Materielle Kultur und Konsum in der Frühen Neuzeit [1 ed.] 9783412517656, 9783412507305

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Materielle Kultur und Konsum in der Frühen Neuzeit [1 ed.]
 9783412517656, 9783412507305

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Materielle Kultur und Konsum in der Frühen Neuzeit

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DING, MATERIALITÄT, GESCHICHTE

BAND 1

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Ob unscheinbarer Alltagsgegenstand oder gehüteter Kunstschatz – die in diesem Buch vorgestellten Objekte haben Geschichte und machen Geschichte erzählbar. Neun exemplarische Studien befassen sich mit der Frage, wie frühneuzeitliche Menschen, Institutionen und Gemeinwesen mit den sie umgebenden Dingen und den ihnen zur Verfügung stehenden Gütern umgingen. Anhand von Materialien und Macharten, Verbrauchsformen und Gebrauchsweisen, Eignungen und Anforderungen, Beziehungen und Bewegungen, Wissen und Wahrnehmungen werden aus objekt- und konsumgeschichtlicher Perspektive Charakteristika der frühneuzeitlichen Epoche diskutiert. Der aus einem internationalen und interdisziplinären Netzwerk hervorgegangene Band gibt damit zugleich eine Einführung in dieses innovative Gebiet der Frühneuzeitforschung.

Julia A. Schmidt-Funke (Hg.)

245

Trimmed: (245H × 375W) Untrimmed: (275H × 405W) mm

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Materielle Kultur und Konsum in der Frühen Neuzeit

Julia A. Schmidt-Funke (Hg.)

978-3-412-50730-5_schmidt-funke.indd Alle Seiten

30.10.19 16:34

DING, MATERIALITÄT, GESCHICHTE herausgegeben von Lucas Burkart, Mark Häberlein, Monica Juneja und Kim Siebenhüner

Band 1

Julia A. Schmidt-Funke (Hg.)

Materielle Kultur und Konsum in der Frühen Neuzeit Mit 51 Abbildungen

Böhlau Verlag Wien Köln Weimar

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Martin van Valckenborch (?), Georg Flegel, Stillleben mit Prunkgeschirr und Magd, nach 1597, Öl auf Leinwand, Höhe 91,5 cm, Breite 120,5 cm, Privatbesitz, akg-images AKG138838. Korrektorat: Philipp Knüpffer, Frankfurt am Main Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51765-6

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Zur Sache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Materielle Kultur und Konsum in der Frühen Neuzeit Julia A. Schmidt-Funke

1. Die Sache mit den Dingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 2. Knappheit und Überfluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 3. Jenseits der Worte, jenseits der Dinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 4. Zu den Beiträgen dieses Bandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 Materialien und Macharten Made in Italy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Seidenbänder im frühneuzeitlichen Europa Andrea Caracausi

1. Die Vielseitigkeit der Bänder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 2. Die Produktion der Bänder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 3. Der Verkauf der Bänder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 4. Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 Hybride Objekte, aus-gezeichnete Dinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Ein Fayencekrug des 17. Jahrhunderts Julia A. Schmidt-Funke

1. Transfers und Transformationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 2. Hybride Objekte frühneuzeitlichen Konsums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 3. Ein fremder Baum und seine europäische Aneignung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 4. ›Aus-gezeichnete‹ Dinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 5. Ein serielles Einzelstück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 6. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

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Inhalt

Verbrauchsformen und Gebrauchsweisen Löffelkulturen oder: Zur Beschäftigung mit ›Alltagsgegenständen‹ in der Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Elizabeth Harding

1. Annäherungen an frühneuzeitliche ›Alltagsgegenstände‹: Fragestellung und Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 2. Formen und Materialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 3. Mobilität des ›Alltagsgegenstands‹: Löffel als vielseitige Währung . . . . . . . . . . . 96 4. Anforderungsprofil des ›Alltagsgegenstands‹: Simplizität als Objektprogramm 99 5. Ge- und Verbrauchbarkeit des ›Alltagsgegenstands‹: Löffel und ihre Zeitlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 6. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 Begehrt, knapp und im Wandel: Fleisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Janine Maegraith

1. Fleisch: eine historische Annäherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 2. Fleisch als Forschungsgegenstand in der Geschichtswissenschaft . . . . . . . . . . . 112 3. Fleischkonsum im Spiegel von Spitalordnungen und medizinischen Topographien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 4. Fleisch im Selbstzeugnis. Das Gedenkbuch Michel Stüelers . . . . . . . . . . . . . . . . 122 5. Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Eignungen und Anforderungen Miniaturisierung als Verdichtung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Von der Relationalität der Dinge Annette Caroline Cremer

1. Die Relationalität von Objekten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 2. Staunen und Affektkontrolle – kunsthandwerkliche ›Magie‹ in Flaschen . . . . . 140 3. Realienkunde – Lernen mit (kleinen) Dingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 4. Von Mini zu Mikro und die Herstellung von Sichtbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . .147 5. Rezeption der Miniaturen – Visus und Kontemplation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 6. Von Mikro zu Nano – die Überschreitung des sinnlich Wahrnehmbaren . . . . 154 7. Fazit: Miniaturisierungen als Medien der Verdichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

Inhalt

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Parerga des Wissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Der Drogentisch der Franckeschen Stiftungen zu Halle und die Genese von Sammlungsmöbeln um 1700 Christiane Holm

1. Epistemische Möbel – ein praxeologischer Zugang zur Sammlungsgeschichte 169 2. Sammlungsmöbel in der Museumskunde um 1700 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 3. Wissensordnung und Warenkunde um 1700 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 4. Der Drogentisch als Schnittstelle epistemischer, pädagogischer, kaufmännischer und religiöser Praktiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 5. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Beziehungen und Bewegungen Objektbiographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Die Mobilität der (Kunst-)Dinge als Beute, Gabe und Ware Michael Wenzel

1. Objektbiographie: Zirkulation, symbolischer Wert und Preis . . . . . . . . . . . . . . .195 2. Kaiserzeitliche Lekythos und antikes Sammelstück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 3. Beutegut und Spekulationsobjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 4. Erbstück und ›Ladenhüter‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 5. Sammlungsstück und Forschungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 6. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 Wissen und Wahrnehmungen Material und alchemistische Metamorphose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Tizians Tod des Aktaion als gemalte Kunsttheorie Berit Wagner

1. Konzepte des (Gemälde-)Machens in der Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 2. Tizian, der Maler-Alchemist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 3. Mythoalchemie und der Tod des Aktaion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 4. Alchemie am spanischen Hof und in Tizians persönlichem Umfeld in Venedig 248 5. Tizians Paragone mit den Glaskünstlern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 6. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256

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Inhalt

Frühneuzeitliche Warenkultur? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Zwischen Staunen und Wissen über fremde Güter Kim Siebenhüner

1. Eine expandierende Welt der Waren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 2. Das Staunen über fremde Waren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 3. Neue warenkundliche Informationen und ihre Zirkulation . . . . . . . . . . . . . . . . 272 4. Erste Warenkunden und die Systematisierung von Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . .275 5. Die Persistenz der Leidenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 6. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293

Vorwort

Dieses Buch verdankt sich dem produktiven, disziplin- und länderübergreifenden Austausch innerhalb des Netzwerkes Materielle Kultur und Konsum im Europa der Frühen Neuzeit. Objekte – Zirkulationen – Aneignungen. Die Mitglieder des Netzwerkes – Andrea Caracausi, Annette Caroline Cremer, Elizabeth Harding, Christiane Holm, Evelyn Korsch, Janine Maegraith, Julia A. Schmidt-Funke, Kim Siebenhüner, Berit Wagner, Michael ­Wenzel – haben das Vorhaben mit ihren Ideen und ihrem Engagement getragen. Regelmäßige Arbeitstreffen ermöglichten uns eine kontinuierliche Diskussion über den Gegenstand (und die Gegenstände) unserer Forschung. Gemeinsam erschlossen wir Methodenund Theoriefragen, teilten Erfahrungen und Wissen. Das Netzwerk gab uns Raum, laufende Untersuchungen zu diskutieren und neue Projektideen zu entwickeln; es verhinderte, dass die eigene Forschung zum Einzelkampf wurde. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit war uns eine große Freude und ein reicher Gewinn. Seit 2016 wird sie innerhalb des Arbeitskreises Materielle Kultur und Konsum in der Vormoderne (https://mkkv.hypotheses.org/) in erweitertem Kreis fortgesetzt. Die Gründung des Netzwerkes im Herbst 2011 wurde ermöglicht durch eine Anschubfinanzierung der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft förderte dann von 2013 bis 2016 unsere Netzwerktreffen und finanzierte die Drucklegung dieses Buches. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der DFG-Geschäftsstelle sei ausdrücklich dafür gedankt, dass sie unser Vorhaben so hilfsbereit begleiteten und die Projektleiterin davor bewahrten, an der Drittmittelverwaltung zu verzweifeln. Die Arbeitstreffen unseres Netzwerkes wurden von zahlreichen Kolleginnen und Kollegen mit Führungen, Vorträgen und Diskussionsbeiträgen bereichert. Wir danken dafür in der Reihenfolge der Veranstaltungen: Marika Keblusek, Heide Wunder, Barbara Krug-­Richter, Simon Paulus, Inken Schmidt-Voges, Vicky Avery, Sara Pennell, Sheilagh Ogilvie, Evelyn Welch, Inke Beckmann, Bruno Blondé, Jochen Sander, Filip Vermeulen, Sibylle ­Backmann, Mark Häberlein, Michaela Schmölz-Häberlein, Georg Stöger, Stefan Laube, Ina Heumann, Thomas Müller-Bahlke, Thomas Ruhland, Thomas Thiemeyer, Claus ­Veltmann, Holger Zaunstöck, Marian Füssel, Susanne Schötz, Michael North und Romedio Schmitz-Esser. Den Institutionen, die unsere Treffen beherbergten, sind wir ebenfalls zu Dank verpflichtet. Neben der Friedrich-Schiller-Universität Jena empfingen uns das Graduate ­Centre

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Vorwort

for the Study of Culture in Gießen, die Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, das Fitz William Museum und das Newnham College in Cambridge, die Goethe-Universität und das Städel-Museum in Frankfurt am Main, das Deutsche Studienzentrum Venedig und die Franckeschen Stiftungen zu Halle. Viele weitere Personen haben die Arbeit des Netzwerkes unterstützt. Unser Dank gilt insbesondere Gisela Mettele, die das Projekt an ihrem Lehrstuhl beherbergte, und Patricia Kotzauer, die uns zuverlässig als wissenschaftliche Hilfskraft zur Seite stand. Dass aus den Arbeiten des Netzwerkes endlich ein Buch entstand, ist dem Einsatz von Kim S­ iebenhüner als Reihenherausgeberin und der Verlagslektorin Dorothee Rheker-Wunsch zu verdanken, deren Geduld mit der Herausgeberin im richtigen Moment in Ungeduld umschlug. Von Herzen danken möchten wir schließlich unseren Partnern/innen und Familien, ohne deren Unterstützung die Zusammenarbeit im Netzwerk nicht möglich gewesen wäre, denn halbjährliche Arbeitstreffen bedeuten immer auch die halbjährliche Umorganisation von Familienabläufen. Während der Netzwerkzeit wurden fünf Kinder geboren: Ann ­Maleen, Wilmo, Laurens, Sarah und Julius. Ihnen ist dieses Buch gewidmet. Jena, im Juli 2019

Julia A. Schmidt-Funke

Zur Sache Materielle Kultur und Konsum in der Frühen Neuzeit Julia A. Schmidt-Funke

Eine junge Frau spült Geschirr. Umgeben von Leckereien und Kostbarkeiten wäscht sie in einem metallenen Spülbecken ein dünnwandiges Glas ab. Ihr Häubchen ist so weiß wie das auf einer Schale aufgehäufte Zuckerwerk, ihre Wangen tragen denselben zartrosa Ton wie die auf einem Obstteller liegenden Pfirsiche, ihr feiner Spitzenkragen ist so durchscheinend wie die im Regal aufgereihten Gläser. Überall zeigt sich Fülle, Schönheit und Exotik. Eine Vielfalt bunter Blumen ist zu einem prächtigen Blumenbouquet arrangiert. Keramikgeschirr und eine Phalanx wertvoller Pokale präsentieren fremdartige Werkstoffe, Formen und Motive: Porzellan und Kokosnuss, Ananas und Mohr (Abb. 1).

Abb. 1: Martin van Valckenborch (?), Georg Flegel, Stillleben mit Prunkgeschirr und Magd, nach 1597, Öl auf Leinwand, 91,5 × 120,5 cm, Privatbesitz.

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Julia A. Schmidt-Funke

Diese Szenerie entwarfen um 1600 die Maler der Valckenborch-Werkstatt in Frankfurt am Main.1 Sie machten die alltägliche Handhabung des Gläserspülens zum Aufhänger, um in materieller Fülle zu schwelgen. Nichts konterkariert die dargestellte Pracht: Kein Insekt kriecht über den Tisch, kein Freier stellt der jungen Frau nach, kein Bissen verunstaltet die aufgehäuften Köstlichkeiten. Es liegt damit allein im Auge des oder der Betrachtenden, die angehäuften Schätze als Affirmation des Überflusses zu sehen oder als Warnung vor Eitelkeit und schönem Schein.2 Die dargestellte Person ist vielleicht ein Werk des Meisters selbst; Blumen, Früchte und Prunkgeschirr werden hingegen Valckenborchs Mitarbeiter Georg Flegel zugeschrieben, der mit dem Gemälde seine mimetische Kunstfertigkeit demonstrierte.3 Flegel gab die Materialität der Gegenstände täuschend echt wieder. Sorgfältig malte er das filigrane Geflecht des Korbes, den spiegelglatten Rand des Obsttellers, den Lichtreflex in der Höhlung des Salzfässchens. Ebenso exakt gestaltete er Früchte und Blumen. Wiedererkennbar gab er Nelke, Schwertlilie, Tulpe, Türkenbund, Narzisse und Pfingstrose wieder, unterschied genau die raue Schale der Mispeln von der glatten Haut der Birnen und den glänzenden Beeren der Traube. Das Gemälde ist diesem Buch vorangestellt, weil es frühneuzeitliche Dinge zum Greifen nahe an uns heranrückt. Es veranschaulicht den Forschungsgegenstand einer historisch-kulturwissenschaftlichen Beschäftigung mit den Dingen, die im Zentrum ­unseres 2011 ins Leben gerufenen Netzwerkes »Materielle Kultur und Konsum im Europa der Frühen Neuzeit. Objekte – Zirkulationen – Aneignungen« stand. Unser Anliegen war es, die Erforschung frühneuzeitlicher materieller Kultur, das heißt eine vom einzelnen Gegenstand und seiner Materialität ausgehende Forschung, mit einer Konsumgeschichte der Frühen Neuzeit, verstanden als eine die ökonomischen Zirkulationen und die indivi1

Vgl. Wettengl, Kurt, Stilleben mit Prunkgeschirr und Magd, in: ders. (Hg.), Georg Flegel 1566–1638. Stillleben (Publikation zur Ausstellung des Historischen Museums Frankfurt am Main in Zusammenarbeit mit der Schirn Kunsthalle Frankfurt vom 18. Dez. 1993–13. Febr. 1994), Stuttgart 1993, 61 (Katalog-Nr. 10). 2 Die Kontroverse über die Deutung von Stillleben und Genreszenen soll hier nicht weiter ausgeführt werden. Festzuhalten ist, dass die Gemälde sowohl moralisierende Deutungen zulassen, als auch die Lust an den Dingen und ihrer täuschend echten Wiedergabe widerspiegeln. Beide Lesarten schließen einander nicht aus. Sicherlich beinhalten einige Gemälde recht eindeutige Lesehinweise, die eine ikonologische Interpretation stützen, während andere gänzlich ohne sie auskommen. Vgl. grundlegend Alpers, Svetlana, Kunst als Beschreibung. Holländische Malerei des 17. Jahrhunderts, Köln 1985; de Jongh, Eddy (Hg.), ­Questions of Meaning. Theme and Motif in Dutch Seventeenth-Century Painting, Leiden 2000. Aus konsumgeschichtlicher Sicht vgl. u. a. Schama, Simon, Perishable Commodities. Dutch Still-Life Paintings and the ›­Empire of Things‹, in: Brewer, John/Porter, Roy (Hg.), Consumption and the World of Goods, London 1993, 478– 488; Hochstrasser, Julie Berger, Still Life and Trade in the Dutch Golden Age, New Haven 2007. Vgl. dazu auch den Beitrag von Berit Wagner in diesem Band. 3 Zur Diskussion der Urheberschaft vgl. Wettengl, Stillleben mit Prunkgeschirr und Magd. Flegel wird zumeist als einer der ersten deutschen Stilllebenmaler apostrophiert. Vgl. Sander, Jochen, Die frühe Stilllebenmalerei am Main. Die flämischen Emigranten, Georg Flegel und Sebastian Stoskopff, in: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst 72 (2010), 22–34.

Zur Sache

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duellen Aneignungsprozesse berücksichtigende Forschung, zu verknüpfen.4 Fluchtpunkt der interdisziplinären Zusammenarbeit war das geteilte Interesse am Umgang der Menschen mit den Dingen.5 Unsere Wissbegierde richtete sich also nicht auf die Objekte an sich, nicht auf typologische Zugänge zur Sachkultur oder quantitative Erfassungen von Gütermengen, sondern auf das Verhältnis zwischen den Dingen und den Menschen.6 Deshalb ziert den Einband dieses Buches kein Stillleben, sondern eine Genreszene, die in ihrer Komposition Objekte und Menschen verbindet und in ihrer Machart dingbezogene Umgangsweisen und Sinnzuschreibungen transportiert. Der vorliegende Band gibt einen Einblick in die innerhalb des Netzwerkes verfolgten Zugänge, sichert das Erarbeitete und zeigt auf, wie es an übergreifende Forschungsfragen anschließt. Die ihm hier vorangestellte Einleitung umreißt zunächst knapp die bisherige Entwicklung des Forschungsgebietes und die ihm zugrunde liegenden theoretischen Positionen (1.). Die zwei darauffolgenden Abschnitte diskutieren die Charakteristik von materieller Kultur und Konsum in der Frühen Neuzeit. Dies geschieht zunächst aus einer stärker wirtschaftsgeschichtlichen (2.) und dann aus einer eher kulturgeschichtlichen (3.) Perspektive. Der Schwerpunkt der Ausführungen liegt dabei auf der deutschsprachigen Frühneuzeitforschung, deren Anbindung an die internationale Forschungsdiskussion unser Netzwerk intendierte. Ein Ausblick auf die in diesem Band versammelten Beiträge schließt die Einleitung ab (4.).

1. Die Sache mit den Dingen Seit der Gründung unseres Netzwerkes ist zur Geschichte der Dinge, zur materiellen Kultur und zum Konsum früherer Zeiten, zum material turn oder zur Materialisierung des Kulturellen viel geforscht und geschrieben worden. Konnten wir 2011 noch feststellen, dass die deutschsprachige Frühneuzeitforschung an der internationalen Debatte um materielle Kultur und Konsum kaum teilhatte, hat sich das Bild inzwischen gewandelt. Die Auseinandersetzung mit den Dingen – sei es mit erhaltenen Objekten oder ihren textlichen

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Zum Verhältnis der beiden ineinander verschränkten Forschungszweige vgl. Hahn, Hans Peter, Materielle Kultur. Eine Einführung, Berlin 2005, 50–54. 5 Ähnlich bereits 1994 Lipp, Carola, Zum Verhältnis von Alltagskultur- und Sachkulturforschung. Eine Antwort auf die kritischen Kommentare der Museologen Helmut Ottenjann und Uwe Meiners, in: Volkskunde in Niedersachsen 11 (1994), 85–93, hier 85–86. 6 Zur Fokussierung auf die Mensch-Ding-Beziehungen vgl. auch Schmidt-Funke, Julia A., Die Stadt von den Dingen her denken. Zur Materialität des Urbanen, in: Heusinger, Sabine von/Wittekind, Susanne (Hg.), Die Materielle Kultur der Stadt in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Wien/Köln 2019 (Städteforschung A/100), 19–38.

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und bildlichen Repräsentationen7 – ist unstrittig im Fach angekommen, und auch die interdisziplinäre Theoriediskussion ist dabei intensiv rezipiert worden. Mittlerweile kann auf eine Reihe von deutschsprachigen Aufsätzen und Sammelbänden verwiesen werden, die einen Überblick über den Forschungsstand geben, verschiedenste Ansätze aufzeigen und maßgebliche Theorien diskutieren.8 Die folgenden Ausführungen umreißen vor diesem Hintergrundgrund noch einmal knapp die für unser Netzwerk wichtigen Ansätze und Positionen. Unter den Begriffen »Materielle Kultur« und »Konsum« ging es uns darum, unterschiedliche Forschungstraditionen und ‑ansätze zusammenzuführen. »Materielle Kultur« markiert dabei eine kulturwissenschaftliche Perspektive, die das Objekt in den Mittelpunkt stellt, »Konsum« verweist dagegen stärker auf ökonomische Fragestellungen, die auf den Menschen und die von ihm konsumierten Güter fokussieren. In der Geschichtswissenschaft haben sich beide Forschungsfelder zunehmend aufeinander zubewegt. Die Konsumgeschichte etablierte sich in den 1990er Jahren als ein Forschungsgebiet, das sozial-, wirtschafts- und kulturgeschichtliche Ansätze miteinander verknüpfte. In der Frühneuzeitforschung stand dabei zunächst die Frage im Vordergrund, inwiefern Konsum den Übergang zur Moderne mitgestaltete. Entsprechende Interpretationen verwendeten die Metapher von der »Geburt« der Konsumgesellschaft, die zunächst für das späte 18. Jahrhundert angenommen, dann aber auch für die Renaissance und das 17. Jahrhundert diskutiert wurde.9 7 Für eine Differenzierung des methodischen Zugriffs vgl. Cremer, Annette C., Vier Zugänge zu (frühneuzeitlicher) materieller Kultur: Text, Bild, Objekt, Re-enactment, in: dies./Mulsow, Martin (Hg.), Objekte als Quellen der historischen Kulturwissenschaften. Stand und Perspektiven der Forschung, Köln/Weimar 2017 (Ding, Materialität, Geschichte 2), 63–90. 8 Für einen Überblick aus der Perspektive der deutschsprachigen Frühneuzeitforschung vgl. u. a. Cremer, Annette C., Zum Stand der Materiellen Kulturforschung in Deutschland, in: Cremer/Mulsow (Hg.), Objekte als Quellen, 9–21; Füssel, Marian, Die Materialität der Frühen Neuzeit. Neuere Forschungen zur Geschichte der materiellen Kultur, in: Zeitschrift für Historische Forschung 42 (2015), 433–463; Siebenhüner, Kim, Things that Matter. Zur Geschichte der materiellen Kultur in der Frühneuzeitforschung, in: Zeitschrift für historische Forschung 42 (2015), 373–409. Vom Standpunkt der Mediävistik aus argumentieren Keupp, Jan/Schmitz-Esser, Romedio, Einführung in die »Neue alte Sachlichkeit«. Ein Plädoyer für eine Realienkunde des Mittelalters in kulturhistorischer Perspektive, in: dies. (Hg.), Neue alte Sachlichkeit. Studienbuch Materialität des Mittelalters, Ostfildern 2015, 9–46. Zur zeitgeschichtlichen Auseinandersetzung mit dem material turn vgl. Ludwig, Andreas, Geschichtswissenschaft, in: Samida, Stefanie/Eggert, Manfred K. H./ Hahn, Hans Peter (Hg.): Handbuch Materielle Kultur. Bedeutungen – Konzepte – Disziplinen, Stuttgart 2014, 287–292; Ludwig, Andreas, Geschichte ohne Dinge? Materielle Kultur zwischen Beiläufigkeit und Quelle, in: Historische Anthropologie 23 (2015), 431–445; Samida, Stefanie, Materielle Kultur – und dann? Kulturwissenschaftliche Anmerkungen zu einem aktuellen Trend in der Zeitgeschichtsforschung, in: Zeithistorische Forschungen 13 (2016), online verfügbar unter: https://zeithistorische-forschungen. de/3–2016/5406, letzter Zugriff: 08.07.2019. 9 McKendrick, Neil/Brewer, John/Plumb, J. H. (Hg.), The Birth of a Consumer Society. The Commercialization of Eighteenth-Century England, London 1982. Im Abstand von 20 Jahren dazu kritisch: Brewer, John, The Error of our Ways: Historians and the Birth of Consumer Society, in: Cultures of Consumption, Working Paper Series 12 (2004), online verfügbar unter: http://www.consume.bbk.ac.uk/working_papers/

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Diesem primär wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Ansatz wurden zunehmend Untersuchungen zur Seite gestellt, die sich für die Bedeutungen des Konsums10 bzw. für Konsum als Produktion von Bedeutung interessierten.11 Deshalb galt Konsum um die Jahrtausendwende als bevorzugter Untersuchungsgegenstand einer kulturhistorisch orientierten Wirtschaftsgeschichte.12 Im Zuge des allgemeinen Aufschwungs der Kulturgeschichte ging die ›Kulturalisierung‹ des Themas so weit, dass Rainer Beck Anfang der 2000er Jahre befürchtete, die Konsumgeschichte könne ihre wirtschafts- und sozial­ geschichtliche Bodenhaftung verlieren. Wenn primär über virtuellen Konsum, Kulturkonsum und Luxuskonsum geforscht werde, könne sich das Forschungsgebiet zu einem »peinlichen Schwelgen in der Waren- und Phantasiewelt Privilegierter und Reicher«13 entwickeln. Becks Prognose erfüllte sich jedoch nicht. Denn zum einen wurde ein quantitativer Ansatz auch und gerade in der Konsumgeschichte weiterverfolgt.14 Zum ande-

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Brewer%20 talk.doc, letzter Zugriff: 09.07.2019. Eine ausgewogene Übersicht über die bislang diskutierten »Geburtsorte« liefern Maegraith, Janine/Muldrew, Craig, Consumption and Material Life, in: Scott, Hamish (Hg.), Oxford Handbook of Early Modern European History, Bd. 1, Oxford 2015, 369–397, hier 376–387. Als wegweisend für die deutschsprachige Forschung vgl. Siegrist, Hannes, Konsum, Kultur und Gesellschaft im modernen Europa, in: ders./Kaelble, Hartmut/Kocka, Jürgen (Hg.), Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18. bis 20. Jahrhundert), Frankfurt a. M. 1997, 13–48, hier bes. 16. Der Gedanke, Konsum als »andere Produktion« zu verstehen, findet sich bei Certeau, Michel de, Kunst des Handelns, Berlin 1988, 13. Vgl. Berghoff, Hartmut/Vogel, Jakob, Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Ansätze zur Bergung transdisziplinärer Synergiepotentiale, in: dies. (Hg.), Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels, Frankfurt a. M. 2004, 9–41, hier 17; Daniel, Ute, Alte und neue Kulturgeschichte, in: Schulz, Günther (Hg.), Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Arbeitsgebiete, Probleme, Perspektiven. 100 Jahre Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Wiesbaden 2004 (VSWG Beihefte 169), 345–358, 357; Nolte, Paul, Der Markt und seine Kultur. Ein neues Paradigma der amerikanischen Geschichte?, in: Historische Zeitschrift 264 (1997), 329–360. Beck, Rainer, Luxus oder Decencies? Zur Konsumgeschichte der Frühneuzeit als Beginn der Moderne, in: Reith, Reinhold/Meyer, Torsten (Hg.), »Luxus und Konsum«. Eine historische Annäherung, Münster 2003 (Cottbuser Studien zur Geschichte von Technik, Arbeit und Umwelt 21), 29–46, hier 46. Auf einer quantitativen Analyse von Inventaren des deutschsprachigen Raums beruhen folgende abgeschlossene oder im Entstehen begriffene Studien: Bei Michael North in Greifswald entstanden die Dissertationen von Corinna Heß und Jörg Driesner, die Inventare des Ostseeraums auswerten. Vgl. Driesner, Jörg, Bürgerliche Wohnkultur im Ostseeraum. Stralsund, Kopenhagen und Riga in der Frühen Neuzeit, Köln 2012; Heß, Corina, Danziger Wohnkultur in der Frühen Neuzeit. Untersuchungen zu Nachlassinventaren des 17. und 18. Jahrhunderts, Berlin 2007. Unter der Leitung von Sheilagh Ogilvie haben Janine Maegraith und Markus Küpker die Inventuren und Teilungen von Wildberg und Auingen in einer Datenbank verzeichnet. Vgl. Hirbodian, Sigrid/Ogilvie, Sheilagh C./Regnath, R. Johanna (Hg.), Revolution des Fleißes, Revolution des Konsums? Leben und Wirtschaften im ländlichen Württemberg von 1650 bis 1800, Ostfildern 2015. Im Rahmen des von Kim Siebenhüner geleiteten SNF-Projekts »Textilien und materielle Kultur im Wandel. Konsum, kulturelle Innovation und globale Interaktion in der Frühen Neuzeit« wurden Berner Konkursinventare ausgewertet; derzeit entsteht dazu in Jena eine Dissertation von Claudia ­Ravazzolo. Am Lehrstuhl für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Universität Münster erarbeitet Henning Bovenkerk momentan eine diachrone konsumgeschichtliche Studie zu Nordwestdeutschland, die sich mit

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ren wandte sich die Forschung – möglicherweise motiviert durch die Wirtschaftskrise der Jahre 2007/08 – ökonomiegeschichtlichen Fragen mit neuem Interesse und neuen Ansätzen zu,15 und zugleich erlebte die Beschäftigung mit den Dingen einen enormen Aufschwung. Die geistes- und sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Materiellen hat sich in den letzten zehn Jahren besonders dynamisch entwickelt. Natürlich ist die objektbezogene Forschung nicht prinzipiell neu, sondern stellt in Archäologie, Ethnologie oder Kunstgeschichte einen festen Bestandteil des Themen- und Methodenrepertoires dar.16 Neu ist jedoch, dass sich nun auch solche Disziplinen verstärkt dem Materiellen zuwenden, die sich traditionell und überwiegend mit Texten befassen.17 Als großer geistes- und sozialwissenschaftlicher Trend ist die Hinwendung zu den Dingen und zur Dinglichkeit wohl damit zu erklären, dass infolge des linguistic turn das Materielle zuerst seine Selbstverständlichkeit verlor, um dann im Zuge des material turn wiederentdeckt zu werden18 – nun aber unter veränderten Vorzeichen. Die aktuelle Auseinandersetzung mit den Dingen ist deshalb kein materialistisches Rollback, sondern sie ist ebenso sehr ›kulturalistisch‹ geläutert wie ›materialistisch‹ erweitert. Andreas Reckwitz sieht sie als Teil eines größeren Trends zur Überwindung der Dualismen zwischen Kulturalismus und Materialismus bzw. Subjektivismus und Objektivismus, der sich in den Forschungen zur Materiellen Kultur ebenso zeige wie in der kulturwissenschaftlichen Analyse von Medien, Räumen und Emotionen, und der wesentlich mit praxeologischen Zugängen verbunden ist.19 Kulturelle Konstruktionen und physische Gegebenheiten – seien es Artefakte, geologische Formationen oder lebende Organismen – sind untrennbar miteinander verwoben;

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der These einer Konsum- und Fleißrevolution auseinandersetzt. Am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien arbeitet Aris Kafantogias aktuell an einer konsumgeschichtlichen Studie zu Wien an der Wende zum 19. Jahrhundert. Vgl. z. B. Neu, Tim, Symbolische Kommunikation und wirtschaftliches Handeln. Theoretische Perspektiven, in: Stollberg-Rilinger, Barbara/Neu, Tim/Brauner, Christina (Hg.), Alles nur symbolisch? Bilanz und Perspektiven der Erforschung symbolischer Kommunikation, Köln/Weimar 2013 (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne), 401–418. Auch hier zeigt sich allerdings ein neues Interesse an den Dingen. Vgl. die folgende Ankündigung: XXXV. Deutscher Kunsthistorikertag: Zu den Dingen!, 27.–31.03.2019, Göttingen, in: H-Soz-Kult, 15.01.2019, online verfügbar unter: www.hsozkult.de/event/id/termine-39173, letzter Zugriff: 08.07.2019. Zum interdisziplinären Forschungsstand vgl. Samida/Eggert/Hahn (Hg.), Handbuch Materielle Kultur. Zur literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit den Dingen vgl. Scholz, Susanne/Vedder, Ulrike (Hg.), Handbuch Literatur & Materielle Kultur, Berlin 2018. Marian Füssel spricht von einer »Korrekturbewegung gegenüber einer zeitweise als dominant empfundenen Fokussierung auf Diskurse und Symbole«. Füssel, Materialität der Frühen Neuzeit, 440. Vgl. Reckwitz, Andreas, Der Ort des Materiellen in den Kulturtheorien. Von sozialen Strukturen zu Artefakten, in: ders. (Hg.), Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie, Bielefeld 2008, 131–156; ders., Die Materialisierung der Kultur, in: Elias, Friederike/Franz, Albrecht/Weise, Ulrich W./Murmann, Henning (Hg.), Praxeologie. Beiträge zur interdisziplinären Reichweite praxistheoretischer Ansätze in den Geistes- und Sozialwissenschaften, Berlin 2014 (Materiale Textkulturen 3), 3–14.

