentizität zueinander in Beziehung zu setzen. Dadurch gewinnt sie einerseits an lebensweltlicher Relevanz und Glaubwürdigkeit, die ihre charakteristische Wirklichkeitsgemäßheit bedingen. Andererseits verkomplizieren sich ethisches Fragen und Urteilen, weil aus den unterschiedlichen lebensweltlichen Bereichen verschiedenartige Ansprüche aufeinandertreffen und Geltung beanspruchen. Der Weg, um konstruktiv mit diesen ethisch relevanten Konflikttendenzen umzugehen, führt über Kommunikation. Ihr Ausgangspunkt ist die authentische Lebensführung des Einzelnen und damit die eigene und fremde Gewissensfreiheit, die dialogisch miteinander in Kontakt zu bringen sind. Das Ziel eines solchen Dialogs besteht darin, Verschiedenheiten zu bearbeiten, um gemeinsame normative Ansprüche zu klären und sie anschließend vor dem Hintergrund realer Handlungsbedingungen sozial zu überprüfen.840 Damit der Weg zu einer wirklichkeitskompatiblen und damit praktikablen Antwort auf ethisches Fragen geebnet werden kann, gehört es demgemäß zu den Implikaten von einer Verantwortungsethik, dass sie konsensual angelegt ist. Eine konsensorientierte Kommunikation ist wiederum konstitutiv für eine 838 Vgl. a. a. O., 156. 839 A. a. O., 156f. 840 Vgl. ebd.

Mediation als Inszenierung einer reflexiven Welt

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Mediation, in der die Selbstbeziehung der Medianten mit ihrer Fremdbeziehung zu den Dialogpartnern korrespondiert.841 Diese Korrespondenz erfolgt kommunikativ sowohl zwischen Personen als auch im Inneren einer Person. Deshalb soll hier zwischen interpersonalen und intrapersonalen Dialogstrukturen unterschieden werden. Interpersonale Dialogstrukturen beziehen sich auf die äußere Kommunikation zwischen Menschen. Sie dient dazu, Verstehensprozesse zu initiieren, durch die einvernehmlich geklärt werden soll, wie mit Verschiedenheiten konkret handelnd umzugehen ist. Unter den Begriff intrapersonale Dialogstrukturen lassen sich Prozesse der Selbstklärung subsumieren. Sie sind dem interpersonalen Kommunizieren vorgeschaltet bzw. verlaufen zeitgleich und dienen dem Menschen dazu, die Priorisierung von Geltungsansprüchen vor dem Hintergrund eigener Authentizitätsansprüche zunächst für sich selbst zu klären, bevor sie nach außen hin vertreten werden. Intrapersonale Dialogstrukturen berücksichtigen dabei Aspekte aller drei Lebenswelten. Das bedeutet, dass sie versuchen, zwischen Ansprüchen von Wahrheit, Richtigkeit und Authentizität zu vermitteln. Deswegen sind sie auch nicht allein der inneren Welt zuzuordnen, obschon sie sich intrapersonal vollziehen. Vielmehr stellen sie ein Reflexionsinstrument dar, mithilfe dessen die eigenen Lebenswelten so weit zu verobjektivieren versucht werden, dass möglichst distanziert beurteilt werden kann.842 Hierbei kommt das »Augenmaß« zum Tragen, das Weber so deutlich einfordert, dass er es gar als »Todsünde« eines Politikers bezeichnet, sich der Distanzlosigkeit hinzugeben.843 Der Vorgang, intrapersonale Distanz einzunehmen, um sich über sich selbst aufzuklären, vollzieht sich metaperspektivisch. Er zeichnet sich also gerade durch den Abstand zu den drei beschriebenen Lebenswelten aus, ohne dabei aus den lebenswirklichen Zusammenhängen des Menschseins herausgelöst zu sein. Deshalb kann er einer eigenständigen Lebenswelt zugeordnet werden, die hier als reflexive Welt bezeichnet wird. Sie bezieht sich auf die Fähigkeit des Menschen dazu, sein Erleben und seine Reflexion gleichzeitig ins Bewusstsein zu heben und dadurch zu wirklichkeitsgemäßen Einschätzungen zu gelangen. In Hinblick auf Konfliktregulation wurde schon darauf hingewiesen, dass Eigendynamiken von Eskalationen dadurch zu durchbrechen versucht werden, dass Konfliktbeteiligte einen Zugang zu ihrem persönlichen Konflikterleben aufrechterhalten, während sie es zugleich reflektieren.844 Demgemäß kann Mediation als ein Werkzeug verstanden werden, um Bewusstwerdungsprozesse der reflexiven Welt kontrolliert zu gestalten. Die Bedingungen, unter 841 842 843 844

Vgl. 2.6 Ressourcenorientierte Intervention als Angebot zur Gegensinnstiftung. Vgl. 2.4 Die Konfliktträchtigkeit des Menschen – Anthropologische Vorüberlegungen. Vgl. GPS, 546. Vgl. 4.3 Die Inhaltsverantwortung als Implikat der Mediantenrolle.

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Selbstverantwortung und Verantwortungsethik

denen sich die Reflexionsprozesse vollziehen, werden innerhalb des Mediationsverfahrens festgelegt. Dabei wird sowohl die tatsächliche Komplexität von Wirklichkeit anerkannt als auch dem Umstand Rechnung getragen, dass Einzelphänomene nur dann gelöst werden können, wenn eine Komplexitätsreduktion erfolgt. Damit ein Konflikt, als ein begrenzter Ausschnitt von Lebenswirklichkeit, aus einer Interventionsperspektive heraus bearbeitet werden kann, muss der Klärungsgegenstand zuvor definiert werden. Wenn also in einer Mediation festgelegt wird, was zu klären ist, dann bezieht sich die kommunikative Bearbeitung des Konflikts auf diejenigen Aspekte von Wahrheit (»äußere Welt«), Richtigkeit (»soziale Welt«) und Authentizität (»innere Welt«), die hinsichtlich des Klärungsgegenstands relevant sind. Die Funktion des Mediators besteht dabei darin, sowohl selbst Distanz zu wahren als auch die Konfliktbeteiligten dahin gehend zu begleiten, distanziert – d. h. mit »Augenmaß« – intrapersonal und interpersonal zu kommunizieren. Neben dem »Augenmaß« kommen dabei auch die anderen Komponenten der weberschen Spannungseinheit zum Tragen. Die »Leidenschaft« bezieht sich auf das individuelle Eigeninteresse der Konfliktpartner daran, eine einvernehmliche und praktikable Konfliktlösung zu entwickeln. Sie ist die Triebfeder des Willens, sich in den gemeinsamen Prozess selbstbestimmt und kooperativ einzubringen. Das »Verantwortungsgefühl« ergibt sich aus der freiwilligen Entscheidung dazu, eine Mediation aufzunehmen und Inhaltsverantwortung zu übernehmen. Es generiert die Selbstverpflichtung der Medianten, ihren Anteil beizutragen, damit die Verhandlungen gelingen und das Ergebnis zweckdienlich realisiert wird. Mediation operiert also solchermaßen mit der Spannungseinheit menschlicher Qualitäten, dass die Handlungsmacht und die Gestaltungsmöglichkeiten entgegen der Ohnmachtstendenzen, die sich in Konflikten zeigen, reflektiert eingesetzt werden. Sie zeigt sich darin im weberschen Sinne als ein Verfahren »zur Freiheit hin«, das der negativen Sinnstiftung des Konflikts eine positive Gegensinnstiftung gegenüberstellen will. Damit am Ende praktikable Lösungen stehen, die es ermöglichen, tatsächlich gestaltend in die Wirklichkeit einzugreifen, werden Handlungsprinzipien in Beziehung zu Handlungsbedingungen gesetzt. Mediation ist dabei kein Allheilmittel. Ihre Ergebnisse entstammen dem Perspektivismus der Konfliktregulierung und müssen deshalb sachgerecht in eine Wirklichkeit eingegliedert werden, die sich nicht auf den lebensweltlichen Teilaspekt eines Konflikts beschränken lässt. Lösungen werden sich deshalb auch nur dann hilfreich umsetzen lassen, wenn mit den »durchschnittlichen Defekten der Menschen«845 und der »ethischen Irrationalität der Welt«846 gerechnet wird. 845 GPS 552; vgl. 8.1 Verantwortungsethik als Antwort auf konfliktträchtige Lebenswirklichkeit.

Mediation als Inszenierung einer reflexiven Welt

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Mediation bietet sich also als eine Möglichkeit dazu an, Klärungen vorzunehmen, Handlungsoptionen begründet zu entwickeln und sie auf ihre Praktikabilität hin abzuschätzen. Weil dabei auf einen Konsens abgezielt wird, greifen selbstbestimmtes und akzeptanzgeleitetes kommunikatives Handeln wechselseitig ineinander. Dies kommt in der den bisherigen Ausführungen zugrunde liegenden Definition von Mediation als »selbstverantworteter Konsensweg« treffend zum Ausdruck. Diese Begriffsbestimmung zielt insbesondere auf Qualitäten des persönlichen Umgangs miteinander ab. Sie weist aus, dass Menschen Selbstverantwortung übernehmen, sie sich auch gegenseitig zugestehen und die Belange des jeweils anderen als berechtigte Ansprüche in die eigenen und gemeinsamen Überlegungen so integrieren, dass sich daraus ein Konsens ergeben kann. Die bis hierher vorgenommen Vertiefung des Verantwortungsgedankens ermöglicht es, die Definition von Mediation als »selbstverantworteter Konsensweg« um eine verfahrensbezogene Bestimmung zu erweitern: Mediation ist die Inszenierung einer reflexiven Welt. Die neu hinzugewonnene Bestimmung bezieht sich auf das, was Mediation einbringt, damit Reflexionsprozesse erfolgreich gelingen können. Das Verfahren macht von der Möglichkeit Gebrauch, dass der Mensch seine lebensweltlichen Bedingungen zu einem Teil selbst festlegen kann. Damit sich Konfliktbeteiligte über ihre Gestaltungsmöglichkeiten klar werden können, eröffnet Mediation einen Rahmen, der der freiheits- und sinnberaubenden Eigendynamik von Konflikten etwas von ihrer Zwangsläufigkeit nimmt. Sie schafft Distanzen, die Menschen darin unterstützen, wieder bewusster über sich selbst verfügen zu können. Sie begünstigt eine befristete Entmachtung der übermächtig in das Leben der Konfliktbeteiligten eingreifenden Komplexität von Wirklichkeit, ohne sie zu leugnen. Mediation will Menschen Wege aufzeigen, auf denen sie ihre Handlungsmacht zurückerlangen können, um sich infolgedessen wieder gestaltend in ihre außermediativen lebensweltlichen Zusammenhänge eingeben zu können. Dabei operiert das Verfahren mit der Spannungseinheit von »Leidenschaft«, »Verantwortungsgefühl« und »Augenmaß«.847 Zu einer solchen Inszenierung gehört es, Strukturen zu vereinfachen und Regeln festzulegen.848 Derartige Begrenzungen sind unerlässlich dafür, Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen. Es ist evident, dass in mediativen Reflexionsprozessen weder der ganze Mensch vollständig aufgeht noch der 846 A. a. O., 553. 847 Vgl. 8.1 Verantwortungsethik als Antwort auf konfliktträchtige Lebenswirklichkeit. 848 Es sei hier noch einmal an den Hinweis von Josef Duss-von Werdt erinnert, dass es eine Vielzahl sozialer Organisationsformen gibt, die als Rahmen fungieren, damit Menschen Differenzen ausgetragen können (vgl. ders.: homo mediator, 21; vgl. 2.6 Ressourcenorientierte Intervention als Angebot zur Gegensinnstiftung). Regelbezogene Vermittlungsmöglichkeiten lassen sich also auf unterschiedliche Weise inszenieren.

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Selbstverantwortung und Verantwortungsethik

tatsächlichen Komplexität der Wirklichkeit Rechnung getragen wird. Weil dies auch nicht ihrem Selbstverständnis entspricht, entbindet sich Mediation von beidem, indem sie den Klärungsgegenstand klar begrenzt. Dies hat allerdings nicht zur Folge, dass sie den ganzen Menschen oder die Wirklichkeitskomplexität verkennt. Vielmehr steht sie in der Pflicht, beides einzukalkulieren und Lösungen solchermaßen vorzubereiten, dass die lebensweltlichen und menschlichen Irrationalitäten nicht ausgeblendet werden. Indem Mediation eine reflexive Welt inszeniert, bietet sie also den Rahmen dafür an, dass begrenzte Klärungen vorgenommen werden können. Sie bezieht sich damit explizit auf einen klar definierten Teilbereich von Verantwortung, nämlich den, der für den Klärungsgegenstand relevant ist. Dieser Verantwortungsbereich ist ein Ausschnitt aus einem größeren Ganzen. Das Verantwortungsthema insgesamt weist aber in existenzielle Interpretationen des menschlichen Lebens hinein. Dahin gehende Selbstklärungen sind unübertragbar. Auf sie kann nur bedingt von außen zugegriffen werden, weil sie sich auf Aspekte von persönlicher Lebensführung beziehen. Das heißt, wenn es um »letzte Selbstdeutungen der eigenen Existenz, des menschlichen Lebens, [um] Sinn und Ziel der Lebensführung wie des Weltgeschehens«849 geht, von wo ausgehend Menschsein gestaltet wird, hat Mediation kaum einen direkten Einfluss darauf. Unbenommen bleibt jedoch, dass genau diese selbstklärenden Prozesse die Bedingungen schaffen, unter denen klar umgrenzte Klärungen – wie eine Konfliktregulation – erfolgen. Weil die Wirklichkeit durch subjektiv bedeutsame Wertebeziehungen konstruiert wird, prägt dieser Perspektivismus auch die Konfliktwirklichkeit und spielt infolgedessen in Interventionshergänge hinein. Zu den Möglichkeiten, die eigene Existenz zu deuten, gehört es, sich selbst unter dem Eindruck des Gottesglaubens zu beschreiben. Die intrapersonalen Dialogstrukturen sind dann von einem religiösen Selbstverständnis der Person geprägt. Als religiös-individuelle Identität kann Religiosität »als ein narrativer Vorgang verstanden werden, der sich im Subjekt selbst als innerer Dialog rekonstruieren lässt«850. Demgemäß lässt sich auch das Verantwortungsthema explizit religiös reflektieren. In Hinblick darauf, eine Ethik der Verantwortung aus theologischer Perspektive zu begründen, muss bedacht werden, dass ihre gedanklichen Voraussetzungen zwar beanspruchen, universell gültig zu sein, sie es aber nur für denjenigen auch tatsächlich sein können, der ihre Prämissen für die Selbstdeutung seines eigenen Lebens anerkennt.851 Wenn also im Folgenden 849 Martin Honecker : Wege evangelischer Ethik, 239. 850 Jürgen Kiechle u. a.: Konfliktmanagement als Kompetenz interreligiösen Lernens, 288f. 851 Ulrich H. J. Körtner hinterfragt hinsichtlich dieses Zusammenhangs, »ob es angesichts der Einsicht in die historische Relativität aller Formen von Moral und Ethik überhaupt möglich

Mediation als Inszenierung einer reflexiven Welt

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die christlich-religiöse Dimension von Verantwortung freigelegt wird, geschieht dies unter der Vorannahme, dass es sich um eine spezifische Möglichkeit handelt, persönliche Reflexionsleistungen zu erbringen und damit existenzielle Sinnstiftungspotenziale zu klären.

ist, eine universalgültige Ethik zu formulieren, die auf transkulturelle und universalreligiöse Akzeptanz hoffen darf«. Versuche, ein Weltethos zu begründen, wie sie etwa von Hans Jonas oder Albert Schweitzer unternommen wurden, bleiben seiner Auffassung nach »merkwürdig subjektlos« (beide Zitate ders.: Freiheit und Verantwortung, 110).

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Religiöse Reflexivität von Verantwortung

9.1

Religiöse Freiheit als gebundene Freiheit

Nach christlichem Verständnis ist die Freiheit des Menschen weder selbstverständlich noch kann dieser sie eigenständig besitzen. Sie geht auf einen Gnadenakt Gottes zurück, durch den der Mensch freigesetzt wird. Die Gnade Gottes ermächtigt den Menschen also dazu, als freies Geschöpf zu leben.852 Christliche Freiheit erschließt sich von dem Geschichtshandeln Gottes her und ist dementsprechend an Gott selbst gebunden sowie an die Prämissen, unter denen er sie gewährt. Damit ist sie zugleich bedingte Freiheit. Das beinhaltet, dass sie nicht grenzenlos ist, sondern an Ort und Zeit gebunden, nämlich an die Erde als von Gott gegebener Lebensraum und an die von ihm gewährte Lebensspanne des Menschen.853 Zu diesen Lebensbedingungen gehört auch die Gemeinschaft, denn »die Gabe des Lebens und damit die Gabe der Freiheit ist eine soziale Größe«854. Allgemein realisiert sich Freiheit für die Einzelperson deshalb in dem Umfang, in dem sie mit den sozialen Bindungen des Menschen kompatibel ist. Zu diesen Bedingungen gehört es etwa ein Kind der eigenen Eltern sein, als Familien- und Gesellschaftsmitglied zu fungieren und mit Lebens- und Eigentumsrechten und -pflichten ausgestattet zu sein. Christliche Freiheit ist darüber hinaus dahin gehend spezifisch, dass Menschen durch die Taufe der Gemeinschaft der Glaubenden zugehörig sind. Sozialität zeigt sich deshalb darin, dass die Freiheit nicht als Unabhängigkeit missverstanden wird, sondern unter den Bedingungen von Gemeinschaftlichkeit vor Gott zu beanspruchen ist.855 Deshalb bezieht sich christliche Freiheit ausdrücklich auch nicht nur auf die persönliche Innerlichkeit. Sie lässt sich nicht auf eine gedankliche Freiheit begrenzen, sondern umfasst das gesamte leibliche und seelische Dasein des Menschen. In 852 853 854 855

Vgl. Gerhard Ebeling: Frei aus Glauben, 21. Vgl. Ulrich H. J. Körtner : Freiheit und Verantwortung, 77f. A. a. O., 79. Vgl. a. a. O., 78.

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Religiöse Reflexivität von Verantwortung

Existenzbedingungen eingebettet und von ihnen her begrenzt, ist sie lebendige Freiheit, weil Bindungslosigkeit den Menschen von Gott, von seinen Mitmenschen und schließlich von dem Leben selbst trennen würde, was seinem Tod gleichkäme.856 Die menschliche Freiheit ist also zuerst eine Freiheit durch und vor Gott. Dass es sich um eine Freiheit durch Gott handelt, lässt sich christologisch spezifizieren. Zu einem Leben in Freiheit ist der Mensch durch Jesus Christus befreit.857 Diese Freiheit zeichnet sich dadurch aus, dass sie es dem Menschen erlaubt, abseits von festlegenden Normen zu leben, die ihn unterjochen und ihm eine lebendige Freiheit versagen. Paulus fasst das, was den Menschen jenseits von Christus gefangen nimmt, unter den Begriff des Gesetzes. Damit sind die alttestamentlichen Weisungen gemeint, die das Leben des Menschen reglementieren und sich im Dekalog komprimieren.858 Es gehört zum ethischen Nachdenken über christliche Freiheit, den Zusammenhang von Gesetz und Evangelium zu bestimmen.859 Dabei gilt es zu diskutieren, in welchem Verhältnis die Befreiung des Menschen durch und in Jesus Christus zu der Orientierung an Gesetzen steht. Weil Jesus nicht postuliert hat, das Gesetz aufzuheben, sondern selbst die Gesetzeserfüllung personifiziert860, kann sich die Freiheit vom Gesetz nur durch Christus am Menschen ereignen. Indem Jesus das Gesetz stellvertretend für den Menschen erfüllt, entbindet er ihn einerseits davon, eigens für die Gesetzeserfüllung einzustehen. Andererseits wird der Mensch genau dadurch dazu herausgefordert, selbstbestimmt zu handeln. Weil diese Selbstbestimmtheit aus der bedingten Freiheit resultiert, ist sie ebenso wenig bin856 Vgl. a. a. O., 76f. 857 »Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auferlegen!« (Gal. 5, 1). Vgl. Trutz Rendtorff: Die christliche Freiheit als Orientierungsbegriff der gegenwärtigen christlichen Ethik, 379f. 858 Vgl. Ulrich H. J. Körtner : Freiheit und Verantwortung, 69f. 859 Mit seiner Untersuchung zur Diskussion von Gesetz und Evangelium beabsichtigt Ulrich H. J. Körtner aufzuzeigen, wie der Dekalog dazu verhelfen kann, ein Leben in der von Gott geschenkten Freiheit zu gestalten. Er versucht also den vermeintlichen Antagonismus einer an Gott gebundenen Freiheit argumentativ zu überwinden (vgl. ders.: Freiheit und Verantwortung, 69–83). Dies erfolgt vor dem Hintergrund des schon erwähnten Aspekts, dass Freiheit nach biblischem Verständnis weder bedeutet, vollständig auf die eigene Innerlichkeit verwiesen zu sein, noch mit Bindungslosigkeit gleichzusetzen ist: »Ein Freiheitsdrang, der im Dekalog zur völligen Ungebundenheit besteht, ist also in Wahrheit nichts anderes als jener Todestrieb, den die biblische Sprache Sünde nennt« (a. a. O., 76f.). In der Konsequenz bedeutet das, dass Bindungen den Menschen nicht unbedingt einschränken müssen, sondern auch als lebensfördernde Hilfe fungieren können, um die eigene Freiheit zu gestalten. Dies kann auch für die Gebote des Dekalogs gelten. 860 »Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen. Denn wahrlich, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüpfelchen vom Gesetz, bis es alles geschieht« (Matth. 5, 17f.).

Religiöse Freiheit als gebundene Freiheit

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dungslos wie die Freiheit selbst und bleibt Gott gegenüber verpflichtet.861 Sie bestimmt sich also von dem gegenwärtigen Gebieten Gottes her, das von seinem geschichtlichen Wirken in der Vergangenheit unterschieden werden muss. Den Dekalog räumlich und zeitlich dem Befreiungsgeschehen am Volk Israel zuzuordnen, führt zu der Frage, inwieweit er für den modernen Menschen gegenwärtig relevant ist. In Hinblick auf diese Frage unterscheiden Auslegungen der Wort-Gottes-Theologie zwischen »den Geboten« und »dem Gebot« Gottes. Das »Gebot Gottes«, in singulärer Form, bezieht sich auf ein aktuelles und damit »gegenwärtiges Gebieten«862 Gottes, das sich dem Menschen in unterschiedlicher Weise offenbaren kann. Gott wird für den Menschen dadurch gegenwärtig, dass er sein Gebieten etwa in bestimmten Situationen zeigt, in biblischen Worten oder Gewissensregungen. Die Aufgabe der theologischen Ethik besteht deshalb nicht darin, Gottes vergangenes Gegenwärtigsein mit dem Versuch zu aktualisieren, den Dekalog normativ auf heute zu übertragen. Vielmehr erfüllt das Zehnwort eine Vehikelfunktion, weil Gott den Dekalog für sein gegenwärtiges Gebieten gleichermaßen gebrauchen kann, wie andere Möglichkeiten, um dem Menschen seinen Willen zu offenbaren. Auf diese Weise würde nicht der Mensch nach einem Aktualitätsbezug der Zehn Gebote suchen, sondern Gott würde ihn in Form eines gegenwärtigen Geschehens selbst herstellen.863 Freiheit durch Gott ist Freiheit durch Jesus Christus und befreit den Menschen von falschen (Gesetzes-)Bindungen, die ihm das Joch der Unfreiheit auferlegen. Das impliziert, dass Freiheit vor Gott bedeutet, verpflichtet und berechtigt zu sein, die Gabe des Lebens zu gestalten. Damit bedeutet Freiheit nicht nur, von Zwängen entbunden, sondern für autarkes Handeln frei zu sein. Auf diese Weise wird der Mensch auch zur Verantwortung befreit.864 Die Freiheit von etwas steht deshalb in dem unauflöslichem Zusammenhang mit einer Freiheit für etwas anderes. Auf der einen Seite ist christliche Freiheit die »Freiheit von Gesetz, Sünde und Tod. Aber sie ist zugleich Freiheit für Gott und den Mitmenschen, Freiheit für einen neuen Lebensstil, für ein neues und radikales ethisches Engagement«865. Deshalb kann sich diese Freiheit in das Handeln des Menschen als politische und gesellschaftliche Person eintragen und ihm dadurch auch zu einer neuen Verpflichtung werden. Verpflichtend wird die Freiheit 861 »Denn das ganze Gesetz ist in einem Wort erfüllt, in dem (3. Mose 19, 18): ›Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!‹« (Gal. 5, 14). 862 A. a. O., 80 (H. i. O.). Körtner rekurriert mit seinen Ausführungen auf die Wort-GottesTheologie des 20. Jahrhunderts und nennt als bedeutsame Vertreter beispielhaft Emil Brunner, Karl Alhaus, Karl Barth, Dietrich Bonhoeffer sowie Gerhard Ebeling (vgl. ebd.). 863 Vgl. ebd. Ulrich H. J. Körtner exzerpiert hier Gerhard Ebeling: Erwägungen zur Lehre vom Gesetz, 291 in: ders.: Wort und Glaube [1], Tübingen 1960, 255–293. 864 Vgl. Martin Honecker : Das Recht des Menschen, 179. 865 Ulrich H. J. Körtner : Freiheit und Verantwortung, 13.

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Religiöse Reflexivität von Verantwortung

dem Glaubenden insbesondere dann, wenn er die an ihm geschehene Gottesgnade als einen Auftrag zur erhöhten Solidarität interpretiert. Dann kann es geschehen, dass er die Privilegien der Freiheit hinter die aus ihr resultierenden Verpflichtungen zurückstellt und sie dadurch gar verpfändet.866 Es verweist also in den Bereich der Selbstbestimmung des Menschen hinein, ob er die Freiheit vom Gesetz vornehmlich in Richtung eines Tuns auslegt oder in Richtung eines Lassens.867 Vor dem Hintergrund der bisherigen Argumentation ist Körtners Paulusdeutung von Interesse. Zugunsten eines Gegengewichts zum traditionsgeschichtlich tief verwurzelten Verpflichtungscharakter des »Tun-Könnens« stärkt der Theologe mit seiner Auslegung das Privileg des »Sein-Lassens«. Zwar erhält der Mensch mit der Freiheit auch neue Möglichkeiten zum Handeln, aber diese dürfen ihm nicht zu neuen, selbst auferlegten Zwängen werden, die sich an einem (verdeckten) christlichen Moralismus orientieren. Von Christus befreit zu sein, meint »Sein-Lassen« zu können. Das bedeutet »Gott Gott und den Anderen diesen Anderen sein zu lassen«868. Gerade in dem Verzicht darauf, das Gottesgeschenk der Freiheit mit dem eigenen Tun vergelten zu wollen, nimmt der Mensch die Bedingungslosigkeit der Gottesgnade für sich in Anspruch. Das Geschenk der Freiheit als ein »Sein-Lassen« anzunehmen, anerkennt, dass das menschliche Tun begrenzt ist und sich im Rahmen des Endlichen vollzieht. Infolgedessen relativiert sich die Bedeutsamkeit des »Tun-Könnens« dahin gehend, dass mit ihm nicht beansprucht wird, über einen vor Gott gültigen Beurteilungsmaßstab zu verfügen. Indem die Ehre Gottes allem vorangestellt wird, ordnet der Mensch sich selbst und sein Tun nebst seinen Vorstellungen über Recht und Unrecht Gott zu. Die Begrenztheit seiner eigenen Handlungsmöglichkeiten deutet er dann als von der größeren und ihn durchdringenden, für den Menschen zugleich unbegreiflichen Wirkungsmacht Gottes umschlossen. Eine Freiheit »reiner Rezeptivität, einer Grundpassivität und Empfänglichkeit, die inmitten allem Tätigsein des Menschen gegenwärtig ist«869 ersetzt dann verpflichtendes, gar zwanghaftes und entsprechend wieder unfreies Tun. Der Mensch bleibt in einem solchen Hingeordnetsein auf Gott zwar Handelnder, 866 Diese Auslegung des Freiheitsverständnisses geht schöpfungstheologisch auf die dahinterliegende Vorstellung zurück, dass der Mensch für die Welt als Schöpfungswerk Gottes vor Gott verantwortlich ist. Das bedeutet, dass die »Werthaftigkeit des Seins und die Verpflichtung des Menschen […] aus dem gleichen göttlichen Schöpfungsakt« (Franz-Xaver Kaufmann: Der Ruf nach Verantwortung, 24) resultieren. Diesem Freiheitsverständnis nach dominiert die Selbstverpflichtung des Menschen als dankende Antwort auf die an ihm geschehene Gottesgnade. 867 Zur vertiefenden Ausführung des »Tuns« und »Lassens« und zur »Ethik des Sein-Lassens« vgl. Ulrich H. J. Körtner : Freiheit und Verantwortung, 12–14. 868 Beide Zitate a. a. O., 14. 869 A. a. O., 15.

Religiöse Freiheit als gebundene Freiheit

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aber in allem Tun zuerst und stets gegenwärtig auch Empfangender. Dementsprechend ordnet er die Urheberschaft aller Dinge nicht sich selbst zu, sondern Gott. Ein »Sein-Lassen« dieser Art darf allerdings nicht dahin gehend missverstanden werden, als dass das menschliche Handeln angesichts der Befreiungstat Christi irrelevant geworden wäre. Die Erlaubnis, »Sein-Lassen« zu dürfen, entbindet nicht von der sittlichen Pflicht in der Welt. In diesem Sinne weist Honecker darauf hin, dass Paulus die Christen in Korinth sehr wohl an eine »letzte, eschatologische Verantwortung«870 erinnert, indem er dazu ermahnt, zu bedenken, dass jeder einst vor dem letzten Gericht stehe und solchermaßen empfange, wie er selbst zu Lebzeiten es durch sein Handeln angebahnt habe.871 Daraus lässt sich schlussfolgern, dass christliche Freiheit als eine über sich selbst reflektierende Freiheit zu verstehen ist, die auf die Selbstbestimmtheit des Menschen rekurriert und ihn dazu herausfordert, sich inmitten des Spannungsfeldes aus »Tun-Können« und »Sein-Lassen« zu verhalten. Dieses Spannungsfeld ist kongruent mit dem Möglichkeitenraum von Verantwortung zwischen dem, was notwendig und dem, was unmöglich ist.872 Vor dem Horizont christlicher Reflexivität handelt es sich aber nicht um ein bezugsloses Möglichkeitenspektrum, sondern um eines, das in eine größere Hoffnungsdimension eingebunden ist. Mit Huber lässt sich dieser Aspekt folgendermaßen treffend pointieren: »Der christliche Glaube bewahrt die Hoffnung auf ein Leben auf, das nicht kraft menschlichen Handelns, sondern kraft göttlicher Gnade gelingt. Diese Hoffnung ermächtigt zu einer Verantwortung, die dem, was droht, keine Herrschaft über unsere Gedanken zuerkennt.«873 Dem Wagnischarakter der »Entscheidungsverantwortung« wird also eine spezifische Form der Lebensdeutung entgegengestellt, die das selbstempfundene Risiko eines verantwortlichen Handelns relativiert. Einerseits erkennt der über sich selbst reflektierende freie Mensch sein Handeln als vorläufig und seine Einflussmöglichkeiten als begrenzt. Das dispensiert ihn davon, sich sein Tun und deren Folgen in einer Weise zuzurechnen, die das Gelingen des Lebens in einer unrealistischen und infolgedessen überfordernden Art an ihn bindet. Andererseits weiß er darum, dass ein gelingendes Leben auch davon abhängt, dass Gott in das Leben des Menschen hinein- und durch es hindurchwirkt. Die ihm geschenkte Freiheit fordert vonseiten des Menschen deshalb ein, Gottes Gebieten zu vernehmen und ihm zu entsprechen. Der Mensch ist dazu freigesetzt, vollmächtig mit seinem vom Glauben geprägten Selbstverständnis umzugehen. Eine solchermaßen verstandene menschliche Freiheit im Spannungsfeld von Gehorsam 870 Martin Honecker : Wege evangelischer Ethik, 236. 871 »Denn wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi, damit jeder seinen Lohn empfange für das, was er getan hat bei Lebzeiten, es sei gut oder böse« (2. Kor. 5, 10). 872 Vgl. 6.2 Das Phänomen Verantwortung zwischen Entscheidung und Haftung. 873 Wolfgang Huber : Konflikt und Konsens, 154.

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Religiöse Reflexivität von Verantwortung

und Autarkie lässt sich rechtfertigungstheologisch begründen und dadurch in Hinblick auf Verantwortungsübernahme noch weiter spezifizieren. Dies wird im Folgenden vertiefend gezeigt, indem die anthropologischen Vorüberlegungen874 theologisch so angereichert werden, dass sich das Bild des Menschen um die Dimension der Rechtfertigung seines Lebens vor und durch Gott erweitert.

9.2

Der Mensch als gerechtfertigtes Wesen vor Gott

Die mit den anthropologischen Vorüberlegungen vorgenommene Wesensbestimmung des Menschen beinhaltet, dass er dazu in der Lage ist, sich über die ihn umgebene Umwelt bewusst zu werden. Er kann sie so für sich erschließen und gestalten, dass sie ihm zur eigenen Bestands- und Niveausicherung dient. Als Bewusstseinsgeschöpf ist er zudem zur Selbsterkenntnis fähig. Sich kognitiv von sich selbst zu distanzieren und damit zugleich fragendes Subjekt und zu erkennendes Objekt zu sein, dient dem Versuch, die eigene Existenz in einen gesamtweltlichen Sinnzusammenhang einzuordnen. Der Sinnzusammenhang erschließt sich dem Menschen nicht allein dadurch, dass dieser sich als Teil der wahrnehmbaren Umwelt definiert, sondern verweist auf eine transzendente Dimension. Die Disposition des Menschen zeichnet sich deshalb durch eine Mehrdimensionalität aus, die ein philosophisch und theologisch konnotiertes anthropologisches Fragen zu berücksichtigen hat. Scheler unterscheidet diesbezüglich zwischen »Selbstbewußtsein«, »Weltbewußtsein« und »Gottesbewußtsein«875. Davon ausgehend, dass diese drei Bewusstseinssphären eine »unzerreißbare Struktureinheit«876 bilden, sind sie zeitgleich präsent und wirken deshalb auch aufeinander ein. Das bedeutet, dass sich das »Gottesbewusstsein« des Menschen konkret auf das Erleben des Selbst und der Umwelt auswirkt. Das »Selbst-« und »Weltbewusstsein« des Menschen wurde mit obigen anthropologischen Vorüberlegungen hinreichend bedacht. Für den Kontext dieser Untersuchung sind nun weiterführende Überlegungen dazu bedeutsam, inwieweit sich ein christliches »Gottesbewusstsein« so auf die anderen Bewusstseinsphären des Menschen auswirkt, dass sich daraus konkrete Konsequenzen für die Übernahme von Verantwortung ergeben. Zwar bieten die Überlegungen Schelers dafür den Anknüpfungspunkt, aber weil er die Bewusstseinssphären abseits der theistischen Grundannahme eines persönlichen Gottes diskutiert, kann nur 874 Vgl. 2.4 Die Konfliktträchtigkeit des Menschen – Anthropologische Vorüberlegungen. 875 Alle Zitate Max Scheler : Die Stellung des Menschen im Kosmos, 106. Unter »Gott« versteht Scheler hier »ein mit dem Prädikat ›heilig‹ versehenes ›Sein durch sich selbst‹ […], das natürlich tausendfältige bunteste Ausfüllungen annehmen kann« (ebd.). 876 A. a. O., 107.

Der Mensch als gerechtfertigtes Wesen vor Gott

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eingeschränkt auf seine Ausführungen rekurriert werden.877 Um sich dem »Gottesbewusstsein« in Hinblick auf seine Dimension des Glaubens annähern zu können, muss deshalb auf anderweitige Begründungsversuche zugegriffen werden. Hilfreich lassen sich hierzu Studien zur theologischen Ethik von Körtner heranziehen. Durch eine von ihm entfaltete rechtfertigungstheologische Argumentationsfigur eröffnet sich ein Zugang dazu, das »Gottesbewusstsein« aus christlich-theologischer Perspektive zu beschreiben und aufzuzeigen, wie sich dies auf die triadische Struktureinheit der drei Bewusstseinssphären auswirkt. Ausgangspunkt von anthropologischen Überlegungen, die über die Beschreibung des Menschen als biologisches Wesen hinausgehen, ist die Frage nach seinem grundsätzlichen Existenzrecht. Sie lässt sich aber nur beantworten, wenn zuvor Grundbedingungen des Menschseins bestimmt wurden. Dafür reicht es nicht aus, Wesensmerkmale zu definieren, sondern es muss nach Gründen dafür gesucht werden, warum der Mensch überhaupt existiert.878 Inwieweit der Mensch sein Dasein aus sich selbst heraus begründen und dadurch rechtfertigen kann, wird unterschiedlichen Denktraditionen gemäß verschieden angenommen. Die christlich-reformatorische Antwort auf diese Frage nach der Rechtfertigung des Menschen lautet: »Gott rechtfertigt das Leben eines jeden Menschen. Der Mensch ist der von Gott gerechtfertigte Mensch und eben deshalb braucht er sich selbst und sein Dasein nicht zu rechtfertigen.«879 Das humane Existenzrecht begründet sich also ausschließlich von Gott her, der den Menschen allein aus Gnade heraus rechtfertigt. Neben dem Bild vom Menschen als grundlos Gerechtfertigtem steht das unauflösliche Bild des Sünders, sodass der Mensch beides zugleich ist: Gerechtfertigter und Sünder (simul iustus et peccator). Das reformatorische Sündenverständnis begrenzt sich dabei nicht auf einzelne Taten des Menschen, sondern umschließt sein ganzes Wesen: Die Natur des Menschen steht vollständig unter dem Eindruck der Sünde und wird von hierher unterjocht. Dadurch ist der Mensch unfrei und kann nur durch Sündenvergebung im Glauben befreit werden.880 Erst dann kann er auch den tatsächlichen negativen Einfluss der Sünde auf sein Leben erkennen. Sünde als ein »Sichverfehlen« ist wesenhaft »Glaubenslosigkeit und Lieblosigkeit, Glaubenslosigkeit, weil der Glaubenslose Gott verfehlt, Lieblosigkeit, da derjenige, der Sünde tut, sich gegen seine Mitmenschen verfehlt«881. Eine Selbsterkenntnis, die der Mensch nicht aus sich selbst heraus erwirkt, sondern die ihm als Gnaden877 Vgl. Max Schelers Ausführungen zu den Voraussetzungen des philosophischen Diskurses (a. a. O., 110). 878 Vgl. Ulrich H. J. Körtner : Freiheit und Verantwortung, 59f. 879 A. a. O., 60. 880 Vgl. a. a. O., 62. 881 Martin Honecker : Das Recht des Menschen, 205.

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Religiöse Reflexivität von Verantwortung

gabe Gottes eingegeben wird, ist also der Schlüssel dazu, sich über eigene Verfehlungen überhaupt bewusst werden zu können. Damit ist sie eine Grundvoraussetzung für Verhaltensänderungen. Dieses Rechtfertigungsverständnis kann folgendermaßen auf die drei Bewusstseinsphären angewendet werden: Indem Gott als der grundlos Liebende erkannt wird, der seine Gnade an dem Menschen geschehen lässt, gelangt dieser zu einem »Selbstbewusstsein« im Glauben. Dieses Bewusstsein zeichnet sich dadurch aus, dass sich Gottes- und Selbsterkenntnis wechselseitig bedingen, weil auch Gott und Mensch als aufeinander bezogen erkannt werden. Der Mensch versteht sich also von Gott her, der die menschliche Existenz rechtfertigt. In diesen Zusammenhang spielt auch eine schöpfungstheologische Komponente mit hinein, die mit dem »Gottesbewusstsein« zusammenhängt. Das »Gottesbewusstsein« zeigt sich darin, Gott nicht nur als den Rechtfertigenden zu erkennen, sondern zugleich als den Schöpfer desjenigen Lebens, das er rechtfertigt. Das Menschsein wird also als eines bestimmt, das den Menschen als Geschöpf vor dem Gott versteht, durch den die Schöpfung erst geworden ist. Gott hebt den Menschen ins Leben, erhält ihn dadurch, dass er ihm alles Lebensnotwendige zur Verfügung stellt und lässt ihn über den reinen Lebenserhalt hinaus an der Fülle des Lebens teilhaben. Damit ist das Leben des Menschen die »irdische Konkretion der Rechtfertigung des Sünders«882. Alles menschliche Sein und Tun speist sich infolgedessen von der Gnade Gottes her. Das bedeutet, dass der Mensch empfängt, bevor er selbst geben kann, geliebt wird, bevor er selbst lieben kann und von Gott her bestimmt wird, bevor er sich selbst bestimmen kann. Dieses Menschenbild postuliert eine unauflösliche Verbindung zwischen Schöpfer und Geschöpf. Demgemäß zeigt sich das »Weltbewusstsein« des Menschen von hierher als eines, das die »gute Schöpfung Gottes [konstatiert], deren Erkenntnis durch die Macht der Sünde verdunkelt oder nihilistisch verstellt ist«883. Der Mensch, der seine Umwelt unter dem Eindruck seiner wesenhaften Konfliktträchtigkeit als Mängelwesen insbesondere in Hinblick auf Fragen bezüglich seiner eigenen Bestands- und Niveausicherung wahrnimmt und beschreibt, ist deshalb von dem Menschen zu unterscheiden, der zudem in der Lage dazu ist, sich der Welt aus dem Glauben heraus bewusst zu werden. Aus Sicht des Glaubens lässt sich die Welt als das, was sie tatsächlich ist, nur von Gott her erschließen, nämlich als Schöpfung, zu der Gott sein bedingungsloses »Ja« gesprochen hat.884 Durch die Beziehung zu Gott ereignet sich also eine Bewusstseinserneuerung im Menschen.885 Damit erweitern sich die oben vorge882 883 884 885

Ulrich H. J. Körtner : Freiheit und Verantwortung, 62. A. a. O., 61. »Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut« (1. Mose 1, 31). Oswald Bayer beschreibt diese Bewusstseinserneuerung im Menschen als »Wiedergeburt«

Der Mensch als gerechtfertigtes Wesen vor Gott

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nommenen anthropologischen Bestimmungen um die Dimension des Glaubens, die den Menschen durch ein Zusätzliches beschreibt, nämlich durch seine Beziehung zu Gott. Das Bewusstsein hinsichtlich eines Gottes, der von Scheler allgemein unter das Prädikat des Heiligen gefasst wird als ein »Sein durch sich selbst«886, konkretisiert sich durch die Beziehung des Menschen zu einem persönlichen Gott. Diese Konkretheit wirkt sich dann auch faktisch auf die Lebensgestaltung des Menschen aus. Anhand des Adverbs »zugleich« lässt sich verdeutlichen, inwieweit die vorgenommene rechtfertigungstheologische Vertiefung Verantwortungsübernahme unter dem Eindruck christlicher Reflexivität prägt. Dazu ist, Körtner folgend, auf Martin Luthers Unterscheidung zwischen »innerem und äußerem Menschen«, »Christperson und Weltperson«887 zu rekurrieren. Luthers Verständnis nach ist der Mensch »zugleich« innerer und äußerer Mensch, er ist »zugleich« Christperson und Weltperson und er ist »zugleich« Gerechter und Sünder. Verantwortliches Handeln, das sich vor dem Horizont eines christlichen »Selbst-«, »Welt-« und »Gottesbewusstseins« zuträgt, kann die spannungsreiche Mehrdimensionalität der menschlichen Existenz und der sie umgebenen Wirklichkeit nicht ausblenden. Dadurch, dass sich alles Handeln in einer Welt vollzieht, die durch die Macht der Sünde verdunkelt ist und der Mensch seinem Wesen nach Sünder bleibt, kann es nicht vollständig abseits der Sünde erfolgen. Weil der Mensch aber inmitten der Sünde auch Gerechtfertigter ist, vollzieht sich sein verantwortliches Handeln vor dem Hintergrund einer soteriologischen Hoffnungsdimension.888 Christlich verantwortetes Handeln als sündiger und »zugleich« gerechtfertigter Mensch zeichnet sich dadurch aus, dass um eine situationsangemessene Handlungsentscheidung gerungen wird, die dem gegenwärtigen Gebieten Gottes bzw. »Neuschöpfung«. Sie muss erst geschehen, »damit der durch die Kreatur mich anredende Schöpfer wieder gehört wird. Es ist das Werk Jesu Christi, mir Augen und Ohren zu neuer Wahrnehmung der Welt zu öffnen, mich bis in die Wurzel meiner Existenz von der Sorge als der Flucht in reine Zukunft und von der Sucht, Verantwortung für alles zu übernehmen, zu heilen und mich im selben Maße dankbar die Welt als Schöpfung wahrnehmen zu lassen, indem ich nüchtern der Grenzen inne werde, die mir gesetzt sind« (ders.: Schöpfung und Verantwortung, 194). Diese Bewusstseinserneuerung bedeutet aber nicht, dass sich aus der Perspektive des Glaubens eine einheitliche Wahrnehmung der Welt eröffnet. Demgemäß beurteilt es Arnulf von Scheliha als missverständlich, von »dem Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens« zu sprechen (ders.: Der Glaube an die göttliche Vorsehung, 343f. [H. i. O.]). 886 Max Scheler : Die Stellung des Menschen im Kosmos, 106. 887 Beide Zitate Ulrich H. J. Körtner : Freiheit und Verantwortung, 64. 888 Ulrich H. J. Körtner fasst diesen Sachverhalt folgendermaßen zusammen: »Rechtfertigung bedeutet Freiheit von der Macht der Sünde. Sie ist ein frohmachendes, das Leben von Grund auf erneuerndes Befreiungsgeschehen. Selbst noch im Leben der Gerechtfertigten zeigt sich freilich die Macht der Sünde, auch wenn sie durch Christus gebrochen ist« (ders.: Freiheit und Verantwortung, 63).

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entspricht. Dahin gehend erhält die paulinische Ermahnung, einst von Gott zur Rechenschaft gezogen zu werden, ihre Brisanz.889 Weil der Mensch vollständig von Gott erkannt ist, werden nicht nur seine äußerlichen Taten einer grundlegenden Fraglichkeit unterzogen, sondern Gott prüft auch das Herz. Wenn aber nichts mehr im Verborgenen bleiben kann, ist auch die Innerlichkeit des Menschen für den Rechenschaftsfall relevant. Wenn eine Bewusstheit über diesen Zusammenhang vorherrscht, vertiefen sich Vorgänge des Denkens, Fühlens und Entscheidens desjenigen Menschen, der Gottes Gebieten entsprechen will. Dadurch ergibt sich eine spezifisch christliche Prägung eines inneren Ringens um eine verantwortliche Tat. Eine unauflösliche Paradoxie ergibt sich daraus, dass der Handelnde zwar nicht von diesem Ringen entlastet wird. Indem er aber von Gott gerechtfertigt ist, hängt weder sein eigenes Heil noch das Heil des Nächsten von einer Handlungswahl ab. Der Mensch darf seine Verantwortung deshalb in die grundlose Liebe desjenigen Gottes hineinbergen, der das menschliche Leben verantwortet und deshalb zum Handeln befreit.890 Den doppelten Verweisungszusammenhang christlich zu kontextualisieren macht es deshalb notwendig, zwischen zwei Verantwortungsebenen zu unterscheiden. Das »für« und das »vor« der menschlichen Verantwortung bleibt uneingeschränkt bestehen. Das »für« und das »vor« der Gottesverantwortung besteht darin, dass Gott für den Menschen einsteht und zwar vor sich selbst, weil es keine höhere Richtinstanz gibt als das Gericht Gottes.891 Dieses Verantworten Gottes hat sich in seinem Geschichtshandeln in Jesus Christus schon vollzogen, indem er die Sünde stellvertretend auf sich genommen hat und damit für den Menschen vor Gott einsteht. Wenn der Mensch den Glauben an die Erlösungstat Gottes durch Jesus Christus für sein Leben gelten lässt, bestehen die Zumutung und das Wagnis gerade darin, »die Bedingungen des eigenen Daseins auf sich zu 889 2. Kor. 5, 10. 890 Der Gedanke des Ringens darum, sich selbst aus den Verfehlungen hervorzuholen, ist auch für Wilhelm Weischedels Denken konstitutiv (vgl. 8.2 Selbstverantwortung als tiefste Verantwortungsart). Diese philosophische Auslegung muss aus christlich-theologischer Perspektive dadurch ergänzt werden, dass sich der Mensch nicht aus eigener Kraft aus seinen Verfehlungen – der Sünde – hervorholen kann, sondern auf Gott angewiesen ist. Dieser Sachverhalt entbindet den Menschen aber nicht davon, zu überprüfen, ob sein Handeln christusgemäß ist. Das Streben danach, den Verfehlungen zu entsagen, gehört zu einem Leben, das sich von der Bindung an Gott her versteht, denn nicht die Sünde ist gerechtfertigt, sondern der Sünder (DBW 4, 29). Dies wird an späterer Stelle noch vertieft (vgl. 13 Der verantwortliche Mensch). 891 Wenn das »für« und das »vor« der Verantwortung solchermaßen zusammenkommen, erhalten die Fragen nach der tatsächlichen Existenz von Sünde als eine nach göttlichem Ermessen »falsche« Lebensweise und einem Gericht Gottes eine neue Qualität. Der Mensch kann zwar an beides glauben und sein Handeln auch von solchem Glauben mitbestimmen lassen, aber was tatsächlich nach dem Tod geschieht, kann er zu Lebzeiten nur erahnen, nicht aber sicher darum wissen.

Der Mensch als gerechtfertigtes Wesen vor Gott

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nehmen, und zwar als etwas, das überwunden werden muß. Was diesen Mut so schwierig macht, ist der Umstand, daß die Sünde nicht durch uns selbst überwunden werden kann«892. Das Rechtfertigungsgeschehen entbindet den Menschen also nicht von seinem inneren Ringen. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall: Unter dem Eindruck eines christlichen »Selbst-«, »Welt-« und »Gottesbewusstseins« erkennt der Mensch, dass er auf diejenigen Umstände angewiesen ist, die sein Leben erhalten und es rechtfertigen. Er weiß darum, in seinem Selbsterleben von sündhaften Verstrickungen umgeben zu sein, oft unfrei und mit dem Wunsch, sich abzusichern. Die Zumutung allen inneren Ringens um die verantwortliche Tat besteht deshalb darin, dass dem Menschen seine eigene Angewiesenheit ebenso gegenwärtig ist wie das Wissen darum, aus sich selbst heraus unfähig zu einem absolut guten Tun abseits jeder Fehlbarkeit zu sein.893 Aus dem bisher Gesagten lässt sich allerdings nicht schlussfolgern, dass der christliche Glaube ein grundlegend neues Verantwortungsverständnis postulieren würde.894 Er bietet eine Möglichkeit dazu, (ethische) Situationen vertiefend zu deuten. Zudem legt religiöse Reflexivität eine Komponente frei, die dem Verantwortungsbegriff schlechthin immanent ist. Picht bezeichnet sie als einen »eigentümlichen Überschuß«895, der sich nicht hinreichend in die klaren Grenzen der »doppelten Verweisung« einfassen lässt. Dieser Überschuss bedingt, dass Verantwortung gegenüber anderen Begriffen mit einer moralischen Komponente belegt ist, die über sachbezogene Rechenschaftspflicht hinausgeht und sich deshalb nicht an allgemeingültigen Kriterien messen lässt. Picht begründet diese moralische Hypertrophie geisteswissenschaftlich damit, »daß die Verantwortung jedes Menschen schlechthin vor dem Richterstuhl Christi alle jene Distinktionen durchbricht, deren das endliche Denken des Menschen bedarf, um rechtliche und moralische Ordnungen zu etablieren«896.

Dieser Annahme zuzustimmen, beinhaltet, dass die religiöse Dimension grundsätzlich schon im Verantwortungsbegriff angelegt ist und deshalb nicht erst von außen zugeschrieben werden muss. Dann lässt sich schlussfolgern, dass religiöse Reflexivität von Verantwortung nichts anderes meint, als sich über die religiöse Immanenz von Verantwortung klar zu werden und sie für das eigene Leben gelten zu lassen. Es geht also um den Grad der Bewusstheit darüber, dass und in welcher Form Gottes gegenwärtiges Gebieten zur verantwortlichen Tat ruft. Dieser Ruf Gottes ist zwar situationsbezogen, lässt sich aber dahin gehend generalisieren, dass Gott zu einer Verantwortungsübernahme aufruft, die sich 892 893 894 895 896

Wolfhart Pannenberg: Was ist der Mensch?, 47. Vgl. 10.2 Eigenes »Gutsein« als Selbstüberschätzung des Menschen. Vgl. Ulrich Barth: Religion in der Moderne, 334f., 342. Georg Picht: Wahrheit, Vernunft, Verantwortung, 320. Ebd.

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Religiöse Reflexivität von Verantwortung

am Kriterium der Liebe orientiert.897 Dementsprechend handelt es sich bei dem Überschuss um ein »›Mehr‹ der Liebe, zu welchem der Glaube freimachen will«898. Die vorangegangenen Überlegungen zur Freiheit und Rechtfertigung des Menschen dienen als Grundlage für die beiden nun folgenden Unterkapitel. Diese sollen dafür einstehen, religiöse Bezüge zu den beiden generellen Grundsätzen der Mediation Selbstbestimmtheit und Akzeptanz aufzuzeigen. Einzelne Aspekte, die durch das Freilegen der religiösen Dimension von Verantwortung aufscheinen, werden anschließend beispielhaft anhand der Verantwortungsethik Bonhoeffers theologisch konkretisiert. Es wird sich zeigen, in welcher Hinsicht die Personalität des Verantwortungsträgers für die ethischen Überlegungen Bonhoeffers von Bedeutung ist. Der Brückenschlag zwischen Mediation und Theologie gelingt also vornehmlich über die generellen Grundsätze und die Zentralstellung des Menschen in der Mediation.

9.3

Akzeptanz als Ausdruck christlicher Liebe

Christliche Verantwortungsethik steht in einem Zusammenhang mit dem Gedanken der Rechtfertigung. Die ethische Rechenschaftspflicht gründet auf der Rechtfertigung des Sünders durch Gott, der durch die Verfehlungen hindurch in eine Beziehung zum Menschen tritt. In dieser unbedingten Akzeptanz, die sich am Menschen durch das gnadenvolle Wirken Gottes zuträgt, liegt die Akzeptanz von den Menschen untereinander begründet. Der Grund für das »Mehr« an Liebe ist also keine entpersonalisierte, moralisch plausibilisierbare Gesetzmäßigkeit. Vielmehr ergibt er sich aus der lebendigen Beziehung zwischen dem Menschen und Gott. Deshalb geht es gerade nicht darum, Moralität anzuwenden, sondern die gegenwärtigen Lebensbeziehungen daraufhin zu überprüfen, wie sich in ihnen ein Handeln realisieren kann, das am Kriterium der Liebe orientiert ist. Körtner stellt diesen Zusammenhang folgendermaßen dar : »Wenn das Daseinsrecht des Einzelnen, theologisch verstanden, in der Rechtfertigung des Gottlosen gründet, kann es zwischenmenschlich nicht an moralische Bedingungen geknüpft werden. Vielmehr ist umgekehrt alle Moral an seiner Achtung zu bemessen.«899

897 »Wachet, steht im Glauben, seid mutig und seid stark! Alle eure Dinge lasst in der Liebe geschehen!« (1. Kor. 16, 13f.). 898 Martin Honecker : Das Recht des Menschen, 188. 899 Ulrich H. J. Körtner : Freiheit und Verantwortung, 109.