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sie bilden ein komplexes »Geflecht von sinnhaften und nicht-­sinnhaften Elementen«,20 deren Beziehungen zueinander nicht monokausal beschrieben werden können und deren Bedeutung sich stets nur situativ aus Handlungen erschließt, an denen sie beteiligt sind. Reckwitz rekurriert unter anderem auf Bruno Latour, dessen Akteur-Netzwerk-Theorie einen radikalen Vorschlag zur Neufassung der Mensch-Ding-Beziehungen darstellt.21 Auf Latours Plädoyer, Dinge als Aktanten zu verstehen, geht die trivialisierte Vorstellung von autonom handelnden Objekten zurück. Dieses Missverständnis lässt sich getrost ad acta legen: Ein Schuh fängt auch bei Latour nicht von selbst an zu laufen. Latour zielt stattdessen darauf ab, weder Mensch noch Schuh als autonom zu denken, sondern beide als gleichrangige Bestandteile eines Netzwerkes zu konzipieren. Um diese Überwindung der Objekt-Subjekt-Unterscheidung in Worte fassen zu können, führt Latour den neutralen Begriff des Aktanten ein. Sein Ziel ist es, eine sprachliche Beschreibungsform zu finden, die die menschliche Beherrschung der Dinge und der Natur infrage stellt. Dies ist als ethische Theorie gedacht und mündet schließlich in einer neuen Ökologie.22 Latours Akteur-Netzwerk-Theorie ist damit alles anderes als ein einfaches Instrumentarium. Von ihrer anregenden Perspektivverschiebung lässt sich jedoch auch dann profitieren, wenn man ihr nicht strikt folgt und ihre Begrifflichkeit nicht übernimmt. Festzuhalten bleibt, dass Dinge unumgängliche Bestandteile menschlichen Handelns sind, dessen Vollzug sie durch ihre physischen Eigenschaften mitbestimmen, ohne ihn vorzugeben. Aus ihrer Materialität ergeben sich »Gebrauchsgewährleistungen«23 oder »Handlungs- und Deutungsanregungen«24 für den mit den Dingen umgehenden Menschen, der diese Anregung nach dem ihm zur Verfügung stehenden expliziten und impliziten Wissen aufgreift oder verwirft. Dies wird in Forschungen zur materiellen Kultur seit einiger Zeit als Affordanz bezeichnet. Gemeint ist damit »die gesteigerte Plausibilität bestimmter Rezeptionspraktiken«,25 die ihrerseits historischem Wandel unterworfen sind. Objekte treffen bei den mit ihnen umgehenden Menschen auf »period eyes«26 bzw. – um diese Wen20 Reckwitz, Materialisierung, 14. 21 Vgl. Belliger, Andrea/Krieger, David J., ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-NetzwerkTheorie, Bielefeld 2006. Zur Einordnung der ANT aus geschichtswissenschaftlicher Sicht vgl. Heßler, Martina, Ansätze und Methoden der Technikgeschichtsschreibung, in: dies., Kulturgeschichte der Technik, Frankfurt a. M./New York 2012, Zusatzkapitel, online verfügbar unter: https://www.campus.de/buecher-­ campus-verlag/wissenschaft/geschichte/kulturgeschichte_der_technik-4250.html, letzter Zugriff: 09.07.2019, 18–26. 22 Vgl. Latour, Bruno, Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie, Frankfurt a. M. 2001; ders., Kampf um Gaia. Acht Vorträge über das neue Klimaregime, Berlin 2017. 23 Freist, Dagmar, Materielle Praktiken in der Frühen Neuzeit. Zur Einführung, in: Brendecke, Arndt (Hg.), Praktiken der Frühen Neuzeit. Akteure, Handlungen, Artefakte, Köln/Weimar 2015, 267–274, hier 269. 24 Keupp/Schmitz-Esser, Einführung, 26. 25 Ebd. 26 Baxandall, Michael, Painting and Experience in Fifteenth-Century Italy. A Primer in the Social History of Pictorial Style, Oxford 1988, 29–57.

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dung Michael Baxandalls zu variieren – auf ›period hands‹ und tragen ihrerseits selbst dazu bei, diese zeittypischen Augen und Hände zu formen.27 Affordanz ist auch eine Antwort auf die in der jüngeren Forschung wiederholt verwendete missverständliche Metapher von den sprechenden Dingen, die ihrerseits ein Reflex auf die Übermacht und Unhintergehbarkeit der Worte ist.28 Ebenso wenig wie die Dinge autonom agieren, können sie autonom kommunizieren. Sie machen durch ihre physischen Eigenschaften lediglich Angebote für das, was Menschen ihnen zuweisen oder – um im Bild zu bleiben – in den Mund legen. Sprechende Dinge gibt es also nur insofern, als sie durch historische Akteurinnen und Akteure bzw. durch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zum Sprechen gebracht werden, indem sie gedeutet und als aussagekräftige Quellen ernstgenommen werden. Sicherlich gibt es vom Menschen vorgefundene und gestaltete Dinge, die im Sinne der Affordanz in höherem Maß dazu auffordern, über sie ins Gespräch zu kommen als andere. Wenn Lorraine Daston die berühmten Glasblumenmodelle der Blaschkas als »things that talk« bezeichnet,29 dann ist es die von ihnen ausgehende Gesprächsaufforderung, die Daston interessiert. Sie bezeichnet dies an anderer Stelle auch als ein Echo, das die Dinge in der Welt hervorrufen,30 und formuliert die berechtigte Forschungsfrage: »Was macht ein Objekt unwiderstehlich interpretierbar?«31 Es ist sicher kein Zufall, dass sich neben der Rede von den sprechenden Dingen eine weitere Metapher etabliert hat, die in ähnlicher Weise eine Belebtheit der Objekte impliziert. Gemeint ist die Begrifflichkeit des Ethnologen Arjun Appadurai, der bereits 1986 vom »sozialen Leben« (social life) der Dinge bzw. Waren (commodities) sprach und für eine Analyse ihrer »Bewegungsbahnen« (trajectories) plädierte.32 Appadurai griff damit zum einen ökonomische Fragen nach der Zirkulation und Distribution von Gütern auf. Zum anderen unterstrich seine metaphorische Wendung von Leben und Bewegung das Potenzial von Objekten, räumliche und zeitliche Distanz zu überwinden sowie soziale Beziehungen 27 Vgl. Göbel, Hanna Katharina/Prinz, Sophia, Die Sinnlichkeit des Sozialen. Eine Einleitung, in: dies. (Hg.), Die Sinnlichkeit des Sozialen. Wahrnehmung und materielle Kultur, Bielefeld 2015, 9–49, hier bes. 13; Hacke, Daniela/Krampl, Ulrike/Missfelder, Jan-Friedrich, Can you hear the light? Sinnes- und Wahrnehmungspraktiken in der Frühen Neuzeit. Zur Einführung, in: Brendecke (Hg.), Praktiken, 386–390, hier bes. 389. 28 Vgl. Auslander, Leora, Beyond Words, in: The American Historical Review 110 (2005), 1015–1045; Daston, Lorraine, Introduction. Speechless, in: dies. (Hg.), Things that Talk. Object Lessons from Art and Science, New York 2004, 9–24; Keupp/Schmitz-Esser, Einführung, 10; Miller, Daniel, Der Trost der Dinge. Fünfzehn Porträts aus dem London von heute, Berlin 2010, 10–11; Mohrmann, Ruth-E., Können Dinge sprechen?, in: Rheinisch-Westfälische Zeitschrift für Volkskunde 56 (2011), 9–24. 29 Daston, Things that Talk. 30 Vgl. Daston, Lorraine, Die Glasblumen, in: Ortlepp, Anke/Ribbat, Christoph (Hg.), Mit den Dingen leben. Zur Geschichte der Alltagsgegenstände, Stuttgart 2010, 123–153, hier 129. 31 Ebd., 130. 32 Appadurai, Arjun, Introduction: Commodities and the Politics of Value, in: Ders. (Hg.), The Social Life of Things. Commodities in Cultural Perspective, Cambridge 1996, 3–63.

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zu stiften. Die damit hervorgehobene soziale Relevanz und raum-zeitliche Dynamik der Dinge, die der vermeintlichen Statik der materiellen Kultur entgegenstehen, treffen einen Kern historisch-kulturwissenschaftlicher Fragestellungen. Appadurais Lebens- und Bewegungsmetaphorik ist deshalb auch schon mehrfach aufgegriffen33 und unter anderem im narrativen Ansatz der Objektbiographie oder des Itinerars fruchtbar gemacht worden.34 Auch wenn inzwischen die unter dem Schlagwort des material turn geführte Diskussion als abgehoben kritisiert wird und die verwendeten Begrifflichkeiten als irreführend beanstandet werden,35 hat die neue Aufmerksamkeit für das Materielle zweifellos Früchte getragen. Forschungen zur materiellen Kultur schlagen Brücken innerhalb der Fächer und zwischen den Disziplinen. Dort, wo die Dinge zum Angelpunkt der Analyse gemacht werden, lässt sich inzwischen oft nicht mehr genau sagen, wo die Konsumgeschichte aufhört und die Forschungen zur materiellen Kultur anfangen – oder umgekehrt.36 Indem die Frage nach den Dingen stets auch auf die mit ihnen umgehenden Menschen zielt, ergeben sich in historisch-kulturwissenschaftlicher Perspektive tiefgehende Einsichten in vergangene Lebenswelten und machen übergreifende geschichtliche Entwicklungen buchstäblich dingfest.37 In der Frühneuzeitforschung verbindet sich damit nicht zuletzt die Hoffnung, die Epoche der Frühen Neuzeit klarer konturieren zu können. Kim Siebenhüner und Marian Füssel haben es 2015 übereinstimmend als Auftrag formuliert, den »Eigencharakter frühneuzeitlicher materieller Kultur«38 in zukünftigen Forschungen herauszuarbeiten und danach zu fragen, wie der »Umgang der Zeitgenossen mit den sie umgebenden Objekten« der Frühen Neuzeit eine eigene »Signatur«39 gab. Diese Aufforderung gehört in den größeren 33 Vgl. z. B. Gerritsen, Anne/Riello, Giorgio (Hg.), The Global Lives of Things. The Material Culture of Connections in the Early Modern World, London 2016. 34 Vgl. dazu den Beitrag von Michael Wenzel in diesem Band. Zur (kritischen) Auseinandersetzung mit der Metapher vgl. Boschung, Dietrich/Kreuz, Patric-Alexander/Kienlin, Tobias L. (Hg.), Biography of objects. Aspekte eines kulturhistorischen Konzepts, Paderborn 2015; Siebenhüner, Kim, Die Mobilität der Dinge. Ansätze zur Konzeptualisierung für die Frühneuzeitforschung, in: Cremer/Mulsow (Hg.), Objekte als Quellen, 35–46. 35 Vgl. Hahn, Hans Peter, Die geringen Dinge des Alltags. Kritische Anmerkungen zu einigen aktuellen Trends der material culture studies, in: Braun, Karl/Dieterich, Claus-Marco/Treiber, Angela (Hg.), Materialisierung von Kultur. Diskurse, Dinge, Praktiken, Würzburg 2015, 28–42; Keupp, Jan, Die Gegenstandslosigkeit des Materiellen: Was den material turn zum Abtörner macht, in: Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte, 26.06.2017, online verfügbar unter: https://mittelalter.hypotheses.org/10617, letzter Zugriff: 08.07.2019. 36 Vgl. z. B. Gerritsen, Anne/Riello, Giorgio (Hg.), Writing Material Culture History, London 2015. 37 Die Rückbindung an übergreifende disziplinäre Fragen halte ich für unverzichtbar. Vgl. ähnlich auch Samida, Materielle Kultur – und dann? Kritisch zur Hierarchie der Forschungsfragen äußert sich hingegen Hahn, Hans-Peter, Güterexpansion und Kulturwandel. Anmerkungen zu einer transepochalen Globalgeschichte des Sachbesitzes in: Cremer/Mulsow (Hg.), Objekte als Quellen, 47–62. 38 Füssel, Materialität der Frühen Neuzeit, 452. 39 Siebenhüner, Things that Matter, 396.

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Zusammenhang einer der Frühneuzeitforschung inhärenten Diskussion um die Identität oder Alterität der Epoche und knüpft an Bemühungen um eine Epochenbestimmung an, die sich der Teleologie der Epochenbezeichnung entzieht: Anstatt die Frühe Neuzeit durch Prozesse zu erklären, die lediglich auf die nachfolgende Neuzeit verweisen, gilt es, eigenständige Charakterisierungen der Epoche vorzunehmen.40 Dies ist auch und gerade für die Geschichte von materieller Kultur und Konsum ein wichtiges Anliegen, erweist sich diese doch als stark von modernisierungsgeschichtlichen Narrativen geprägt.41 Wendungen und Wortschöpfungen wie »Geburt der Konsumgesellschaft«, »Konsumrevolution« oder »Proto-Konsumgesellschaft« haben ihren Fluchtpunkt zweifellos im heutigen Massenkonsum und der Überflussgesellschaft des späteren 20. Jahrhunderts;42 Deutungsmuster wie die auf Max Weber zurückgehende »Entzauberung der Welt« erweisen sich bis heute als wirkmächtig.43 Wenngleich eine Reihe von Forschungsergebnissen die kritische Revision hergebrachter Interpretationen erforderlich erscheinen lässt, ist diesen Erzählmustern trotzdem nur schwer zu entkommen.44 Tatsächlich ist die induktive Bestimmung einer auf materielle Kultur und Konsum bezogenen frühneuzeitlichen Epochensignatur (sofern erkenntnistheoretisch überhaupt möglich) beim derzeitigen Forschungsstand nur schwer einzulösen, denn es fehlt weiterhin an empirischen Studien, die Quellenmaterial in großem Umfang erschließen und den Vergleich mit den angrenzenden Epochen erlauben. Das Folgende kann deshalb nicht mehr als eine Akzentsetzung sein.

40 Vgl. Schlögl, Rudolf, Kommunikation und Vergesellschaftung unter Anwesenden. Formen des Sozialen und ihre Transformation in der Frühen Neuzeit, in: Geschichte und Gesellschaft 34 (2008), 155–224, hier 156–157. 41 Vgl. dazu ausführlich die Einleitung meiner Habilitationsschrift: Schmidt-Funke, Julia A., Haben und Sein. Materielle Kultur und Konsum im frühneuzeitlichen Frankfurt am Main, Friedrich-Schiller-Universität Jena 2016. Die Schrift erscheint in Kürze in der Reihe Städteforschung im Böhlau-Verlag. 42 Vgl. Kleinschmidt, Christian, Konsumgesellschaft, Göttingen 2008, 58–71; McKendrick, Neil, Introduction: The Birth of a Consumer Society. The Commercialization of Eighteenth-Century England, in: McKendrick/ Brewer/Plumb (Hg.), The Birth of a Consumer Society, 1–6; McKendrick, Neil, The Consumer Revolution of Eighteenth-Century England, in: ebd., 9–33. Vgl. dazu Prinz, Michael, »Konsum« und »Konsumgesellschaft« – Vorschläge zu Definition und Verwendung, in: ders. (Hg.), Der lange Weg in den Überfluss. Anfänge und Entwicklung der Konsumgesellschaft seit der Vormoderne, Paderborn 2003, 11–34. 43 Kritisch dazu Joas, Hans, Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung, Berlin 2017. 44 Vgl. z. B. Trentmann, Frank, Herrschaft der Dinge. Die Geschichte des Konsums vom 15. Jahrhundert bis heute, München 2017, der die Problematik zwar erkennt, aber mit seiner Darstellung trotzdem keinen überzeugenden Gegenentwurf liefert. Differenzierungsbedürftig erscheinen auch die Ausführungen zur historischen Entwicklung bei Scholz, Susanne/Vedder, Ulrike, Einleitung, in: dies. (Hg.), Handbuch Literatur & Materielle Kultur, 1–17, hier bes. 7.

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2. Knappheit und Überfluss Die Frühe Neuzeit war gekennzeichnet durch ein Nebeneinander von Knappheit und Überfluss, welche ihrerseits räumlich, zeitlich und sozial variierten. Das ist zwar eine Binsenweisheit, muss aber unterstrichen werden, um dichotome Konfrontationen von modernem Überfluss hier und vormoderner Knappheit da, von entfesselten versus eingebetteten Märkten beiseitelegen zu können.45 Eine durch die Systemkonkurrenz des 20. Jahrhunderts motivierte Gegenüberstellung von Haben und Sein46 wird der Komplexität der Vergangenheit ebenso wenig gerecht wie eine allzu pessimistische Interpretation der vorindustriellen Wirtschaft.47 Als Mangelgesellschaft ist die Frühe Neuzeit nur unzutreffend charakterisiert. Auch wenn weite Teile der europäischen Bevölkerung unter prekären Bedingungen lebten und es existenziell bedrohliche Armut und periodische Hungerkrisen gab, fehlten Ressourcen nicht generell und dauerhaft, sondern waren vor allem ungleichmäßig verteilt. Die frühneuzeitlichen Ökonomien verwalteten nicht nur den Mangel, und einige Sektoren hatten geradezu sagenhafte Gewinnspannen zu bieten. Geld ließ sich dabei nicht nur im Fernhandel, Kreditwesen oder Bergbau machen, sondern beispielsweise auch mit einem kleinen, aber unverzichtbaren und sehr weit verbreiteten Konsumgut wie den Bandwaren.48 Insgesamt war frühneuzeitliches Wirtschaften ständeübergreifend dynamischer, flexibler und vielgestaltiger als lange Zeit angenommen. Jüngst von der Forschung beleuchtete ökonomische Praktiken wie Kleinkredite, irreguläre Arbeit oder handwerklicher Wettbewerb schufen Spielräume, die den Konsum von nicht unmittelbar 45 Für eine Zurückführung dieser Dichotomie auf Polanyi vgl. Ehmer, Josef/Reith, Reinhold, Märkte im vorindustriellen Europa, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 45 (2004), 9–24. 46 Beck, Luxus oder Decencies, 32–33, zeigt auf, dass unterschiedliche Interpretationen frühneuzeitlichen Wirtschaftens und Konsumierens mit den Lagerbildungen der 1970er und 1980er Jahre einhergingen. Ein Reflex auf den zeithistorischen Wandel der Forschungsinteressen findet sich auch bei Geyer, Martin H./ Hellmuth, Eckhart, Einleitung: »Konsum konstruiert die Welt«. Überlegungen zum Thema »Inszenierung und Konsum des Fremden«, in: Bayerdörfer, Hans-Peter/Hellmuth, Eckhart (Hg.), Exotica. Konsum und Inszenierung des Fremden im 19. Jahrhundert, Münster 2003, IX–XXVI, hier IX–XI. 47 Das Bild einer statisch-vormodernen Ökonomie wird von verschiedenen Seiten schon länger infrage gestellt. Für ein ausgewogenes Urteil vgl. z. B. Musgrave, Peter, The Early Modern European Economy, Basingstoke 1999, 13–32; für einen deutschsprachigen Überblick über die langfristige Entwicklung vgl. Vries, Peer, Wirtschaftswachstum, in: Cerman, Markus/Eder, Franz X./Eigner, Peter/Komlosy, Andrea/Landsteiner, Erich (Hg.), Wirtschaft und Gesellschaft. Europa 1000–2000, Innsbruck 2011, 76–103. Manifestartig wider die neoliberale Deutung der frühneuzeitlichen Wirtschaft jetzt Rössner, Philipp Robinson, Historia magistra vitae – ad acta oder ad nauseam? Frühneuzeitforschung und Wirtschaftsgeschichte im Zeitalter von Neoliberalismus und Trump (1973–2018), in: Zeitschrift für Historische Forschung 45 (2018), 651–714. 48 Vgl. dazu den Beitrag von Andrea Caracausi in diesem Band sowie am Beispiel der Familie von der Leyen Kriedte, Peter, Taufgesinnte und großes Kapital. Die niederrheinisch-bergischen Mennoniten und der Aufstieg des Krefelder Seidengewerbes (Mitte des 17. Jahrhunderts–1815), Göttingen 2007 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 223).

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lebensnotwendigen Gütern auch in ländlichen Regionen ermöglichten.49 Ebenso kannte die Frühe Neuzeit bereits zu Beginn des 16. Jahrhunderts ökonomische Ideen, deren deutschsprachigen Niederschlag Philipp Robinson Rösner »liberalistisch« genannt hat.50 Gleichwohl stellten die Ökonomien der Frühen Neuzeit keinen modernen Kapitalismus im Embryonalstadium dar,51 sondern waren in religiöse und politische, korporative und familiäre Strukturen eingebunden und von deren jeweiligen Wirtschaftsauffassungen geprägt. Mußepräferenz und Subsistenzwirtschaft, Risikominimierung und Wettbewerbsvermeidung spielten dabei eine Rolle,52 stellten jedoch stets nur eine Seite der Medaille dar. Konsumgeschichtliche Studien können zu einer solchen differenzierten Sicht auf das frühneuzeitliche Wirtschaften einen wesentlichen Beitrag leisten. Anstelle einer klaren Epochenkontur oder eines fixierbaren Anfangs der Konsumgesellschaft zeigen sie dabei eher die longue durée eines Ringens um das rechte Maß: zwischen Sparsamkeit und Verschwendung, Bedürfnissen und Luxus, Wettbewerb und Protektion, Angebot und Nachfrage, Massenproduktion und Auftragsware, Neuanfertigung und Wiederverwertung, Import und Export. Die Auswertung von west- und mitteleuropäischen sowie kolonialen Nachlassinventaren belegt, dass ein über das Lebensnotwendige hinausreichender Konsum bzw. Besitz für viele frühneuzeitliche Menschen erstrebenswert und in Form geringwertiger Konsumgüter auch für viele zu haben war. Mithilfe von Handwerkerakten, Handelsbüchern oder Zollregistern lässt sich nachweisen, dass preisgünstige modische und gebrauchsfertige Güter seriell produziert, über größere Distanzen transportiert und bis in entlegene ländliche Räume distribuiert wurden.53 Die Belege für den Verkauf solcher Waren reichen dabei weit zurück: leichte Wollstoffe wurden in Flandern seit dem 49 Vgl. Buchner, Thomas/Hoffmann-Rehnitz, Philip R. (Hg.), Shadow Economies and Irregular Work in Urban Europe, 16th to Early 20th Centuries, Berlin 2011. 50 Vgl. Rössner, Philipp Robinson, Luther – ein tüchtiger Ökonom? Über die monetären Ursprünge der Deutschen Reformation, in: Zeitschrift für Historische Forschung 42 (2015), 37–74, hier 47. Rössner bezieht sich dabei auf die der Forschung seit Langem bekannten Schriften Conrad Peutingers und Leonhard Fronspergers. Vgl. dazu bereits Schulze, Winfried, Vom Gemeinnutz zum Eigennutz. Über den Normenwandel in der ständischen Gesellschaft der frühen Neuzeit, in: Historische Zeitschrift 243 (1986), 591–626. 51 Dies betont zu Recht Howell, Martha C., Commerce Before Capitalism in Europe, 1300–1600, Cambridge 2010. 52 Vgl. Groh, Dieter, Strategien, Zeit und Ressourcen. Risikominimierung, Unterproduktivität und Mußepräferenz – die zentralen Kategorien von Subsistenzökonomien, in: Groh, Dieter, Anthropologische Dimensionen der Geschichte, Frankfurt a. M. 1992, 54–116. 53 Vgl. u. a. Maegraith, Janine/Küpker, Markus/Ogilvie, Sheilagh, Krämer und ihre Waren im ländlichen Württemberg zwischen 1600 und 1740, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 59 (2011), 54–75; Rauscher, Peter/Serles, Andrea, Die Kremser Waag- und Niederlagsbücher, online verfügbar unter: http:// www.univie.ac.at/donauhandel/, letzter Zugriff: 09.07.2019; Rauscher, Peter, Wege des Handels – Orte des Konsums. Die nieder- und innerösterreichischen Jahrmärkte vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert, in: Denzel, Markus A. (Hg.), Europäische Messegeschichte 9.–19. Jahrhundert, Wien/Köln 2018, 221–266;

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14. Jahrhundert produziert, konfektionierte Kleidung wurde im deutschsprachigen Raum bereits im 14. Jahrhundert angeboten,54 Kramwaren waren schon im ausgehenden 15. Jahrhundert zu einem literarischen Topos geronnen.55 Seit der Inkunabelzeit erhöhten zudem Druckmedien die Sichtbarkeit von und das Wissen um dreidimensionale Dinge mithilfe ihrer zweidimensionalen Reproduktion – sie erhöhten die »Präsenz und Evidenz« der Dinge.56 In Kräuter- und Modelbüchern, Materialkammern und Modejournalen zirkulierte das Wissen um Waren, ihre Herkunft, Fertigung und Gestaltung.57 Bereits in das Spätmittelalter fallen auch Hinweise auf eine verstärkte Arbeitsamkeit; zumindest innerhalb städtischer Haushalte scheint die Bereitschaft zu erhöhtem Arbeitseinsatz schon im Spätmittelalter bestanden zu haben.58 Es spricht deshalb einiges dafür, Konsum und Fleiß bzw. Konsumsteigerung und ›Verfleißigung‹ als aufeinander bezogene Prozesse zu sehen,59 auch wenn die dafür vorliegenden Periodisierungen und Entwicklungsmodelle bislang nicht überzeugen können.60 Zugleich ist festzuhalten, dass gegenüber dem Konsum immer wieder Bedenken, Widerstände und Einschränkungen bestanden. Die Verführungskraft der Dinge galt nicht nur in ökonomischer, sondern auch in moralischer Hinsicht als gefährlich, weshalb ihre Verfügbarkeit eingedämmt wurde.61 Oft sind es gerade die Verbote und Regulierungen, welche auf die Existenz entsprechender Objekte bzw. Praktiken hinweisen. Sie lassen sich als Belege für Repression und Dirigismus lesen – oder aber als Zeugnisse bestehender Spielräume. Ihre vielfache Wiederholung und Verschärfung stellt legislatorischen Normierungswillen

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Straube, Manfred, Geleitswesen und Warenverkehr im thüringisch-sächsischen Raum zu Beginn der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar 2015 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen, Kleine Reihe 42). Vgl. Zander-Seidel, Jutta, Ready-to-wear Clothing in Germany in the 16th and 17th Centuries. New Ready-­ made Garments and Second-hand Clothes Trade, in: Per una storia della moda pronto. Problemi e ricerche, Florenz 1991, 9–20, online verfügbar unter: https://doi.org/10.11588/artdok.00003153, letzter Zugriff: 09.07.2019. Vgl. Schmidt-Funke, Haben und Sein, 24. Vgl. Neumann, Birgit (Hg.), Präsenz und Evidenz fremder Dinge im Europa des 18. Jahrhunderts, Göttingen 2015. Vgl. dazu die Beiträge von Christiane Holm und Kim Siebenhüner in diesem Band. Vgl. Schmidt-Funke, Haben und Sein, 204–208. Vgl. de Vries, Jan, The Industrious Revolution. Consumer Behavior and the Household Economy, 1650 to the Present, Cambridge 2008. Zur Kritik an de Vries’ These vgl. Trentmann, Herrschaft, 104–108; Styles, John, [Rezension von] The Industrious Revolution, in: The Journal of Economic History 69 (2009), 1177–1179. Dies ist das Thema der umfangreichen Forschung zu den frühneuzeitlichen Aufwandsgesetzen und Kleiderordnungen. Vgl. dazu zuletzt Riello, Giorgio/Rublack, Ulinka (Hg.), The Right to Dress. Sumptuary Laws in a Global Perspective, c. 1200–1800, Cambridge 2019, mit weiterführender Literatur. Insbesondere konfektionierte Kleidung stellte eine hochumstrittene, ja geradezu gefährliche Ware dar. Vgl. John, Anke/ Schmidt-Funke, Julia A., Didaktische Perspektiven auf eine Konsumgeschichte der Frühen Neuzeit, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 69 (2018), 549–567, hier 555–559.