Akzeptanz als Ausdruck christlicher Liebe

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Es geht in zwischenmenschlichen Beziehungen deshalb darum, dass ein Mensch seine eigene »Gewißheit des Geliebtseins«900 in die Beziehung zu anderen Menschen hineingibt. Dies geschieht aus der Bewusstheit heraus, dass ihm die unbedingte Liebe Gottes nicht widerfahren ist, weil er sie sich verdient hat, sondern obwohl er sie sich nicht verdienen kann. Der Antagonismus zwischen dem Liebes- und dem Sündenbegriff bahnt ein Verständnis dahin gehend an, was ein am Kriterium der Liebe ausgerichtetes Handeln auszeichnet. Während sich die Sünde auf die Verfehlungen des Menschen bezieht, geschieht die Liebe im »Ereignis der Begegnung Liebender«901. Der von Honecker verwendete Begriff der »Begegnung« drückt treffend aus, dass das Liebeskriterium darauf abzielt, Beziehungen herzustellen. Wenn dabei ein Liebesverständnis zugrunde liegt, das Liebe nicht an Sympathien und Gefühle bindet, wird offenkundig, dass auch solche Begegnungen mit eingeschlossen sind, die zwischen grundsätzlich Unterschiedlichem stattfinden. Demgemäß zeichnet sich eine zuneigungsunabhängige Liebe dadurch aus, dass sie das gänzlich Unliebbare ebenso umschließt wie das augenscheinlich Liebenswerte. Eine solche Liebe hat die Liebe Gottes zum Vorbild, wie sie sich in Jesus Christus personifiziert hat. In Jesus begegnet der Gott der Liebe der Welt der Sünde und überwindet die weltlichen Verfehlungen dadurch, dass er eine Begegnung herstellt. Seine Liebe geht also in seiner bedingungslosen Selbsthingabe auf, die auf eine unermessliche Liebesmacht hinweist. Diese Liebe ist eine »Verheißung, und wo sie je und dann Wirklichkeit wird, ist sie unerwartetes Geschenk der Gnade – eben Gnadengabe, Charisma«902. Läge alle Liebesmöglichkeit allerdings außerhalb des menschlichen Einflussvermögens, könnte Liebe nicht zu einem Kriterium ernannt werden, an dem es Handlungen auszurichten gilt. Ebenso wie im Falle des Sündenverständnisses gilt deshalb auch für die Liebe als Gegenmacht, dass für den Menschen verfügbare und unverfügbare Faktoren ineinandergreifen. Die Glaubensgewissheit des Geliebtseins speist sich dadurch, dass der Mensch die Liebe, die Gott zu ihm hat, erkennt und glaubt.903 Diese Erkenntnis und dieser Glaube führen dazu, dass sich der Mensch über die ihm von Gott gegebene Freiheit zu einem »Tun-Können« und einem »Sein-Lassen904 bewusst wird. Ein »Tun-Können«, das sich am Kriterium der Liebe ausrichtet, realisiert sich in Handlungsentscheidungen, die darauf abzielen, Begegnungen herzustellen und versucht sich damit einer verfehlenden Lieblosigkeit zu versagen. 900 901 902 903

Martin Honecker : Das Recht des Menschen, 212. A. a. O., 210. A. a. O., 212, vgl. 209f., 211. »Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm« (1. Joh. 4, 16). 904 Vgl. 9.1 Religiöse Freiheit als gebundene Freiheit.

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Religiöse Reflexivität von Verantwortung

Das »Sein-Lassen« besteht darin, diese Handlungen nicht von (christlichen) Moralvorstellungen unterjochen und sich damit wieder der geschenkten Freiheit berauben zu lassen. In Hinblick auf das Liebesgeschehnis geht es allerdings schließlich darum, die Alternative zwischen »Tun-Können« und »Sein-Lassen« aufzulösen: Die Handlungen des Menschen, die er willentlich darauf ausrichtet, zu lieben, müssen mit der Bereitschaft vereint werden, die unverfügbare Liebe Gottes durch sich hindurchwirken zu lassen.905 Eine solche Haltung dient dazu, Gott den »Platz einzuräumen, der ihm gebührt«906. Es kann offenkundig werden, dass jeder Begegnung zwischen liebenden Menschen die Begegnung mit dem liebenden Gott schon vorausgegangen ist. In der zwischenmenschlichen Liebe realisiert sich also die Liebe Gottes und es »verwirklicht sich Gott als der, der einzig der Ermöglichungsgrund solcher Liebe ist«907. Von hierher begründet sich, warum eine Liebe, die ihren höchsten Ausdruck in der Feindesliebe908 hat, nicht vom Menschen allein verwirklicht werden kann. Sie gründet sich in Gott als der Grund allen Seins und übersteigt deshalb die selbsteigenen Möglichkeiten des Menschen, zu lieben.909 Jedoch liegt es am Menschen, sein Handeln daraufhin auszurichten, dass die Liebe in zwischenmenschlichen Begegnungen erfahrbar wird und sich dadurch konkretisiert. Das Eigentümliche christlicher Liebe, wie es bis hierher beschrieben wurde, lässt sich auf die Begriffe »Unvertretbarkeit« und »Stellvertretung« hin komprimieren. Um sie in Hinblick auf Verantwortungsübernahme inhaltlich zu füllen, kann nochmals hilfreich auf die »doppelte Verweisung« Pichts zurückgegriffen werden. Das »vor« und das »für« der Verantwortung christlich zu spezifizieren, hat zur Folge, dass sich in der Verantwortung des Menschen das liebende Geschichtshandeln Gottes solchermaßen widerspiegelt, wie es sich in Jesus Christus gezeigt hat: Der Mensch ist vor Gott und für andere verantwortlich. Es geht also darum, »[u]nvertretbar einzelner zu sein und stellvertretend für andere dazusein«910. Hierhin liegt die theologische Begründung dafür, 905 »Niemand hat Gott jemals gesehen. Wenn wir uns untereinander lieben, so bleibt Gott in uns und seine Liebe ist in uns vollkommen. Daran erkennen wir, dass wir in ihm bleiben und er in uns, dass er uns von seinem Geist gegeben hat« (1. Joh. 4, 12f.). 906 Ulrich H. J. Körtner : Freiheit und Verantwortung, 14. 907 A. a. O., 38 (H. i. O.). Ulrich H. J. Körtner setzt Gottesliebe und Nächstenliebe als eine »in sich unterschiedene Einheit« zueinander ins Verhältnis (a. a. O., 37). Zur Vertiefung des Aspekts, wie sich die Liebe Gottes von der zwischenmenschlichen Liebe formal unterscheiden lässt, verweist er auf Wilfried Härle: Dogmatik, Berlin/New York 1995, 75. 908 Die von Jesus eingeforderte Feindesliebe geht bis zur Selbstaufopferung. Sie gipfelt im Kreuzestod, in dem Gott sich freiwillig hingibt und dadurch die Unermesslichkeit seiner Liebe zeigt (vgl. Ulrich H. J. Körtner : Freiheit und Verantwortung, 38, 200f.). 909 Vgl. a. a. O., 38. 910 Wolfgang Huber : Konflikt und Konsens, 149 (H. i. O.). Einerseits weist Huber auf die christliche Überlieferungsgeschichte derjenigen modernen technischen Welt hin, die neue Herausforderungen an die Diskussionen um Verantwortung stellt. Andererseits versteht er

Akzeptanz als Ausdruck christlicher Liebe

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warum Verantwortungsethik als eine Sozialethik entfaltet werden muss, die es anstrebt, »Sozialität aus dem Geist der Liebe«911 heraus zu gestalten. Dies beinhaltet, den Stellvertretungsgedanken ebenso ernst zu nehmen wie den der »Unvertretbarkeit«. In Hinblick auf die »Unvertretbarkeit« wurde schon dargelegt, dass das persönliche Ringen um die verantwortliche Tat insbesondere vor dem Hintergrund religiöser Reflexivität eine besondere Tiefe mit sich bringt. Angesichts eines vermeintlich richtenden und barmherzigen Gottes wird dem Menschen bewusst, für sein Leben innerhalb seiner persönlichen Gottesbeziehung allein einstehen zu müssen. Aber auch hierin zeigt sich wieder ein »zugleich«, weil diese »Unvertretbarkeit« nicht beziehungslos bleibt, sondern eng mit dem Gedanken der »Stellvertretung« verbunden ist. Sofern sich Menschen aufeinander angewiesen wissen, gehen sie derart in der Gemeinschaft auf, dass sich das »Mehr« an Liebe in der unbedingten gegenseitigen Akzeptanz ausdrückt. Die Bereitschaft dazu, für den anderen und dessen Belange einzustehen, gewinnt deshalb an Tragweite, weil hier nicht gemeint ist, dass ein Mündiger für einen Unmündigen einsteht. Die Unvertretbarkeit jedes Einzelnen bleibt unberührt. Allerdings lädt der Geist der Liebe dazu ein, die menschliche Unkalkulierbarkeit des anderen auch auf sich selbst zu nehmen, sich also nicht um der eigenen Reinheit willen vom anderen zu separieren. Dann zieht sich der Mensch nicht mehr allein auf das zurück, was er eigenmächtig entschieden hat, sondern nimmt aus Liebe auch das in seinen Verantwortungsbereich mit hinein, was außerhalb seiner individuellen Entscheidungsmacht liegt. Es geht also darum, eine liebende Beziehung zu einem von sich selbst ganz und gar Verschiedenen aufzubauen und sie aufrechtzuerhalten. An den Menschen ergeht die Einladung, seine Selbstfokussierung preiszugeben und sich der Gemeinschaft hinzugeben.912 Im Geist der Liebe aufeinander angewiesen zu sein, bedeutet, dass das die Doppelstruktur von Verantwortung als theologisch begründet. Diese beiden Aspekte zeigen Huber zufolge auf, dass Verantwortung auf unauflöslichen theologischen Voraussetzungen beruht. Seiner Auffassung nach können sie selbst dann nicht geleugnet werden, wenn versucht wird, Verantwortungsethik ihrer christlichen Wurzel zu entledigen. Dies hat für ihn zur Konsequenz, dass es zu den Aufgaben theologischer Ethik gehört, diese nicht eliminierbare theologische Struktur aufzudecken (vgl. ebd.). Die Aspekte der »Unvertretbarkeit« und der »Stellvertretung« werden an späterer Stelle anhand des Verantwortungsbegriffs bei Dietrich Bonhoeffer theologisch noch vertieft (vgl. 11.2 »Stellvertretung« und das Verhältnis von Bindung und Freiheit; 12.3 Das Wagnis des Handelns und die Bereitschaft zur Schuldübernahme). 911 Ebd. 912 Gerhard Schwarz formuliert die Preisgabe des »Ich« an die Gemeinschaft samt der daraus folgenden Konsequenzen für den Einzelnen folgendermaßen: »In den Beziehungen verliert sich dieses Ich [im Sinne von Selbstbesitzen] wiederum. Der auf Freiwilligkeit beruhende Akt der Zuwendung, des Ich–Verlusts läßt dieses Ich wieder zurückgewinnen, reicher geworden durch die Anteile des anderen. ›Im anderen bei sich sein‹, nennt Hegel später diese Verlust-Gewinn-Dialektik der Liebe. ›Liebe deinen Nächsten wie dich selbst‹, heißt es bei Jesus« (ders.: Was Jesus wirklich sagte, 204).

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Religiöse Reflexivität von Verantwortung

Eigene im Fremden aufgeht, weil das Fremdbedürfnis des einen ein Eigenbedürfnis des anderen ist. Indem der eine auf den anderen achtet, wird ihm schließlich selbst zuteil, was er in die Gemeinschaft eingegeben hat.913 Diese Vorstellung von Gemeinschaft kann sich in dem Umfang realisieren, in dem kommunikative Prozesse kultiviert werden, die darauf abzielen, dass sich Menschen selbstbestimmt ausdrücken und einander akzeptierend Raum geben. Dann kann es tatsächlich gelingen, dass einer die Last des anderen (mit-)trägt.914 Die Liebe kann Beziehungen, in die Verschiedenartiges integriert ist, nur aufrechterhalten, wenn sie weder an Regungen von Zuneigung gebunden ist noch an die Erwartung, erwidert zu werden. Sie verlebendigt sich in einer Weise, die hier unter den Begriff des Dableibens gefasst werden soll, der sich von der Selbstliebe eines Menschen her erklären lässt. Nach dem biblischen Zeugnis handelt es sich um ein Miteinander von Selbst- und Nächstenliebe.915 In der Selbstliebe drückt sich die Unzerstörbarkeit der Selbstbeziehung des Menschen aus. Der Mensch kann nicht aus sich selbst heraustreten. Es ist ihm unmöglich, sich physisch, psychisch und seelisch zu verlassen. Trotz Regungen des Selbstzweifels, der Selbstablehnung und der Selbstentfremdung kann er nicht anders, als an und in sich zu bleiben. Während der Mensch über diese selbstbezogene Form des Dableibens nicht frei entscheiden kann, fällt es in den Bereich seiner willentlichen Entscheidungskraft hinein, dieses Dableiben in Form von Nächstenliebe auch nach außen hin zu verwirklichen. Das heißt, dass sich das unbedingte »Bei-sich-selbst-sein«916 durch einen Akt der Selbstbestimmung veräußern lässt. Dadurch wird die Liebe zu einer »Lebensbeziehung«917, in die alles mit hineingenommen wird, was das Leben selbst auszeichnet. Sie verschließt sich nicht vor den Unterschieden, den Missständen und dem Unrecht, sondern anerkennt ihre Faktizität und durchwirkt sie. Das Dableiben zielt also darauf ab, aus der Gottesbeziehung heraus, die den Urgrund allen Liebens bildet, in der Beziehung zum Nächsten zu bleiben und dadurch Akzeptanz auszuüben. Dieser Beziehungsgedanke kann auch für den Kontext der Mediation fruchtbar gemacht werden. Konflikte zeigen an, dass Menschen einander verfehlen, was im höchsten Eskalationsgrad schließlich sogar in die gegenseitige Vernichtung führen kann. Aufgrund der sich dabei ergebenen Eigendynamiken 913 An späterer Stelle wird bezüglich dieses Aspekts zwischen »Ego« und »Sein« unterschieden. Die beiden Begriffe dienen dann dazu, die hier gemeinte Gemeinschaftsbezogenheit am Beispiel des Verantwortungsbegriffs bei Dietrich Bonhoeffer zu konkretisieren (vgl. 10.1 Die Unterscheidung der menschlichen Existenz in Ego und Sein). 914 »Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen. […] Gott lässt sich nicht spotten, denn was der Mensch sät, das wird er ernten.« (Gal. 6, 2, 7 b). 915 »Es heißt: Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst« (3. Mose 19, 18; Matth. 22, 39 [H. d. V., WLL]). 916 Wolfgang Vorländer : Christus erkennen, 78. 917 Helmut Kuhn: Liebe, 11.

Akzeptanz als Ausdruck christlicher Liebe

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ist es wenig wirksam, das negative Konfliktverhalten dadurch argumentativ abwenden zu wollen, dass auf geltende Grundnormen verwiesen wird. Deswegen bedürfen eskalierte gegenseitige Missachtungen nach Honecker einer »tiefergreifenden Widerlegung«918. Konfliktgeschehnisse vor dem Horizont des christlichen Glaubens zu reflektieren, deckt die zerstörerischen Missverhältnisse zwischen Menschen als »Ausdruck von Glaubens-, Lieb- und Hoffnungslosigkeit«919 auf. Sich darüber bewusst zu werden, dass der Mensch durch alles Handeln außerhalb der Liebe Gott, seinen Nächsten und sich selbst verfehlt, bahnt den Weg aus der Missachtung hin zu einer auf Akzeptanz gegründeten Beziehung an. Es handelt sich um Früchte des Glaubens, wenn die eigenen Verfehlungen, die sich im Konfliktgeschehen zutragen, erkannt und bekannt werden. Erkenntnis und Bekenntnis, die aus der Glaubensgewissheit der Vergebung resultieren, sind notwendige Schritte auf dem Weg dahin, Verfehlungen zu überwinden. Dabei legt der Glaube an die Versöhnungstat durch Jesus Christus den Grund dafür, die eigene Rechtfertigung anzunehmen und sich darüber bewusst zu werden, dass das Kreuzesgeschehen die Selbstverständlichkeit der Sünde in Frage stellt und sie überwindet. Für das konkrete menschliche Handeln leitet Honecker daraus zwei Konsequenzen ab: Erstens wird offenbar, dass die Missachtung zwischen Menschen nicht »das Werk anonymer Mächte«920 ist. Für den Konfliktfall hat das zur Konsequenz, dass eigene Verfügungsmöglichkeiten über Handlungen anzuerkennen sind, ohne sich dabei darauf zurückzuziehen, sich der Sündenmacht nicht aus eigener Kraft entziehen zu können. Daran schließt sich zweitens die im Glauben begründete Hoffnung an, dass der Mensch durch die von Gott her geschehene Rechtfertigung dazu freigesetzt wurde, Handlungsveränderungen herbeizuführen. Diese sollen darauf abzielen, Missachtung in Achtung, Missverstehen in Verstehen und Lieblosigkeit in Liebe zu wenden.921 Im Konfliktregulationsprozess geht es deshalb darum, die selbsteigenen Handlungsmöglichkeiten zu nutzen, die zwischen dem Verhaftetsein in der Sünde und der Befreiung durch Jesus Christus liegen. Für diesen Bereich des Selbstverfügens bietet Mediation konkrete Verfahrensmöglichkeiten an, die Hilfestellungen bieten, um gegenseitiges Verfehlen zu überwinden und zu einer neuen Form von Beziehung zu gelangen. Eigenes Tätigsein und Empfangen greifen in Beziehungen wechselseitig ineinander. Daneben, selbsttätig zu werden, ist es deshalb bedeutsam, sich auch dem hingeben zu können, was Rosenberg als »göttliche Energie«922 bezeichnet. 918 919 920 921 922

Martin Honecker : Das Recht des Menschen, 205. Ebd. A. a. O., 208. Vgl. ebd. Marshall B. Rosenberg: Lebendige Spiritualität, 11; vgl. 5.3 Die »göttliche Energie« als Heilungskraft.

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Religiöse Reflexivität von Verantwortung

Es handelt sich dabei um die Liebe Gottes, die sich in der Nächstenliebe ausdrückt. Damit wird offenkundig, dass auch der für mediatives Handeln – aus christlicher Perspektive für menschliches Handeln schlechthin – unverfügbare Bereich des Interventionsgeschehens relevant ist. Akzeptanz als genereller Grundsatz ist also nicht nur für eine mediative Einflussnahme unverfügbar, sondern kann auch nur teilweise vom Menschen selbst erwirkt werden. Zu einem anderen Teil muss sie als Gnadengabe geschenkt werden. Dies lässt sich auch anhand des oben vorgenommenen Versuchs vergegenwärtigen, die Persönlichkeitsmerkmale von Mediatoren und Medianten zu beschreiben.923 Im Ergebnis hat sich gezeigt, dass sich bestimmte menschliche Qualitäten nicht hinreichend versprachlichen lassen, weil sie Bereiche des Menschseins tangieren, die außerhalb seiner selbsttätig erwirkbaren Möglichkeiten liegen. Weil eine Liebe, die zur Akzeptanz führt, selbst in diesen Bereich hineinfällt, kann nur begrenzt ausgesagt werden, wie sie in Beziehungen geschieht. Für den Fall der Konfliktregulation kann jedoch benannt werden, was sie erwirken kann: Der Zusammenhang von Intra- und Interpersonalität führt im Konfliktfall dazu, dass die eigenen »Schattenseiten« im anderen bekämpft werden, wodurch eine Fixierung auf Missstände erfolgt, die sich zunehmend erhärten. Aus dem Geist der Liebe heraus zu handeln, löst diese Verfehlung dahin gehend auf, vermeintliche Missstände in die (Lebens-)Beziehung mit hinein zu nehmen und sie dadurch zu wandeln, dass sowohl die Selbst- als auch die Fremdakzeptanz nicht mehr an Bedingungen geknüpft werden. Dadurch realisiert sich das Dableiben beim anderen auf eine Weise, die schließlich in einen Konsens mündet. In einem Konsens als ein Produkt des gemeinsamen Beziehungsprozesses zeigt sich, dass ein Handeln aus dem Geist der Liebe heraus dazu führen kann, eigene und fremde Selbstbestimmungskraft wiederherzustellen.924

9.4

Selbstbestimmung als Hingabe aus dem Geist der Liebe

Selbstbestimmung erschließt sich von der dem Menschen gegebenen Freiheit her. Weil die christliche Freiheit eine wesenhaft gebundene Freiheit ist, gilt dies auch für eine Selbstbestimmung, die sich in ihr gründet. Selbstbestimmung abseits von der Beziehung zu Gott und dem Nächsten zu denken, verfehlt den Autarkieauftrag christlicher Freiheit, der dem Menschen von Gott zugegangen ist. Den Selbstbestimmungsaspekt religiös zu reflektieren, beinhaltet, danach zu fragen, wie der 923 Vgl. 4.2 Zur Bedeutung der Mediatorenpersönlichkeit; 4.4 Zur Bedeutung der Mediantenpersönlichkeit. 924 Zum Aspekt der Wiederherstellung von Selbstbestimmung durch Liebe vgl. Ulrich Barth: Religion in der Moderne, 78.

Selbstbestimmung als Hingabe aus dem Geist der Liebe

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Mensch als autonomes moralisches Subjekt der Verantwortung gedacht werden kann. Es geht also darum, wie der konkrete Mensch seine konkrete Verantwortung reflektiert und seine Handlungsentscheidung umsetzt. Dies geschieht grundsätzlich vor dem Hintergrund seines individuellen »Selbst-«, »Welt-« und »Gottesbewusstseins«. Als Struktureinheit prägen die Bewusstseinssphären die Innerlichkeit des Menschen solchermaßen, dass sich die ihr zugeordnete Selbstverantwortung formiert, die sich in Form eines selbstbestimmten Handelns veräußerlicht. Im Ergebnis hat die oben dargelegte entwicklungslogische Schilderung zur Verantwortungsethik von Huber gezeigt, dass es unter dem Eindruck neuzeitlicher gesellschaftlicher Entwicklungen zunehmend bedeutsamer wird, unterschiedliche Gewissensüberzeugungen in dialogischer Weise in Beziehung zueinander zu bringen.925 Die grundlegende verantwortungsethische Relevanz, Verantwortung sozialethisch auszulegen, hat ihre Entsprechung in einem christlich-theologisch reflektierten Verständnis von Selbstbestimmung: Selbstbestimmung als Antwort des Menschen auf die ihm gegebene Freiheit bezieht sich auf seine willentliche Ausrichtung seines Handelns aus dem Geist der Liebe heraus. Demgemäß ist sie eng mit dem im Vorangegangenen thematisierten Liebesaspekt verbunden. Die Selbstbestimmtheit ist wesentlich dadurch geprägt, dass die Belange anderer Personen in eigene Reflexionsprozesse integriert werden. In sowohl intrapersonalen als auch interpersonalen Dialogstrukturen werden dazu eigene und fremde Geltungsansprüche in einen Dialog gebracht, um dadurch zu klären, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen sollen. Ein Konsens kann sich dann in dem Maße daraus entwickeln, in dem eigene und fremde Belange willentlich als gleichberechtigt anerkannt werden.926 Unter der Voraussetzung, dass Eigenes und Fremdes gleichrangig zu berechtigen ist und in einen Dialog gebracht werden soll, müssen Handlungsprinzipien daraufhin reflektiert werden, ob sie diesem Ziel zuträglich sind. Das beinhaltet, vom »unvermittelten zum reflexiven Prinzipiengebrauch«927 überzugehen. Wird der Einsatz von Prinzipien christlich reflektiert, so ist er vom Liebesgebot her auszulegen. Auf die ihn versuchende Frage eines Schriftgelehrten danach, welches das höchste Gebot im Gesetz sei, antwortet Jesus: »›Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt‹ (5. Mose 6,5). Dies ist das höchste und größte Gebot. Das andere aber ist dem gleich: ›Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst‹ (3. Mose 19,18). In diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.«928

925 926 927 928

Vgl. 7.2 Verantwortungsethik als Sozialethik. Vgl. Wolfgang Huber : Konflikt und Konsens, 151f. A. a. O., 151. Matth. 22, 37–40.

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Religiöse Reflexivität von Verantwortung

Dem biblischen Zeugnis gemäß stellt die Gottesliebe das Gebieten Gottes aller eigenmächtigen Prinzipientreue des Menschen voran. Die Nächstenliebe ordnet eigene Prinzipien den Bedürfnissen und Interessen anderer zu und überprüft dadurch, inwieweit sie ihnen dienlich sind. Die Selbstliebe erlaubt es, hinter den eigenen Prinzipien berechtigte Eigenansprüche zu erkennen, die sich zumeist von Anliegen zur eigenen Bestands- und Niveauerhaltung her begründen lassen. Schließlich geht es darum, diese dreifach in sich unterscheidbare Liebe zu einem Kriterium werden zu lassen, das Handlungen ausrichtet. An diesem Liebeskriterium orientiert erfolgt der Prinzipiengebrauch dann situationsbezogen reflektiert und ist entsprechend variabel. Weil der Mensch sein Handeln dabei von seinem persönlichen Bezug zu Gott her entfaltet, sich also in seinem Tun durch seine Gottesbeziehung gehalten weiß, ergibt sich für ihn eine intrapersonale Stabilität. Diese lebendige Glaubensbeziehung kann das Bedürfnis ersetzen bzw. diminuieren, sich durch festlegende Prinzipien Selbstsicherheiten zu schaffen. Dies begünstigt es, Handlungsmuster situations- und personangemessen flexibilisieren zu können, ohne der Sorge zu verfallen, sich dabei selbst zu verlieren. Selbstbestimmte Akzeptanz im Geist der Liebe drückt sich demgemäß in einem starken Willen dazu aus, Verfehlungen zu überwinden, indem lebendige Beziehungen aufgenommen und aufrechterhalten werden. Sie ermöglichen es, auch konfligierende Tendenzen auszuhalten und Widerständen zum Trotz dialogbereit zu bleiben.929 Dies entspricht einem konkreten Ausdruck dessen, was es nach Weischedel bedeutet, »sich in der Frage offenzuhalten«. Alles Handeln dem Liebeskriterium zu unterstellen, macht es notwendig, immer wieder neu zu hinterfragen, was im Sinne der Liebe situativ geboten ist. Ein solches Fragen ist kongruent mit einem Fragen nach dem gegenwärtigen Gebieten Gottes, der seinem Wesen nach, diese Liebe ist. Offen dafür zu sein, Gottes Weisungen zu empfangen, setzt voraus, die Antwort nicht schon durch eigene Prinzipien vorgeformt zu haben.930 Rückbeziehend auf die Interrogative Ethik bedeutet dies, dass sich ein Frageverständnis von der Antwort her verbietet.931 Prinzipienfokussierung muss deshalb hinter ein möglichst bedingungsloses Fragen 929 In Hinblick auf Konfliktregulation wurden oben beispielhaft Dilemmata benannt, mit denen sich Konfliktbeteiligte in Zusammenhängen von Deeskalationskontexten konfrontiert sehen. Dabei wurde aufgezeigt, dass es fortlaufender Entscheidungen zwischen destruktiven und konstruktiven Tendenzen bedarf (vgl. 2.6 Ressourcenorientierte Intervention als Angebot zur Gegensinnstiftung). Am Beispiel eines christlich konnotierten Verständnisses von Selbstbestimmung wird hier deutlich, wie ein starker individueller Sinnzusammenhang, der das eigene Denken und Handeln kontextualisiert, dazu beitragen kann, sich immer wieder selbstbestimmt zu einem Wirken aus dem Geist der Liebe heraus zu entscheiden (vgl. V. Zur Relevanz der Schnittstelle von Mediation und Theologie). 930 Zur Vertiefung der Frage nach dem Willen Gottes vgl. 13.2 Der Wille Gottes und die Antwort des Menschen. 931 Vgl. 8.3 Verantwortungsethik als fragende Ethik.

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zurücktreten. Innerhalb intrapersonaler Dialogstrukturen richtet sich dieses Fragen vornehmlich auf das gegenwärtige Gebieten Gottes aus, wenn der Mensch sich selbst vom Glauben her reflektieren will. In interpersonalen Dialogstrukturen bezieht sich die offene Frage auf das Gegenüber und dessen Belange. Weil die Dialogstrukturen wechselseitig ineinandergreifen, stehen auch die beiden genannten Frageaspekte in Verbindung zueinander. Dies zeigt sich darin, dass der Gotteswille und der Dienst am Nächsten in ein Verhältnis zueinander gesetzt werden. Die beiden generellen Grundsätze der Selbstbestimmtheit und Akzeptanz, die in der Definition von Mediation als »selbstverantworteter Konsensweg« aphoristisch zum Ausdruck kommen, verdichten sich in einem mediativen Standpunkt. Er ist das Produkt eines Reflexionsprozesses, der dem Menschen dazu dient, sich über sich selbst bewusst zu werden und sich an dem »Lebensinteresse zu orientieren, das man mit dem anderen teilt«932. Dann geht es darum, das Verfehlen im Konfliktfall zugunsten eines aus Liebe motivierten Handelns zu überwinden und schließlich zu einem Konsens zu gelangen. Dahin gehende christlich begründete Bestrebungen orientieren sich dabei an dem Doppelgebot der Liebe. Unter dem Eindruck des höchsten christlichen Gebotes, Gott von ganzem Herzen, ganzer Seele, ganzem Gemüt und von allen Kräften zu lieben und seinen Nächsten, wie sich selbst, ist es dem Glaubenden geboten, auch unter dem Eindruck des Konflikts in der Liebe zu bleiben. Demgemäß gilt es um Lösungen zu ringen, die dem Liebesgebot Jesu standhalten. Sie stehen am Ende eines Prozesses, in dem sich der eine mit dem anderen auf den Weg der Gottes-, Nächsten- und Selbstliebe gemacht hat. Der Weg der Liebe ist nur abseits von Richtig und Falsch gangbar und er zielt darauf ab, dass schließlich alle Parteien einen Gewinn vom Prozess haben. In dem Maße, in dem eigene und fremde Bedürfnisse und Interessen im Geist der Liebe angesehen werden, können sich Verstehensprozesse ereignen, in deren Licht sich Schuldzuweisungen und Gefühle von Benachteiligung auflösen. Deswegen kann die Tragfähigkeit eines Verhandlungsergebnisses auch als Indikator dafür gelten, wie sehr der Konfliktregulationsprozess unter dem Geist der Liebe stand.933 Ein Ergebnis wird umso konsistenter, je nachhaltiger es gelungen ist, dass sich Menschen in ihren Belangen gegenseitig wertschätzend begegnen. Das bedeutet, dass die Reflexivität von Verantwortung unter dem Eindruck des Glaubens darin besteht, zu überprüfen, wie aus dem Geist der Liebe heraus in einer konkreten Situation zu handeln ist934 und was dementsprechend geboten ist, zu tun. Unter diesem Fragen verbinden sich grundsätzliche Gewissheiten des Glaubens mit Situati932 Wolfgang Huber : Konflikt und Konsens, 152. 933 Vgl. V. Zur Relevanz der Schnittstelle von Mediation und Theologie. 934 »Alle eure Dinge lasst in der Liebe geschehen« (1. Kor. 16, 14).

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Religiöse Reflexivität von Verantwortung

vität. Es geht um ein Sich-Rückbeziehen auf Gott, von dem her der glaubende Mensch seine Existenz versteht und sie in seiner persönlichen Gottesbeziehung festmacht. Das Wissen um die eigene Geschöpflichkeit verbindet sich mit dem Wissen um das Potenzial des eigenen Schöpfertums, das es selbstbestimmt in der Form einer freiheitlichen Bezugnahme auf den anderen zu nutzen gilt. Von diesen Glaubensvoraussetzungen her erfährt der Mensch Stärkung und Weisung für den notwendigen Prozess des Ringens um einen Konsensweg. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der christlichen Dimension von Verantwortung das Verständnis vom Menschen als ein von Gott geschaffenes und gerechtfertigtes Wesen zugrunde liegt. Das Leben wird interpretiert als von Gott geschenkt und von ihm auch erhalten. Jede Selbstdeutung des Menschen ist deshalb durch seinen Glauben geprägt, weil sie immer schon unter dem Eindruck der persönlichen und lebensbestimmenden Gottesbeziehung steht. Deshalb ist sie auch für (verantwortliches) Entscheiden richtungweisend, das theologisch von der Dialektik zweier Grundannahmen ausgeht: Jedes Leben wird als an Gott gebunden verstanden und zugleich verfügt der Mensch über die Freiheit seines eigenen Lebens.935 Die Gottesbindung zeigt sich darin, dass sich von ihr ausgehend Vorgaben des Lebens herleiten lassen, die dem glaubenden Menschen wegweisend sind. Dies kann als Erfüllung des Gotteswillens beschrieben werden. Um aussagen zu können, wie sich der Mensch dann in seinem konkreten Leben zu verhalten hat, ist zu klären, was unter dem Willen Gottes zu verstehen ist und wie sich dieser vom Menschen erkennen lässt. Hier tangiert die erste Grundannahme der Gottesbindung die zweite, nämlich das freie Verfügen des Menschen über sein eigenes Leben. Auch wenn davon ausgegangen wird, dass Handlungen der Weisung durch den Gotteswillen unterliegen, sind die konkreten Schritte im Leben dem Menschen doch selbst zuzurechnen. Es liegt in seinem eigenen Ermessen, darüber zu entscheiden, wie er sich den konkreten Lebensanforderungen gegenüber verhält. Dies fällt also in den selbst zu verantwortenden Bereich des Menschen. Deswegen ist es ein Anliegen der Theologie, zu klären, was genau unter christlicher Verantwortung zu verstehen ist. Wenn der Ursprung allen verantwortlichen Handelns in der Beziehung zwischen einem Menschen mit Gott liegt, dann bleibt dabei eine unauflösliche Bestimmungsoffenheit von Verantwortung schlechthin bestehen, weil jede persönliche Gottesbeziehung einzigartig ist. Dieser Sachverhalt darf allerdings nicht davon entbinden, die Prämissen der Reflexivität christlicher Verantwortung konkreter zu bestimmen. Dies dient einerseits dazu, sie nicht der Tendenz zu einer reinen 935 Mit seiner Monographie Der Glaube an die göttliche Vorsehung hat Arnulf von Scheliha eine religionssoziologische, geschichtsphilosophische und theologiegeschichtliche Untersuchung vorgelegt, mit der er zu einer Neuformulierung der Vorsehungslehre gelangt ist (335–352). Seine Ausführungen können dafür einstehen, das Verhältnis zwischen der menschlichen Freiheit und dem Vorsehungsglauben zu explizieren.

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Situativität zu überlassen und andererseits dazu, eine grundsätzliche Sprachfähigkeit in Hinblick auf religiöses Reflektieren sicherzustellen, die auch von gesellschaftlicher Relevanz sein kann. Dies erfolgt im Folgenden durch den Rekurs auf wesentliche Aspekte des Verantwortungsverständnisses Bonhoeffers, das als verantwortungsethische Konzeption theologisch wegweisend ist. Bonhoeffers Erwägungen werden präzisieren, was bis hierher allgemeintheologisch zu christlich reflektierter Verantwortung ausgesagt wurde, ohne dabei zu beanspruchen, dass seine theologischen Grundeinsichten darin aufgehen müssten und könnten, sie allein reflexionstheoretisch zu lesen und sie auf den Mediationskontext zu beziehen.

Teil 3

Der Verantwortungsbegriff bei Dietrich Bonhoeffer

Bonhoeffers Ansatz, um Verantwortung zu klären, lässt sich als eine theologische Antwort auf Webers religionskritischen Duktus lesen, dass der glaubende Mensch dazu geneigt sein könnte, sich seiner Verantwortungspflicht zu entziehen.936 Weber zufolge eignet sich der Gottesglaube dazu, einen der von ihm strikt abgelehnten »Scheinwege« einzuschlagen. Indem der Mensch sein eigenes Handeln angesichts der Vorsehung Gottes für wirkungslos erklärt, zieht er sich damit hinter das vermeintliche Wirken Gottes zurück und nimmt seine Selbstverantwortung nicht wahr.937 Dass eine Form von verantwortungsethischer Reflexivität auch religiös begründet sein kann, wurde im letzten Abschnitt des vorangegangenen Untersuchungsteils dargelegt. Anhand der bonhoefferschen Ausführungen wird zu spezifizieren sein, wie ein glaubender Mensch seine Verantwortung zwar in die umfassende Verantwortung Gottes hineinbirgt, aber sich seiner eigenen Rechenschaftspflicht dadurch nicht zu entziehen versucht, sondern seine Verantwortung gerade dadurch wirklichkeitsgemäß wahrnimmt. Dementsprechend eint Webers und Bonhoeffers verantwortungsethische Erwägungen, dass sie das Handeln des Menschen unter das Postulat eines »hohen Geist[es] der Nüchternheit«938 stellen. Ihnen beiden stehen Verantwortliche vor Augen, die situative Möglichkeiten mit Distanz und zugleich leidenschaftlichem Engagement verständig und ernsthaft abwägen, entsprechende Handlungen absichtsgemäß konsequent durchführen und die Folgen uneingeschränkt tragen. Bonhoeffer entfaltet seinen verantwortungsethischen Ansatz vor dem 936 Es lässt sich nicht eindeutig rekonstruieren, inwieweit Dietrich Bonhoeffer seine verantwortungsethischen Überlegungen im Einzelnen an Max Weber anschließt. Dieser Umstand ist schon allein der Tatsache geschuldet, dass sich in Bonhoeffers Ethik kaum literarische Nachweise finden lassen. Mit Wolfgang Huber lässt sich jedoch begründet vermuten, dass Bonhoeffer die »Politischen Schriften« Webers kannte. Die von Bonhoeffer verwendete Metapher, »nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen zu fallen« findet sich auch schon bei Weber (vgl. Wolfgang Huber : Konflikt und Konsens, 141f., insbes. Anm. 24). 937 Vgl. Ulrich H. J. Körtner : Freiheit und Verantwortung, 107. 938 Wolfgang Huber : Konflikt und Konsens, 142.

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Der Verantwortungsbegriff bei Dietrich Bonhoeffer

Hintergrund christlich theologischen Nachdenkens und begründet seine Überlegungen konsequent christologisch. Für seine Ausführungen ist der historische Kontext der nationalsozialistischen Diktatur konstitutiv, der die Zerstörung der Rechtsordnung und die Verbrechen des Zweiten Weltkrieges einschließlich der Shoa bedingte. Dem Nachdenken über seinen Verantwortungsbegriff ist deshalb voranzustellen, dass nur Verantwortung übernehmen kann, wer dazu bereit ist, »in das Verhängnis eines universal gewordenen Schuldzusammenhangs einzutreten«939. Dementsprechend stehen Verantwortungs- und Schuldübernahme für Bonhoeffer in einem unauflöslichen Zusammenhang. Sie sind essenziell für ein Menschsein, das sich der Wirklichkeit in radikaler Weise konsequent stellt. Seine ethischen Grundannahmen werden also deshalb zur theologischen Vertiefung des Verantwortungsbegriffs herangezogen, weil Bonhoeffer in besonderer Weise eine Lehre des gelebten Glaubens zu entwickeln versucht.940 Damit ist ein wesentlicher und spezifischer Aspekt der bonhoefferschen Theologie freigelegt, nämlich das ethisch-theologische Nachdenken abseits des Dogmatismus und des Prinzipiellen.941 Bonhoeffer entfaltet sein Denken zum Thema Verantwortung grundsätzlich vom Situativen ausgehend. Es ist das in der konkreten Situation Gebotene, worauf er Verantwortung bezieht. Ein verantwortliches Handeln zeichnet sich dadurch aus, dass sich eine Kompromisslosigkeit hinsichtlich der Glaubenswahrheit in Jesus Christus mit einer radikalen Offenheit für die gegenwärtig wirkliche Situation vereint. Das große Potenzial des bonhoefferschen Ansatzes besteht in ebendiesem Versuch, das Leben des Menschen vor dem Horizont des christlichen Glaubens solchermaßen zu deuten, dass ein grundlegendes Spannungsverhältnis von entschiedener Theologie und radikaler Situativität aufrechterhalten wird. Dadurch gerät der glaubende Mensch abseits religiöser Prinzipien in den Blick und ihm wird zugeschrieben, zu eigenverantwortlichem Handeln von Gott befähigt und herausgefordert zu sein.942 Darin liegt der theologisch begründbare Anknüpfungspunkt zur me939 A. a. O., 141. 940 Nach Martin Stöhr schreibt Dietrich Bonhoeffer »dezidiert keine Dogmatik, keine Glaubenslehre, wohl aber eine Lebenslehre, eine Ethik, denn nicht auf dem Feld der überlieferten Glaubensbekenntnisse versagt in Deutschlands nationalsozialistischer Zeit die Kirche, sondern auf dem Gebiet des Ethos, des gelebten Glaubens« (ders.: Von der Menschlichkeit Gottes, seiner Leute und seiner Welt, 53). 941 Während Max Weber versucht, christliche Ethik als Gesinnungsethik auszuweisen, die einem freien verantwortlichen Handeln entgegensteht, wodurch der Mensch alle Handlungsfolgen von sich weg weisen und Gott überlassen kann, entwickelt Bonhoeffer einen christlich begründeten, verantwortungsethischen Gegenentwurf (vgl. Ulrich H. J. Körtner : Freiheit und Verantwortung, 107). 942 Axel Noack wirft hinsichtlich dieses Aspekts die Frage auf, ob es nicht als problematisch angesehen werden könne, dass Menschen weit über die Grenzen theologischer und poli-

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diativen Grundvoraussetzung, dass abseits von Positionen zu verhandeln ist, um eine wertschätzende Begegnung herzustellen und sich gemeinsam auf einen Konsens zu zubewegen. Die Mediationstheorie erkennt und benennt, dass eine solche Haltung, die sich am Kriterium der Liebe orientiert, im Wirklichkeitsverständnis einer Person gründet, das als Ergebnis aus ihrer individuellen Selbstreflexion hervorgeht. Mediation unterlässt es hingegen, eine weiterführende theoretische Verortung dieses Sachverhalts vorzunehmen. Täte sie dies, liefe sie Gefahr, sich um den Preis ihrer Interdisziplinarität zu sehr auf eine Deutungsmöglichkeit festlegen zu lassen. Die mediativ vorzunehmenden Reflexionsprozesse können aber aus christlicher Perspektive interpretiert werden. Infolgedessen kann Mediation als ein Ort und ein Mittel zur Unternehmung christlicher Verantwortung in Interventionsangelegenheiten beschrieben werden. Mit Bonhoeffer lässt sich aus theologischer Perspektive aufzeigen, wie das Denken und das Handeln eines Menschen ihren Ursprung in einem christlichen Wirklichkeitsverständnis haben können. Dieser Untersuchungsteil steht also dafür ein, religiöse Reflexivität beispielhaft zu beschreiben und kommt deshalb ohne konkrete Mediationsbezüge aus. Ein Reflexionsprozess, der eine Verantwortungsübernahme aus christlicher Perspektive begründet, geht von dem grundlegenden Fragen christlicher Ethik aus, wie sich »das Wirklichwerden der Offenbarungswirklichkeit Gottes in Christus unter seinen Geschöpfen«943 ereignen kann. Damit setzt alles theolotischer Haltungen hinweg bei Dietrich Bonhoeffer fündig würden, für jeden, so schiene es, sei etwas dabei: »Wer sich dem gesellschaftlichen Engagement verpflichtet weiß und etwa die Friedensarbeit für besonders geboten hält, wird genauso fündig, wie derjenige, der nach Verbindlichkeit im geistlichen Leben fragt oder sich für die Volksmission einsetzt.« Dies deutet Noack aber nicht als Profillosigkeit des Menschen und Theologen Bonhoeffer, sondern konstatiert, dass es ihm gelungen sei, »zusammenzuhalten, was zusammen gehört: den engagierten Einsatz für diese Welt, die Liebe zur normalen alltäglichen Kirche und die Sehnsucht danach, auch die Gottlosen mit der Botschaft des Evangeliums zu erreichen« (ders.: Engagiert und fromm zugleich, 49). Dem gegenüber spricht der Philosoph KlausMichael Kodalle von »Vereinnahmungen Bonhoeffers« und von »Modetheologie« (ders.: Dietrich Bonhoeffer, 12 [H. i. O.]). In der Tat muss es um einen Weg der Auslegung gehen, der Bonhoeffers Ausführungen nicht aufgrund ihres Merkmals der Prinzipienkritik für fremde Zwecke instrumentalisiert und gleichzeitig die in seiner Theologie tief verankerte Struktur einer radikalen Situativität bewahrt. Aber gerade die bonhoeffersche Vorstellung, der mündige Mensch entziehe sich mehr und mehr der Doktrin des Religiösen, weist hohen Aktualitätswert auf. Es bleibt eine offene Frage, wie sich der Mensch unter dem Eindruck lebensweltlicher Komplexität und Pluralität positioniert. Deswegen ist Hanfried Müller beizupflichten, wenn er die Aktualität der Theologie Bonhoeffers darin (an)erkennt, dass er in »erstaunlichem Maße […] Antworten auf Fragen gegeben hat, die uns erst jetzt, fast zwei Jahrzehnte später überhaupt als Fragen aufgehen. Er hat Lösungen für Probleme antizipiert, die wir erst jetzt als unsere Probleme zu erkennen beginnen« (ders.: Zur Problematik der Rezeption und Interpretation Dietrich Bonhoeffers, 52; zur vertiefenden Bonhoefferinterpretation vgl. ebd. 52ff. und Hans Schmidt: Das Kreuz der Wirklichkeit?, 79ff.). 943 DBW 6, 34 (H. i. O.).

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gisch ethische Fragen bei der Prämisse »Gott« ein, die es voraussetzt. Die Wirklichkeit des Menschen gründet sich auf der Offenbarungswirklichkeit Gottes. Der ethisch Fragende ist dazu angehalten, sich aus dem engen Kontext einer Antwortsuche zu lösen, die ausschließlich sein menschliches und damit begrenztes Handelsvermögen betrifft. Sein Blick muss sich auf die Wirklichkeit Gottes hin ausweiten. Wie Verantwortung dann konkret zu beschreiben ist, hängt davon ab, wie ethische Grundfragen beantwortet werden. Auch dem Verantwortungsbegriff Bonhoeffers gehen Vorannahmen des Ethischen voraus, die zunächst skizziert werden sollen. Von dort kann anschließend über ausgewählte Hauptbegriffe seiner Theologie eine Klärung seines Verantwortungsverständnisses herbeigeführt werden. Die Bindung des Lebens an Gott untersucht Bonhoeffer anhand des Gedankens, dass verantwortliches Handeln stellvertretendes Handeln ist und dass es stets wirklichkeilsgemäß sein muss. In Bezug auf die menschliche Freiheit stärkt er insbesondere die Annahme, dass der Mensch sich sein Handeln selbst zurechnen lassen müsse und die Bereitschaft dazu mitzubringen habe, das Wagnis des Lebens anzunehmen und auch darüber schuldig zu werden.944 Daraus ergeben sich drei Kategorien, die den Verantwortungsbegriff Bonhoeffers konstituieren: Alles ethische Verantwortungshandeln erfolgt vor dem Hintergrund eines bestimmten Verständnisses von Wirklichkeit. Aus diesem Verständnis heraus ergibt sich die konsequent christologische Verortung des Verantwortungsbegriffs. Diese wiederum gibt Aufschluss darüber, wie sich Verantwortung im Handeln der Person ausdrückt. Die hier skizzierte Begründungsfolge wird innerhalb dieses Untersuchungsteils vertieft. Vorher sei noch auf einige Eigenarten der Interpretation der späten Bonhoeffertexte hingewiesen: Mit dem Theologen und Menschen Bonhoeffer geht eine interpretatorische Besonderheit einher. Insbesondere was sein Spätwerk anbelangt, erweist sich Fachwissenschaftliches und Biographisches vor allem unter dem politischen Eindruck seiner Zeit und des damit verbundenen Widerstands als eng miteinander verwoben. Die Arbeit an seiner Ethik, der er zwischen 1940 und 1943 nachging, wurde mit seiner Verhaftung am 5. April 1943 unterbrochen und konnte von ihm nicht mehr fertiggestellt werden. Sie ist deshalb lediglich fragmentarisch erhalten und 1949 als eine von Eberhard Bethge vorgenommene Zusammenstellung der erhaltenen Einzeldokumente erstmalig veröffentlicht worden. Die Interpretation der Fragmente, wirft deshalb hermeneutische Fragen nach ihrer Konsistenz auf. Auf die Lücken in der inneren Logik machte schon Karl Barth in einem Brief vom 21. Dezember 1952 an den Landessuperintendenten Walter Herrenbrück aufmerksam: 944 Dazu vgl. Wolfgang Erich Müller : Der Begriff der Verantwortung in der gegenwärtigen theologischen und philosophischen Diskussion, 25, 28.

Der Verantwortungsbegriff bei Dietrich Bonhoeffer

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»Mußte man ihm nicht immer vorgeben, daß er sich gewiß ein anders Mal und in anderem Zusammenhang noch klarer und konziser äußern, evtl. sich zurücknehmen, evtl. weiter vorstoßen werde? […] Was bleibt uns schon übrig, als uns von ihm irgend etwas ›Bestes‹ – in der angedeuteten Richtung oder sonst wie – sagen zu lassen, ohne nach einem Tiefsinn zu forschen, den er nun eben selber nicht mehr vor uns ausgebreitet, vielleicht auch selber noch nicht zu Ende gedacht hat?«945

Zugleich konstatiert Barth aber, dass die Argumentation Bonhoeffers deshalb nicht grundsätzlich an Bedeutung verliert. Obschon die fragmentarischen Argumentationszusammenhänge und deren Inkonsistenzen also nicht überinterpretiert werden sollten, sind eine kritische Auseinandersetzung mit ersteren einerseits und eine klare Offenlegung letzterer andererseits notwendig. Mit den Worten der Herausgeber der überarbeiteten Ausgabe der Ethik ist diese als ein Versuch einzuordnen und zu würdigen, »gewonnene Erkenntnisse und erlittene Erfahrungen in ein gegenwartsbezogenes theologisches Konzept münden zu lassen«946. Sie vermag darin »in erstaunlicher Weise den Zusammenhang tiefster Glaubenssätze mit der Wahrnehmung wirklichkeitsgemäßer Weltverantwortung aufzuweisen«947. Trotz aller Probleme muss auf die Ethik als eine nicht zu ersetzende Quelle des bonhoefferschen Schaffens und Denkens zurückgegriffen werden. Dies gilt insbesondere für das Thema »Verantwortung«. Eine weitere bedeutsame Quelle seiner späten theologischen Auseinandersetzungen sind die Briefe, die Bonhoeffer vornehmlich seinem Freund und Vertrauten Bethge aus der Haft schrieb. Aus ihnen geht hervor, dass Bonhoeffer selbst die Briefe lediglich als ein Medium des theologischen Nachdenkens im privaten Rahmen nutzte und die darin geäußerten Gedanken als unfertig bewertete. Es lag ihm deshalb fern, Dritte daran teilhaben zu lassen: »Wenn du ganz von Dir aus […] Auszüge aus meinen Briefen schicken willst, kannst Du es natürlich tun. Ich würde es von mir aus noch nicht tun, weil ich nur zu Dir so ins Unreine zu reden wage und davon Klärung erhoffe.«948 Helmut Gollwitzer warnt deshalb mit Recht davor, die bonhoefferschen Gefängnisbriefe zu dogmatisieren. Sie sind in ihrem Entstehungszusammenhang zu betrachten, legen vieles nur rudimentär dar und »jede Willkür kann sich an diesen wehrlosen Splittern austoben.«949 Eine interpretatorische Überbewertung dieser teils unausgereiften Einzelaussagen – noch dazu unter dem Eindruck ihrer Kontextualisierung im Bereich des Privaten – ist deshalb unangebracht.950 Das große Potenzial der 945 Dietrich Bonhoeffer und Karl Barth. Ein Briefwechsel, in: Eberhard Bethge (Hg.): Die mündige Welt, 121f. 946 Vorwort der Herausgeber in DBW 6, 8. 947 Nachwort der Herausgeber a. a. O., 439. 948 DBW 8, 512 (H. i. O.). 949 Helmut Gollwitzer : Krummes Holz, aufrechter Gang, 37. 950 Vgl. Christian Gremmels: Theologie am Ort der Gefangenschaft, 119–129.

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Der Verantwortungsbegriff bei Dietrich Bonhoeffer

Briefe besteht allerdings darin, dass sie in besonderer Weise Zeugnis darüber ablegen, wie eng die biographischen Erfahrungen Bonhoeffers mit teilweise hoch theologischen Grundüberlegungen verwoben sind. Im schriftlichen Austausch stehen sie häufig in einem engen Zusammenhang mit dem jeweils anderen und sind deshalb auch von hierher als eine Einheit zu verstehen.951 Bonhoeffers Theologie weist insgesamt einen Facettenreichtum und eine Vieldeutigkeit auf, die den Kontext dieser Untersuchung weit übersteigen. Die bonhoeffersche Art, theologische Grundannahmen zu entfalten, legt Zeugnis seines persönlichen Schaffens ab und bildet seine Art des Denkens signifikant ab. Dies spiegelt sich insbesondere in seinen teilweise enigmatischen Formulierungen wider.952 Vieles bleibt implizit, kann und soll hier aber nicht vertiefend gedeutet werden, weil es für das Erkenntnisinteresse dieser Untersuchung nicht zielführend wäre, zu detailliert in die theologische Auslegung einzusteigen. Demzufolge werden weiterführende Interpretationsmöglichkeiten teilweise außer Acht gelassen. Zudem ist es in Kauf zu nehmen, Bonhoeffers Sprachduktus mitzuführen. Den Ausgangspunkt der folgenden Erwägungen bildet der Wirklichkeitsbegriff Bonhoeffers, der für seine Verantwortungsethik von entscheidender Bedeutung ist. Bonhoeffer hat kein empirisches Verständnis von Wirklichkeit, sondern ein theologisches, das christologisch bestimmt ist. Dass das verantwortliche Handeln seinem Denken zufolge stets wirklichkeitsgemäß ist, wird im Folgenden zu entfalten sein.

951 Vgl. Axel Denecke: Das Leben nicht-religiös interpretieren, 106. 952 Vgl. Eberhard Bethge (Hg.): Die mündige Welt, 121.

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Das »Gute« als Sein in der Wirklichkeit

10.1 Die Unterscheidung der menschlichen Existenz in Ego und Sein »Wirklichkeitsgemäßheit« lässt sich für Bonhoeffer nur unter Bezugnahme darauf bemessen, was die Wirklichkeit ist. Die Bestimmung dessen, was Wirklichkeit ist, erweist sich bei Bonhoeffer als eng mit dem Begriff des »Guten« verwoben. Das »Gute« ist der zentrale Gegenstand einer Ethik, mit der sich der Mensch daraufhin befragt, wie er »gut« werden kann und wie er etwas »Gutes« tun kann. Für die christliche Ethik ergibt sich nun als »Zumutung sondergleichen«953, genau dieses Fragen nach dem eigenen »Gutsein« überwinden zu müssen, weil es »von vornherein als der Sache unangemessen«954 zu bewerten ist. Nicht die Qualität des Menschseins steht im Fokus der Betrachtung, sondern der Wille Gottes. Dies ist die zentrale Prämisse von der ausgehend Bonhoeffer seinen Verantwortungsbegriff entwickelt. Seine ethischen Explikationen entfaltet er dabei ausgehend von dem Gedanken der »Vorausgesetztheit des Lebens«955. Damit ist gemeint, dass der Mensch in Daseinsumstände hineingeboren wird, die er nicht selbst gewählt hat. Dies hat erstens zur Konsequenz, dass der Mensch niemals als isolierter Einzelner existiert. Soziale Bezüge und lebensweltliche Existenzbedingungen kontextualisieren sein Leben. Zweitens lässt die Vielfalt dieser Umstände es nicht zu, zwischen einem klar erkennbaren »Guten« und einem ebenso deutlich zu identifizierenden Schlechten zu unterscheiden. Das Problem zeigt sich für Bonhoeffer also darin, wie der ethische Gegenstand formuliert wird. Denn, ihn von Abstraktionen her aufzuziehen, nämlich von dem isolierten Einzelnen und der Existenz eines absolut »Guten« her, zieht

953 DBW 6, 31. 954 Ebd. 955 Wolfgang Erich Müller : Der Begriff der Verantwortung in der gegenwärtigen theologischen und philosophischen Diskussion, 24.