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ebenso unter Beweis wie sie exekutive Ohnmacht vermuten lässt.62 Zudem ist mit Recht darauf hingewiesen worden, dass sich jenseits der Verbote ein großer regulierungsfreier Raum des Konsumierens öffnete: Zahlreiche Kleidungsstücke, Stoffe und Materialien blieben von Verboten ausgenommen, und den großen Bereich der häuslichen Einrichtung ließen die Obrigkeiten nahezu unangetastet von normierendem Zugriff.63 Ein wichtiges Ergebnis der jüngeren Forschung besteht in der Einsicht, dass trotz der Verfügbarkeit des Neuen das Alte lange in Verwendung blieb und bei Bedarf zu Geld gemacht wurde. Über die gesamte Frühe Neuzeit hinweg waren Habseligkeiten wie Kleidung oder Bettzeug auch im gebrauchten Zustand noch sehr wertvoll und dienten als Lohnäquivalent, Zahlungsmittel oder Faustpfand. Der in Pfandleihe und Gebrauchthandel aufscheinende Wert benutzter Dinge ist allerdings gerade kein Spezifikum der Epoche, sondern lässt sich für das Spätmittelalter ebenso nachweisen wie für das 19. Jahrhundert.64 Die Praxis der Inventarisierung von Mobilien (fahrende Habe, bewegliches Gut) bildet ein Indiz dafür, über welche Zeiträume hinweg die Dinge als Vermögensspeicher dienten und ihren Wiederverkaufswert behielten. Die Inventarisierung des Privatvermögens, die bereits das Römische Recht kannte und die sich im deutschsprachigen Raum im 15. Jahrhundert durchzusetzen begann, hielt sich bis weit in die sogenannte Moderne.65 Solange selbst geringfügigste Habseligkeiten unter Zeugen penibel in Listen verzeichnet wurden (und zwar auch in den Haushalten der Wohlhabenden und Reichen), besaßen sie für die Zeitgenossen einen Wert, der diesen Aufwand rechtfertigte. Insofern ist das Inventarisieren Signum eines spezifischen Umgangs mit den Dingen, weshalb man die Jahrhunderte, in denen Listen des Hausrats regulär erstellt wurden, auch als Zeitalter des Inventars bezeichnen und erforschen könnte. Differenzierung erfordert auch der von der Forschung vielfach thematisierte Konsum außereuropäischer Güter. Die Frühe Neuzeit war zwar sicherlich eine Zeit global zirkulierender Dinge, aber es fragt sich, wie epochenspezifisch dies war. Unbestritten stellten Fernhandelsgüter kolonialen Ursprungs im frühneuzeitlichen Europa Neuheiten 62 Die temporären Norminitiativen und die allenfalls phasenweise Durchsetzung der Aufwandsordnungen habe ich am Frankfurter Beispiel in meiner Habilitationsschrift aufgezeigt. Vgl. Schmidt-Funke, Haben und Sein. 63 Vgl. Schmidt-Funke, Julia A., Städtische Wohnkulturen in der Frühen Neuzeit, in: Eibach, Joachim/ Schmidt-Voges, Inken (Hg.), Das Haus in der Geschichte Europas. Ein Handbuch, Berlin 2015, 215–231, hier 220. 64 Vgl. Groebner, Valentin, Ökonomie ohne Haus. Zum Wirtschaften armer Leute in Nürnberg am Ende des 15. Jahrhunderts, Göttingen 1993 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 108); Fontaine, Laurence, Die Zirkulation des Gebrauchten im vorindustriellen Europa, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 45 (2004), 39–52; Stöger, Georg, Sekundäre Märkte? Zum Wiener und Salzburger Gebrauchtwarenhandel im 17. und 18. Jahrhundert, Wien 2011. 65 Vgl. Köbler, Ulrike, Werden, Wandel und Wesen des deutschen Privatrechtswortschatzes, Frankfurt a. M. 2010, 530.

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dar, die den Konsum veränderten.66 Die intensive Ausbeutung von Ressourcen im Rahmen kolonialer Abhängigkeitsverhältnisse in den Amerikas geschah in einem bis dahin nie dagewesenen Umfang, und sie führte in Europa zweifellos zur erhöhten Verfügbarkeit von Konsumgütern wie Zucker oder Tabak und zur Erweiterung des Spektrums an sogenannten Drogen.67 Allerdings waren die kolonialen Techniken bereits in spätmittelalterlicher Zeit im Mittelmeer und auf den atlantischen Inseln, einschließlich des Anbaus von cash crops wie Malvasier und Zucker,68 erprobt worden, und sie fanden ihre Fortsetzung bis weit ins 20. Jahrhundert. Was Asien als zweites großes Ziel frühneuzeitlicher europäischer Expansion betrifft, hat die jüngere Forschung betont, dass die asiatischen Ökonomien den europäischen in der Frühen Neuzeit mindestens ebenbürtig, wenn nicht gar überlegen waren, und dass sich dies auch und gerade am Konsum asiatischer Waren in Europa ablesen lässt.69 Asiatische Güter wie Seide und Baumwolle, Gewürze und Tee, Lackwaren und Porzellan strahlten auf die europäischen Verbraucher eine hohe Anziehungskraft aus. Grundsätzlich war der europäisch-asiatische Fernhandel in der Frühen Neuzeit zwar kein neues Phänomen, und auch die europäische Imitation asiatischer Waren, etwa von Seidenstoffen oder Keramik, besaß eine lange Tradition.70 Aber seitdem europäische Kaufleute ab dem 16. Jahrhundert den Handel mit diesen Waren vermehrt ohne Zwischenhändler über den Seeweg abwickelten, stieg ihre Verfügbarkeit in Europa. Zudem wurden in Asien nun zunehmend Güter nach europäischen Wünschen eigens für den europäischen Markt hergestellt. Überdies setzte die Attraktivität der asiatischen Waren ein verstärktes Bemühen um ihre Nachahmung in Europa in Gang, das in einer folgenreichen Reorganisation der Arbeits- und Produktionsbedingungen, nämlich im Manufakturwesen, mündete.71 Maxine Berg, die 66 Inzwischen ein Klassiker ist Mintz, Sidney, Die süße Macht. Kulturgeschichte des Zuckers, Frankfurt a. M. 1985. Einen deutschsprachigen Überblick liefern Hengartner, Thomas/Merki, Christoph Maria (Hg.), Genußmittel. Ein kulturgeschichtliches Handbuch, Frankfurt a. M./New York 1999; Menninger, Annerose, Genuss im kulturellen Wandel. Tabak, Kaffee, Tee und Schokolade in Europa (16.–19. Jahrhundert), Stuttgart 2004. Eine aktuelle Zusammenfassung findet sich bei Trentmann, Herrschaft, 109–128. Als Mikrostudie relevant ist Hochmuth, Christian, Globale Güter – lokale Aneignung. Kaffee, Tee, Schokolade und Tabak im frühneuzeitlichen Dresden, Konstanz 2008 (Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven 17). 67 Vgl. dazu die Beiträge von Christiane Holm und Kim Siebenhüner in diesem Band. 68 Vgl. Matschke, Klaus Peter, Der Malvasier – Byzanz und die lateinische Romania im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Westen, in: Hellenikon 5 (2010), 99–119; Wendt, Reinhard, Zucker – zentrales Leitprodukt der Europäischen Expansion, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 61 (2013), 43–58, hier 44. 69 Eine Zusammenfassung der Diskussion bei Vries, Peer, Europa und die Welt, in: Cerman Eder/Eigner/ Komlosy/Landsteiner (Hg.), Wirtschaft und Gesellschaft, 411–438, hier 421–423. 70 Vgl. Schmidt-Funke, Julia A., »Eigene fremde Dinge«. Surrogate und Imitate im langen 18. Jahrhundert, in: Neumann (Hg.), Präsenz und Evidenz fremder Dinge, 529–549, sowie meinen Beitrag zu diesem Band. 71 Vgl. Berg, Maxine, In Pursuit of Luxury. Global History and British Consumer Goods in the Eighteenth Century, in: Past & Present 182 (2004), 85–142; dies., New Commodities, Luxuries and their Consumers in Eighteenth-Century England, in: Berg, Maxine/Clifford, Helen (Hg.), Consumers and Luxury. Consu-

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diese Prozesse in den vergangenen Jahren intensiv erforscht hat, nennt die europäische Frühe Neuzeit deshalb in bewusster Abkehr von älteren eurozentrischen Narrativen »­Europe’s Asian Centuries«.72 Das Handelsvolumen allein rechtfertigt es allerdings weder von einer asiatischen noch von einer atlantischen Periode zu sprechen. Dafür war der transkontinentale Handel im Vergleich zum innereuropäischen nicht groß genug,73 und die Mehrzahl der in Europa konsumierten Güter war – wie Haushaltsbücher und Inventare belegen – gerade nicht außereuropäischen Ursprungs. Es ist zweifellos faszinierend zu sehen, wie weit sich transkontinentale Handelsgüter im frühneuzeitlichen Europa verbreiteten und welche Aneignungsprozesse sie initiierten. Gleichwohl gab es neben ihnen eine Fülle von Dingen, die weniger aufsehenerregend, aber für das tägliche Leben umso bedeutender waren. Insofern muss sich die Forschung – auch unsere eigene – die Frage gefallen lassen, ob sie dem Reiz des Kostbaren und Exotischen nicht selbst erlegen ist. Fraglos war die Frühe Neuzeit eine Epoche, die sich in immer neuen Exotismen Versatzstücke fremder Kulturen aneignete, sei es das Osmanische, Chinesische, Indische und Amerikanische oder auch das Römische oder Ägyptische, und dies spiegelte sich auch und gerade in der materiellen Kultur. Ebenso fraglos waren frühneuzeitliche Menschen affiziert von schönen, kunstfertigen und exotischen, raren, alten und erstaunlichen Dingen, eigneten sich Wissen über sie an, kamen über sie ins Gespräch und sorgten für ihre langfristige Bewahrung.74 Viele der bis heute erhaltenen frühneuzeitlichen Objekte verdanken ihre fortgesetzte Existenz dieser besonderen Wertschätzung. Doch die alltäglicheren Gegenstände waren für das Leben der Menschen nicht weniger bedeutend und haben es deshalb gleichermaßen verdient, in den Forschungen zu materieller Kultur und Konsum berücksichtigt zu werden.75 Knappheit und Überfluss, Alltägliches und Außergewöhnliches gilt es in ihren Beziehungen zueinander zu untersuchen und den beständigen Wandel ihres Verhältnisses zum geschichtswissenschaftlichen Narrativ zu machen.

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mer Culture in Europe, 1650–1850, Manchester 1999, 63–85; Berg, Maxine (Hg.), Goods from the East, 1600–1800. Trading Eurasia, Basingstoke 2015. Die von Berg analysierten Prozesse sind für den deutschsprachigen Raum noch wenig beleuchtet, zuletzt aber in Kim Siebenhüners SNF-Projekt für die bedruckten Baumwollstoffe nachvollzogen worden. So der Titel einer von ihr herausgegebenen Publikationsreihe bei Palgrave Macmillan. Vgl. de Vries, Europa und die Welt, 430–431. Vgl. dazu die Beiträge von Annette C. Cremer, Christiane Holm und Michael Wenzel in diesem Band. Dies demonstrieren am Beispiel von Essgeräten und Küchengerätschaften Pennell, Sara, Mundane Materiality, or Should Small Things Still be Forgotten? Material Culture, Micro-Histories and the Problem of Scale, in: Harvey, Karen (Hg.), History and Material Culture. A Student’s Guide to Approaching Alternative Sources, New York 2009, 173–191; Maegraith, Janine/Küpker, Markus/Ogilvie, Sheilagh, Frauen und die materielle Kultur des Essens im frühneuzeitlichen Württemberg. Ergebnisse aus Wildberger Inventaren, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 71 (2012), 229–254, sowie Elizabeth Harding in ihrem Beitrag für diesen Band.

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3. Jenseits der Worte, jenseits der Dinge Unter dem Titel Beyond Words plädierte die amerikanische Historikerin Leora Auslander 2005 dafür, Objekte als Quellen der Geschichtswissenschaft ernst zu nehmen.76 Dinge, so lautete Auslanders Botschaft, transportierten Informationen über das Vergangene und böten einen alternativen, die textliche Überlieferung ergänzenden und ihr ebenbürtigen Zugang zur Geschichte. Auslanders Fürsprache für eine geschichtswissenschaftliche Analyse materieller Kultur und eine Erweiterung des methodischen Spektrums ist uneingeschränkt zuzustimmen, allerdings nicht, ohne den einprägsamen Titel ihres Beitrags zu differenzieren: Beyond Words markiert eher ein grundlegendes Forschungsproblem als ein Forschungsprogramm, denn die Beschäftigung mit den Dingen kann die Worte nicht hinter sich lassen. Der Erforschung materieller Kultur wohnt stets die Herausforderung inne, Worte und Dinge, sprachlich und nicht-sprachlich übermittelte Aussagen, Immaterielles und Materielles zueinander ins Verhältnis zu setzen. Dies setzt zunächst auf einer rein methodischen Ebene an.77 Gegenstände der Frühen Neuzeit sind nur im Ausnahmefall überliefert, und noch dazu unter Umständen, die eine haptische Auseinandersetzung mit ihnen in der Regel verbieten: Musealisierte Dinge sind nicht zum Anfassen. Der weitaus größte Teil frühneuzeitlicher Objekte ist überhaupt nicht erhalten. Über diese verlorenen Gegenstände geben nur Schriftquellen Aufschluss, über ihr Aussehen vermitteln manchmal Bildquellen eine Vorstellung. Dinge, die nicht mehr vorhanden sind, lassen sich jenseits der Worte schlichtweg nicht untersuchen – da hilft auch ein noch so avanciertes Instrumentarium der Objektanalyse nicht weiter. Ebenso wenig lässt sich das, was die jüngere Forschung als zentral für das Untersuchungsgebiet der material culture studies sieht, nämlich die Einbindung der Dinge in Praktiken, nur untersuchen, wenn zusätzlich zu eventuell überlieferten Gegenständen auch Text- und Bildquellen herangezogen werden. Da sich die als Affordanz bezeichnete Plausibilität von Rezeptionspraktiken nicht essenzialistisch aus dem Objekt ergibt, braucht es die multiperspektivische Rekonstruktion der im jeweiligen historischen Kontext als plausibel anzunehmenden Gebrauchsweisen. Abgesehen von diesen methodischen Herausforderungen liegt in der Verhältnisbestimmung von Dingen und Worten auch ein Schlüssel, um die Konturen der frühneuzeitlichen Epoche zu schärfen. Denn Dinge besaßen in den stärker auf Anwesenheit beruhenden »Kulturen des Zeigens«78 ein hohes Potenzial, kommunikative Rollen zu 76 Vgl. Auslander, Beyond Words. 77 Vgl. für eine konzise Zusammenfassung der methodischen Probleme Gerritsen, Anne/Riello, Giorgio, Introduction. Writing Material Culture History, in: dies. (Hg.), Writing Material Culture History, 1–13, hier 8–10. 78 Vgl. Stollberg-Rilinger, Barbara, Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe, Thesen, Forschungsperspektiven, in: Zeitschrift für Historische Forschung 31 (2004), 489–527, hier 513.

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entfalten. Obgleich der Gebrauch von Dingen nicht stets zeichenhaft gemeint war oder zeichenhaft gedeutet wurde,79 war den Menschen die potenzielle Symbolhaftigkeit des Materiellen gegenwärtig und geläufig.80 In den ritualisierten Verfahren der sozialen und politischen Ordnungssetzung stellten Dinge zentrale Bestandteile kommunikativer Akte dar, ohne den Worten untergeordnet zu sein. Sie vermittelten dabei Botschaften, die über den instrumentellen Objektgebrauch hinauswiesen. Gleichwohl beschränkte sich ihre Symbolhaftigkeit nicht auf eine passive Rolle als Zeichenträger, sondern lag gerade in ihrer materiellen Handhabbarkeit begründet.81 Forschungen zur symbolischen Kommunikation haben dies für die frühneuzeitliche Fürstengesellschaft,82 den Gelehrtenstand83 oder für die Diplomatie untersucht;84 besonders einschlägig für die Geschichte des Konsums und der materiellen Kultur sind aber die Studien zu den frühneuzeitlichen Aufwandsordnungen (leges sumptuariae).85 Diese in Europa im 13. Jahrhundert aufkommenden und bis ins 18. Jahrhundert existierenden Normsetzungen stellten den Versuch dar, Konsum gemäß einer als gottgewollt legitimierten Standesordnung obrigkeitlich zu steuern und die Beziehung zwischen Güterwelt und Prestigeordnung explizit festzulegen. Als Handlungs- und Deutungsnorm schrieben sie eine »Lesbarkeit der Welt«86 fest, der zufolge an den Dingen und 79 Vgl. Reinhard, Wolfgang, Manchmal ist eine Pfeife wirklich eine Pfeife. Plädoyer für eine materialistische Anthropologie, in: Saeculum 56 (2005), 1–16, hier bes. 8. 80 Vgl. Roeck, Bernd, Die Wahrnehmung von Symbolen in der Frühen Neuzeit. Sensibilität und Alltag in der Vormoderne, in: Melville, Gert (Hg.), Institutionalität und Symbolisierung. Verstetigungen kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart, Köln 2001, 525–539. 81 Vgl. Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation, 498, die dies am Beispiel des Waffentragens i­ llustriert. 82 Vgl. grundlegend Stollberg-Rilinger, Barbara, Honores regii. Die Königswürde im zeremoniellen Zeichensystem der Frühen Neuzeit, in: Kunisch, Johannes (Hg.), Dreihundert Jahre Preußische Königskrönung. Eine Tagungsdokumentation, Berlin 2002, 1–26. 83 Vgl. Füssel, Marian, Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an der Universität der Frühen Neuzeit, Darmstadt 2006 (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne). 84 Vgl. Krischer, André, Reichsstädte in der Fürstengesellschaft. Politischer Zeichengebrauch in der frühen Neuzeit, Darmstadt 2006 (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne); Häberlein, Mark (Hg.), Materielle Grundlagen der Diplomatie. Schenken, Sammeln und Verhandeln in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Konstanz 2012; Rudolph, Harriet/Metzig, Gregor M. (Hg.), Material Culture in Modern Diplomacy from the 15th to the 20th Century, Berlin 2016 (Jahrbuch für Europäische Geschichte 17 [2016]). 85 Die Literatur dazu ist umfangreich. Den aktuellsten Überblick bieten Riello/Rublack, The Right to Dress. Für den Versuch einer Gesamtdarstellung vgl. Hunt, Alan, Governance of the Consuming Passions. A History of Sumptuary Law, Basingstoke 1996. Für einen neueren Überblick über die deutsche Forschung vgl. Weller, Thomas, »Von ihrer schändlichen und teuffelischen Hoffart sich nicht abwenden lassen wollen …«. Kleiderund Aufwandsordnungen als Spiegel »guter Ordnung«, in: Dingel, Irene/Kohnle, Armin (Hg.), Gute Ordnung. Ordnungsmodelle und Ordnungsvorstellungen im Zeitalter der Reformation, Leipzig 2014, 203–219. 86 Den auf Hans Blumenberg zurückgehenden, treffenden Begriff einer »Lesbarkeit der Welt« hat Martin Dinges in die Debatte eingebracht. Vgl. Dinges, Martin, Von der »Lesbarkeit der Welt« zum universalisierten Wandel durch individuelle Strategien. Die soziale Funktion der Kleidung in der höfischen Gesellschaft, in: Bulst, Neithard/Jütte, Robert (Hg.), Zwischen Sein und Schein. Kleidung und Identität in der ständischen Gesellschaft Freiburg 1993 (Saeculum 44), 90–112.

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insbesondere an der Kleidung der Stand, die Ehre und das Geschlecht jedes einzelnen ablesbar sein sollten. Herrschaftsträger sollten in ihrer Kleidung als solche ebenso zu erkennen sein wie die Angehörigen unehrlicher Berufe oder religiöser Minderheiten, soziale Positionen sollten mit der räumlichen Positionierung im Gehen, Stehen oder Sitzen übereinstimmen, und auch der Ge- und Verbrauch von Dingen sollte sich in Qualität und Quantität nach der jeweiligen sozialen Position richten. Materialien, die selten waren und über hervorstechende optische Eigenschaften verfügten, wie glänzendes Gold oder strahlender Purpur, changierende Seide oder irisierende Perlen, belegten in einer Hierarchie der Materialen die höchsten Ränge und gebührten deshalb den gesellschaftlich Hochstehenden. Dieses »Repräsentationsverhältnis von Güterwelt und Prestigeordnung«87 stellt zwar an sich kein Charakteristikum der Frühen Neuzeit dar, denn es lässt sich in Vergangenheit und Gegenwart vielfach beobachten, dass die im jeweiligen Kontext als wertvoll erachteten Güter Status anzeigen und Distinktion produzieren.88 Doch die frühneuzeitliche Epoche verfügte mit den Aufwandsordnungen über eine besonders vehemente, gesetzgeberische Fixierung dieses Verhältnisses, das sich mit seiner Engführung von Stand und Konsum auch von den antiken und mittelalterlichen Luxusverboten abhob. Die Denkfigur des standesgemäßen Konsums, ihre obrigkeitliche Geltendmachung und die von ihr ausgehenden Rangkonflikte lassen sich deshalb als ein frühneuzeitliches Proprium verstehen, für das allerdings einschränkend gesagt werden muss, dass es nicht überall in Europa zur Geltung kam und bereits in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts seine Bedeutung wieder verlor.89 Zudem wäre es ein Irrtum, die Aufwandsordnungen für Zustandsbeschreibungen zu halten und die vielgestaltigen Mensch-Ding-Beziehungen allein auf die Mechanismen sozialer Distinktion reduzieren zu wollen – diesem Fehlschluss erlagen die Soziologen des 20. Jahrhunderts wahrscheinlich noch in weit höherem Maß als schon die frühneuzeitlichen Apologeten der Aufwandsgesetze.90 Ebenso wie heute eigneten sich Objekte auch früher schon für eine Vielzahl von Handhabungen, in denen teils instrumentelle, teils symbolische Gebrauchsweisen überwogen. Nichtsdestoweniger sind Aufwandsordnungen für den frühneuzeitlichen Umgang mit den Dingen eine ähnlich einschlägige Quellengattung wie die Inventare, an der eine Periodisierung festgemacht werden kann.

87 Schrage, Dominik, Die Verfügbarkeit der Dinge. Eine historische Soziologie des Konsums, Frankfurt a. M. 2009, 144. 88 Vgl. Hellmann, Kai-Uwe, Sozialstruktur und Dinge, in: Samida/Eggert/Hahn (Hg.), Handbuch materielle Kultur, 77–84; Hildebrandt, Berit/Neunert, Gregor/Schneider, Florian, Prestigegüter, in: Samida/Eggert/ Hahn (Hg.), Handbuch materielle Kultur, 237–240. 89 Vgl. dazu die Beiträge in Riello/Rublack, Right to Dress. 90 Die Fixierung der älteren Soziologie auf das Distinktionstheorem zeigt Schrage, Verfügbarkeit der Dinge, auf.

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Über Statusfragen hinaus waren frühneuzeitliche Menschen daran gewöhnt, die sie umgebende physische Welt zu lesen und ihr Aussagen über etwas jenseits der Dinge Liegendes zu entnehmen. Die frühneuzeitliche Kunstform der Emblematik lässt sich als ein epochenspezifischer Niederschlag dieser ›Lektüren‹ sehen, der zugleich zeigt, dass die Ausdeutung der materiellen Welt nicht nur dem ernsthaften Bestreben entsprang, Gott nahezukommen oder höheres Wissen zu erlangen. In ihr kamen ebenso die Lust am Auslegen, die Freude an der Enträtselung und der Witz der Anspielung zum Tragen.91 Grundsätzlich stand die Beziehung zwischen Materiellem und Immateriellem in der Frühen Neuzeit nicht einfach fest, sondern wurde immer wieder neu diskutiert.92 Besonders greifbar wird dies in der Verhältnisbestimmung von Immanenz und Transzendenz, die in den reformatorischen Debatten um Bilderverbot, Transsubstantiation und Realpräsenz erfolgte.93 Ob Wein und Brot nur Symbole oder tatsächlich Blut und Leib seien, ob Heiligenbilder und Reliquien wundertätig seien, ob die himmlische Pracht im Luxus der Kirchenausstattung widerzuspiegeln sei, ob den Worten vor den Dingen der Vorrang zu geben sei, zählte zu den zentralen Streitpunkten zwischen den sich ausbildenden christlichen Konfessionen. Aus den jeweiligen konfessionellen Konzepten von Materialität gingen unterschiedliche materielle Settings hervor, die ihrerseits auf die Glaubenspraxis zurückwirkten. Gleichwohl lässt sich für die materielle Kultur und den Konsum der Frühen Neuzeit nur mit Abstrichen davon sprechen, dass ihnen die Konfessionsbildung eine klare Epochensignatur verlieh. Die Welt der Dinge teilte sich nicht einfach in einen nüchternen protestantischen und einen überbordend katholischen Teil. Generell hat die jüngere Forschung die Vorstellung zurückgewiesen, dass sich der Protestantismus durch eine Entsinnlichung oder zumindest durch ein klares Zurücktreten anderer Sinneserfahrungen hinter das gesprochene und geschriebene Wort ausgezeichnet habe.94 Überdies zeigen frömmigkeitsgeschichtliche Studien, dass sich der Gebrauch und die Verbreitung religiöser Dinge nicht immer nach 91 Vgl. dazu meinen Beitrag in diesem Band mit weiterführender Literatur. Hinsichtlich des spielerischen Umgangs mit den Dingbedeutungen sind auch die scherzhaften Reflektionen über die Wirkungsmacht von Dingen interessant, auf die Marian Füssel gestoßen ist. Vgl. Füssel, Marian, Die relationale Gesellschaft. Zur Konstitution ständischer Ordnung in der Frühen Neuzeit aus praxeologischer Perspektive, in: Freist, Dagmar (Hg.), Diskurse – Körper – Artefakte, Bielefeld 2015, 115–138. 92 Vgl. Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation, 524–525. 93 Zur vorreformatorischen Materialität des Sakralen vgl. Walker Bynum, Caroline, Christian Materiality. An Essay on Religion in Late Medieval Europe, New York 2011; zur diachronen Geschichte des Abendmahls vgl. Schubert, Anselm, Gott essen. Eine kulinarische Geschichte des Abendmals, München 2018; zum Bildersturm vgl. Schwerhoff, Gerd, Bildersturm und Blasphemie; zum Spannungsfeld von Transzendenz und Gemeinsinn in der Reformationszeit, in: Vorländer, Hans (Hg.), Transzendenz und die Konstitution von Ordnungen, Berlin 2013, 186–206. 94 Vgl. Haberer, Johanna/Hamm, Berndt (Hg.), Medialität, Unmittelbarkeit, Präsenz. Die Nähe des Heils im Verständnis der Reformation, Tübingen 2012; Scribner, Robert W., Religion und Kultur in Deutschland 1400–1800, Göttingen 2002 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 175), hier bes. 304–305.

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Konfessionszugehörigkeit scheiden lassen. Die materielle Kultur des Sakralen führte zwar unter den Bedingungen konfessioneller Konfrontation zur Errichtung ›sichtbarer Grenzen‹,95 so dass sich protestantische Kirchen schließlich deutlich von katholischen unterschieden. Auch lassen sich demonstrative Konsumptionsformen wie das Fleisch- oder Butteressen während der Fastenzeit nachweisen.96 Doch für den alltäglichen Konsum und die materielle Kultur des Hauses spielten konfessionelle Grenzen offenbar eine weit geringere Rolle. Obwohl die Verzierung des Hausrats mit religiösen Motiven weit verbreitet war, musste damit keine konfessionelle Demarkation einhergehen.97 Konfessionsübergreifend knüpfte sich an religiöse Objekte zudem die Vorstellung ihrer Wirkmächtigkeit. Innerhalb des Protestantismus handelte es sich dabei keineswegs nur um vorreformatorische Überbleibsel, das heißt um »Relikte katholischer Frömmigkeit und vorreformatorischer Mentalität«,98 sondern, wie im Fall der als Nothelfer und ›Reliquie‹ fungierenden religiösen Bücher, auch um protestantische Adaptionen.99 Nicht von den Lehrmeinungen, sondern vom jeweiligen Umgang der Gläubigen mit den Dingen hing es ab, ob religiöse Objekte als Präsenz oder Repräsentanz des Sakralen aufgefasst wurden. Vorstellungen von wirkmächtigen Gegenständen erstreckten sich nicht allein auf die Sphäre des (im engeren Sinn) Religiösen. Vielen Dingen wurden Kräfte zugeschrieben, die heute als übernatürlich klassifiziert werden würden – und sei es nur in der Form, dass sie, wie beispielsweise Maulwurfsklauen, als Glück bringend oder Übel abwehrend galten.100 Die Zusammensetzung von Speisen, die Beschaffenheit von Essgeschirr101 oder die Kom95 Vgl. Schnettger, Matthias, Sichtbare Grenzen. Katholiken, Reformierte und Juden in der lutherischen Reichsstadt Frankfurt, in: Schmidt-Funke, Julia A./Schnettger, Matthias (Hg.), Neue Stadtgeschichte(n). Die Reichsstadt Frankfurt im Vergleich, Bielefeld 2018 (Mainzer Historische Kulturwissenschaften), 73–98. 96 Neben dem bekannten Zürcher Wurstessen vgl. Mudrak, Marc, Reformation und alter Glaube. Zugehörigkeiten der Altgläubigen im Alten Reich und in Frankreich, Berlin/Boston 2017, 365–376, dort mit einem sehr eindrucksvollen Beispiel zum Butterkonsum (ebd., 370–373). Vgl. dazu auch den Beitrag von Janine Maegraith in diesem Band. 97 Instruktiv dazu Gutjahr, Mirko, Wie protestantisch ist Luthers Müll? Die Konfessionalisierung und ihre Auswirkungen auf die materielle Alltagskultur des 16. Jahrhunderts, in: Mitteilungsblatt der Deutschen Gesellschaft für Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit 23 (2011), 43–50; Hamling, Tara, Die Gestaltung des frommen Hauses im protestantischen Europa, in: Eibach/Schmidt-Voges (Hg.), Das Haus in der Geschichte Europas, 195–213, hier bes. 212–213. 98 Gutjahr, Luthers Müll, 49; ähnlich auch Schwerhoff, Bildersturm und Blasphemie, 193. Differenzierter dagegen Scribner, Religion und Kultur, 187. 99 Vgl. François, Etienne, Das religiöse Buch als Nothelfer, Familienreliquie und Identitätssymbol im protestantischen Deutschland der Frühneuzeit (17.–19. Jahrhundert), in: Brunold-Bigler, Ursula (Hg.), Hören – Sagen – Lesen – Lernen. Bausteine zu einer Geschichte der kommunikativen Kultur, Bern 1995, 219–230. 100 Vgl. Amulett und Talisman, in: Rudolph, Andrea (Hg.), Hexen. Mythos und Wirklichkeit (Katalog einer Ausstellung im Historischen Museum der Pfalz in Speyer, 12. Sept. 2009–10. Mai 2010), München 2009, 82–85; Tuczay, Christa, Amulett und Talisman, in: Gersmann, Gudrun/Moeller, Katrin/Schmidt, Jürgen-­ Michael (Hg.), Lexikon zur Geschichte der Hexenverfolgung, 06.11.2007, online verfügbar unter: https:// www.historicum.net/purl/44zmy/, letzter Zugriff: 10.06.2019. 101 Vgl. dazu den Beitrag von Elizabeth Harding in diesem Band.

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position von Kleinodien folgte Annahmen über Substanzen und Materialien, die sich mit naturwissenschaftlichen Methoden nicht verifizieren lassen, für die frühneuzeitlichen Menschen aber gleichwohl plausibel waren – auch und gerade weil sich diese Einsichten nicht auf dem Boden der gesicherten Tatsachen, sondern in der Sphäre des Arkanen bewegten. Freilich ging das mit den Dingen verbundene Wissen nicht allein auf tradierte magische Vorstellungen zurück, sondern beinhaltete ebenso empirische Kenntnisse, darunter technisches bzw. herstellerisches Know-how.102 Wie sich die verschiedenen an die Objekte angelagerten Wissensbestände zu demjenigen Wissen verhalten, das heute als (natur-) wissenschaftlich gilt, kann besonders gut anhand von Dingen untersucht werden, die im Lauf der Zeit zu immer neuen Deutungen herausforderten. Das physische und interpretatorische Rearrangement dieser »epistemischen Dinge«103 entsprach allerdings nicht einfach einem linearen Übergang von einer Welt der wirkmächtigen Wunderdinge zum nüchternen Inventar der Wissenschaften, sondern stellte sich in der Frühen Neuzeit eher als eine An- und Überlagerung alter und neuer Bedeutungsschichten dar, die sich an die grundsätzlich uneindeutigen Objekte herantragen ließen.104 Diese Schichtungen und ihre Verwerfungen gilt es mit den Dingen und den Worten sichtbar zu machen.