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Das »Gute« als Sein in der Wirklichkeit

notwendig nach sich, die Wirklichkeit zu verfehlen.956 Diese beiden Auffassungen vom Menschsein und der Wirklichkeit müssen Bonhoeffer zufolge verworfen werden. Bei seinen eigenen Explikationen zum Verantwortungsbegriff verzichtet er darauf, Daseinsmöglichkeiten des Menschen explizit zu beschreiben. Sie lassen sich aber aus seinen Ausführungen herausarbeiten und sollen im Folgenden unter den Begriffen Ego des Menschen und Sein957 des Menschen in verallgemeinerter Form beschrieben werden. Dies dient als Vorbestimmung dafür, sich später immer wieder darauf rückbeziehen zu können, wenn es darum geht, die theologiespezifischen Annahmen Bonhoeffers darzustellen und auszulegen. Die eine Daseinsform zeichnet sich durch das Kreisen des Menschen um sich selbst aus. Hier dienen das Denken und das Handeln des Menschen seiner eigenen Selbstoptimierung. Sie zielt letztlich darauf ab, die eigene Persönlichkeit durch Qualitäten des Menschseins aufzuwerten, also zu verbessern. Dieses Streben zieht zwei Konsequenzen nach sich: Erstens kann es niemals zu einem endgültigen Ziel gelangen, weil sich über jede persönliche Qualität hinaus eine noch edlere und bessere denken lässt. Dabei ist die Beurteilung dessen, was besser oder schlechter ist, Ergebnis einer Festlegung durch den Menschen selbst. Das heißt, die dieser Beurteilung zugrunde liegenden Maßstäbe ergeben sich aus dem begrenzten Bereich des Menschseins und können deshalb auch nicht über sich selbst hinausweisen oder Allgemeingültigkeit beanspruchen. Zweitens wird es notwendig, sich gegen andere abzugrenzen. Erst dadurch, dass sich der Einzelne ins Verhältnis zu anderen setzt, werden relative Einordnungen in »besser« und »schlechter« möglich. Das Ziel des Verhältnisses zu anderen besteht also nicht darin, in eine echte Gemeinschaft mit ihnen einzutreten, sondern nur darin, sie um des eigenen 956 Vgl. DBW 6, 246. 957 Dogmatische und ethische Bestimmungen hängen in der Theologie eng mit Seinsbegriffen zusammen, deren jeweilige Konkretion als Prolegomenon vorausgeht. Dietrich Bonhoeffer hat mit seiner Habilitationsschrift Akt und Sein selbst eine Auseinandersetzung mit dem Akt-Sein-Problem vorgelegt und beschreibt das Wesen der beiden Aspekte des Menschseins folgendermaßen: »Wird im ersteren [Akt] die Beziehung, das Unendlich-Extensive, das im Bewusstsein Gebundene, die Existentialität […], die Diskontinuität erfaßt, so im zweiten [Sein] das ›In-sich-bleiben‹, das Unendlich-Intensive, das Bewußtseinstranszendente, die Kontinuität« (DBW 2, 24 [H. i. O.]; zur Vertiefung vgl. den umfassenden Kommentar zu »Akt und Sein« von Jürgen Boomgaarden: Das Verständnis der Wirklichkeit. Dietrich Bonhoeffers systematische Theologie und ihr philosophischer Hintergrund in »Akt und Sein«, Gütersloh 1999). Der hier verwendete Seinsbegriff wird allerdings allgemeiner gefasst als Bonhoeffer ihn auslegt und ist deshalb nicht mit seinem Verständnis äquivalent. Der Begriff Sein wird hier deshalb eingesetzt, weil er die anthropologische Dimension in Anklang an Bonhoeffers eigene Auslegung zum Ausdruck bringen soll. Der Begriff des Ego kann dann in Abgrenzung vom Sein als eine spezifizierte Form des Aktbegriffs aufgefasst werden, wobei auch er nicht mit der bonhoefferschen Auslegung kongruent ist.

Die Unterscheidung der menschlichen Existenz in Ego und Sein

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Vorteils willen als Vergleichsgröße fungieren zu lassen. Dabei bleibt diese Daseinsform – wenn auch zumeist unerkannt – Fiktion, weil sie sich selbst in Bezug auf die Vergangenheit und die Zukunft erschafft. Die gegenwärtige Wirklichkeit versteht sie lediglich als ein Durchgangsstadium, um auf der Grundlage von vergangenen Ereignissen Optimierungen zu erzielen, die in der Zukunft zu einem vermeintlich »Guten« führen sollen. Diese Daseinsform wird hier als Ego bezeichnet.958 Vom Ego lässt sich eine andere Form des Daseins unterscheiden. Hier kommt es nicht zu einer Orientierung an einem noch entfernten Ziel des eigenen »Gutseins«, sondern diese Daseinsform bezieht sich darauf, die Wirklichkeit zu erkennen und sie in ihrer gegenwärtig gültigen Form anzunehmen. Über die Wirklichkeit zu urteilen, wird dann als ein relativer und unvollständiger Vorgang bewertet, weil er sich aus menschlichen Beschränkungen heraus generiert. Deswegen wird dem eigenen Urteil auch nur eine begrenzte Bedeutung beigemessen. Durch diese Selbstrelativierung gelingt es, sich von eigenen Kategorisierungen, Vorstellungen und Zielen zu lösen. Die Orientierung daran, was sein könnte, tritt zurück oder löst sich vollständig auf. Ziele außerhalb der jetztgültigen Wirklichkeit treten in den Hintergrund und der Fokus der Betrachtung bezieht sich auf das konkrete Leben, wie es sich im jetzt gegenwärtigen Moment ereignet. Dies ist nicht als eine Form von Passivität zu missverstehen, die sich dagegen verschließt, aktiv Veränderungen zu erwirken. Im Gegenteil wird die Existenz des Menschen dadurch, dass sie nicht mehr in sich selbst verhaftet ist, durchlässig für Impulse von außerhalb. Es ist ein kraftvolles Wirken in, durch und aus einem situativen Moment heraus. Aufgrund dieser grundsätzlichen Freiheit von festlegenden Vorstellungen zur Selbstoptimierung lässt diese Daseinsform auch echte Gemeinschaft mit anderen zu. Es ist unnötig, sich von ihnen abzugrenzen, weil das Ziel des Menschen nicht darin besteht, sich selbst im Vergleich als besser zu qualifizieren. Das Streben richtet sich nicht an einer Fiktion des Zukünften aus, sondern bezieht sich darauf, die gegenwärtige 958 In Bezug auf die Egobezogenheit sei darauf hingewiesen, dass damit nicht das grundlegende Begehren des Menschen nach irdischem Glück als ein gottfernes Bestreben konstatiert wird. Eine Egozentrierung, die es den Menschen vergessen lässt, sein Leben als ein Geschenk anzusehen, ist von einer Haltung zu unterscheiden, die irdisches Glück dankbar empfängt. Dazu schreibt Dietrich Bonhoeffer in seinem Brief vom 18. 12. 1943 an Eberhard Bethge: »Man soll Gott in dem finden und lieben, was er uns gerade gibt; wenn es Gott gefällt, uns ein überwältigendes irdisches Glück genießen zu lassen, dann soll man nicht frömmer sein als Gott und dieses Glück durch übermütige Gedanken und Herausforderungen und durch eine wildgewordene religiöse Phantasie, die an dem, was Gott gibt, nie genug haben kann, dieses Glück wurmstichig werden lassen. Gott wird es dem, der ihn in seinem irdischen Glück findet und ihm dankt, schon nicht an Stunden fehlen lassen, in denen er daran erinnert wird, daß alles Irdische nur etwas Vorläufiges ist und daß es gut ist, sein Herz an die Ewigkeit zu gewöhnen« (DBW 6, 244).

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Das »Gute« als Sein in der Wirklichkeit

Existenz anzunehmen, wie sie ist. Diese zweite Form menschlichen Daseins wird hier als Sein bezeichnet. Aus einer theologischen Perspektive lassen sich Ego und Sein folgendermaßen einordnen: Das Ego als eine um sich selbst kreisende Form des Daseins weist den Menschen als selbstzentriert aus und damit als ein von Gott abgewendetes und von ihm abgefallenes Geschöpf. Damit ist es der Inbegriff dessen, was mit Weischedel als ein sich stets wiederholendes »sündhafte[s] Gewesensein« bezeichnet werden kann. Das Sein bezieht sich hingegen auf den Menschen, der sich und sein Leben ganz auf Gott hin ausrichtet und darauf verzichtet, nach einem (zukünftigen) eigenen »Gutsein« zu streben. Dadurch wird er empfänglich und durchlässig für das Wirken Gottes und strebt nach einem »Gott-zueigen-werden«959. Die hier in eigener Terminologie von Ego und Sein vorgenommene Vorbestimmung findet sich bei Bonhoeffer theologisch vertieft und konkretisiert. Ihren Ausgangspunkt nehmen seine Ausführungen dabei in dem Versuch, die schon gestreiften Begriffe des »Guten« und der »Wirklichkeit« zu klären und sie zueinander ins Verhältnis zu setzen.

10.2 Eigenes »Gutsein« als Selbstüberschätzung des Menschen Die Frage nach dem »Guten« wird vom Menschen als lebendes Wesen gestellt. Deshalb steht sie in Abhängigkeit von seinen individuellen Existenzbedingungen und ist ihrem Wesen nach keine aus Freiheit heraus gestellte Frage. Im Gebundensein an das Leben selbst fragt der Mensch nach einer bestimmten Qualität ebendiesen Lebens. Die Antwort auf eine solche Frage kann deshalb lediglich eine Wertung sein, die sich aus den Voraussetzungen desjenigen Lebens heraus ergibt, das diese Frage stellt.960 Wird das »Gute« also im Sinne eines Prädikats verstanden, besteht das Ziel eines Fragens nach diesem »Guten« darin, unter dem Einfluss bestehender Lebensumstände eine möglichst vorteilhafte Wahl zu treffen. Die Frage selbst setzt dadurch voraus, dass es auch etwas außerhalb des »Guten« gibt und versucht eine entsprechende Unterscheidung herbeizuführen. Weil diese Unterscheidung darauf abzielt, das »Gute« als das Dienliche und Zweckmäßige zu erkennen, kann es kein allgemeingültiges Prinzip des »Guten« geben. Es wandelt sich von Situation zu Situation, weil es stets neu von dem jeweiligen Wirklichkeitsausschnitt her bestimmt werden 959 Beide Zitate Wilhelm Weischedel: Das Wesen der Verantwortung, 108. 960 Dies entspricht der Grundannahme der Interrogativen Ethik, dass sich Antwortmöglichkeiten auf die jeweiligen Fragebedingungen zurückführen lassen (vgl. 8.3 Verantwortungsethik als fragende Ethik).

Eigenes »Gutsein« als Selbstüberschätzung des Menschen

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muss. Wenn die Einsicht in diesen Zusammenhang fehlt, erfolgen prinzipielle Kategorisierungen in »Gut« und »Böse«, die das wirkliche Leben abstrahieren und die Illusion generieren, dass ethisches Urteilen eindeutig sei. Dies kann auf der einen Seite bewirken, dass der Mensch einer Prinzipientreue im Bereich des rein Privaten nachzukommen versucht. Innerhalb seines individuell begrenzten Lebensbereichs gibt er dann auf seine eigene Reinheit acht, indem er sich von jeder »Lebensbeziehung«961 fernhält, die die Prinzipien seines Lebenswandels beschmutzen könnten. Auf der anderen Seite können Schwärmereien und Ideologien entstehen. Schon ihrer Anlage nach tragen sie eine von Bonhoeffer abgelehnte Weltentfremdung in sich und versuchen immer weiter aus der Welt herauszudrängen, weil sie unter den vielfältigen, teils widersprüchlichen Eindrücken der Wirklichkeit nicht makellos bleiben können.962 Nach Weber entspräche eine solchermaßen wirklichkeitsfremde Abstraktion von der Lebensrealität einer gesinnungsethischen Haltung.963 Auf die Beziehung zwischen Mensch und Gott bezogen schwächt die Frage nach dem »Guten« die christliche Glaubwürdigkeit. Der Mensch, der selbst Teil von der Wirklichkeit Gottes ist, versucht diese Wirklichkeit zu bestimmen und sie kategorisch zu deuten. Nicht die Selbstoffenbarung Gottes steht dann im Vordergrund, sondern die eigene, menschlicherseits begrenzte Vorstellung über sie. Bonhoeffer beschreibt diesen Sachverhalt folgendermaßen: »Wo sich das ethische Problem wesentlich in dem Fragen nach dem eigenen »Gutsein« und nach dem Tun des »Guten« darstellt, dort ist bereits die Entscheidung für das Ich und die Welt als die letzten Wirklichkeiten gefallen. Alle ethische Besinnung hat dann das Ziel, daß ich gut bin und daß die Welt (– durch mein Tun –) gut wird.«964

Die Frage nach dem eigenen »Gutsein« ist also nur vordergründig eine echte Frage nach einem gottgefälligen Handeln. Vielmehr überschätzt sich der Mensch selbst, wenn er meint, die Wirklichkeit Gottes erkennend und verstehend durchdringen und sie in »Gut« und »Böse« einteilen zu können. Hier herrscht das Ego vor. Indem das Geschöpf Mensch seine eigene Begrenztheit verkennt, fragt es nach sich selbst und nicht nach Gott. Dann hält sich der Mensch nur scheinbar für eine (unvorhersehbare) Antwort offen, die ihm von Gott zugehen könnte.965 Darin begründet sich die Forderung Bonhoeffers, ein Fragen nach dem eigenen »Gutsein«, das nur das Ego ins Recht setzen will, grundsätzlich zugunsten eines Fragens aufzugeben, das allein Gott ins Recht setzen will.966 Dort 961 962 963 964 965 966

Helmut Kuhn: Liebe, 11. Vgl. DBW 6, 245ff. Vgl. 8.1 Verantwortungsethik als Antwort auf konfliktträchtige Lebenswirklichkeit. A. a. O., 31. Vgl. 8.3 Verantwortungsethik als fragende Ethik. Vgl. ebd.

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Das »Gute« als Sein in der Wirklichkeit

nämlich, wo der Mensch die Frage nach sich selbst stellt, versäumt er es – bzw. vermag es gar nicht –, sie mit gleicher Konsequenz auch nach Gott zu stellen. Das Ego wird dadurch zur letzten Wirklichkeit.967 Die darin implizierte Annahme des Menschen, er könne eigenmächtig über »Gut« und »Böse« urteilen, ist der Wesenskern der Sünde. Die Sünde bezeichnet dabei den Zustand der Entfernung des Menschen von Gott als Verfehlung des Lebens selbst. Der Sinn des menschlichen Lebens ist dann verfehlt, wenn Gott als das Leben schlechthin verkannt wird.968 Es muss also eine Transformation erfolgen, die die Essenz des christlichen Fragens nach dem Ethischen betrifft. Als eine spezifische Form des Erkennens beschreibt sie Bonhoeffer folgendermaßen: »Nicht, daß ich gut werde noch daß der Zustand der Welt durch mich gebessert werde ist dann von letzter Wichtigkeit, sondern daß die Wirklichkeit Gottes sich überall als die letzte Wirklichkeit erweise.«969 Nur so wird die Ebene des Ego verlassen und es erfolgt der Eintritt in das wirkliche Sein.970 Diesem Wandel geht eine Lebensbestimmung des Menschen voraus. Sie besteht darin, eine »Entscheidung über das Lebensganze«971 zu treffen, die aufgrund der Anfrage an den Menschen, ob er die Wirklichkeit Gottes im Glauben als die Wirklichkeit schlechthin annimmt, erforderlich wird. Diese Entscheidung weist aus, ob der Mensch gewillt ist, seine Vorstellung von der Wirklichkeit zugunsten der tatsächlich existierenden Wirklichkeit Gottes aufzugeben. Glaube, den Bonhoeffer als ein »Teilnehmen am Sein Jesu. (Menschwerdung, Kreuz, Aufer-

967 Vgl. ebd. 968 Zur Verobjektivierung des Gottesverständnisses vgl. DBW 2, 43ff. Hier diskutiert Dietrich Bonhoeffer folgendes theologisches Problem: »Die Theologie steht vor dem Dilemma, entweder den gegenständlichen Gott zum Bewußtseinsinhalt bzw. zum Objekt des IchSubjekts zu machen oder aber das Ich in seiner nicht gegenständlichen Ichheit, im Kommen zu sich selbst, Gott finden zu lassen. Gott ›ist‹ nicht außerhalb des zu sich kommenden bewussten Geistes« (ebd. 43f.). Er konstatiert dazu: »Wo sollte auch Gott anders zu finden sein als in meinem Bewusstsein? Kann ich doch darüber nie hinaus, ist es doch konstitutiv für Sein überhaupt. Gott ist der Gott meines Bewusstseins« (ebd. 45). 969 DBW 6, 32. 970 Die konsequente Ausrichtung des eigenen Seins auf Gottes Wirklichkeit hin bedeutet, sich dem lebendigen Wandel der erlebbaren Wirklichkeit hinzugeben. Das vermeintliche Wissen darum, welches Handeln als gottgemäß gelten kann und welches nicht, wird preisgegeben, wodurch es sich als unvermeidbar erweist, Wagnisse einzugehen (vgl. ebd.; 12.3 Das Wagnis des Handelns und die Bereitschaft zur Schuldübernahme). 971 A. a. O., 33. Nach Dietrich Bonhoeffer beinhaltet die Lebensentscheidung den Glauben an die tatsächlich existierende Wirklichkeit des lebendigen Gottes, die seinem Selbstzeugnis entspricht. Hinsichtlich dieses Aspekts hat Bonhoeffer folgende Passage gestrichen: »Ob dies geglaubt oder geleugnet wird, daran hängt alles – mit Ausnahme der Tatsache der Offenbarung« (DBW 6, 33, Anm. 9). Für die Existenz des Menschen macht es demgemäß einen wesentlichen Unterschied, ob geglaubt wird, dass die Wirklichkeit Gottes existiert. Die Gotteswirklichkeit existiert allerdings unabhängig davon, ob sie vom Menschen geglaubt oder geleugnet wird.

Eigenes »Gutsein« als Selbstüberschätzung des Menschen

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stehung)«972 definiert, lässt sich dabei nicht auf einen ausgewählten (religiösen) Bereich des Menschseins begrenzen, sondern umfasst und beansprucht die Existenz des Menschen vollumfänglich. Deshalb ist auch eine Koexistenz von mehreren gültigen Lebensentscheidungen ausgeschlossen. Wenn versucht wird, noch etwas von den eigenen Vorstellungen zu bewahren, indem sie der bedingungslosen Inanspruchnahme durch Gott vorenthalten werden, wird am Ego festgehalten. Dies gleicht einer Entscheidung gegen den Glauben an die Wirklichkeit Gottes.973 Wenn sich die Haltung eines Menschen hingegen dadurch auszeichnet, dass dieser seine Existenz von Gott her versteht, konkretisiert sich das, was Weischedel als »religiöse Verantwortung« bezeichnet. Die »Entscheidung über das Lebensganze« nach Bonhoeffer bezieht sich auf ebendiesen Sachverhalt, dass es in den Bereich der Selbstverantwortung des Menschen hineinfällt, darüber zu entscheiden, ob er seine Existenz vollumfänglich unter die Direktive der Verantwortung vor Gott stellt. Entscheidet er sich bedingungslos dafür, handelt es sich um eine »Hinkehr zum Gott-zueigen-werden«974, die existenziell bedeutsam wird.

972 DBW 8, 558. 973 Solange das Ego des Menschen noch vorherrscht, wird Gott zu einer Projektion des eigenen Selbst. In einem Brief vom 8. April 1936 an seinen Schwager Rüdiger Schleicher antwortet Dietrich Bonhoeffer auf dessen kritisches Nachfragen bezüglich des christlichen Lebens in der wirklichen Welt: »Also wir müssen schon wissen, welchen Gott wir suchen, ehe wir ihn wirklich suchen. Weiß ich das nicht, so vagabundiere ich nur so herum, und das Suchen wird dann Selbstzweck, und nicht mehr das Finden ist die Hauptsache. Also finden kann ich nur, wenn ich weiß, was ich suche. Nun weiß ich von dem Gott, den ich suche, entweder aus mir selbst, aus meinen Erfahrungen und Einsichten, aus der von mir so oder so gedeuteten Geschichte oder Natur, d. h. eben aus mir selbst – oder aber ich weiß von ihm auf Grund seiner Offenbarung seines eigenen Wortes. Entweder ich bestimme den Ort, an dem ich Gott finden will, oder ich lasse Gott den Ort bestimmen, an dem er gefunden sein will. Bin ich es, der sagt, wo Gott sein soll, so werde ich dort immer einen Gott finden, der mir irgendwie entspricht, gefällig ist, der meinem Wesen zugehörig ist. Ist es aber Gott, der sagt, wo er sein will, dann wird das wohl ein Ort sein, der meinem Wesen zunächst gar nicht entsprechend ist, der mir gar nicht gefällig ist. Dieser Ort aber ist das Kreuz Christi. Und wer ihn dort finden will, der muß mit unter dieses Kreuz, wie es die Bergpredigt fordert. […] Kein Ort, der uns angenehm oder a priori einsichtig wäre, sondern ein uns in jeder Weise fremder Ort, der uns ganz und gar zuwider ist. Aber eben der Ort, an dem Gott erwählt hat, uns zu begegnen« (GS 3, 27f.). 974 Vgl. 8.2 Selbstverantwortung als tiefste Verantwortungsart.

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Das »Gute« als Sein in der Wirklichkeit

10.3 Das »Wirklichkeitsgemäße« als das konkrete »Gute« Für den glaubenden Menschen, dem die Wirklichkeit Gottes975 zur ausschließlichen Wahrheit wird, transformiert sich das Streben nach dem »Guten«: »Teilbekommen an dem unteilbaren Ganzen der Gotteswirklichkeit ist der Sinn der christlichen Frage nach dem Guten.«976 Das Verständnis dahin gehend, was unter dem »Guten« zu verstehen ist, wandelt sich unter dem Eindruck des Glaubens also grundlegend. Das »Gute« ist die Wirklichkeit selbst und die Frage nach dem »Guten« dient dann nicht mehr einem Selbstzweck, sondern versucht zu beantworten, wie das menschliche Handeln inmitten der jetzt gegebenen Wirklichkeit so zum Ausdruck kommen kann, dass Gott unter seinen Geschöpfen offenbar wird.977 Das wirkliche Sein trägt dazu bei, den Willen Gottes ins Recht zu setzen und qualifiziert sich infolgedessen dadurch, dass es die Wirklichkeit Gottes im gegenwärtigen Moment erkennt und sie als größeren Kontext anerkennt, in den alles Schaffen einzuordnen ist. Das heißt, dass der glaubende Mensch, der sich selbst als von Gott angenommen versteht und seinem Gebieten folgen will, die Wirklichkeit von Gott her zu erschließen versucht, ohne seine Glaubensannahmen dabei absolut zu setzen. Indem er sich und sein Leben am Wort Jesu ausrichtet, nimmt er an der wiedergeschenkten Einheit von 975 Heinrich Ott weist auf die starke Präsenz des Wirklichkeitsbegriffs in dem Leben Dietrich Bonhoeffers und in seinem Wirken hin: »Bonhoeffers Problem war in allen Stücken seines Denkens die Wirklichkeit […]. Dies war das Thema seines Lebens und das Thema seiner Theologie« (ders.: Wirklichkeit und Glaube, Bd. 1, 276). Alles Nachdenken über die Wirklichkeit gründet dabei auf der Vorstellung, dass es tatsächlich nur die eine Wirklichkeit gibt, nämlich die Wirklichkeit Gottes. Deshalb bezieht sich auch die Entscheidung, die der Mensch zwischen der »Wirklichkeit des Offenbarungswortes Gottes« und den »sogenannten Realitäten des Lebens« (beide Zitate DBW 6, 33) zu treffen hat, nur auf sein Bewusstsein, denn diese »Frage selbst, die kein Mensch von sich aus, aus eigener Wahl entscheiden kann, ohne sie falsch zu entscheiden, setzt schon die gegebene Antwort voraus, daß nämlich Gott, wie auch immer wir uns entscheiden, schon sein Offenbarungswort geredet hat und daß wir auch in der falschen Wirklichkeit garnicht anders leben können als von der wahren Wirklichkeit des Wortes Gottes. Die Frage nach der letzten Wirklichkeit versetzt uns also bereits in eine solche Umklammerung durch ihre Antwort, daß wir uns garnicht mehr entwinden können« (DBW 6, 33f.). Hinsichtlich der Entscheidung über das Lebensganze zeigt sich nun eine Differenz zwischen der weischedelschen und der bonhoefferschen Auffassung, die mit unterschiedlichen Gottesbildern zusammenhängt. Wilhelm Weischedel legt die Entscheidung über die religiöse Verantwortung von der Prämisse der radikalen Freiheit des Menschen her aus und verortet sie dadurch vollumfänglich in dem Bereich der selbstverantwortbaren Verfügungsmöglichkeiten. Nach diesem Verständnis entscheidet der Mensch über die Wirkmacht Gottes in seinem Leben. Demgegenüber postuliert Bonhoeffer, dass der Mensch diese Entscheidung zwar selbsteigen zu treffen hat, dass er dazu aber von Gott befähigt werden muss. Der Lebensentscheidung des Menschen geht deshalb die Entscheidung Gottes über das Leben des Menschen voraus. 976 A. a. O., 38 (H. i. O.). 977 Vgl. a. a. O., 35.

Das »Wirklichkeitsgemäße« als das konkrete »Gute«

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der Welt und Gott teil, die sich im Versöhnungsgeschehen ereignet hat.978 Damit ist der »Ursprung der christlichen Ethik […] nicht die Wirklichkeit des eigenen Ich, nicht die Wirklichkeit der Welt, aber auch nicht die Wirklichkeit der Normen und Werte, sondern die Wirklichkeit Gottes in seiner Offenbarung in Jesus Christus«979.

Diesen Gedanken begründet Bonhoeffer schöpfungstheologisch, bevor er ihn christologisch entfaltet. Während der Mensch mit seinem Fragen nach einem qualitativ »Guten« die Existenz auch des »Nicht-Guten« voraussetzt, beurteilt Gott selbst alles von ihm Geschaffene als ausnahmslos »gut«. So heißt es im Schöpfungsbericht, Gott habe alles angesehen und »siehe, es war sehr gut«980. Das »Gute« wird als das von Gott Geschaffene ausgewiesen und bezieht sich ausdrücklich auf das Ganze seines Schöpfungswerkes, also nicht nur auf einen begrenzten Bereich. Alles war »sehr gut«. Angesichts dessen kann der Mensch erkennen, dass jedes Kategorisieren in »Gut« und »Böse« dem ursprünglichen Willen Gottes widerspricht.981 Der ihrem Ursprung nach »sehr guten« Schöpfung Gottes folgte der Sündenfall als die Abkehr des Geschöpfes Mensch von seinem Schöpfer Gott. In dem menschlichen 978 Vgl. Jürgen Moltmann: Die Wirklichkeit der Welt und Gottes konkretes Gebot nach Dietrich Bonhoeffer, 53. 979 DBW 6, 33. 980 Gen. 1, 31. 981 Hinsichtlich der Unterscheidung zwischen »Gut« und »Böse« muss eine Differenzierung vorgenommen werden. Obschon es dem Gott zugeordneten Menschen nicht obliegt, festlegend zu urteilen, entbindet dies ihn nicht von Reaktionen auf Situationen innerhalb seines Wirklichkeitserlebens. Infolgedessen ergibt sich eine unauflösliche Spannung: Einerseits trennt autonomes Urteilsvermögen den Menschen von Gott. Andererseits richtet sich das Handeln an Einschätzungen hinsichtlich der lebensweltlichen Bedingungen des Menschen aus. Davon ausgehend, dass sich die Wirklichkeit Gottes in seiner Offenbarung zeigt, kommt in ihr auch zum Ausdruck, was von Gott gewollt ist. Ein Krieg beispielsweise trägt sich zwar als Teil der erlebbaren Wirklichkeit immer auch innerhalb der Wirklichkeit Gottes zu, aber er ist nicht gottgewollt, weil er sich nicht mit der Offenbarung Gottes vereinbaren lässt. Hieran wird ersichtlich, dass ein kriegerisches Handeln des Menschen abseits des Gotteswillen und der Wirklichkeit erfolgt, wie Gott sie vorgesehen hat. Der Widerstand zur Zeit des Nationalsozialismus gründete darauf, die Taten des Regimes als unrechtmäßig – theologisch gesprochen als vom Willen Gottes abweichend – zu deklarieren. Als Reaktion wurde dann mit dem Tötungsversuch an Adolf Hitler ein relativ Besseres gewählt. Dabei bleibt unbenommen, dass auch ein Mord abseits des Willens Gottes liegt und der Mensch schuldig wird, wenn er tötet. Das Dilemma zwischen einer situativ gebotenen Tat dieser Art und der unvermeidbaren Schuldigkeit bleibt unauflöslich bestehen und kann nur in die Hoffnung hineingeborgen werden, dass Gott auch die Schuldigkeiten des Menschen barmherzig und liebend ansieht und letztlich auch den Schuldiggewordenen rechtfertigt. Hierin besteht deshalb die religiös reflektierte Antwort auf das verantwortungsethische Implikat der Bereitschaft zur Schuldübernahme (vgl. 8.1 Verantwortungsethik als Antwort auf konfliktträchtige Lebenswirklichkeit; 12.3 Das Wagnis des Handelns und die Bereitschaft zur Schuldübernahme).

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Das »Gute« als Sein in der Wirklichkeit

Streben danach, zwischen »Gut« und »Böse« unterscheiden zu wollen, um dadurch autonom urteilen zu können, liegt das Wesen aller Gottesferne. Obschon weiterhin als Gottes Schöpfung bestehend, zeichnet sich die Wirklichkeit der Welt in ihrer gegenwärtig existierenden Form durch ebendiese Gottesferne aus. Ein Mensch, der unter dem Eindruck eines christlichen »Selbst-«, »Welt-« und »Gottesbewusstseins«982 steht, strebt nach dem »Guten« als Teilhabe an der Wirklichkeit Gottes. Ein solchermaßen orientiertes Streben zielt darauf ab, die bestehende Trennung zwischen Mensch und Gott im Rahmen des Möglichen zu überwinden.983 Gott selbst überwand diese Trennung durch Jesus Christus. Damit gab er dem Menschen vor, dass dessen Weg zurück in eine Gottesbeziehung ebenfalls durch Jesus Christus erfolgen muss.984 Solange aber die Wirklichkeit Gottes und die Wirklichkeit der Welt als getrennt voneinander verstanden werden, kann eine Teilhabe an der Versöhnung Gottes mit der Welt nicht erfolgen. Dass es sich tatsächlich aber um eine Wirklichkeit handelt, verkörpert Jesus Christus und nur durch ihn wird dies im Glauben erfahrbar.985 Für das Denken des Menschen ergibt sich daraus die Notwendigkeit, sich der vorherrschenden Annahme zu verwehren, es gäbe eines Bereich des Göttlichen, also einen heiligen, und einen davon verschiedenen Bereich des Weltlichen, also einen profanen. Solange diese Trennung aufrechterhalten wird, bleibt eine innere Zerrissenheit im Selbsterleben des Menschen unvermeidbar bestehen. Auch äußerlich steht sie einer erlebbaren Versöhnung von Gott mit der Welt entgegen. Der Mensch kann sich profanen und göttlichen Angelegenheiten nicht parallel widmen, weil er nicht zeitgleich in beiden Bereichen zu agieren vermag. Das trennende Denken steht dem Glauben an ein Wirklichkeitsganzes aktiv entgegen, weil der Mensch »Christus ohne die Welt und die Welt ohne Christus«986 zu haben versucht. Bonhoeffer beschreibt den Versuch, christlich, aber nicht weltlich sein zu wollen oder sich der Weltlichkeit zu verschreiben und diese nicht in Christus zu erkennen, gar als eine »Verleugnung der Offenbarung Gottes in Jesus Christus«987. Meint der Mensch hingegen, die Trennung beider Räume zu überwinden, in dem er in beiden zugleich zu stehen versucht, erlebt er einen permanenten Konflikt. Solange sich der Mensch die Unterschiede der beiden Bereiche gedanklich vergegenwärtigt, verfestigt er sie solchermaßen, dass sich 982 Vgl. 9.2 Der Mensch als gerechtfertigtes Wesen vor Gott. 983 Vgl. DBW 6, 38f. 984 Den bonhoefferschen Verantwortungsbegriff als eine Form eines wirklichkeitsgemäßen Handelns zu bestimmen, verortet den Begriff christologisch, weil alle Wirklichkeitsbegriffe, die von Jesus Christus absehen, für Dietrich Bonhoeffer als Abstraktionen gelten (vgl. Heinrich Ott: Wirklichkeit und Glaube, Bd. 1, 147). 985 Vgl. DBW 6, 41; 11.1 Die Bedeutung des Versöhnungsgeschehens. 986 A. a. O., 43. 987 Vgl. ebd.

Das »Wirklichkeitsgemäße« als das konkrete »Gute«

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Profanes tatsächlich nicht mit Heiligem zusammenführen lässt. Dort, wo weltliche und christliche Prinzipien einander gegenübergestellt werden, begegnet eine Vielzahl weltlicher, oftmals miteinander unvereinbarer Axiome dem einen christlichen. Diese unversöhnlichen Wirklichkeitsgesetze bleiben dann unverbunden nebeneinander existent.988 Folglich wäre auch das christliche Prinzip eines unter vielen anderen Wirklichkeitskonstruktionen von der Welt, wie es der Perspektivismus Webers postuliert.989 Das von Bonhoeffer konstatierte Weltverständnis basiert hingegen auf der Grundannahme, dass Gottes Wirklichkeit alle anderen pluralistischen und partiellen Wirklichkeitsvorstellungen umschließt. Weder geht es dabei darum, die Welt zu christianisieren noch darum, das Christliche zu verweltlichen.990 Vielmehr wird beides im Glauben zusammengeführt. Der glaubende Mensch erkennt die Trennung zweier Wirklichkeiten als Fiktion und nimmt als Glaubenswahrheit für sich an, dass es nur eine einzige Wirklichkeit gibt, nämlich die »in Christus offenbargewordene Gotteswirklichkeit in der Weltwirklichkeit«991. Im konkreten Handeln manifestiert sich diese Zusammenführung in Form eines durch das Weltliche hindurch auf Gott hin ausgerichteten Wirkens. Das »Gute« ist dann die eine Wirklichkeit, in der das christliche Leben ganzheitlich verortet wird, ohne es von anderen Lebensbereichen zu separieren. Dabei steht Bonhoeffer nicht die prinzipielle Gleichsetzung von Gott und Welt vor Augen, sondern »die Auslegung der Wirklichkeit im Wunder der Inkarnation«992. Das beinhaltet, dass sich die Einheit nur unter der Voraussetzung des Glaubens erkennen und leben lässt. Ein Handeln, dem dieses Verständnis von Wirklichkeit zugrunde liegt und das darauf abzielt, sich ihm gemäß auszurichten, bezeichnet Bonhoeffer als wirklichkeitsgemäßes Handeln. Es anerkennt das, was ist und erforscht das Faktische daraufhin, was sich in der jeweils gegebenen Situation als das Gebotene zeigt. Es orientiert sich also an den situativen Begebenheiten der Welt-

988 Vgl. a. a. O., 264. 989 Vgl. 8.1 Verantwortungsethik als Antwort auf konfliktträchtige Lebenswirklichkeit. 990 Eine Christianisierung käme dem Versuch gleich, die Religionslosigkeit der »mündig gewordenen Welt« rückgängig zu machen (vgl. 12.1 Der Mensch als mündiges Wesen vor Gott). Dies läge abseits der Bestrebungen Dietrich Bonhoeffers (vgl. Götz Harbsmeier: Die »nicht-religiöse Interpretation biblischer Begriffe« bei Bonhoeffer und die Entmythologisierung, 81). Er »will keine Identität von Gott und Welt, kein Eingehen des Christentums in die Welt, keine Verchristlichung der Welt und keine Verweltlichung des Christentums. Für Bonhoeffer war die Welt immer nur das Vorletzte und nicht das Letzte« (Georg Huntemann: Der andere Bonhoeffer, 56). 991 DBW 6, 43. 992 Jürgen Moltmann: Die Wirklichkeit der Welt und Gottes konkretes Gebot nach Dietrich Bonhoeffer, 49.

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wirklichkeit und bleibt dabei an Jesus Christus ausgerichtet.993 Der Versuch, die Welt ihrer Weltlichkeit zu entheben wird dadurch aufgegeben und durch die Ansicht ersetzt, dass sie in ihrer gegenwärtigen Form genau die Welt ist, die Gott in Jesus Christus geliebt, gerichtet und versöhnt hat.994

10.4 Verantwortliches Handeln als wirklichkeitsgemäßes Handeln Es wurde gezeigt, dass Bonhoeffers Auffassung zur Verantwortungsethik auf der Prämisse beruht, dass eine Ethik, die das absolut »Gute« zum Maßstab hat, eine lebensweltliche Entfremdung beinhaltet. Sie bezieht sich auf den einzelnen und damit isolierten Menschen, der zwischen »Gut« und »Böse« zu wählen hat. Diese Ethikauffassung enthält eine zweifache Abstraktion: Erstens geht sie von einem dualen Wirklichkeitsverständnis aus. Für ethisches Entscheiden wird damit vorausgesetzt, dass die Verhältnisse der Wirklichkeit eindeutig nach »Gut« und »Böse« kategorisiert werden können. Dabei handelt es sich um eine Abstraktion, die die Mehrdimensionalität von Wirklichkeitsverhältnissen verkennt. Zweitens berücksichtigt eine solche Ethik nicht hinreichend, dass der Mensch als soziales Wesen in Gemeinschaftskontexte eingebunden ist. Eine Ethik, deren Güte sich ausschließlich an den Absichten eines einzelnen Menschen orientiert, greift zu kurz, weil sie den sozialethischen Komponenten, die grundsätzlich zur Verantwortung gehören, nicht ausreichend Rechnung trägt. Bonhoeffer geht es weniger um Optimierungsmöglichkeiten von einer individuellen Lebensführung, sondern vornehmlich um die »Frage nach dem Guten im Horizont der Frage nach einem gemeinsamen Leben und im Horizont der Frage nach einer geschichtlich gewordenen gesellschaftlichen Wirklichkeit«995. Infolgedessen lassen sich Verantwortungs- und Sozialethik nach Bonhoeffer auch als synonym auffassen.996 Zudem entfaltet Bonhoeffer seine verantwortungsethischen Überlegungen ausgehend von der Grundannahme, dass sich der Mensch unter dem Eindruck des Glaubens grundlegend wandeln muss. Die Egozentriertheit gilt es zugunsten 993 Vgl. DBW 6, 266. Der an späterer Stelle erfolgenden Vertiefung der christologischen Figur, die ein konstitutives Merkmal des bonhoefferschen Verantwortungsbegriffs ist (vgl. 11 Jesus Christus als Vermittler), soll hier Folgendes vorangestellt werden: Die einzige Möglichkeit des Menschen dazu, die Frage nach dem »Guten« vom Ursprung des Lebens her zu beantworten, besteht nach Dietrich Bonhoeffer darin, die Fragebedingungen an Jesus Christus auszurichten. Denn, »gut« »ist das Leben als das was es in Wirklichkeit, das heißt in seinem Ursprung, seinem Wesen und seinem Ziel ist, also Leben im Sinn des Wortes: Christus ist mein Leben. [Anm. 21 i. O.: Phil 1,21.] Gut ist nicht eine Qualität des Lebens, sondern das ›Leben‹ selbst. Gutsein heißt ›leben‹« (DBW 6, 252). 994 Vgl. a. a. O., 261ff. 995 Wolfgang Huber : Konflikt und Konsens, 143. 996 Vgl. ebd.

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eines Seinszustands aufzugeben, der für den Willen Gottes durchlässig ist. Die Selbstüberschätzung des Menschen vergeht dabei und mündet in eine Demutshaltung ein. Das »Gute« wird als das Wirkliche selbst erkannt, weil es von Gott als solches ausgewiesen ist. Dieser Wirklichkeitsbegriff wird aber dann zu einer problematischen Konstruktion, wenn folgende Differenzierung ausbleibt: Bonhoeffer hat den glaubenden Menschen vor Augen. Deshalb sind alle Annahmen über die Wirklichkeit von einer Glaubenswahrheit umfangen. Diese Glaubenswahrheit postuliert, dass es eine Wirklichkeit gibt, und zwar die Gotteswirklichkeit. Der Mensch kann sie unter dem subjektiven Eindruck seiner Lebensumstände wahrnehmen. Weil die Wahrnehmung des Menschen aber durch seine Geschöpflichkeit begrenzt ist, kann er immer nur einen Teil des Ganzen erfassen, wodurch alles Urteilen fragmentarisch bleibt. Die tatsächlich existierende ganze Wirklichkeit ist also von dem Abbild zu unterscheiden, das sich der Mensch von ihr macht. Weil das begrenzt Wahrnehmbare aber ein Teil der ganzen Wirklichkeit Gottes ist, ist auch dieses Begrenzte Gott zugehörig. Daraus ergibt sich die Erkenntnis, dass die Unterscheidung zwischen weltlichem und göttlichem Raum eine Illusion ist. Die Reaktion des Menschen auf diese Erkenntnis besteht dann darin, beide Bereiche im Denken und Handeln ineinander fließen und sie damit auch im eigenen Erleben eins werden zu lassen. In Hinblick auf Verantwortung wirkt sich dies insbesondere in zweierlei Hinsicht aus: Den neuen Seinszustand des Menschen charakterisiert es, die Weltwirklichkeit ihrem tatsächlichen Vorkommen nach anzuerkennen und solchermaßen gestaltend in sie einzugreifen, dass der Wille Gottes offenbar wird. Dies führt erstens zu einem Abstand zwischen der Person und ihrem Erleben. In dem Maße, in dem Ereignisse noch selbsteigen beurteilt werden, bleibt der Mensch im Bereich seines eigenen Einordnens gefangen. Ihm fehlt dann die Freiheit dazu, mit Abstand auf die Geschehnisse zu blicken, weil er durch seine Bewertung selbst zu einem Teil von ihnen wird. Eine solchermaßen starke Involviertheit erschwert ein kluges Abwägen. Dort, wo die Kategorien von »Gut« und »Böse« hingegen aufgelöst sind und die Gegebenheiten der Wirklichkeit zunächst in der Form angenommen werden, wie sie sich zeigen, erlangt der Mensch inneren Abstand von ihnen. Dadurch ergibt sich eine Freiheit, die Handlungsentscheidungen abseits von (emotionaler) Involviertheit begünstigt, weil sie von vorherrschenden normativen Prägungen unabhängig ist. Zweitens ist die Glaubenswahrheit von der einen Wirklichkeit Gottes nicht abseits von dessen Selbstoffenbarung in Jesus Christus zu erlangen. Deswegen lässt sich auch der Auftrag Gottes an den Menschen, wirklichkeitsgemäß zu handeln, ausschließlich aus dieser Zusammengehörigkeit heraus beschreiben: Jesus Christus wird für den glaubenden Menschen zur konkreten Lebensweisung, weil sich Gott selbst in ihm offenbart hat. Wenn der Mensch im Glauben erkennt, dass Gott nicht abseits von Jesus Christus handelt und sich Gottes Wirken dadurch

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Das »Gute« als Sein in der Wirklichkeit

auch an ihm ereignet hat, gestaltet er die Wirklichkeit christusgemäß, sofern er sein Erkennen in Handeln münden lässt. Demgemäß kann als eine erste Bestimmung hinsichtlich des Verantwortungsverständnisses nach Bonhoeffer Folgendes festgehalten werden: Ein verantwortliches Handeln zeichnet sich dadurch aus, dass es wirklichkeitsgemäß und damit christusgemäß ist. Dies gilt, weil sich der Wirklichkeitsbegriff Bonhoeffers über Webers Bestimmung von »Wirklichkeitsgemäßheit« hinausgehend in sich selbst unterscheiden lässt, ohne dass sich daraus ein Dualismus ergibt. »Wirklichkeitsgemäß« handelt derjenige, der die Faktizitäten der ihn umgebenden Weltwirklichkeit anerkennt und sie in seinen verantwortlichen Entscheidungen mitberücksichtigt. Zugleich zeichnet sich »Wirklichkeitsgemäßheit« durch ihre Christusgemäßheit aus. Nur dann, wenn sich verantwortliches Handeln an der Offenbarungswirklichkeit Gottes in Jesus Christus orientiert, ist es wahrhaftig der Wirklichkeit Gottes gemäß. Die webersche Spannungseinheit aus »Leidenschaft«, »Verantwortungsgefühl« und »Augenmaß« konkretisiert sich unter diesem Eindruck religiöser Reflexivität. Der Gottesglaube ist derjenige Glaube, der Weber zufolge da sein muss, um sich »leidenschaftlich« einzusetzen. Das »Verantwortungsgefühl« resultiert aus dem Wissen darum, dass sich der Wille und das Wirken Gottes in den Handlungen eines Menschen offenbaren, dessen Entscheidung über das Lebensganze allein für Gott ausfällt. Von einem eigenen letztgültigen Urteil über das »Gute« abzusehen, verschafft dem Menschen eine Gottesnähe, die ihn zu sich selbst und den lebensweltlichen Geschehnissen Distanz einnehmen lässt. Wenn die eigene Egozentriertheit zugunsten einer Christuszentrierung aufgegeben wird, kann mit »Augenmaß« gestaltend in die Wirklichkeit eingegriffen werden, ohne an ihrer Irrationalität zu zerbrechen. Der Gegenstand christlicher Ethik wird dann als die Offenbarungswirklichkeit Gottes in Jesus Christus erkannt. Alles Erkennen und Erstreben, das außerhalb der Gottesverhältnismäßigkeit angestrengt wird, muss deshalb ins Leere laufen.997 Von hierher ist auch das Verantwortungsthema bei Bonhoeffer zu betrachten. Seine christologische Verortung wird im Folgenden vertiefend untersucht.

997 Vgl. DBW 6, 35.

11

Jesus Christus als Vermittler

11.1 Die Bedeutung des Versöhnungsgeschehens Vor dem Hintergrund des dargelegten Verständnisses von einem »Guten«, das sich nicht vom Menschen her bestimmt, sondern von Gott her, gilt es zu klären, wie sich (verantwortliches) Leben, das Bonhoeffer vor Augen steht, beschreiben lässt. Die Antwort auf diese Frage weist auf eine christologische Figur zurück, die den bonhoefferschen Verantwortungsbegriff in entscheidender Weise prägt. Bevor also Verantwortung für den konkreten Lebensvollzug des Menschen beschrieben werden kann, müssen die dahinterliegenden theologischen Begründungszusammenhänge durchdrungen werden. Ihren Ursprung nehmen sie im Offenbarungsgeschehen Gottes, d. h. im Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi. Deswegen sind von hierher jene Aspekte zu beschreiben, die Bonhoeffer der Übernahme von Verantwortung zurechnet, sodass es darum geht, ihre christologische Verortung mit ihren jeweiligen Bezügen zum Leben des heutigen Menschen zu vergegenwärtigen. Mit dem Tod am Kreuz nahm Jesus die Sünde der Welt, also das Abgefallensein von Gott, auf sich. Darin wurde er ganz und gar durchlässig für den Willen Gottes.998 Dies kann in doppelter Weise gedeutet werden: Einerseits handelte es sich um eine »Ego-Tat« des Menschen, Gott ans Kreuz auszuliefern und die Welt damit als eine tatsächlich gottlose auszuweisen. Andererseits ereignete sich in ebendiesem gottlosen Kreuzesgeschehen ein Akt der Versöhnung, weil sich mit ihm auch die vollständige Preisgabe des Ego vollzog. Der Mensch wird von Gott her zu einem Leben in einer Welt befreit, die sich von Gott abgewendet hat.999 Sich im Tod bedingungslos selbst hinzugeben, beinhaltet, auf Erlösung angewiesen zu sein.1000 Seinem Wesen nach ereignet sich das Gesche998 Jesus Christus personifiziert die Daseinsform des Seins (vgl. 10.1 Die Unterscheidung der menschlichen Existenz in Ego und Sein). 999 Vgl. Ernst Feil: Die Theologie Dietrich Bonhoeffers, 309. 1000 »Das habe ich mit euch geredet, damit ihr in mir Frieden habt. In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden« (Joh. 16, 33).

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Jesus Christus als Vermittler

hen, das sich in Jesus Christus vollzogen hat, auch für den glaubenden Menschen heute noch. Indem sich ein Mensch bedingungs- und damit schutzlos in die Gottesbeziehung ergibt, erkennt er seine eigene Begrenzung und seine tatsächliche Gottesferne. Es ist an ihm, sein eigenes Ego dem Gericht Gottes zu unterstellen. Dies realisiert sich, indem alles Streben nach einem eigenen Vorteil preisgegeben wird. In einem theologischen Sprachduktus ließe sich dies als »Hingabe« oder als »Ersterben der alten Existenz« beschreiben. Seine neue Existenz empfängt der Mensch von Gott her, indem er Christus als seinen Herrn anerkennt. Erst in der Hingabe der alten Existenz kann sich die neue Existenz in Christus in Form von der Rechtfertigung des Sünders ereignen und zur freien Verantwortung führen.1001 Der Weg, den Gott dem Menschen abverlangt, geht also nicht am Kreuz vorbei. Erst mit dem Ersterben des Ego kann das Sein lebendig werden. Über das Kreuz weist Gott den Menschen schließlich befreit von gottesfernen Vorstellungen an die Wirklichkeit der Welt zurück. Der alte Mensch muss seiner selbst erst entsagen, bevor der neue Mensch in die wirkliche Freiheit des Menschseins gerufen werden kann. Bonhoeffer wählt für diese Unterscheidung die Termini des »Nein« Gottes und des »Ja« Gottes. Das »Nein« Gottes richtet sich auf das Ego, das »Ja« Gottes setzt das Sein ins Leben. Dem »Ja« ist deshalb immer schon das »Nein« vorausgegangen: »Indem Gott unsere Wege durchkreuzt, kommt er zu uns und sagt sein gnädiges ›Ja‹ zu uns, aber eben nur durch das Kreuz Jesu Christi. Er hat dieses Kreuz auf die Erde gestellt. Gibt er uns unter dem Kreuz der Erde und ihrer Arbeit und Mühe zurück, so verpflichtet er uns aufs Neue der Erde und den Menschen, die darauf wohnen, handeln, kämpfen und leiden.«1002

Das Kreuz Christi steht dem Menschen mit seiner Paradoxie des verlassenen Gottessohnes im Weg. Indem es aufdeckt, dass eine Entscheidung über das Lebensganze noch aussteht, hindert es den Menschen daran, (unbewusst) an seiner mittelmäßigen Existenz festzuhalten.1003 Das Kreuz untersagt es dem Menschen, seine alte Existenz als diejenige anzunehmen, die von Gott gewollt ist. Indem es die Gottesferne des alten Menschen aufdeckt, weist das Kreuz den neuen Menschen befreit in die Unfreiheit der Welt zurück.1004 Diese Umkehr ist 1001 Vgl. Dietrich Bonhoeffer : Christologie, 40. 1002 GS 2, 556. 1003 Vgl. Jürgen Moltmann: Die Wirklichkeit der Welt und Gottes konkretes Gebot nach Dietrich Bonhoeffer, 55. 1004 Der Tod und die Auferstehung, die sich in der Preisgabe des Ego am Menschen vollziehen und ihn dadurch zum Leben befreien, lassen ihn erkennen, dass die Trennung zwischen Göttlichem und Weltlichem illusionär ist. Diese Illusion gilt dem von Gott abgefallenen Menschen aber als Wahrheit. Der Spott der Zeugen am Kreuz, von dem die Bibel berichtet, kann als Urbild für dieses Missverstehen gedeutet werden: »Die aber vorübergingen,

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nicht partiell, sondern bezieht sich auf die ganze Person. In der Umgestaltung des Menschen drückt sich schließlich seine wiedergewonnene Beziehung zu Gott aus. Das Leben, wie es dem Schöpferwillen nach gedacht ist, meint diese ursprüngliche, reine Begegnung zwischen Mensch und Gott, die sich am Wesen des Menschen vollzieht. Jesus Christus als Mensch und zugleich Gott verkörpert diese Beziehung leibhaftig, die sich darin auszeichnet, auch die Widersprüche des Lebens mit einzuschließen. Es ist eine echte »Lebensbeziehung«1005, in der Menschliches und Göttliches aufgehen, weil Gott selbst in der Gestalt Jesu Christi in die Welt einging und die Trennung zwischen Mensch und Gott überwand. Seine Hingabe an die Wirklichkeit zeigte sich darin, dass er sie bis in den Tod an sich selbst vollziehen ließ und dadurch als personifizierte Erfüllung des Gotteswillens fungierte. So offenbarte sich der wirkliche Gott dem Menschen und verpflichtete dessen Leben im Sinne dieser Offenbarung. Bonhoeffer beschreibt diesen Lebensauftrag, der das Lebensganze umfasst, folgendermaßen: »Wir ›leben‹, indem sich in unserer Begegnung mit den Menschen und mit Gott das ›Ja‹ und das ›Nein‹ zu widerspruchsvoller Einheit verbindet, zu selbstloser Selbstbehauptung, zur Selbstbehauptung in der Selbstpreisgabe an Gott und die Menschen.«1006

Der Mensch ist also vornehmlich mit Hingabe beauftragt. Alle Versuche, sich von Gott als den Ursprung des Lebens zu emanzipieren, werden verneint, weil es sich bei ihnen allen letztlich um ein lebensverneinendes Streben handelt. Es ist der unwissende Versuch, ohne das Leben selbst, nämlich Jesus Christus, leben zu wollen. Deswegen spiegelt das »Nein« Gottes zu diesem Bestreben schließlich lästerten ihn und schüttelten ihre Köpfe und sprachen: Der du den Tempel abbrichst und baust ihn auf in drei Tagen, hilf dir selber, wenn du Gottes Sohn bist, und steig herab vom Kreuz« (Matth. 27, 39f.). Das menschliche Verstehen vermag es nicht, die qualvolle Hinrichtungsart des Kreuzestodes mit Gottes Dasein in Einklang zu bringen. Jesus aber spricht sogar in der absoluten Gottesferne noch Gott selbst an und weiht ihm diese Gottverlassenheit: »Und um die neunte Stunde schrie Jesus lauf: Eli, Eli, lama asabtani? das heißt: Mein Gott, mein Gott warum hast du mich verlassen?« (Matth. 27, 46). Ob er sich selbst wirklich hätte in dieser Weise »helfen« können, wie es die Umstehenden fordern, bleibt unbeantwortet und verliert an Bedeutung. Im Vordergrund steht, dass dieser Akt der Lästerung die im abgefallenen Menschsein verwurzelte Missachtung gegenüber Gott offenbart. Es handelt sich wiederum um das Ego, das das Göttliche mit den eigenen Maßstäben des »Guten« gleichsetzen und aus einer Welt des Leids herausdrängen will. Erst, wenn der Mensch von Gott abseits des verstandesmäßig Erfassbaren ergriffen wird, wird die Unzulänglichkeit menschlichen Bewertens offenkundig: »Als aber der Hauptmann und die mit ihm Jesus bewachten das Erdbeben sahen und was da geschah, erschraken sie sehr und sprachen: Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen!« (Matth. 27, 54). 1005 Helmut Kuhn: Liebe, 11; vgl. 9.3 Akzeptanz als Ausdruck christlicher Liebe. 1006 DBW 6, 253.

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auch nur das »Nein« des Menschen zum Leben selbst wider. Indem sich der Mensch aber als von Gott abhängig erkennt und sich dieser Bindung hingibt, wird er für die Kraft Gottes, also die Kraft allen Lebens, durchlässig. Diese Antwort des Menschen auf das Leben Jesu wird nicht erzwungen, sondern mit ihr nimmt der Mensch das Angebot Gottes, wahrhaftig lebendig werden zu dürfen, an.1007 Damit sind »Menschwerdung, Kreuz und Auferstehung […] die drei wesenhaften, konstitutiven Strukturen der einen Wirklichkeit Jesu Christi«1008 und der Mensch kann ihr nur dann wahrhaftig entsprechen, wenn er alle drei Komponenten für sich gelten lässt.1009 Dies zu erkennen, vollzieht sich, indem die drei Bewusstseinssphären des Menschen unter dem Eindruck des Glaubens stehen.1010 Infolgedessen vergeht der verklärende Blick auf das eigene Selbst, die Welt und Gott und es offenbaren sich die Gottverlassenheit der Welt. Dann führt der Weg nicht mehr am Kreuz vorbei, sondern dahin, die alte Existenz aufzugeben. Eine solche Umkehr bedingt, dass die Gottverlassenheit nicht länger über das Leben des Menschen regiert, sondern die Erlösung im Sterben mit Jesus. Sie vollendet sich, indem sich die neue Existenz des Menschen in die Auferstehung Jesu Christi hineinvollzieht. Der Schmerz im Vergehen des Alten kann dabei nicht verklärt oder umgangen werden. Es ist aber verheißungsvoll, das Gottesgericht auf sich zu nehmen, weil es in eine Neuschöpfung mündet, die zum wahren Menschsein befreit. Die in Jesus Christus befreite Existenz bleibt in dieser, der Sünde verhafteten Welt allerdings nicht unangefochten und muss deshalb immer wieder erneuert werden. Dabei wird der Mensch durch das Vorbild Jesu Christi stets zurück an die Wirklichkeit der Welt gewiesen, aber nicht zurück in die absolute Abhängigkeit von ihr. Im Anerkennen dessen, dass mit »Jesus Christus […] die Wirklichkeit Gottes in die Wirklichkeit dieser Welt eingegangen«1011 ist, kann der Mensch die von Gott ursprünglich gewollte »gute« Schöpfung neu erleben. Indem die Sünde am Kreuz getilgt wurde, hob sich die Trennung von Gott und Weltwirklichkeit auf. Daran darf der befreite Mensch 1007 Vgl. a. a. O., 254. 1008 Heinrich Ott: Wirklichkeit und Glaube, Bd. 1, 161. Diese Grundlegung impliziert, dass jedes Wirklichkeitsverständnis, das abseits der Wirklichkeit in Jesus Christus besteht, nur partiell sein kann: »Alle Wirklichkeitsbegriffe, die von Christus absehen, sind Abstraktionen. Das bedeutet nicht einfach, daß sie falsch wären, sondern: daß sie nicht das Ganze, Letzte und Eigentliche der Wirklichkeit ausdrücken. Sie mögen ihr beschränktes Recht haben, mögen je unter bestimmten Hinsichten die Wirklichkeit des Wirklichen sachgemäß zur Sprache bringen (wir denken dabei an philosophische, an der wissenschaftlichen Erkenntnis der Welt-Phänomene orientierte, ontologische Begriffe von Wirklichkeit), aber ihnen fehlt die letzte Zulänglichkeit und Konkretion« (a. a. O., 149). 1009 Vgl. 11.3 Menschwerdung abseits des Prinzipiellen. 1010 Vgl. 9.2 Der Mensch als gerechtfertigtes Wesen vor Gott. 1011 DBW 6, 39 (H. i. O.).

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Anteil nehmen. Dies ist der Grund dafür, dass die Welt und Gott aus Sicht des glaubenden Menschen nicht mehr unabhängig voneinander gedacht werden können.1012 Demgemäß kann auch das Christliche nicht mehr anders verstanden und anderorts gesucht werden als im Weltlichen; alles Heilige ist im Profanen zu finden.1013 Wie oben beschrieben, muss die vermeintliche Trennung zwischen einem heiligen und einen profanen Raum zuerst im Denken des Menschen überwunden werden.1014 Diese neu gewonnene Einheit lässt sich bewahren, indem sich die erdachten Gegensätze selbst kontrollieren und sich dadurch gegenseitig an einer Verselbstständigung hindern, die wieder in eine Separation münden würde. Das Weltliche ohne das Christliche zu denken, meint eine Willkür und eine Bindungslosigkeit zuzulassen, während das Christliche ohne das Weltliche der Gefahr unterliegt, sich der Gemeinschaft mit der Welt zu versagen.1015 Christlich zu sein, beinhaltet deshalb, den vermeintlichen Konflikt zwischen Gott und Welt zu überwinden, indem der Mensch in Jesus Christus die eine Wirklichkeit erkennt und in ihr zu stehen versucht. Die Weltlichkeit des Menschen – so beschreibt es Bonhoeffer – »trennt ihn nicht von Christus, und seine Christlichkeit trennt ihn nicht von der Welt. Ganz Christus angehörend steht er zugleich ganz in der Welt«1016. Im konkreten Lebensvollzug zeigt sich ein solches Verständnis von der Ununterscheidbarkeit zwischen Weltlichem und Göttlichem, indem jedes Handeln, jeder Gegenstand, alle Begegnungen, alles Erleben um Jesu Christi willen der Profanität enthoben werden. Ein Geschehen ist also nicht schon aus sich selbst heraus göttlich. Aus dem Profanen wird erst dann das Heilige, wenn der Mensch – dem Auftrag Gottes folgend – alles Schaffen auf Gott hin ausrichtet. Am Beispiel der Arbeit lässt sich dieser Sachverhalt mit Bonhoeffer folgendermaßen verdeutlichen: »Arbeit ›an sich‹ ist nicht göttlich, aber Arbeit um Jesu Christi willen, um des göttlichen Auftrages und Zieles willen ist göttlich.«1017 Indem sich das Schaffen des Menschen Gott zur Ehre vollzieht, kommt das tiefere Wesen der Weltwirklichkeit zum Vorschein, nämlich als Göttliches selbst. Auf diese Weise wird ein wirklichkeitsgemäßes Handeln zu einem christusgemäßen Handeln.1018 1012 Vgl. a. a. O., 70. 1013 Vgl. a. a. O., 44. Zur polemischen Einheit von Christlichem und Weltlichem und zur Zentralaussage der Ethik, dass mit Jesus Christus die Gotteswirklichkeit in die Weltwirklichkeit eingegangen ist vgl. Ernst Feil: Die Theologie Dietrich Bonhoeffers, 306ff. 1014 Vgl. 10.3 Das »Wirklichkeitsgemäße« als das konkrete »Gute«. 1015 Vgl. DBW 6, 45ff. 1016 A. a. O., 48. 1017 A. a. O., 56. 1018 Nach Dietrich Bonhoeffer darf die Einheit zwischen Weltlichem und Göttlichem allerdings nicht als eine Synthese missverstanden werden. Die Versöhnung von Gott mit der Welt ist allein in der Person Jesus Christus geschehen. Die Weltwirklichkeit, wie sie sich uns zeigt,

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Jesus Christus als Vermittler

11.2 »Stellvertretung« und das Verhältnis von Bindung und Freiheit Wenn der Auftrag des Menschen darin besteht, wirklichkeitsgemäß zu handeln, und sich »Wirklichkeitsgemäßheit« als Christusgemäßheit darstellt, muss konkretisiert werden, wodurch sich ein christusgemäßes Handeln auszeichnet. Ein wesentlicher Aspekt lässt sich vom Kreuzesgeschehen her aufklären. Indem Jesus den Kreuzestod starb, nahm er die Sünde der Menschen auf sich. Christusgemäßes Handeln erweist sich dadurch als stellvertretendes Handeln, das sich theologisch also auf das Kreuzesgeschehen rückbeziehen lässt und sich im verantwortlichen Leben des Menschen manifestiert. Der Zusammenhang von Verantwortung und »Stellvertretung« zeigt sich schon im alltäglichen Leben. Eltern übernehmen Verantwortung für ihre Kinder, indem sie stellvertretend handeln, Politiker werden in ihr Amt gesetzt, um Verantwortung dadurch zu übernehmen, dass sie sich stellvertretend für die Menschen einer Gesellschaft einsetzen.1019 Verantwortung ist also nicht ohne »Stellvertretung« denkbar und immer geht es darum, dass ein stellvertretend Handelnder das »Ich mehrerer Menschen«1020 in sich vereinigt. Der Begriff der »Stellvertretung« kann aber in vielerlei Hinsicht verwendet werden. Im alltäglichen und rechtswissenschaftlichen Gebrauch bezeichnet er die Möglichkeit, dass eine Person eine bestimmte Handlung für eine andere übernimmt. Im Falle der Abwesenheit eines Entscheidungsbefugten beispielsweise werden seinem Stellvertreter all jene Befugnisse übertragen, die in der spezifischen Situation vonnöten sind, um ein jeweiliges Geschehen abzuwickeln. Für diesen klar umrissenen Kontext wird dadurch eine Person vollständig durch eine andere ersetzt. Das christlich-theologische Nachdenken über »Stellvertretung« vom Kreuzestod Jesu her ist der Versuch, dieses Geschehens zu erklären und es soteriologisch, also als ein Heilsgeschehen, zu deuten. Wenn angenommen wird, dass Jesus für die Menschen1021 gestorben ist, kann dieser Stellvertretungsakt den wirklichen Tod des einzelnen Menschen natürlich nicht ersetzen. Es muss sich also um eine andere Form von »Stellvertretung« handeln als die für das alltägliche Leben beschriebene. Wie »Stellvertretung« dann im Einzelnen zu verstehen ist, hängt von der jeweiligen Auslegung ab. Bonhoeffers Ausführungen ist nicht die von Gott gewollte, sondern die von ihm abgefallene Welt, die er in Jesus Christus mit sich selbst versöhnt hat (vgl. a. a. O., 265). 1019 Vgl. 7.1 Verantwortung als soziale Konstruktion. 1020 A. a. O., 257. 1021 Ein Denken, das das Leben des Menschengeschlechts abseits von der Existenz Gottes erklären will, muss sich der grundsätzlichen Annahme verwehren, Jesus sei für alle Menschen gestorben (vgl. kritische Überlegungen bei Klaus-Michael Kodalle: Dietrich Bonhoeffer, 99ff., insb. 102).

»Stellvertretung« und das Verhältnis von Bindung und Freiheit

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sind also ein Deutungsversuch des Kreuzesgeschehens, der darauf abzielt, es für ein christliches Verantwortungsverständnis fruchtbar zu machen. Indem Gott durch Jesus in die Welt einging, sich also selbst hingab und eine vollkommene Menschwerdung lebte, handelte er stellvertretend. Die »Stellvertretung« Gottes umfasst deshalb ausnahmslos den gesamten Lebenszyklus, vom Eintritt in diese Welt, über das Leben und Leiden in ihr, bis hin zum Tod, mit dem Gott die Welt überwand. Jesus Christus ist deshalb die Definition des Menschseins, wie Gott selbst sie aufgestellt hat.1022 Dadurch weist alle »Stellvertretung« zurück auf den Stellvertretungsakt Gottes, wie er ihn an sich selbst durch Jesus Christus vollzogen hat: »Weil Jesus, – das Leben, unser Leben, – als der Menschgewordene Sohn Gottes stellvertretend für uns gelebt hat, darum ist alles menschliche Leben durch ihn wesentlich stellvertretendes Leben.«1023 Dem Stellvertretungsgedanken liegt also als Voraussetzung zugrunde, dass Jesus als das Leben schlechthin verstanden wird. Wenn er alles Leben selbst ist, gibt er durch seine Lebensweise vor, wie ein Leben nach dem Willen Gottes gedacht ist. Jesus Christus ist deshalb der Verantwortliche schlechthin, wie Gott ihn ausweist und alles Leben ist dann verantwortliches Leben, wenn es stellvertretendes Leben ist.1024 Wenn Bonhoeffer Jesus also als das Leben definiert und dieses Leben wesentlich eines in »Stellvertretung« ist, dann lebt nur derjenige überhaupt, der stellvertretend lebt und nur derjenige kann auch verantwortlich leben. In der bonhoefferschen Diktion kommt diese Folgerichtigkeit folgendermaßen zum Ausdruck: »Stellvertretung und also Verantwortlichkeit gibt es nur in der vollkommenen Hingabe des eigenen Lebens an den anderen Menschen. Nur der Selbstlose lebt verantwortlich und das heißt nur der Selbstlose lebt. Wo das göttliche ›Ja‹ und ›Nein‹ im Menschen eins werden, dort wird verantwortlich gelebt.«1025

Damit ist der Inbegriff der Existenzform des Seins christologisch begründet.1026 1022 Dies ist auch das Gegenargument für den Einwand, dass sich das geschichtliche Schicksal des Menschen in der stellvertretenden Übernahme durch Christus nicht erfüllt habe, weil andernfalls das Leben des Menschen nicht mehr unter dem Auftrag der »Stellvertretung« stehen müsste (vgl. a. a. O., 104: »Der Eindruck drängt sich auf, Christus werde dem Menschen nicht zu einer Macht der Versöhnung, sondern Jesus und der ihm glaubend Nachfolgende werden mit einem Bann des Opferwahns belegt, der den Namen ›Stellvertretung‹ trägt.«). Wenn Gott aber mit Jesus das Menschsein definiert, so weist Jesus Christus den Menschen zum Leben an. Lebte ein Mensch für den anderen in »Stellvertretung«, ist es nicht mehr das einsame Sterben eines einzigen Stellvertretenden für alle, sondern es realisierte sich eine »Stellvertretung«, durch die keiner mehr in der Abgeschiedenheit verbleibt und sich aufeinander bezogene Gemeinschaft ereignen kann. 1023 DBW 6, 257. 1024 Vgl. a. a. O., 258. 1025 Ebd. 1026 Vgl. 10.1 Die Unterscheidung der menschlichen Existenz in Ego und Sein.

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Dadurch, dass Bonhoeffer Verantwortung von der Entscheidung über das Lebensganze her interpretiert, kommt dem Begriff eine Bedeutung zu, die über seine alltägliche Auslegung hinausgeht. Verantwortungsübernahme abseits des Bekenntnisses zu Jesus Christus wird undenkbar, weil Bonhoeffer sie über den Stellvertretungsgedanken rein christologisch begründet. Das Leben wird also vollständig christusbezogen definiert, was die ethische Autarkie eines Menschen ausschließt. Deswegen ist auch mit Verantwortung »kein autonomes Geschehen gemeint, sondern die aus dem Leben gefolgte Relation, die sich responsorisch auf die Christusbeziehung hin konkretisiert«1027. Indem der Mensch sein Leben verantwortet, verantwortet er stets das Leben selbst, also Jesus Christus. Bonhoeffer macht hierzu die Dialektik auf, dass der Verantwortliche sowohl »für die Menschen vor Christus« steht als auch »für Christus vor den Menschen«1028. Deswegen ist es immer »Verantwortung der Sache Jesu Christi und allein darin eine Verantwortung des eigenen Lebens«1029. Hierin erhärtet sich, dass sich der Mensch nicht auf einen exklusiven Bereich des Religiösen zurückziehen kann, innerhalb dessen er Gott einen Platz zuweist. Die Gottesbeziehung ist eine »Lebensbeziehung«1030. Um der Verbundenheit mit Jesus Christus willen lässt sich der Mensch zur Rechenschaft ziehen und steht auch vor den Menschen mit seinem Leben für das Sein in Jesus Christus ein.1031 Das Ineinander von »für« und »vor«1032 weist aus, wie Jesus Christus Verantwortung gezeigt hat, nämlich indem er selbst »vor den Menschen für Gott und vor Gott für die Menschen«1033 einstand. Verantwortung als ein Akt der »Stellvertretung« gleicht einem Bekenntnis, mit dem die menschliche Entscheidung über das Lebensganze offenkundig wird. Indem der Mensch für und vor Gott und den Menschen einsteht, bildet er die Mittlerrolle ab, die Jesus zwischen den Menschen und Gott einnahm.1034 Weil sich in dieser vermittelnden Funktion die »Stellvertretung« Jesu in Form von Hingabe und Selbstlosigkeit ausdrückt, geht sie für den Menschen mit der schon beschriebenen Preisgabe des Ego an das Gericht Gottes einher.1035 Indem es unnötig wird, sich um eines eigenen Vorteils willen vom Nächsten abzu1027 Wolfgang Erich Müller : Der Begriff der Verantwortung in der gegenwärtigen theologischen und philosophischen Diskussion, 25. 1028 DBW 6, 255. 1029 A. a. O., 255f. 1030 Helmut Kuhn: Liebe, 11. 1031 Unter dem Eindruck des Widerstands zur Zeit des Nationalsozialismus zeigte sich die lebenswirkliche Dimension dieses Sachverhalts in verschärfter Form. Für Jesus Christus vor den Menschen einzustehen, konnte den eigenen Tod bedeuten. 1032 Zur Vertiefung des Ineinander von »für« und »vor« vgl. Wolfgang Erich Müller : Der Begriff der Verantwortung in der gegenwärtigen theologischen und philosophischen Diskussion, 25. 1033 DBW 6, 255 (H. d. V., WLL). 1034 Vgl. 11.3 Menschwerdung abseits des Prinzipiellen. 1035 Vgl. 11.1 Die Bedeutung des Versöhnungsgeschehens.

»Stellvertretung« und das Verhältnis von Bindung und Freiheit

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grenzen, wird es möglich, sich anderen gegenüber vorbehaltlos zu öffnen und eine Beziehung zu ihnen aufzunehmen, die sich durch Hingabe auszeichnet. Dabei geht es nicht um einen Akt der Solidarität. Dieser war auch zwischen Christus und den Menschen nicht möglich, sondern »Stellvertretung ist das Lebensprinzip der neuen Menschheit. Gewiß weiß ich mich mit der Schuld des anderen solidarisch, aber das Handeln am anderen geschieht1036 aus dem Lebensprinzip der Stellvertretung heraus«1037. Das bedeutet, dass sich die Verhältnisbestimmung zwischen Menschen verändert. Selbstlosigkeit, wie Bonhoeffer sie versteht, bezieht sich auf ein Gleichgewicht zwischen den Anforderungen und Aufgaben, die sich situativ zeigen. Verantwortliches Handeln beinhaltet eine dementsprechende Verhältnismäßigkeit in menschlichen Beziehungen, durch die alles Handeln auf seine Bestimmung in Jesus Christus hin ausgerichtet wird.1038 Unter dieser Maßgabe obliegt es dann dem Menschen, unterschiedliche situative Geltungsansprüche in Beziehung zueinander zu setzen, Handlungsentscheidungen abzuwägen und zu treffen sowie für deren Durchführung einzustehen. Die beschriebene Verhältnismäßigkeit wird dadurch bedroht, dass das stellvertretende Leben von zwei Seiten her missbraucht werden kann und zwar »durch die Absolutsetzung des eigenen Ich wie durch die Absolutsetzung des anderen Menschen. Im ersteren Fall führt das Verhältnis der Verantwortung zu Vergewaltigung und Tyrannei. Dabei ist verkannt, daß nur der Selbstlose verantwortlich handeln kann. Im zweiten Fall wird das Wohl des anderen Menschen, dem ich verantwortlich bin, unter Mißachtung aller anderen Verantwortlichkeiten absolut gesetzt, und es entsteht eine Willkür des Handelns, die der Verantwortung vor Gott, der in Jesus Christus aller Menschen Gott ist, spottet«1039.

Im ersten Fall des Missbrauchs handelt es sich um eine Haltung, die durch das Ego motiviert wird und deshalb nach bonhoefferschem Verständnis gar nicht als verantwortliches Handeln gelten kann. Bezüglich des letzteren Falls von Missbrauch lässt Bonhoeffer offen, inwieweit er sich auch auf die Verantwortlichkeit des Menschen für sich selbst bezieht. Wenn der Mensch dem Gott aller Menschen durch Missachtung bestimmter Verantwortlichen spottet, so gilt dies ebenso für die Verachtung seiner selbst. Was selbstloses, hingebendes Handeln für das Verhältnis des Menschen zu sich selbst bedeutet, bleibt bei Bonhoeffer aber weitgehend unbestimmt. Auch ausgehend von dem Gedanken, die eigene Existenz definiere sich erst über die Veräußerung des Eigenen und die vollkommene Hingabe an das außerhalb ihrer selbst Liegende, nämlich auch an den 1036 1037 1038 1039

Anm. 50 i. O.: In A gestr.: »zutiefst«. DBW 1, 92. Vgl. DBW 6, 258f. A. a. O., 258.

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anderen Menschen, umgeht er es, die Frage nach der Verantwortung sich selbst gegenüber zu beantworten. Ein Antwortversuch setzt bestimmte Grundannahmen voraus: Erstens kann sich der Mensch vor Gott in keiner Weise selbst ins Recht setzen bzw. seinen eigenen Wert bestimmen und über ihn verfügen. Zweitens ist der Weg des Lebens nach christlichem Verständnis ein Weg über das Kreuz und damit zuerst die vollkommene und unbedingte Hingabe an den Willen Gottes. Drittens ist und bleibt der Mensch auf einen Gnadenakt Gottes angewiesen, durch den er zum Leben geführt wird.1040 Viertens stehen das »Nein« und das »Ja« Gottes zum Menschen »zugleich« nebeneinander.1041 Indem also Gott die menschliche Existenz befürwortet, geht damit auch eine Verantwortung für sie einher, die der Mensch zu übernehmen hat. Ein selbstloses Handeln, dem die Preisgabe des Ego vorausgeht, schließt diese Tatsache mit ein. Ein Handeln, das dem Sein entspringend, sieht davon ab, etwas für sich allein zu beanspruchen. Weil sich der Mensch als ein Teil eines größeren Ganzen versteht, muss er sich nicht aus sich selbst heraus bestimmen oder ins Recht setzen. Deshalb ordnet er sich in die Vorgänge des Lebens ein. Unter dieser Voraussetzung fällt der Ertrag eines Handelns, das der Gesamtheit dient, auch auf den Einzelnen zurück und die Verantwortlichkeit sich selbst gegenüber ist erfüllt. Verantwortung kommt deshalb dort zum Tragen, wo ein Mensch sich nicht länger als isolierter Einzelner definiert, sondern seine Verbundenheit mit anderen Menschen erkennt und versucht, der Gemeinschaft zu dienen. Dadurch erfolgt der Dienst an sich selbst über den Dienst an anderen. Das unmittelbare Tun, wie es das Ego vorzieht, wird dann durch ein mittelbares ersetzt. Diese Mittelbarkeit spiegelt den Geist christlichen Handelns wider, weil sie die Mittlerrolle Jesu Christi zum Vorbild hat. Jede Unmittelbarkeit ist durch Jesus Christus negiert, sodass auch die Hinwendung zur anderen Person ausschließlich über Christus erfolgen kann: »Es gibt für uns keinen Weg zum Anderen mehr, als den Weg über Christus, über sein Wort, und unsere Nachfolge«1042 Demgemäß ist Christus der 1040 Zum Gnadebegriff Dietrich Bonhoeffers vgl. DBW 4, 29ff.: »Billige Gnade heißt Gnade als Schleuderware, verschleuderte Vergebung, verschleuderter Trost, verschleudertes Sakrament […] Billige Gnade heißt Gnade als Lehre, als Prinzip, als System; heißt Sündenvergebung als allgemeine Wahrheit, heißt Liebe Gottes als christliches Gottesidee. […] Billige Gnade heißt Rechtfertigung der Sünde und nicht des Sünders« (a. a. O., 29). Demgegenüber ist teure Gnade »das Evangelium, das immer wieder gesucht, die Gabe, um die gebeten, die Tür, an die angeklopft werden muß. [Fn. 9 i. O.: Mat 7,7.] Teuer ist sie, weil sie in die Nachfolge ruft, Gnade ist sie, weil sie in die Nachfolge Jesu Christi ruft; teuer ist sie, weil sie dem Menschen das Leben kostet, Gnade ist sie, weil sie ihm das Leben erst schenkt; teuer ist sie, weil sie die Sünde verdammt, Gnade, weil sie den Sünder rechtfertigt. Teuer ist die Gnade vor allem darum, weil sie Gott teuer gewesen ist, weil sie Gott das Leben seines Sohnes gekostet hat« (a. a. O., 31 [H. i. O.]). 1041 Vgl. 9.2 Der Mensch als gerechtfertigtes Wesen vor Gott. 1042 A. a. O., 90.

»Stellvertretung« und das Verhältnis von Bindung und Freiheit

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»Mittler«1043 sowohl zwischen Mensch und Gott als auch zwischen den Menschen untereinander. Diese Mittelbarkeit des Handelns beschreibt eine spezifische Form des Menschsseins, die sich auf die Durchlässigkeit für den Willen Gottes bezieht. Im Johannesevangelium ist als Aussage Jesu über das bevorstehenden Gottesgericht zu lesen: »Ich kann nichts von mir aus tun. Wie ich höre, so richte ich, und mein Gericht ist gerecht; denn ich suche nicht meinen Willen, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat.«1044 Dies ist der Inbegriff dessen, was unter der Freiheit in Jesus Christus und der Bindung an Gott zu verstehen ist. Jesus weist in diesem Wort aus, dass er nicht aus sich selbst heraus handelt. Er gibt sich als ein Medium zu erkennen, durch das Gott hindurchwirkt. Wenn sich der Mensch Gott in der ihm von Jesus vorgelebten Weise hingibt, wird die Gottesbeziehung für ihn lebensbestimmend, was sich dann in seinem Sein und in seinem freiheitlichen Schaffen zeigt. Weil sich verantwortliches Handeln durch Christusgemäßheit auszeichnet, ist es wesenhaft von der Dialektik der Bindung des Lebens an Gott und zugleich der Freiheit des eigenen Lebensvollzugs geprägt: »Die Bindung trägt die Gestalt der Stellvertretung und der Wirklichkeitsgemäßheit, die Freiheit erweist sich in der Selbstzurechnung des Lebens und Handelns und im Wagnis der konkreten Entscheidung.«1045 Das bedeutet, dass sich die Handlungsfähigkeit des Menschen erst durch Jesus Christus als verantwortlich qualifiziert.1046 Obwohl die Richtung allen Handelns dann aus der Bindung zu Gott resultiert und Verantwortung infolgedessen kein autonomer Akt mehr ist, bleibt die uneingeschränkte Rechenschaftspflicht des Menschen bestehen. Das Verhältnis aus Bindung und Freiheit konkretisiert sich also in einer bestimmten Form von Menschwerdung nach dem Vorbild Jesu. Den Anspruch der »Wirklichkeitsgemäßheit«, den Bonhoeffer an alles verantwortliche Handeln stellt, kann er nur deshalb so stark machen, weil er die Christusbezogenheit nicht in prinzipieller Weise ausdeutet. Vielmehr versucht er Jesus Christus abseits von allem Regelhaften zu beschreiben. Dies gilt es im Folgenden zu entfalten.

1043 1044 1045 1046

A. a. O., 88. Joh. 5, 30. DBW 6, 256 (H. i. O.). Vgl. Wolfgang Erich Müller : Der Begriff der Verantwortung in der gegenwärtigen theologischen und philosophischen Diskussion, 26. Müller verweist auf DBW 6, 259.

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11.3 Menschwerdung abseits des Prinzipiellen Jesus Christus wird von Bonhoeffer nicht als ein (religiöses) »Prinzip« verstanden, nach dem die Welt zu gestalten wäre.1047 Der Schwerpunkt seiner Ausführungen liegt deshalb auch nicht darauf, eine Ethik Jesu zu begründen, die situationsunabhängig Geltung beanspruchen könnte, wie es einem gesinnungsethischen Verständnis nach Weber entspräche.1048 Er stellt vielmehr heraus, dass der Mensch durch Jesus Christus dazu angehalten ist, sein Menschsein anzunehmen: »Es heißt ja nicht: Gott wurde eine Idee, ein Prinzip, ein Programm, eine Allgemeingültigkeit, ein Gesetz1049, sondern Gott wurde Mensch. […] Christus hebt die menschliche Wirklichkeit nicht auf zugunsten einer Idee, die Verwirklichung gegen alles Wirkliche forderte, sondern Christus setzt die Wirklichkeit gerade in Kraft, er bejaht sie, ja er selbst ist ja der wirkliche Mensch und so der Grund aller menschlichen Wirklichkeit.«1050

Deswegen soll der Mensch zunächst tatsächlich Mensch werden ohne ins Transzendente zu streben oder sich von generellen ethischen Geltungsansprü1047 Vgl. DBW 6, 85. Vor dem Hintergrund seiner Auffassung, dass kein Verhalten prinzipiell begründet werden darf, ist die grundsätzliche Kritik Dietrich Bonhoeffers an dem Kategorischen Imperativ Immanuel Kants evident. Nicht, ob zu befürworten sei, dass eine Einzelhandlung allgemeines Gesetz werde, müsse hinterfragt werden, sondern »ob mein Handeln jetzt dem Nächsten dazu half ein Mensch vor Gott zu sein« (a. a. O., 86). Dazu, dass Bonhoeffer die situative Komponente stärkt, bezieht Klaus-Michael Kodalle Stellung, indem er darauf verweist, dass Bonhoeffers Kritik am »Pflichtrigorismus« zwar vielen einleuchtend erscheinen möge, wohl aber Kant in diesem Punkt Recht behalte: »Es kann kein rationales Argument sein, die Wahrheit mit dem Mittel der Lüge, das Leben mit dem Mittel des Todes wieder herstellen zu wollen [Anm. 22 i. O.: Vgl. I. Kant, Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen, in: Werke, Hg. v. W. Weischedel, 1956, Bd. IV, 637–643]. Bonhoeffer dagegen bezieht die ultima ratio solcher extremen Entscheidungen finalistisch-utilitaristisch auf Lebensnotwendigkeiten – sie erfolgten ›um der eigenen Lebensnotwendigkeit willen‹« (ders.: Dietrich Bonhoeffer, 60 [H. i. O.]). Demzufolge beurteilt er Bonhoeffers »radikale politische Theologie der Ausnahme«, auf dessen Grundlage seine Theorie fuße als unzureichend klar von einer Philosophie abgelöst, »die sich noch anheischig macht, Wesensaussagen über objektive Grundstrukturen ›des‹ Lebens zu formulieren« (a. a. O., 58 [H. i. O.]). 1048 Vgl. Max Weber : GPS, 550. 1049 Anm. 90 i. O.: Gestr.: »auch nicht Ethiker, ein Philosoph«. 1050 DBW 6, 86. Religiöse Prinzipien können den lebendigen Menschen ebenfalls verfehlen, wenn sie dazu beitragen, ihn nach festgelegten Frömmigkeitsvorstellungen zu formen. Es ist folgerichtig, dass sich Dietrich Bonhoeffer gegen eine Religiosität verwehrt, die die konkrete Menschwerdung Gottes verkennt: »Aber ich spüre, wie in mir der Widerstand gegen alles ›Religiöse‹ wächst. Oft bis zu einem instinkthaften Abscheu – was sicher auch nicht gut ist. Ich bin keine religiöse Natur. Aber an Gott, an Christus muß ich immerfort denken, an Echtheit, an Leben, an Freiheit und Barmherzigkeit liegt mit sehr viel« (DBW 16, 325).

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chen verobjektivieren zu lassen und dadurch unfrei zu werden. Bonhoeffer versteht diese Aufforderung ganz konkret. Das »Gebot Gottes« ist zuallererst Erlaubnis dazu, als Mensch vor Gott leben zu dürfen und eben nicht als »Subjekt ethischer Entscheidungen«1051. Dies wäre nämlich bei einer rein deontologischen Pflichtenethik der Fall, die dem Menschen eine Kompromisslosigkeit in all seinem Tun abfordert, die den natürlichen Fluss des Lebens unterbricht. Ohne selbst in die Irrationalitäten der Wirklichkeit involviert sein zu wollen, strebt eine solche Ethik danach, prinzipielle Ordnungen zu schaffen. Demgegenüber erlaubt das »Gebot Gottes« dem Menschen, am Lebensfluss Anteil zu nehmen. Dadurch, dass es schlicht zum Leben auffordert, gebietet es nicht nur, sondern erlaubt auch. Gottes Gesetz erlaubt dem Menschen »essen, trinken, schlafen, arbeiten, feiern, spielen ohne ihn darin zu unterbrechen,1052 ohne ihn unausgesetzt vor die Frage zu stellen, ob er auch schlafen, essen, arbeiten, spielen dürfe, ob es nicht dringender Pflichten für ihn gebe, es macht den Menschen nicht zum Beurteiler und Richter seiner selbst und seiner Taten, sondern es erlaubt ihm zu leben, zu handeln in Gewißheit und in Zuversicht zur Lenkung durch das göttliche Gebot«1053.

Es steht also gerade nicht im Vordergrund, Handlungsmotive auf ihre Reinheit hin zu überprüfen und sich dadurch fortwährend selbst zu beurteilen, sondern der Mensch darf an der Fülle der lebendigen Schöpfung Anteil nehmen. Dies schließt einen gewissen Grad an Eudämonismus mit ein, der die Dankbarkeit für das Geschenk des Lebens Gott zur Ehre feiert und die Freude am Dasein veräußerlicht, ohne sich in Zerstreuung zu verlieren. Dass Gott selbst zum Leben aufruft, bleibt theologisch häufig unterbewertet. Eine gewichtige Kreuzestheologie erweckt oft den Anschein, als stünde sie aller Freude und Leichtigkeit, aller Spontaneität und allem glücklichen Leben unverrückbar entgegen. Der Versuch, das eigene Leben von dem Tod Jesu her zu verstehen, führt deshalb häufig zu einer Pflichtgemäßheit, durch die sich der Mensch selbst beschränkt.1054 Hinsichtlich dieser Tendenz gibt Gottfried Orth zu bedenken, dass das Kreuz »Gottes Einsatz für das Glück des Menschen [ist]. Und die Liebe, die am Glück des anderen interessiert ist, macht glücklich«1055. Aber ein solches Glücksverlangen des Menschen ist nicht mit dem historisch tief verankerten Bestreben der Kirche kompatibel, religiöse Herrschaft und Ordnung zu stabilisieren. Das eigentliche Problem besteht also nicht darin, dass Gott 1051 DBW 6, 387. 1052 Anm. 69 im Original: Vgl. 372 (»Unterbrechung« allen Lebens »von seiner Grenze her«); 384 (Gebot »unterbricht« nicht nur, sondern »begleitet«). K. Barth, KD II/2, 573: Ethik »sagt nicht nur Nein«. 1053 DBW 6, 388. 1054 Vgl. 9.1 Religiöse Freiheit als gebundene Freiheit. 1055 Gottfried Orth: Bonhoeffer und das Verlangen nach irdischem Glück, 59.

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dem Menschen tatsächlich aufgegeben hat, ein selbstbeschränkendes oder gar unglückliches Leben zu führen. Vielmehr legt der Mensch die Selbstoffenbarung Gottes und sein Gesetz für sich selbst als Bürde aus. Damit verschließt er sich gegenüber dem Aufruf zum Leben.1056 Gott will zu einem Leben abseits des Prinzipiellen befreien, wie es Jesus Christus gezeigt hat und will gerade nicht, dass der Mensch sich der Teilhabe am Leben verwehrt.1057 Das Leben des Menschen am Vorbild Jesu orientieren zu wollen, beinhaltet, zwischen zwei Ebenen der Existenz Jesu Christi unterscheiden zu müssen. Erstens unterliegt die Wirklichkeit des Menschen dem persönlichen und geschichtlichen Wandel und so muss auch die Gestalt Jesu Christi unter Berücksichtigung dieses Wandels beschrieben werden, sofern sie als charakteristisch für das Menschsein verstanden wird. Zweitens bleibt das Wesen Christi selbst aber über Veränderungen des Menschseins hinweg konstant. Das heißt, dass lediglich die Art und Weise variiert, wie sich Christus innerhalb aktueller Prägungen des Menschseins konkret ausdrückt.1058 Ein solches Verständnis von Jesus Christus, das an dem wirklichen Menschsein ausgerichtet sein will, schließt die Allgemeingültigkeit eines unveränderbaren Prinzips – sowohl innerhalb als auch außerhalb des Religiösen – aus.1059 Es wird dabei angenommen, dass Jesus Christus als der Lebendige unter den Menschen auch heute noch erfahrbar ist.1060 Ein statisches Prinzip würde es hingegen nicht zulassen, dass sich Jesus Christus unter dem Eindruck der sich stets wandelnden Wirklichkeit gegenwärtig zeigt. 1056 Vgl. ebd. Zur Annahme, Gott wolle von Anfang an den glücklichen Menschen und nur dieser würde seinem Glück nicht trauen, zitiert Gottfried Orth Dorothee Sölle: »Wir beginnen den Weg zum Glück nicht als Suchende, sondern als schon Gefundene« und ergänzt durch die Kommentierung von Fulbert Steffensky : »Das ist die köstliche Formulierung dessen, was wir Gnade nennen« (Fulbert Steffensky : Nachwort zu einem Leben. Erinnerung an Dorothee Sölle. In: Alexandersbader Brief. Weihnachten 2004, 5–9, hier 9). 1057 Vgl. DBW 6, 384. 1058 Vgl. a. a. O., 85, 87f. 1059 Dietrich Bonhoeffer ist sich bei dieser Auslegung der Gefahr des »vollständigen Individualismus« bewusst. »Dem steht aber entgegen, daß wir durch unsere Geschichte objektiv in einen bestimmten Erfahrungs-, Verantwortungs- und Entscheidungszusammenhang gestellt sind, dem wir uns ohne Abstraktion nicht mehr entziehen können. Ob wir nun als Einzelne darum wissen oder nicht, wir leben faktisch in diesem Zusammenhang« (a. a. O., 88). Das gegenwärtige Wirklichwerden Jesu Christi legt Bonhoeffer also nur deshalb in konsequenter Weise am wirklichen Menschen orientiert aus, weil er die Gestalt Christi als beständig annimmt und den Menschen gleichzeitig als Wesen innerhalb eines größeren Kontextes definiert, der willkürliche Individualisierung beschränkt. Eine Ethik soll weder ausschließlich situativ noch prinzipiell begründet werden (vgl. DBW 6, 89). 1060 Auf welche Weise sich die lebendige Gegenwart Christi auch heute noch zeigt, wird an späterer Stelle vertieft (vgl. 12.2 »Dasein-für-andere« als Ausdruck christusgemäßer »Mündigkeit«).

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Die fortwährende Existenz Jesu Christi in der Welt deutet Bonhoeffer ausgehend von dem johanneischen Wort Jesu, mit dem dieser sich selbst als das Leben beschreibt.1061 Wenn Jesus als das Leben schlechthin verstanden wird und Leben in der Weltwirklichkeit vorfindbar ist, dann existiert Jesus Christus selbst in dieser Weltwirklichkeit als das gegenwärtige Leben. Die Definition dieses Lebens ist mit dem biblischen Selbstzeugnis Jesu Christi auf seine Person festgelegt. Alles Denken über das Leben und jeder von Jesus Christus abweichende Interpretationsversuch des Lebens muss deshalb außerhalb dessen liegen, was Jesus als das wirkliche Leben bezeichnet hat.1062 Diese Festlegung hat insofern weitreichende Konsequenzen als sie sich in radikaler Weise auf das Denken und Schaffen des Menschen auswirkt: Durch das »Ich bin« verschließt Jesus alle vermeintlichen Lebenswege abseits seiner eigenen Person.1063 In Bonhoeffers Diktion klingt dies so an: »In schroffsten Gegensatz zu allen Gedanken, Begriffen, Wegen, die das Wesen des Lebens auszumachen beanspruchen, setzt Jesus dieses Ich. Er sagt auch nicht: ich habe, sondern ich bin das Leben. So läßt sich das Leben niemals mehr von dem Ich, von der Person Jesu trennen.«1064

Es ist also nicht nur gemeint, dass der Mensch sein Leben von Jesus her empfängt und es dann eigens lebt, sondern das Leben des Menschen liegt außerhalb seiner eigenen ausschließlichen Verfügbarkeit. Jesus ist das Leben und er bleibt es auch. Die Selbstaussage Jesu wird zum Anspruch an den Menschen. Entweder er erkennt Jesus als das Leben schlechthin an und damit als eines, das außerhalb seiner selbst liegt oder er widerspricht dieser Auffassung des Glaubens.1065 Sich von Jesus abzuwenden, bedeutet, das Leben selbst zu verneinen. Sich ihm zuzuwenden, hat zur Konsequenz, sich als stetig Empfangender zu erkennen, dem 1061 »Jesus spricht zu ihm: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich« (Joh. 14, 6). Wolfgang Erich Müller weist darauf hin, dass diese Grundaussage Jesu zwar fortan für die theologische und philosophische Diskussion maßgebend wird, es sich bei dem johanneischen Wort aber nicht um ein authentisches Wort Jesu handle (vgl. ders.: Der Begriff der Verantwortung in der gegenwärtigen theologischen und philosophischen Diskussion, 29; mit Hans Conzelmann: Grundriß der Theologie des Neuen Testaments, München 21968, 383). 1062 Vgl. DBW 6, 248f. 1063 Wenn das »Ich-bin-Wort« so ausgelegt wird, dass es die Ausschließlichkeit des leibhaftigen Jesus Christus postuliert, liegt es nahe, dass dadurch religiöses Exklusivitätsdenken befördert werden kann. Wird es hingegen vor dem Hintergrund etwa eines kosmischen Christusbegriffs gedeutet, erweitern sich die Deutungsmöglichkeiten. Werner Thiede hat die Gesamtgeschichte des Begriffs des »kosmischen Christus« theologisch aufgearbeitet und bewertet (Ders.: Wer ist der kosmische Christus? Karriere und Bedeutungswandel einer modernen Metapher, Göttingen 2001). 1064 A. a. O., 249. 1065 Vgl. ebd.; vgl. 8.2 Selbstverantwortung als tiefste Verantwortungsart.

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die Abhängigkeit von Jesus Christus lebenserhaltend wird.1066 Darin besteht das Erkennen des Menschen, dass er sich das Leben nicht selbst geben kann, sondern vollumfänglich dem Prozess des Gebens, Erhaltens und Nehmens durch Gott unterliegt. Deswegen beschreibt Bonhoeffer das Leben als eines, »das ganz von außen, ganz von jenseits zu uns kommt« und dem Menschen gleichzeitig nicht fern, sondern »unser eigenes wirkliches tägliches Leben«1067 ist. Es zeichnet sich dadurch aus, dass es das ganze widersprüchliche Spektrum menschlichen Erlebens umfasst. Wirkliches Leben schließt also Freude und Leid, Wachstum und Vergehen, Kraft und Schwäche, Schöpfertum und Versagen mit ein.1068 Das Wort Jesu verliert dadurch an Abstraktion und es wird deutlich, dass es sich letztlich um die schlichte Aufforderung handelt, zu leben. Der glaubende Mensch unterliegt dem Ratschlag Gottes und ist gerade nicht dazu aufgerufen, ein besonders frommes, von religiösen Regeln festgelegtes Lebensmodell zu erfüllen. Vielmehr soll er der Wirklichkeit achtsam begegnen und den gegenwärtigen Moment präsent, offen und bewusst durchleben. Zugleich ist das »Gebot Gottes«1069 aber auch als die »totale und konkrete Beanspruchung des Menschen«1070 zu verstehen. Es fordert die bedingungslose Hingabe, über die Gott den Menschen zu seinem Menschsein befreit und ihm ein Leben außerhalb ethischer Zwänge erlaubt. Der Mensch wird dabei in einer Weise beansprucht, wie er sie nur inmitten des Lebens, also in Jesus Christus selbst, tragen kann. Dadurch erhält die Mittlerfunktion Jesu eine tiefgehende Schärfung, weil jede Form von Unmit1066 Jesus fordert vom Menschen ein, sich selbst zu verleugnen, um das Leben zu erhalten (Matth. 16, 24). Dieses zu verleugnende Selbst ist das Ego, mit dem der Mensch autark bleiben will, anstatt sich Gott hinzugeben. 1067 DBW 6, 250. 1068 Vgl. a. a. O., 251. 1069 Das »Gebot Gottes« als sein gegenwärtiges Gebieten (vgl. 9.1 Religiöse Freiheit als gebundene Freiheit) konkretisiert Dietrich Bonhoeffer in seiner Abhandlung Das konkrete Gebot und die göttlichen Mandate folgendermaßen: »Gottes in Jesus Christus offenbartes Gebot in seiner das menschliche Leben umfassenden Einheit, in seiner ungeteilten Inanspruchnahme des Menschen und der Welt durch die versöhnende Liebe Gottes, begegnet uns konkret in vier verschiedenen, nur durch das Gebot selbst geeinten Gestalten: in der Kirche, in Ehe und Familie, in der Kultur, in der Obrigkeit. Nicht irgendwo und überall, nicht in geschichtlichen Mächten und nicht in bezwingenden Idealen ist Gottes Gebot zu finden, sondern allein darin, wo es sich selbst gibt. Nur wo Gott selbst dazu ermächtigt, kann Gottes Gebot gesagt werden und nur insoweit Gott ermächtigt, insoweit kann das Gebot Gottes legitim ausgerichtet werden« (a. a. O., 392). Die Mandatenlehre soll hier nicht weiter vertieft werden. Es genügt der Hinweis, dass sich über die Mandate Gottes die Beziehung der Welt zu Christus konkretisiert. Sie geben Aufschluss darüber, wie das menschliche Leben nach Gottes Auftrag gestaltet werden kann (zur Vertiefung des Mandatenbegriffs vgl. DBW 6, 54ff., s. a. 54, Fn. 70; zur Auslegung des »konkreten Gebots« vgl. Jürgen Moltmann: Die Wirklichkeit der Welt und Gottes konkretes Gebot nach Dietrich Bonhoeffer, 58ff.). 1070 DBW 6, 381.

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telbarkeit radikal ausgeschlossen wird.1071 Es gibt für den Menschen keinen direkten Weg zu Gott, sondern nur den Zugang über Christus und selbst in der Beziehung von Menschen untereinander steht Christus in der Mitte. Auch der Weg des Menschen zu sich selbst kann nur über Christus erfolgen, wenn angenommen wird, dass dieser das Leben ist und damit unabhängig und abseits vom Menschen existiert.1072 Bonhoeffer beschreibt dies folgendermaßen: »Wo steht er? Er steht pro me. Er steht an meiner Stelle, dort, wo ich stehen sollte und nicht kann. Er steht an der Grenze meiner Existenz, jenseits meiner Existenz, doch für mich. Das bringt die Tatsache zum Ausdruck, daß ich durch eine von mir nicht überschreitbare Grenze von meinem Ich getrennt bin, das ich sein sollte. Die Grenze liegt zwischen mir und mir, dem alten und dem neuen Ich. In der Begegnung mit dieser Grenze werde ich gerichtet. An diesem Ort kann ich allein nicht stehen. An dieser Stelle steht Christus, in der Mitte zwischen mir und mir, der alten und der neuen Existenz. So ist Christus zugleich meine eigene Grenze und meine wiedergefundene Mitte, Mitte zwischen Ich und Ich und Ich und Gott. Als Grenze kann die Grenze nur von jenseits der Grenze erkannt werden. In Christus erkennt der Mensch sie und findet damit zugleich seine neue Mitte wieder.«1073

Die wirkliche Menschwerdung geschieht also abseits dessen, was der Mensch selbst erwirken kann und die Erneuerung seines Menschseins, die sich immer wieder neu vollziehen muss, geschieht durch einen Stellvertretungsakt Christi. Dieser Akt lässt sich nicht in einen prinzipiellen Rahmen fassen, sondern es handelt sich um einen schöpferischen Lebensakt, durch den Jesus Christus in und durch den Menschen lebt und ihn dadurch erst zu einem Menschsein befreit, wie Gott es vorsieht. Menschwerdung geschieht deshalb in dem Maße, indem sich der Mensch Jesus Christus überlässt und darauf verzichtet, sich seine eigene Identität erschaffen zu wollen. Ganz Mensch nach dem Bilde Gottes zu werden, beinhaltet deshalb, sich Jesus Christus auch ganz hinzugeben.1074

1071 1072 1073 1074

Vgl. DBW 6, 88. Unmittelbarkeit bezeichnet Dietrich Bonhoeffer als Trug (vgl. DBW 4, 90). Vgl. a. a. O., 73, 76f., 159. Dietrich Bonhoeffer : Christologie, 38f. Diese Erneuerung nimmt zwar ihren Anfang in der Entscheidung über das Lebensganze des Menschen, ist deswegen aber kein einmaliger Akt. Die Menschwerdung ist auf die fortwährende Lebensübergabe des Menschen an Jesus Christus angewiesen, weil der neue Mensch – wie oben beschreiben – nicht unangefochten bleibt (vgl. 11.1 Die Bedeutung des Versöhnungsgeschehens; 11.3 Menschwerdung abseits des Prinzipiellen).

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11.4 Verantwortliches Handeln als stellvertretendes Handeln Auf der Grundlage des bis hierher Gesagten lässt sich festhalten, dass über die Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus ein Angebot an den Menschen dazu ergeht, die Verkehrung in sich selbst aufzugeben und durchlässig für die Weisung und das Wirken Gottes zu werden. Das Versöhnungsgeschehen ist deshalb kein isoliertes historisches Ereignis, sondern es betrifft den Menschen immer wieder als eine konkrete Möglichkeit zur Selbsttransformation innerhalb seines gegenwärtigen Lebens. Indem sie vollzogen wird, führt sie zu einer neuen Verbundenheit zwischen dem Menschen und Gott. Dabei ist und bleibt der Mensch zugleich an Gott gebunden und insofern frei als ihm die eigene Lebensführung selbst zugerechnet wird. Jesus Christus ist das Vorbild eines solchen Lebens und an seinem Beispiel zeigt sich, dass der Aufruf zur Menschwerdung allem Dasein nach Gottes Maßgabe vorangestellt ist. Der Mensch soll sich in seinem christlich bestimmten Selbstverständnis also gerade nicht zuerst als ein Subjekt ethischer Entscheidungen verstehen, sondern anerkennen, dass sich sein Dasein durch alles auszeichnet, was ein wirklichkeitsgemäßes Menschsein charakterisiert. Weil »Wirklichkeitsgemäßheit« Christusgemäßheit bedeutet, ist dieses Menschsein als eine stellvertretende, an Gott gebundene und freie Existenz definiert, die ebenso wenig prinzipienverhaftet ist wie die Wirklichkeit selbst. Dieser Hintergrund ist für das Verantwortungsthema bedeutsam, weil sich eine christusgemäße Verantwortung nicht hinreichend normativ beschreiben lässt. Dem glaubenden Menschen wird zugemutet, unter dem Eindruck ausnahmslos aller Wirklichkeitsaspekte zu agieren, die sich ihm situativ zeigen, ohne an Distanz zu verlieren und dadurch der Welt zu verfallen. Das bedeutet einerseits, dass die situative Komponente eines ethischen Fragens gewichtig wird. Andererseits gilt für alle Situationen gleichermaßen, dass sie auf Jesus Christus hin zu reflektieren sind.1075 Die Wirklichkeit ist dadurch sowohl Ausgangspunkt als auch Endpunkt eines christlich-ethischen Fragens, durch das die Weltwirklichkeit schließlich als Wirklichkeit Gottes in der Person Jesus Christus offenbar wird.1076 Dabei zeigt sich die »konkrete Verantwortung«1077 nicht als eine grenzenlose, an der der Mensch schon aufgrund ihres weitreichenden Anspruchs scheitern müsste. Der Verantwortliche hat zwischen einem Handeln zu unterscheiden, das sich an dem Vorbild Jesu orientiert und einem Handeln, das Jesus gleichen will. Weder geht es darum, die Welt zum Reich Gottes zu machen noch darum, die eigene Frömmigkeit davor zu bewahren, dass sie durch die Welt 1075 Vgl. Heinrich Ott: Wirklichkeit und Glaube, Bd. 1, 231f. Während Ott die bonhoeffersche Theologie als Situationsethik versteht, deklariert sie beispielsweise Karl Martin als Verantwortungsethik (vgl. ders.: Das in Jesus Christus befreite Gewissen, 125). 1076 Vgl. Friedrich Johannsen: Verantwortliches Handeln in konkreter Zeit, 22. 1077 DBW 6, 266.

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beschmutzt wird. Die Handlungsmöglichkeiten des Menschen sind begrenzt und er bleibt darauf angewiesen, dass Christus für ihn erfüllt und trägt, was er nicht aus eigener Kraft schaffen kann. Als Glaubender in der Nachfolge Jesu wird dem Menschen die Last des Kreuzes ebenso zuteil wie die Erlösung durch Versöhnung und Vergebung.1078 Verantwortung nennt Bonhoeffer demgemäß die »konkrete Antwort auf die Erfahrung des im Leben Jesu Christi begegnenden Ja und Nein über unser Leben. […] Sie drückt sich nicht abstrakt und auch nicht allgemein aus, sondern nur in der konkreten Situation. Dann erfordert sie jedoch den Einsatz des ganzen Lebens«1079.

Unter diesen Vorzeichen handelt derjenige verantwortlich, der sein Leben als eines durchschaut, das in lebensweltliche und gemeinschaftliche Zusammenhänge der Wirklichkeit verwoben ist und sich daraufhin von Gott für diejenigen Aufgaben beanspruchen lässt, die sich gegenwärtig lebenspraktisch stellen. Der Stellvertretungsakt Jesu weist aus, dass sich diese Beanspruchung des Menschen dadurch auszeichnet, stellvertretend zu handeln. Dabei kann und soll der Mensch die »Stellvertretung« Jesu nicht wiederholen, sondern sie auf sein Leben übertragen. Der Stellvertretungsakt Jesu ist einmalig vollzogen, muss sich aber immer wieder erfahren lassen, weil er sonst an Relevanz für die Gegenwärtigkeit verliert. Er bleibt also im Verhalten eines Menschen lebendig, der sich an Jesus Christus orientiert. Das beinhaltet, die eigene Autonomie an Gott preiszugeben und Handlungsoptionen abseits von ihren prinzipiellen Begründungsmöglichkeiten situativ auf die Christusbeziehung hin zu reflektieren. Demgemäß kann als ein zweiter Aspekt zur Bestimmung von Verantwortung vor dem Hintergrund der bonhoefferschen Theologie Folgendes festgehalten werden: Verantwortung beinhaltet, die Mittlerfunktion Jesu Christi anzuerkennen und stellvertretend zu handeln. Damit ist aber noch nicht ausgesagt, wie sich die Gegenwart Christi im Denken und Handeln des Menschen konkret zeigt. Deshalb gilt zu überprüfen, welche Handlungskriterien am Beispiel Jesu zu bestimmen sind. Sie können für ein Handeln richtungweisend sein, das sich vollständig an die Weisung Gottes bindet und sich zugleich ebenso konsequent der jeweiligen Situation hingibt. Das bis hierher Ausgeführte soll deshalb nun in Bezug auf die Frage, wie es sich im tatsächlichen Lebensvollzug eines Menschen zeigt, weiter konkretisiert werden.

1078 Vgl. Georg Huntemann: Der andere Bonhoeffer, 164. 1079 Friedrich Johannsen: Verantwortliches Handeln in konkreter Zeit, 24.

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Die Handlungsfreiheit des Menschen im Dienst an Gott

12.1 Der Mensch als mündiges Wesen vor Gott Die soeben beschriebene theologische Figur, die Bonhoeffer christologisch herleitet, ist grundlegend für seinen Verantwortungsbegriff. Das Ego des Menschen mit seinem Bestreben danach, selbst »gut« sein zu wollen, gilt es zu überwinden. Gott mutet dem Menschen zu, in der Wirklichkeit samt ihrer Fraglichkeit zu sein. Er entbindet ihn also nicht von einem weltlichen Leben, das unter dem Eindruck von Gottesferne steht, aber er versöhnt die Welt in Jesus Christus mit sich selbst. Folglich definiert Bonhoeffer Verantwortung als ein Leben, das »eine Antwort auf das Leben Jesu Christi«1080 sein will. Was er genau darunter versteht und welche Elemente dieses Verantwortungsverständnis auszeichnen, wird im Folgenden dargelegt. Dafür gilt es sich zu vergegenwärtigen, dass sich Verantwortung bei Bonhoeffer aus dem Zusammenhang von Bindung und Freiheit ergibt: Erstens steht der Mensch durch seine Lebensbindung an Gott in der Verpflichtung zur Stellvertretung und zu einem Handeln, das wirklichkeitsgemäß ist. Zweitens lässt sich der gegebenen Freiheit des eigenen Lebens die Selbstzurechnung des Lebens und das Wagnis zuordnen.1081 Während sich die bisherigen Ausführungen insbesondere auf die ersten beiden Aspekte bezogen, die die Verbindlichkeiten des Menschen aus seiner Gottesbindung heraus betreffen, soll es nun darum gehen, menschliche Handlungsfreiheit näher zu betrachten, die von Bonhoeffer unter den Begriff der »Mündigkeit« gefasst wird. Weil die vier Aspekte »Stellvertretung«, »Wirklichkeitsgemäßheit«, »Selbstzurechnung« und »Wagnis« ineinandergreifen, sich also wechselseitig bedingen, werden im Folgenden immer wieder Querverbindungen zu ziehen sein. Es soll herausgearbeitet werden, welche Faktoren das persönliche Ent-

1080 DBW 6, 254. 1081 Vgl. Wolfgang Erich Müller : Der Begriff der Verantwortung in der gegenwärtigen theologischen und philosophischen Diskussion, 25.