4. Zu den Beiträgen dieses Bandes Der vorliegende Band greift das bislang Ausgeführte in neun Beiträgen auf. Die in ihm präsentierten unterschiedlichen Zugänge zu materieller Kultur und Konsum sind mithilfe von fünf Begriffspaaren gegliedert. Diese Einteilung versteht sich nicht als exklusive Zuordnung, sondern als Akzentuierung der jeweiligen Schwerpunkte, denn relevant sind die mit den Begriffspaaren umrissenen Aspekte in veränderlichem Umfang für alle Beiträge des Bandes. Materialien und Macharten spielen eine besondere Rolle in den Ausführungen von Andrea Caracausi und Julia A. Schmidt-Funke. Caracausi befasst sich mit der Fertigung, Vermarktung und Verwendung von Bandwaren und zeigt anhand der ­italienischen 102 Vgl. Smith, Pamela H./Schmidt, Benjamin (Hg.), Making Knowledge in Early Modern Europe. Practices, Objects, and Texts, 1400–1800, Chicago 2007; Smith, Pamela H. (Hg.), Ways of Making and Knowing. The Material Culture of Empirical Knowledge, Ann Arbor 2014, sowie den Beitrag von Berit Wagner in diesem Band. 103 Vgl. Rheinberger, Hans-Jörg, Epistemische Dinge, in: Samida/Eggert/Hahn (Hg.), Handbuch Materielle Kultur, 193–196. Rheinberger verwendete den Begriff ursprünglich im Zusammenhang mit Experimentalkulturen; vielfach wird der Begriff inzwischen aber weiter gefasst. 104 Vgl. Collet, Dominik, Die Welt in der Stube. Begegnungen mit Außereuropa in Kunstkammern der Frühen Neuzeit, Göttingen 2007; Laube, Stefan, Von der Reliquie zum Ding. Heiliger Ort – Wunderkammer – Museum, Berlin 2011; Daston, Lorraine/Park, Katharine, Wunder und die Ordnung der Natur 1150–1750, Berlin 2002.

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Seidenbandweberei verschiedene ökonomische Diversifizierungsprozesse auf: Er stellt die breite Fächerung der Herstellungsweisen, Preisklassen und Produktnamen dar und vollzieht die Erschließung von Arbeits- und Absatzmärkten nach. Caracausi belegt dabei nicht nur die Dynamik dieses frühneuzeitlichen Wirtschaftszweigs, sondern liefert mit seinen Ausführungen auch zahlreiche Argumente dafür, die Seidenbänder als ein charakteristisches Konsumgut der europäischen Frühneuzeit anzusehen. Kennzeichnend dafür war unter anderem die europäische Aneignung der ursprünglich aus Asien eingeführten Seide, welche mithilfe neuer Technologien und Arbeitsweisen zu einem Produkt verarbeitet wurde, das zunächst auf den europäischen Konsum zugeschnitten war, dann aber auch nach Amerika und in die Levante exportiert wurde. Als charakteristisch erscheint zudem, dass die abgestufte Wertigkeit der Seidenbänder die soziale Differenzierung ihrer Produzent/innen und Konsument/innen reflektierte. Ähnliche Merkmale weisen auch die Fayencen auf, die im Zentrum des Beitrags von Julia A. Schmidt-Funke stehen. Sie diskutiert ein museal erhaltenes Artefakt – einen bemalten Krug im Historischen Museum in Frankfurt am Main – als hybrides Objekt, um die Vielschichtigkeit des Gegenstands sichtbar zu machen. Hybrid erscheint das Trinkgeschirr zum einen bezüglich seiner Positionierung zwischen Kulturen und Räumen: Als weißgrundige Fayence geht der Krug in seinem Aussehen letztlich auf fernöstliches P ­ orzellan zurück, auch wenn er in Form und Dekor seinen asiatischen Vorbildern nicht (mehr) folgt. Seine Bemalung beruht aber gleichwohl in der Aneignung eines exotischen Motivs, nämlich des im 17. Jahrhundert vieldiskutierten bengalischen Banyanbaums. Hybridität zeigt die Fayence auch hinsichtlich ihrer Platzierung in vermeintlich zielgerichteten sozio-ökonomischen Entwicklungen. Als Schöpfung eines sogenannten Hausmalers entstand sie zwischen Manufaktur und Werkstatt durch die Bemalung eines seriell gefertigten Stücks. Die daraus resultierende Aus-zeichnung, die Schmidt-Funke als Charakteristikum der frühneuzeitlichen materiellen Kultur interpretiert, prägte den Umgang der Menschen mit dem Objekt und ermöglichte dessen dauerhafte Bewahrung. Mit Dauerhaftigkeit und ihrer spannungsreichen Beziehung zu Vergänglichkeit befasst sich auch Elizabeth Harding, die Gestaltung, Benutzung und Bedeutung von Löffeln untersucht. Ihr Beitrag greift das Begriffspaar Verbrauchsformen und Gebrauchsweisen produktiv auf, indem er eine kritische Revision der Kategorie des Alltagsgegenstands vornimmt. Harding analysiert die alltäglichen und nicht-alltäglichen Verwendungen von Löffeln und arbeitet heraus, wie sich instrumentaler und symbolischer Gebrauch wechselseitig bedingten. Zum Tragen kamen dabei einerseits allgemeine Kennzeichen des Objekts wie eine geringe Größe und eine leichte Handhabbarkeit, aber auch Spezifika des konkreten Einzelstücks, allen voran die Beständigkeit, der Wert und die (zugeschriebene) Wirksamkeit seines Materials. Als weiteren wichtigen Faktor stellt Harding die Beziehung zu anderen Gegenständen heraus: Erst im Kontrast zu Messer und Gabel entfaltete der ­Löffel

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seine Symbolizität und konnte als Urform des Bestecks für Nahrungsaufnahme und -versorgung stehen. Er konnte aber auch eine negativ konnotierte Einfachheit verkörpern, die für ihn selbst und die mit ihm zum Mund geführten Speisen galt. Dass man Fleisch nicht mit Löffeln aß, ist in diesem Zusammenhang keine triviale Feststellung, sondern deutet auf eine Hierarchie der Nahrungsmittel hin, die in Janine Maegraith’ Beitrag zum frühneuzeitlichen Fleischkonsum näher untersucht wird. Maegraith unterstreicht die Verbrauchsformen und Gebrauchsweisen von Fleisch, das nicht einfach nur aufgrund seines Nährwerts oder seines Geschmacks verzehrt, sondern auch benutzt wurde, um Beziehungen zu stiften, sozialen Rang auszudrücken oder konfessionelle Positionen zu markieren. Anhand von Spitals- und Klosterrechnungen und sogenannten Medizinaltopographien aus der Zeit um 1800 arbeitet Maegraith zunächst heraus, dass der von der Forschung gemeinhin angenommene zeitliche und regionale Wandel des Fleischkonsums nuanciert betrachtet werden muss – er konnte sich in unmittelbarer territorialer Nachbarschaft signifikant unterscheiden. Die Rolle von Fleisch in der Ökonomie eines frühneuzeitlichen Haushalts erschließt sich sodann durch die Auswertung eines erzgebirgischen Selbstzeugnisses aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, des Gedenkbuchs von Michel Stüeler. Maegraith schärft an seinem Beispiel den Begriff der lokalen Mischökonomie, die auf einer Kombination kommerzieller und nicht-kommerzieller Transaktionen beruhte. Auf Eignungen und Anforderungen von Objekten, das heißt auf die Affordanz von Dingen, stellen Annette Caroline Cremer und Christiane Holm in ihren Ausführungen ab. Cremer befasst sich mit Miniaturisierungen und arbeitet heraus, wie kleine und winzig kleine Objekte frühneuzeitliche Menschen faszinierten und herausforderten. Filigrane Modelle, Miniaturmalereien und geschnitzte Kirschkerne erforderten im Produktionswie im Rezeptionsprozess Konzentration und Körperbeherrschung. Sie verlangten zudem nach dinglichen Ergänzungen wie Flaschen und Gläsern, Einfassungen und Aufhängungen, Vergrößerungsgläsern und Spezialwerkzeugen. Cremers Ausführungen machen deutlich, wie sich die Frühe Neuzeit des Kleinen bemächtigte: Die kunstvolle Verkleinerung des Lebensgroßen wurde in den Dienst religiöser Erbauung und didaktischer Unterweisung gestellt, und die für das menschliche Auge kaum wahrnehmbaren materiellen Strukturen wurden durch Mikroskope zum Vorschein gebracht. Heutige Nanokunst dreht, wie Cremer abschließend ausführt, dieses Prinzip der Sichtbarmachung insofern um, als sie gerade die Unsichtbarkeit zum Programm erhebt. Die für die Zurschaustellung der Miniaturen notwendigen Vorrichtungen lassen sich als handlungserfordernde und bedeutungserzeugende Rahmungen verstehen – ein Ansatz, den Christiane Holm in ihrem Beitrag anhand eines Sammlungsmöbels verfolgt und dafür den Begriff des Parergons verwendet. Holm unterstreicht, dass angesammelte Objekte erst durch ihre materielle Zurichtung zu Sammlungen im Sinne eines Systems aussagekräftiger

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Dinge werden – es ist also das Parergon, das Wahrnehmungs- und Erkenntnissituationen generiert. Holm führt dies anhand eines in der Wunderkammer der Franckeschen Stiftungen befindlichen Tisches aus, in dessen setzkastenartigen Fächern sich Drogen, also Ausgangsstoffe für die Arzneimittelproduktion, befanden. Mithilfe einer sorgfältigen Autopsie des Tisches einerseits und einer auf schriftlichen Quellen beruhenden Kontextualisierung andererseits kann Holm aufzeigen, dass das mehrfach umgesetzte und umgenutzte Möbelstück als Schnittstelle epistemischer, pädagogischer, kaufmännischer und religiöser Praktiken gesehen werden muss. Sie liefert damit zugleich einen wichtigen Beitrag zur Konstitutionsphase der Sammlungsmöblierung um 1700. Mit einem Fokus auf Beziehungen und Bewegungen schreibt Michael Wenzel in seinem Beitrag die Objektbiographie einer bereits in der Frühen Neuzeit zu Berühmtheit gelangten Antike, des sogenannten Mantuanischen Onyxgefäßes, das sich heute im Herzog Anton Ulrich-Museum in Braunschweig befindet. Dank der dichten schriftlichen Überlieferung zu diesem Stück gelingt es Wenzel, die zirkulationsbedingten Resemiotisierungen aufzuzeigen, die das Artefakt erfuhr. In der frühen römischen Kaiserzeit als Salbölfläschchen geschaffen, gelangte das Gefäß zunächst in die Sammlungen der Isabella d’Este in ­Mantua. In eine bewegte Phase seines Lebens trat es infolge des Sacco di Mantova im Jahr 1630 ein: Im weiteren Verlauf des 17. Jahrhunderts veränderte es seinen Status mehrfach und wurde nacheinander zur Kriegsbeute, zum Geschenk, zum Spekulationsobjekt und zum Erbstück, um schließlich erneut in eine fürstliche Sammlung, die Kunstkammer Herzog Ferdinand Albrechts von Braunschweig-Bevern, aufgenommen zu werden. Dabei erfuhr der antike Kunstgegenstand jedes Mal eine Umdeutung, die mit einer enormen Wertsteigerung einherging. Wenzel interpretiert dies als das Resultat einer durch die Materialität des Gegenstands bedingten Beziehungsstiftung zwischen dem Objekt und den mit ihm umgehenden Menschen einerseits sowie zwischen dem Objekt und weiteren (Kunst-) Objekten andererseits. Ebenfalls um ein Kunstwerk geht es in dem Beitrag von Berit Wagner, die anhand von Tizians Tod des Aktaion die Frage von Wissen und Wahrnehmungen thematisiert. Wagner legt eine alchemische Deutung des Gemäldes vor, die auf einer kenntnisreichen Analyse der zeitgenössischen Kunsttheorie einerseits und einer dichten Rekonstruktion von Tizians Beziehungsgeflecht und Wissenshorizont andererseits beruht. In den Tod des Aktaion floss nicht nur ein zeittypisches materielles Verständnis von Farbe und die Vorstellung vom Künstler als Schöpfer ein, sondern auch ein mythoalchemisches Wissen, das Tizian in dem Gemälde programmatisch verdichtete. Bei seinen alchemisch interessierten Kunden und Auftraggebern – im Fall des Aktaion handelte es sich um Philipp II. von Spanien – stieß dies gewissermaßen auf offene Augen. Wagner deutet überdies die für Tizians Spätwerk charakteristische und auch im Tod des Aktaion verwendete Fleckenmalerei als einen ebenfalls alchemisch inspirierten Paragone mit den venezianischen Glas-

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künstlern von Murano und untermauert damit die These von einem material turn in der Malerei des 16. Jahrhunderts. In Auseinandersetzung mit dem Konzept der Warenkultur fragt schließlich Kim Siebenhüner in ihrem Beitrag, in welchem Verhältnis das Wissen über außereuropäische Waren und das Staunen über fremde Dinge standen. Sie zeigt auf, dass die nach Europa importierten Güter vielfach in einem Modus beschrieben wurden, der in der langen Tradition einer Verwunderung über das Fremde stand. Das Staunen erwies sich, so ihre These, als produktiv für die Generierung von Wissen über Waren. Aus Reiseberichten, die gattungsgemäß einem Programm des Wunderbaren und Merkwürdigen folgten, gingen Informationen über fremde Güter in stärker systematisierende Pflanzen- und Warenkunden ein. Für den professionellen Gebrauch der Ärzte und Apotheker, der Handwerker, Krämer und Kaufleute gedacht, stellten diese Publikationen ein pharmakologisches und drogistisches Überblickswissen zusammen. Siebenhüner schreibt den außereuropäischen Gütern deshalb ein epistemische Potenzial zu, unterstreicht aber zugleich, dass dessen Nutzung das affektive Potenzial der fremden Dinge nicht obsolet werden ließ.

Materialien und Macharten

Made in Italy Seidenbänder im frühneuzeitlichen Europa Andrea Caracausi

Als der französische Generalinspektor der Manufakturen Jacques Savary des Bruslon Ende des 17. Jahrhunderts sein Dictionnaire universel de commerce verfasste, nahm er darin auch einen Eintrag über gewebte Bänder auf, die er folgendermaßen definierte: Tissu très mince qui sert à plusieurs usages, suivant les matieres dont il est fabriqué. L’on fait des rubans d’or, d’argent, de soye, de capiton, de laine, de fil, &c. On en fait d’étroits, de larges, de demi-larges, de façonnez, d’unis, à deux endroits & avec un envers, de gauffrez, à raiseau, de simples, de doubles en lisse; enfin de toutes couleurs & de tous desseins suivant le génie du Rubannier, le goût du Marchand qui le commande, ou la mode qui court.1 Savary des Bruslon betonte die umfangreiche Anwendung von Bändern in der Kleidung, die aufgrund der Vielzahl an Produkten und Modellen für eine große Kundenzahl hergestellt würden. Außerdem hob er hervor, dass Bänder eng mit den Veränderungen in der Mode verbunden seien. Alle Bandqualitäten besäßen ihren eigenen Verwendungszweck: Während feinste seidene Bänder in modischen Farben und Mustern für fürstliche Hosen gebraucht würden, dienten halbseidene für den alltäglichen Gebrauch, zum Einsäumen und Binden von Miedern, für Perücken, Hauben und Hutbesätze sowie zum Buchbinden.2 Diese Vielfalt lohnt es, in einer wirtschafts-, sozial- und kulturgeschichtlichen Perspektive im Detail betrachtet zu werden, denn die frühneuzeitliche Produktion, Distribution und Konsumption von Bändern eröffnet wichtige Einsichten in die Ökonomie einer Epoche, die weitaus dynamischer war, als es von der Forschung lange Zeit behauptet worden 1

Savary des Bruslon, Jacques, Ruban, in: Dictionnaire universel du commerce, Bd. 2, Paris 1723, 1435–1439, hier 1435. Übersetzung der Herausgeberin: »Sehr dünnes Gewebe, das abhängig von dem Material, aus dem es geschaffen ist, mehreren Zwecken dient. Man stellt Bänder aus Gold, Silber, Seide, Floretseide [capiton], Wolle, Flachs etc. her. Man fertigt davon schmale, breite, halbbreite, gemusterte, einfarbige, doppelseitige und solche mit einer Rückseite, geprägte, à raiseau [netzartige oder mit Netzgrund], einfache, doppelt geglättete; schließlich gibt es alle Farben und alle Dessins je nach dem Einfallsreichtum des Bandwebers, des Geschmacks des auftraggebenden Händlers oder der herrschenden Mode.« 2 Vgl. Rothstein, Natalie, Silk in the Early Modern Period, c. 1500–1780, in: Jenkins, David (Hg.), The Cambridge History of Western Textiles, Bd. 2, Cambridge 2003, 528–562, hier 560.

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ist. Gerade anhand der vermeintlich unbedeutenden Kurzwaren lässt sich dies aufzeigen. Im Folgenden3 wird dafür zunächst der außerordentlichen Produktvielfalt nachgegangen, die Waren von hoher, mittlerer und geringer Qualität für alle Segmente des Marktes einschloss. Im zweiten Teil werden Herstellungsmethode und Organisation der Produktion analysiert. Dabei wird der Schwerpunkt auf den institutionellen Rahmen (einschließlich der Zünfte und nicht zünftigen Vereinigungen), auf die Arbeitsorganisation und die Relevanz des Faktors Geschlecht sowie auf technische Innovationen gelegt. Der dritte Teil behandelt die Auswirkung, die Bänder auf den Handel hatten, und zeichnet die Entwicklung des Marktes für Bänder auf lokaler Ebene und im Fernhandel nach.

1. Die Vielseitigkeit der Bänder Während Bänder schon im 14. und 15. Jahrhundert aus der arabischen Welt bekannt waren,4 kann ihre europäische Verbreitung in verschiedenen sozialen Schichten erst für die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts nachgewiesen werden.5 Dies ging einher mit anderen Produktinnovationen wie Strumpfwaren, (gebrauchten) Seidenkleidern und leichten Tuchwaren, die auf den europäischen Märkten nun zu günstigeren Preisen angeboten wurden.6 Zugleich nahm der Gebrauch von kürzeren Kleidungsstücken zu, die vermehrt als Konfektionsware angeboten wurden: Die charakteristischen Kniebundhosen der Frühen Neuzeit und die sie begleitenden Strümpfe beispielsweise wurden im Unterschied zu den vormals gebräuchlichen langen Gewändern zunehmend gebrauchsfertig geschneidert.7 3 Ich danke Carlo Marco Belfanti, Julia A. Schmidt-Funke und Amanda Wunder für ihre Anmerkungen und Janine Maegraith für die Übersetzung aus dem Englischen und ihre inhaltlichen Kommentare. 4 Donzel, Catherine, L’art de la passementerie et sa contribution à l’histoire de la mode et de la décoration, Paris 1992, 36; Ragosta, Rosalba, Napoli città della seta, Rom 2009, 15. 5 Vgl. auch Rothstein, Silk in the Early Modern Period, 529. 6 Belfanti, Carlo Marco, Le calze a maglia: moda e innovazione alle origini dell’industria della maglieria (secoli XVI–XVII), in: Società e storia 69 (1995), 590–591; ders., Fashion and Innovation. The Origins of the Italian Hosiery Industry in the Sixteenth and Seventeenth Centuries, in: Textile History 27 (1996), 132–147; ders., The Civilization of Fashion. At the Origins of a Western Social Institution, in: Journal of Social History 43 (2) (2009), 261–283; Van der Wee, Hermann, The Western European, in: Jenkins (Hg.), The Cambridge History of Western Textiles, Bd. 2, 397–472, hier 435–436, 455; Thirsk, Joan, Knitting and knitwear, c. 1500–1780, in: Jenkins (Hg.), The Cambridge History of Western Textiles, Bd. 2, 562–583, hier 566; Wells, Frederick Arthur, The British Hosiery and Knitwear Industry. Its History and Organization, Newton Abbot 1972, 15–16; Turnau, Irena, The Diffusion of Knitting in Medieval Europe, in: Harte, N ­ egley B./­Pointing, K. G. (Hg.), Cloth and Clothing in Medieval Europe. Essays in Memory of Professor E. M. Carus Wilson, London 1983, 368–389; Molà, Luca, The Silk Industry of Renaissance Venice, Baltimore/­London 2000, 177–185; Rapley, Jane, Handframe Knitting. The Development of Patterning and Shaping, in: T ­ extile History 6 (1974), 18–50, hier 19. 7 Turnau, Irena, La bonneterie en Europe du XVIe au XVIIIe siècle, in: Annales E.S.C. 26 Nr. 5 (1971), 1118– 1132, hier 1120; Davanzo Poli, Doretta, Abiti antichi e moderni dei Veneziani, Vicenza 2001, 69, 74.

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Der Formwandel der Kleidung regte einen ausgedehnten Gebrauch von Accessoires an. In dem Maß, in dem die oberen und unteren Kleidungsstücke weiter ausdifferenziert wurden und größere modische Relevanz erhielten, wurden sie mit Stickereien, Kordeln, Borten, Besätzen und Bändern ausgeschmückt. Die Einführung von Strümpfen beförderte ebenso den Gebrauch von Bändern, welche zur Befestigung der Strümpfe an den Hosenbeinen notwendig waren. Das Ergebnis war, wie Alfred Plummer für England gezeigt hat, dass der Konsum solcher Kurzwaren erheblich anstieg: […] in the seventeenth century many thousands of yards of ribbon were worn by upper-class people, both men and women, for ›points‹ to close openings in garments and for decoration, such as ribbon loops, bows, wrist-ties, shoulder-knots, and sashes. Numerous gaily coloured ribbon loops were worn by men of fashion to form a fringe round the waist and the bottoms of the breeches.8 Die Bänder besaßen eine außergewöhnliche Vielfalt an Mustern und Qualitäten, in welcher sich die große Segmentierung des Marktes und die vielseitige Verwendung der Kurzwaren widerspiegelten. Zwischen den teuersten Bändern und den Bändern niedrigster Qualität bestand eine enorme Preisdifferenz von über 80 Prozent.9 Trotz der beinahe unüberschaubaren Fülle an Bändern lassen sich grundsätzlich gemusterte von einfarbigen unterscheiden. Erstere schlossen teurere Waren ein, welche zumeist aus Seide, seltener aus Wolle, Baumwolle oder Flachs gewoben wurden. Diese Bänder, für die verschiedenste Farben und Muster verfügbar waren, wurden in der Regel von den höheren Ständen für Luxuskleidung sowie für die häusliche Innendekoration gebraucht. Kleinere gemusterte Bänder, deren Breite üblicherweise etwa einen Zentimeter ausmachte, dienten beispielsweise als Saum mit Fransen zum Einfassen von Tapisserien oder zum Verzieren des Interieurs oder Exterieurs von Kutschen, ein Verkehrsmittel, das seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts von den Oberschichten vermehrt benutzt wurde (Abb. 1). Ungemusterte Bänder waren grundsätzlich einfacher und billiger, doch auch diese gab es in verschiedenen Sorten. Rechnungsbücher und Inventare eröffnen für das frühmoderne Padua – eines der wichtigsten italienischen Produktionszentren für Bänder – einen Einblick in die verschiedenen Ausfertigungen, welche Erzeugnisse von hoher, mittlerer und niedriger Qualität umfassten. Einfache Bänder wurden aus reiner Seide gewoben oder unter Beimischung von Floretseide (ital. filesello, einer Restseide von minderer Qualität), 8 Vgl. Plummer, Alfred, The London Weavers’ Company, 1600–1970, London/New York 2006, 458. 9 Vgl. Caracausi, Andrea, Nastri, nastrini, cordelle. L’industria serica nel Padovano secc. XVII–XIX, Padova 2004, 40–52. Zu den Preisen vgl. Archivio di Stato di Padova (ASP), Archivi Privati Famiglie, Manzoni, b. 176, bilanci di compagnia Eredi Giupponi & Co. (1666–1676); Notarile, b. 1011, notaio Gaspare Maggion (14.03.1614).

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Abb. 1: Proben von Bändern, Archivio di Stato di Venezia.

Wolle oder Flachs gefertigt. Ein erstes Sortiment bestand aus Produkten hoher Qualität, welche poste, postazze, postoni und vor allem cordelle ormesinade genannt wurden.10 Die ersten drei Bandarten bestanden aus reiner Seide, wobei ormesinade gewöhnlich mit hochwertigen Seidenkettfäden gewoben wurden. Orsoglio, poste und postoni konnten hingegen auch mit floretseidenen Kettfäden hergestellt werden. Die in acht unterschiedlichen Breiten produzierten mezzeposte wurden dagegen immer mit Floretseidenkette gefertigt. Weitere minderwertige Bandprodukte wurden als napolitane, mezzanelle, ordinarie und coralline bezeichnet, wobei auch hier der Seidenanteil ausschlaggebend für die Differenzierung war. Napolitane und ordinarie Bänder bestanden aus reiner Seide; mezzanelle und tramade 10 Ormesino war eine hochwertige Seide, die normalerweise in den berühmten Seidenspinnereien Bolognas hergestellt wurde, vgl. Poni, Carlo, Archéologie de la fabrique. La diffusion des moulins à soie »alla bolognese« dans les Etats vénitiens, du XVII au XVIII siècle, in: Annales E.S.C. 27 (1976), 1475–1496.

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hatten dagegen floret­seidene Kettund seidene Schussfäden (Abb. 2). Diese breite Produktpalette reflektierte den ausgedehnten Gebrauch von Bändern in der Bekleidung. Bänder und Besätze hatten im Wesentlichen zwei Anwendungszwecke. Erstens dienten sie dazu, Kleidungsstücke oder -teile aneinander zu befestigen. Neben den bereits erwähnten Strumpfbändern wurden Bänder beispielsweise benutzt, um Ärmel an Wams und Mieder anzunesteln oder Hosen durch einen Kniebund zu fixieren. Zweitens benutzten Schneider Bänder dazu, ungesäumte Ränder, Ärmel und Kleider einzufassen.11 Auch Schürzen, Krägen, Hemden und Taschentücher wurden mit einfachen Seidenbändern und Stickereien umsäumt oder verziert.12 Schließlich verwendeten Schneider, Kleiderkrämer oder Schuhmacher einfache Bänder, um Hüte zu ver- Abb. 2: Probe eines Seidenbands, Archivio di Stato di Padova. edeln oder Schuhrosetten herzustellen.13 Bänder wurden auch in anderen Bereichen als dem der Bekleidung verwendet. Dass sie von den höheren Ständen zur Ausgestaltung von Häusern und Kutschen benutzt wurden, kam bereits zur Sprache. Auch ihr liturgischer Gebrauch war von Relevanz: Besonders in den altgläubigen Gebieten Europas war die Kirche einer der wichtigsten Konsumenten von Bändern.14 11 ASP, Notarile, b. 4260, fol. 17v–118r (23.01.1552); b. 4260, fol. 70r–v (20.01.1548); b. 4260, fol. 610r–v (11.02.1581); b. 5045, fol. 129r–v (10.08.1581); b. 3792, fol. 11r–v (27.01.1592); b. 4478, fol. 483r (24.05.1612); b. 3183, fol. 74r–v (12.03.1622); b. 1003, fol. 58r (02.02.1604); b. 1003, fol. 59 v (03.03.1604); b. 387, fol. 89r (10.02.1625); b. 387, fol. 190r (14.08.1628); b. 387, fol. 193r (06.09.1628); b. 387, fol. 201 (13.11.1628). 12 ASP, Notarile, b. 1003, fol. 59 v (03.03.1604); b. 1004, fol. 35r (29.02.1612). 13 ASP, Notarile, b. 4260, fol. 610r–v (11.02.1581); b. 3183, fol. 74r–v (12.03.1622); b. 387, fol. 190r (14.08.1628). 14 Donzel, L’art de la passementerie, 66–70.

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Bänder wurden auch eigenständig und als solche verwendet, etwa für den Kopfputz von Frauen oder als Auszeichnungen (in der Heraldik, im Militär oder für Orden).15 Sie entwickelten sich überdies zu einem geschlechtsspezifischen Produkt, das mit Sexualität in Verbindung gebracht wurde, zum Beispiel in der Gabenform des fairing, einem Mitbringsel von Jahrmärkten, das Männer den von ihnen umworbenen Frauen verehrten.16 Farben kam bei einem solchen symbolischen Gebrauch von Bändern eine große Bedeutung zu. Im 18. Jahrhundert wurden blaue Bänder in Amerika beispielsweise mit Liebe assoziiert, im 19. Jahrhundert wurden sie hingegen zum Zeichen der Abstinenzbewegung. Grüne Bänder wiederum galten während der Französischen Revolution als Ausdruck royalistischer Gesinnung.17 Seit der späten Renaissance hatten sich Bänder als Accessoires oder als eigenständige Objekte zu unverzichtbaren Bestandteilen der männlichen und weiblichen Bekleidung entwickelt.18 Die barocke Mode führte im 17. Jahrhundert zu einem noch größeren Einsatz von Bändern, so dass in Europa gleichsam ein Massenmarkt für Bandwaren entstand.19 Die umfangreiche Verwendung von Bändern im England des 17. Jahrhunderts wurde oben bereits erwähnt. Nach der Jahrhundertmitte wurde aufgrund einer wachsenden Ausgestaltung von Kleidungsstücken die Mode der Restaurationszeit noch ›extravaganter‹. Englische Männerhosen beispielsweise wurden großzügig mit Bändern ausgeschmückt, welche teils in London, teils andernorts hergestellt wurden. In der französischen Mode sah es kaum anders aus. Dies spiegelt sich beispielsweise in Molières Komödie L’avare von 1669 wider, in dem Harpagon zu seinem Sohn Cleanthe sagt: »Ie voudrois bien ­sçavoir, sans parler du reste, à quoy servent tous ces rubans dont vous voila lardé depuis les pieds jusqu’à la teste; & si une demy-douzaine d’éguillettes ne suffit pas pour attacher un haut-de-chausses?«20 Im 18. Jahrhundert hielt dieser Trend an. Französische Seidenfabrikanten wurden nun zu den Vorreitern der jährlichen Moden und Dessins.21 Diese 15 Rothstein, Fashion, 171; Donzel, L’art de la passementerie, 56. 16 Martin, Ann Smart, Buying into the World of Goods. Early Consumers in Backcountry Virginia, Baltimore 2008, 169. 17 Vgl. Martin, Buying, 169 (»as a sign of allegiance to the pledge of total abstinence from intoxicating drinks«); Pellegrin, Nicole, Les vêtements de la liberté. Abécédaire des pratiques vestimentaires en France de 1780 à 1800, Aix-en-Provence, 1989, 48; The Blue Ribbon Text-Book, London, 1882, 3. 18 Davanzo Poli, Abiti antichi, 67. 19 Pfister, Ulrich, Craft Guilds and Technological Change. The Engine Loom in the European Silk Ribbon Industry in the Seventeenth and Eighteenth Centuries, in: Epstein, Stephan R./Prak, Marteen (Hg.), G ­ uilds, Innovation and the European Economy, 1400–1800, Cambridge 2008, 172–198, hier 174. 20 Molière, Jean-Baptiste, L’avare, comédie, Paris 1669, 25 (1. Akt, 4. Szene), online verfügbar unter: http:// gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b8610783h/f37.image, letzter Zugriff: 12.09.2016. Übersetzung der Herausgeberin: »Ich möchte doch wissen, abgesehen von allem andern, wozu die Unmasse von Bändern nützt, mit denen du vom Kopf bis zu den Füßen gespickt bist, und ob ein halb Dutzend Nesteln nicht genug wäre, um deine Pluderhosen an das Wams zu heften.« 21 Poni, Carlo, Moda e innovazione. Le strategie dei mercanti di seta di Lione nel secolo XVIII, in: C ­ avaciocchi, Simonetta (Hg.), La seta in Europa secc. XIII–XX, Florenz 1993, 17–50.