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scheiden und Handeln eines verantwortlichen Menschen in einer konkreten Situation mitbestimmen. Es wurde dargelegt, dass Bonhoeffers Überlegungen zu Verantwortung bei der Wirklichkeit einsetzen und sie damit grundsätzlich an der Christusfigur ausrichtet sind, die Bonhoeffer abseits des Prinzipiellen verortet. Dies betrifft notwendigerweise auch sein Verständnis von Glauben. Der Glaube, wie er Bonhoeffer vor Augen steht, bezieht sich nicht auf eine Frömmigkeit. Es geht nicht vornehmlich darum, das eigene Leben in einer bestimmten Art und Weise zu führen, Lebensideen zu erfüllen oder einem christlich geprägten Menschenbild zu entsprechen. Dann nämlich beginnt der Mensch – und so nimmt es Bonhoeffer bei »den Religiösen«1082 wahr – insbesondere dort von Gott zu sprechen, wo sich die Grenzen der eigenen Kraft zeigen. Ein solches Reden von Gott ist dann stets auf den eigenen Vorteil hin ausgerichtet und dient dem Versuch, sich nicht dem Wirklichen hinzugeben, sondern Gottes Willen und Wirken zugunsten menschlicher Ideen zu beeinflussen. Es ist der »Deus ex machina«, der Gott aus der Maschine, der hier gemeint ist, und damit eine Form des religiösen Ego, das Gott für Zwecke der menschlichen Selbstverwirklichung instrumentalisieren will.1083 Der Betende erbittet an seinen eigenen Einflussgrenzen den Beistand Gottes, um seine Lebenspläne verwirklichen zu können. Nach Bonhoeffer muss es aber gerade darum gehen, vollständig darauf zu verzichten, etwas aus sich selbst machen zu wollen, »sei es einen Heiligen1084 oder einen bekehrten Sünder oder einen Kirchenmann (eine sogenannte priesterliche Gestalt!), einen Gerechten oder einen Ungerechten, einen Kranken oder einen Gesunden«1085. Diese Haltung steht für Bonhoeffer in einem Zusammenhang mit dem, was er als »Diesseitigkeit« bezeichnet.1086 »Diesseitigkeit« bezieht sich auf die Summe der Umstände des Lebens inmitten vielfältiger Erfahrungen, Fragen und Anforderungen, zwischen Erfolgen und Misserfolgen. Die Begriffe »Wirklichkeit« und »Diesseitigkeit« sind eng miteinander verwoben. Während Bonhoeffer mit »Wirklichkeit« zuallererst beschreibt, wie die Welt in Bezug auf die 1082 Vgl. DBW 16, 325. 1083 Vgl. DBW 8, 407; vgl. Georg Huntemann: Der andere Bonhoeffer, 60. 1084 Anm. 7 i. O.: Zettelnotizen 33: »Marx: es ist leicht, ein Heiliger zu sein, wenn man nicht Mensch sein will« (von B zitiert nach J. Maritain, Die Zukunft der Christenheit, 141). 1085 DBW 8, 542. 1086 Dietrich Bonhoeffers Auseinandersetzungen mit der »Diesseitigkeit« sind in seinen Briefen aus der Haft an Eberhard Bethge enthalten und damit als Gedanken innerhalb eines brieflich geführten theologischen Gesprächs, nicht aber in wissenschaftlich ausgewiesener Form. Bonhoeffer selbst verstand seine Überlegungen dazu als noch am Anfang stehend. Es leite ihn mehr der Instinkt, als dass er schon Klarheit über Antworten auf Fragen habe, die in diesem Zusammenhang relevant seien (vgl. a. a. O., 476): »Ich arbeite mich erst allmählich an die nicht-religiöse Interpretation der biblischen Begriffe heran. Ich sehe mehr die Aufgabe, als daß ich sie schon zu lösen vermöchte« (a. a. O., 528).

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Wirklichkeit Gottes zu verstehen ist, bezieht sich »Diesseitigkeit« deutlicher auf eine Existenzform des Menschen, mit der dieser die Wirklichkeit annimmt.1087 Eine prinzipiengeleitete christliche Religion steht dem Grundgedanken einer solchen wirklichkeitsgemäßen Existenzform diametral entgegen. Bonhoeffer bewertet sie als überholt. Wenn sich Religiosität nicht vornehmlich am Leben orientiert, wie es sich in seiner gegenwärtigen Form ereignet, sondern an ihren eigenen Geltungsansprüchen festhält, ist sie nicht wirklichkeitsgemäß. Um aussagen zu können, wie sich das wirklichkeitsgemäße Leben des Menschen mit dem christlichen Glauben vereinbaren lässt, muss aber überprüft werden, »was das Christentum1088 oder auch wer Christus heute für uns eigentlich ist«1089. Es stellt sich also die Frage, wie sich die Wahrheit des christlichen Glaubens noch als eine gegenwärtige verantworten lässt. Zur Beantwortung dieser Frage werden nun Bonhoeffers Überlegungen zur Religionslosigkeit hinzugezogen. Bonhoeffer zufolge gehört die Zeit der Religion der Vergangenheit an und der Mensch geht einer gänzlich religionslosen Zeit entgegen.1090 Fortschreitende Technisierung und wissenschaftliche Erkenntnisse bedingen, dass sich der Mensch zunehmend als autonom erlebt. Die Notwendigkeit, an einen Gott glauben zu müssen, der als eine Erklärungsinstanz für rätselhafte Phänomene des Lebens fungiert, nimmt ab und Gott wird allenfalls zum »Lückenbüßer unserer Verlegenheiten«1091. Je umfassender die denkeri1087 Wenn er diese Dimension wirklichkeitsgemäßen Handelns als »Diesseitigkeit« beschreibt, meint Dietrich Bonhoeffer nicht »die platte und banale Diesseitigkeit der Aufgeklärten, der Betriebsamen, der Bequemen oder der Lasziven, sondern die tiefe Diesseitigkeit, die voller Zucht ist, und in der die Erkenntnis des Todes und der Auferstehung immer gegenwärtig ist« (DBW 8, 541). In dem Brief vom 21. Juli 1944 schreibt Bonhoeffer an Eberhard Bethge: »Ich dachte, ich könnte glauben lernen, indem ich selbst so etwas wie ein heiliges Leben zu führen versuchte. […] Später erfuhr ich und ich erfahre es bis zur Stunde, daß man erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens glauben lernt […] dann wirft man sich Gott ganz in die Arme, dann nimmt man nicht mehr die eigenen Leiden, sondern das Leiden Gottes in der Welt ernst, dann wacht man mit Christus in Gethsemane« (a. a. O., 542). Zum Zeitpunkt des Verfassens dieser Zeilen stand Bonhoeffer die »Diesseitigkeit« mit dem am Vortag gescheiterten Attentat auf Adolf Hitler in besonderer Form vor Augen. Obschon anzunehmen ist, dass seine Worte jenseits von Briefzensur deutlicher hätten ausfallen können, beschreiben sie in eindrücklicher Form das Wesen von einer »Diesseitigkeit«, wie er sie verstanden hat. »Diesseitigkeit« sieht davon ab, dem Wirklichen zu widerstreben und nimmt alles Geschehen als einen notwendigen Teil des größeren, göttlichen Ganzen an. Diese hingebungsvolle Haltung resultiert aus der Gleichgestaltung mit Jesus Christus. Eine »Wirklichkeitsgemäßheit«, die die lebensweltlichen Realitäten ernst nimmt, gründet sich deshalb zugleich in der eschatologischen Hoffnung, dass die Welt einst überwunden wird (vgl. Ulrich H. J. Körtner: Freiheit und Verantwortung, 108). 1088 Anm. 9. i. O.: Nach »Christentum« gestr.: »heute«. 1089 DBW 8, 402. 1090 Vgl. a. a. O., 402f. 1091 DBW 16, 668. An der Terminologie des »Lückenbüßers« macht Axel Denecke fest, dass es

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schen Leistungen des Menschen, desto geringer der Raum Gottes. Dieser Sachverhalt liegt ursächlich darin begründet, dass die Erkenntnisprozesse der Naturwissenschaften strikt vom Gottesglauben getrennt werden. Dadurch kommt es zu der Suggestion, dass Glaube durch Wissen ersetzt werden kann. Bonhoeffer versucht, die vermeintliche Relevanz der Trennung aufzuheben, indem er den Fokus verändert: »In dem, was wir erkennen, sollen wir Gott finden, nicht aber in dem, was wir nicht erkennen; nicht in den ungelösten, sondern in den gelösten Fragen will Gott von uns begriffen sein.«1092 Bonhoeffer leugnet die Autonomie des Menschen also nicht und stellt sie auch nicht grundsätzlich als einen Faktor da, der in die unvermeidliche Gottesferne führt. Im Gegenteil deutet er die »Mündigkeit« des Menschen, als einen gottgewollten Zustand.1093 Das (neu hinzugewonnene) Wissen kann durchaus mit einem Glauben korrespondieren, dem es weniger darum geht, die Welt zu erklären, sondern vielmehr darum, die Existenz des Menschen in Gott festzumachen. Es handelt sich also nur vordergründig um zwei Alternativen des Menschseins. Tatsächlich können beide Aspekte einander solchermaßen ergänzen, dass der durch Wissen mündig gewordene Mensch zugleich gottesgläubig ist. Unter »Mündigkeit« versteht Bonhoeffer, dass der Mensch Gesetzmäßigkeiten, die der menschlichen Lebenswelt zugrunde liegen, erschlossen hat. Dies befähigt ihn zu einem unabhängigen Leben, für das Religion als Erklärungsinstanz unnötig wird. Der Mensch hat gelernt, die wichtigen Fragen seines Lebens ohne Gott zu klären.1094 Diese Annahme des Menschen, er könne sich deshalb in seinem Leben auf sich selbst verlassen und müsse sich nicht wieder in eine wie auch immer geartete Abhängigkeit von Gott begeben, wurde von der landläufigen christlichen Apologetik zu widerlegen versucht. Derartige Bestrebungen zielten darauf ab, dem Menschen zu plausibilisieren, warum er – entgegen seines sich bei der »nicht-religiösen Interpretation« biblischer Begriffe nicht nur – wie Gerhard Ebeling es annimmt – um ein reines Sprachproblem handelt, sondern dass es »um die Frage meiner Existenz in dieser Welt vor Gott, mit oder ohne Gott« geht (Axel Denecke: Das Leben nicht-religiös interpretieren, 98). Auf diese Frage der Bonhoefferauslegungen wird an späterer Stelle in diesem Kapitel noch Bezug genommen. 1092 DBW 8, 455. 1093 Die Erschütterung über die radikale Entgötterung der Welt ist damit nicht geleugnet, sondern steht am Anfang der Erwägungen Dietrich Bonhoeffers (vgl. Götz Harbsmeier : Die ›nicht-religiöse Interpretation biblischer Begriffe bei Bonhoeffer und die Entmythologisierung‹, 75). Er erkennt die Welt in ihrer Religionslosigkeit und versucht diese nicht zu leugnen oder ihre Ausmaße abzumildern. Ihm geht es vielmehr darum, diesem Faktum in geradezu pragmatischer Weise theologisch zu begegnen. Er versucht, alle weltlichen Erscheinungsformen dem Regiment Gottes zu unterstellen und sie ausnahmslos von der Prämisse der »Wirklichkeitsgemäßheit« her zu deuten. Dadurch ist es folgerichtig, dass Bonhoeffer die Bedeutsamkeit religiöser Ausdrucksformen relativiert. Er spricht ihnen nicht ihre grundsätzliche Berechtigung ab, aber Religiosität ist seiner Auffassung nach von nachgeordneter Relevanz (vgl. Ronald Gregor Smith: Diesseitige Transzendenz, 110). 1094 Vgl. DBW 8, 476.

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Selbsterlebens – doch vom »Vormund« Gott abhängig ist, um ihn dadurch wieder gefügig zu machen. Weil diese Überzeugungsversuche in Bezug auf die lebensweltlichen Fragen aber ins Leere liefen, blieben nur noch die letzten großen Fragen des Lebens, mit denen der Mensch von seiner Angewiesenheit auf Gott überzeugt werden sollte. Spätestens hier sollte sich die »Mündigkeit« als Illusion erweisen und die eigentliche Unmündigkeit des Menschen zutage treten. Eine derartige »Attacke der christlichen Apologetik auf die Mündigkeit der Welt«1095 lehnt Bonhoeffer aber strikt ab. Mit Versuchen dieser Art werde der Mensch von seiner tatsächlichen Unabhängigkeit in eine erneute scheinbare Abhängigkeit zurück überführt. Dadurch unterstellte man ihm Probleme, die ihm faktisch keine mehr sind. Dies sei sinnlos und stünde der grundsätzlichen Achtung eines Menschen entgegen, dessen »Mündigkeit« sich faktisch sehr wohl auch auf den Bereich des existentiellen Fragens bezöge. Entsprechende Antworten ließen sich nämlich nicht nur im Christentum finden: »Menschen werden faktisch – und so war es zu allen Zeiten – auch ohne Gott mit diesen Fragen fertig, und es ist einfach nicht wahr, daß nur das Christentum eine Lösung für sie hätte. Was den Begriff der ›Lösung‹ angeht, so sind vielmehr die christlichen Antworten ebenso wenig – (oder ebenso gut) – zwingende wie andere mögliche Lösungen.«1096

Außerdem ginge mit der Suggestion, nur im Christentum seien diese Fragen auf wirkliche Weise beantwortbar, wiederum eine Reduktion Gottes auf die Grenzbereiche des Menschseins einher. Dieser Gott wäre dann nur dazu da, ungelöste Fragen des Menschen zu beantworten und sei dann nicht, wie durch seine Offenbarung in Jesus Christus vollzogen, die »Mitte des Lebens«1097. Menschliche Schwächen würden für (religiöse) Zwecke ausgenutzt, die dem Betreffenden nicht kenntlich seien und denen er auch nicht zugestimmt habe. Zudem läge diesem Vorgehen wiederum die falsche Gleichsetzung Christi mit einer menschlichen Vorstellung zugrunde, die sich in einer bestimmten Weise von Religiosität ausdrückt.1098 Vor dem Hintergrund dieser Situation ergibt sich für das theologische Nachdenken die Frage, »wie diese Welt durch Christus in Anspruch genommen wird«1099. Für Bonhoeffer stellt sich die Situation der Religionslosigkeit demnach als ein reales praktisches Problem dar. Es steht nicht im Vordergrund, Glaube 1095 1096 1097 1098

A. a. O., 478. A. a. O., 455. Ebd. Vgl. a. a. O., 478f. Nach Dietrich Bonhoeffer handelte es sich um eine »Schwäche der liberalen Theologie, daß sie der Welt das Recht einräumte, Christus seinen Platz in ihr anzuweisen« (a. a. O., 479). 1099 Oskar Hammelsbeck: Zu Bonhoeffers Gedanken über die mündig gewordene Welt, 47 (H. i. O.).

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und Verstehen kompatibel zu machen. Seine Überlegungen zielen also nicht darauf ab, Verstehen zu erzeugen, wodurch er auf die Ebene der Apologetik zurückfiele, die er selbst scharf zurückgewiesen hat. Die »Mündigkeit« des Menschen, also die Tatsache, dass ein Leben ohne Gott möglich ist, verlangt nicht nach intellektueller theologischer Klärung von Gottesbezogenheit. Bonhoeffer verfolgt das Interesse, Versuchung und Anfechtung, die aus der mündigen Welt resultieren, zu überwinden.1100 Jeder Versuch, dem mündigen Menschen seine Unmündigkeit zu beweisen, muss dabei ins Leere laufen und geht an der Botschaft des Evangeliums vorbei. Hier nämlich verortet Bonhoeffer die tiefste und reinste Form des Verstehens von der »Mündigkeit« der Welt: »Die Mündigkeit der Welt ist nun kein Anlaß mehr zu Polemik und Apologetik, sondern sie wird nun wirklich besser verstanden, als sie sich selbst versteht, nämlich von Evangelium, von Christus her.«1101 Die zunehmende Religionslosigkeit der Welt, ja vielleicht gar ihre vermeintliche Gottlosigkeit, ordnet Bonhoeffer auf diese Weise als einen Zustand ein, der dem Gotteswillen entspricht und somit Teil der Gotteswirklichkeit ist, denn Gott selbst zwingt den Menschen zur Selbsterkenntnis. Bonhoeffer rechnet damit, dass Gott sowohl in die Geschichte der Menschheit hineinwirkt als auch in das Leben des Einzelnen. Dies tut er in paradoxer Weise und zwar so, dass er den Menschen auf sich selbst verweist1102 : »So führt uns unser Mündigwerden zu einer wahrhaftigeren Erkenntnis unserer Lage vor Gott. Gott gibt uns zu wissen, daß wir leben müssen als solche, die mit dem Leben ohne Gott fertig werden. Der Gott, der mit uns ist, ist der Gott, der uns verläßt (Markus 15, 34)!1103 Der Gott, der uns in der Welt leben läßt ohne die Arbeitshypothese Gott, ist der Gott, vor dem wir dauernd stehen. Vor und mit Gott leben wir ohne Gott.1104 Gott

1100 Vgl. Götz Harbsmeier: Die »nicht-religiöse Interpretation biblischer Begriffe« bei Bonhoeffer und die Entmythologisierung, 78. 1101 DBW 8, 482. 1102 Vgl. Ulrich H. J. Körtner : Freiheit und Verantwortung, 107. 1103 Anm. 34 i. O.: »Und um die neunte Stunde rief Jesus laut und sprach: Eli, Eli, lama asabthani? Das ist verdolmetscht: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« Die Stellenangabe ist nachträglich hinzugefügt. Vgl. hierzu M. Luther (WA 5; 602, 25–28. Operationes in Psalmo 1519–1521): »[…] ubi velutcontradicens sibi sese derelictum a deo clamat et tamen deum vocat ac per hoc non drelictus est« ( […] »wo er als wie sich selbst widersprechend schreit, er sei von Gott verlassen, und nennt doch Gott sein und bekennt damit, er sei nicht verlassen. Denn keiner sagt zu Gott ›Mein Gott‹, der ganz und gar verlassen ist«). 1104 Anm. 35 i. O.: In B’s Vorlesung »Schöpfung und Fall« 1932/33 galt, daß der von Gott abgefallene Mensch »ohne das Leben aus Gott vor Gott leben muß« (DBW 3, 132). Das die Formel »Vor und mit Gott leben wir ohne Gott bestimmende neue Verständnis eines im Modus seiner Abwesenheit anwesenden Gottes ist in B’s Arbeit für seine »Ethik« kurz vor der Inhaftierung 1943 vorbereitet: »Das Kreuz der Versöhnung ist die Befreiung zum Leben vor Gott mitten in der Gottlosen Welt« (DBW 6, 404). Vgl. unten in diesem Brief

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läßt sich aus der Welt herausdrängen ans Kreuz, Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt und gerade und nur so ist er bei uns und hilft uns.«1105

Eine aufrichtige Hinwendung zu Gott kann infolgedessen nicht darin aufgehen, sich vornehmlich an sein allmächtiges Wesen zu halten. Dies muss die Kluft zwischen Mensch und Gott vergrößern. Das Geheimnis der Gottesbeziehung lässt sich nur über das Leiden Gottes erschließen, wodurch sich die Nahbarkeit Gottes erhöht. Gott selbst in Jesus Christus als den Leidenden zu erkennen, lässt den Anspruch an ihn vergehen, er müsse die Niederungen des Lebens durch sein allmächtiges Wirken aufheben. Es ist nämlich das Kreuz Jesu Christi selbst, das den Menschen dazu zwingt, seine eigene Gottverlassenheit zu erkennen.1106 Dadurch kann Gott im Erleben des Menschen sowohl in der Mitte als auch an den Grenzen als der real Gegenwärtige geglaubt werden. Indem Gott die Verhältnisse von unnahbaren Allmächtigkeitsvorstellungen Gottes eigens umgekehrt hat, verlangt er dem Menschen ab, »das Leiden Gottes an der gottlosen Welt mitzuleiden«1107. Dies ist ganz konkret gemeint und ist die Antwortung des christlichen Glaubens auf die webersche Göttermetaphorik hinsichtlich eines wiedergekehrten Polytheismus.1108 Jede religiöse Verklärung ist ganz und gar unangebracht, weil sie den neuzeitlichen Herausforderungen nicht standhalten kann. Es muss darum gehen, sich konsequent der falschen religiösen Bindungen zu entledigen und jenseits von jedem religiösen Akt Mensch zu werden. Alles Religiöse weist Bonhoeffer damit als etwas Partielles aus, von dem der Glaube an Gott unabhängig ist. Glauben bedeutet, dem Ruf Gottes zu folgen, sich der Weltwirklichkeit hinzugeben und dadurch wahrhaftig zu leben.1109 Die Gottlosigkeit der Welt wird dann nicht länger religiös verklärt oder gar verdeckt. Die Welt kommt gerade als das zum Vorschein, was sie tatsächlich ist, nämlich eine vollumfänglich mündig gewordene: »Die mündige

1105 1106 1107

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(Nr. 177) 537: »Die mündige Welt ist Gott-loser und darum vielleicht gerade Gott-näher als die unmündige Welt.« DBW 8, 533f. Vgl. Jürgen Moltmann: Die Wirklichkeit der Welt und Gottes konkretes Gebot nach Dietrich Bonhoeffer, 55. DBW 8, 535. Obschon Dietrich Bonhoeffer das Leiden als einen konstitutiven Bestandteil eines Lebens nach dem Vorbild Jesu bedenkt – dies kommt eindruckvoll in seinem Gedicht Christen und Heiden zum Ausdruck (vgl. DBW 8, 515. Zur Interpretation Trygve Wyller : Glaube und autonome Welt, 23) –, ist mit Klaus-Michael Kodalles berechtigtem Rekurs auf Sören Kierkegaard zu konstatieren, dass ein Mensch, »der sein Selbstverhältnis in dieser Weise in Gott gründet, […] auch noch für sich die Kategorie des andauernden Leidens Gottes als überholt wissen [darf], denn ihm hat sich die Gnade eines versöhnten Daseins zur Mitte seines Lebens konkretisiert. Er lebt in Gottes Souveränität, und deren höchster Ausdruck ist nicht das Leiden, sondern gerade auch im Augenblick des Todes – der bodenlose Leichtsinn göttlicher Liebe« (ders.: Dietrich Bonhoeffer, 169 [H. i. O.]). Vgl. 8.1 Verantwortungsethik als Antwort auf konfliktträchtige Lebenswirklichkeit. Vgl. DBW 8, 535ff. (insb. 537).

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Welt ist Gott-loser und darum vielleicht gerade Gott-näher als die unmündige Welt.«1110 Demzufolge ist die Religionslosigkeit – auch bezeichnet als die »nichtreligiöse Interpretation biblischer Begriffe« – eine konsequente Folge der »Wirklichkeitsgemäßheit«. Wenn sich die Wirklichkeit als gottlos erweist, kann ein religiöses Korsett, dessen Gegenstand Gott selbst ist, nicht mit ihr in Übereinstimmung gebracht werden. Deshalb muss Gott aus frommen und wirklichkeitsfernen Strukturen herausgelöst und ein Verstehen angebahnt werden, das Kompatibilität mit der jetzt gültigen Wirklichkeit gewährleistet.1111 Mit Gerhard Ebelings Erwägungen hinsichtlich der bonhoefferschen Gedanken zur mündig gewordenen Welt entfachten weitreichende Diskussionen hinsichtlich von Interpretationsmöglichkeiten. Für den Kontext dieser Untersuchung reicht es aus, die grundsätzliche Auslegungsrichtung zu skizzieren: Ebeling deutet die Ausführungen Bonhoeffers zur »nicht-religiösen Interpretation« als ein Problem der Verkündigung.1112 Dass Bonhoeffer eine neue Existenzform des christlichen Glaubens vor Augen steht, hält er dabei zwar für denkbar, aber vornehmlich ginge es ihm doch um eine angemessene Form der Homiletik. Demgemäß legt Ebeling die »nicht-religiöse Interpretation« als ein Sprachproblem aus: »Man darf dies alles m. E. nicht im Sinne eines Gefälles deuten, in welchem das Problem der nicht-religiösen Interpretation seinen eigentlichen Ort nicht so sehr im Wort als im Existenzvollzug findet, die Frage nach dem rechten Reden also relativiert, wenn nicht gar aus dem, was hier mit ›Interpretation‹ eigentlich gemeint sei, ausgeklammert wird.«1113

Axel Denecke beurteilt es hingegen als eine »verhängnisvolle Engführung des Ansatzes Bonhoeffers«1114, dessen Ausführungen auf ein Sprachproblem zu reduzieren. Zwar pflichtet er Ebeling darin bei, dass es auch um die sprachliche Interpretation ginge, aber dabei handele es sich nur um einen Aspekt der Auslegung.1115 Mit Denecke soll hier vornehmlich die Annahme vertreten werden, dass Bonhoeffer nicht nur ein reines Sprachproblem zu lösen versucht, sondern insbesondere die Frage nach dem konkreten Lebensbezug in einer Welt abseits

1110 A. a. O., 537. 1111 Weil die Gottlosigkeit der Welt auf die Gottverlassenheit Jesu am Kreuz zurückverweist, bewertet sie Dietrich Bonhoeffer als eine verheißungsvolle, weil sie schließlich in die Neuschöpfung des Menschen mündet (vgl. DBW 6, 115). 1112 Vgl. Gerhard Ebeling: Wort und Glaube, 100, 116 (»Die ›nicht-religiöse Interpretation biblischer Begriffe‹« wurde zuerst veröffentlicht in ZThK 52, 1955, 296–360, anschließend in Die mündige Welt, Bd. 2, München 1956. 1113 Gerhard Ebeling: Wort und Glaube, 117, Fn. 86. 1114 Axel Denecke: Das Leben nicht-religiös interpretieren, 97. 1115 Vgl. a. a. O., 107, 109.

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ihrer religiösen Festlegung bearbeiten will.1116 Bedeutsam für diesen Kontext ist deshalb vor allem, dass Bonhoeffer ein Gottesverständnis vor Augen steht, das Gott nicht auf das begrenzt, was den Vorstellungen des Menschen entspricht. Die Autonomie Gottes, dass er also grundsätzlich unverfügbar ist, soll in allem Nachdenken über die Beziehung zwischen Mensch und Gott gewahrt bleiben. Gott allerdings auf den Bereich des Religiösen festzulegen, zieht unweigerlich nach sich, ihn zu begrenzen. Dagegen versucht sich Bonhoeffer argumentativ zu wehren. Seine Bestrebungen, das Christentum »nicht-religiös« zu interpretieren, sind vor diesem Hintergrund zu verstehen.1117 Klaus-Michael Kodalle beschreibt Bonhoeffers Versuch deshalb treffend als eine »vorläufige Formulierung der Erkenntnis […], daß das Absolute in der Relativität des Endlichen ist, ohne doch in bestimmten Funktionen aufzugehen«1118. Bonhoeffers Ausführungen zur Religionslosigkeit sind deshalb als Konkretion dieses Gedankens in Bezug auf den wirklichen Lebensvollzug des Menschen zu verstehen. Dies beinhaltet den Verzicht darauf, bestimmte Lebensformen vorzugeben, die das Christliche angeblich deutlicher auszudrücken vermögen als andere. Dadurch versucht Bonhoeffer eine Lebensgestaltung zu begründen, die das Leben des Einzelnen so weit in dessen Hände legt wie es das biblische 1116 Axel Denecke räumt ein, dass Dietrich Bonhoeffer mit seiner Bezugnahme auf Rudolf Bultmann und die Frage der Entmythologisierung zunächst von einem sprachlichen Problem ausgeht, dies aber im späteren Verlauf immer weiter mit der Dimension des konkret gelebten Daseins eines Menschen anreichert (vgl. ders.: Das Leben nicht-religiös interpretieren, 104f.). Dazu untersucht Denecke u. a. eine Briefsequenz vom 30. 04. 1944, in der Bonhoeffer erstmalig auf das Thema der »nicht-religiösen Interpretation« zu sprechen kommt. Bonhoeffer berichtet darin, er werde von seinen Mitgefangenen als heiter wahrgenommen und strahle eine Ruhe auf sie aus, was ihm schmeichle (DBW 8, 402). Denecke deutet diese persönliche Aussage Bonhoeffers als mit seinen theologischen Gedanken verwoben und konstatiert, dass hierin ein Beleg dafür zu vermuten sei, dass der eigentliche Fokus seiner Betrachtungen gerade im Bereich des konkreten Lebensvollzugs liegt und weniger als reines Sprachproblem zu deuten ist: »Daher ist es m. E. kein Zufall oder eine selbstbestätigende Marotte, wenn Bonhoeffer vor diesem so entscheidenden, die ganze Diskussion um die nrI [nicht-religiöse Interpretation] einleitenden Worten davon spricht, wie er als Mensch ganz persönlich auf ›die Leute‹ wirkt, ›Ruhe ausstrahlend‹ und immer ›so heiter‹. Ist das also bereits die nrI biblischer Begriffe, einfach durch das Da-Sein Bonhoeffers in der Nachfolge dessen, ›der für andere da war‹?« (ders.: Das Leben nichtreligiös interpretieren, 99). 1117 In seiner Habilitationsschrift Akt und Sein schreibt Dietrich Bonhoeffer : »Einen Gott, den ›es gibt‹, gibt es nicht; Gott ›ist‹ Personbezug, und das Sein ist sein Personsein. Auch das freilich wird erst verständlich für den Menschen, der in die Wahrheit gestellt ist, dem durch die Person Christi der Andere zur echten Person geworden ist« (DBW 2, 112). Das »Es gibt« bezieht er dabei auf eine statische Seinsart, die sich erst im Verhältnis zu einer Person dynamisiert. Gegen das Bild von einem statischen Gott, der sich religiös kultisch fassen ließe, verwehrt sich Bonhoeffer. Er konstatiert die Unverfügbarkeit des dynamischen Gottes in dessen Beziehung zur Person. 1118 Klaus-Michael Kodalle: Dietrich Bonhoeffer, 136.

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Zeugnis zulässt und ihm infolgedessen seine »Mündigkeit« zugesteht. Sein vornehmliches Anliegen besteht darin, durch alle äußeren Formen von Religiosität hindurch zum wirklichen Christus vorzudringen.1119 Wenn Religiosität aufgehoben wird, löst sich eine äußere Hülle und der wirkliche Kern, nämlich eine lebendige Beziehung zwischen Mensch und Gott durch den gegenwärtigen Christus, kommt zum Vorschein. In der zunehmenden Religionslosigkeit erkennt Bonhoeffer deshalb ein außerordentliches Potenzial, weil Gott dann nicht mehr nur an ausgewiesenen Plätzen von Religiosität zu verorten ist oder dort, wo sich der Mensch von letzten großen Lebensfragen bedrängt fühlt. Christus zeigt sich dann mitten im Leben, weil er »nicht mehr Gegenstand der Religion [ist], sondern etwas ganz anderes, wirklich Herr der Welt«1120. Damit das Christusverständnis solchermaßen von Religiosität gelöst und Christus tatsächlich als der Herr der Welt offenbar wird, muss gefragt werden, wie er auch der Herr der Religionslosen werden kann.1121 Bonhoeffer geht es hierbei um folgenden Sachverhalt: Während der Religiöse dazu geneigt ist, sich seiner »Mündigkeit« zu verwehren, indem er sich hinter einer vordergründigen Gottesfurcht zurückzuziehen versucht, rechnet der religionslose Mensch gar nicht mit einem effektiven Eingreifen eines Gottes in die Geschehnisse der Wirklichkeit. Deshalb lebt er frei von dem Gedanken, eine transzendente Macht für eigene Belange beanspruchen zu können und ist seinem Selbsterleben nach, vollständig auf sein eigenes Handlungspotenzial gewiesen. Religionslosigkeit, wie Bonhoeffer sie versteht, besteht dann darin, den Glauben des Betenden mit der Freiheit des Religionslosen derart zusammenzuführen, dass dieses Konglomerat in eine wahrhaftig lebendige Gottesbeziehung mündet. In ihr drückt sich dann konkret aus, dass Gott nicht mehr ein Platz jenseits der menschlichen Begrenztheit zugewiesen wird, sondern er inmitten des Lebens in seiner von Wesen, Wirken und Wünschen des Menschen unabhängig bestehenden Form, (wieder-)entdeckt wird, nämlich als die Wirklichkeit selbst. Statt betend das Ansinnen zu verfolgen, dass sich eigene Lebenspläne verwirklichen, erbittet der wirklichkeitsgemäß betende Mensch, an der Offenbarungswirklichkeit Gottes teilhaben zu dürfen. Sein Gebet bezieht sich dann auch auf das, was Bonhoeffer unter dem wirklichen »Guten« versteht.1122

1119 In seinen Briefen beschreibt sich Dietrich Bonhoeffer als häufig eher den Religionslosen zugewandt und zwar nicht mit dem Ziel, sie zu missionieren, sondern in brüderlicher Anteilnahme (vgl. DBW 8, 406f.). 1120 A. a. O., 405. 1121 Vgl. a. a. O., 404f. 1122 Vgl. 10.3 Das »Wirklichkeitsgemäße« als das konkrete »Gute«.

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12.2 »Dasein-für-andere« als Ausdruck christusgemäßer »Mündigkeit« Die »Mündigkeit« der Welt anzuerkennen, impliziert bei Bonhoeffer die positive Würdigung der Freiheit, die für sein Verständnis von Verantwortung zentral ist.1123 Verantwortung ist essenziell mit dem Geheimnis des Lebens verbunden. Das Leben kann sich der Mensch nicht selbst geben, sondern erhält es als ein Geschenk. Indem es ihm aber von außen gegebenen wird, sind auch die Umstände, in die hinein sich seine Existenz ereignet, von außen bestimmt. Dies betrifft die konkreten familiären und gesellschaftlichen Lebensumstände, innerhalb derer ein Mensch sozialisiert wird, ebenso wie die große Geschichte der Menschheit, an der jedes einzelne Leben Anteil hat. Leben bedeutet deshalb »gebunden sein nach rückwärts und vorwärts, in-Anspruch-genommen-sein von außen, von den anderen Menschen meiner Umwelt; bedeutet: verantwortlich sein«1124. Dadurch, dass der Mensch in seine persönlichen Lebensumstände hineingeboren wird und in ihnen wächst, ist dieses Leben wesenhaft fremdbestimmt. Die äußerste und zuletzt auch einzige Form, sich dieser Fremdbestimmung zu entziehen, besteht darin, vom Leben selbst frei zu werden. Wenn Leben aber grundsätzlich beinhaltet, in irgendeiner Form abhängig zu sein, liegt die vollständige Freiheit außerhalb des Lebens, nämlich im frei gewählten Tod. Infolgedessen ist der Freitod die konsequente und einzige Wahl desjenigen, der sich selbst als den Herrn über sein Leben verstehen und sich gegen jede Abhängigkeit behaupten möchte. Für denjenigen hingegen, der seine Existenz bewusst unter fremde Herrschaft gestellt hat, käme der selbstgewählte Tod einer Entsagung gegenüber dieser Fremdherrschaft gleich. Darin, sein eigenes Lebens freiwillig hinzugeben, liegt eine tiefe Wahrheit verborgen, die sich nicht nur im Freitod offenbart, sondern auch darin, das eigene Leben einem anderen Menschen hinzugeben. Der sein Leben hergebende Mensch lebt dann nicht mehr für sich allein, sondern »er lebt wesentlich durch und für den anderen, ihm verantwortlich zugeordnet. Nur aus der Verantwortung entnimmt darum das Leben sein Recht auf Selbstbehauptung, nicht weil es mir gehört, sondern weil es der Gemeinschaft, dem Anderen, dem Bruder

1123 Die Freiheit des Menschen ist bei Dietrich Bonhoeffer konstitutiv für eine verantwortliche Tat. Als Wege in die Befreiung zum Dienst an Gott nennt er in seinem Gedicht Stationen auf dem Wege zur Freiheit »Zucht«, »Tat«, »Leiden« und »Tod« (vgl. DBW 8, 570). Das »Leiden« stellt er dabei besonders heraus, weil es die unmittelbarste Verbindung zu Jesus Christus darstellt. Befreit wird der leidende Mensch dann, wenn er die Sache des Leidens ganz aus den eigenen Händen gibt. Demgemäß ist der Tod die höchste Form von Freiheit (vgl. DBW 8, 548f.). 1124 DBW 11, 222.

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Mensch gehört«1125. Die Möglichkeit, den Freitod zu wählen, ist damit ausgeschlossen, weil sich der Mensch darüber bewusst geworden ist, dem anderen verantwortlich zugeordnet, d. h. ihm gegenüber verpflichtet zu sein. Nähme er sich selbst das Leben und beanspruchte damit das Recht, der Gemeinschaft zu entsagen, wählte er eine egoistische Variante von Selbstbehauptung. Ein Recht auf Selbstbehauptung ergibt sich allerdings allein aus der Verpflichtung dem anderen Menschen gegenüber, wenn nicht mehr das eigene Wohl, sondern das der Gemeinschaft im Vordergrund steht. Diese Existenzform wurde eingangs als Sein bezeichnet.1126 Das eigene Leben in dieser Weise hinzugeben, ist deshalb als eine Form von Selbstbehauptung zu verstehen, weil die Hingabe auf einer freien Wahl beruht. Demzufolge geht es nicht um die »Verherrlichung der Persönlichkeit«, sondern um das »Opfer für den Bruder«1127. Wenn der Mensch sein Leben vom Tod her zu verstehen beginnt, erfasst er es als das, was es ist, nämlich ein Geschenk, das ihm für eine Zeit gegeben ist und ihm auch wieder genommen wird. Aus diesem Verstehen heraus erwächst der Selbstauftrag, für das geschenkte Leben Sorge zu tragen in der Form, sich gerade nicht den naturgegebenen Abhängigkeiten zu widersetzen, sondern sich in ihren Dienst zu stellen und dadurch in Einklang mit ihnen zu handeln.1128 Entgegen einer egozentrierten Selbstbehauptung, die auf eine Alleinstellung um des eigenen Vorteils willen abzielt, liegt einem solchen Handeln die Erkenntnis zugrunde, dass nur der, der sein Leben hingibt auch das wahre Leben empfängt.1129 Dass Gemeinschaft »nur im Lichte, nur aus der Kraft des Todes lebt«1130, hat in Jesus Christus selbst seine Bestimmung. Er verkörpert diese höchste Form von Freiheit im Angesicht des Todes, indem er sein Leben für die Menschheit hingab. Damit ist er das erhabenste Beispiel dafür, aller egoistischen Anhaftung an das Leben zu entsagen. In dem Licht der Christusgemäßheit ist der Mensch dazu angehalten, sich als ein Empfangender aus der beispiellosen Hingabe Jesu an die Welt zu erkennen und deshalb selbst ein Gebender zu werden. Das bedeutet, dass die von Bonhoeffer gemeinte Freiheit keine willkürliche meint, sondern als »gebundene« Freiheit, als eine Freiheit aus bzw. in Abhängigkeit verstanden werden soll. Demgemäß korrespondiert die Freiheit von einem egozentrischen Selbstverständnis mit der Bindung an Gott.1131 Während die Freiheit des eigenen Lebens dem Menschen die Möglichkeit dazu gibt, ei1125 1126 1127 1128 1129

A. a. O., 223. Vgl. 10.1 Die Unterscheidung der menschlichen Existenz in Ego und Sein. Ebd. Vgl. ebd. »Denn wer sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der wird’s erhalten« (Mk. 8, 35). 1130 A. a. O., 224. 1131 Vgl. 9.1 Religiöse Freiheit als gebundene Freiheit.

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genständig zu entscheiden und zu handeln, schützt ihn die Bindung an Gott vor Haltlosigkeit und Willkür. Die Gottesbindung verhilft zur Selbstlosigkeit und wird richtungweisend, wobei die Freiheit des Menschen dabei unangetastet bleibt, ja sogar die notwendige Voraussetzung eines verantwortlichen Handelns darstellt.1132 Die Synthese aus Freiheit und Bindung bedingt die Erkenntnis, dass Gott seine Verheißung erfüllt und nicht die Bitten der Menschen. Jede rechtmäßige Bitte gegenüber Gott ist schon in Jesus Christus angelegt, weil sich in ihm Gottes Verheißung erkennen lässt. Deshalb darf der Mensch zwar alles erbitten, aber Gott kommt nicht jeder Bitte nach. Seine Verheißung in Jesus Christus besagt, dass das wirklichkeitsgemäße Leben nicht in einem von Krankheit, Leid und Not befreiten Dasein liegt, das häufig erbeten wird. Leiden und Sterben wird aber dadurch zur Verheißung, dass der Weg Jesu Christi durch beides hindurchführt.1133 Dies anerkennend verpflichtet sich der Mensch aus freier Entscheidung dazu, sich den Willen Gottes zu seinem eigenen zu machen. Christliche Freiheit ist damit religionslos ausgelegt. Bonhoeffers Ausgangsfrage, wer Christus für uns heute ist, wird mit dieser Deutung einer Antwort entgegengeführt. In dem Entwurf einer Arbeit heißt es: »Unser Verhältnis zu Gott ist kein ›religiöses‹ zu einem denkbar höchsten, mächtigsten, besten Wesen – dies ist keine echte Transzendenz –, sondern unser Verhältnis zu Gott ist ein neues Leben im ›Dasein-für-andere‹, in der Teilnahme am Sein Jesu. Nicht die unendlich, unerreichbare Aufgabe, sondern der jeweils gegebene, erreichbare Nächste ist das Transzendente. Gott in Menschengestalt! […] nicht die griechische GottMenschengestalt des ›Menschen an sich‹, sondern ›der Mensch für andere‹!, darum der Gekreuzigte. Der aus dem Transzendenten lebende Mensch.«1134

Die Hingabe an Jesus Christus vollzieht sich durch die Hingabe an die Wirklichkeit in der Form, sich dem anderen Menschen als den konkreten Nächsten hinzugeben. Die Art, wie sich diese Hingabe erfüllt, definiert die Gegenwärtigkeit des lebendigen Christus heute, denn »die Weise, wie Christus in den Ihm Gleichgestalteten gegenwärtig ist, weist uns auf die Weise Seiner Gegenwart in der Wirklichkeit überhaupt«1135. Mit der Vorstellung von Jesus als »der Mensch für andere« wird ein neuer christologischer Titel kreiert.1136 Dem »Bei-sich-selbst-Sein« des Menschen stellt 1132 Vgl. DBW 6, 256; 12.3 Das Wagnis des Handelns und die Bereitschaft zur Schuldübernahme. 1133 Vgl. DBW 8, 573. 1134 A. a. O., 558. 1135 Heinrich Ott: Wirklichkeit und Glaube, Bd. 1, 164. 1136 Zur Kontinuität sowie zur theologischen, existentiellen und ethischen Dimension des christologischen Titels vgl. Eberhard Bethge: Christologie und »Religionsloses Christentum« bei Dietrich Bonhoeffer, 96ff.

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Gott durch das Kreuzesgeschehen eine neue Dimension, nämlich das »Daseinfür-andere«1137, gegenüber. Gott offenbart sich in Jesus Christus nicht als der »Deus ex Machina«, sondern als Ausgelieferter ohne jede Deckung und als Stellvertretender, als der »Mensch für andere«. Weil Jesus an der Ohnmacht Gottes teilhat, wird auch der Mensch in die gegenwärtigen Verantwortlichkeiten innerhalb der mündig gewordenen Welt hineingestellt. Der Weg des Glaubenden vollzieht sich dann in einem »Dasein-für-andere«, mit dem er in seinem Kreisen um egoistische Fragen1138 unterbrochen wird. Indem es an Bedeutung gewinnt, auf den anderen zu blicken, überträgt sich die Vorstellung von Jesus als dem Menschen für andere auf den Glaubenden. Dadurch wird Jesus Christus in ganz und gar religionsloser Weise lebendig und durch das konkrete Handeln des Menschen gegenwärtig. Es geht also nicht darum, menschliches Streben und Handeln als eine Möglichkeit zu verstehen, um die gottferne Welt in das Reich Gottes zu verwandeln. Ein solcher Anspruch kann nur aus einer egobezogenen Selbstüberschätzung des Menschen resultieren und verwehrt sich gegen eine wirklichkeitsgemäße Inanspruchnahme durch den Willen Gottes. Der Mensch ist hingegen damit beauftragt, die Liebe Gottes durch das »Dasein-für-andere« inmitten der gottlosen Welt erfahrbar zu machen. Genau dafür ist es notwendig, die (religiösen) Separierungstendenzen aufzugeben, weil auch alles Gottferne in das Geheimnis der unverdienten Gottesliebe mit hineingenommen werden soll. Es geht darum, die Liebe Gottes im eigenen Verhalten wirksam werden zu lassen, damit sie sich im Dienst am anderen Menschen zeigen kann und sich dadurch verlebendigt. Gott selbst hat in Jesus Christus den Weg vorgezeichnet, über den dieser Liebesauftrag erfüllt werden soll. Er besteht in der Anteilnahme am Leiden Jesu. Mit Denecke ist deshalb festzuhalten, dass sich das »Dasein-für-andere«, wie es Jesus in nichtreligiöser Weise vorgelebt hat, im »Mit-Leiden am Leid dieser Welt«1139 konkretisiert. Darin drückt sich christusgemäße »Mündigkeit« aus. Die »nichtreligiöse Interpretation« lässt sich auf der Grundlage dieser Deutung nicht mehr auf rein sprachliche Aspekte beschränken, sondern bezieht sich auf die konkrete Lebensinterpretation des einzelnen Menschen, die dieser durch sein Verhalten vornimmt. Mit seiner Selbsthingabe hat Gott die Liebe als Kriterium allen 1137 DBW 8, 558. 1138 Vgl. Helmut Gollwitzer : Krummes Holz, aufrechter Gang, 36. 1139 Axel Denecke: Das Leben nicht-religiös interpretieren, 102. An späterer Stelle führt Denecke die »nicht-religiösen Interpretation biblischer Begriffe« mit dem persönlichen Leben Dietrich Bonhoeffers zusammen: »Der Weg Dietrich Bonhoeffers im Jahre 1945 im Mit-Leiden am Leid Gottes in Tod und Sterben hinein ist das ›beglückende (Lebens) Gefühl‹ nicht-religiöser Interpretation biblischer Begriffe, besser : ist eine nichtreligiöse Existenz-Form, ›Christus Gestalt werden zu lassen‹ durch den glaubwürdigen Einsatz des eigenen Leben« (ebd., 103).

»Dasein-für-andere« als Ausdruck christusgemäßer »Mündigkeit«

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Handelns vorbildhaft ins Recht gesetzt. Dadurch ist sie dem Menschen zum konkreten Gebot geworden. Die Hingabe an andere, die für Bonhoeffers Verantwortungsbegriff konstitutiv ist, zeichnet sich dadurch aus, dass sie aus Freiheit heraus geschieht und sich an der Liebe orientiert.1140 Der Liebesbegriff, wie er im alltäglichen Sprachgebrauch verwendet wird, bezieht sich auf das persönliche Ethos eines Menschen. Liebe zeichnet sich dadurch aus, das »Liebesobjekt« wählen zu können und wird dadurch exklusiv. Die Wahl orientiert sich an Kriterien, die der Liebende selbst aufstellt. Weil dies auch zum eigenen Vorteil geschieht, ist die »Liebeswahl« von einem Bestreben nach Selbstvervollkommnung und dementsprechend durch das Ego geprägt. Wie oben ausgeführt, unterscheidet sich diese Auffassung von einem christlichen Liebesverständnis.1141 Die Bibel bezeugt, dass Gott selbst die Liebe ist.1142 Wenn aber Gott die Liebe ist, kann nur derjenige, der Gott kennt, wirklich von der Liebe sprechen. Dann wird als der Ursprung von Liebe nicht mehr der Mensch mit seinen Exklusivitätsbestrebungen erkannt, sondern Gott. Dies bedarf allerdings der Selbstoffenbarung Gottes, durch die er sich als Liebe schlechthin zeigt. Sie erfolgt in einer einzigen Form: »Liebe ist immer Offenbarung Gottes in Jesus Christus.«1143 Das Geheimnis der Liebe scheint deshalb wiederum in dem Versöhnungsgeschehen zwischen Gott und Mensch durch Jesus Christus auf. Weil dieser Akt ganz unabhängig vom Menschen durch Gott allein gewirkt wurde, gilt dies auch für die Liebe. Das Zutun des Menschen besteht allerdings darin, Gottes Liebe als ein »Sichgefallenlassen der Liebe Gottes in Jesus Christus«1144 an sich selbst geschehen zu lassen. Diese Hingabe des Menschen als Antwort auf die Liebe Gottes wird dadurch zur Quelle der Hingabe an den Nächsten und indem Gott durch den Menschen hindurch wirkt, realisiert sich die Liebe in der Art, wie sie von Gott her gemeint ist. Dieses Wirken Gottes konkretisiert sich durch das »Dasein-für-andere«. Wie oben ausgeführt, handelt es sich dabei um ein bedingungsloses Dasein, das auch die menschlichen und lebenswirklichen Unvollkommenheiten umschließt. Als 1140 Die Überschrift »Liebe und Verantwortung« (DBW, 299) steht am Ende der zweiten Fassung des Manuskripts Die Geschichte und das Gute. In der aktuellen Auflage der Ethik schließt sich diesen Erwägungen die Abhandlung Die Liebe Gottes und der Zerfall der Welt an. Die von Eberhard Bethge zusammengestellte Fassung der Ethik beginnt mit dem Manuskript Die Liebe Gottes und der Zerfall der Welt (19–58) und ordnet das Kapitel Die Geschichte und das Gute (227–278) nach (vgl. Dietrich Bonhoeffer : Ethik, München 1985). Dietrich Bonhoeffer hatte unter der zitierten Überschrift vertiefende Ausführungen hinsichtlich des Liebesaspekts geplant, an denen er nicht mehr arbeiten konnte. Infolgedessen liegen keine konsistenten Erwägungen vor, sodass auf einzelne Fragmente in anderen Zusammenhängen zurückgegriffen werden muss. 1141 Vgl. 9.3 Akzeptanz als Ausdruck christlicher Liebe. 1142 Vgl. 1. Joh. 4, 16. 1143 DBW 6, 338. 1144 A. a. O., 340.

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das Vorbild für ein solches Handeln ist Jesus keine »Verklärung hohen Menschentums«1145 und er postuliert auch nicht, vollkommen zu sein. Er selbst stand nicht abseits von den wirklichen Menschen, sondern gab sich ihnen barmherzig hin und hielt inmitten der Gottesferne Gemeinschaft mit ihnen. Gleiches ist nun dem glaubenden Menschen in der Nachfolge Jesu geboten.1146 Das »Dasein-fürandere« fragt nicht danach, ob Menschen der Zuwendung würdig sind, weil Gott selbst nicht zwischen den Menschen unterschieden hat.1147 Den konkreten Menschen in seiner gegenwärtigen Daseinsform zu verachten, bedeutet, zu verachten, was Gott liebt. Den konkreten Menschen zu lieben, heißt, Gottes Liebe unter den Menschen zu verwirklichen. Deshalb soll auch nicht der verklärte Mensch geliebt werden, sondern der wirkliche samt all seinen liebenswerten und liebensunwürdigen Wesensaspekten.1148 Die Gnade des Glaubens besteht dabei darin, dieses bedingungslose Lieben zu wagen und auch die daraus resultierende Schwere zu (er-)tragen. Bonhoeffer drückt dies folgendermaßen aus: »Den wirklichen Menschen kennen und ihn nicht zu verachten, das ist allein durch die Menschwerdung Gottes möglich.«1149 Dem verantwortlichen Menschen wird die solchermaßen unterschiedslose und konsequente Liebe Gottes zur intrinsischen Verpflichtung. Infolgedessen strebt er danach, dem daraus resultierenden Auftrag zu entsprechen, die Liebe zu seinem eigenen Handlungskriterium werden zu lassen, und legt mit seinen Handlungen Zeugnis darüber ab. Der Gnade des Glaubens, den wirklichen Menschen ansehen und ihn lieben zu können, folgt deshalb die Bereitschaft des Menschen dazu, Gemeinschaft um Jesu Christi willen zu halten. Es handelt sich dabei wiederum um eine gänzlich religionslose Gemeinschaft, die sich dann verwirklicht, wenn nicht mehr danach gestrebt wird, sich abzugrenzen, sich vom anderen zu unterscheiden und sich dadurch zu erheben. Stattdessen stellen sich Menschen einander gleich und erhalten ihre Ebenbürtigkeit auch unter dem Eindruck von Nöten, Ängsten und Schuldigkeiten. In diesem Sinne lässt sich Bonhoeffers Appell verstehen: »Wir müssen lernen, die Menschen weniger auf das, was sie tun und unterlassen, als auf das, was sie erleiden, anzusehen. Das einzig fruchtbare Verhältnis zu den Menschen – gerade zu den Schwachen – ist Liebe, d. h. der Wille, mit ihnen Gemeinschaft zu halten.«1150

1145 1146 1147 1148 1149 1150

A. a. O., 71. Vgl. a. a. O., 232. Vgl. a. a. O., 70f. Vgl. DBW 6, 73f. DBW 6, 74 (H. d. V., WLL). DBW 8, 28f.

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Dies bedeutet, die wahre Gottesliebe, die stärken und verwandeln kann, unter den Menschen zu verwirklichen. Die Liebe als das grundsätzliche Handlungskriterium auszuweisen, bleibt hinsichtlich des bonhoefferschen Verantwortungsverständnisses nicht folgenlos. Weil sich nicht generalisieren lässt, wie sich Liebe im Einzelfall konkret ausdrückt, muss situativ überprüft werden, welches Handeln dem gegenwärtigen Gebieten Gottes entspricht. Darin erfüllt sich der Verantwortungsauftrag, dass sich der freie Mensch dazu verpflichtet, so zu handeln, dass Gottes Liebe wirksam werden kann. In diesem Sinne ist Verantwortung »verwirklichte Liebe Gottes zu den Menschen und die Liebe der Menschen zu Gott«1151. Demgemäß lässt sich die Liebe nicht unter ein allgemeines Gesetz bringen, sondern zeigt sich als lebendige Gegenwart Gottes in immer neuer Weise unter den Menschen. Dabei ist es angezeigt, das Verhältnis von Liebe und Wirklichkeit zu bestimmen, weil sich die Situativität, die Verantwortung inhaltlich generiert, in der Wirklichkeit ereignet. Das Wesen verantwortlichen Handelns besteht grundsätzlich darin, die »Liebe Gottes, mit der das Wirkliche, die Welt, geliebt wurde,1152 im Wirklichen zu erfassen und von ihr her den Umgang mit der Wirklichkeit zu finden«1153. Das beinhaltet, die Liebe Gottes nicht in genereller Weise bestimmen zu wollen, sondern sie wiederkehrend neu aus dem Situativen heraus zu erschließen. Die Einmaligkeit der gegenwärtigen Wirklichkeit ist dann maßgebend für verantwortliches Handeln. Durch sein eigenes »von-Gott-Geliebtsein«1154 erhält der Mensch Entscheidungs- und Handlungsanweisungen innerhalb einer konkreten Situation. Das gegenwärtige Gebieten des liebenden Gottes lässt sich also nicht generalisieren und bildet dadurch die Unverfügbarkeit Gottes schlechthin ab, die sich in der Unverfügbarkeit der Liebe widerspiegelt. Deshalb weist auch die Liebe, die aus dem Geliebtsein durch Gott hervorgeht, eine andere Qualität auf als eine Liebe, die an Bedingungen geknüpft ist. Sie ist außergewöhnlich, weil sie gerade nicht nach dem Außergewöhnlichen sucht, sondern sich durch ihre bedingungslose Hingabe an das, was wirklich ist, nämlich den konkreten Menschen, auszeichnet und dadurch sogar die Liebe zum Feind mit einschließt.1155 Deshalb fungiert sie vorbildhaft dafür, wie der von Gott geliebte Mensch dazu beitragen kann, dass sich zwischenmenschlich das erfüllt, was sich durch Gott am Einzelnen ereignet hat.1156 Unbedingt zu lieben, wie es sich in der Liebestat Gottes durch Jesus Christus zeigt, erfordert auch die Bereitschaft dazu, schuldig zu werden. Aus diesem Grund korreliert der Ver1151 1152 1153 1154 1155 1156

DBW 6, 231. Anm. 54 i. O.: Vgl. Joh 3,16. A. a. O., 232. Ebd. Vgl. DBW 4, 147. Vgl. DBW 8, 570ff.

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Die Handlungsfreiheit des Menschen im Dienst an Gott

antwortungsbegriff bei Bonhoeffer deutlich mit dem Aspekt der Schuldübernahme.

12.3 Das Wagnis des Handelns und die Bereitschaft zur Schuldübernahme Schon in Webers Konzeption einer Verantwortungsethik scheint die Notwendigkeit zur Bereitschaft auf, Schuld zu übernehmen.1157 Dass Schuldübernahme ein Implikat verantwortungsethischen Handelns ist, kann von ihm nur dadurch begründet werden, dass sich nicht eindeutig feststellen lässt, worin Verantwortung inhaltlich besteht. Dadurch kann es zu Fehleinschätzungen kommen bzw. auch dazu, dass Mittel gewählt werden, die unabwendbare Schuld nach sich ziehen. Eine vertiefende Begründung muss bei Weber auch schon deshalb ausbleiben, weil seine Konzeption von Verantwortungsethik als eine »Ethik der zweiten Linie«1158 vor dem Hintergrund eines Wertehorizontes inhaltlich spezifiziert werden muss. Dies leistet Bonhoeffer in theologischer Hinsicht, wenn er die Bereitschaft zur Schuldübernahme des Menschen christologisch begründet, sie als persönliche Qualität des Menschseins konstatiert und in den größeren Zusammenhang der Schuldvergebung durch Gott integriert. Das Wagnis, schuldig zu werden, kann aus der Sicht des christlichen Glaubens deshalb solchermaßen reflektiert werden, dass darin ein Sinnstiftungspotenzial zum Vorschein kommt, wie mit den folgenden Erwägungen zu explizieren ist. Ebenso wie für die Freiheit des Menschen schlechthin, gilt auch für die christliche Freiheit, dass es für den Verantwortlichen nichts gibt, was ihn davon entlasten könnte, selbst vollumfänglich für sein Entscheiden und Handeln einzustehen. Das beinhaltet, dass er nicht schon prinzipiell von seinem möglichen Fehlverhalten und seiner Schuld freigesprochen wird.1159 Dementsprechend 1157 Vgl. 8.1 Verantwortungsethik als Antwort auf konfliktträchtige Lebenswirklichkeit. 1158 Wolfgang Wieland: Verantwortung – Prinzip der Ethik?, 95; vgl. 8.1 Verantwortungsethik als Antwort auf konfliktträchtige Lebenswirklichkeit. 1159 Dietrich Bonhoeffer ordnet die Begriffe »Sünde« und »Schuld« zwei verschiedenen Daseinsebenen des Menschen zu und unterscheidet sie dadurch voneinander. Die Sünde ist der Ebene des »Seins« zugeordnet, die das Wesen des Menschen betrifft. Die Schuld ist der Ebene des »Akts« zugeordnet, die sich auf das Tun und das Handeln des Menschen bezieht (vgl. Karl Martin: Das in Jesus Christus befreite Gewissen, 135). Die Sünde als die Verkehrung des menschlichen Seins in der Gottesferne ist ein Wesensmerkmal des abgefallenen Menschen und besteht deshalb unabhängig von dessen Tun. Es handelt sich um einen nicht beeinflussbaren Gnadenakt Gottes, dass er den sündigen Menschen rechtfertigt. Verantwortung zeichnet sich demgegenüber durch ein aktives Handeln des Menschen aus. Der Mensch kann durch sein Tun zwar nicht sündig, aber er kann schuldig werden (vgl. DBW 2, 135ff.). Das Verhältnis zwischen »Sünde« und »Schuld« besteht nach Bonhoeffer darin, dass die »Schuld« in den Bereich der »Sünde« gehört: »Weil Menschen

Das Wagnis des Handelns und die Bereitschaft zur Schuldübernahme

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muss auch er darauf verzichten, im Vorfeld einer Tat um ihre tatsächliche Güte zu wissen. Vor dem Hintergrund des bonhoefferschen Verständnisses von dem »Guten«, kann der Mensch ohnehin nur im Bereich des Relativen agieren.1160 Verantwortung als eine freie Entscheidung setzt den Handelnden ins Offene und wird ihm dadurch stets zum Wagnis. Ein solches Wagnis macht den Verzicht auf ein letztes Wissen um »Gut« und »Böse« ebenso unabdingbar wie den Verzicht auf Selbstrechtfertigung. Deswegen kann es sich beim verantwortlichen, wagenden Tun schließlich nur um eines handeln, das sich seiner eigenen begrenzten Legitimität bewusst ist. Der Verantwortliche weiß darum, auf die Güte Gottes, angewiesen zu sein und vollzieht seine Handlung als einen Akt des Vertrauens.1161 Daraus, dass die Freiheit des glaubenden Menschen in einer Beziehung zu der Bindung an Gott steht, erwächst dem Verantwortlichen eine ihn stärkende Kraft dazu, Wagnisse trotz eigener Ängste und Unsicherheiten einzugehen. Mit Risiken umzugehen, die jeder »Entscheidungsverantwortung« innewohnen, bleibt ihm also nicht erspart, aber er darf sich selbst und sein wagendes Handeln vertrauensvoll in seine persönliche Gottesbeziehung hineinbergen.1162 Dabei beansprucht der Gott zugeordnete, verantwortliche Mensch nicht, dessen Pläne zu durchschauen. Abseits eines vermeintlich sicheren Wissens richtet er alles Schaffen auf Gott hin aus und vertraut darauf, am Willen und Wirken Gottes teilhaftig zu werden. In dem Maße, in dem sich der Mensch dazu von der Direktion durch sein eigenes Selbst löst, entsteht Raum dafür, sich von Gott neu ausrichten zu lassen. Hinsichtlich eines verantwortlichen Handelns beschreibt Bonhoeffer diesen Zusammenhang von menschlicher Freiheit und Bindung an Gott folgendermaßen: »Gerade der in der Freiheit eigenster Verantwortung Handelnde sieht sein Handeln einmünden in Gottes Führung. Freie Tat erkennt sich zuletzt als Gottes Tat«1163. Die Synthese aus dem Gottesgehorsam und der Handlungsfreiheit gewährleistet ein Gleichgewicht, mit dem der Gehorsam dem Hang zur Knechtschaft entzogen wird und die Freiheit ihrer Tendenz zur Willkür. Gehorsam zeichnet sich dadurch aus, dass der Gehorchende einem Befehl fraglos entspricht und sich dadurch in seiner Eigenmacht beschränken lässt. Demgegenüber gehört es zur Freiheit, einen offenen Blick zu bewahren, durch den sich der Sinn von Begebenheiten erschließen lässt und schöpferisches – auch wagendes – Tun möglich wird. Zum Wesen des verantwortlichen Handelns gehört es, dass die

1160 1161 1162 1163

im Bereich der Sünde leben und nicht von sich aus über eine irrtumsfreie Orientierung zum Guten verfügen, bedürfen sie der Vorgabe von Normen und Geboten. Die Übertretung von Normen und Geboten macht schuldig« (Karl Martin: Das in Jesus Christus befreite Gewissen, 137, s. a. 138). Vgl. a. a. O., 124f.; 10 Das »Gute« als Sein in der Wirklichkeit. DBW 6, 285. Vgl. 6.2 Das Phänomen Verantwortung zwischen Entscheidung und Haftung. DBW 6, 285.

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Charakteristiken des Gehorsams mit denen der Freiheit spannungsreich verwoben sind.1164 Eine aus Freiheit resultierende Verantwortung geht dann von einem gebietenden Gott aus, »der das freie Glaubenswagnis verantwortlicher Tat fordert und der dem, der darüber zum Sünder wird, Vergebung und Trost zuspricht«1165. Gott fordert also die Bereitschaft des Menschen dazu ein, die jeder Tat innewohnenden ambivalenten Folgen auf sich zu nehmen und für sie einzustehen. Der verantwortliche Mensch richtet sich auf Gott aus und kehrt über den Mittler Jesus Christus zu sich selbst zurück, sodass sich Erkenntnismöglichkeiten hinsichtlich dessen ergeben, was Gott gebietet, und zwar abseits von egohafter Selbstzentrierung. Alles Tun gilt es dann von der Liebe her auszurichten, auch wenn dies bedeutet kann, um ihretwillen schuldig zu werden.1166 Die wahrhaftige Liebe und die Bereitschaft zur Übernahme von Schuld mit all ihren Konsequenzen sind deshalb untrennbar miteinander verbunden.1167 Der Liebende wird schuldig, weil sein Blick nicht mehr vornehmlich auf sich selbst und die eigene Tadellosigkeit gerichtet ist, sondern auf den geliebten Nächsten, mit dem auch unter dem Eindruck von eigener und fremder Schuldigkeit Gemeinschaft gehalten wird. In Jesus Christus hat diese Kohärenz von Liebe und Schuld ihren Ursprung, denn der »Weg Jesu führt in die Schuldübernahme. Wer den Weg Jesu mitgehen möchte, wird es nicht vermeiden können, in Situationen des Schuldigwerdens zu geraten«1168. Jesus will den Menschen nicht in dessen Schuld alleinlassen, sondern stellt sich um seinetwillen trotz eigener Sündlosigkeit mit in die fremde Schuld hinein. Für denjenigen, der sich selbst vor der Übernahme fremder Schuld bewahren will, gilt deshalb, dass er die Zusammengehörigkeit von Liebe und Schuld verkennt. Damit tritt er aus dem »erlösenden Geheimnis des sündlosen Schuldtragens Jesu Christi [heraus] und hat keinen Anteil an der göttlichen Rechtfertigung«1169. Die eigentliche Unschuld des Liebenden besteht gerade darin, Schuld um des anderen willen auf sich zu nehmen und Gemeinschaft mit demjenigen zu halten, der der vorbehaltlosen liebenden Annahme bedarf.1170 Weil »Jesus die Schuld aller Menschen auf sich nahm, darum wird jeder verantwortlich Handelnde schuldig«1171. In dieser Schuld bleibt jeder für sich selbst unvertretbar Einzelner. Diese »Unvermeidlichkeit des Einzelner1164 1165 1166 1167 1168 1169 1170 1171

Vgl. a. a. O., 288f. DBW 8, 24. »Alle eure Dinge laßt in der Liebe geschehen!« (1. Kor. 16, 14). »Wer in Verantwortung Schuld auf sich nimmt – und kein Verantwortlicher kann dem entgehen – der rechnet sich selbst und keinem anderen diese Schuld zu und steht für sie ein, verantwortet sie« (DBW 6, 283). Karl Martin: Das in Jesus Christus befreite Gewissen, 124. DBW 6, 276. A. a. O., 275f. A. a. O., 233.

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seins«1172 begründet sich vom Tod Jesu her und ist verheißungsvoll, weil sie nicht in der Verlassenheit des Kreuzes endet, sondern über sie hinausweist und in die Gemeinschaft mit dem Auferstandenen mündet. Ein Schuldigwerden, das konstitutiv für Bonhoeffers Auslegung von Verantwortung ist, bezieht sich darauf, dass der Mensch mit seinem Handeln das Gesetz Gottes, das sich im Dekalog offenbart, durchbricht.1173 Diese Durchbrechung erfolgt nicht willkürlich, sondern wird vom Handelnden als ein Verstoß erkannt und bewusst begangen.1174 Dieser Verstoß erfolgt nicht prinzipiell, sondern einzelfallbezogen aus der Erkenntnis heraus, dass nicht das Gesetz selbst die höchste Instanz ist, sondern der Gesetzgeber. Das Motiv des Handelns ist also nicht »Leichtfertigkeit, Verachtung achtenswerter Normen, Veränderung der moralischen Maßstäbe – all dies ist nicht das Motiv der Gesetzesdurchbrechung. Motiv ist vielmehr der Wunsch, bei der Absicht des Tuns bleiben zu können«1175.

Die Absicht allen Tuns liegt darin, Gott als die Liebe und die Ordnung alles Lebendigen zu heiligen, indem auf situative Notwendigkeiten mündig reagiert wird.1176 Als das lebendige Gesetz kann Gott dazu auch ein Handeln einfordern, das seiner eigenen Gesetzgebung entgegensteht. Wenn es geboten ist, das Gesetz zu durchbrechen, geschieht dies also nicht aus Missachtung heraus, sondern gerade, um den Gesetzgeber zu heiligen. Dennoch führt die Gesetzesübertretung nicht an einer Schuldigkeit vorbei, weil das Gesetz grundsätzlich gültig bleibt.1177 Auch ein göttliches Gesetz zu überschreiten, ist durch Jesus Christus legitimiert. In der Geschichte Jesu soll die Geschichte des Menschen umgestaltet werden, indem sich Jesus dem Gesetz ergibt und es zugleich durchbricht. Er tritt mit der israelitischen Gottesgemeinde in eine Gemeinschaft ein und stellt sich damit unter das Gesetz. Für Israel meint das Gesetz Gottes die »recht gehörte Berufung«1178. Das Volk ist dazu berufen, heilige Gottesgemeinde zu sein, was wesenhaft Gemeinschaft vorsieht. Wenn der einzelne Mensch jedoch über das Gesetz verfügen will, steht er isoliert außerhalb der Gemeinschaft vor Gott. Er 1172 DBW 7, 259. 1173 Vgl. DBW 6, 297. In Dietrich Bonhoeffers Diktion klingt die Notwendigkeit, schuldig zu werden, folgendermaßen an: »So wird Jesus in der stellvertretenden Verantwortung für die Menschen, in seiner Liebe zum wirklichen Menschen, zum Schuldtragenden, ja zu dem, auf den zuletzt alle Schuld der Menschen fällt und der sie nicht von sich weist, sondern sie demütig und in unendlicher Liebe trägt. […] Weil Jesus die Schuld aller Menschen auf sich nahm, darum wird jeder verantwortlich Handelnde schuldig« (a. a. O., 233 [H. d. V., WLL]). 1174 Vgl. a. a. O., 299. 1175 Karl Martin: Das in Jesus Christus befreite Gewissen, 132 (H. d. V., WLL). 1176 Vgl. DBW 8, 30. 1177 Vgl. DBW 6, 298. 1178 DBW 1, 93.

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verkennt das Gesetz dadurch, dass er versucht, durch seine Gesetzestreue Seeligkeit zu empfangen. Dem Gesetzestreuen ist dann nicht mehr die Gemeinschaft das wesentliche Moment der Gesetzeserfüllung, sondern er löst sich um seines eigenen Vorteils willen aus ihr heraus. Das Gesetz wird auch dadurch von seinem Geber getrennt, dass der Mensch sein Streben an dem Schein ausrichtet, durch eigene gesetzestreue Werke und infolgedessen ohne den lebendigen Gott gerechtfertigt zu werden.1179 Indem sich Jesus selbst unter das Gesetz stellt, hält er Gemeinschaft mit denen, die dadurch Rechtfertigung erwarten. Er tritt also in die mit dem Anschein der Frömmigkeit umhüllte Gottesferne ein. Hierin übernimmt er die Schuld des Gesetzestreuen und bewahrheitet mit seinem eigenen Leben, dass nicht das Gesetz zur Auferstehung führt, sondern der Glaube.1180 Dadurch führt er den Gesetzesanhänger mit sich zurück in die Gottesgemeinschaft.1181 Jesus zeigt also auf, dass es sich bei unbedingter Gesetzestreue, die abseits von wahrhaftiger Gemeinschaft zu halten versucht wird, um einen Missbrauch des Gesetzes handelt. Das Gesetz dient dann der Heiligung Gottes, wenn sich der Einzelne in liebender Hingabe dem Dienst an der Gemeinschaft verschreibt. Nur dadurch vermag das Volk Gottes seine Berufung zu erfüllen. Alles, was abseits dieses Gemeinschaftsstrebens liegt, hat isolierenden Charakter und lässt das Gesetz dadurch zum Fluch werden. Jesus nimmt diese Isoliertheit stellvertretend auf sich. Er stirbt den Kreuzestod als ein Isolierter, dessen Verlassenheit von Gott und den Menschen auf den Missbrauch des Gesetzes hinweist. Gerade darin erweist sich die »Stellvertretung« als das »neue Lebensprinzip«1182, das sich gänzlich an der Liebe orientiert, die sich als eigentliche Triebkraft jeder Gesetzesmäßigkeit offenbart.1183 Demgemäß ist es dem Verantwortlichen aufgetragen, die Schuld des israelitischen Volkes nicht dadurch zu wiederholen, dass er sich von anderen isoliert. Er soll Gemeinschaft inmitten der Schuld halten und jedes Handeln an der Liebe orientieren, damit es gottgemäß ist. Eine Verantwortung dieser Art ist weder prinzipiell an ein Gesetz gebunden noch ist sie rein situativ. Sie orientiert 1179 »Daß aber durchs Gesetz niemand gerecht wird vor Gott, ist offenbar ; denn ›der Gerechte wird aus Glauben leben‹ (Habakuk 2, 4). Das Gesetz aber ist nicht ›aus Glauben‹, sondern: ›der Mensch, der es tut, wird dadurch leben‹ (3. Mose 18, 5). Christus aber hat uns erlöst von dem Fluch des Gesetzes, da er zum Fluch wurde für uns« (Gal. 3, 11–13 a). 1180 »Weil es Jesus nicht um die Proklamation und Verwirklichung neuer ethische Ideale, also auch nicht um sein eigenes Gutsein (Mt 19[,17]!), sondern allein um die Liebe zum wirklichen Menschen geht, darum kann er in die Gemeinschaft ihrer Schuld eintreten, sich mit ihrer Schuld belasten lassen« (DBW 6, 275). 1181 »Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und unter das Gesetz getan, damit er die, die unter dem Gesetz waren, erlöste, damit wir die Kindschaft empfingen« (Gal. 4, 4f.). 1182 Vgl. DBW 1, 92. 1183 Vgl. a. a. O., 92ff.

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sich an der Haltung Jesu. Dieser ging mit dem Gesetz und der konkreten Situation vollmächtig um, ohne sich einem von beiden gänzlich hinzugeben, sondern unterstellte all sein Tun aus seiner Freiheit heraus der Gottesbezogenheit.1184

12.4 Verantwortliches Handeln als mündiges Handeln Obschon ethisches Fragen verhältnisbezogenes Fragen ist, also auf (soziale) Wechselseitigkeiten abzielt, kennzeichnet den Verantwortungsbegriff ebenso, dass er sich auch explizit auf den Verantwortungsträger bezieht. Dementsprechend ist er nicht vollumfänglich an reziproke Bedingungen geknüpft. Die bisherigen Erwägungen haben gezeigt, dass Bonhoeffer die ineinandergreifenden sozial- und individualethischen Aspekte von Verantwortung bedenkt, indem er Bindung und Freiheit zueinander ins Verhältnis setzt: »Das Bindungsmoment der Verantwortung konkretisiert sich als Stellvertretung, als Wirklichkeitsgemäßheit und als Schuldübernahme. Das Freiheitsmoment gewinnt Gestalt als Wagnis, als Ausliefern der Tat, als Offenbleiben der Sinnfrage.«1185

Zwischen diesen Polen spannt Bonhoeffer ein Verantwortungsverständnis aus, das er durchgehend christologisch begründet. Eine Verantwortung, die an Jesus Christus gebunden wird, kann aber nur dann aktualitätsbezogen ausgelegt werden, wenn sich Christus gegenwärtig erfahren lässt. Gegenwärtigkeit zeichnet sich nach Bonhoeffer insbesondere durch die »Mündigkeit« des Menschen aus, die sich auch in dessen Religionslosigkeit zeigt. Es geht also nicht nur darum, Jesus Christus gegenwärtig zu erfahren. Seine Präsenz muss sich auch abseits des Religiösen verorten lassen. Hierfür setzt Bonhoeffer den Begriff des »Daseins-für-andere« ein. Wenn sich der Mensch nach dem Vorbild Jesu Christi hingibt, wird dieser gegenwärtig. Über das »Dasein-für-andere« eröffnet sich ein Zugang zur Transzendenz, der sich zwischenmenschlich erfahren lässt. Gottes Wesen kann in der vorbildhaften Handlung Jesu am anderen lebenswirklicher erschlossen werden als in einem Wort oder einer Idee über Gott.1186 Deshalb kann der Mensch Gott auch nur dort begegnen, wo er dem anderen Menschen begegnet. Das heißt, in der Begegnung zwischen Menschen wird Gott konkret erfahrbar.1187 In diesem Sinne versucht Bonhoeffer Transzendenz mit dem christologischen Titel des »Daseins-für-andere« als eine Form von Nähe aus1184 1185 1186 1187

Vgl. Georg Huntemann: Der andere Bonhoeffer, 198. Wolfgang Huber : Konflikt und Konsens, 144. Vgl. Ronald Gregor Smith: Diesseitige Transzendenz, 106. Vgl. a. a. O., 114.

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zulegen.1188 Weil die Hinwendung von Menschen zueinander konstitutiv für sie als gemeinschaftsbezogene Wesen ist, bleibt der Aufruf, sich einander hinzugeben, zeitlos relevant. Darin hat Jesus dem mündigen Menschen eine Möglichkeit an die Hand gegeben, die Transzendenz Gottes auch in einer religionslosen, gar gottlosen Welt konkret auszudrücken. Als ein Mündiger im Glauben soll sich der Mensch (religiös) nicht festlegen lassen oder eine bestimmte Moral verfolgen. Beides begünstigt Separierungstendenzen, die die Beziehung zu Gott und den Mitmenschen schwächen. Es käme zu einer Kultivierung von Gottesferne, weil der Mensch Gott damit »in nicht heilsgeschichtlichen Weltanschauungen, in Konfessionen und Konfessionalismus oder in irgendeiner religiösen Bedürfnisbefriedigung fixieren [will]. Das ist im Grunde gottlos, ist Lebenslüge, ist unevangelisch und nicht Communio sanctorum«1189.

Dem Mündigen im Glauben sind also nicht die von Menschen erschaffenen religiösen Strukturen wegweisend, sondern er nimmt das freie Wagnis des Glaubens an, das alles Schaffen und Sein unter das Kriterium der Liebe stellt. Einem diesem Kriterium gemäßen Handeln geht voraus, dass der Mensch sein eigenes Menschsein dadurch annimmt, dass er die Liebe Gottes an sich selbst geschehen lässt. Dieses Geschehenlassen ist eine Gnade des Glaubens und erfolgt zunächst ohne ein über die Hingabe hinausgehendes Zutun des Menschen. Indem der Mensch schließlich durch hingebungsvolle Gemeinschaft darauf antwortet, wird Verantwortung zur verwirklichten Liebe Gottes zu den Menschen und das verantwortliche Tun untereinander wird zum Zeichen für die Liebe der Menschen Gott gegenüber. Ebenso wie Gott selbst lässt sich auch die von ihm her bestimmte Liebe nicht systematisieren. Mit Georg Huntemann kann allerdings festgehalten werden, dass Liebe und Gerechtigkeit einander kontrollieren: »Gerechtigkeit ohne Liebe ist Brutalität. Liebe ohne Gerechtigkeit ist Sentimentalität. Das Zueinander von Liebe und Gerechtigkeit ist das Eigentliche in der Nachfolge Christi«.1190 Eine Verantwortung, die es wagt, Liebe und Gerechtigkeit zueinander ins Verhältnis zu setzen, beinhaltet, dass Schuld unumgänglich wird, weil es kein Gesetz gibt, das dem Verantwortlichen Deckung verspricht. Weil er sich darüber im Klaren ist, dass Vergebung ausschließlich von Gott her erfolgen kann, liefert sich der Mensch mit seinem Schuldigwerden an Gott aus.1191 Die äußerste Hingabe realisiert sich dann, wenn das Handeln vollständig dem situativ Gebotenen unterstellt wird, ohne sich abseits von der Gottesbeziehung absichern zu wollen. Die unvermeidlichen Folgen werden dann Gott anheim gestellt, an den sich der Mensch gebunden hat. Demgemäß liegen 1188 1189 1190 1191

Vgl. Ernst Feil: Die Theologie Dietrich Bonhoeffers, 209. Oskar Hammelsbeck: Zu Bonhoeffers Gedanken über die mündig gewordene Welt, 54. Georg Huntemann: Der andere Bonhoeffer, 166. DBW 6, 274f.

Verantwortliches Handeln als mündiges Handeln

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Weisung und Gericht in seiner Hand und der Mensch weiß sich allein ihm gegenüber verpflichtet. Zu solchem Handeln ist nur derjenige fähig, der in der Bindung an Gott selbstlos und frei geworden ist.1192 Für ihn klärt sich Gottes gegenwärtiges Gebieten einzelfallbezogen und unter Berücksichtigung dessen, was dem Nächsten in Hinblick auf sein Leben dient.1193 Die »doppelte Verweisung« von Verantwortung, die oben schon theologisch konkretisiert wurde, lässt sich mit Bonhoeffer über den Stellvertretungsgedanken inhaltlich fundieren. Weil Jesus Christus für den Menschen vor Gott einstand und damit dessen Schuld stellvertretend auf sich nahm, ist es dem Menschen aufgetragen, nach diesem Vorbild zu handeln. Das Dableiben des Menschen bei einem anderen begründet sich demzufolge nicht mehr nur von der freien Entscheidung her, das unbedingte »Bei-sich-selbst-sein« durch Nächstenliebe veräußern zu wollen.1194 Die »Lebensbeziehung«1195 zum anderen Menschen wird aufgenommen, weil sie von Jesus Christus her geboten ist. In ihrer gebotenen Form geht sie aber nicht darin auf, bei dem anderen zu bleiben, sondern sie verwirklicht sich erst dann, wenn das Dableiben stellvertretend erfolgt, d. h. für den anderen. Dadurch verlebendigt sich die Erkenntnis des Menschen, dass sich sein eigenes Recht auf Selbstbehauptung nur daraus ergibt, dass er sein Leben hingibt und sein eigenes Wohl, dem Wohl der Gemeinschaft zuordnet. Die »Mündigkeit« im Glauben befähigt zu dem Verzicht darauf, nach einer (religiösen) Gesetzestreue zu streben, die vermeintlich zur eigenen Seeligkeit führt. Hingabe bildet ab, dass sich der Mensch vollumfänglich auf Gott und diejenige Gemeinschaft angewiesen versteht, in die Gott ihn hineingestellt hat. Der Weg des mündigen Menschen erfolgt deshalb abseits von (religiösen) Scheinwegen.1196 Auf der Grundlage der hier schlussfolgernd zusammengefassten Gesichtspunkte lässt sich als dritter Aspekt zur Bestimmung von Verantwortung Folgendes festhalten: Verantwortlich handelt der im Glauben mündig gewordene Mensch, der konkrete Entscheidungen aus Liebe heraus wagt und sich die Folgen seines Handelns selbst zurechnet. Diese Grundlegung ist zwar theologisch folgerichtig, aber die Frage des praktischen Vollzugs ist damit noch nicht hinreichend geklärt. Davon ausgehend, dass es sich bei Liebe um das Kriterium für Verantwortung schlechthin handelt, generiert die Interpretationsoffenheit des Liebesbegriffs ein eigenes ethisches Problem. Auch unter dem Auftrag des »Daseins-für-andere« muss sich der Mensch dahin gehend befragen, wie sich diese Nächstenliebe wirklichkeitsgemäß umsetzen lässt. Zwar gehört es auch zum Wesen der Verantwortung, 1192 1193 1194 1195 1196

Vgl. a. a. O., 256. Vgl. Wolfgang Huber : Konflikt und Konsens, 144. Vgl. 9.3 Akzeptanz als Ausdruck christlicher Liebe. Helmut Kuhn: Liebe, 11. Vgl. 8.1 Verantwortungsethik als Antwort auf konfliktträchtige Lebenswirklichkeit.

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Die Handlungsfreiheit des Menschen im Dienst an Gott

dass diese Frage prinzipiell unbeantwortet bleibt und sich auch situationsabhängig nur vermuten lässt, welches Handeln tatsächlich geboten ist.1197 Aber damit ist ein hoher persönlicher Anspruch verbunden, den Bonhoeffer mit seinem voraussetzungsreichen Verständnis von Verantwortung an den Menschen stellt. Zu einem Mündigen im Glauben kann nur derjenige werden, der erstens über bestimmte Qualitäten des Menschseins verfügt und deren Handlungsmotivation sich zweitens konsequent aus seinem Glauben ergibt. Anders ausgedrückt: Ein ungebeugter Gottesglaube gepaart mit innerer persönlichen Festigkeit können den Menschen dazu befähigen, Verantwortung nach bonhoefferschem Verständnis zu (er-)tragen. Bonhoeffer stellt mit seinen Überlegungen zum Verantwortungsbegriff also stark auf die Persönlichkeit des Einzelnen ab.1198 Zwar ist der Mensch grundsätzlich diejenige Instanz, von der Handlungen ausgehen, die sich als verantwortlich oder als unverantwortlich herausstellen. Mit seinem über die alltägliche Bedeutung hinausweisenden Verantwortungsverständnis fordert Bonhoeffer – wenn auch implizit – aber ein Zusätzliches ein, nämlich eine besondere Persönlichkeitskonstitution des Menschen, der verantwortlich handelt. Die dargelegten Elemente des theologischen Begründungszusammenhangs, in den das Verantwortungsthema bei Bonhoeffer eingebettet ist, kulminieren in der »Gleichgestaltung« des Menschen mit Jesus Christus. Was darunter zu verstehen ist, wird im Folgenden erörtert.

1197 Klaus Bonhoeffer war in die Umsturzversuche des 20. Juli 1944 miteinbezogen. Um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, vermied er es u. a., seinem Bruder in der Haft Briefe zu schreiben. Darauf nimmt Dietrich Bonhoeffer am 08. Juni 1944 gegenüber Eberhard Bethge Bezug, indem er schreibt: »Sieh mal, Gründe dafür, etwas nicht zu tun, gibt es immer ; die Frage ist es doch, ob man es trotzdem tut. [Anm. 6 i. O.: Vgl. dazu Prolog 24; DBW 6 (E), 315–322f. u. ö.] Wenn man nur das tun will, wofür alle Gründe sprechen, wird man nicht zum Tun kommen, bzw. wird das Tun nicht mehr nötig, da es andere einem schon abgenommen haben. Jedes wirkliche Tun ist doch ein solches, das kein anderer, sondern nur man selbst tun kann« (DBW 8, 475 [H. i.O.]). Die Ursache für ein Zögern, das von einem »unsicheren« Tun abhält, besteht wiederum in dem Versuch, »Gut« und »Böse« voneinander zu unterscheiden und gründet in der Selbstüberschätzung des Menschen. Wenn der Mensch seinen Blick von Gott abwendet, indem er vornehmlich auf sich selbst und seine eigenen Beurteilungen schaut, kann er über seine Handlungsoptionen auch nur noch auf der Grundlage seiner eigenen begrenzten Erwägungsmöglichkeiten entscheiden. Er ist nicht mehr dafür offen, seine Entscheidungen an dem gegenwärtigen Gebieten Gottes auszurichten (vgl. DBW 6, 316). Der Mensch fragt dann nur vordergründig nach dem Gotteswillen, weil er die Bedingungen seines Fragens selbst festlegt, anstatt die Bedingungen anzunehmen, die von Gott her an ihn ergehen (vgl. 8.3 Verantwortungsethik als fragende Ethik). 1198 Vgl. V. Zur Relevanz der Schnittstelle von Mediation und Theologie.

13

Der verantwortliche Mensch

13.1 Persönliche Voraussetzung zur Verantwortungsfähigkeit Eine an Jesus Christus ausgerichtete und durch ihn gewirkte Menschwerdung bezeichnet Bonhoeffer als »Gleichgestaltung«. Gleichgestaltet zu sein, beinhaltet nicht, dass der Mensch göttlich sein soll. Die dargelegten theologischen Erwägungen schließen dieses Missverständnis schon deshalb aus, weil alles verantwortliche Handeln christologisch hergeleitet wird. In Jesus wurde Gott Mensch und ließ das menschliche Leben vollumfänglich an sich selbst geschehen. Dadurch kann es für den Menschen nur noch darum gehen, ebenfalls ganz Mensch zu werden.1199 Weil an den Menschen gerade kein göttlicher Anspruch gestellt wird, begrenzt sich auch sein Verantwortungsauftrag auf den Bereich dessen, was er tatsächlich zu tun vermag. Es geht also weder darum, die Welt zu verändern, noch darum, sich selbst durch bestimmte Verhaltensformen zu erlösen, denn wir »sind gewiß nicht Christus und nicht berufen, durch eigene Tat und eigenes Leiden die Welt zu erlösen«1200. Tatsächliche »Gleichgestaltung« schützt den Menschen also vor maßlosen Ausdehnungstendenzen der Verantwortung1201, indem sie den Blick dafür bewahrt, ein Diener Gottes zu sein. Solchermaßen an dem Gekreuzigten und Auferstandenen Anteil zu nehmen, bedeutet, »daß wir an der Weite des Herzens Christi teilbekommen sollen in verantwortlicher Tat, die in Freiheit die Stunde ergreift und sich der Gefahr stellt«1202. Das Ego wird preisgegeben, damit sich das eigene menschliche Sein in 1199 »Der Mensch wird Mensch, weil Gott Mensch wurde. [Anm. 76 i. O.: Daß der Mensch auf Grund der Inkarnation, der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus, in vollem Sinne Mensch werde, ist im Protestantismus um 1940 eine seltene Überzeugung.] Aber der Mensch wird nicht Gott. Nicht er also konnte und kann den Wandel seiner Gestalt vollbringen, sondern Gott selbst verwandelt seine Gestalt in die Gestalt des Menschen, damit der Mensch zwar nicht Gott, aber Mensch vor Gott werde« (a. a. O., 83). 1200 DBW 8, 34. 1201 Vgl. 6.3 Lebensweltliche Komplexität und die Verantwortung des konkreten Menschen. 1202 Ebd.

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wirklichkeitsgemäßer und deshalb christusgemäßer Form erneuern kann. Die »Gleichgestaltung« vollzieht sich also erst mit dem Gekreuzigten und dann mit dem Auferstandenen, wobei sich die Erlösung zum neuen Menschseins in das alte hineinvollzieht. In Bonhoeffers Diktion klingt dies folgendermaßen: »Gleichgestaltet mit dem Auferstandenen – das heißt vor Gott ein neuer Mensch sein. Er lebt mitten im Tode, er ist gerecht mitten in der Sünde, er ist neu mitten im Alten. Sein Geheimnis bleibt der Welt verborgen. Er lebt, weil Christus lebt, und allein in Christus.«1203

»Gleichgestaltung« beinhaltet deshalb das oben erläuterte »zugleich«.1204 Dieser neue Mensch unterscheidet sich äußerlich nicht von anderen. Ihn macht keine besondere Tugendhaftigkeit aus und er ist auch kein besserer Mensch, sondern ein Mensch schlechthin.1205 Er nimmt das Menschsein innerhalb der Wirklichkeit solchermaßen an, wie es ihm durch Gott gegeben ist und erfüllt seinen Dienst an dem Ort in der Welt, an den er gewiesen ist, ohne dabei etwas Besonderes aus sich machen zu wollen.1206 Er nimmt gerade keine gesinnungsethische Haltung ein, sondern rechnet mit den »durchschnittlichen Defekten der Menschen«1207, einschließlich und besonders seiner eigenen. Er gibt sich also nicht der Illusion hin, dass sich sein eigenes »Gutsein« nach den Maßstäben der Welt gerade durch die »Gleichgestaltung« ereignen könnte. Er bleibt also demütig und »kann sich über keinen anderen Menschen erheben oder sich ihm zum Vorbild setzen; denn er erkennt sich als den größten aller Sündern. Die Sünde der anderen vermag er zu entschuldigen, seine eigene nie. Alles ihm auferlegte Leiden trägt er in der Erkenntnis, daß es ihm dazu dient, mit seinem eigenen Willen zu sterben und Gott über sich rechthaben zu lassen«1208.

Für die »Gleichgestaltung« ist es also konstitutiv, dass sie sich abseits des menschlichen Strebens danach ereignet, Jesus ähnlicher zu werden. Über »Gleichgestaltung« lässt sich nicht durch eigene Anstrengungen verfügen. Sie kann nur geschehen, indem Jesus Christus als der tatsächlich Gestaltende verändernd auf das menschliche Dasein einwirkt.1209 Damit ist »Gleichgestaltung« ein Akt der Gnade. Die Paradoxie, dass der Mensch unter dem Einsatz seines Lebensganzen gestaltend in die Weltwirklichkeit eingreifen soll und ihm »zu1203 1204 1205 1206 1207

DBW 6, 82. Vgl. 9.2 Der Mensch als gerechtfertigtes Wesen vor Gott. Vgl. a. a. O., 83. Vgl. 12.1 Der Mensch als mündiges Wesen vor Gott. GPS 552; Vgl. 8.1 Verantwortungsethik als Antwort auf konfliktträchtige Lebenswirklichkeit. 1208 DBW 6, 82. 1209 Vgl. a. a. O., 81.

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gleich« alle Gestaltungsmacht entzogen ist, weil sie allein in Gottes Hand liegt, bleibt unauflöslich bestehen. Zwar ist diese Dialektik von dem Geheimnis des Christusgeschehens umfangen, aber sie beansprucht den verantwortlichen Menschen ganz konkret. In der Schrift Nach zehn Jahren1210 finden sich Hinweise dazu, was im Bereich der Persönlichkeit eines Menschen gewährleistet sein muss, damit dieser die unvermeidlichen Spannungen zwischen verschiedenartigen wirklichkeitsgemäßen Geltungsansprüchen aushalten kann. Bonhoeffer hatte sie einigen Freunden als Weihnachtsgeschenk an der Wende des Jahres 1942/43 zugedacht. Darin hinterfragt er : »Wer hält stand?«1211. Mit dieser Frage hat er die gesellschaftspolitische Situation seiner Zeit vor Augen. Unter dem Eindruck des zweiten Weltkrieges hat die »große Maskerade des Bösen«, so setzt Bonhoeffer mit seinen Antwortversuch ein, »alle ethischen Begriffe durcheinander gewirbelt«. Weil das »Böse« auch die »Gestalt des Lichts, der Wohltat, des geschichtlich Notwendigen, des sozial Gerechten«1212 annimmt, verschärft sich der Anspruch an den verantwortlichen Menschen. Obschon sich die Brisanz dieser Frage aus ihrer historischen Kontextualisierung ergibt, hat sie nicht an Aktualität eingebüßt, weil sich für jede Zeit klären lassen muss, was einen Menschen ausmacht, der zum Verantwortlichen wird. Wer vermag es also, sich der »Maskerade des Bösen«1213 entgegenzustellen, sogar dann, wenn sie die Gestalt des »Guten« annimmt und dadurch ethische Verwirrung stiftet? Mit dieser grundlegenden Frage erreicht die bonhoeffersche Auffassung von Verantwortung ihren Höhepunkt, weil sich innerhalb der Person entscheidet, ob sie verantwortlich oder unverantwortlich handelt. Die Einzelaspekte des Antwortversuchs werden im Folgenden zusammenfassend exzerpiert. 1210 Eberhard Bethge weist in dem Vorwort zu Widerstand und Ergebung darauf hin, dass »schon Warnungen, vor allem an Hans von Dohnanyi, ergangen [waren], daß das Reichssicherheitshauptamt auf Verhaftung dränge und Material zur Unterlage sammle. Zwischen Dachziegeln und Sparren hat dieses Schriftstück Hausdurchsuchungen und Bomben überstanden: Ein Zeugnis von dem Geist, in dem man damals gehandelt und dann auch gelitten hat« (Dietrich Bonhoeffer : Widerstand und Ergebung, 8). 1211 DBW 8, 20. In nahezu identischer Weise diskutiert Dietrich Bonhoeffer die Qualitäten einer verantwortlichen Person in dem Manuskript Ethik als Gestaltung (vgl. DBW 6, 62–90). 1212 Alle Zitate a. a. O., 20. 1213 Die Lebenssituation Dietrich Bonhoeffers und seiner Zeitgenossen war von einer ethischen Verwirrung geprägt. Als die »Maskerade des Bösen« bezeichnet Bonhoeffer die Tarnung des abgrundtief »Bösen« im vordergründig »Guten« (vgl. Karl Martin: Das in Jesus Christus befreite Gewissen, 117). Zwar steht die ethische Verwirrung, die die lebensweltlichen Bedingungen des heutigen Menschen kennzeichnet, nicht mehr unter dem unmittelbaren Eindruck des Nationalsozialismus, aber – wie oben ausgeführt – hat der Sachverhalt, sich orientieren zu müssen, um zu verantwortlichen Entscheidungen zu gelangen, nicht an Aktualität und Dringlichkeit verloren (vgl. 6.3 Lebensweltliche Komplexität und die Verantwortung des konkreten Menschen).

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Bonhoeffer stellt verschiedene Typen von Handlungsmaximen vor und durchdenkt, inwieweit diejenigen Personen, die ihnen gemäß handeln, den Verantwortungserfordernissen standhalten können: Vor der Übernahme von Verantwortung kapituliert der Vernünftige, weil er versucht, allen Seiten Recht widerfahren zu lassen. Angesichts der verschiedenartigen Gewalten, die aufeinanderprallen, muss er schließlich aufgeben. Der ethische Fanatiker tritt der Macht des Bösen mit der Reinheit des eigenen Prinzips entgegen. Dabei verliert er aber die ganze Dimension der Gegenmacht aus den Augen und muss sich angesichts des klügeren Gegners ergeben. Der Gewissenhafte gerät in unlösbare Konflikte des Abwägens. Indem er sich sein Gewissen zur einzigen Weisung werden lässt, fehlt es ihm an einer Beratung, die ihn davor bewahrt, sich im Kampf gegen die unzähligen Formen des »Bösen« zu entscheiden, ohne dabei zerrissen zu werden. Seine Gutmütigkeit führt dazu, entweder eine Niederlage in Kauf nehmen zu müssen oder sich mit Selbstbetrug abzufinden. Der Pflichtgemäße versteht sich lediglich als Ausführender eines Befehls, entgeht so dem Wagnis der freien Verantwortung und weist jede Verantwortung von sich weg hin auf den Befehlsgeber. Er ist unfähig dazu, selbst Verantwortung zu tragen. Der in eigener Freiheit Handelnde setzt sich in seinem radikalen und opferbereiten Tun der Gefahr aus, mit seiner vollständig autonomen Einschätzung nicht klar erkennen zu können, welches Handeln dem angestrebten Ziel tatsächlich dient. Der Tugendhafte, der sich auf seinen privaten Raum zurückzieht, vermag zwar innerhalb dieser engen Grenzen dem Gesetz Gottes zu dienen. Vor dem Unrecht um ihn herum wird er sich allerdings selbstbetrügerisch verschließen müssen, wenn er nicht an der Unruhe über seine Unterlassungen zugrunde gehen will.1214 Im Ergebnis zeigt sich, dass die Handlungsmaximen zwar nicht grundsätzlich falsch sind, aber sie können nur Teilantworten darauf geben, wie sich verantwortliches Handeln ausdrücken muss. Alle Prinzipien erweisen sich dann als unzulänglich, wenn sie zum vornehmlichen Entscheidungskriterium erhoben werden. Weil sich Verantwortung für Bonhoeffer auf das Lebensganze bezieht, fordert sie vollumfänglichen persönlichen Einsatz ein, der sich von einem vorausschauenden Abwägen bis hin zur Folgenübernahme erstreckt. Deshalb sucht er nach einer erklärenden Beschreibung für jene Lebenskraft, die den Menschen zu dieser ganzheitlichen Verantwortung befähigen kann.1215 Dafür, den Herausforderungen des verantwortlichen Handelns gegenüber bestehen zu können, hält Bonhoeffer es für notwendig, Einfalt und Klugheit miteinander zu verbinden. Einfalt zeichnet sich dadurch aus, dass sie die Wirklichkeit allein unter dem Eindruck der Wahrheit Gottes wahrnimmt. Klugheit zeigt sich darin, die Realitäten unbefangen und schonungslos anzu1214 Vgl. DBW 6, 70ff.; DBW 8, 21f., Begriffe übernommen (H. z. S., WLL). 1215 Vgl. Karl Martin: Das in Jesus Christus befreite Gewissen, 121.

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sehen. Wenn beide zusammenkommen, ergibt sich die innere Klarheit und Eindeutigkeit, die den Menschen des »ungeteilten Herzens«1216 dafür qualifiziert, verantwortlich zu sein.1217 Indem der Mensch seinen Blick dergestalt auf Gott hin ausrichtet, als habe er von einer Welt außerhalb Gottes nichts zu erwarten, nimmt er alles Wirkliche in dieser Ausrichtung wahr, sieht also die Wirklichkeit in Gott. Die Liebe Gottes deckt die begrenzte Kompatibilität von Prinzipien und Wirklichkeit auf und der Mensch wird davon befreit, sich prinzipiengebunden anweisen zu lassen. Aus der Gottesbeziehung heraus gelingt es dann, durch die Konflikte des ethischen Entscheidens hindurch, zu Handlungen zu finden, die ihrem Wesen nach ganz in der Welt ihren Platz finden und doch darüber hinaus auf Gott hinweisen.1218 Einerseits ist also eine Klugheit des Menschen gefragt, die die Sachzusammenhänge des Wirklichen dezidiert durchdringt. Andererseits bedarf es einer Einfalt, die den Blick des Menschen auf Gott freihält und dem Bestreben entgegensteht, etwas aus sich selbst zu machen.1219 Die Frage danach, wer standhält, beantwortet Bonhoeffer vor dem Hintergrund des Zusammenwirkens von Einfalt und Klugheit folgendermaßen: »Allein der, dem nicht seine Vernunft, sein Prinzip, sein Gewissen, seine Freiheit, seine Tugend der letzte Maßstab ist, sondern der dies alles zu opfern bereit ist, wenn er im Glauben und in alleiniger Bindung an Gott zu gehorsamer und verantwortlicher Tat gerufen ist, der Verantwortliche, dessen Leben nichts sein will als eine Antwort auf Gottes Frage und Ruf.«1220

Es hat sich gezeigt, dass Bonhoeffer Verantwortung als etwas Uneindeutiges, gar Unreines beschreibt. Dabei versucht er nicht, die letzte Unklarheit über die Güte einer Handlung oder die Tatsache ihrer ambivalenten Folgen aufzulösen, sondern er deutet beides als nicht eliminierbare Bestandteile von Verantwortung. Jeder Verantwortliche muss deshalb dazu bereit sein, beides anzunehmen und zu tragen.1221 Die persönliche Disposition des Verantwortungsträgers vereint deshalb Demut als Gehorsam gegen Gott und Tatkraft als Bereitschaft dahin 1216 DBW 6, 67. 1217 Die Interdependenz von Einfalt und Klugheit zeigt sich auch in der Spannungseinheit der persönlichen Qualitäten eines Verantwortungsträgers bei Max Weber (vgl. 8.1 Verantwortungsethik als Antwort auf konfliktträchtige Lebenswirklichkeit). Als allgemeine ethische Komponente gilt: »Klugheit ohne Moral ist blind. Moral ohne Klugheit ist leer« (Andreas Luckner: Klugheitsethik, 208). Die Moralitätskomponente legt Dietrich Bonhoeffer als die Existenzbindung des Menschen an Gott aus. Indem er den Terminus »Einfalt« verwendet, postuliert er keine prinzipiellen Moralvorstellungen, sondern richtet Moralität am gegenwärtigen Gebieten Gottes aus, dem der »Einfältige« unbedingt zu entsprechen hat. 1218 Vgl. DBW 6, 67f. 1219 Vgl. a. a. O., 68. 1220 DBW 8, 23. 1221 Vgl. 12.3 Das Wagnis des Handelns und die Bereitschaft zur Schuldübernahme.

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gehend, eine verantwortliche Handlung samt all ihrer Implikationen auch durchzuführen. Die Unsicherheit, der gegenüber ein solcher Mensch standzuhalten hat, lässt sich auf das Höchstmaß an Situationskomplexität zurückführen. Der bonhoeffersche Verantwortungsbegriff lässt ein Maximum an (verantwortungsvoller) Interpretations- und damit auch Missbrauchsoffenheit zu. Es werden Handlungsfreiheiten eröffnet, deren Mannigfaltigkeit den Verantwortlichen in außerordentlicher Weise herausfordern kann. Jede Entscheidung muss aus mündiger Freiheit heraus getroffen und auf Gottes Gnade hoffend eigens verantwortet werden.1222 Weil Jesus Christus dem Verantwortlichen zum Gesetz im Geiste geworden ist1223, nimmt der Faktor Situativität deutlich zu, wodurch sich Interpretationskonflikte mehren. Die verantwortliche Tat zeichnet sich dadurch aus, dass sie ein »relativ Besseres« einem »relativ Schlechteren« vorzieht und dementsprechend Zeugnis darüber ablegt, dass ein absolut »Gutes« unerreichbar bleibt. Dass ein eindeutiges Wissen darum, ob Handlungen tatsächlich dem gegenwärtigen Gebieten Gottes entsprechen, ausbleibt, deutet Bonhoeffer als einen integralen Bestandteil von Verantwortung. Deshalb konstatiert er auch, dass es »schwierig oder unmöglich […] ist, von außen her zu beurteilen, ob in einem konkreten Fall verantwortlich oder schwärmerisch beziehungsweise gesetzlich gehandelt wird«1224. Weil er die verantwortliche Entscheidung vollkommen im Bereich des Individuellen verortet, kann lediglich eine Form von Selbstprüfung eine – wenn auch begrenzte – Beurteilungsmöglichkeit bieten. Zur Selbstprüfung gehört das Bewusstsein, dass Verantwortung in keinem Fall prinzipiell begründet sein darf, weil der konkrete Ruf Jesu nicht als Prinzip erfolgt. Darüber hinaus gilt es, die eigenen charakterlichen Anlagen zu kennen und sich der Gefahr zu verwehren, die daraus resultierenden natürlichen Verhaltenstendenzen mit dem Ruf Jesu zu verwechseln. Die Selbstprüfung mündet schließlich in der Erkenntnis, dass nicht der Blick auf sich selbst zur Verantwortung befreit, sondern gerade der Blick von sich weg, hin auf einen Gott, der dazu herausfor1222 Die Frage seines in den Widerstand involvierten Schwagers Hans von Dohnanyi, ob das Bibelwort »Denn wer das Schwert nimmt, der soll durchs Schwert umkommen« (Matth. 26, 52) auch für sie gelte, die sie sich für das Recht einsetzen, bejaht Dietrich Bonhoeffer. Zugleich verweist er aber darauf, dass es solcher Menschen bedarf, die dazu bereit sind, schuldig zu werden und auch die letzten Konsequenzen zu tragen (vgl. Christian Gremmels u. a.: Dietrich Bonhoeffer, 13). 1223 »Denn ich bin durchs Gesetz dem Gesetz gestorben, damit ich Gott lebe. Ich bin mit Christus gekreuzigt. Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Denn was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich dahingegeben. Ich werfe nicht weg die Gnade Gottes; denn wenn die Gerechtigkeit durch das Gesetz kommt, so ist Christus vergeblich gestorben« (Gal. 2, 19–21). 1224 DBW 6, 295.

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dert, zu handeln, als gäbe es ihn nicht.1225 Deshalb wäre die Selbstprüfung auch missverstanden, wenn sie vornehmlich um einer Eigenerkenntnis willen erfolgt, durch die der Mensch überprüfen will, was er an sich selbst und der Welt zu leisten vermag. Sich selbst zu befragen, muss vielmehr darauf abzielen, sich über das »Wirklichkeitsgemäße« aufzuklären. Das beinhaltet, dass Selbstprüfung von sich weg weist. Weil die Wirklichkeit unabhängig vom Handeln des Menschen besteht, muss auch nicht erst nach Aufgaben für verantwortliches Tun gesucht werden, sondern sie ergeben sich aus den Geschehnissen heraus. Darin bewahrheitet sich die Erkenntnis, »daß Gott als unüberbietbare Wirklichkeit schon da ist, schon gegenwärtig eben in dem, was Thema und Raum meiner verantwortlichen Entscheidungen, meiner ethischen Existenz in einer bestimmten Lage ist. Gott ist schon da in der ethischen Situation, in der meine Verantwortung beansprucht ist, und wartet dort gewissermaßen auf mich.«1226

Deshalb ist auch der verklärte Blick auf das eigene Dasein aufzulösen und auf ein selbstloses Existenzverständnis hin zu modifizieren. Selbstlos insofern als es nicht darum gehen darf, eigene Schwächen oder gar Abgründe aus Selbstschutzgründen zu verklären. Die verantwortliche Tat erfordert einen schonungslosen Blick des Menschen, sowohl auf sich selbst als auch auf die Ereignisse der Wirklichkeit. Verantwortung kann deshalb dort in die Wirklichkeit eingetragen werden, wo die Bereitschaft, sie zu übernehmen, mit einer unverklärten Selbsterkenntnis zusammenfällt. Die der verantwortlichen Tat vorausgehende dezidierte Selbstprüfung gibt das eigene Selbst schließlich dem Verantwortungsakt preis. Dabei erkennt der Mensch einerseits demütig an, dass seine Möglichkeiten des Prüfens begrenzt sind. Andererseits glaubt er daran, dass sich der verantwortliche Akt in eine Wirklichkeit hineinvollzieht, die seine menschliche Begrenztheit übersteigt. Daraus, dass sich der Verantwortliche zudem innerlich von Tendenzen zur Selbstrechtfertigung befreit, ergibt sich seine Bereitschaft zur Schuldübernahme. Diese Form eines vollendeten Seins verzichtet darauf, Handlungen eigens zu bewerten und öffnet sich dafür, dem Gott, den es durch sich hindurchwirken lässt, das Urteil anheim zu stellen.1227 Dadurch wird die verantwortliche Tat zum Inbegriff der Umkehr, weil der Mensch sein vermeintliches Wissen um »Gut« und »Böse«, das ihn von Gott trennt, zurück in dessen Hände gibt. Bonhoeffer formuliert dies solchermaßen: »Die neue Gestalt, kraft derer allein das Prüfen des Willens Gottes möglich ist, hat den Menschen, der im Abfall von Gott das Wissen um Gut und Böse errang, hinter und 1225 Vgl. ebd.; DBW 8, 533f., Begriffe übernommen (H. z. S., WLL); 12.1 Der Mensch als mündiges Wesen vor Gott. 1226 Heinrich Ott: Wirklichkeit und Glaube, Bd. 1, 152. 1227 Vgl. Friedrich Johannsen: Verantwortliches Handeln in konkreter Zeit, 25.

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unter sich gelassen. Es ist die Gestalt des Kindes Gottes, das in der Einheit mit dem Willen des Vaters lebt in der Gleichgestaltung des einen wahren Sohnes Gottes.«1228

Dieser Gedanke gründet auf der theologischen Auffassung, dass der Mensch nicht allein aus sich selbst heraus verantwortlich existieren und handeln kann, sondern seine wahrhaftige Wirklichkeit jenseits seiner eigenen Existenzgrenzen in Gott liegt. Gott spricht dem Menschen seine Existenz zu, er holt ihn aus seinem egoistischen Kreisen heraus und gibt ihm eine neue befreite Existenz. Erst als eine Folge dieser Handlungen am Menschen, betraut ihn Gott mit ethischer Verantwortung.1229 Das bedeutet, dass der Mensch zuerst ein Empfangender ist, dies auch fortwährend bleibt und darüber zum Handelnden wird. Darin offenbart sich Hingabe als die Essenz von einer Verantwortung, die Gott gebietet.1230 Das Gebotene erschließt sich nur individualbezogen und in Abhängigkeit von Raum und Zeit. Ob der Mensch dem Willen Gottes zu entsprechen versucht oder nicht, fällt in den Bereich seiner Selbstverantwortung.1231 Bevor er aber darüber entscheiden kann, muss er den Willen Gottes als solchen erkannt haben.