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Veränderungen hatten auf mehreren sowohl lokalen als auch außereuropäischen Ebenen große Auswirkungen.

2. Die Produktion der Bänder Die Seidenbandfabrikation kam auf der italienischen Halbinsel schon im 14. und 15. Jahrhundert auf, so zum Beispiel in Rom, Racconigi, Florenz, Neapel und Genua. Mitte des 16. Jahrhunderts wuchs die Zahl der Zünfte und der spezialisierten Produktionszentren der Bandweberei besonders in Mailand, Venedig, Padua, Verona und Bologna an. Um die Mitte des 17. Jahrhunderts kamen weitere spezialisierte Produktionszentren hinzu wie etwa im lombardischen Vigevano nahe Mailand, in Turin oder an der Riviera di Levante bei Genua.22 Dank der wachsenden Beliebtheit der Renaissancemode erreichte die italienische Halbinsel im frühen 17. Jahrhundert zusammen mit den Niederlanden die kontinentale Führungsrolle in der Bänderfabrikation. Die ›italienischen‹ Produkte, die in Neapel, Genua, Mailand, Padua und Venedig hergestellt wurden, wurden auf allen europäischen Märkten sehr geschätzt und imitiert. Selbst als Mitte des 17. Jahrhunderts und im 18. Jahrhundert internationale Konkurrenz aufkam, waren italienische Bänder aus Padua und Vigevano auf den deutschen und zentraleuropäischen Märkten noch weit verbreitet. Langfristig allerdings verlagerte sich die Führung in der Bandwarenproduktion in Städte wie Basel, Krefeld, Coventry und schließlich nach Lyon.23 Die Organisation der italienischen Bänderherstellung basierte auf dem ländlichen und städtischen Verlagssystem. In der Phase des Haspelns und Spinnens war die Technologie ähnlich derjenigen der Seidenstofffabrikation. Nachdem das Seidengarn gesponnen war, konnte 22 Molà, The Silk Industry; Curatolo, Paola, Struttura, crisi e trasformazione di un sistema produttivo urbano. Le corporazioni auroseriche milanesi (1750–1720), Mailand 1996; dies., Apprendistato e organizzazione del lavoro nell’industria auroserica milanese (XVI–XVII secolo), in: Brambilla, E./Muto, G. (Hg.), La Lombardia spagnola. Nuovi indirizzi di ricerca, Mailand 2000, 91–110; Ragosta (Portioli), Rosalba, »Nuovi lavori«, »nuove invenzioni« di seta a Napoli nel Cinquecento, in: Molà, Luca/Mueller, Reinhold C./­ Zanier, Claudio, La seta in Italia dal Medioevo al Seicento. Dal baco al drappo, Venedig 2000, 461–476; dies., Specializzazione produttiva a Napoli nei secoli XVI e XVII, in: Cavaciocchi (Hg.), La seta in Europa, 339–349; Ragosta, Napoli, 341, 345–346; Moioli, Angelo, De-Industrialization in Lombardy during the Seventeenth Century, in: Van der Wee, Hermann, The Rise and Decline of Urban Industries in Italy and in the Low Countries (Late Middle Ages – Early Modern Times), Löwen 1988, 75–119; Prato, Giuseppe, La vita economica in Piemonte a mezzo il secolo 18, Torino 1908, 228–229, 233; Comba, Rinaldo, C ­ ontadini, signori e mercanti nel Piemonte medievale, Rom 1988, 148–149, 156; Bulferetti, Luigi/Costantini, Claudio, Industria e commercio in Liguria nell’età del Risorgimento (1700–1861), Mailand 1966, 31. 23 Ciriacono, Salvatore, Silk Manufacturing in France and Italy in the XVIIth Century: Two Models Compared, in: The Journal of European Economic History 10 (1981), 167–200; ders., Esquisse d’une histoire tripolaire: les soieries franco-italiennes et le marché allemand à l’époque moderne, in: Études réunies en l’honneur de Georges Livet, Straßburg 1986, 317–326; Caracausi, Nastri, 66–84.

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es gefärbt und dann zu Bändern verwoben werden. Vor dem Weben war es notwendig, die Kettfäden für den Webstuhl vorzubereiten, indem Fäden gleicher Länge parallel zueinander aufgewickelt wurden (orditura); dieser Arbeitsgang fand in den Häusern der heimarbeitenden Familien statt. Abhängig davon, welche Technologie und Art von Webstuhl verwendet und welche Art von Bändern hergestellt wurden, gab es an diesem Punkt eine wichtige Teilung der Arbeitsgänge. Für die feinsten Bänder wie gallons, guarnitioni oder fiocadure wurden spezifische Webstühle verwendet, die denen glichen, die zur Herstellung von Seidenstoffen verwendet wurden, allerdings waren sie kleiner und konnten deshalb in kleineren Räumen untergebracht werden (Abb. 3).24 Generell gab es zwei Arten von Webstühlen: der erste war horizontal, à basse lisse. Erst am Ende des Abb. 3: Bandwebstuhl, aus: Recueil de planches sur les scien16. Jahrhunderts wurde ein vertika- ces et les arts, Bd. 11, Paris 1772, s.v. Passamenterie, Taf. 8. ler oder aufrechter Webstuhl eingeführt, der besonders für die hochwertigsten gallons verwendet wurde.25 Diese Qualitätsbänder wurden normalerweise von männlichen Webern in Heimarbeit produziert. In Mailand, Turin, Neapel und Venedig basierte die institutionelle Produktionsstruktur auf den Zünften, während die Weber in Padua und Vigevano auch ohne Zunftsystem arbeiteten. Überall waren die Bandweber bei der Anschaffung der Rohmaterialien und dem Verkauf der Produkte allerdings von einer Gruppe von Verlegern abhängig. So hieß es beispielsweise 1755 von den Turiner Bandwebern: »non lavorano per conto proprio, ma soltanto per conto de’ Mercanti di moda, li quali a seconda dell’esito e 24 Fink, Paul, Geschichte der Basler Bandindustrie 1550–1800 (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft), Basel 1983, 6–7; Mottu-Weber, Liliane, Économie et refuge à Genève au siècle de la Réforme. La draperie et la soierie (1540–1630), Genf 1987, 332. 25 Fink, Geschichte, 6–7; Mottu-Weber, Économie, 332–333.

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delle ricerche, che loro vengono fatte, commettono agli a­ ccennati fabbricatori questa o quella altra Opera.«26 Während des Webprozesses wurden die Bandweber von einer Frau unterstützt, die die Seide auf dem Webstuhl vorbereitete, und von einem Assistenten oder Arbeiter (lavorante), der die Aufgabe hatte, die Kette in der vom Weber benötigten Länge vorzubereiten. Die vertikalen und horizontalen Webstühle wurden zuweilen auch für die Produktion einfacher Bänder verwendet, aber meistens wurden diese mit kleinen Bandweb­geräten (telaretti) hergestellt, welche günstig zu erwerben und sehr einfach zu handhaben waren. Sie waren weit verbreitet und häufig in städtischen und ländlichen Häusern, Spitälern, Waisenhäusern und Klöstern zu finden. Üblicherweise wurden sie von Frauen oder Mädchen mit der Hilfe eines Assistenten betätigt. Bänder aus filesello, Flachs und Baumwolle, wurden darüber hinaus mit Nadeln (ossi) hergestellt. Diese einfache Technik konnte leicht von jungen Mädchen im Alter von 14 oder 15 Jahren ausgeübt werden. Auch hier blieb der Kostenaufwand gering, zumal die gleichen Nadeln für die Herstellung von Spitze benutzt wurden. Bei der Bandherstellung organisierten in der Regel Gruppen von Händlern, Verlegern oder Textilhändlern die Produktion. Unabhängige Handwerker, die Rohmaterialen einkauften und die fertigen Produkte auf dem lokalen Markt veräußerten, lassen sich aber ebenfalls nachweisen. Sowohl bei der zünftigen als auch der nicht zünftigen Produktion setzte sich der Arbeitsmarkt aus permanenten Arbeitskräften, nämlich den Besitzern der Seidenspinnereien, den Meisterwebern und den Färbern, und nicht dauerhaft angestellten Arbeitskräften wie den Heimspinnern, Webarbeitern und Gesellen zusammen. Wo es wie in Vigevano, Padua oder an der ligurischen Riviera keine Zünfte gab, war das Weben stark nach Geschlecht gegliedert. Während männliche Handwerker gemusterte Bänder produzierten, webten Meisterinnen und junge Frauen schlichte Bänder.27 In Städten, in denen die Webzünfte die Produktion kontrollierten, war diese weibliche Arbeit verboten; Ausnahmen galten nur für die Ehefrauen, Witwen oder Töchter der Meister. Seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts nahm das Weben in den ländlichen Gebieten mancher kleinerer Zentren wie Padua und Vigevano zu, blieb aber immer unter der Kontrolle der städtischen Händler. Eine Gemeinsamkeit ist, dass das Weben einfacher Bänder in Waisenhäusern und Spitälern sehr verbreitet war, wo junge Mädchen oder

26 Archivio di Stato di Torino (AST), Materie economiche, Arti e Manifatture, Mazzo 9, fasc. 22, n. 22 (23.12.1755). Übersetzung: »Sie arbeiten nicht auf eigene Rechnung, sondern nur im Auftrag der Modehändler, welche je nach Ergebnis und den Anfragen, die sie erreichen, die erwähnten Hersteller noch mit diesem oder jenem Werk beauftragen.« Ich danke Evelyn Korsch für diese Übersetzung. 27 Caracausi, Nastri, 48–50; AST, Consolato di commercio, mazzo 37.

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männliche (fremde) Weber diese Arbeit verrichteten.28 In einem Bericht über die Herstellung in Basel betonte Marsilio Landriani aus der Lombardei beispielsweise die Notwendigkeit, junge Mädchen in dieser Arbeit auszubilden, da sie die männlichen Arbeiter, wenn sie in anderen Bereichen wie der Landwirtschaft arbeiten mussten, am Webstuhl ersetzen konnten.29 Im 17. und 18. Jahrhundert schuf die Verbreitung der Bänderindustrie also einen stark geschlechtsspezifisch segmentierten Arbeitsmarkt. Das Weben der hochwertigen gemusterten Bänder (passamani in opera) blieb unter der Kontrolle männlicher Meister, welche in traditionellen zünftigen Strukturen organisiert waren. Auf der anderen Seite, besonders wenn es sich um exportorientierte Produktionszentren handelte, wurde das Weben der einfachen Bänder (nastri alla piana) von weiblichen Webmeisterinnen beherrscht, die von jungen Arbeitern unterstützt wurden. Sie verrichteten diese Arbeit in ländlichen Gegenden im Winter und in städtischen Strukturen ganzjährig. Dies war auch in anderen europäischen Zentren der Fall, wie in Rouen und Coventry, allerdings wurden in den meisten anderen europäischen Produktionszentren diese Arbeiten selbst dann von Männern ausgeübt, wenn sie in ländlichen Strukturen verankert waren und abseits der Zünfte stattfanden.30 Die geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Bandwarenherstellung und die wachsende Konzentration der Arbeit sind auf drei Elemente zurückzuführen: Technologie, Lohnunterschiede und die Größe und institutionelle Struktur des Gewerbes. Erstens konnten einfache Bänder auf schlichten, billigeren und einfach zu handhabenden Webstühlen gewoben werden, welche auch die Zentralisierung der Produktion unter einem Dach erlaubte wie etwa in Klöstern, Spitälern und Waisenhäusern. Der Webkamm (­pettine) war das einzige Stück des Webgeräts, das ausgetauscht werden musste, während alle anderen Teile wiederverwendet werden konnten. Zweitens wurde das Weben einfacher Bänder sehr viel geringer entlohnt bzw. bezahlt als im Fall gemusterter Bänder, was die Verbreitung von Unterverträgen in ländlichen Gebieten oder an Frauen in städtischen Haushalten erlaubte. Das Lohngefüge geben die folgenden Tabellen wieder (Tab. 1–2): 28 Caracausi, Andrea, Dentro la bottega. Culture del lavoro in una città d’età moderna, Venedig 2008, 38–39. Zur Arbeit in Waisenhäusern und Spitälern im frühmodernen Italien vgl. Terpstra, Nicholas, Making a Living, Making a Live. Work in the Orphanages of Florence and Bologna, in: Sixteenth Century Journal 31 (2000), 4, 1063–1079; Terpstra, Nicholas, Abandoned Children of the Italian Renaissance. Orphan Care in Florence and Bologna, Baltimore/London 2005. 29 Landriani, Marsilio, Relazioni di Marsilio Landriani sui progressi delle manifatture in Europa alla fine del Settecento, hg. von Mario Pessina, mit einer Einleitung von Aldo De Maddalena, Mailand 1981, 86. 30 Hafter, Daryl M., Female Masters in the Ribbonmaking Guild of Eighteenth-Century Rouen, in: French Historical Studies 20 (1997), 1–14, online verfügbar unter: http://www.jstor.org/stable/286795, letzter Zugriff: 09.09.2016; Prest, John, The Industrial Revolution in Coventry, Oxford 1960; Dodge, Jenny, Silken Weave. A History of Ribbon Making in Coventry, Coventry 1988; Berg, Maxine, The Age of Manufactures, 1700–1820. Industry, Innovation and Work in Britain, London 21994, 183, 186–187.

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Tab. 1: Produktionskosten für einfache Bänder (nach: Caracausi, Nastri, 61). Einfache Bänder

Kosten (in Lire)

Prozent der Gesamtkosten

Rohmaterial

19

64,6

Haspeln

1,5

5,1

Spinnen

0,7

2,4

Spinnen ›callo‹

1,5

5,1

Färben

0,7

2,4

Weben

6

20,4

Summe

29,4

100,0

Tab. 2: Produktionskosten für gemusterte Bänder (nach: Caracausi, Nastri, 61). Gemusterte Bänder

Kosten (in Lire)

Prozent der Gesamtkosten

Rohmaterial

35

64,8

Haspeln

3

5,6

Geselle

16

29,6

Summe

54

100,0

Bezüglich des dritten Faktors, der Größe und Organisation des Gewerbes, ist festzuhalten, dass weibliche Bandweberinnen in Gegenden, in denen die Produktion von Verlegern kontrolliert wurde und in kleinen Zentren oder auf dem Land lokalisiert war, gewöhnlich geduldet wurden. Dies trifft etwa auf Padua oder Vigevano zu. In großen Städten wie in Turin, Mailand und Venedig allerdings erlangten männliche, meist in Zünften organisierte Meister das Webmonopol. Frauen (mit Ausnahme der Witwen, Ehefrauen und Töchter der Meister) und Nichtmitglieder der Zünfte wurden ausgeschlossen. Die bislang beschriebenen Herstellungsprozesse wurden seit dem 17. Jahrhundert durch eine bedeutsame technische Neuentwicklung beeinflusst: die sogenannte »Bandmühle« (Dutch engine loom). Ihre Geschichte ist von der Forschung gut aufgearbeitet worden (Abb. 4).31 Die Bandmühle, die einer einzigen Person das gleichzeitige Weben von sechs bis 24 Bändern ermöglichte, entsprach einer arbeitssparenden und kapitalintensiven Innovation. Wegen einiger technischer Mängel wurde sie normalerweise für einfache, minderwertige Seidenbänder verwendet, während zum Weben der gemusterten Bänder weiterhin der ­vertikale Webstuhl benutzt wurde. Die Bandmühle, die sich in der Frühen Neuzeit in ganz Europa ausbreitete, stellt einen hochinteressanten Fall vormoderner Produkt­innovation 31 Wadsworth, Alfred P./Mann, Julia de Lacy, The Cotton Trade and Industrial Lancashire, 1600–1780, Manchester 1931; Mottu-Weber, Liliane, Production et innovation en Suisse et dans les états allemands, in: Cavaciocchi (Hg.), La seta in Europa, 141–161; Pfister, Craft Guilds.

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dar.32 Die Maschine kam in den ersten Jahren des 17. Jahrhunderts auf. Obwohl sie in vielen traditionellen Seidenzentren verboten wurde, wurde sie an einigen deutschsprachigen Produktionsstandorten wie Basel und Krefeld angenommen. Um die Bandmühle einzuführen, bewilligten die Obrigkeiten Technikern, Händlern oder Fabrikanten die entsprechenden Privilegien.33 In Italien wurde die Bandmühle erst später, nämlich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, benutzt. Zur gleichen Zeit verbreitete sie sich auch in Frankreich. Parallel dazu wuchs die Nachfrage nach einfachen Seidenbändern an.34 Die Bandmühle, die südlich Abb. 4: Bandmühle, aus: Recueil de planches sur les sciences der Alpen »aus Zürich oder Basel« et les arts, Bd. 11, Paris 1772, s.v. Rubanier, Taf. 1. genannt wurde, trat fast gleichzeitig in Mailand (1749) und Turin (1748) auf. Dies ging auf die Einwanderung von Handwerkern aus der Schweiz zurück, die im Zusammenhang mit der generellen Verbreitung von Seidenmanufakturen im Habsburgerreich stand, beispielsweise mit der Einrichtung der »Schweizerbandfabriken« in Wien.35 In Mailand wurde die Benutzung der Bandmühle einem Händler namens Lattuada genehmigt, der damit das Vorrecht erhielt, die Maschine 15 Jahre zu benutzen. Am Ende dieses Zeitraums zeigte sich allerdings, dass die Bandmühle keine große Auswirkung auf die lokale Fabrikation hatte, so dass die Regierung beschloss, den Sektor ganz freizugeben. Zudem verkaufte sie alle Bandmühlen, die sie zuvor erworben hatte.36 Die Maschine 32 Pfister, Craft guilds; Ciriacono, Esquisse d’une histoire tripolaire, besonders 319–320. 33 Zum frühneuzeitlichen Privilegienwesen im italienischen Raum vgl. jetzt Caracausi, Andrea/Favero, Giovanni/Lanaro, Paola, A Political Economy? Some Preliminary Thoughts on Economic Privileges in Early Modern Venice, in: Garner, Guillaume (Hg.), Die Ökonomie des Privilegs, Westeuropa 16.–19. Jh./L’économie du privilège, Europe occidentale XVIe–XIXe siècles, Frankfurt a. M. 2016, 365–395. 34 Landriani, Relazioni di Marsilio Landriani, 79–84. 35 Pfister, Craft guilds. 36 Curatolo, Struttura, crisi e trasformazione, 156; zur österreichischen Politik vgl. Ciriacono, Esquisse d’une histoire tripolaire, 317–326.

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hatte in Mailand keinen großen Erfolg, weshalb die Regierung den Händlern und Meistern anbot, sie zu günstigeren Preisen aufzukaufen. In Turin stellt sich die Situation hingegen ganz anders dar. Dort erhielten zunächst Schweizer Handwerker das Privileg zum Betreiben der Bandmühle. Nach fünf Jahren wurde der Markt ganz freigegeben, im Unterschied zu Mailand geschah dies in Turin aber aufgrund des großen Erfolgs und Wachstums der lokalen Produktion. Die Meister konnten die Bandmühle unter der Voraussetzung benutzen, dass sie sie bei der lokalen Behörde registrieren ließen. Allerdings wuchs der Sektor zwischen den 1770er und 1780er Jahren stark an. Anfang der 1780er Jahre verbot die Turiner Bandweberzunft deshalb die Produktion bestimmter Bänder auf der Bandmühle. Sie erlaubte die Herstellung der einfachen, ungemusterten »englischen Bänder« (bindelli d’Inghilterra) sowie der Bänder à la Valoise, verbot jedoch die Produktion der Bänder à picot.37 Man könnte behaupten, dass diese Auswahl hauptsächlich auf der Qualität der Produkte beruhte und dass die Händler die Qualität der Bänder verteidigen wollten. Diese Interpretation würde mit der Argumentation von Pfister einhergehen, die auf der Analyse von Herstellern in Deutschland und Frankreich beruht.38 Doch der Fall Paduas und der dortigen Seidenherstellung widerspricht diesem Standpunkt. Im Jahr 1782 führte nämlich der Steuereinnehmer des Seidenzolls in Padua, Antonio Zigno, zwei Bandmühlen im ländlichen Umland der Stadt ein. Ein Webstuhl erledigte nach seinen Angaben die Arbeit von 24 Leuten gleichzeitig.39 Die Seidenbandverleger Paduas, die sich drei Jahre zuvor zu einer Zunft zusammengeschlossen hatten – Zigno gehörte ihr bezeichnenderweise nicht an –, reagierten sofort. Sie lehnten die Einführung des mechanischen Webstuhls nachhaltig ab und baten die Regierung, einzuschreiten und die Bandmühlen zu zerstören. Der Einsatz der Maschinen hätte die Beschäftigung von ungefähr 6000 Weberinnen auf 150 reduziert und damit große Arbeitslosigkeit in der städtischen und ländlichen Bevölkerung verursacht. Dies rief die Zunft auf den Plan, die von den Händlern und Verlegern mit dem Ziel gegründet worden war, die Produktion zu koordinieren, die Konkurrenz jüdischer Händler abzuwehren und die bestehende Beschäftigung aufrechtzuerhalten. Ihr Eingreifen war erfolgreich: Paduas Bandhändler und -hersteller erhielten das Recht, den Gebrauch des Webstuhls zu unterbinden. Als Begründung wurden dafür ähnliche Argumente vorgebracht, wie sie in anderen europäischen Produktionszentren gegen die Bandmühle ins Feld geführt worden waren. Sie glichen auch den Einwänden, die an italienischen Standorten gegen die technische Innovation des Strumpfwirkerrahmens geäußert worden waren. Die Kritiker betonten die geringe Quali37 Welche Techniken und Qualitäten sich hinter diesen Bezeichnungen verbargen, ist heute nicht mehr leicht nachzuvollziehen. 38 Wadsworth/Mann, The Cotton Trade, 54–106; Pfister, Craft guilds. 39 Archivio di Stato di Venezia (ASV), Inquisitorato alle arti, b. 65 (23.09.1782): »l’una fa il lavoro die 24 maestranze«.

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tät der Bänder, welche den guten Namen der Herstellung in Padua diskreditiert hätten,40 sowie die steigende Arbeitslosigkeit vor allem unter den ärmsten Schichten. Warum weigerten sich die Seidenbandverleger, die Bandmühle einzuführen? Es ist schwerlich die Argumentation aufrechtzuerhalten, dass die Qualität des Produkts dabei ausschlaggebend gewesen sei, da alle Arten der Produktion mit der Bandmühle verboten waren. Stattdessen ist es berechtigt zu argumentieren, dass die Produktionsmenge keine ausreichend hohen Gewinne abwarf, um eine Neuorganisation der Beschäftigung in Kauf zu nehmen. Die Seidenbandverleger waren eher im Stande, ein Arbeitssystem zu steuern, welches auf der Ausbeutung von flexibler ländlicher Frauen- und Kinderarbeit beruhte. Die Bandmühle benötigte dagegen eine stabilere Belegschaft, die nicht so leicht ausgetauscht werden konnte. Vor diesem Hintergrund hätte nur ein Außenseiter wie Antonio Zigno von der Einführung der Bandmühle profitiert. Der Fall hat große Ähnlichkeit mit den Geschehnissen um die Einführung des Strumpfwirkerrahmens ein Jahrhundert früher, die ebenfalls Widerstand hervorgerufen hatte, weil sie das existierende Gleichgewicht gefährdete.41 Die Seidenbandverleger hatten keinen Vorteil davon, mithilfe der Bandmühle die Kosten für den Faktor Arbeit zu senken, denn sie konnten auf dieser Grundlage ihren Markt kaum vergrößern: Die Produktion der Bänder beruhte hauptsächlich auf dem Preis, der Quantität und vor allem der Qualität der verfügbaren Seide. Die verwendete Seide war eine Restqualität (seta grossa) und wurde in der Regel im Territorium Paduas hergestellt, welches für eine Ausweitung der Kultivierung nicht günstig war. Zusammenfassend kann man sagen, dass in Padua folgende Faktoren die Verbreitung der Bandmühle behinderten: erstens die Größe des Marktes (darunter das begrenzte Angebot an Rohmaterial in der Region), zweitens die Produktionsstruktur, die auf einem flexiblen Verlagssystem beruhte, drittens der Arbeitsmarkt und viertens die Anzahl der Arbeitgeber.

3. Der Verkauf der Bänder Im 17. Jahrhundert wurden die lokalen mercanti di moda (marchands de mode in Frankreich, milliners in England und Galanteriewarenhändler im deutschsprachigen Raum) zu den primären Vertreibern und Vermarktern dieser Produkte.42 Sie fingen an, Kundschaft – vor allem weibliche – mit gezielter Werbung anzusprechen, etwa mithilfe der berühmten

40 Ebd.: »un lavoro imperfetto con la conseguenza di discreditare la fabbrica padovana«. 41 Belfanti, Carlo Marco, Hosiery Manufacturing in the Venetian Republic (16th–18th Centuries), in: Lanaro, Paola (Hg.), At the Centre of the Old World. Trade and Manufacturing in Venice and the Venetian Mainland (1400–1800), Toronto 2006, 245–270. 42 Ribeiro, Aileen, Dress in Eighteenth Century Europe 1715–1789, New Haven/London 2002, 57.

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Modepuppen (poupées de mode bzw. piavola de Franza).43 Der Dichter Francesco Algarotti beschrieb deutlich, wie die Frauen neugierig alle modischen Details an einer »bella di Parigi«, einer Schönen von Paris, zur Kenntnis nähmen, und nannte dabei ausdrücklich auch die Bänder: »Tu le vedresti a lei dinanzi in frotta/L’andrienne, la cuffia, le nastriere,­/­ L’immenso guardinfante a parte a parte/Notomizzare, e sino addentro e sotto/Spinger gli avidi sguardi al gonnellino.«44 Die mercanti di moda begannen um die Mitte des 17. Jahrhunderts selbst verstärkt zu produzieren und sich in der Bandherstellung zu spezialisieren, wobei sie die Muster und Dessins nun selbst bestimmten, anstatt die Bänder wie zuvor von Handwerkern zu erwerben und weiterzuverkaufen. Schließlich wurden die Modewarenhändler mit der Anbringung von Bändern an Gewändern und Kleidern in ihren Werkstätten zu Vorläufern der ersten Designer.45 Vom 18. Jahrhundert an baten zudem viele Zünfte um die Erlaubnis, Bänder direkt an Gewändern und Kleidern anbringen zu dürfen. Während die Konfektionierung der Kleidung zu einem wichtigen Element im Luxuskonsum wurde, gestattete die Flexibilität bei der Wahl der Dekoration ein hohes Maß an Variation und Individualität. Die Verbindung von Neuartigkeit und Mode war ein wesentlicher Bestandteil der Wahlmöglichkeiten der Verbraucher.46 Dieser Trend erklärt, warum eine große Anzahl an Mitgliedern der Händlerzunft seit der Mitte des 17. Jahrhunderts darum bat, neue Zünfte gründen zu dürfen, um Bänder eigenständig produzieren und verkaufen zu können. Die Bortenmeister in Turin waren ganz den marchands de mode untergeordnet, die über Art und Qualität der Bänder entschieden.47 Das Gleiche galt für Mailand, wo die Händler gewöhnlich die Qualität des Garns bestimmten, das für die Bänder verwendet werden sollte.48 Auch in Frankreich lieferten und arrangierten die marchands de modes – als Neben43 Roche, Daniel, La culture des apparences. Une histoire du vêtement XVIIe–XVIIIe siècle, Paris 1989, 451– 452. 44 Algarotti, Francesco, Opere del conte Algarotti, Bd. 1, Venedig 21792, 19, online verfügbar unter: http:// hdl.handle.net/2027/dul1.ark:/13960/t8jd5q58s?urlappend=%3Bseq=207, letzter Zugriff: 12.09.2016. Übersetzung: »Du würdest sie vor ihr in Scharen sehen,/Die Andrienne, die Haube, die Bänder,/Den gewaltigen Reifrock im Detail/studierend und die gierigen Blicke bis ins Innere und darunter auf das Röckchen richtend.« Ich danke Evelyn Korsch für diese Übersetzung. Vgl. dazu auch Ribeiro, Dress in Eighteenth C ­ entury Europe, 62. Zur Verbindung von Einkaufen und ›Verführung‹ vgl. Welch, Evelyn, Shopping in the Renaissance. Consumer Cultures in Italy 1400–1600, New Haven, CT, 2004, 32–36. 45 Fairchilds, Cissie, The Production and Marketing of Populuxe Goods in Eighteenth-Century Paris, in: Brewer, John/Porter, Roy (Hg.), Consumption and the World of Goods, London 1993, 228–248, hier 238. 46 Sargentson, Carolyn, The Manufacture and Marketing of Luxury Goods. The Marchands-Merciers of Late 17th- and 18th-Century Paris, in: Fox, Robert/Turner, Anthony (Hg.), Luxury Trades and Consumerism in Ancien Régime Paris Studies in the History of the Skilled Workforce, Aldershot 1998, 99–138, hier 104; Lemire, Beverly, Dress, Culture and Commerce. The English Clothing Trade before the Factory, Basingstoke 1997, 60–61. 47 AST, Commercio, Mazzo 9, fasc. 22. 48 Curatolo, Struttura, crisi e trasformazione, 239–246.