13.2 Der Wille Gottes und die Antwort des Menschen Wenn Verantwortung beinhaltet, dem Willen Gottes zu entsprechen, muss geklärt werden, worin dieser Wille besteht und wie er sich erkennen lässt. Nach Bonhoeffer zeigt sich der Wille Gottes nicht als ein Prinzip. Ebenfalls darf er nicht mit der Intuition, einem inneren Bestreben oder einem Gefühl verwechselt werden. Häufig verbirgt er sich hinter denjenigen Möglichkeiten, die naheliegend erscheinen. Um adäquat überprüfen zu können, worin der Wille Gottes besteht, müssen »Herz, Verstand, Beobachtung [und] Erfahrung«1232 zusammenwirken und zwar abseits des eigenen Bestrebens danach, »Gut« und »Böse« voneinander unterscheiden zu wollen.1233 Das bedeutet aber nicht, dass es in dem Verfügen des Menschen liegt, den Willen Gottes aus eigener Kraft zu erkennen. Sein Gebieten ist unverfügbar und lässt sich nicht in die menschlichen Begrenzungen einfassen. Jedes Erkennen ist Gnade und ereignet sich deshalb zunächst ohne Zutun des Menschen. Gerade weil es sich für den glaubenden Menschen aber um ein durch den lebendigen Gott gewirktes Erkennen handelt, 1228 1229 1230 1231 1232 1233

DBW 6, 324f.; vgl. 316. Vgl. Ernst Feil: Die Theologie Dietrich Bonhoeffers, 100f. Vgl. Heinrich Ott: Wirklichkeit und Glaube, Bd. 1, 236. Vgl. 8.2 Selbstverantwortung als tiefste Verantwortungsart. DBW 6, 324. Vgl. 10.3 Das »Wirklichkeitsgemäße« als das konkrete »Gute«.

Der Wille Gottes und die Antwort des Menschen

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muss es ihm mit der Prüfung dieses Willens so ernst sein.1234 Ihm obliegt es, zwischen menschlichen und göttlichen Impulsen zu unterscheiden.1235 Die Fähigkeit des Menschen, den Willen Gottes zu erkennen und zu überprüfen, gründet ebenfalls auf einem inneren persönlichen Wandel, einer »Metamorphose«1236. Dazu wurde schon ausgeführt, dass mit dieser Hinwendung des Menschen zum Willen Gottes der Abstand zu Gott überwunden wird. Eine neue Beziehung zwischen Gott und Mensch wird aufgebaut und der Lebenswandel erfolgt mehr und mehr in der Liebe, wie sie sich von Gott her versteht.1237 Zu überprüfen, was der Wille Gottes in einer konkreten Situation gebietet, vermag deshalb nur derjenige, »dem jedes eigene Wissen um Gut und Böse genommen ist und der darum ganz darauf verzichtet, von sich aus den Willen Gottes zu wissen, der bereits in der Einheit des Willens Gottes lebt, weil der Wille Gottes an ihm sich schon vollzogen hat. Prüfen, was Gottes Wille ist, ist nur möglich aufgrund des Wissens um Gottes Willen in Jesus Christus. Nur aufgrund von Jesus Christus, nur in dem durch Jesus Christus bestimmten Raum, nur ›in‹ Jesus Christus1238 kann geprüft werden, was Gottes Wille ist«1239.

Infolgedessen ist die »Gleichgestaltung« des Menschen die Voraussetzung dafür, dass göttliches Wirken und menschliches Erkennen so zusammenwirken, dass sich der Wille Gottes offenbart. In Bezug auf den Willen Gottes lassen sich zwei Ebenen voneinander unter1234 Vgl. ebd. 1235 Dietrich Bonhoeffer nimmt nicht an, dass sich der göttliche mit dem menschlichen Willen grundsätzlich harmonisieren lässt. Zwar ist ihre Synchronizität auch nicht auszuschließen, aber sie darf nicht vorausgesetzt oder angestrebt werden, sondern stellt sich erst im Ergebnis einer Überprüfung heraus. Klaus-Michael Kodalle kritisiert, dass Bonhoeffer »es nun aber nicht fertig[bringt], seine Lebensentscheidungen einfach-generell unter diesen absoluten Vorbehalt zu stellen. Bei genauerem Hinsehen erschließt sich keineswegs ein befreites, ein fröhliches Gewissen. Vielmehr zeigt sich Bonhoeffer im Banne des Omnipotenzkomplexes außerordentlich bemüht, seine jeweilige Entscheidung mit Zeichen der göttlichen Fügung abzustimmen« (ders.: Dietrich Bonhoeffer, 97 [H. i. O.]). Deswegen erscheint es ihm als ein »ängstliche[s] Bemühen« (ebd.), das individuelle Tun mit dem göttlichen Willen in Einklang bringen zu wollen. Dahin gehend, wie ein Prüfen anders vonstatten gehen könnte, legt Kodalle keinen eigenen Antwortversuch vor. Weil das Reden von einem Gotteswillen die Prämisse der Gottesexistenz voraussetzt, muss aus der philosophischen Perspektive Kodalles grundsätzlich hinterfragt werden, ob durch den vermeintlichen Gotteswillen nicht immer eigentlich das Selbst des Menschen spricht. Anhand seiner Kritik lässt sich vergegenwärtigen, dass Bonhoeffer zwar versucht, zu beantworten, wie sich der Wille Gottes zeigt, dabei aber an die Grenzen des Sagbaren stößt und auch stoßen muss, weil das Wissen um die Existenz Gottes und das Erkennen seines Willen von dem Geheimnis des Glaubens umfangen bleiben. 1236 DBW 6, 324. 1237 Vgl. 11.1 Die Bedeutung des Versöhnungsgeschehens. 1238 Anm. 70 i. O.: Vgl. DBW 4 (N), 250 u. ö.: »in [³m] Christo«. 1239 DBW 6, 325; Vgl. 10.2 Eigenes »Gutsein« als Selbstüberschätzung des Menschen.

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scheiden. Die erste betrifft die konkrete Handlungsausrichtung in einer gegebenen Situation. Der glaubende Mensch fragt nach Gottes Weisung mit dem Wunsch danach, ihr gemäß zu handeln. Jede situative Weisung ist aber von einer über den Moment hinausweisenden Dimension umfangen, die einem Fragen dieser Art schon vorausgegangen ist. Sie bezieht sich auf die zweite Ebene, nämlich auf die des bereits erfüllten Gotteswillens. Bonhoeffer versteht unter dem Willen Gottes »das Wirklichwerden der Christuswirklichkeit bei uns und in unserer Welt«1240. Der Wille Gottes hat sich also schon verwirklicht, nämlich in Jesus Christus. Deshalb hat der wirklichkeitsgemäß Handelnde auch nicht etwas zu erfüllen, was sich im Versöhnungsgeschehen bereits ohne das Zutun des Menschen erfüllt hat. Demjenigen, der nach dem Willen Gottes fragt und danach trachtet, seinem gegenwärtigen Gebieten zu entsprechen, geht es um die Teilhabe an dieser Offenbarungswirklichkeit.1241 Vor diesem Hintergrund wird offenkundig, dass es sich wiederum um eine auf das Ego zurückgehende Selbstüberschätzung handelt, wenn der Mensch annimmt, es hinge Entscheidendes von seinem Zu-Tun ab. Trotzdem ist sein Handeln nicht bedeutungslos. Das versöhnende Geschichtshandeln Gottes durch Jesus Christus liegt zwar in der Vergangenheit. Der Mensch erneuert die darin liegende Beziehung zwischen Gott und Mensch aber, indem er sein Handeln solchermaßen wählt, dass es der Offenbarungswirklichkeit Gottes ebenso gemäß ist wie der konkreten gegenwärtigen Situation. Ein darauf abzielendes Prüfen ist insofern demütig als es die wiedergewonnene Einheit in Jesus Christus nicht mehr hinterfragt, sondern sie voraussetzt und zugleich darum weiß, dass sie immer wieder erneuert werden muss.1242 Von dieser Erkenntnis des Glaubens her erhält der Mensch auch seine Festigkeit dazu, in der »freien Luft der Verantwortung« dem Auftrag Gottes zu folgen und sich gegen Tendenzen zu verwehren, (wieder) in die »Enge bequemer Pflichterfüllung«1243 zu flüchten. Die Gnadengabe des Versöhntseins mit Gott ist ihm zu kostbar, als dass er nicht seinen Anteil zur fortwährenden Beziehungserneuerung beitragen möchte. Dass der Mensch in diesem Wunsch von Gott erhört wird, ist ihm zur Sicherheit im Glauben geworden: »Es wird der Glaube dasein, daß Gott dem, der ihn demütig fragt, seinen Willen gewiß zu erkennen gibt;1244 es wird dann nach allem ernsten Prüfen auch die Freiheit zur 1240 1241 1242 1243 1244

A. a. O., 61. Vgl. ebd. Vgl. a. a. O., 326. A. a. O., 327. Anm. 75. i. O.: Nach einer Morgenandacht Dietrich Bonhoeffers über Eph 5,15–21 am 18. 10. 1942 in Berlin für Ruth von Kleist, die in der Zeit einer Augenoperation im Krankenhaus lag, betreut von ihrer Enkelin Maria von Wedemeyer, trug Maria in ihr Tagebuch ein: »Wenn wir ohne jeden Zweifel und jedes Mißtrauen fragen nach dem Willen Gottes, so

Das Gewissen als Ruf zur Einheit mit Gott

387

wirklichen Entscheidung da sein und in ihr die Zuversicht, daß nicht der Mensch, sondern Gott selbst durch solches Prüfen hindurch seinen Willen durchsetzt; die Bangigkeit, ob man das Rechte getan habe, wird weder zu dem verzweifelten Sichklammern an das eigene Gute werden noch in die Sicherheit des Wissens um Gut und Böse umschlagen, sondern sie wird aufgehoben sein im Wissen um Jesus Christus, der allein das gnädige Gericht übt, sie wird das eigene Gute bis zu seiner Zeit verborgen sein lassen in dem Wissen und der Gnade des Richters.«1245

Gott greift also in die gegenwärtige Wirklichkeit des Menschen ein, ohne dass besonders ausgelegt werden müsste, worin sein Gebieten besteht.1246 Wenn alles Wahrnehmen, Prüfen, Entscheiden und Handeln auf Jesus Christus hin ausgerichtet bleibt, zeigt sich in der Wahrheit des Glaubens, wodurch verantwortlich gehandelt wird. Dann geschieht Verantwortung durch Jesus Christus, mit ihm und in ihm. Dass Gott »seinen Willen durchsetzt«, indem er machtvoll in das Leben des glaubenden Menschen eingreift, entbindet diesen aber nicht davon, zu überprüfen, was Gott gebietet. Oben wurde bereits dargelegt, dass in eine Selbstprüfung mehrere Ebenen des Menschseins involviert sind.1247 In der Regel wird dem Gewissen eine besondere Weisungsfunktion zugesprochen. Mit seinen Ausführungen dahin gehend, wer standhält, hat Bonhoeffer allerdings schon ausgeschlossen, dass es derjenige sein kann, der sich allein an den Rat seines Gewissens hält. Dennoch spielt es eine entscheidende Rolle dabei, Handlungsoptionen hinsichtlich ihrer Verantwortbarkeit abzuwägen. Dies gilt es im Folgenden auszuführen.

13.3 Das Gewissen als Ruf zur Einheit mit Gott Bonhoeffer beschreibt das Gewissen als den »aus einer Tiefe jenseits des eigenen Willens und der eigenen Vernunft sich zu Gehör bringende Ruf der menschlichen Existenz zur Einheit mit sich selbst.1248 Es erscheint

1245 1246

1247 1248

erfahren wir [sic!] auch« (zu Vers 17b). »Wir dürfen uns nicht von einer Idee, einer allgemeinen Meinung oder einer bequemen Einstellung berauschen lassen, sondern sollen durch den Geist nach der Wahrheit suchen« (zu Vers 18). Ebd. Hier kommen zuerst die Propheten des Alten Testamentes in den Sinn, die sich dem Willen Gottes zu verwehren versuchten und ihm letztlich doch entsprachen. Es ist eine Eindeutigkeit gemeint, mit der Gott Abraham die Tötung seines Sohnes befahl, es steht Mose vor Augen, der zur Rede angehalten wurde und sein Volk aus der Sklaverei herausführen sollte. Schließlich steht Jesus Christus vor Augen, der dem Auftrag Gottes entsprach, indem er den Tod der »Sünder« starb (vgl. a. a. O., 382). Vgl. 13.1 Persönliche Voraussetzung zur Verantwortungsfähigkeit. Fußnote im Original: Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, 272 (§56): »Der Rufcharakter des

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Der verantwortliche Mensch

als Anklage gegen die verlorene Einheit und als Warnung vor einem ›Sich-selbstverlieren‹. Es ist primär nicht auf ein bestimmtes Tun, sondern auf ein bestimmtes Sein gerichtet. Es protestiert gegen ein Tun, das dieses Sein in der Einheit mit sich selbst gefährdet«1249.

Er verortet das Gewissen also jenseits des Willens und der Vernunft des Menschen. Dadurch kommt zum Ausdruck, dass es sich nicht um eine bewusst steuerbare Instanz handelt. Das Gewissen bezieht sich auf das, was Weischedel als »Seinkönnen«1250 bezeichnet. Das ursprüngliche »Seinkönnen« zeigt an, wie das Wesen des Menschen abseits der eigenen Vor-stellungen, die sich vor das wirkliche Selbst zu stellen drohen, gedacht ist. Dem Gewissen obliegt es deshalb, zu warnen, wenn ein bestimmtes Verhalten dazu beiträgt, dass sich der Mensch von sich selbst entfernt. Wenn sich dieses »bestimmte Sein«1251 insbesondere auf das Selbst des Menschen bezieht, geht es bei dem Gewissensruf allerdings vornehmlich darum, das eigene »Gutsein« zu bewahren. Das Streben nach einem »guten Selbsterhalt« gründet wiederum in dem Versuch, zwischen »Gut« und »Böse« unterscheiden zu wollen und weist damit auch in die Gottesferne hinein. Demgemäß ist auch das Gewissen wesenhaft von dieser Tendenz geprägt. In dem Maße, in dem der Mensch also danach strebt, sich selbst stabil und vermeintlich »gut« zu erhalten, geht es verloren, Gottes Weisung allem voranzustellen. Das Gewissen ist dann im Selbst des Menschen gefangen. Zwischen einem »Prä-Handlungs-Selbst«, das sich aus vergangenen Lebenseindrücken gebildet hat, und einem »Post-Handlungs-Selbst«, das darum bemüht ist, Handlungen samt ihrer Folgen in die Persönlichkeitsstruktur zu integrieren, wird das Gewissen in seinen freien Weisungsmöglichkeiten eingeschränkt. Zwar gehört es zu den existenzerhaltenden Maßnahmen des Menschen, sich selbst zu stabilisieren, aber nach Bonhoeffer darf sich daraus kein Selbstzweck ergeben. Um dieser Gefahr entgegenzuwirken, muss das Gewissen dem Gotteswillen zugeordnet werden. Der sich selbst erkennende Mensch weiß um die Gefahr, egozentriert in sich festgesetzt zu sein und versucht ihr entgegenzuwirken, indem er seinen Blick nicht auf sein Inneres begrenzt, sondern ihn auf Gott hin ausweitet. Dadurch ergibt sich eine Hierarchie von Gewissensprägungen. All jene, die sich auf den Erhalt der Einheit mit sich selbst und der Gemeinschaft mit anderen beziehen, werden dem Bestreben nach der Einheit des Menschen mit Gott unterstellt. Um es mit Weischedel auszudrücken, wird die religiöse Verantwortung allen anderen Gewissens«; DBW 2 (AS), 63 ist »277« (aus §57 »Das Gewissen als Ruf der Sorge«) zitiert: Das Gewissen ruft das Dasein auf »zu seinem eigensten Seinkönnen«. 1249 DBW 6, 276f. 1250 Wilhelm Weischedel: Das Wesen der Verantwortung, 79. 1251 Dieser Seinsbegriff wird hier nicht in Abgrenzung zum Ego verwendet, sondern bezieht sich auf die zitierte Verwendungsart durch Dietrich Bonhoeffer.

Das Gewissen als Ruf zur Einheit mit Gott

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Verantwortungsarten vorangestellt, wodurch eine dementsprechende Gewissensbildung erzielt wird.1252 Dadurch bleibt das Gewissen als eine wesentliche Weisungsinstanz erhalten. Der »Ausweg aus dem Dilemma kann [nämlich] nicht sein, einfach einmal nicht auf das Gewissen zu hören. Der Ausweg kann nur sein, sich in Jesus Christus die Befreiung, die Reinigung, die Klärung des Gewissens schenken zu lassen«1253.

Die Erkenntnis, dass das Gewissen dann von der Einheit mit Gott wegweist, wenn es in dem Selbst des Menschen verhaftet bleibt, bildet den Ausgangspunkt für eine Neugestaltung, durch die das Gewissen in Jesus Christus befreit, gereinigt und geklärt wird. Es wird offenkundig, dass ein Gewissen, das dem Schöpfungsgedanken der Einheit zwischen Mensch und Gott entgegensteht, nicht »sehr gut«1254 sein kann. Wenn der Mensch seine Autarkiebestrebungen allerdings aufgibt, kann sich über Jesus Christus eine Umkehr vollziehen, durch die sich das Geschöpf Mensch dem ursprünglichen Schöpfungszustand wieder annähert. Die angestrebte Einheit findet der Mensch dann nicht in sich selbst, sondern »durch das Wunder des Glaubens – jenseits des eigenen Ich und seines Gesetzes, in Jesus Christus […] Wo Christus, wahrer Gott und wahrer Mensch, zum Einheitspunkt meiner Existenz geworden ist, dort bleibt zwar das Gewissen – formal – immer noch der Ruf aus meinem eigentlichen Sein zur Einheit mit mir selbst; diese Einheit kann aber nicht mehr verwirklicht werden in der Rückkehr zu meiner aus dem Gesetz lebenden Autonomie, sondern in der Gemeinschaft mit Jesus Christus«1255.

Die Wahrheit des Glaubens, dass Jesus Christus das Leben ist, überträgt sich auf das Gewissen, weil es wesenhaft nach Leben strebt. Dann lässt es davon ab, die Einheit des Menschen mit sich selbst einzufordern, und ruft stattdessen zu der Einheit mit Jesus Christus auf, die zum Dienst an Gott und dem Nächsten befreit.1256 Durch diese neue Formung droht das Gewissen auch nicht mehr zwischen verschiedenartigen Regungen zu zerreißen, sondern es befähigt den Menschen zum konkreten Tun. Weil es sich von der Menschwerdung Gottes her versteht, verpflichtet es sich nur noch dem einen Ruf Jesu Christi gegenüber.1257 Mit Karl Martin lässt sich diese christusbezogene Gewissensbildung folgendermaßen zusammenfassend beschreiben:

1252 1253 1254 1255 1256 1257

Vgl. 8.2 Selbstverantwortung als tiefste Verantwortungsart. Karl Martin: Das in Jesus Christus befreite Gewissen, 128. »Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut« (Gen. 1, 31). DBW 6, 278. Vgl. ebd. Vgl. a. a. O., 293.

390

Der verantwortliche Mensch

»Wenn der natürliche Mensch mit der pneumatischen Wirklichkeit Jesu Christi verschmilzt, wird er in die Gestalt Jesu Christi hinein verwandelt. Es verändert sich sein Denken, Fühlen und Handeln – und es verändert sich sein Gewissen.«1258

Die »Gleichgestaltung« des Menschen mit Jesus Christus bezieht die Gewissensregungen also mit ein. Dies ist auch notwendig, weil nur ein Gewissen, das mit dem Gewissen Jesu gleichgestaltet ist, zum »Dasein-für-andere« ermahnt. Bonhoeffer bezeichnet es als ein »befreites« Gewissen: »Jesus Christus ist mein Gewissen geworden. Das bedeutet, daß ich die Einheit mit mir selbst nur noch in der Hingabe meines Ich an Gott und die Menschen finden kann. Nicht ein Gesetz, sondern der lebendige Gott und der lebendige Mensch, wie er mir in Jesus Christus begegnet, ist Ursprung und Ziel meines Gewissens.«1259

Für ein »befreites« Gewissen ist das »Dasein-für-andere« also kein »fremder Auftrag« mehr, dem der Mensch nur deshalb zu entsprechen versucht, weil es ihm geboten ist. Der Dienst am anderen Menschen wird zum Inbegriff eines Gewissensrufs zur Einheit mit Gott durch das Leben selbst, also durch Jesus Christus. Weil Christusgemäßheit »Wirklichkeitsgemäßheit« bedeutet, konkretisieren sich dadurch auch der Ort und der Umfang von Verantwortung. Das heißt, wo der »Ruf Jesu Christi, ihm ganz zu gehören«1260 einen Menschen trifft, zeigt sich die Beschaffenheit des persönlichen Verantwortungsauftrags. Verantwortung weist den Menschen dann auf die Umstände seines Lebens hin und zeigt auf, was nach dem Willen Gottes situativ geboten ist. Demgemäß liegt die Notwendigkeit, eine Gewissensentscheidung zu treffen, außerhalb des Menschen. Das »befreite« Gewissen entbindet den Menschen davon, gesetzmäßig zu handeln. Es ist einzig dem höchsten Gebot der Gottes- und Nächstenliebe gegenüber verpflichtet. Deshalb »muß in der Auseinandersetzung zwischen Gewissen und konkreter Verantwortung die freie Entscheidung für Christus fallen. […] So wird die Verantwortung durch das Gewissen gebunden, aber das Gewissen durch die Verantwortung frei«1261. In Hinblick auf die Gemeinschaft von Menschen impliziert dies zweierlei. Erstens gebietet das »befreite« Gewissen, die Belange anderer in eigenen Gewissensentscheidungen zu berücksichtigen. Es ist also wesenhaft gemeinschaftsbezogen.1262 Der Gewissensentscheid eines Menschen dient immer einer »Orientierung und Standortbestimmung inmitten 1258 1259 1260 1261 1262

Karl Martin: Das in Jesus Christus befreite Gewissen, 128. DBW 6, 279. A. a. O., 293. A. a. O., 283. »Der Aspekt der Gemeinschaftlichkeit gehört zur Ontologie des Gewissens; das Sein-inGemeinschaft gehört zur Seinsart des Gewissen« (Heinrich Ott: Wirklichkeit und Glaube, Bd. 2, 271).

Verantwortliches Handeln als gewissenhaftes Handeln

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einer Vielzahl von vielfältigen und vielfältig verflochtenen Personbeziehungen und Lebensmöglichkeiten«1263. Infolgedessen wirken sich eine gewissensbezogene Entscheidung, die der Mensch innerlich trifft, indem er Handlungsmotive abwägt, auf Gemeinschaftsstrukturen aus.1264 Weil das Gewissen aber nicht zuerst der zwischenmenschlichen Gemeinschaft gegenüber verpflichtet ist, sondern Jesus Christus, ergibt sich zweitens, dass der Mensch seine Entscheidungen als Einzelner treffen und eigens für sie einstehen muss. Seine Stabilität erhält er also nicht vornehmlich aus der Gemeinschaft, sondern dadurch, dass er durch Jesus Christus befreit ist. Verantwortliches Handeln ist also an das lebendige Gewissen, nämlich Jesus Christus, gebunden und darin, dass der Mensch dieser gewissenhaft gebotenen Verantwortung nachkommt, erweist sich sein Gewissen als frei.

13.4 Verantwortliches Handeln als gewissenhaftes Handeln Die vorangegangenen Ausführungen haben gezeigt, dass Bonhoeffer eine anspruchsvolle Interpretation von der Persönlichkeitskonstitution des verantwortlichen Menschen anbahnt, indem er ein Verständnis von Verantwortung entwirft, das über seine landläufige Auffassung hinausgeht.1265 Der Mensch habe ein Leben zu führen, das nichts sein will, als eine einzige Antwort auf den Ruf Gottes. Das Streben des Menschen solle deshalb allein darauf ausgerichtet sein, an der Offenbarungswirklichkeit Gottes teilzuhaben. Ein Mensch, dessen Handeln diesem Anspruch genügen will, wird aus mehreren Gründen in besonderer Weise beansprucht: Dass Verantwortung nach Bonhoeffer abseits des Prinzipiellen liegt, beinhaltet erstens, dass ein hoher Aufwand in Kauf genommen werden muss, um zu überprüfen, worin Verantwortung besteht. Dabei sind verschiedenartige Faktoren zu berücksichtigen, die relevant sind, um eine Situation möglichst umfassend und wirklichkeitsgemäß erfassen zu können. Dies bedingt zweitens, dass derjenige, der wirklichkeitsgemäß handeln will, sich selbst als einen Teil der Wirklichkeit erkennt, in die er gestaltend eingreifen will. Deshalb ist es ihm geboten, sich einer dezidierten Selbstprüfung zu unterziehen, wodurch er in hohem Maße psychologisch beansprucht werden kann. Um zu einem Ergebnis zu gelangen, das sich nicht darauf begrenzt, die eigenen charakterlichen Anlagen abzubilden, muss der Mensch sowohl über geeignete Mittel zur Selbstprüfung verfügen als auch zu einer tiefgreifenden Form von 1263 A. a. O., 273. 1264 Vgl. a. a. O., 270. 1265 Inwiefern sich Qualitäten des Menschseins, die sich vom Gottesglauben her speisen, konstruktiv auf Konfliktregulationsprozesse auswirken können, wird an späterer Stelle aufgezeigt (vgl. V. Zur Relevanz der Schnittstelle von Mediation und Theologie).

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Der verantwortliche Mensch

Selbsterkenntnis fähig sein. Inwieweit das Selbsterkennen aber tatsächlich dazu beiträgt, auf den Willen Gottes zu schließen, kann der Mensch letztendlich nur erahnen. Daraus ergibt sich drittens, dass keine letzte Klarheit darüber besteht, ob der Mensch sich selbst und Gott wirklich erkannt hat. Die Begrenztheit seines Daseins bedingt, dass er davon ausgehen muss, grundsätzlich nur einen Teil des Ganzen zu erschließen. Um überhaupt Verantwortung übernehmen zu können, ist es deshalb auch unvermeidbar, Wagnisse einzugehen. Gottes Gebieten ist nach Bonhoeffer »eine je einen Einzelnen treffende, von ihm allein zu hörende und zu befolgende singuläre Aufforderung«1266. Dass der Mensch sich selbst und den Gotteswillen zu überprüfen hat und ihm eine vollumfängliche Selbst- und Gotteserkenntnis dabei kaum möglich ist, schließt Bonhoeffer zufolge nicht aus, dass Gottes Gebieten den Menschen in einer eindeutigen Weise erreicht: »So bestimmt wie Gott zu Abraham und Jakob und Mose gesprochen hat, so bestimmt wie Gott in Jesus Christus zu den Jüngern und durch seine Apostel zu den Heiden sprach, so bestimmt spricht Gott zu uns oder er spricht gar nicht«1267. Aus dieser Einschätzung lässt sich schlussfolgern, dass der Wille Gottes keiner großen Interpretationsleistung bedarf. Das Wissen darum, was Gott gebietet, entsteht im Menschen, weil die Weisung Gottes auf den fruchtbaren Boden des Glaubens eines Jesus Christus Gleichgestalteten fällt. Weil das Gebieten Gottes dadurch aus der Intimität einer persönlichen Gottesbeziehung hervorgeht, kann die Dringlichkeit, die von diesem Ruf ausgeht, weder von außen verstanden noch beurteilt werden. Ein solchermaßen individuell vernommener Gottesruf kann auch nur in ebenso individueller Weise, also vom unvertretbar Einzelnen, verantwortet werden. Weil sich ein dementsprechendes Handeln auch auf andere Menschen auswirkt, kommt der moralischen Kompetenz und der Selbstbestimmungskompetenz des Menschen eine besondere Bedeutung zu.1268 Darin offenbaren sich die Unübertragbarkeit und die Bedeutsamkeit von Selbstverantwortung. Selbstverantwortlich handelt aber nur derjenige, der das einzigartige Gebieten Gottes nicht grundsätzlich von jeder Form normativer Orientierung loslöst. Vielmehr muss es darum gehen, (soziale) Normen durch den Ruf Gottes situativ auszulegen. Kennzeichnend für diese Auslegung ist eine spezifische Form von Selbstbeziehung. Wenn sich die Selbstbeziehung dadurch auszeichnet, dass – um es mit Weischedel auszurücken – die religiöse Verantwortung zur tiefsten geworden ist1269, lässt sich der Mensch weder von allgemeiner (religiöser) Gesetzesmäßigkeit unterjochen noch von Situativität zerstreuen. Dann ist ihm die Gottesbeziehung kompromisslos zur 1266 1267 1268 1269

Ulrich H. J. Körtner : Freiheit und Verantwortung, 81. DBW 6, 382. Vgl. 7.2 Verantwortungsethik als Sozialethik. Vgl. 8.2 Selbstverantwortung als tiefste Verantwortungsart.

Verantwortliches Handeln als gewissenhaftes Handeln

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existenziellen Konstante geworden, die dadurch, dass sie dem glaubenden Menschen seine intrapersonale Stabilität bewahrt, ein hohes Maß an situativer Flexibilität zulässt. Über die Verbindung von Einfalt und Klugheit lässt sich dahin gehend aufzeigen, wie unverfügbare göttliche Weisungen und das menschliche Dazutun zusammenwirken können. Im Voraus lässt Gott seine Liebe am Menschen geschehen und gibt seinen Willen dadurch in ihn ein. Hierzu kann der Mensch nichts weiter beitragen, als sich einfältig und vorbehaltlos hinzugeben. Gott selbst verantwortet seinen Willen und entlastet dadurch den Menschen von einer Bürde, die für ihn allein untragbar wäre. Dies entbindet den Menschen aber nicht davon, sich als ein Antwortender auf Gottes vorausgegangenes Tun seiner eigenen Klugheit zu bedienen und dem Willen Gottes infolgedessen handelnd zu entsprechen. Die Bereitschaft zu einem wagenden Tun und zur uneingeschränkten Übernahme der Folgen geht aus einem »befreiten« Gewissen hervor. Vor dem Hintergrund der dargelegten Erwägungen wird hier schlussfolgernd festgehalten, dass das Wesen des bonhoefferschen Verantwortungsverständnisses über den Gewissensbegriff auf folgende Bestimmung hin komprimiert werden kann: Verantwortliches Handeln ist gewissenhaftes Handeln. In dieser Bestimmung kommen alle drei oben herausgearbeiteten Aspekte von Verantwortung zum Tragen.1270 Erstens leitet ein »befreites« Gewissen den Menschen dazu an, wirklichkeits- und christusgemäß zu handeln, weil es selbst in der Gleichgestaltung mit Jesus Christus gründet. Zweitens erkennt es aufgrund dieser »Gleichgestaltung« an, dass sich alles verantwortliche Handeln durch die Mittlerfunktion Jesu Christi auszeichnet und dadurch stellvertretend ist. Drittens gebietet es dem Menschen, sich an der Freiheit Jesu zu einem liebenden und wagenden Tun zu orientieren, und befähigt ihn dadurch zu einer »Mündigkeit«, die allein aus der Bindung an Gott hervorgeht. Ein Gewissen, das in unlösbare Abwägungskonflikte gerät und dadurch entweder den unzähligen Formen des »Bösen« im Kampf erliegt oder sich selbst betrügt, wird also durch eine Gewissenhaftigkeit ersetzt, die sich am wahrhaftigen Leben, nämlich Jesus Christus selbst, orientiert. Das umgestaltete Gewissen weiß darum, dass Gottes Gebot »dem Menschen keinen Raum zur Anwendung, zur Auslegung [lässt], sondern nur zum Gehorsam oder zu Ungehorsam«1271. Verantwortliches Handeln ist dann gewissenhaft, wenn es gehorsam ist. Von diesem Gehorsam her kann sich der Mensch des »ungeteilten Herzens«1272 über seine Motive aufklären und verantwortlich, d. h. integer und mutig handeln. Der Verantwortliche weiß 1270 Vgl. 10.4 Verantwortliches Handeln als wirklichkeitsgemäßes Handeln; 11.4 Verantwortliches Handeln als stellvertretendes Handeln; 12.4 Verantwortliches Handeln als mündiges Handeln. 1271 Ebd. 1272 A. a. O., 67.

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Der verantwortliche Mensch

darum, dass er im Dienst Gottes steht, dass es ihm unmöglich ist, abschließend über »Gut« und »Böse« zu urteilen und dass er in all seinem Tun von der Gnade Gottes umfangen bleibt und nicht tiefer fallen kann, als in dessen Hand.1273

1273 »Du kannst nicht tiefer fallen als nur in Gottes Hand, die er zum Heil uns allen barmherzig ausgespannt« (Arno Pötzsch, EG, Nr. 533).

Teil 4

Verantwortung als Schnittstelle von Mediation und Theologie

In diesem Kapitel wird der Ertrag der Untersuchung hinsichtlich der Bezüge von Mediation und christlicher Verantwortungsethik gebündelt. Dazu werden die vorangegangenen Einzelerwägungen systematisch zusammengeführt. Die Bedeutung von Verantwortung als zentrale Größe hinter dem Mediationsgeschehen wird dabei unter Berücksichtung ihrer theologischen Vertiefung ausgewiesen. Die in den vorangegangenen drei Untersuchungsteilen vorgelegten Einzelanalysen werden vorausgesetzt. Auf ihnen aufbauend erfolgen Erwägungen hinsichtlich eines Erklärungsansatzes, der den Zusammenhang von sinnhafter Selbstbestimmung eines Menschen und der Praktikabilität von Mediation plausibilisiert. Dadurch wird auch ein Beitrag hinsichtlich der einleitend aufgeworfenen Wirksamkeitsfrage von Mediation geleistet.

I.

Zur Korrelation zwischen einem verfahrenstheoretischen und einem sinngenerierenden Verantwortungsbegriff

Verantwortung wurde sowohl in ihrer Bedeutung für den Mediationskontext als auch hinsichtlich ihrer religiösen Dimension und damit in Bezug zu christlicher Reflexivität betrachtet. Im Ergebnis zeigt sich, dass zwischen zwei unterschiedlich gelagerten Verantwortungsverständnissen unterschieden werden muss. Sie sollen hier als verfahrenstheoretischer und sinngenerierender Verantwortungsbegriff bezeichnet werden. Die folgenden Ausführungen dienen dazu, sie beide voneinander zu unterschieden und ins Verhältnis zueinander zu setzen. Der Theorie der Mediation liegt ein Verantwortungsbegriff zugrunde, der sich auf die Konzeption und Durchführung des Verfahrens bezieht. Die Inhaltsverantwortung der Medianten lässt sich von der Verfahrensverantwortung

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Verantwortung als Schnittstelle von Mediation und Theologie

des Mediators unterscheiden.1274 Dass sich die beteiligten Personen ihrer jeweiligen Verantwortung bewusst sind und sie verlässlich übernehmen, ist für eine gelingende Mediation, die sich an ihrem konsensualen Ertrag messen lassen muss, unabdingbar. Es liegt also ein Verantwortungsverständnis vor, das auf den praktischen Nutzen für mediative Zwecke ausgerichtet ist. Demgemäß wird es hier als verfahrenstheoretisches Verantwortungsverständnis bezeichnet. Verantwortung geht aber nicht in der reinen Verfahrensbezogenheit auf, weil sie an den konkreten Menschen gebunden ist und deshalb grundsätzlich auf anthropologischen und ethischen Voraussetzungen beruht. Die Mediationstheorie berücksichtigt diese Voraussetzungen insbesondere durch die Verfahrensgrundsätze.1275 Damit spielen sie in den Interventionshergang hinein, ihre tatsächliche Bedeutung scheint allerdings nur implizit auf. Das mediative Vorgehen gründet auf Werten, die über das Verhalten der Beteiligten in die Mediation eingebracht werden. Die sinnstiftenden Hintergründe dieser Werte werden mediationstheoretisch nicht konkretisiert. Für die verfahrenspraktische Umsetzung von Mediation ist dies auch nicht notwendig. Es genügt, wenn die ethischen Dispositionen der beteiligten Personen mit den verfahrensimmanenten Werten der Mediation kompatibel sind. Eine noch darüber hinausgehende inhaltliche Bestimmung von Verantwortung löste ihre prinzipielle Interpretiertheit weitgehend aus dem Bereich der Inhaltverantwortung der Medianten heraus.1276 Dies beinhaltete, die Medianten (teilweise) davon zu entbinden, vollumfänglich eigenverantwortlich dafür einzustehen, ihren Konflikt zu klären. Zudem würden die schon festgelegten Bedingungen, unter denen zu einem Konsens gelangt werden könnte, das Möglichkeitenspektrum von einzelfallbezogenen Lösungen von vornherein einschränken.1277 Dadurch käme es wiederum zu einer grundsätzlichen Beschränkung der konzeptimmanenten Adaptivität von Mediation.1278 Mediation wäre dann nämlich nur noch in ausgewählten Konfliktfällen anwendbar, weil der schon vorausgesetzte Zuschnitt von Verantwortungsvoraussetzungen die Persönlichkeitskonstitutionen der Konfliktbeteiligten verengend disponiert. Die Zentralstellung des Menschen in der Mediation bezieht sich aber gerade darauf, sich an dem konkreten Menschen mit seinen persönlichen sinnstiftenden Hintergründen zu orientieren.1279 Demgemäß gilt es so weitgehend wie möglich zu vermeiden, dass die Verfahrenskonzeption von dem Menschen erzwingt, sich anzupassen. Darin 1274 Vgl. 4.1 Die Verfahrungsverantwortung als Implikat der Mediatorenrolle; 4.3 Die Inhaltsverantwortung als Implikat der Mediantenrolle. 1275 Vgl. 3.3 Verfahrensgrundsätze als Angebot zur Änderung von Verhalten. 1276 Vgl. 6.2 Das Phänomen Verantwortung zwischen Entscheidung und Haftung. 1277 Vgl. 8.3 Verantwortungsethik als fragende Ethik. 1278 Vgl. 3.1 Zur Definition von Mediation. 1279 Vgl. 4.5 Die Zentralstellung des Menschen in der Mediation.

Zur Korrelation der Verantwortungsbegriffe

399

liegt die Voraussetzung dafür, dass es gelingen kann, Menschen mit verschiedenen Prägungen von Selbstsinn unter dem Mantel eines einzigen Verfahrens zusammenzuführen. Der Hintergrund für eine persönliche Sinnstiftung, vor dem sich ein Mensch etwa wertschätzend, akzeptierend und kooperationsbereit verhält, wird also nicht vorgegeben. Durch ihre Rahmenbedingungen fordert Mediation ausschließlich die verfahrensnotwendige Verantwortung ein, überlässt es aber den Beteiligten, diese inhaltlich individuell zu konkretisieren. Darin, dass Verantwortung in der Mediation ihrer äußeren Form nach bestimmt wird und ihrem konkreten Inhalt nach offen bleibt, liegt der Anknüpfungspunkt für religiöses Sinnstiftungspotenzial. Religiosität1280 bietet eine deutende Perspektive an, durch die sich der Verantwortungsinhalt vom Gottesglauben her bestimmen lässt. Christliche Verantwortung erweist sich – wie an der bonhoefferschen Verantwortungsethik beispielhaft aufgezeigt – als christologisch begründbar.1281 Sie wird insbesondere über den Liebesbegriff hergeleitet. Das Selbsterkennen des Menschen geschieht aus seiner Beziehung zu Gott heraus, sodass die vom Gottesglauben geprägte Selbstreflexion individuelle Verhaltensstrukturen bestimmt. Diese wiederum beziehen sich vornehmlich auf das Verhältnis der Menschen untereinander. Das heißt, dass der Glaube eines Menschen, individuellen Verhaltenssinn generiert, der sich in seinen Beziehungen zu anderen Menschen ausdrückt. Damit lässt sich aus theologischer Perspektive ein sinngenerierender Verantwortungsbegriff aufzeigen. Von ihm her kann ein Sinn, der als Grundmotivation für verantwortliches Handeln fungiert, theoretisch bestimmt werden. Wie sich Verantwortung im Einzelfall konkretisiert, ist damit aber noch nicht hinreichend ausgesagt. Es muss auf geeignete Ausdrucksmöglichkeiten zurückgegriffen werden, die es ermöglichen, eine äußere Struktur mit einem konkreten Verhalten inhaltlich zu füllen. Mit Mediation kann eine äußere Struktur solchermaßen geschaffen werden, dass sich durch sie ein konkretes, vom Gottesglauben her begründetes sinnhaftes Verhalten ausdrückt. Der verfahrenstheoretische Verantwortungsbegriff der Mediation und der sinngenerierende der Theologie lassen sich also deshalb ergänzend zueinander beschreiben, weil sie sich vornehmlich auf unterschiedliche Ebenen beziehen, die sich einander zuordnen lassen. Auf verfahrenstheoretischer Ebene wird die äußere Struktur einer konkreten situativen Maßnahme entwickelt, um dadurch ein aktuelles Geschehen bewältigen zu können. Über die sinngenerierende Ebene wird inhaltlich vervollständigt, vor dem Hintergrund welcher sinngebender 1280 Der Religiositätsbegriff wird hier nicht dem bonhoefferschen Verständnis gemäß verwendet, sondern bezieht sich auf die Haltung eines Menschen, der sein Leben vor dem Hintergrund des christlichen Glaubens lebt. 1281 Vgl. 11 Jesus Christus als Vermittler ; 13.4 Verantwortliches Handeln als gewissenhaftes Handeln.

400

Verantwortung als Schnittstelle von Mediation und Theologie

Strukturen ein der Maßnahme entsprechendes Handeln lebenspraktisch vollzogen wird. Dadurch trägt sich die persönliche Lebensdeutung des Menschen in die situative Maßnahme ein.1282 Wenn Verantwortung in der Mediation christlich reflektiert wird, kommt der hier beschriebene Zusammenhang zum Tragen. Durch die Mediation lassen sich konkrete Maßnahmen entwickeln, um Konfliktregulations- und Friedensprozesse strukturiert umzusetzen. Dies bedient ein grundlegendes Anliegen christlicher Verantwortungsgesinnung. Dort, wo sie in der Komplexität der alltäglichen Situation damit überfordert sein dürfte, sich erfolgreich für Frieden zwischen streitenden Parteien einzusetzen, kann ein in der Sache kompetentes und in der personalen Repräsentanz glaubwürdiges Verfahren als entlastende Klärungs- und Strukturierungsinstanz dienlich eingesetzt werden. Dadurch wird die Theologie sprachfähig was ihren verantwortungsethischen Ausdruck in Bezug auf Friedens- und Konfliktregulationsprozesse anbelangt. Als rahmende Struktur eröffnet Mediation einen Reflexions-, Verhandlungs- und Handlungsraum, der sich gerade aufgrund seiner inhaltsoffenen Beschaffenheit anbietet, um christliche Verantwortungsethik anwend- und erlebbar zu machen. Weil es zu den Hauptmerkmalen von Mediation gehört, konzeptionell adaptiv zu sein, lässt sie sich auch gezielt für christlich motivierte Anliegen nutzen. Ferner beinhaltet dies, dass sich Mediationsfelder im religiösen Milieu (neu) erschließen lassen.1283 Wenn zwischen Menschen gleichen oder unterschiedlichen Glaubens vermittelt wird, kann Religiosität also durchaus explizit vorkommen.1284 Dies erfolgt entweder dann, wenn der Konfliktgegenstand selbst von religiösem Charakter ist oder dann, wenn sich alle Beteiligten darauf einigen, das Mediationsverfahren etwa durch den Einsatz religiöser Praktiken, wie gemeinsames Beten etc., für sich zu individualisieren. In beiden Fällen wird das Verfahren Mediation – wenn auch verschieden – explizit religiös kontextualisiert. Dies darf aber nur so weit geschehen, wie Mediation weiterhin als ein transdiziplinäres Verfahren verstanden wird und nicht durch religiösen Einfluss für 1282 Vgl. 1.3 Zur Herleitung von Verantwortung als gemeinsame Bezugsgröße von Mediation und Theologie. 1283 Es kann nur bedingt davon gesprochen werden, dass Mediation im christlichen Milieu bedeutet, ein Konfliktfeld neu zu erschließen. Historisch weisen die Wurzeln der Mediation als Vermittlungsverfahren insbesondere auf kirchliche Kontexte zurück. Den religiösen Funktionseliten war es lange Zeit vorbehalten, Vermittlungstätigkeiten zu übernehmen. Zur Vertiefung der Historie von Mediation vgl. Josef Duss-von Werdt: homo mediator, 19–142. 1284 Auch dann, wenn Konflikte offensichtlich eine religiöse Dimension aufweisen, muss es vermieden werden, sich von der vermeintlichen Eindeutigkeit der Sachlage blenden zu lassen. Konflikte sind immer ein Konglomerat verschiedener Faktoren. Viele von ihnen sind vordergründig nicht erkennbar, sondern müssen erst durch geeignete Maßnahmen herausgearbeitet werden. Deshalb ist es bedeutsam, die Konfliktbeteiligten nicht auf ihre Religiosität zu reduzieren.

Zur Unterscheidung von vordergründiger und hintergründiger Sinnstruktur

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verfahrensfremde Zwecke instrumentalisiert wird: Die Disposition der Mediation muss also stets mit dem Geist ihres Inhalts korrespondieren. Nur so kann gewährleistet werden, dass die Charakteristik des Verfahrens erhalten bleibt. Daneben, dass Religiosität explizit zum Tragen kommt, kann sie das Verfahren auch implizit mitprägen. Dies geschieht dann, wenn die Beteiligten ihre individuelle Glaubenshaltungen durch ihre persönlichen sinnhaften Lebensdeutungsmerkmale in die Verhandlungen einbringen. Religion als »Innerlichkeitsreflexion«1285 prägt die intrapersonalen Dialogstrukturen derjenigen Person, der ihre religiöse Verantwortung zur tiefsten Selbstverantwortung geworden ist.1286 Innerliche Selbstklärungen hinsichtlich des gemeinsamen mediativen Wegs erfolgen dann religiös reflexiv. Das Resultat der intrapersonalen Erwägungen geht schließlich dadurch in die Verhandlungen ein, dass es die Art und den Inhalt der interpersonalen Dialogstrukturen konstituiert.1287 Ob der religiöse Reflexionshintergrund nach außen hin ersichtlich wird, hängt davon ab, inwieweit eine Person kennzeichnet, dass sie die mediationspraktischen Fragen vor dem lebensdeutenden Hintergrund ihrer Religiosität reflektiert. Dass die Motivation, das eigene Handeln in verantwortlicher Weise zu steuern, mit persönlichen Sinnstrukturen korrespondiert, ist hinsichtlich der Wirksamkeitsfrage von Mediation relevant.1288 Die nachfolgenden Ausführungen zeigen auf, wie Verhandlungsergebnisse, die mit den persönlichen Lebensdeutungen der Medianten vermittelt werden können, das Maß ihrer Selbstverpflichtung erhöhen.

II.

Zur Unterscheidung von vordergründiger und hintergründiger Sinnstruktur

Mediation macht die Expertise dafür verfügbar, dass Konfliktregulations- und Friedensprozesse auf strukturierte und konstruktive Weise gelingen können. Durchführungspraktisch wird dabei sowohl der begrenzte Zeitrahmen eines Mediationsverfahrens bedacht als auch die Notwendigkeit einer adäquaten Vorund Nachbereitung. Innerhalb fest definierter Zeiträume der Zusammenkunft versuchen die Konfliktbeteiligten unter Mitwirkung des Mediators auf kommunikative Weise vorzubereiten, dass sie langfristig eigenverantwortlich mit derjenigen Konfliktsituation umgehen können, die sie regulieren bzw. auflösen 1285 1286 1287 1288

Arnulf von Scheliha: Der Glaube an die göttliche Vorsehung, 344. Vgl. 8.2 Selbstverantwortung als tiefste Verantwortungsart. Vgl. 8.4 Mediation als Inszenierung einer reflexiven Welt. Vgl. 1.2 Zum Gegenstand der Untersuchung.

402

Verantwortung als Schnittstelle von Mediation und Theologie

wollen. Eine in sich stimmige und dadurch belastbare Lösung trägt entscheidend dazu bei, dieses übergeordnete Ziel zu erreichen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein Mediationsergebnis hilfreich umsetzen lässt, verhält sich proportional zur Detaillierung und Transparenz seiner lösungsbezogenen Teilbestimmungen. Vereinbarungen können im Vorhinein auf abschätzbare Störfaktoren hin untersucht werden. Anschließend lassen sich die Einzelaspekte des Verhandlungsergebnisses dahin gehend detaillieren, dass sie Folgeproblemen entgegenwirken. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich das endgültige Übereinkommen der Konfliktpartner während der Umsetzungsphase tatsächlich bewährt, kann also durch derartige präventive Maßnahmen erhöht werden. Die Verantwortung dafür, dass diese aus Praktikabilitätsgründen notwendigen Klärungen adäquat erfolgen, liegt beim Mediator. In den Verantwortungsbereich der Medianten fällt es hingegen hinein, die Vereinbarungen inhaltlich konsistent vorzubereiten und sich während der Umsetzungsphase an sie zu halten. Dass die Konfliktpartner durch Mediation persönlich und inhaltlich darauf vorbereitet werden, entbindet sie allerdings nicht davon, sich selbst zu einem vereinbarungsgemäßen Handeln zu verpflichten. Erschwernisse, die sich außerhalb des geschützten Mediationsrahmens ergeben, können ein hohes Maß an einer persönlichen Stabilität erforderlich machen, die es begünstigt, selbstbestimmt mit Unvorhergesehenem umzugehen. Demgemäß kulminieren die mediative Vorbereitung und die individuelle Handlungsverpflichtung in der Selbstverantwortung des Menschen.1289 Inwieweit das Handeln der Konfliktbeteiligten also tatsächlich mit der Vereinbarung übereinstimmt, hängt zu einem großen Teil von der intrapersonalen Stabilität und der Verlässlichkeit der Verantwortungsträger ab. Diese wiederum steht in einem engen Zusammenhang mit seiner persönlichen Sinngenerierung: Je offenkundiger die Sinnhaftigkeit eines Vorgehens vor dem Hintergrund der individuell bedeutsamen Deutungsprämissen, desto stärker die Neigung, entsprechende Vereinbarungen zu beschließen und sie eigenverantwortlich zu vertreten. Diese Kohärenz wirkt sich also wesentlich auf die Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme aus und ist deshalb von hoher mediativer Relevanz. Dass ein Ergebnis »sinnvoll« sein soll, konstatiert auch die einschlägige Mediationsliteratur.1290 Allerdings erweist sich die Bedeutung von Sinn, auf die dabei rekurriert wird, bei genauerer Betrachtung als unzulänglich erschlossen. Auf der Grundlage dieser Untersuchung lässt sich begründet annehmen, dass mehrere Ebenen von Sinnhaftigkeit voneinander unterschieden werden können. Diesen Sachverhalt zu durchdringen, generiert ein umfassenderes Verständnis hinsichtlich der Korrelation zwischen der Tragfähigkeit von Lösungen und der 1289 Vgl. 7.3 Selbstverantwortung als Grundvoraussetzung für Verantwortung. 1290 Vgl. 1.2 Zum Gegenstand der Untersuchung.

Zur Unterscheidung von vordergründiger und hintergründiger Sinnstruktur

403

individuellen (lebensdeutenden) Sinngenerierung. Weil sich der Erfolg einer Mediation vornehmlich an der Tragfähigkeit der durch sie generierten Lösung bemisst, ist der Versuch, den Aspekt der Sinnhaftigkeit vertiefend zu durchdringen, hinsichtlich von Praktikabilität und Wirksamkeit von Mediation bedeutsam. Für die Medianten soll sich durch eine Mediation ein deutlicher Mehrwert ergeben. Wie hoch die Konfliktpartner diesen Mehrwert für sich selbst einschätzen, hängt davon ab, wie sinnvoll ihnen die Vereinbarungen erscheinen. Sinnhaftigkeit ist das Ergebnis von einer subjektiv vorgenommen Zuschreibung vor dem Hintergrund persönlicher Wertvorstellungen, die von den lebensweltlichen Bedingungen des Beurteilenden herrühren. Mit dieser individuellen Sicht hängt zusammen, wie hoch die lebenspraktische Relevanz eines Mediationsergebnisses für das subjektive Erleben des Einzelnen ist. Um verschiedenartige Relevanzen zu kategorisieren, werden hier drei Ebenen von Sinn unterschieden: Mikrosinn, Mesosinn und Metasinn. Die jeweiligen Präfixe beziehen sich auf den Grad an Bedeutsamkeit des jeweiligen Sinns, der sich gemessen an der sinnhaften Selbstbestimmung von Personen zeigt. Während der Mikrosinn in dem größeren Kontext der individuellen lebensweltlichen Deutung die geringste Relevanz aufweist, hat der Metasinn die höchste. Der Mikrosinn ist also die basalste Sinnebene. Sie bezieht sich auf die reine Plausibilität einer Vereinbarung. Einem Verhandlungsergebnis wird dann Sinn zugesprochen, wenn es hinsichtlich seiner Voraussetzungen als schlüssig und in Bezug auf seine Realisierbarkeit als glaubwürdig erscheint. In der Mediation wird dies in der Heureka-Phase erwogen.1291 Anfangs ist dabei ausdrücklich erwünscht, auch solchen Lösungsideen Raum zu geben, die sich augenscheinlich nicht umsetzen lassen. Dieses Vorgehen trägt der Erkenntnis Rechnung, dass eine möglichst breit gefächerte Gedankenvielfalt den Kreativitätsfluss begünstigt und ein Spektrum an Möglichkeiten schafft, aus dem Einzelelemente anschließend zu einem geeigneten Ergebnis zusammengeführt werden können. Am Ende der Verhandlungen werden die praktikablen Lösungsimpulse schließlich von solchen unterschieden, die hinsichtlich ihrer Realisierungsmöglichkeiten weder schlüssig noch sachdienlich sind. Sofern die Plausibilität einer Lösung aber bestätigt werden kann, besteht eine entsprechende Sinnhaftigkeit und Mikrosinn ist gewährleitstet. Der Mikrosinn sagt also aus, dass sich eine Vereinbarung samt ihrer Teilbestimmungen unter Berücksichtigung tatsächlicher Gegebenheiten als plausibel dahin gehend erweist, sachdienliche Änderungen in eine gewünschte Richtung zu erzielen. Eine Lösung muss über ihre rein sachliche Plausibilität hinaus auch mit den individuellen Belangen der Konfliktpartner übereinstimmen. Dies betrifft die 1291 Vgl. 3.2 Das Verfahren als Antwort auf anthropologische Bedürftigkeit im Konfliktfall.

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Verantwortung als Schnittstelle von Mediation und Theologie

Ebene des Mesosinns. Die Kompatibilität von Verhandlungsergebnis und persönlicher Disposition muss gewährleistet sein, damit eine objektiv plausible Lösung auch subjektiv als sinnvoll erachtet wird und Anlass dazu besteht, sich ihr gegenüber handelnd zu verpflichten. Inwieweit eine solche Kompatibilität tatsächlich gewährleistet ist, lässt sich überprüfen, indem die Konfliktpartner auf ihre jeweiligen Interessen und Bedürfnisse hin befragt werden. Mediative Lösungsfindung zielt also darauf ab, Mikrosinn und Mesosinn um einer substantiellen Konfliktregulation willen sicherzustellen. Dies trägt der Erkenntnis Rechnung, dass Konfliktpartner nur dann konsequent im Sinne der Vereinbarung handeln, wenn die Lösung sich als realisierbar erweist (Plausibilität) und subjektive Sinnhaftigkeit (Kompatibilität) gewährleistet ist. In einem solchen Falle ist Mesosinn gegeben. Beide Ebenen sind Teil einer vordergründigen Sinnstruktur. Auf sie kann im mediativen Vorgehen explizit zugegriffen werden. Als Inszenierung einer reflexiven Welt stellt Mediation den Rahmen dafür her, dass aus dem Erleben der Konfliktsituation heraus Plausibilität und Kompatibilität durchdacht werden können, um dadurch Lösungsoptionen zu bewerten.1292 Die vordergründige Sinnstruktur ist von der hintergründigen Sinnstruktur zu unterscheiden, die sich auf das Lebensganze eines Menschen bezieht und die sinnhafte Selbstdeutung seines Seins umfasst. Ihr ist die Ebene des Metasinns zuzuordnen. Handlungsmöglichkeiten, die sich hinsichtlich ihrer Plausibilität und Kompatibilität als sinnvoll erwiesen haben, werden auf der Ebene des Metasinns daraufhin überprüft, inwieweit sie sich auch in die ganzheitliche Selbstdeutung des Menschen einordnen lassen. Sich selbst befragend zieht sich der Mensch dazu auf den Bereich zurück, der sich mit Weischedel der Selbstverantwortung zuordnen lässt.1293 Von hierher beantwortet der intrapersonal Fragende schließlich, ob eine Handlungsoption dem Anspruch des eigenen »Eins-werden[s] mit sich selbst«1294 hinreichend genügt. Dieser Vorgang wird hier als holistische Einordnung bezeichnet. Dabei ist eine Existenzebene involviert, die sich auf das »Seinkönnen«1295 des Menschen bezieht. Weil sie ausweist, worin der Mensch sein Dasein gründet und woher er seine Lebenskräfte bezieht, geht von dieser Ebene eine tiefgreifende Verbindlichkeit aus, die die höchste Form von Selbstverpflichtung generiert. Wenn sich eine äußere Verbindlichkeit, wie eine mediative Lösung, mit der hintergründigen Sinnstruktur in Einklang bringen lässt, erkennt der Mensch Metasinn in ihr. Er lädt sie mit einem Sinngehalt auf, der sich von seinen eigenen Lebensdeutungsstrukturen her speist. Die 1292 1293 1294 1295

Vgl. 8.4 Mediation als Inszenierung einer reflexiven Welt. Vgl. 8.2 Selbstverantwortung als tiefste Verantwortungsart. Wilhelm Weischedel: Das Wesen der Verantwortung, 108. A. a. O., 79.