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zweig der Händlerzunft – die Bänder und Borten an Kleidern und Hüten; manchmal übernahmen sie sogar die Arbeit der Couturiers, obwohl theoretisch erst die Bekleidung vom Gewandschneider angepasst und dann für die Besätze an den Modisten geschickt wurde.49 Da sie so leicht zu transportieren waren, wurden Bänder auch auf ländlichen Messen und Märkten vertrieben. Dabei spielten fahrende Händler eine wichtige Rolle. Englische Hausierer verkauften so manche Art von farbigen Bändern, Borten und billigem Tabak, ­gallons, Spitzenborten und Kämmen.50 Im Kupferstichwerk Le arti che vanno per via nella città di Venezia aus dem Jahr 1785 werden solche Kurzwaren auch als Handelsgut ­venezianischer Hausierer greifbar (Abb. 5): „In diesem Korb habe ich Bänder, Nadeln aus Flandern, alle Sorten von azze51 und Nähseide, um sie den Frauen an ihren Türen zu verkaufen.“52 Auf Messen und Märkten auf dem Land, zum Beispiel im Piemont, gab es besondere Bänder, die »modische Bänder, oder für die Frauen auf dem Lande« (bindelli alla moda, o da’ paesane) genannt wurden. Sie waren weit verbreitet und stellten für die Bewohner ländlicher Regionen begehrenswerte Waren dar. Die Bortenmeister Turins gingen um die Mitte des 18. Jahrhunderts davon aus, dass den ländlichen Kunden das Aussehen der Borten und ihre niedrigen Preise gefielen.53 Die Zunft bat darum, preiswerte Bänder mit Restgold und Restseide produzieren zu dürfen, um sie auf dem Land verkaufen zu können, denn der Landmann liebe es, die Bänder zu kaufen, aber sein Vermögen entspreche nicht seinen Wünschen: »Ama il contadino la comparsa, ma le facoltà non s’adattano al di lui desiderio.«54 Angesichts der vielen verschiedenen Techniken und Qualitäten, die für die Bandherstellung zur Verfügung standen, konnte die Produktion leicht den Bedürfnissen ländlicher Konsumentinnen und Konsumenten angepasst werden.55 Bänder ›made in Italy‹ wurden nicht nur auf lokalen, sondern auch auf internationalen Märkten vertrieben. Sie stellten ein wahrhaft globales Konsumgut dar, weil sie nicht nur auf außereuropäischen (vor allem amerikanischen) Märkten konsumiert wurden, sondern weil es sich bei ihnen auch um eine nützliche Währung handelte, um Kolonialwaren und außereuropäische Produkte zu erwerben. Besonders im 17. Jahrhundert wurden Bänder zu äußerst wichtigen Produkten im außereuropäischen Fernhandel. Den Berichten der 49 Ribeiro, Dress in Eighteenth Century Europe, 54. 50 Spufford, Margaret, The Great Reclothing of Rural England. Petty Chapmen and Their Wares in the ­Seventeenth Century, London/Hambledon 1984, 6, 145. 51 Nach Boerio, Guiseppe, Dizionario del dialetto veneziano, Venedig 1829, 29, handelt es sich um weißes Leinengarn: »Lino filato e imbianchito.« 52 Zompini, Gaetano, Le arti che vanno per via nella città di Venezia, Venedig 1785, online verfügbar unter: http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b53000001n/f69.item, letzter Zugriff: 12.09.2016. 53 AST, Commercio, Mazzo 9, fasc. 22 (20.11.1755): »i quali si compiacciono della esteriore lucente comparsa, e del tenuo prezzo«. 54 Ebd. 55 AST, Commercio, Mazzo 9, fasc. 22 (19.01.1756). Für die frühere Periode vgl. Welch, Shopping in the Renaissance, 49–50.

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Abb. 5: Kurzwarenhändler, aus: Gaetano Zompini, Le arti che vanno per via nella città di Venezia, Venedig 1785, Taf. 28.

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französischen Händler in Cadiz zufolge betonte der französische Minister Patoulet, dass die aus Italien importierten Bänder die wichtigsten italienischen Produkte seien, die in Brasilien und Ostasien über den Hafen von Cadiz getauscht würden. Der Handelsverkehr über Spanien war wegweisend:56 Bänder, die in Neapel hergestellt wurden, waren in Mexiko, Brasilien und Peru besonders beliebt, wo sie gegen Indigo und Cochenille getauscht wurden.57 In einem Bericht über den Handel zwischen dem Piemont, Lissabon und Brasilien schilderte der Piemonteser Händler Carello im 17. Jahrhundert, dass der Handel mit Bändern sehr viel mehr Gewinn abwerfe als derjenige mit anderen Waren; sie würden in großen Mengen verkauft. 1678 wurden etwa 20.000 Pfund an Bandwaren aus dem Piemont abgesetzt.58 Einige Jahrzehnte später, im Jahr 1729, bestritt der Marchese D’Arvillars die negativen Konsequenzen des Handelsverkehrs zwischen Spanien und Westindien für das Piemont, indem er betonte, dass aus Italien große Mengen Papier, Bänder, Strümpfe und Bandwaren exportiert würden: »[…] il vient d’Italie beaucoup de papier pour écrire, et de tout sorte d’etoffe de soye, des tissus, des rubans, et des bas de toute espece, les petits rubans satinées, et les soyes.«59 Bis Ende des 18. Jahrunderts produzierten Händler in Venedig Bänder für die atlantischen Märkte und benutzten dafür die Häfen von Cadiz und Lissabon. Sie hatten dafür sehr günstige Konditionen, indem sie Prämien für Seidenbandexporte nach Cadiz und Lissabon sowie eine Steuerbefreiung für den Import von Kolonialwaren wie Kaffee, Tabak, Indigo und Pfeffer erhielten.60 Der Erfolg der Bänder ›made in Italy‹ auf den außereuropäischen Märkten beruhte auf verschiedenen Aspekten. Erstens waren sie ein Bestandteil der sogenannten Konsumrevolution, die im 18. Jahrhundert die atlantische Ökonomie antrieb. In Südamerika beispiels­weise wurden die Bänder wahrscheinlich besonders von den Mittel- oder Oberschichten konsumiert, welche die europäische Mode und den Gebrauch der Bänder für Gewänder und Kleider imitierte. Im 17. Jahrhundert befanden sich in den Audiencia de Charcas in Südamerika die cintas de Turin und die cintas de Venecia unter den Hauptimporten aus Italien.61 Wie an anderer Stelle gezeigt werden konnte, wurden Seidenbänder auch in Nordamerika zu erfolgreichen und ausgeprägten Konsumobjekten. Die dortigen Frauen warteten stets auf neue Einfuhren von Bändern und Moden aus England.62 Bis

56 Franch Benavent, Ricardo, El comercio y los mercados de la seda en la España moderna, in: Cavaciocchi (Hg.), La seta in Europa, 565–594, hier 572. 57 Ragosta, Napoli. 58 AST, Commercio, Mazzo 1, fasc. 13. 59 AST, Commercio, Mazzo 1, fasc. 47 (05.05.1729). 60 Caracausi, Nastri, 105–108. 61 Money, Mary, Los obrajes, el traje y el comercio en la Audiencia de Charcas, La Paz 1983, 91. 62 Martin, Buying into the World of Goods.

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in das frühe 19. Jahrhundert wurden Bänder nach Nordamerika importiert, weil sich die dortige Produktion auf die einträglichere Plantagenwirtschaft konzentrierte.63 Händler und Verleger brauchten natürlich verschiedene Vermarktungsstrategien, um Konsumentinnen und Konsumenten anzulocken und neue Märkte zu erobern. Ein wichtiger Aspekt war der Produktname oder die Bezeichnung, mit der die Händler die Märkte beeinflussen konnten. Die Bezeichnung der Bänder hing von mehreren Faktoren ab, welche nur teilweise etwas mit dem Herkunftsort zu tun hatten. Naheliegenderweise wurden viele Bänder nach Städten bezeichnet, wie zum Beispiel Bänder aus Mailand, aus Lyon oder – wie die cordelle napolitane – aus Neapel. Manchmal wurden sie auch nach Ländern benannt, etwa nach England oder Frankreich. Mitunter kamen sie tatsächlich aus diesen Orten. Aber die Wahl der Bezeichnung wurde hauptsächlich von drei anderen Faktoren bestimmt: von den Herstellungsverfahren, den Handelsnetzwerken und den kaufmännischen Strategien. Bezüglich des Herstellungsverfahrens hing die Bezeichnung maßgeblich vom Rohmaterial ab, von den benutzten Werkzeugen oder Webstühlen sowie von den Herstellungsabläufen, besonders im Stadium der Endfertigung. Der Name »Padua«-Band (oder Padoue im Französischen) beispielsweise bezeichnete gewöhnlich Bänder, die aus Floretseide (fleuret oder filosello und capitone) hergestellt wurden. Diese breiteten sich seit dem späten 17. Jahrhundert über weite Teile Europas aus, so zum Beispiel in Frankreich, in der Schweiz und in Schweden.64 Holländische Bänder waren diejenigen, die mit der Bandmühle hergestellt wurden, selbst wenn sie in anderen Ländern als den Niederlanden produziert wurden.65 Schließlich gab es im 18. Jahrhundert in Italien Bänder mit der Bezeichnung »nach dem Brauch von Lyon« (all’uso di Lione), nur weil sie während der Endfertigung einem speziellen Arbeitsgang unterlagen, der picotatura (von französisch picoter).66 Die Bezeichnung dieser Bänder hing ausschließlich von ihrer spezifischen Herstellungstechnik ab und hatte keinen Bezug zum Herstellungsort. Aber auch bestimmte Handelsnetzwerke beeinflussten die Bezeichnung der Bänder. In Paris wurden die Bänder Padoue de Lyon deshalb »aus Lyon« genannt, weil die Pariser Händler diese Bänder, die in Saint Etienne und Saint Chaumond gewoben wurden, aus Lyon importierten – und nicht, weil sie in Lyon produziert wurden.67 Wahrscheinlich nannten auch die Händler in Lissabon und Cadiz 63 Shammas, Carole, The Pre-Industrial Consumer in England and America, Oxford 1990, 59; Rothstein, ­Natalie, Silk Designs of the Eighteenth Century in the Collection of the Victoria & Albert Museum, London 1990, 18. 64 Jacques Savary des Bruslon, Dictionnaire, IV, 594. 65 Das Gleiche geschah im Seidenstrumpfgewerbe, vgl. Belfanti, Le calze a maglia. 66 Vgl. ASV, Inquisitorato alle arti, b. 68. Verantwortlich für die Einführung der Cordelle all’uso di Lione bzw. Cordelle di Francia in Venedig war ein Händler aus Padua, der einen Handwerker aus Mailand beschäftigte, welcher zuvor zehn Jahre in Lyon tätig gewesen war, um dort die entsprechenden Fertigungsmethoden zu erlernen. 67 Jacques Savary des Bruslon, Dictionnaire, IV, 594.

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alle Bänder, die sie von der ligurischen Riviera importierten, einschließlich der Bänder aus Neapel, »aus Genua«, da sie durch den Hafen Genuas eingeführt wurden. Der dritte Aspekt, der Einfluss auf die Bezeichnung der Bänder hatte, waren kaufmännische Strategien. Auf der einen Seite versuchten die Händler, Produkte zu verkaufen, die eine fremde oder exotische Mode evozierten, und bemühten sich damit den Markt zu beeinflussen. Auf der anderen Seite organisierten sie kommerziellen Austausch und kontrollierten die Produktionskette, um höhere Profite zu erzielen. Im 18. Jahrhundert bevorzugten es etwa die Mailänder Händler, Rohseide von feinster Qualität nach Frankreich zu exportieren und dafür hochwertige gemusterte Bänder aus Lyon zu importieren, während sie Seide von niedrigster Qualität an die lokalen Bandweber vertrieben, um dort minderwertige Bänder produzieren zu lassen. Die Folge davon war, dass Mailänder Händler auf den lokalen Märkten größere Profite erzielten, da sie ausländische Bänder zu höheren Preisen verkauften und die lokalen Handwerker nicht im Stande waren zu konkurrieren, da sie nur minderwertige Seide für die Bänderproduktion erhielten.68

4. Fazit und Ausblick Die Analyse der Bänder, ihrer Fabrikation und ihres Vertriebs ermöglicht es, generelle Beobachtungen über die Einführung, den Gebrauch und den Erfolg modischer Konsumgüter in der Frühen Neuzeit zu machen. Wie schon die Zeitgenossen bemerkten, unterlagen Bänder in besonderem Maß modischer Veränderung. Der eingangs zitierte Eintrag aus dem Dictionnaire universel de Commerce wurde dementsprechend in einer späteren Auflage, die 1762 in Kopenhagen erschien, folgendermaßen ergänzt: Il n’y a point de fabrique plus sujette à l’inconstance, aux caprices de la mode & du goût; car dans l’usage de cette marchandise le goût des consommateurs varie sans cesse. Les Marchands & les Fabriquans entretiennent cette inconstance par l’attention qu’ils ont de produire continuellement des desseins variés & d’un goût nouveau; parce que c’est ce qui hâte la consommation & leur procure le plus grand débit. Ils font payer un peu plus cher la nouveauté, & ce petit avantage anime et soutient le génie de l’invention. On en fait des envois fort considérable à l’Etranger.69 68 Curatolo, Struttura. 69 Jacques Savary des Bruslon, Dictionnaire universel de commerce, Bd. 4, Kopenhagen 1762, 594. Die Passage stammt ursprünglich aus dem in Brüssel erscheinenden Journal de Commerce, Octobre 1761, 154–155. Übersetzung: »Es gibt kein Produkt, das mehr dem Wankelmut und der Laune der Mode und des Geschmacks unterliegt; denn der Geschmack der Verbraucher bei der Verwendung dieses Handelsartikels ändert sich beständig. Die Händler und die Fabrikanten erhalten diesen Wankelmut durch die Sorgfalt

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Die Bänder spornten den Einfallsreichtum der Bortenwirker und Musterzeichner in eben solchem Maß – oder sogar noch mehr – an, wie dies für die Hersteller kostbarer Seidenstoffe gilt. Im Unterschied zu den luxuriösen Stoffen zeichneten sich die Bänder jedoch durch eine relativ einfache Herstellung, einen vergleichsweise niedrigen Preis, durch Vielseitigkeit, Leichtigkeit und Unbeständigkeit aus. Schon der lombardische Basel-Reisende Marsilio Landriani notierte deshalb, Bänder würden sich nicht durch ihre Dauerhaftigkeit, sondern durch ihr (modisches) Aussehen auszeichnen: »nei nastri […] la maggiore qualità è l’apparenza non la maggiore durevolezza.«70 Die weit verbreitete Anwendung von Bändern in der Mode setzte Nachahmungsprozesse in Gang, die Konsequenzen sowohl für den Vertrieb als auch für die Produktion hatten. So reflektierten Ortsnamen und Sortenbezeichnungen zwar die herstellerischen und stofflichen Besonderheiten der Bänder. Den größten Einfluss auf die Benennung und damit auf die Platzierung der Modeartikel auf den Märkten hatten aber Handelsnetzwerke, deren kaufmännische Strategien darauf abzielten, die Nachfrage nach ›exotischen‹ Waren zu stimulieren. Dies ging einerseits mit dem Bestreben einher, Handelsprofite zu maximieren und das Rohstoffangebot sowie den Verkauf der Endprodukte zu kontrollieren. Andererseits erlaubten dieselben kaufmännischen Strategien aber das Aufkommen neuer Moden und insbesondere die Ansiedlung ausländischer Handwerker, die andernorts bereits gebräuchliche, innovative Methoden und Herstellungsweisen kopierten und verbreiteten. Auswirkungen hatte die Bändermode auch auf die frühneuzeitliche Organisation von Produktionsprozessen, indem sie Kapitalinvestitionen erforderte, anwachsende Konzentration beförderte und eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung hervorbrachte. Die Fabrikation von Bändern entwickelte sich zu einem wichtigen Sektor, in dem Hunderte von Handwerkern, Arbeitern und Auszubildenden beschäftigt wurden. In den wichtigsten italienischen Produktionszentren wie Turin, Mailand und Padua finanzierten die Händler und Verleger die Produktion, verteilten sie auf Spitäler, Armenhäuser und Manufakturen und konzentrierten die Arbeitskräfte, um mit oder ohne den Einsatz mechanischer Webstühle Bänder herzustellen. Ähnlich wie in vergleichbaren Sektoren, etwa der Spitzenklöppelei, Stickerei, Strumpfwirkerei oder Seidengarnherstellung, entstanden in der Bandindustrie die ersten Manufakturen, in denen Dutzende von Arbeiterinnen begannen, Bänder unter zentralisierten und ausbeuterischen Bedingungen zu produzieren. Marsilio Landriani argumentierte, dass es notwendig sei, diese Manufakturen einzuführen, in denen Kinder beiderlei Geschlechts beschäftig wurden. Die Bänderfabrikation sei neben der Baumwollaufrecht, indem sie fortlaufend unterschiedliche Dessins und neue Vorlieben hervorbringen, denn dies ist es, was den Konsum beschleunigt und ihnen den größten Gewinn beschert. Für die Neuheiten zahlen sie einen etwas höheren Preis, und dieser kleine Vorteil animiert und unterstützt den Einfallsreichtum der Erfindung. Man tätigt davon sehr beträchtliche Ausfuhren ins Ausland.« 70 Landriani, Relazioni di Marsilio Landriani, 88.

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und Nadelproduktion ein dafür besonders geeigneter Gewerbezweig, da weder körperliche Kraft noch besondere Handfertigkeit erforderlich seien.71 Eine Frage bleibt jedoch offen: Waren Bänder ein ausgeprägt europäisches Objekt? Jüngste Forschungen haben gezeigt, dass Mode keine europäische Erfindung war, selbst wenn Wandel und Diskontinuität höher waren als im asiatischen Kontext. In Bezug auf Bandwaren ist es lohnend darauf hinzuweisen, dass sie für die europäischen Kleider und Stile nützlich schienen und später in die amerikanischen Kolonien übertragen wurden. Außereuropäische Kleidung erwies sich für die Verwendung von Bändern hingegen weniger geeignet. Im Osmanischen Reich beispielsweise gab es während der Frühen Neuzeit zwar einen Aufschwung der Seidenindustrie, aber eine Seidenbandherstellung scheint sich nicht entwickelt zu haben, zumindest nicht in demselben Maß wie in Zentral- und Westeuropa. Stattdessen wurden entsprechende Güter aus Europa importiert; diese unterschieden sich allerdings von den Erzeugnissen für den europäischen Markt: Seidendraperien, die für den Handel mit der Levante in Frankreich produziert wurden, wurden eigens mit speziellen Mustern im orientalisierenden Stil versehen.72 Keine große Bedeutung hatten Bänder im Osmanischen Reich als Accessoire und modisches Objekt, um etwa die Frisuren von Frauen zu schmücken. Diese Beobachtung wird gestützt durch die Einschätzung des Venezianers Andrea Tron, der in der Lagunenstadt 1782 das Amt des Inquisitore alle arti versah. Tron zufolge würden Bänder kaum in die Levante exportiert und es sei schwierig, an Wachstum zu denken. Er behauptete, dass die Gebräuche der strengen Orientalen völlig anders als die der Europäer seien und etwaige Exporte nur dazu dienten, die weniger zahlreichen französischen Frauen in diesen Ländern zufriedenzustellen.73 Sicherlich erfordert die Frage nach der ›Europäizität‹ von Seidenbändern weitere Forschungen. Allerdings steht außer Frage, dass diese kleinen Waren für lange Zeit ein wichtiges Kapitel in der Konsumgeschichte der Frühen Neuzeit darstellten.

71 Landriani, Relazioni di Marsilio Landriani, 88. 72 Eldem, Edhem, French Trade in Istanbul in the Eighteenth Century, Leiden 1999; Jirousek, Charlotte, The Transition to Mass Fashion System Dress, in: Quataert, Donald (Hg.), Consumption Studies and the History of the Ottoman Empire, 1550–1922, Albany/New York 2000, 201–242. 73 Caracausi, Nastri, 109.

Hybride Objekte, aus-gezeichnete Dinge Ein Fayencekrug des 17. Jahrhunderts Julia A. Schmidt-Funke

Im Frankfurter Historischen Museum befindet sich heute ein Fayencekrug aus dem späten 17. Jahrhundert,1 den der in Nürnberg nachweisbare Glas- und Fayencemaler Hermann Benckert bemalt hat (Abb. 1).2

Abb. 1a–1b: Hermann Benckert, Birnförmiger Fayencekrug mit Silberfassung, 1681, Historisches Museum Frankfurt am Main, Seitenansichten. 1

Benckert, Hermann, Birnförmiger Fayencekrug mit Silberfassung, 1681, weiß glasiert, bemalt in Schwarz, Manganviolett und Hellrot, 1681, Höhe mit Montierung 22,6 cm, Frankfurt a. M., Historisches Museum, Inventar-Nr. X 29345. Vgl. Bosch, Helmut, Die Nürnberger Hausmaler. Emailfarbendekor auf Gläsern und Fayencen der Barockzeit, München 1984, 216–217; Bauer, Thomas, Bürger, Fremde, Minderheiten, in: Gall, Lothar (Hg.), FFM 1200. Traditionen und Perspektiven einer Stadt, Sigmaringen 1994, 109–152, hier 118; Pazaurek, Gustav E., Deutsche Fayence- und Porzellan-Hausmaler, 2 Bde., Stuttgart 21971, Bd. 1, 25–26. 2 Zu Benckert vgl. Bosch, Nürnberger Hausmaler, 174–218; Bott, Gerhard, Drei Gläser von Hermann Benckert, in: Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums 96 (1951), 37–41; Grieb, Manfred H., Nürnberger Künstlerlexikon. Bildende Künstler, Kunsthandwerker, Gelehrte, Sammler, Kulturschaffende und Mäzene vom 12. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, Bd. 1, München 2007, 108–109; Pazaurek, Deutsche Fayence- und Porzellan-Hausmaler, Bd. 1, 23–26.

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Der Krug besteht aus einem bauchigen, sich nach oben verjüngenden Gefäß mit Henkel, welches aufgrund seiner birnenförmigen Silhouette auch als Birnkrug bezeichnet wird. Die Fayence wurde nicht als Kanne, sondern als Trinkgefäß gestaltet, weshalb ein Ausguss fehlt. Ergänzt wird die Keramik durch eine Montierung aus vergoldetem Silber, bestehend aus einem Deckel, einem zugehörigen Klapp­mechanismus mit fächerförmiger Daumen­ rast und einem Fußring mit punziertem Akanthusfries. Einschließlich der Montierung ist der Krug 22,6 cm hoch. Der Krug zeigt auf weißem Grund feine Malereien, die überwiegend mit einer schwarzbräunlichen Farbe aufgetragen sind. Sein zentrales Motiv besteht in einer Art Wäldchen, in dessen Zentrum sich ein dicker Stamm befindet, der von zwölf dünneren Stämmen umgeben ist. Darüber ist zu lesen: »Also kann man sich vermehrn.« Das Wäldchen steht vor einer angedeuteten Landschaft, deren Himmel mit Wölkchen in einem zarten Purpurton übersät ist. Links des Wäldchens hat sich eine Frau auf einem Baumstumpf niedergelassen, die an ihrem Gepäck und ihrem Wanderstab als rastende Wanderin zu erkennen ist. Unweit von ihr befindet sich ein geöffneter Schlagbaum, von dem ein Weg zu einer unbefestigten Ansiedlung im Mittelgrund verläuft. Etwas versetzt davon ist im Hintergrund eine Stadt mit wehrhafter Ummauerung zu sehen, auf die ebenfalls ein Weg zuläuft. Sie ist mit dünnem Pinselstrich in Eisenrot wiedergegeben. Rechts des Wäldchens hat sich ein Paar in vornehmer zeittypischer Kleidung dem Betrachter frontal zugewandt. Der deutlich größere Herr mit voluminöser Perücke umfasst den angewinkelten Arm der links neben ihm stehenden Dame. Das Inkarnat des Paares ist in einem zarten Purpurton gehalten, die Wangen sind zusätzlich mit einem dünnen, eisenroten Farbauftrag akzentuiert. In kräftigem Eisenrot sind Handschuhe und Schärpe des Herrenkostüms hervorgehoben. Die Frau deutet mit ihrer Abb. 2: Hermann Benckert, Birnförmiger Fayencekrug Hand, um deren Gelenk ein zusammen- mit Silberfassung, 1681, H ­ istorisches Museum Frankfurt geklappter Fächer baumelt, in Richtung am Main, Rückseite.

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des zentralen Wäldchens. Hinter dem Paar ist ein von Bäumen umgebenes Kirchen- oder Kloster­gebäude zu sehen, zu dem wiederum ein Weg führt. Rechts neben dem Paar sind ein großer Baum mit schuppiger Rinde und ein an ein Torhaus erinnerndes Gebäude mit einem Nebengelass zu sehen. Der Krug ist mit einer Aufschrift und einer Künstlersignatur versehen: »Hermann B ­ enckert fecit 1681«. An der Henkelzunge ist außerdem ein großes schwarzes »F:« aufgemalt (Abb. 2). Der gedeckelte Frankfurter Birnkrug offenbart sich bei näherem Hinsehen als ein komplexer Gegenstand. Trotz seiner wenig exotischen Anmutung verdankt er seine Entstehung einem asiatisch-europäischen Kulturtransfer. Sein Material und Motiv reflektieren die Reichweite globaler und europäischer Verflechtung, illustrieren die davon angestoßenen Aneignungsprozesse und geben damit Aufschluss über die Gesellschaft, in der er entstand. Als ›hybrides Objekt‹ soll er im Folgenden beschrieben werden, um deutlich zu machen, wie sehr er sich den aus der älteren und jüngeren Forschung abgeleiteten Zuordnungen entzieht. Die aus der Transkulturalitäts­forschung übernommene analytische Kategorie der Hybridität dient dabei als heuristisches Mittel, um die vermeintliche Eindeutigkeit des Objekts zu hinterfragen, und zwar sowohl in Bezug auf seine Positionierung zwischen Kulturen und Räumen als auch hinsichtlich seiner Platzierung in vermeintlich zielgerichteten sozio-ökonomischen Entwicklungen von Produktion und Konsumption.3 Der Frankfurter Fayencekrug macht damit kulturelle »Mischungen und Durchdringungen«4 und historische »Gleichzeitigkeiten«5 in ihrer Normalität6 sichtbar. Obwohl – wie bei vielen frühneuzeitlichen Gegenständen – lediglich der Krug selbst erhalten ist und keine unmittelbar auf ihn verweisenden Schrift- oder Bildquellen überliefert sind, lässt sich das Fayencegefäß in ein Netz von Bezügen, Bedeutungen und Gebrauchsweisen einbetten, welches aufschlussreich für den Umgang frühneuzeitlicher Menschen mit den sie umgebenden Dingen ist. Möglich ist dies vor allem deshalb, weil es sich bei dem Krug um ein ›aus-gezeichnetes‹ Ding handelt, also um einen Gegenstand, der in seiner figürlichen Dekoration und Beschriftung Informationen enthält, die sich ausdeuten lassen. Solche ›aus-gezeichneten‹ Dinge sind ein Charakteristikum der früh-

3 Zur Kritik, aber auch zur offensichtlichen Unverzichtbarkeit des Begriffs vgl. zuletzt Ette, Ottmar/Wirth, Uwe, Nach der Hybridität. Zukünfte der Kulturtheorien, in: dies. (Hg.), Nach der Hybridität. Zukünfte der Kulturtheorien, Berlin 2014, 7–12. 4 Welsch, Wolfgang, Transkulturalität. Zur veränderten Verfassung heutiger Kulturen, in: Schneider, Irmela/ Thomsen, Christian W. (Hg.), Hybridkultur. Medien, Netze, Künste, Köln 1997, 67–90, hier 71. 5 Landwehr, Achim, Von der ›Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‹, in: Historische Zeitschrift 295 (2012), 1–34, hier 28. 6 Vgl. Schulte, Bernd, Kulturelle Hybridität. Kulturanthropologische Anmerkungen zu einem »Normalzustand«, in: Schneider/Thomsen (Hg.), Hybridkultur, 245–263.

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neuzeitlichen materiellen Kultur.7 Weil sie besonders geschätzt wurden, zählen sie zu den Objekten, die heute in Museen und Sammlungen überliefert sind. Den Krug im Folgenden als ein ›aus-gezeichnetes‹ Ding zu analysieren, bedeutet nicht nur, sein Motiv in ikonographischer Tradition zu interpretieren, sondern auch die Frage nach seiner Entstehung und Verwendung zu stellen, das heißt, ihn als Element sozialer Praktiken zu untersuchen.

1. Transfers und Transformationen Einflussreichen Narrativen über Renaissance und Aufklärung folgend, galten technische und materiale Innovationen der Frühen Neuzeit lange Zeit als originäre Schöpfungen eines europäischen Erfindungsgeistes. Demgegenüber werden seit einigen Jahren die Impulse betont, die von Asien auf das frühneuzeitliche Europa ausgingen. Schon seit der Antike waren die von dort importierten Produkte begehrte Konsumgüter, um deren Nachahmung sich die Europäer intensiv bemühten. In der Frühen Neuzeit gewannen diese Transfers infolge der europäischen Expansion an Dynamik. Die globalen Güter und die von ihnen angestoßene europäische Herstellung ›eigener fremder Dinge‹ beförderten neue Produktionstechniken, neue Vermarktungs- und Konsumptionsformen.8 Globale Transferprozesse und die damit untrennbar verbundene ›lokale Aneignung‹9 führten zur Herausbildung eines Konsums, in dessen Gütern und Ge- bzw. Verbrauchsformen sich Fremdes mit Heimischem vermischte.10 Aus diesem Grunde spielen asiatische Importe und ihre europäischen Nachahmungen eine zentrale Rolle für die Erforschung frühneuzeitlichen Konsums und insbesondere für 7 Bereits Brewer plädierte dafür, dies für die Konsumgeschichte nutzbar zu machen. Vgl. Brewer, John, Was können wir aus der Geschichte der frühen Neuzeit für die moderne Konsumgeschichte lernen?, in: Siegrist, Hannes/Kaelble, Hartmut/Kocka, Jürgen (Hg.), Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschaftsund Kulturgeschichte des Konsums (18. bis 20. Jahrhundert), Frankfurt a. M. 1997, 51–74, hier 66. 8 Vgl. u. a. Berg, Maxine, From Imitation to Invention: Creating Commodities in Eighteenth-Century Britain, in: Economic History Review 55 (2002), 1–30; dies., Manufacturing the Orient. Asian Commodities and European Industry 1500−1800, in: Cavaciocchi, Simonetta (Hg.), Prodotti e tecniche d’oltremare nelle economie europee: Secc. XIII−XVIII, Florenz 1998, 385–419; Schmidt-Funke, Julia A., ›Eigene fremde Dinge‹. Surrogate und Imitate im langen 18. Jahrhundert, in: Neumann, Birgit (Hg.), Präsenz und Evidenz fremder Dinge im Europa des 18. Jahrhunderts, Göttingen 2015, 529–549. 9 Vgl. Hahn, Hans Peter, Antinomien kultureller Aneignung: Einführung, in: Zeitschrift für Ethnologie 136 (2011), 11–26; Hochmuth, Christian, Globale Güter – lokale Aneignung. Kaffee, Tee, Schokolade und Tabak im frühneuzeitlichen Dresden, Konstanz 2008. 10 Vgl. zuletzt Findlen, Paula, Early Modern Things. Objects in Motion, in: dies. (Hg.), Early Modern Things. Objects and Their Histories, 1500–1800, London/New York 2012, 3–27; Gerritsen, Anne/Riello, Giorgio, Spaces of Global Interactions. The Material Landscapes of Global History, in: dies. (Hg.), Writing Material Culture History, London 2015, 111−133; dies. (Hg.), The Global Lives of Things. The Material Culture of Connections in the Early Modern World, London 2015.

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die Auseinandersetzung mit der These von einer frühneuzeitlichen consumer revolution.11 Dieser seit den 1970er Jahren in der englischen Geschichtswissenschaft entwickelten These zufolge war es weiten Kreisen der städtischen und ländlichen Bevölkerung bereits vor der Industriellen Revolution möglich, modische Konsumgüter zu erwerben. Den außereuropäischen Waren wie Porzellan, Baumwolle oder Lackwaren kam, so die Vermutung, in diesem Zusammenhang deshalb so große Bedeutung zu, weil sie im Unterschied zu den in Europa bereits seit Langem bekannten und verbreiteten Luxusgütern eine neue Art von Luxusgütern darstellten, die stärker an Geschmack und Komfort ausgerichtet gewesen seien. Da sich ihr Wert nicht, wie beispielsweise bei kostbarem Silbergerät, am Materialwert, sondern an ihrem modischen Charakter orientiert habe, seien diese Güter zwar ebenfalls prestigeträchtig, aber deutlich erschwinglicher gewesen.12 Gleichzeitig bedingte ihr Material eine geringere Dauerhaftigkeit bzw. größere Brüchigkeit (breakability).13 Der Wirtschaftshistoriker Jan de Vries vermutet sogar, dass der Wunsch, diese neue Art von Konsumgütern besitzen zu können, das Arbeitsverhalten grundlegend veränderte, indem nun alle Angehörigen der frühneuzeitlichen Haushalte versucht hätten, mehr Geld zu verdienen.14 Die auf die Lebens- und Produktionsgemeinschaft des Hauses ausgerichtete Ökonomie der Frühen Neuzeit habe dadurch eine Transformation erfahren, welche de Vries als industrious revolution bezeichnet. Problematisch daran ist vor allem die von de Vries vorgeschlagene Datierung auf das lange 18. Jahrhundert, denn die von ihm beschriebenen Wirtschafts- und Konsumptionsweisen lassen sich von früheren und späteren Gepflogenheiten keineswegs trennscharf unterscheiden. Die Vorstellung, dass erst eine bürgerliche Avantgarde des späteren 17. Jahrhunderts neue Konsumgüter wie Porzellan oder Baumwolle etablierte, ist unhaltbar. Vielmehr betont die Forschung seit einiger Zeit die lange Dauer sowie die erheblichen sozialen und räumlichen Differenzen der unter dem Schlagwort der consumer revolution analysierten Entwicklungen.15 Die Ausrichtung an wechselnden Moden spielte bereits in den spätmittelalterlichen Städten eine große Rolle, und auch das »gradual replacement of expensive, durable products possessing a high secondary market value by cheaper, less durable, more fashion-­sensitive

11 Vgl. McKendrick, Neil/Brewer, John/Plump, John H., The Birth of a Consumer Society. The Commercialization of Eighteenth-Century England, London 1982; Thirsk, Joan, Economic Policy and Projects. The Development of a Consumer Society in Early Modern England, Oxford 1978. 12 Vgl. de Vries, Jan, The Industrial Revolution and the Industrious Revolution, in: The Journal of Economic History 54 (1994), 249–270; de Vries, Jan, The Industrious Revolution. Consumer Behavior and the House­hold Economy, 1650 to the Present, Cambridge 2008. 13 Vgl. de Vries, Industrious Revolution, 44–45, 130–133. 14 Vgl. de Vries, Industrious Revolution. 15 Vgl. zuletzt Maegraith, Janine/Muldrew, Craig, Consumption and Material Life, in: Scott, Hamish (Hg.), The Oxford Handbook of Early Modern European History, 1350–1750, Bd. 1, Oxford 2015, 369–397.

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goods«16 lässt sich nicht auf das ausgehende 17. Jahrhundert datieren. Empfindliche Güter wie Trinkgläser oder leichte Wollstoffe waren bereits im ausgehenden Mittelalter en vogue.17 Umgekehrt standen Güter und Gegenstände, die traditionell einen hohen Wiederverkaufswert hatten, wie etwa Bettwaren, Leinentextilien und Edelmetallgegenstände, auch im späten 18. Jahrhundert noch immer hoch im Kurs.18 Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass das chinesische und japanische Porzellan, das seit der Erschließung des Seewegs nach Südostasien vermehrt nach Europa kam, von Beginn an die Begehrlichkeiten europäischer Konsumentinnen und Konsumenten weckte.19 Zunächst von portugiesischen Händlern, dann von den englischen und niederländischen Ostindienkompanien importiert, erreichten ganze Schiffsladungen voll mit eigens für den Export gefertigtem Porzellan die europäischen Häfen. Asiatisches Porzellan wurde damit zum – lange Zeit unerreichten – Vorbild europäischer Keramikproduktion. Als Zen­trum einer das Porzellan imitierenden Fayence etablierten sich im frühen 17. Jahrhundert neben Portugal20 die nördlichen Niederlande. Vor allem in Delft wurde seit Beginn des 17. Jahrhunderts eine blau-weiße Fayence hergestellt, die sich am Aussehen des chinesischen Porzellans orientierte.21 Davon ausgehend entstanden in der zweiten Jahrhunderthälfte auch im deutschsprachigen Raum Fayencemanufakturen, die erste 1661 in Hanau,22 kurz darauf eine weitere im benachbarten Heusenstamm, welche nur von 1662 bis 1666 bestand,23 und schließlich 1666 in Frankfurt am Main.24 16 De Vries, Industrious Revolution, 130. 17 Vgl. Styles, John, [Rezezension von] The Industrious Revolution: Consumer Behavior and the Household Economy, 1650 to the Present, in: The Journal of Economic History 69 (2009), 1177–1179. 18 Vgl. Schmidt-Funke, Julia A., Städtische Wohnkulturen in der Frühen Neuzeit, in: Eibach, Joachim/ Schmidt-Voges, Inken, Das Haus in der Geschichte Europas. Sozialer Raum, Identitätsort, Ordnungskonzept. Ein Handbuch, München 2015, 215–231, hier 226. 19 Vgl. Canepa, Teresa, Kraak Porcelain: The Rise of Global Trade in the Late 16th and Early 17th Centuries, in: Vinhais, Luisa/Welsh, Jorge (Hg.), Kraak Porcelain: The Rise of Global Trade in the Late 16th and Early 17th Centuries, London 2008, 17–64; Finlay, Robert, The Pilgrim Art. Cultures of Porcelain in World History, Berkeley 2010. 20 Gefertigt wurden in Portugal beispielsweise die Krüge mit Hamburger Stadtwappen, welche von der älteren Forschung als Hamburger Erzeugnisse interpretiert worden waren. Inzwischen ist diese Fayence als portugiesische Exportware identifiziert, die durch sephardische Handelsleute nach Hamburg kam. Vgl. Bauche, Ulrich (Hg.), Vierhundert Jahre Juden in Hamburg (Katalog einer Ausstellungs des Museums für Hamburgische Geschichte, 8. Nov.1991–29. März 1992), Hamburg 1991, 141–142; Hildyard, Robin, European Ceramics, London 1999, 28. 21 Vgl. Lambooy, Suzanne M. R., Delfter Fayence: Ein niederländischer Exportartikel par excellence, in: Jost, Erdmut (Hg.), Goldenes Zeitalter und Jahrhundert der Aufklärung: Kulturtransfer zwischen den Niederlanden und dem mitteldeutschen Raum im 17. und 18. Jahrhundert, Halle a. d. S. 2012, 95–107. 22 Vgl. Zeh, Ernst, Hanauer Fayence. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Keramik, Marburg 1913. 23 Vgl. Helbig, Jean, Fayencen der Heusenstammer Manufaktur, in: Keramos 39 (1968), 12–16. 24 Vgl. Feulner, Adolf, Frankfurter Fayencen, Berlin 1935; Jung, Rudolf, Die Frankfurter Porzellanfabrik im Porzellan-Hofe 1666–1773, in: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst 7 (=26) (1901), 221–241; ders., Die Anfänge der Porzellanfabrikation in Frankfurt a. M., in: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst

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In der Frankfurter Manufaktur wurde auch der heute im Frankfurter Historischen Museum befindliche Birnkrug hergestellt. Sein auf die Henkelzunge aufgemaltes »F:« war das Markenzeichen der Frankfurter Manufaktur, welches sie von der Marke der städtischen Zinngießer übernommen hatte.25 Bis zur Gründung der Manufakturen in Berlin (1678) und Kassel (1680) konzentrierte sich die deutsche Fayenceproduktion auf die zwei Mainstädte Hanau und Frankfurt.26 Ihre Vorreiterrolle erklärt sich aus den engen Beziehungen zu den Niederlanden, die wesentlich auf die Einwanderung niederländischer Glaubensflüchtlinge in die Reichs- und Messestadt Frankfurt zurückgingen.27 Eine große Zahl reformierter und lutherischer Immigranten hatte sich hier in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts niedergelassen, weil ihnen die zweimal jährlich abgehaltenen Messen günstige Geschäftsbedingungen versprachen.28 Neben Handel und Kreditwesen etablierten die Immigranten Gewerbe wie die Schnürmacherei und Zuckerbäckerei, welche unter Verwendung globaler Rohstoffe Konsumgüter für den gehobenen Bedarf herstellten. Die damit einhergehenden sozio-ökonomischen Veränderungen besaßen allerdings erhebliches Konfliktpotenzial, zumal sie sich im ausgehenden 16. Jahrhundert mit verschärften konfessionellen Auseinandersetzungen verbanden. Gegen die Angehörigen der zwei in Frankfurt entstandenen reformierten Gemeinden ging der lutherische Frankfurter Rat deshalb mit Repressionen vor, was dazu führte, dass ein Teil der Reformierten zu Beginn des 17. Jahrhunderts ins benachbarte Hanau umsiedelte, wo eine Neustadt gegründet wurde.29 Aus dem Kreis der reformierten niederländischstämmigen Kaufleute kamen 1661 auch die beiden Begründer der Hanauer Manufaktur, die Frankfurter Beisassen Daniel ­Behaghel und Jakob van de Walle, die ihre »Porcellenbackherey« mithilfe eines niederländischen Ofenbauers ursprünglich in Frankfurt hatten errichten wollen.30 Als der Frankfurter Rat auf diesen Vorstoß hinhaltend reagierte, gründeten Behaghel und van der Walle das Unternehmen stattdessen in der Hanauer Neustadt und beauftragten den erfahrenen Fayence-

25 26 27 28 29 30

23 (1893), 368–374; Stahl, Patricia, Die Frankfurter Fayencemanufaktur: Produktion und Absatz, in: dies. (Hg.), Brücke zwischen den Völkern. Zur Geschichte der Frankfurter Messe, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1991, 250–254, hier 250. Vgl. Feulner, Frankfurter Fayence, 3. Vgl. Klein, Adalbert, Fayence, in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Bd. 7, München 1979, 876–905, hier 892–897, online verfügbar unter: http://www.rdklabor.de/w/?oldid=88678, letzter Zugriff: 14.09.2015. Vgl. Jung, Porzellanfabrik, 222–225. Vgl. u. a. Berger, Frank (Hg.), Glaube Macht Kunst. Antwerpen – Frankfurt um 1600, Frankfurt a. M. 2005. Vgl. Bott, Heinrich, Gründung und Anfänge der Neustadt Hanau 1596–1620, 2 Bde., Marburg 1970–1971. Vgl. Jung, Anfänge, 369; Zeh, Hanauer Fayence, 11. Zu Behaghel und von der Walle vgl. auch Deppermann, Andreas, Johann Jakob Schütz und die Anfänge des Pietismus, Tübingen 2002, 150–153.

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arbeiter Johannes Bally mit der Führung der Manufaktur.31 Auch an der 1666 erfolgten Gründung der Frankfurter Manufaktur war mit dem französischen Fayencearbeiter Jean Simonet ein westeuropäischer Spezialist beteiligt.32 Die Frankfurter Fayenceherstellung verdankte sich also einem zweifachen Transfer: einem globalen von Asien nach Europa und einem europäischen von den Niederlanden und Frankreich in das Heilige Römische Reich deutscher Nation.

2. Hybride Objekte frühneuzeitlichen Konsums Aus diesen Transfers ein Geschäft zu machen, war in Frankfurt dem verbürgerten Handelsmann Johann Christoph Fehr vorbehalten, der die dortige Fayencemanufaktur bis zu seinem Tod im Jahr 1693 erfolgreich führte.33 Sein Nachlassverzeichnis, welches ihn als wohlhabenden Geschäftsmann ausweist, gibt Auskunft über die Produkte der Frankfurter Manufaktur.34 Bei Fehrs Tod umfasste das Warenlager 2000 sogenannte ›Blättchen‹, welche als Fliesen im Stil der Delfter Kacheln identifiziert worden sind.35 Solche Kacheln im Wert von 33 Gulden bezog beispielsweise Maria Euphrosina von Reichencron, Tochter einer Frankfurter Patrizierin und Ehefrau eines in kaiserlichen Diensten stehenden Militärs, als sie 1685 ihr neuerworbenes Frankfurter Haus umbauen ließ.36 In Fehrs Warenlager befanden sich außerdem 3400 Halbmaßkrüge, 3452 Viertelmaßkrüge, 9550 kleinere und mittlere Apotheker-Büchsen, 66 Dutzend »History-Teller« – vermutlich Teller mit Historienszenen – sowie Blumenkrüge und Engelsköpfe, schließlich auch feine, mit Purpur bemalte Krüge.37 Diese umfangreiche Lagerhaltung belegt, dass die Manufaktur in hoher Stückzahl gebrauchsfertige Keramik produzierte, die auf den halbjährlich stattfindenden Frankfurter Messen verkauft wurde.38 Eine auf den Messverkauf ausgerichtete Produktion zählte zu 31 Vgl. Jung, Porzellanfabrik, 222–225; Zeh, Hanauer Fayence, 11–13. Einen weiteren niederländischen Spezialisten, Philipp Willst aus Rotterdam, nennt Feulner, Frankfurter Fayencen, 2. 32 Vgl. Feulner, Frankfurter Fayencen, 2; Helbig, Fayencen; Zülch, Walther Karl, Frankfurter Künstler 1223– 1700, Frankfurt a. M. 1935, 560. 33 Vgl. Feulner, Frankfurter Fayencen, 5; Stahl, Frankfurter Fayencemanufaktur, 250; Zülch, Frankfurter Künstler, 565–566. 34 Vgl. Jung, Porzellanfabrik, 230–223. 35 Vgl. Feulner, Frankfurter Fayencen, 21; Jung, Porzellanfabrik, 230, 238. 36 Vgl. Scheidel, Sebastian Alexander, Geschichte der Dr. Senckenberg’schen Stiftshäuser, Frankfurt a. M. 1867, 21. Zu Maria Euphrosina von Reichencron vgl. Hansert, Andreas (Bearb.), Das Frankfurter Patriziat. Genealogische Datenbank, Frankfurt a. M. 2011, PID 72002907, online verfügbar unter: http://www. frankfurter-patriziat.de, letzter Zugriff: 12.04.2016. 37 Vgl. Feulner, Frankfurter Fayencen, 16, 63; Jung, Porzellanfabrik, 231. 38 Vgl. Stahl, Frankfurter Fayencemanufaktur, 250.

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den gängigen Strategien des Frankfurter Gewerbes, weil die Messen neben ihrer hohen Bedeutung für den Kapitalmarkt auch die Funktion eines Verbrauchermarkts besaßen. Außerhalb der Messen wurden die Fayencen der Frankfurter Manufaktur im sogenannten ›Kram‹, das heißt im stationären Einzelhandel vertrieben.39 Bei der Gründung der Manufaktur hatte der Rat ihrem Betreiber sogar ein Verkaufsmonopol innerhalb Frankfurts zugestanden, das nur während der Messe aufgehoben sein sollte.40 Frankfurter Fayence wurde darüber hinaus auch außerhalb der Messestadt vertrieben, so dass ihre Scherben selbst in Lübeck und Bremen gefunden worden sind.41 Trotz der im Nachlassverzeichnis von Fehr belegten hohen Stückzahlen kann die Fayence des ausgehenden 17. Jahrhunderts nicht pauschal als billige Massenware für ein breites Publikum eingeordnet werden. Zwar mahnte die zeitgenössische Lasterkritik, dass »es schon kommen so weit, daß geringe Leut aus keinen gemeinen irdenen, oder ordinari Haffnergeschirr essen, oder solches in ihren Häusern dulden wollen, sondern es muß entweders von Mayolica oder Porcellan seyn«.42 Doch solche stereotypen Klagen über den unangemessenen und unmäßigen Konsum der unteren Stände waren gattungsgebunden und müssen kritisch hinterfragt werden.43 In Frankfurter Inventaren des ausgehenden 17. Jahrhunderts lassen sich tatsächlich vermehrt Porzellan- bzw. Fayencewaren auch für ärmere Haushalte nachweisen, doch die Stückzahlen blieben begrenzt. Unterscheiden lässt sich dabei zwischen asiatischem Porzellan und europäischer Fayence nicht – beides wurde von den Zeitgenossen als Porzellan bezeichnet, weshalb auch die Fayencemanufaktur als Porzellanbäckerei firmierte. Dennoch tritt aus den Inventaren klar hervor, dass nach Wert und Qualität zwischen verschiedenen Sorten von Keramik unterschieden wurde. Während etwa sieben »schlechte porcellain teller«44 1685 aus dem Nachlass eines Seifensieders und seiner Frau für 16 Kreuzer (= 64 Pfennig) versteigert wurden, kosteten die patrizische Familie von Kaib im Jahr 1690 zwei vermutlich neu gekaufte weiße »Porcelan-Krüg« 45 Kreuzer

39 Vgl. Jung, Frankfurter Porzellanfabrik, 223–234; Stahl, Die Frankfurter Fayencemanufaktur, 250. 40 Vgl. Jung, Frankfurter Porzellanfabrik, 234–237. 41 Vgl. Stahl, Die Frankfurter Fayencemanufaktur, 250. Adolf Feulner vermutete 1935 sogar einen Export bis nach Japan, doch ist dies nicht hinreichend belegt. Vgl. Feulner, Frankfurter Fayencen, 8. 42 Porcellan- und Gläser-Narr, in: Centi-folium stultorum in quarto. Oder Hundert Ausbündige Narren, Nürnberg 1709, 260–264, hier 264. 43 Vgl. Schmidt-Funke, Julia A., Vom »Alamode-Teufel« zur »Modesucht«? Wertungen des Konsums im langen 18. Jahrhundert, in: Berndt, Frauke/Fulda, Daniel (Hg.), Die Sachen der Aufklärung, Hamburg 2012, 584–591, hier 590–591. 44 Inventarium Anthon Henrich Scherius et uxoris respective Verlaßenschafft undt Nahrung (30.10.1685), Institut für Stadtgeschichte Frankfurt a. M. (im Folgenden: IfSG), Kuratelamt Akten, Nr. 342, S. 5; IfSG, Erste Vormundschaftsrechung (praes. 25.11.1685), Kuratelamt Akten, Nr. 342, S. 2.

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(= 180 Pfennig).45 Ein im selben Jahr aus einem jüdischen Nachlass versteigertes »porcel. Krüglein mit silbern Deckel«, das vielleicht wie der heute im Historischen Museum aufbewahrte Birnkrug gestaltet war, erzielte dagegen mehr als 2 Gulden und 53 Pfennig (= 533 Pfennig).46 Verglichen mit einem Grundnahrungsmittel wie Roggen war dieser Preis beträchtlich: 1690 kostete ein Achtel Roggen, das heißt das in Frankfurt übliche Hohlmaß von 114,74 Litern, welches je nach Erntejahr zwischen 165 und 180 Pfund auf die Waage brachte, 2 Gulden und 204 Pfennig (= 684 Pfennig).47 Die von der Familie von Kaib 1690 beschäftige Waschfrau, die für einen Arbeitstag 16 Kreuzer (= 64 Pfennig) erhielt, hatte acht bis neun Tage zu arbeiten, um den Gegenwert des gebrauchten Porzellankrugs mit Silberdeckel zu verdienen.48 Die Trennlinie zwischen Gutem und Schlechten, Einfachem und Feinem verlief allerdings nicht einfach zwischen Porzellan und Fayence. Sowohl asiatisches Porzellan als auch europäische Fayence waren in unterschiedlicher Qualität zu haben. Wie in der chinesischen Porzellanherstellung bestand auch in der Fayenceproduktion ein Nebeneinander von seriell produzierter Ware und Auftragsarbeit. Der Frankfurter Manufaktur sicherte eine solche Mischkalkulation vermutlich die Existenz. Grabungen haben gezeigt, dass das Gros der in Frankfurt verwendeten Fayence aus der heimischen Manufaktur in schlichter Gebrauchsware bestand.49 Daneben fertigte die Frankfurter Manufaktur aber auch wappengeschmücktes Tischgeschirr für (hoch-)adlige und bürgerliche Auftraggeber und produzierte Vasen, die in fürstlichen Porzellankabinetten neben ihren ostasiatischen Vorbildern aufgestellt wurden. Aus Frankfurter Produktion stammten beispielsweise die Fayencen des Porzellankabinetts in Oranienbaum50 sowie in Schloss Skokloster, welches der schwedische Feldherr Carl Gustav Wrangel nach dem Dreißigjährigen Krieg errichtete.51 Eine generelle Geringschätzung des serienmäßig hergestellten Imitats gab es in der Frühen Neuzeit bis weit in das 18. Jahrhundert nicht, und dementsprechend fehlte es auch an einer klaren begrifflichen Trennung zwischen Porzellan und Fayence. Erst um die Wende 45 Vgl. Gottlieb Schnapper-Arndt, Studien zur Geschichte der Lebenshaltung in Frankfurt a. M. während des 17. und 18. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1915, Bd. 2, 235. Zum Wert der verschiedenen Münzsorten vgl. ebd., 241. 46 Vgl. Vergantungsregister uber Samuel Hechts Juden zum Schwert confiscirte Haußrath (9./10.03.1691), IfSG, Rechnei vor 1816, Nr. 643, fol. 19–26, hier 19r. 47 Vgl. Dietz, Alexander, Frankfurter Handelsgeschichte, Bd. 1, Glashütten 1970 (zuerst Frankfurt a. M. 1910), 360–361; Elsas, Moritz John, Umriss einer Geschichte der Preise und Löhne in Deutschland vom ausgehenden Mittelalter bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, Bd. 2-A, Leiden 1940, 466. 48 Vgl. Schnapper-Arndt, Lebenshaltung, Bd. 2, 246. 49 Vgl. Stahl, Die Frankfurter Fayencemanufaktur, 250. 50 Vgl. Harksen, Julie, Das Porzellankabinett des Schlosses Oranienbaum und seine Frankfurter und Delfter Fayencen, in: Anhaltinische Geschichtsblätter 10/11 (1934/35), 90–124. Die Fayencen sind heute nicht mehr erhalten. 51 Vgl. Feulner, Frankfurter Fayencen, 15. Feulner zufolge vermittelte Matthäus Merian d. J. die Frankfurter Fayencen an Wrangel.

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zum 19. Jahrhundert mehren sich die Belege dafür, dass eine prinzipielle Unterscheidung zwischen Original und Kopie gemacht wurde.52 In den deutschen Städten des 17. Jahrhunderts kann man sich die Konsumenten aufwendig dekorierter Fayence in den wohlhabenden Haushalten der Handwerker, Einzel- und Großhändler sowie des Patriziats bzw. der Honoratiorenschicht denken. Aussagekräftig ist beispielsweise das Inventar der Frankfurter Eheleute Cornelius de Marsegni und Maria Mignon aus dem Jahr 1652.53 In der heute noch erhaltenen Frankfurter Überlieferung ist es eines der ersten Inventare, in dem sich der Besitz von Porzellan bzw. Fayence nachweisen lässt.54 Cornelius de Marsegni, verbürgerter Zuckerbäcker und Gewürzkrämer, war der Nachkomme einer 1577 aus den südlichen Niederlanden eingewanderten Familie.55 Die Eheleute gehörten höchstwahrscheinlich der französisch-reformierten Gemeinde an. 1652 beantragten sie eine Cessio Bonorum, das heißt ein nach Frankfurter Stadtrecht durchgeführtes Insolvenzverfahren,56 das die Erstellung des überlieferten Inventars veranlasste. Die Marsegnis hatten die zwei prächtigsten Räume ihres Hauses, einen Saal und eine Saalstube, mit Gemälden, Spiegeln und Möbeln aus Nussbaum eingerichtet. Der Saal beherbergte auch ein Spinett. In der Saalstube bewahrten die Eheleute neben »allerhand Brieffen und Büchern« ihr kostbares Geschirr auf: zwei zierliche Kristall- oder Glasgefäße »mit Bödern von porcellain«, zwölf »feine porcellain Schüsseln« und eine ebensolche Flasche, drei Stück »gemeyner porcellaine Schüsseln« und zwei weitere Glasschüsseln, zwei »gemeyne Porcellain Krüge«, außerdem eine Trinkkrause »mit sylbern Schildern« und 16 verschiedene Trinkgläser.57 Vermutlich waren diese Gegenstände in oder auf der ›Tresur‹ genannten Anrichte verwahrt, welche bei den Marsegnis aus Nussbaum gefertigt und mit einer aufwendigen Stoffeinfassung versehen war.58 Als niederländischstämmige Gewürzhändler gehörten die Marsegnis mit Sicherheit zu denjenigen, welche aufgrund ihrer Handelskontakte einen privilegierten Zugang zu solchen Gütern hatten. Es verwundert 52 Vgl. Schmidt-Funke, Eigene fremde Dinge, 538–542. 53 Vgl. Inventarium über Cornelii de Marchegnis Bürgers, Zuckerbeckers und Würtzkrämers und dessen Hausfraw Maria Mignons Haab und Nahrung (20.08.1652), IfSG, Inventare, 1652/30. 54 Stillleben der Frankfurter Maler Georg Flegel und Peter Binoit weisen die Existenz asiatischer Keramik bzw. ihrer europäischen Nachahmung in Frankfurt freilich schon früher nach. Vgl. Feulner, Frankfurter Fayencen, 101. 55 Vgl. Dietz, Alexander, Frankfurter Handelsgeschichte, Bd. 2, Glashütten 1971 (zuerst Frankfurt a. M. 1921), 12. 56 Der Zahlungsunfähige musste dafür sein gesamtes Hab und Gut offenlegen, das dann in einem Inventar verzeichnet und nachfolgend versteigert wurde. Ausgenommen war davon allerdings die nötigste Kleidung des Ehemannes, Kleidung, Schmuck und eingebrachtes Heiratsgut der Ehefrau sowie persönlicher Besitz der Kinder, beispielsweise Erbstücke und Taufgeschenke. Vgl. Der Statt Franckenfurt am Mayn erneuwerte Reformation, Frankfurt a. M. 1578, Tit. L. 57 Vgl. IfSG, Inventare, 1652/30, fol. 2v. 58 Zu Begrifflichkeit und Bedeutung des Tresurs vgl. Schmidt-Funke, Julia A., Handfass und Hirschgeweih. Zum Umgang mit den Dingen im Kontext frühneuzeitlichen Wohnens, in: Schweizerisches Jahrbuch für Wirtschafts- und Sozialgeschichte 28 (2013), 115–141, hier 124–125.

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daher nicht, dass zu ihren Geschäftspartnern bzw. Gläubigern auch der spätere Begründer der Hanauer Fayencemanufaktur, Daniel Behaghel, gehörte.59 Der von Jan de Vries vorgeschlagenen systematischen Unterscheidung zwischen alten, unvergänglichen und neuen, weniger dauerhaften Luxusgütern folgend, wäre bei dem 1668 im Alter von 68 Jahren verstorbenen Frankfurter Patrizier Johann Hector von Holzhausen60 ein eher traditionelles Konsummuster auszumachen. Das Inventar, das den Besitz Johann Hectors und seiner bereits 1648 verschiedenen Frau Maria Margaretha Weis von Limpurg61 verzeichnet, führt nur wenig Porzellangeschirr von schlechter Qualität auf, während es eine lange Liste wertvollen Geschirrs aus Edelmetall sowie Schmuck, Edelsteine und Perlen beinhaltet.62 Aber bei genauerem Hinsehen erweist sich die Trennung vermeintlich alter und neuer Konsummuster bzw. -güter als problematisch. Die zwei »weisen porcellinen Krüge mit silbern ziervergulten Deckeln und Füsen«63, die 1698 im Inventar der patrizischen Eheleute Philipp Ludwig Kaib und Maria Ursula Faust von Aschaffenburg unter der Rubrik »Silberwerk« aufgeführt wurden, belegen nämlich die Existenz hybrider Formen, wie sie auch in dem Frankfurter Birnkrug vorliegen.64 Zerbrechliches wurde mit Dauerhaftem kombiniert, was dazu führte, dass die mit Edelmetallmontierungen versehenen Keramiken von den mit dem Inventar beauftragten städtischen Amtsträgern jenen Habseligkeiten zugeordnet wurden, die traditionell als ideeller und materieller Familienschatz galten: Keramik wurde zu Silberwerk. Von der Zerbrechlichkeit eines Fayencekrugs kann also nicht prinzipiell abgeleitet werden, dass er als schnelllebiges Konsumgut alsbald durch einen modischeren Krug ersetzt worden wäre. Gegenüber den traditionellen Edelmetallgeräten besaß er insofern sogar größere Dauerhaftigkeit, als sich das keramische Material einer Umnutzung in Form des Einschmelzens entzog. Fraglos handelt es sich bei Fayencen wie dem in Frankfurt überlieferten Birnkrug um kostbare und geschätzte Gegenstände, deren dauerhafter Erhalt angestrebt wurde. Auf ihre besondere Wertschätzung lässt neben ihrer Edelmetallmontierung auch ihre sorgfältige Bemalung mit einem allegorischen Bildprogramm schließen.

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Vgl. IfSG, Inventare, 1652/30, fol. 10 v. Zu den biographischen Daten vgl. Hansert, Frankfurter Patriziat, PID 72003482. Vgl. ebd., PID 72003958. Vgl. Inventarium uber Weyl. des WohlEdlen, Gestreng. undt Hochweisen Herrn Johann Hector von Holzhausen, allhiesig gewesenen Schöffen undt des Raths, undt deßen vor etlichen Jahren verstorbenen Haußfrawen, Fr. Marien Margarethen, gebohrene Weisin von Limpurg beyden seel. Verlaßenschafft (17./18.12.1668), IfSG, Holzhausen Archiv, Fasz. Lit. L., Nr. 19. 63 Inventarium über weiland tit. Herrn Philipp Ludwig Kaibs und dessen Frau relictae intus benamt beder sel. Verlasenschaft de anno 1698, in: Schnapper-Arndt, Lebenshaltung, Bd. 2, 198–205, hier 202. 64 Siehe zur Bedeutung von Edelmetallmontierungen auch die Beiträge von Elizabeth Harding und Michael Wenzel in diesem Band.