Zur Unterscheidung von vordergründiger und hintergründiger Sinnstruktur

405

Verbindlichkeit dem Mediationsergebnis gegenüber tangiert dann die Selbstverpflichtung des Menschen und wird dadurch bedeutsamer. Das heißt, dass sich das Anliegen authentischer Selbstverpflichtung in die Verbindlichkeit gegenüber dem Mediationsergebnis einträgt und es infolgedessen aufwertet.1296 Die Selbstverpflichtung dem Sinn des eigenen Seins gegenüber hat also einen besonders tiefgreifenden Einfluss auf die Handlungsentscheidungen eines Menschen. Alle anderen Verpflichtungen werden ihr entweder solchermaßen untergeordnet, dass sie an Relevanz verlieren oder durch Metasinn integriert und dadurch zu einem Teil der Selbstverpflichtung. Im letzteren Fall ist die vordergründige Sinnstruktur im Einklang mit der hintergründigen Sinnstruktur, wodurch Authentizität des Menschen im Sinne einer inneren Stimmigkeit des eigenen Lebens und Handelns gewahrt bleibt. Die folgende Abbildung veranschaulicht die beschriebenen Abstufungen von Sinngenerierung: Für den Metasinn gilt, dass er für mediatives Einwirken unverfügbar ist, weil er sich aus der inneren Welt des Menschen, also von seinem Authentizitätsanspruch her, ergibt.1297 Als ein Teil der hintergründigen Sinnstruktur kann er weder in der Mediation hergestellt werden noch lässt er sich kommunikativ vollumfänglich erschließen. Dafür gründet er zu sehr im persönlichen Selbsterleben des Menschen und ergibt sich aus komplexen lebensweltlichen Bedingungen. Wenn es allerdings gelingt, zu Lösungen zu gelangen, in die die Konfliktpartner Metasinn eintragen, unterstützt ein zusätzliches Maß an intrapersonaler Stabilität und Zuverlässigkeit ein vereinbarungsgemäßes Handeln. Darin besteht der Ertrag, wenn der Metasinn mit der Selbstbestimmung des Menschen korreliert. Mit diesem Zusammenhang ist die Tiefenstruktur von Inhaltsverantwortung1298 freigelegt: Intrinsisch motiviert setzen sich die Konfliktpartner selbstbestimmt für die inhaltliche Konfliktklärung ein und übernehmen uneingeschränkt Selbstverantwortung für ihr Handeln, weil sich in der mediativen Selbstverpflichtung die Authentizitätsverpflichtung ihres Selbstseins abbildet. Die hintergründige Sinnstruktur formiert sich also als Metasinn und bedingt, dass sich der Wille des Menschen metasinnkonform ausbildet. Durch das konkrete Handeln tritt dieser Wille dann nach außen und verwirklicht das Ergebnis 1296 Dass hier unterschiedliche Sinnebenen voneinander unterschieden werden, dient einem vertiefenden Verständnis hinsichtlich verschiedener Grade an Verbindlichkeit. Damit ist nicht ausgesagt, dass ein Ergebnis, dem die Beteiligten nur begrenzten oder gar keinen Metasinn zuschreiben können, qualitativ minderwertig ist oder notwendigerweise an der Umsetzung scheitern muss. Die Unterscheidung dient vielmehr dazu, aufzuzeigen, unter welchen Voraussetzungen die generellen Grundsätze der Mediation vertiefend ausgeschöpft werden können. 1297 Vgl. 8.4 Mediation als Inszenierung einer reflexiven Welt. 1298 Vgl. 4.3 Die Inhaltsverantwortung als Implikat der Mediantenrolle.

406

Verantwortung als Schnittstelle von Mediation und Theologie

Metasinn (holistische Einordnung)

hintergründige Sinnstruktur

vordergründige Sinnstruktur Mesosinn (Kompatibilität)

Mikrosinn (Plausibilität)

Abbildung 3: Konzept der Sinnebenen

eines intrapersonalen Dialogs. Religiöse Reflexivität kann Metasinn hervorbringen. Die anhand des bonhoefferschen Ethikansatzes vorgenommene theologische Vertiefung des Verantwortungsbegriffs zeigt beispielhaft auf, wie Metasinn auf dem Gottesglauben gründend religiös reflexiv erzeugt wird. Die Realitäten werden dabei von der Offenbarungswirklichkeit Gottes ausgehend erschlossen. Die Sorge darum, sich »gut« zu verhalten und dadurch »gut« zu sein, tritt hinter das Bestreben zurück, an der Offenbarungswirklichkeit Gottes teilzuhaben.1299 Dabei steht nicht mehr der Selbstwille des Menschen an erster Stelle, sondern der Gotteswille prädominiert. Der Mensch fragt also über sich 1299 Vgl. 10 Das »Gute« als Sein in der Wirklichkeit.

Zur sinnhaften Selbstbestimmung als Determinante verantwortlichen Handelns

407

selbst hinaus und interpretiert den Sinn seines (Er-)Lebens vom Glauben her. Demgemäß fungiert ihm der Glaube als eine Orientierungsgröße, die ihn zu Selbstklärungen anleitet. Unter dem Eindruck von religiöser Reflexivität stehen dann alle Entscheidungen in einem Zusammenhang mit der persönlichen Gottesbeziehung. Wenn die Bindung an Gott zur tiefsten Verantwortung wird, ist ihr jede Verantwortung nachzuordnen. Es ist evident, dass dies auch für ein Mediationsergebnis gilt: Bietet das Mediationsergebnis Anknüpfungspunkte dafür, ihm Metasinn zuzuschreiben, indem es in den Kontext der religiösen Lebensdeutung holistisch eingeordnet werden kann, wirkt sich dies auf die Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme aus.1300 Sie erhöht sich, weil die mediative Verpflichtung durch den Metasinn von der Selbstverpflichtung gegenüber Gott her mit zusätzlichem Sinngehalt angereichert wird. Wie sich die Sinnhaftigkeit von Selbstbestimmung generell zu verantwortlichem Handeln verhält, klärt der nachfolgende Erläuterungsschritt separat.

III.

Zur sinnhaften Selbstbestimmung als Determinante verantwortlichen Handelns

Die Selbstbestimmung eines Menschen bezieht sich auf das Maß an Verfügbarkeit über sich selbst. Sie weist aus, inwiefern ein Mensch über die notwendigen Fähigkeiten und Fertigkeiten verfügt, um sich seine Lebenswelt anzueignen und autonom darüber zu verfügen. Selbstaneignung umfasst insbesondere die Auf- und Bearbeitung von lebensweltlichen Umständen und Verhältnissen, die der Mensch als beschränkend wahrnimmt. Ihnen schreibt er die Urheberschaft dafür zu, dass er seinen ersinnten Identitätsentwurf nicht realisieren kann. Ein Konflikt ist das Resultat derartiger Disharmonien. Diese gehen daraus hervor, dass sich Unvereinbarkeiten im Wahrnehmen, Denken, Fühlen und Handeln ergeben, die die Selbstbestimmungskraft im Selbsterleben vermindern.1301 Mit dem Ziel, die eigene Bestands- und Niveausicherung zu gewährleisten, veranlassen konfliktäre Umstände den Menschen dazu, Unvereinbarkeiten aufzuarbeiten.1302 Sie generieren also den Bedarf an schöpferischen Prozessen, die lebensweltliche Veränderungen initiieren. Obwohl die Selbstbestimmung als eingeschränkt erlebt wird, lässt sie sich nur aus sich selbst heraus 1300 In Hinblick auf die Stufen zur Eskalationsdynamik wurde oben darauf hingewiesen, dass Modelle die realen Wirklichkeitszusammenhänge lediglich schematisch abbilden können und die Realität dadurch verkürzen (vgl. 2.2 Die Eskalationsdynamik in Konflikten). Gleiches gilt auch für das Konzept der Sinnebenen. 1301 Vgl. 2.1 Zur Definition des Konflikts. 1302 Vgl. 2.4 Die Konfliktträchtigkeit des Menschen – Anthropologische Vorüberlegungen.

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Verantwortung als Schnittstelle von Mediation und Theologie

wiederherstellen.1303 Mit dem Versuch, Disharmonien im Selbsterleben aufzuarbeiten, um seine Selbstbestimmung vollumfänglich zurückzuerlangen, rekurriert der Mensch deshalb wiederum auf diese (teilweise) verloren geglaubte Selbstbestimmung. Augenscheinlich ist dies paradox, sofern die Differenzierung zweier Ebenen ausbleibt: Es ist zwischen Selbstbestimmung als eine anthropologische Konstante und Selbstbestimmung als eine situative Ausprägung eines gegenwärtigen Selbstseins zu unterscheiden. Als anthropologische Konstante bezieht sich Selbstbestimmung auf die Beschaffenheit des Menschen als ein freies und willenbegabtes Wesen. Er verfügt über die Eigenschaften, Entscheidungen zu treffen und Handlungsmacht zielgerichtet einzusetzen und kann Sinn erzeugen. Die Ausprägungen dieser Eigenschaften unterliegen zunächst dem Vorgang des Denkens. Durch sein Denken vergegenwärtigt sich der Mensch sein eigenes Selbstsein. Über Reflexionsprozesse stellt er Selbsterkenntnis her und durchdringt seine eigene Wesensart. Weil sich der Denkvorgang grundsätzlich gegenwärtig vollzieht, kann über das Denken auch nur das gegenwärtige Selbstsein erfasst werden. Das Abbild vom eigenen Selbstseins ist deshalb fragmentarisch, weil nicht alle Selbstdeutungsmuster gleichzeitig erkannt werden können. Zudem ist es situativ, weil grundsätzlich bestimmte Dominanzen im gegenwärtigen Selbsterleben vorherrschen. Infolgedessen ergeben sich Varianzen hinsichtlich von einer Selbstbestimmung als situative Ausprägung eines gegenwärtigen Selbstseins. Die Annahme, seine Selbstbestimmung (teilweise) verloren zu haben, resultiert daraus, dass der Mensch im gegenwärtigen Moment nicht solchermaßen auf seine Reflexionsfähigkeit zugreift, als dass er sich über sich selbst als ein selbstbestimmtes Wesen bewusst werden könnte. Dies ist aber dann notwendig, wenn verantwortlich gehandelt werden soll. Zielgerichtetes Handeln setzt voraus, dass der Mensch sich selbst als selbstbestimmt vergegenwärtigt. Erst dann hält er es auch für sinnvoll, Handlungen willentlich auf eine gewählte Zielvorstellung hin auszurichten.1304 Selbstbestimmung bezieht sich deshalb sowohl auf das Denken als auch auf das Handeln eines Menschen. Sie lässt sich als theoretische Vergegenwärtigung des eigenen autonomen Selbstseins in Verbindung mit der willentlichen Steuerung eines realen Handlungsausdrucks beschreiben. Dadurch ist sie ein bestimmender Faktor von Verantwortungsübernahme. Andersherum ist Verantwortung als ein Prinzip, das Handeln erklärt, ein Ausdruck von Selbstbestimmung. Das bedeutet: Der innere Anteil von Verantwortung bezieht sich darauf, auf die eigene Selbstbestimmungsfähigkeit zuzugreifen, indem der Wille zum Handeln denkend vorbereitet wird. Der äußere Anteil von

1303 Vgl. 2.6 Ressourcenorientierte Intervention als Angebot zur Gegensinnstiftung. 1304 Vgl. 6.3 Lebensweltliche Komplexität und die Verantwortung des konkreten Menschen.

Zur sinnhaften Selbstbestimmung als Determinante verantwortlichen Handelns

409

Verantwortung zeigt sich anschließend darin, dass Handlungen selbstbestimmt vollzogen werden, wodurch sich Zielvorstellungen realisieren. In der Selbstbestimmung des Menschen fallen deshalb der eigens festgelegte Sinn des Selbstseins und die autonome Steuerung des Selbstseins zusammen. Der Sinn des Selbstseins generiert sich über die bewusste Selbstvergegenwärtigung einer Person als die Gesamtheit aller Vorgänge ihres subjektiven Erlebens. Wahrnehmungs- und Beurteilungsprozesse werden über Vorgänge des Denkens und Erlebens als subjektive Fakten in das persönliche Selbstbild integriert. Damit fußen sie auf einer aus der Außenperspektive weder vollständig erfassbaren noch direkt zu beeinflussenden Grundlage. Wenn davon auszugehen ist, dass sich der Sinn des Selbstseins über das Bewusstsein einer Person generiert, liegt auch dieser in einem von außen unverfügbaren Bereich. Weiterhin ist der Grad an Bewusstheit entscheidend dafür, wie sehr sie sich den Sinn ihres eigenen Selbstseins vergegenwärtigen kann. Der Umfang von Selbstaufklärung entscheidet daher darüber, inwieweit gezielt über den Sinn des Selbstseins und damit auch über die Möglichkeit, eigenes Handeln daran auszurichten, verfügt werden kann. Das heißt, dass sich der Sinn des Selbstseins über die autonome Steuerung des Selbstseins verwirklicht. Dadurch treffen ein Innen, also das Selbst des Menschen, und ein Außen, also ein Umfeld des Selbst, zusammen. Infolgedessen kennzeichnet verantwortungsethisches Handeln, dass es darauf abzielt, Geltungsansprüche aus der inneren Welt, der äußeren Welt und der sozialen Welt miteinander in eine Beziehung zu setzen.1305 Es ist folgerichtig, dass es eines hohen Maßes an bewusster Selbstbestimmungskompetenz bedarf, damit ein Mensch sein eigenes Selbst sinnhaft beschreiben, zielgerichtet auf diesen Selbstsinn zugreifen und frei mit ihm operieren kann. Zudem ist davon auszugehen, dass sich Menschen in dieser Kompetenz voneinander unterscheiden. Während es einigen Menschen eher gelingt, bis zu den Tiefenstrukturen ihrer sinnhaften Selbstdeutungen vorzudringen, bleiben diese anderen verborgen. Das hat auch zur Konsequenz, dass Menschen nicht gleichermaßen auf ihre Fähigkeit zur Selbstbestimmung zugreifen können. Je konsistenter Menschen die Sinnstrukturen ihres Selbstseins durchschauen, desto eher können sie Selbstklärungen vornehmen und dadurch zu begründbaren selbstbestimmten Handlungen gelangen. Wenn die Sinnebenen daraufhin durchdekliniert werden, wie sie sich erschließen lassen, zeigt sich, dass sie unterschiedliche Bewusstheitsgrade voraussetzen. Die Plausibilität einer Bestimmung drückt sich über den Mikrosinn aus. Die denkerische Leistung des Menschen, um den Mikrosinn erfassen zu können, bezieht sich auf seine Fähigkeit dazu, logische Zusammenhänge gedanklich nachvollziehen zu können. Hierin besteht das geringste Maß an Selbstaufwand, 1305 Vgl. 8.4 Mediation als Inszenierung einer reflexiven Welt.

410

Verantwortung als Schnittstelle von Mediation und Theologie

weil der Mikrosinn sich auf die rein sachliche Ebene bezieht und vollständig von außen aufgeklärt werden kann. Die betroffene Person muss deshalb lediglich über die kognitiven Fähigkeiten dazu verfügen, faktische Zusammenhänge – seien sie von außen erläutert oder selbst erschlossen – verstehen zu können und sie als schlüssig erachten. Im Falle des Mesosinns wird die Ebene sachlicher Zusammenhänge um die persönliche Dimension erweitert. Dementsprechend muss der Mensch seine eigenen Bedürfnisse und Interessen selbst erfassen. Auch die dafür notwendige Selbstklärung kann von außen unterstützt werden. Beispielsweise lassen sich Vermutungen dahingehen anstellen, inwieweit sachliche Bestimmungen mit persönlichen Belangen kompatibel sind. Derartig konkrete äußere Zuschreibungen vereinfachen es der betroffenen Person, zu überprüfen, ob sie sie bestätigen, modifizieren oder dementieren kann.1306 Um zum Mesosinn vorzudringen, müssen die kognitiven Fähigkeiten um die emotionale und soziale Kompetenz eines Menschen erweitert werden. Für die beiden Sinnebenen der vordergründigen Sinnstruktur gilt deshalb, dass es eines Grundmaßes an Bewusstheit des Menschen hinsichtlich der Sach- und Beziehungszusammenhänge seiner Existenz bedarf, um Mikro- und Mesosinn feststellen zu können. Für Mediation ist es entscheidend, dass die persönliche Disposition der Medianten es hergibt, Klärungen hinsichtlich der vordergründigen Sinnstruktur herbeiführen zu können. Dass Lösungen für praktikabel gehalten werden, ist notwendig, damit sie nicht von vornherein an den Bedingungen der Wirklichkeit zu scheitern drohen. Dass sie darüber hinaus auch als kompatibel mit den jeweiligen Interessen und Bedürfnissen erachtet werden, bedingt, dass sich die Konfliktpartner in ihnen berücksichtigt fühlen. Daraus ergibt sich gegenüber der bisherigen Situation ein erstrebenswerter Mehrwert, auf den mediatives Begleiten abzielt. Im Falle der hintergründigen Sinnstruktur ist die Form der Sinngenerierung anders gelagert. Der Metasinn fordert ein erheblich höheres Maß an Bewusstheit ein, weil der Mensch stärker auf seinen eigenen Selbstaufwand gewiesen ist. Anders als bei Mikro- und Mesosinn kann auf Klärungsprozesse hinsichtlich des Metasinns von außen kaum eingewirkt werden. Die hintergründige Sinnstruktur ist im Vergleich zu der vordergründigen um ein Vielfaches voraussetzungsreicher. Über kognitiv Erfassbares hinaus kommen darin tiefliegende, unveräußerliche Formen des Selbsterlebens zum Tragen, die teilweise auch nicht kommunizierbar sind. Sich selbst hinsichtlich des Metasinns zu befragen, ist deshalb unübertragbar und damit Teil der Unübertragbarkeit von Verantwortung schlechthin. Dass Verantwortung unübertragbar ist, gilt für jeden Verantwortungsträger. Derjenige, der aber dazu in der Lage ist, diese Unübertragbarkeit für sich selbst sinnhaft zu deuten, kann sein selbstbestimmtes Handeln vor sich und 1306 Vgl. 4.1 Die Verfahrensverantwortung als Implikat der Mediatorenrolle.

Zur Bedeutung einer christlichen Bewusstseinsdimension

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(teilweise) auch vor anderen begründen. Er durchschaut seine eigenen Beweggründe, die sein gegenwärtiges Selbstsein formieren und kann sich ihnen gegenüber bewusst und selbstbestimmt verpflichten. Auf dieser Grundlage realisieren sich dann die Handlungen, die zuvor innerlich vorbereitet wurden. Wie Handlungen konkret umgesetzt werden, hängt deshalb mit der sinnhaften Selbstbestimmung des Menschen zusammen. Das heißt, sinnhafte Selbstbestimmung determiniert verantwortliches Handeln. Wenn dabei der Metasinn involviert ist, ist das höchste Maß an sinnhafter Selbstbestimmung gegeben und es liegt die bewusstseinshöchste Form von Handlungssteuerung vor. Vor diesem Hintergrund ist Verantwortung die bewusste Übersetzung von sinnhafter Selbstbestimmung in Handeln. Auf christliche Verantwortung hin konkretisiert, gründet die sinnhafte Selbstbestimmung in einer durch den Gottesglauben geprägten Bewusstheit. Der Mensch vergegenwärtigt sich sein autonomes Selbstsein aus seiner Beziehung zu Gott heraus. Konkrete Handlungsmaßnahmen, die er von hierher begründet vollzieht, tragen Elemente religiöser Reflexivität in sich, ohne dass dies notwendigerweise nach außen hin kenntlich gemacht wird bzw. von außen zu erkennen ist. Insofern betreffen sie zuallererst die Innerlichkeit des Menschen und sind für seine sinnhafte Selbstbestimmung relevant.

IV.

Zur Bedeutung einer christlichen Bewusstseinsdimension für die sinnhafte Selbstbestimmung des Menschen

Der theologische Verantwortungsbegriff wurde anfangs als sinngenerierend ausgewiesen. Das bedeutet, dass über einen theologischen Zugang zur Verantwortung ihr Inhalt bestimmt werden kann. Weiter wurde gezeigt, dass drei Ebenen von Sinnhaftigkeit nach ihrem Grad an Relevanz für das Selbstsein des Menschen voneinander unterschieden werden können. Als ihre höchste Form übt der Metasinn den tiefgreifendsten Einfluss auf das Selbstverständnis und die Handlungsausrichtung aus. Wenn es dem Menschen gelingt, die wechselseitige Bezogenheit von Selbstsein und Metasinn zu erschließen, kann er diese Erkenntnis aktiv nutzen, indem er seinem Handeln eine subjektive persönliche Relevanz zuschreibt und es demzufolge aufwertet. Spannungen von konfligierenden Geltungsansprüchen lassen sich dadurch zwar nicht grundsätzlich eliminieren, aber die innere Stimmigkeit des eigenen Selbstseins generiert ein zusätzliches Maß an intrapersonaler Stabilität. Sie erleichtert es dem Menschen, sich auch dann konsequent an selbstgewählte Handlungsverpflichtungen zu halten, wenn sich Herausforderungen ergeben. Demzufolge kann es gelingen, sich situativen Relevanzen unter dem Eindruck unveränderlicher Spannungs-

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Verantwortung als Schnittstelle von Mediation und Theologie

verhältnisse so zuzuwenden, dass Autonomie und Authentizität bewahrt bleiben. Je stärker ein Mensch dabei dazu fähig ist, auf seine eigene Selbstbestimmtheit zuzugreifen, desto freier wird er mit teils gegenläufigen Tendenzen innerer und äußerer Geltungsansprüche operieren können. Das heißt, dass sich das Maß an Klarheit über authentische Handlungsmöglichkeiten proportional zum Maß an Klarheit über das eigene Selbstsein verhält. Mit Blick auf den Verantwortungsaspekt sind hier insbesondere jene Faktoren des Selbstseins bedeutsam, die sich als Handlungsausdruck in der sozialen Dimension zeigen. Die vorgeschalteten intrapersonalen Vorgänge auf der Subjektebene werden durch vielfältige verinnerlichte Prägungen beeinflusst. Dazu gehören beispielsweise vorgelebte Denk- und Verhaltensmuster sowie sozialisationsbedingte Normen- und Wertvorstellungen, die internalisiert wurden. Ohne diesen Gedanken entwicklungspsychologisch zu vertiefen, kann also davon ausgegangen werden, dass sich das Selbstsein eines Menschen über ein Konglomerat verschiedenartiger Einflussfaktoren konstituiert. Damit steht auch die subjektive Sinngebung für die eigene Existenz unter dem Eindruck dieser Einflussvielfalt. Um seiner Selbsterkenntnis willen, muss der Mensch Ordnungskategorien entwerfen, über die sich seine eigene innere Struktur erschließen und stabilisieren lässt. Ethiken und Philosophien können dahingehen ordnende und orientierende Funktionen übernehmen. Sie bieten Anhaltspunkte dafür, wie sich allgemeine Grundsätze solchermaßen individualisieren lassen, dass sie in die Lebensführung von Einzelpersonen integriert werden können. Inwieweit sich ein Mensch ihnen gegenüber dann selbstverpflichtet, fällt in seinen persönlichen Ermessensbereich. Es gibt also kein konkretes Korrektiv in Form eines Gegenübers. Anhand einer entpersonalisierten Lehre klärt sich der Mensch über sich selbst auf und unterscheidet damit zwischen gewollten und ungewollten Aspekten seines Selbstseins. Dadurch wird er sich selbst zum Korrektiv. Im Unterschied dazu erfolgt die Selbstklärung des Menschen vor dem Horizont eines christlichen Selbstverständnisses aus der Beziehung zu Gott heraus. Das Spezifische daran liegt in dem Glauben an eine transzendente Wesenheit, die auch abseits und unabhängig von der eigenen Identität existiert. Das heißt, dass hier eine externe personalisierte Instanz als richtungweisende Größe anerkannt wird.1307 Die Rechenschaftspflicht des Menschen, die er im Falle einer Sinngenerierung über eine entpersonalisierte Lehre ausschließlich sich selbst gegenüber hätte, weitet sich im Falle der religiösen Sinngenerierung aus. Hier besteht die Rechenschaftspflicht sowohl vor sich selbst als auch vor dem Gott, der als

1307 Die Personalisierung Gottes erfolgt über Jesus Christus, durch den Gott selbst Mensch wurde.

Zur Relevanz der Schnittstelle von Mediation und Theologie

413

Gegenüber geglaubt wird.1308 Das eigene Leben an Gott rückzubinden, hat dann höchste Priorität für jede Maßnahme zur »Selbstaneignung von Lebenswelt«1309. Wenn Gott im Glauben als die eigentliche Wahrheit erkannt wird, ist der Mensch allein nicht diese Wahrheit und verfügt auch nicht vollumfänglich über sie, sondern er ist fehlbar und weiß um seine eigene Fehlbarkeit. Deswegen lässt sich der Sinn des menschlichen Selbstseins auch nur über die tatsächliche Wahrheit, also Gott, erschließen. Religiös reflektierte Selbstklärungsprozesse zeichnen sich dadurch aus, dass der Mensch über sich selbst hinausgeht, indem er nach dem Willen Gottes fragt und von hierher wieder auf sich selbst zurückverwiesen wird. Unter dem Eindruck seines vom Glauben geprägten »Selbst-«, »Welt-« und »Gottesbewusstseins« erkennt er sich als ein Wesen vor Gott.1310 Demzufolge ist seine sinnhafte Selbstbestimmung davon abhängig, wie der Mensch glaubt, von Gott angesehen zu werden. An einen Gott zu glauben, der über allem steht und in allem präsent ist, bedeutet, ihm alles unterzuordnen und seine Präsenz in allem zu erforschen. Daraus ergibt sich ein christlich geprägter Metasinn, dem gegenüber sich der Mensch autonom verpflichtet. Von hierher generiert er die Sinnhaftigkeit seines Lebens und richtet sein Handeln ihr gemäß selbstbestimmt aus. Das eigene Selbstsein wird also bestimmt, indem die christliche Glaubenswahrheit ausgelegt wird. In diese Auslegung spielen vielfältige lebensweltliche Einflussfaktoren hinein, wodurch nicht von der einen christlichen Bewusstheit gesprochen werden kann, sondern von individualisierten Formen. Was dies hinsichtlich von Verantwortung in Konfliktregulationsprozessen bedeutet, wird im Folgenden abschließend erörtert.

V.

Zur Relevanz der Schnittstelle von Mediation und Theologie

Einem Fragen nach der Relevanz der Schnittstelle von Mediation und Theologie ist voranzustellen, dass religiöse Prägungen von Menschen zu allen Zeiten gleichermaßen als Anlass für Gewalt wie für Frieden fungierten. In welche Richtung sich Religiosität zeigt, hängt dabei insbesondere von den Kriterien ab, von denen sich Menschen in ihrem Handeln leiten lassen. Dort, wo Glaubende 1308 Die Rechenschaftspflicht lässt sich gerade im Falle der Religiosität noch weiter fassen, wenn die Organisiertheit in Glaubensgemeinschaften mit berücksichtigt wird. Je höher die Relevanz der Gemeinschaftszugehörigkeit für den Einzelnen, desto höher die Selbstverpflichtung gegenüber ihren Grundsätzen. Weil aber auch dieser Relevanz die Verpflichtung Gott gegenüber zugrunde liegt, soll sie als Einzelkomponente hier nicht weiter berücksichtigt werden. 1309 Rudolf-Christian Hanschitz: Konflikte und Konfliktbegriffe, 66. 1310 Vgl. 9.2 Der Mensch als gerechtfertigtes Wesen vor Gott.

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Verantwortung als Schnittstelle von Mediation und Theologie

ihr Handeln kompromisslos dem Kriterium der eigenen Glaubenswahrheit unterstellen, können andere Wahrheitsvorstellungen nicht anerkannt werden. Diese Haltung steht einem konsensualen Aufeinanderzugehen deshalb wesentlich entgegen und verhindert eine konsequente sozialethische Auslegung von Verantwortungsethik. Hier sind deutliche Spielräume dafür gegeben, Religion für Kampf und Gewalt im Dienst der vermeintlichen einen Wahrheit zu instrumentalisieren und hinsichtlich ihres Liebesgebots, das alle Religionen eint, zu verfremden. Dort, wo der Glaubende sein Handeln hingegen dieser Liebe als zentrales Merkmal unterordnet, gilt es ihm gerade als geboten, Konsensprinzipien zu fördern und sich auch auf den Dialog mit dem (vermeintlich) Fremden einzulassen. Wenn es nicht mehr vornehmlich darum geht, Wahrheitskonzepte zu vereinheitlichen, eröffnet sich ein breites Feld von Konsensmöglichkeiten. Dabei bleibt es dem Einzelnen zugestanden, bei seiner persönlichen Glaubenswahrheit zu bleiben, weil es darum geht, Unterschiede in einen Dialog zu bringen.1311 Religiöse Prägungen sind also insofern flexibel als nicht die Religion, sondern der autonome Mensch darüber entscheidet, auf welche Weise er die von ihm geglaubten Überzeugungen in sozialer Hinsicht ausdrückt. Letztlich kann deshalb jeder Glaubenssatz in friedvoller oder in gewaltvoller Absicht ausgelegt werden. Die religiöse Dimension in Konfliktkonstellationen hat deshalb sowohl konsensförderndes als auch eskalationsförderndes Potenzial. Der freie Mensch legt seine Religiosität aus und trifft Handlungsentscheidungen, die seiner Interpretation entsprechen. Schon in dieser Auslegung kommt also eine Freiheit zum Tragen, die wiederum Verantwortungsübernahme prägt. Von der eigenen Freiheit Gebrauch zu machen, bedeutet, Wagnisse einzugehen und sich die Folgen von Entscheidungen und Handlungen selbst zuzurechnen. Bonhoeffer erkennt die Gefahren einer Religiosität, die den Menschen dazu verleitet, sich dieser eigenen Verantwortung zu entziehen, indem er seine Freiheit aufgibt. Als ein Dienst an Gott deklariert, wird das eigene Leben dann unter den Primat eines religiösen Dogmatismus gestellt. Tatsächlich ist die eigens gewählte Selbstbeschränkung aber nichts anderes als einer der von Weber strikt abgelehnten Scheinwege an den Realitäten der Welt vorbei.1312 Deswegen appelliert Bonhoeffer an den mündigen Menschen, sein Menschsein samt aller Konsequenzen anzunehmen. Von hierher erhält seine Forderung, zu Wagnis und Schuldübernahme bereit zu sein, ihre Dringlichkeit.1313 Diese Bereitschaft generiert nämlich die Freiheit zu einem selbstbestimmten Leben, welches sich auch darin erweisen kann, es von Gott her bestimmen zu lassen. Selbstbe1311 Vgl. 7.2 Verantwortungsethik als Sozialethik. 1312 Vgl. 8.1 Verantwortungsethik als Antwort auf konfliktträchtige Lebenswirklichkeit. 1313 Vgl. 12.3 Das Wagnis des Handelns und die Bereitschaft zur Schuldübernahme.

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stimmtheit hängt wiederum eng mit Verbindlichkeit zusammen, die für Mediation von entscheidender Bedeutung ist. Der Grad an Verbindlichkeit erhöht sich mit zunehmender subjektiver Sinnhaftigkeit. Weil sich Sinn über Relevanz herstellt, spielen auch in eine frei gewählte Verantwortungsübernahme vornehmlich persönlich bedeutsame Faktoren hinein. Wenn das eigene Gottesverhältnis höchste Relevanz hat, wird Verantwortung auch nur für solche Angelegenheiten übernommen, die mit dem Gottesverhältnis kompatibel sind. Das heißt, dass der glaubende Mensch die innere Stimmigkeit seines eigenen Selbstseins an dem bemisst, was Weischedel als das »Gott-zueigen-werden«1314 bezeichnet. Darin erweist sich Religion als »eine gesteigert Form von Selbstdeutung«1315. Es wird habitualisiert, Lebenszusammenhänge unter dem Eindruck des Gottesglaubens reflexiv zu deuten.1316 Die Orientierung am Willen Gottes wird dadurch verbindlich in den Lebensvollzug integriert und alle lebensweltlichen Relevanzen, also auch das Mitwirken im Konfliktregulationsprozess, werden dieser ersten Verbindlichkeit zugeordnet. Dabei kommt zum Tragen, dass sich die »doppelte Verweisung« von Verantwortung verschärft, weil Gott den Bezug des »vor« darstellt.1317 Wenn Gott die Wahrheit ist, ist alles, was außerhalb von Gott ist, nicht in der Wahrheit. Ein Handeln, das nach diesem Wahrheitsverständnis nicht wahrheitsgemäß ist, ist nicht gottgemäß und entspricht infolgedessen auch nicht seinem Willen. Wenn die Wahrheit zum Wesen Gottes gehört, muss dieser Gott auch allwissend sein. Vor diesem allwissenden Gott hat sich der Glaubende zu verantworten. Weil Gott sogar die Regungen des menschlichen Herzens nicht verborgen sind, schafft es höchste Verbindlichkeit, wenn der Rechenschaftsaspekt als ein Implikat der Beziehung zu Gott verstanden wird.1318 Die Tendenz, dass religiös reflektiertes Verantwortungshandeln vornehmlich von einer bangen Furchtsamkeit vor einem als allwissend und richtend geglaubten Gott her geprägt sein kann, lässt sich nicht von der Hand weisen. Allerdings bildet dieses einseitige Verständnis 1314 Wilhelm Weischedel: Das Wesen der Verantwortung, 108; vgl. 8.2 Selbstverantwortung als tiefste Verantwortungsart. 1315 Arnulf von Scheliha: Der Glaube an die göttliche Vorsehung, 339. 1316 Deswegen wird auch von Metasinn statt von Makrosinn gesprochen. Der Metasinn ist nicht nur »größer« als alle anderen Sinnebenen, sondern er durchzieht sie auch und durchwirkt sie damit. Demgemäß müssen die hier vorgenommenen Ausführungen hinsichtlich religiöser Reflexivität dahin gehend eingeordnet werden, dass sie theoretisch zu entfalten versuchen, was sich im Inneren eines glaubenden Menschen in Form eines natürlichen Prozesses ereignet. Der Versuch, die Tendenzen religiöser Reflexivität zu durchdenken, soll also nicht dazu führen, die Komplexität von Reflexionsprozessen in der Mediation künstlich zu erhöhen. Mit Blick auf mediative Praktikabilität ist deshalb darauf hinzuweisen, dass die Habitualisierung von religiöser Lebensdeutung dazu führt, dass Menschen automatisch bestimmte Reflexionsschleifen in ihre Erwägungen einziehen. 1317 Vgl. 9.3 Akzeptanz als Ausdruck christlicher Liebe. 1318 Vgl. 9.2 Der Mensch als gerechtfertigtes Wesen vor Gott.

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nur unzureichend ab, was eine Gottesfurcht auszeichnet, die den Menschen zum Leben befreit, statt ihn zu beschränken. In der persönlichen Gottesbeziehung verwirklicht sich die Liebe Gottes. Demgemäß steht sie unter dem »Ja« Gottes1319 zum Menschen. Anzuerkennen, dass es geboten ist, »Gott Gott und den Anderen diesen Anderen sein zu lassen«1320, drückt wahrhaftige Gottesfurcht aus, die sich von Angst vor Gott unterscheidet. Gott zu fürchten, bedeutet, ihn in »seiner Erhabenheit und Macht [zu respektieren], als den Schöpfer, von dem unser Leben in jedem Augenblick abhängt, und als den Richter, vor dem nichts verborgen bleibt«1321. Lebenspraktisch konkretisiert sich das schon thematisierte »zugleich«1322 darin, dass der Mensch Verantwortung übernimmt, weil er darum weiß, dass der richtende Gott – sofern es ihn überhaupt als einen richtenden Gott gibt – zugleich der Liebende ist, der das Leben des Menschen geschaffen hat und es erhält. Deshalb darf der Mensch auch darauf vertrauen, in aller Fehlbarkeit gerechtfertigt zu sein. Die Gottesbeziehung lädt dazu ein, die unübertragbare Selbstverantwortung in die Verantwortung Gottes hineinzubergen und allein für sie einzustehen, ohne alleingelassen zu werden. Von dieser Gottesfurcht geht eine zusätzliche Verbindlichkeit aus, die Metasinn generiert. Wenn nicht mehr zwischen einem heiligen und einem profanen Raum unterschieden wird, profitieren konkrete lebensweltliche Verbindlichkeiten – wie die einer mediativen Übereinkunft – von der allem übergeordneten Gottesfurcht. Darin zeigt sich die eigentliche »Mündigkeit« des Menschen, dass ihn eine zutiefst intrinsisch motivierte Verbindlichkeit dazu befähigt, selbstbestimmt zu entscheiden und zu handeln. Eine Gottesfurcht, die die Erhabenheit Gottes respektiert, durchzieht auf diese Weise die mediationsrelevanten Beziehungen zum Selbst, zu den anderen und zum Ergebnis und vertieft sie dadurch.1323 Nach bonhoefferscher Deutung dieser »Lebensbeziehung«1324 zu Gott kommen die Begriffe der »Stellvertretung« und der »Wirklichkeitsgemäßheit« in den Blick.1325 »Stellvertretung« impliziert, zur unbedingten Hingabe an den anderen und an die gegebene Situation bereit zu sein. Selbstloses Handeln und die widerstandlose Übernahme von Leid sind wesentliche prägende Aspekte eines auf Gott hin ausgerichteten Menschseins. In Verbindung mit der anerkannten »Mündigkeit« des Menschen sind sie aber nicht unbedingt mit Willenlosigkeit 1319 Vgl. 11.1 Die Bedeutung des Versöhnungsgeschehens. 1320 Ulrich H. J. Körtner : Freiheit und Verantwortung, 14; vgl. 9.1 Religiöse Freiheit als gebundene Freiheit. 1321 Wolfhart Pannenberg: Systematische Theologie, 216. 1322 Vgl. 9.2 Der Mensch als gerechtfertigtes Wesen vor Gott. 1323 Vgl. 2.6 Ressourcenorientierte Intervention als Angebot zur Gegensinnstiftung. 1324 Helmut Kuhn: Liebe, 11. 1325 Vgl. 10.3 Das »Wirklichkeitsgemäße« als das konkrete »Gute«; 11.2 »Stellvertretung« und das Verhältnis von Bindung und Freiheit.

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gleichzusetzen. Das heißt, dass auch ein Mensch, der sich der Hingabe und der Selbstlosigkeit verpflichtet hat, Verhandlungen führen kann, in denen seine eigenen Interessen zu stehen kommen. Seine Verhandlungsweise zeichnet sich jedoch durch die Einheit von Einfalt und Klugheit aus.1326 Das Wissen um die Unzerstörbarkeit der Gottesbeziehung und darum, die Wahrheit bei Gott zu wissen und nicht bei sich selbst, generiert eine Einfältigkeit, durch die sich der Mensch vertrauensvoll Gottes Führung überlässt. Eine dezidierte wirklichkeitsgemäße Auffassungsgabe gepaart mit der Fähigkeit, zwischen konstruktivem und destruktivem Verhalten unterscheiden zu können, gehört zu den Merkmalen klugen Verhandelns. Weil es wahrhaftig auf einen Konsens abzielt, ist es nicht egogeleitet und stellt den eigenen Vorteil nicht um jeden Preis an erste Stelle1327, sondern berechtigt eigene und fremde Interessen gleichermaßen.1328 Damit entspricht es den sozialethischen Implikationen von Mediation. Solcherweise verhandeln kann derjenige, der eine Haltung distanzierten Engagements einnimmt. Sie zeichnet sich dadurch aus, sich mit Leidenschaft für eine Sache einzusetzen, ohne distanzlos zu werden und sich infolgedessen unhinterfragt von Geltungsansprüchen bestimmen zu lassen. Die Spannungseinheit Webers drückt dies in allgemeiner Form aus.1329 Steht die Spannungseinheit unter dem Eindruck religiöser Reflexivität, kann sie dahin gehend spezifiziert werden, dass der Glaube dazu befähigt, sich nicht von einem bestimmten Ausgang der Verhandlungen abhängig zu machen. Der glaubende Mensch bindet sich nicht an ein Ergebnis, sondern allein an Gott. Dadurch relativieren sich die Wünsche hinsichtlich eines Verhandlungsertrags, der für vorteilhaft gehalten wird. Auch dann, wenn sich Misserfolge einstellen und eigene Bedürfnisse nicht umfänglich genug berücksichtigt zu sein scheinen, stärkt die Glaubenskraft darin, eigene Vorstellungen loszulassen. Ein solches Geschehenlassen lässt sich dadurch sinnhaft begründen, dass menschliche Vor-Stellungen nicht auf der ganzen Wahrheit beruhen, weil diese allein in Gott ist. Sie beziehen sich nur auf den Wirklichkeitsausschnitt des Menschen und sind dementsprechend nichts weiter, als ein Abbild partiellen Wissens, das sich vor die wahrhaftige Offenbarungswirklichkeit Gottes gestellt hat. Angesicht dessen lässt sich alles Ersehnte als fragmentarisch und vergänglich erkennen. Es wird offenkundig, dass VorStellungen vom Ego herrühren und um der Hingabe an Gott willen preiszugeben sind. Sie können von ihm »richtig gestellt« werden und zwar dadurch, dass von Jesus Christus her auf den wirklichkeitsgemäßen und damit christusgemäßen

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Vgl. 13.1 Persönliche Voraussetzung zur Verantwortungsfähigkeit. Vgl. 10.1 Die Unterscheidung der menschlichen Existenz in Ego und Sein. Vgl. 7.2 Verantwortungsethik als Sozialethik. Vgl. 8.1 Verantwortungsethik als Antwort auf konfliktträchtige Lebenswirklichkeit.

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Handlungsauftrag geschlossen wird.1330 Das bedeutet: Im Glauben wird aus einer Vor-Stellung durch das Ego eine Richtig-Stellung durch Jesus Christus. Die Haltung eines auf diese Weise »richtig-gestellten« Menschen ist sehr kraftvoll. In ihr zeigt sich nicht nur die Liebe Gottes zum Menschen, sondern es verlebendigt sich auch dessen Liebe zu Gott. Dem mediativen Verfahrensgrundsatz der Ergebnisoffenheit1331 wird durch ein distanziertes Engagement aus dem Glauben heraus konsequent Rechnung getragen, ohne das Konfliktregulationsvorgehen deshalb für weniger wichtig zu erachten. Es geht vielmehr darum, die prinzipielle Interpretiertheit von Verantwortung vom Glauben her auszulegen, wodurch die religiöse Verantwortung auch entgegen mancher Widernisse und persönlicher Rückschläge erste Priorität behält.1332 Für den glaubenden Menschen zeigt sich sein verantwortliches Handeln darin, dass er gewissenhaft handelt.1333 Das beinhaltet, Gottes gegenwärtigem Gebieten zu gehorchen und sich selbst infolgedessen weniger wichtig zu nehmen. Diese spezifische Form von Selbstbestimmtheit impliziert auch das »Dasein-für-andere«1334. Es gerät deutlicher in den Fokus, die Wichtigkeit des anderen wahrzunehmen, sie anzuerkennen und sie in eigene Bestrebungen zu integrieren. Dadurch zeichnet sich eine den beiden generellen Grundsätzen der Mediation1335 gemäße Haltung aus, dass selbstbestimmt Akzeptanz gelebt wird. Aus Akzeptanz und Selbstbestimmtheit wird dann eine Akzeptanz von Selbstbestimmtheit. Sich auf die beschriebene Art frei von Zwängen zu halten, die sich beispielsweise dadurch ergeben können, an einem Verhandlungsergebnis zu haften, ermöglicht es also, den »selbstverantworteten Konsensweg« Mediation als eine konkrete Realisierungsmöglichkeit des »Daseins-für-andere« aufzufassen. Aufgrund des identitätsstiftenden Charakters einer durch den Glauben generierten Veränderung im Selbst- und Welterleben, bestimmt sich eine Person als ein selbst-, gemeinschafts- und gottbezogenes Wesen1336 im Konfliktregulationsprozess auf religiös reflexive Weise. Wenn die christliche Wahrheit konsequent zu bewahren und auszulegen versucht wird und damit der Anspruch besteht, sie über den individuellen Lebensausdruck als eine Gegenwärtige zu verantworten, ändert sich die Qualität des Menschseins. Weder ist Religiosität der einzige Weg zur Veränderung des eigenen Menschseins noch zeichnet sich die gemeinte Qualität dadurch aus, ein »besserer« Mensch zu werden. Vielmehr wird das 1330 Vgl. 10.3 Das »Wirklichkeitsgemäße« als das konkrete »Gute«. 1331 Vgl. 3.3 Verfahrensgrundsätze als Angebot zur Änderung von Verhalten. 1332 Vgl. 6.2 Das Phänomen Verantwortung zwischen Entscheidung und Haftung; 8.2 Selbstverantwortung als tiefste Verantwortungsart. 1333 Vgl. 13.4 Verantwortliches Handeln als gewissenhaftes Handeln. 1334 Vgl. 12.2 »Dasein-für-andere« als Ausdruck christusgemäßer »Mündigkeit«. 1335 Vgl. 3.3 Verfahrensgrundsätze als Angebot zur Änderung von Verhalten. 1336 Vgl. 8.2 Selbstverantwortung als tiefste Verantwortungsart.

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Menschsein schlechthin als eines angenommen, das auch von Bedrängnissen und Konflikterleben, leidvollen Begebenheiten und Fehlern gezeichnet ist.1337 Vor Gott Mensch zu sein, beinhaltet, das Leben abseits von Perfektionsvorstellungen genauso anzunehmen, wie es sich zeigt, und nach Wegen zu suchen, um wirklichkeitsgemäß darauf zu reagieren. Diese Qualität des Menschseins gründet insbesondere darauf, sich der Liebe Gottes hinzugeben und das sich dadurch generierende Vertrauen mit Selbsttätigkeit zu verbinden. Allem eigenen Schaffen geht angesichts der bedingungslosen Gottesliebe ein Akt der Demut voraus, der in grundsätzlicher Weise über den Menschen aussagt, dass er Gott an und durch sich geschehen lassen will. Diese Demut entspringt einem festen Glauben, der den Menschen hat erkennen lassen, dass es keine Tugend ist, zu zweifeln, sondern nur der Versuch, sich von einer eigenen Handlungspflicht zu befreien. Vor diesem Hintergrund ist Bonhoeffers grundsätzliches Anliegen zu verstehen, »tiefste[…] Glaubenssätze mit der Wahrnehmung wirklichkeitsgemäßer Weltverantwortung«1338 zu verbinden. Bonhoeffer gibt dem theologischen Nachdenken dadurch eine Richtung, mit der die »Verhüllung, das Geheimnis Gottes« bewahrt bleiben soll. Jede theologische Aussage wird zum »Vorletzten eines Letzten und jede letzte Aussage wird allein konkret durch die Verweisung auf das Vorletzte«1339, ohne den Bezug zum Leben des konkreten Menschen zu verlieren. Eine gottesfürchtige Demut verlebendigt sich auch darin, die von Gott gegebene Freiheit abseits des Ringens um »Gut« und »Böse« anzunehmen und vollmächtig aus dem Glauben heraus zu handeln. Diese Vollmacht äußert sich zuerst in einer Integrität, die zu einem in sich stimmigen Leben1340 beiträgt. Darüber hinaus kann es gelingen, andere an dieser inneren Stimmigkeit teilhaben zu lassen.1341 Eine aus ihr resultierende natürlich charismatische Führungsstärke – wie sie auch Weber vor Augen steht1342 – gründet in einem intrapersonal stabilen Sein1343, das die Persönlichkeitskonstitution eines Menschen in kognitiver, emotionaler und sozialer Hinsicht prägt. Die katalytische Wirkung, die sich darin zeigen kann, dass allein die Anwesenheit einer solchen Person Veränderungen herbeiführt, bleibt allerdings nur solange bestehen, wie sie selbst darauf verzichtet, die Qualitäten ihres 1337 Vgl. 11.3 Menschwerdung abseits des Prinzipiellen. 1338 Nachwort der Herausgeber in DBW 6, 439; vgl. Götz Harbsmeier : Die »nicht-religiöse Interpretation biblischer Begriffe« bei Bonhoeffer und die Entmythologisierung, 75. 1339 Beide Zitate Georg Huntemann: Der andere Bonhoeffer, 33. 1340 Formulierung in Anlehnung an Axel Denecke (vgl. ders.: Das Leben nicht-religiös interpretieren, 110). 1341 Exemplarisch sei auf Dietrich Bonhoeffers Beschreibung hingewiesen, dass ihn Menschen im Tegeler Gefängnis als einen ausgeglichenen und dadurch ausgleichenden Menschen wahrnehmen (vgl. DBW 8, 402). 1342 Vgl. 8.1 Verantwortungsethik als Antwort auf konfliktträchtige Lebenswirklichkeit. 1343 Vgl. 10.1 Die Unterscheidung der menschlichen Existenz in Ego und Sein.

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Menschseins für egozentrierte Zwecke einzusetzen.1344 Eine natürliche Autorität, die andere bereichern kann, generiert sich demzufolge aus einer Bewusstheit heraus, die sich durch den Verzicht kennzeichnet, etwas aus sich selbst machen zu wollen.1345 Charakteristisch für eine solche Haltung ist, »dass man selbst in die Frage verwandelt wird«1346, um zu dem »Grund der eigenen Voraussetzungen«1347 vorzudringen. Im Unterschied zu einem philosophischen Nachfragen, zeichnet sich ein Fragen aus christlicher Perspektive dadurch aus, dass es Gott als den Grund allen Seins nicht anzweifelt. Vor diesem Hintergrund werden die beiden identitätsstiftenden Fragen »Wer ist Christus?« und »Wer bin ich?«1348 gestellt. Der Fragende verzichtet darauf, Antwortbedingungen vorzugeben, die darüber hinausgehen, die Existenz Gottes anzunehmen. Er erwartet die Antwort nicht aus sich selbst heraus, sondern hält sich offen für eine sich fortwährend erneuernde Beantwortung, die sich aus der situationsabhängigen Gegenwärtigkeit Gottes heraus ergibt. In dieser Fragehaltung exemplifiziert sich die Dialektik aus Bindung und Freiheit, die konstruktiv in Konfliktregulationsprozesse hineinspielen kann. Sich dessen bewusst zu sein, dass die Gottesbeziehung auch unter dem Eindruck von Konflikten unzerstörbar bleibt, begünstigt es, die beschriebene Fragehaltung auch gegenüber den anderen Konfliktbeteiligten einzunehmen.1349 Das Konfliktpotenzial geht infolgedessen schon allein dadurch zurück, dass sich einer dem anderen aufrichtig zuwendet und ihn in seinem Selbsterleben wahrhaftig verstehen will. Dadurch wird eine Beziehung aufgenommen, die das gegenseitige Verfehlen im Konfliktfall nicht weiter nährt. Es hat sich gezeigt, dass sich die Relevanz der Schnittstelle von Mediation und Theologie ausschließlich über den Persönlichkeitsbegriff begründbar aufzeigen lässt. Wenn die Zentralstellung des Menschen affirmativ anerkannt wird, gewinnt die Schnittstelle an Bedeutung, weil der Gottesglaube zu Persönlichkeitsprägungen beitragen kann, die die Konfliktregulationskompetenz erhöhen. Wenn der Blick darauf gerichtet wird, dass Religiosität primär die Subjektebene betrifft und sich von hierher sekundär in der sozialen Dimension zeigt, liegt ein formales Religionsverständnis vor. Der gemeinsame Nenner von Mediation und Theologie besteht deshalb darin, dass grundlegende christliche Wertvorstel1344 Vgl. 7.3 Selbstverantwortung als Grundvoraussetzung für Verantwortung. 1345 Vgl. 12.1 Der Mensch als mündiges Wesen vor Gott. 1346 Johannes Hieber : Interrogative Ethik, 142; vgl. 8.3 Verantwortungsethik als fragende Ethik. 1347 Wilhelm Weischedel.: Wirklichkeit und Wirklichkeiten, 67; 8.2 Selbstverantwortung als tiefste Verantwortungsart. 1348 Vgl. DBW 8, 402. In Anlehnung an Dietrich Bonhoeffers Gedicht Wer bin ich (vgl. Dietrich Bonhoeffer : Widerstand und Ergebung, 188). 1349 Vgl. 8.3 Verantwortungsethik als fragende Ethik.

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lungen, wie Achtung und Gewaltfreiheit, mit den Grundsätzen der Mediation kongruieren. Der Dienst am Menschen ist aus christlicher wie aus mediativer Perspektive ein wesentliches Merkmal verantwortlichen Handelns. Mediativ erfolgt dieser Dienst, indem von einer Verfahrensstruktur Gebrauch gemacht wird, um Menschen und ihre Beziehungen von konfliktären Einflüssen, durch die sie sich selbst und andere verfehlen, zu entlasten. Christlich ist er über den Auftrag Gottes begründbar, der gebietet, das sündhafte Verfehlen des Konflikts zu überwinden, indem am Liebeskriterium orientiert gehandelt wird. Diese Schnittstelle kann also beiderseitig angereichert werden, nämlich mediativ verfahrensbezogen und christlich inhaltsbezogen. Darüber hinaus gilt aber auch, dass der Mediation zwar eine christliche Persönlichkeitsprägung beschriebener Art dienlich sein mag, das Christliche aus theologischer Perspektive darin aber nicht vollständig aufgehen kann. Wird Religiosität nämlich substantiell verstanden, also ihrem Alleingültigkeitsanspruch nach, steht die methodische Rechtfertigung unterschiedlicher gleichwertiger Wahrheitsvorstellungen in der Mediation der einen Wahrheit des Glaubens entgegen. Daraus ergibt sich zumindest die Notwendigkeit, die Toleranzfrage zu erörtern. Schließlich gilt festzuhalten, dass eine beiderseitige Bereicherung dann erfolgt, wenn zwischen dem Glauben als einer persönlichen Lebensdeutung des Menschen und der Mediation als einer konkreten situativen Maßnahme, um ein aktuelles Konfliktgeschehen bewältigen zu können, unterschieden wird. Dann kann Mediation als ein wirksames, weil in der Sache kompetentes Angebot dafür gelten, einen christlich verantworteten Umgang mit Konfliktregulations- und Friedensprozessen zu rahmen. Sie inszeniert eine reflexive Welt zwischen Perfektion und Katastrophe, in der Erleben und Reflexion eines Konflikts zeitgleich bewusst und vor dem Hintergrund religiöser Reflexivität so gedeutet werden, dass sich ein »selbstverantworteter Konsensweg« zeigt, der aus dem Verfehlen hinaus in eine lebendige Beziehung hineinweist, wenn verantwortlich dafür eingestanden wird.

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A.

Sigla

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DBW 2

DBW 4 DBW 6 DBW 7 DBW 8

DBW 11

DBW 16

EG

GFK

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GS 2 GS 3 RS WL

B.

Abkürzungen

Anm. H. i. O. H. d. V., WLL H. z. S., WLL

Anmerkung Hervorhebungen im Original Hervorhebungen der Verfasserin, Wiebke-Lena Laufer Hervorhebungen zur Strukturierung, Wiebke-Lena Laufer

Für die Quellenangaben in den Fußnoten werden Kurztitel verwendet. Verweise auf das Internet entsprechen i. d. R. dem Stand von 2015. Die Nennung des jeweiligen Datums findet sich im Literaturverzeichnis. Alle Hervorhebungen in den Quellen wurden beibehalten. Syntaktisch erforderliche Einfügungen innerhalb der wörtlichen Anführung werden in eckige Klammern »[ ]« gestellt. Auslassungen werden mit »[…]« gekennzeichnet.