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3. Ein fremder Baum und seine europäische Aneignung Obwohl der Frankfurter Birnkrug kein chinoises Dekor zeigt, verweist sein zentrales Motiv auf den asiatischen Kulturraum. Bei dem dargestellten Wäldchen handelt es sich nämlich um die Bengalische oder Banyan-Feige (Ficus benghalensis), eine immergrüne, subtropische Pflanze, die sich auf einem Wirtsbaum ansiedelt und diesen mithilfe ihrer Luftwurzeln schließlich überwuchert. Sie kann dabei beträchtliche Ausmaße und ein hohes Alter erreichen. Der ethnologischen Forschung zufolge ist die Bengalische Feige auf dem indischen Subkontinent ein kultureller Bedeutungsträger.65 Sie wird im Hinduismus als heiliger Baum verehrt und mit Fruchtbarkeit assoziiert.66 Das Wissen über eine solche Pflanze hatte in Europa im späteren 16. Jahrhundert Eingang in die Kräuterbücher gefunden. In dieser Zeit wurde das bei Plinius und Theophrast überlieferte antike Wissen über eine Ficus indica mit den Beobachtungen zeitgenössischer Indienreisender in Einklang gebracht. Der Botaniker Charles de l’Ecluse, latinisiert C ­ arolus Clusius, führte diese verschiedenen Stränge wahrscheinlich in den 1570er oder 1580er Jahren zusammen.67 Nach seinen eigenen Angaben stützte er sich dabei auf die Berichte des Indienreisenden Fabrizio Mordente, den er in den 1570er Jahren am Abb. 3: Ficus indica, aus: Carolus Clusius, ExotiHof ­Maximilians II. getroffen hatte.68 Clusius corum Liber Primum, Leiden 1605. 65 Der im Angelsächsischen verwendete Name ›Banyanbaum‹ leitet sich von der Erzählung ab, dass indische Händler, die sogenannten banias, im Schatten der Bäume ihre Geschäfte abschlossen. Vgl. Yule, Henry/ Burnell, Arthur C., Hobson-Jobson. A Glossary of Colloquial Anglo-Indian Words and Phrases, and of Kindred Terms, Etymological, Historical, Geographical and Discursive, hg. von William Crooke, London 1903, 65–67. 66 Vgl. Simoons, Frederick J., Plants of Life, Plants of Death, Madison, Wis. 1998, 57. 67 Clusius muss die Ficus indica bereits vor seinen 1605 erschienenen Exoticorum Libri Decem beschrieben haben, denn der aus Bergzabern stammende Pflanzenkundler Jakob Dietrich, latinisiert Tabernaemontanus, berief sich 1588 bereits auf Clusius, als er die Ficus indica in sein Kräuterbuch aufnahm. Vgl. Tabernaemontanus, Jacobus Theodorus, New Kreuterbuch, Frankfurt a. M. 1588, 644; ders., Eicones Plantarum, Frankfurt a. M. 1590, 957. 68 Vgl. Clusius, Carolus, Exoticorum Liber Primum, Leiden 1605, 1–4.

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nahm für sich in Anspruch, die Pflanze nach Mordentes Beschreibung so treffend wie möglich abgebildet zu haben (»quàm concinnè fieri potuit«).69 Vielleicht war er es also, der die einschlägige Bildformel fand, mit welcher die Ficus indica seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert in der europäischen Kräuterbuchliteratur als ein Baum mit dickem Hauptstamm und zahlreichen Nebenstämmen dargestellt wurde (Abb. 3). Diese Darstellung besaß für C ­ lusius größere Genauigkeit als eine naturgetreue Zeichnung, mit welcher der um 1600 erschienene Reisebericht des Indienreisenden Jan Huygen van Linschoten illustriert war,70 denn Clusius traute dem ungelehrten Augenzeugen weniger als den Berichten der antiken Autoren.71 Auf den Birnkrug gelangte das Motiv der Bengalischen Feige allerdings Abb. 4: Julius Wilhelm Zincgref, Emblematum Ethico-­ Politicorum Centuria, Heidelberg 1666, Nr. XCV. nicht unmittelbar durch die Kräuterbücher. Hermann Benckert benutzte nämlich ein Emblembuch, das heißt eine Art Katalog mit Bild-Text-Kombinationen, die im 17. Jahrhundert vielfach als Vorlage für allegorische Darstellungen dienten.72 Es war ein in allen bildenden Künsten verbreitetes und in seiner Bedeutung kaum zu unterschätzendes Verfahren, Motive aus der Druckgraphik zu übernehmen und sie zu neuen Kontexten zusammen­zufügen.73 Benckert verwendete für seine Komposition das 1619 bei de Bry in

69 Ebd., 2. 70 Vgl. Linschoten, Jan Huygen van, Vierder Theil der Orientalischen Indien, Frankfurt a. M. 1600, XIL. 71 Zur Auseinandersetzung mit dem Bericht und der Illustration bei Linschoten vgl. Clusius, Exoticorum Liber Primum, 3: »valde mihi suspecta est«. Vgl. dazu Ogilvie, Brian W., The Science of Describing. ­Natural History in Renaissance Europe, Chicago 2006, 252–254. 72 Vgl. Strasser, Gerhard F./Wade, Mara R. (Hg.), Die Domänen des Emblems. Außerliterarische Anwendungen der Emblematik, Wiesbaden 2004. 73 Vgl. dazu u. a. Wagner, Berit, Bilder ohne Auftraggeber. Der deutsche Kunsthandel im 15. und frühen 16. Jahrhundert, Petersberg 2014, 242.

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Frankfurt erschienene Emblembuch Julius ­Wilhelm Zincgrefs mit Stichen von Matthäus Merian d.Ä.74 Darin wurde das Motiv der Ficus indica mit einem Motto aus Ovids Metamorphosen sowie einer eindeutig auf die Fruchtbarkeit verweisenden französischsprachigen subscriptio kom­biniert.75 Benckert benutzte dieses Em­blembuch nachweislich in einer späteren Auflage von 1666,76 die um eine deutsche subscriptio ergänzt worden war (Abb. 4). Denn einige Jahre, bevor er den Frankfurter Birnkrug schuf, hatte er das Motiv bereits für einen heute im Prager Kunstgewerbemuseum befindlichen Birnkrug verwendet, dessen Spruchband die deutsche subscriptio der 1666er Auflage wiedergab (Abb. 5): »Siehe was für Kraefften ihm dieser Feigenbaum bereitet/ Wan durch Seine Zweige sich er so Weit Abb. 5: Hermann Benckert, Birnkrug, 1677, Schwarzlot ausbreitet./Also stercket sich auch der, auf Fayence, Kunstgewerbemuseum Prag. der Viel Kinder Zeiget/Vnd ist wie ein schöner Baum, der umZaunet grade steiget./Anno 1677 HB F.«77 Es lässt sich nur darüber spekulieren, inwieweit diese europäische Bedeutungsaufladung, welche die Bengalische Feige zum Fruchtbarkeitssymbol machte, von jenen Vor74 Vgl. Zincgref, Julius Wilhelm, Emblematum Ethico-Politicorum Centuria, Frankfurt a. M. 1619, Nr. XCV, online verfügbar unter: http://diglib.hab.de/drucke/qun-202–1-1/start.htm?image=00208, letzter Zugriff: 14.04.2016. 75 Vgl. ebd.: »Heureux celui qui voit peupler sa race d’enfants bien nés; Pour puis en un danger n’être rendu esclave à l’étranger, qui sans argent ne se retient en grâce.« 76 Vgl. Zincgref, Julius Wilhelm, Emblematum Ethico-Politicorum Centuria, Heidelberg 1666, Nr. XCV, online verfügbar unter: http://diglib.hab.de/drucke/li-10083/start.htm?image=00211, letzter Zugriff: 14.04.2016. 77 Benckert, Hermann, Birnkrug, Schwarzlot auf Fayence, 1677, Höhe 17,8 cm, mit Montierung 22 cm, Prag, Kunstgewerbemuseum, Inventar-Nr. 10839, erworben 1908 aus der Sammlung Hermann Emden. Vgl. dazu Bosch, Nürnberger Hausmaler, 119–182; Pazaurek, Deutsche Fayence- und Porzellan-Hausmaler, Bd. 1, 26. Pazaurek lag nur die im Auktionskatalog von 1908 fälschlich wiedergegebene Signatur »IB« vor, weshalb er Benckert nicht als Schöpfer des Krugs verifizieren konnte. Vgl. Rudolph Lepke’s Kunst-Auctions-Haus (Hg.), Sammlung Hermann Emden Hamburg. Erster Theil, Berlin 1908, Nr. 189, online verfügbar unter: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/lepke1908_11_03bd1/0049, letzter Zugriff: 14.04.2016.

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stellungen beeinflusst war, die auf dem indischen Subkontinent an den Baum geknüpft wurden. Fest steht jedoch, dass im 17. Jahrhundert aus dem antiken Wissen über den Baum, aus der zeitgenössischen Beschreibung durch europäische Reisende sowie aus der europäischen Bild- und Denktradition des Stammbaums bzw. der Wurzel Jesse ein allegorisches Amalgam entstand, das durch das Medium der Emblembücher Verbreitung fand. Die Bengalische Feige faszinierte im 17. Jahrhundert als exotischer Wunderbaum, der sich für unterschiedliche Deutungen anbot.78 Das Motiv fand beispielsweise in Miltons Paradise Lost Erwähnung79 und kursierte zwischen den Angehörigen der ›Fruchtbringenden Gesellschaft‹, also innerhalb jener ständeübergreifenden deutschen Akademie des 17. Jahrhunderts, welche mit dem Palmbaum einen weiteren fremdländischen Baum zu ihrem Symbol erkoren hatte.80 Die Ficus indica war dazu geeignet, den hohen Stellenwert auszudrücken, welche Fruchtbarkeit, reiche Nachkommenschaft und verwandtschaftliche Verbindung in der frühneuzeitlichen Gesellschaft besaßen, wobei es entscheidend war, dass sich Nachkommenschaft und Verwandtschaft entsprechend den zeitgenössischen Vorstellungen von Sittlichkeit und Ehre einer Eheschließung verdankten. Aufgrund seiner Aussagekraft wurde das Motiv der Ficus indica auch für die Darstellung von Stammbäumen verwendet,81 obwohl ihre Vielstämmigkeit einer systematischen Aufschlüsselung von Verwandtschaftsverhältnissen eigentlich abträglich war.82 Bezeichnenderweise hatten Zincgref und Merian in ihrem Emblembuch gerade diese Vielstämmigkeit des Baumes hervorgehoben, indem sie ihn ohne die Früchte darstellten, die in den Illustrationen der Kräuterbücher noch zu sehen gewesen waren. Ihre Bildidee beruhte nicht auf einem fruchttragenden Baum, aus dessen Samen neue Pflanzen emporsprießen, sondern auf der organischen Verbundenheit mehrerer Stämme. Zincgref und Merian erhöhten mit dieser Vereindeutigung die emblematische Einprägsamkeit der Ficus indica. Gleichzeitig fügten sie einen Hinweis auf den exotischen Ursprung des Baumes hinzu, indem sie in den Hintergrund der pictura zwei Hütten im Schatten einer Palme einfügten. Hermann Benckert wiederum löste die Bengalische Feige aus ihrem asiatischen Kontext und schuf, indem er den Baum in eine europäische Landschaft verpflanzte, ein hybrides Motiv. 78 Vgl. Prohaska, Wolfgang, Feige, Feigenbaum, in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Bd. 7, München 1979, 1010–1056, hier 1021–1023, online verfügbar unter: http://www.rdklabor.de/w/?oldid=89086, letzter Zugriff: 11.09.2015. 79 Vgl. Milton, John, Paradise Lost, London 21674, Buch 9, Zeile 1101–1111, online verfügbar unter: http:// www.dartmouth.edu/~milton/reading_room/pl/book_9/text.shtml, letzter Zugriff: 12.04.2016. 80 Vgl. Bauer, Volker, Wurzel, Stamm, Krone: Fürstliche Genealogie in frühneuzeitlichen Druckwerken, Wiesbaden 2013, 75. 81 Vgl. Birken, Sigmund von, Abgebrochener Hoch-Fürstlich Oesterreichischer Regenten-Zweig, Nürnberg 1665, Titelblatt, online verfügbar unter: http://diglib.hab.de/drucke/gl-4f-kapsel-1–35/start.htm?image=00001, letzter Zugriff: 14.04.2016. 82 Vgl. Bauer, Wurzel, Stamme, Krone, 72–75.

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Benckert verwendete dabei nicht wahllos ein exotisierendes Dekor,83 sondern stellte im Zuge seines Motivtransfers einen neuen Sinnzusammenhang her. Dies gelang ihm besonders gut auf dem Frankfurter Birnkrug. Denn bei dem heute in Prag befindlichen Stück orientierte er sich stark am Emblembuch, so dass der Krug seine Aussagekraft wesentlich aus dem Schriftband erhielt. Neben dem zentralen Baummotiv ist er nur noch mit einem aus einer Lilienblüte hervorwachsenden Rosenzweig sowie um den Henkelansatz mit einer Rollwerkkartusche verziert. Der lediglich mit einem Einzeiler beschriftete Frankfurter Krug weist solche Zierelemente hingegen nicht auf; stattdessen ist die Szenerie um das Motiv eines Paares ergänzt, welches als Ehe- oder Brautpaar zu denken ist, das sich reiche Nachkommenschaft erhofft. Die in die Landschaft hineinführenden und in einer Stadt bzw. Kirche endenden Wege symbolisieren die mit der Ehe einzuschlagenden Lebenswege, die zu beschreiten der geöffnete Schlagbaum herausfordert. Die im Vordergrund rastende Wanderin steht für einen Moment der Ruhe und Einkehr, der von den Zeitgenossen religiös gedeutet werden konnte: In einem zentralen Werk der barocken Emblematik, in den Pia Desideria des Jesuiten Hermann Hugo, symbolisierte eine rastende, auf den vor ihr liegenden Weg deutende Wanderin die menschliche Seele.84 Vielleicht spielte dasselbe Motiv auch auf ein durch die Ehe herbeigeführtes Ende der rastlosen Wanderung Amors an, wie sie in Ovids Ars amatoria thematisiert und in der Emblematik des frühen 17. Jahrhunderts aufgegriffen worden war.85

4. ›Aus-gezeichnete‹ Dinge Ein Großteil des frühneuzeitlichen Hausrats war in ähnlicher Weise durch Wappen, E ­ mbleme, Allegorien und Inschriften ›aus-gezeichnet‹86 und forderte diejenigen, die sie besaßen, benutzten oder betrachteten, dazu auf, über die Bedeutung der ›Aus-zeichnung‹ miteinander ins (geistreiche) Gespräch zu kommen.87 ›Aus-gezeichnete‹ Gegenstände kamen auch 83 Die Herauslösung exotischer Motive aus ihrem ursprünglichen Bedeutungszusammenhang und ihre freie Verwendung als Dekoration sehen Gerritsen/Riello als Signum des späteren 18. Jahrhunderts. Vgl. Gerritsen/­Riello, Spaces of Global Interactions, 128. 84 Vgl. Hugo, Hermann, Pia Desideria, Antwerpen 1629, 346, online verfügbar unter: http://dibiki.ub.unikiel.de/viewer/resolver?urn=urn:nbn:de:gbv:8:2–1999919, letzter Zugriff: 12.04.2016. 85 Vgl. Veen, Otto van, Amorum emblemata, Antwerpen 1608, 95: »Errat, et in nulla sede moratur amor«, online verfügbar unter: http://emblems.let.uu.nl/v1608048.html, letzter Zugriff: 12.04.2016. 86 Vgl. Schmid, Wolfgang, Ein Bürger und seine Zeichen. Hausmarken und Wappen in den Tagebüchern des Kölner Chronisten Hermann Weinsberg, in: Czaja, Karin/Signori, Gabriela (Hg.), Häuser, Namen, Identitäten. Beiträge zur spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Stadtgeschichte, Konstanz 2009, 43–64; Strasser/Wade (Hg.), Domänen des Emblems. 87 Vgl. Schmidt-Funke, Städtische Wohnkulturen, 228–230, mit Beispielen und weiterführender Literatur. Zu Emblemen als Gesprächsaufforderung vgl. zudem Becker, Jochen, Geistlich oder geistreich: vom Sinn »emblematischer« Bilder, in: Strasser/Wade (Hg.), Domänen des Emblems, 233–261.

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und gerade beim Mahlhalten, bei der Bewirtung von Gästen und Tisch­genossen und dem Ausschenken und dem Genuss von Getränken zum Einsatz.88 Kostbares und aufwendig gestaltetes Trinkgeschirr, wie es der Frankfurter Fayencekrug darstellt, spiegelte die hohe Bedeutung, die dem gemeinsamen und oft auch aus demselben Trinkgefäß genossenen Trank als einer zentralen Praktik frühneuzeitlicher Vergemeinschaftung zukam.89 »Trinkrituale stellten Gemeinschaft unter den Trinkenden her. Zugleich aber wurde durch die Art und Weise, wie die Trinkrituale praktiziert wurden, auch die Art der dadurch gebildeten Gemeinschaft und der für sie konstitutiven Personen in ritualisierter Weise markiert.«90 Vom sogenannten Weinkauf, einem RechtsAbb. 6: Hermann Benckert, Birnförmiger akt zur Besiegelung von Geschäften oder Ehever- Fayencekrug mit Silberfassung, 1681, Historisprechen,91 über die Umtrünke auf Trink- und sches Museum Frankfurt am Main, Deckel. Zunftstuben92 bis hin zu den Kindbettfeiern93 – der gemeinsame Genuss der alkoholischen Getränke Wein und Bier besaß eine weit über das Trinken hinausreichende Funktion. Wein und Bier galten als Stärkungsmittel; in den Weinkonsum spielte überdies eine religiöse Symbolik hinein.94 Dem­entsprechend geschätzt waren die mit solchen Praktiken in Verbindung stehenden Gefäße als Gaben zu Taufen oder Hochzeiten, als diplomatische Geschenke95 oder Ehrengeschenke, die beim gemeinsamen Gelage in ritualisierter Form eingeweiht werden mussten.96 88 Siehe dazu auch den Beitrag von Elizabeth Harding in diesem Band. Zu weiteren Beispielen vgl. Schmidt-Funke, Handfass und Hirschgeweih; dies., Städtische Wohnkulturen. 89 Vgl. Tlusty, B. Ann, Bacchus and Civic Order. The Culture of Drink in Early Modern Germany, Charlottes­ ville 2001. 90 Jancke, Gabriele, Gastfreundschaft in der frühneuzeitlichen Gesellschaft. Praktiken, Normen und Per­ spektiven von Gelehrten, Göttingen 2013, 365. 91 Vgl. Tlusty, Bacchus, 103–114. 92 Vgl. beispielsweise den Willkommhumpen der Frankfurter Trinkstubengesellschaft Alten-Limpurg bei Hansert, Andreas, Aus auffrichtiger Lieb vor Franckfurt. Patriziat im alten Frankfurt, Frankfurt a. M. 2000, 96. 93 Vgl. u. a. Labouvie, Eva, Andere Umstände. Eine Kulturgeschichte der Geburt, Köln/Weimar 1998, 203–210. 94 Vgl. Roche, Daniel, A History of Everyday Things. The Birth of Consumption in France, 1600–1800, Cambridge 2000, 236. 95 Vgl. Rudolph, Harriet, Fürstliche Gaben? Schenkakte als Elemente der politischen Kultur im Alten Reich, in: Häberlein, Mark/Jeggle, Christof (Hg.), Materielle Grundlagen der Diplomatie. Schenken, Sammeln und Verhandeln in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Konstanz 2012, 79–102, hier 92–93. 96 Vgl. Jancke, Gelehrte Gastlichkeit, 365–373.

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Bei dem Frankfurter Birnkrug lässt das auf Fruchtbarkeit und reiche Nachkommenschaft anspielende Sujet daran denken, dass er anlässlich einer Hochzeit verschenkt wurde. Er wird in der Literatur dementsprechend als Hochzeitskrug bezeichnet,97 auch wenn Auftraggeber, Besitzer und Anlass der Fertigung nicht bekannt sind. Das den Deckel zierende Monogramm, das von einer fünfzackigen Krone überwölbt wird (Abb. 6), könnte hierauf einen Hinweis geben; es ist bislang aber nicht identifiziert. Vergleichbare Stücke zeigen Wappen, Initialen und Jahreszahlen, welche die Objekte als Auftragswerke ausweisen.98 Erhalten hat sich beispielsweise ein Enghalskrug aus der Produktion der Frankfurter Manufaktur von 1693, der das Allianzwappen der Eheleute Johann Daniel Arcularius und Elisabeth Dorothea Melchior trägt.99 Zwei weitere mit Arcularius verbundene Erzeugnisse der Frankfurter Manufaktur sind außerdem bekannt: ein zweiter, ebenfalls auf 1693 datierter Krug sowie eine wiederum mit dem Allianzwappen dekorierte Platte aus dem Jahr 1686.100 Vielleicht stand Letztere in Verbindung mit einem zentralen biographischen Ereignis, denn der Theologe Arcularius war 1686 zum ranghöchsten lutherischen Prediger in Frankfurt in der unmittelbaren Nachfolge Philipp Jakob Speners berufen worden.101 Seine Frau Elisabeth Dorothea hatte er bereits 1678 geheiratet;102 auf die Heiratsverbindung der Familien Arcularius und Melchior verwies das Allianzwappen, welches die Fayencen zu Gegenständen machte, die in ein genealogisches Bezugssystem eingeordnet werden konnten. Ein Wappen ziert auch ein späteres Stück der Frankfurter Manufaktur: Aus dem Jahr 1722 stammt ein blau-weißer Halskrug von 39 cm Höhe, der das Wappen der Familie Grunelius zeigt. Die auf dem Krug angebrachten Initialen M.I.G. verweisen auf den Stammvater der Familie, den Pfarrer Magister Johann Grunelius, der das Wappen schuf.103 Unter Rückgriff auf Psalm 92, Vers 13 (»Der Gerechte wird grünen wie ein Palmbaum«) und den Ursprung seines latinisierten Familiennamens wählte er dafür als Motiv einen Palm

97 Der Frankfurter Birnkrug wird deshalb bei Bauer, Bürger, Fremde, Minderheiten, 118, auch ausdrücklich als Hochzeitskrug bezeichnet. 98 Vgl. dazu Bosch, Nürnberger Hausmaler, mit zahlreichen Beispielen aus dem Nürnberger Umfeld, z. B. einem Birnkrug mit dem Allianzwappen der Tucher und Imhof, um 1675/80 (ebd., 223). 99 Thau, Johann Balthasar, Enghalskrug mit Blumendekor und dem Allianzwappen der Eheleute Arcularius, Frankfurt a. M., 1693, Historisches Museum Frankfurt a. M. Vgl. Hüseler, Konrad, Deutsche Fayencen. Ein Handbuch der Fabriken, ihrer Meister und Werke, Bd. 1, Stuttgart 1956, 159. 100 Vgl. Feulner, Frankfurter Fayencen, 17. 101 Dr. Johann Daniel Arcularius aus Darmstadt, zum Senior berufen am 16.8.1686, gestorben am 31.12.1710. Vgl. Grabau, Richard, Das evangelisch-lutherische Predigerministerium der Stadt Frankfurt a. M., Frankfurt a. M. 1913, 170. 102 Vgl. Deutsches Biographisches Archiv, I 30, 260; 30, 268–275; III 21, 331. 103 Vgl. Grossmann, Otto, Die Erzeugnisse der Frankfurter Fayence-Fabrik, in: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst 29 (1910), 319–334, hier 325.

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baum.104 Mit dem Fayencekrug, der im häuslichen Umfeld verwendet und ausgestellt werden konnte, kam diese Traditionsstiftung zur Aufführung.105 Es war ein übliches – und weit über Adel und Patriziat hinaus verbreitetes – Verfahren, Häuser und Hausrat mit Wappen oder ähnlichen Zeichen zu versehen. Gegenstände, die in der Regel nachfolgenden Generationen vererbt wurden, konnten so zum Träger der familiären memoria werden. Ähnliches galt für Geschenke, welche der Schenkende mit seinem Wappen versehen hatte: Die im Gabentausch gestiftete Beziehung blieb auf diese Weise dauerhaft nachvollziehbar. Deshalb musste der Tübinger Medizinprofessor ­Leonhard Fuchs 1538 auch darüber klagen, dass das ihm vom preußischen Herzog verehrte Trinkgeschirr nicht das Wappen seines hochadligen Gönners trug: »Hetten auch meine kinder noch langer zeit mogen gedencken, das solch trinckgeschirr mir von E. F. G. were geschenckt worden.«106 Die solcherart ›aus-gezeichneten‹ Objekte besaßen eine Markierung, die sie von anderen Dingen abhob und die es wert war, in Inventaren exakt ›be-zeichnet‹ zu werden. ›­Aus-zeichnungen‹ bescherten den Gegenständen Langlebigkeit, und dies traf in besonderem Maß zu, wenn sie aus einem zerbrechlichen Material wie Keramik gefertigt waren. Wappen oder Jahreszahlen, welche auf Personen und ein für sie biographisch relevantes Geschehen verwiesen, entzogen idealerweise die mit ihnen gezeichneten Gegenstände der »Zirkulation des Gebrauchten«.107 Während sich jedoch notfalls ein wappengeschmückter Silberbecher unabhängig von seiner Funktion als Erinnerungsspeicher einschmelzen ließ, bestand diese Möglichkeit bei einer bemalten Fayence nicht. Die Praxis des ›Aus-zeichnens‹ generierte hier ein besonders hohes Maß an Dauerhaftigkeit.

104 Vgl. Klötzer, Wolfgang, Der Gerechte wird grünen wie ein Palmbaum. Die Frankfurter Familie Grunelius, Frankfurt a. M. 2007, 5–6. 105 Einen ähnlichen Fall vermutet Grossmann, Erzeugnisse, 333–334, auch für einen Teller mit dem Wappen der Familie Reineck, die mit dem Manufakturbetreiber Fehr verwandtschaftlich verbunden war. Möglicherweise entstand er anlässlich der Standeserhöhung des Weinhändlers, Hofrats und Agenten Friedrich Ludwig (von) Reineck im Jahr 1729. Auch ein kunstvoll durchbrochener Obstkorb mit dem Reineckschen Wappen hat sich erhalten. Vgl. Hüseler, Deutsche Fayencen, Bd. 1, 159. 106 Leonhard Fuchs an Herzog Albrecht von Preußen, 24.10.1538, zitiert nach Shevchenko, Nadezda, Eine historische Anthropologie des Buches. Bücher in der preußischen Herzogsfamilie zur Zeit der Reformation, Göttingen 2007, 175. 107 Vgl. Fontaine, Laurence, Die Zirkulation des Gebrauchten im vorindustriellen Europa, in: Ehmer, Josef/ Reith, Reinhold (Hg.), Märkte im vorindustriellen Europa, Berlin 2004, 39–52; Stöger, Georg, Sekundäre Märkte? Zum Wiener und Salzburger Gebrauchtwarenhandel im 17. und 18. Jahrhundert, Wien/München 2011; ders., Weiternutzen, [warum kursiv?] Reparieren, Wiederverwerten. Der »Umgang mit den Dingen« in der Vormoderne, in: Jakubowski-Tiessen, Manfred (Hg.), Von Amtsgärten und Vogelkojen. Beiträge zum Göttinger Umwelthistorischen Kolloquium 2011–2012, Göttingen 2014, 147–171.

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5. Ein serielles Einzelstück Der Frankfurter Birnkrug entstand in einer Werkstatt, die sich auf das zeittypische ›Aus-zeichnen‹ der Dinge spezialisiert hatte. Als Glas- und Fayencemaler übernahm Hermann Benckert nämlich lediglich die Bemalung der Gefäße, welche er zur weiteren Bearbeitung als Rohware bezog. Benckert bemalte die in der Fayencemanufaktur gebrannten und glasierten Krüge aufwendig mit Schwarzlot, Eisenrot und Purpur, um das Dekor dann bei niedriger Temperatur im sogenannten Muffelbrand einzubrennen. (In der Manufaktur wurde dagegen mit einem Unterglasurdekor gearbeitet.) In derselben Form dekorierte Benckert auch Gläser, beispielsweise drei Becher, die von der Nürnberger Familie Tucher bei ihm in Auftrag gegeben und von Benckert mit Veduten Tucherschen Landbesitzes verziert worden waren.108 Als Vorlage für die Dekore dienten zeitgenössische Kupferstiche, die versatzstückartig auf Keramiken und Gläsern zusammengefügt wurden,109 wobei mit den Motiven auch eine spezifisch graphische Ästhetik übernommen wurde.110 Benckert war also ein Spezialist für die Individualisierung seriell gefertigter Güter. In dieser Manier arbeiteten in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts mehrere Glas- und Fayencemaler, die unter der Bezeichnung Hausmaler zusammengefasst worden sind.111 Charakteristisch für ihre Tätigkeit war, dass sie Fayencemalerei nur als eine von mehreren Techniken betrieben. Wenn sie in das korporativ verfasste frühneuzeitliche Handwerk eingebunden waren, dann nicht als Fayencemaler, sondern als Goldschmiede oder Glas- und Emailmaler.112 Eingeführt wurde der Begriff des Hausmalers von Gustav E. Pazaurek, einem um die Wende zum 19. Jahrhundert tätigen Kunsthistoriker, der vor dem Hintergrund der Industrialisierung versuchte, die angewandten Künste im Sinne einer Materialgerechtigkeit zu normieren.113 Die von ihm vorgenommene Klassifizierung gründete darauf, die Hausmaler als selbstständig arbeitende Künstler von der Tätigkeit der in den Manufakturen beschäftigten Maler abzugrenzen, deren vermeintlich standardisierte Arbeit die ältere Kunstgeschichte als prinzipiell geringwertiger begriff. Während aus den signierten Stücken der Hausmaler eine Künstlerpersönlichkeit fassbar werde, sei bei den in der Manufaktur gefertigten Stücken der Einzelne hinter dem Gesamtunternehmen zurückgetreten.114

108 Vgl. Bott, Drei Gläser. 109 Vgl. ebd., 39. 110 Vgl. Gerritsen/Riello, Spaces of Global Interactions, 130; Schmidt-Funke, Eigene fremde Dinge, 537. 111 Vgl. Bosch, Nürnberger Hausmaler; Pazaurek, Deutsche Fayence- und Porzellan-Hausmaler. 112 Vgl. Bosch, Nürnberger Hausmaler, 11. 113 Vgl. Pazaurek, Gustav E., Guter und schlechter Geschmack im Kunstgewerbe, Stuttgart 1912. 114 Vgl. Bosch, Nürnberger Hausmaler, 11; Klein, Fayence, 896.

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Tatsächlich können die Grenzen zwischen den sogenannten Hausmalern und den in den Manufakturen tätigen Malern nicht so scharf gezogen werden, und vor allem für die Frühzeit deutscher Fayenceproduktion überzeugt eine strikte Trennung nicht.115 Dafür gibt es mehrere Gründe: Alle Fayence- und Porzellanmaler profitierten davon, dass das Dekor gegenüber der Form größeres Gewicht erhielt, weshalb auch die in der Manufaktur tätigen Maler ihre Schöpfungen signierten.116 Auch stellte Auftragsware nicht die alleinige Domäne der sogenannten Hausmaler dar, sondern wurde ebenso von den Manufakturen hergestellt. Die im Warenlager des Frankfurter Fayencefabrikanten Fehr nachgewiesenen Purpurkrüge sind wohl als solche Arbeiten anzunehmen.117 Überdies eignet sich die ›Originalität‹ der von den Hausmalern geschaffenen Werke kaum als Unterscheidungskriterium: Genauso wie die Unterglasurmalerei griff auch die Aufglasurmalerei auf ein festes Motivrepertoire zurück, das vielfach auf dem zeitgenössischen Kupferstich beruhte. So kann für Benckert nicht nur die wiederholte Verwendung des Ficus indica-Motivs, sondern beispielsweise auch die zweifache Nutzung des auf dem Frankfurter Krug dargestellten Paar-Motivs nachgewiesen werden.118 Die sogenannten Hausmaler schufen also nicht nur Einzelstücke, und das Fehlen von Wappen oder Inschriften auf zahlreichen Arbeiten lässt es durchaus wahrscheinlich erscheinen, dass auch sie seriell und auftragsungebunden fertigten.119 Zu denken geben in diesem Zusammenhang auch die oben schon erwähnten purpurfarben bemalten Krüge, die sich 1693 im Lager des Frankfurter Manufakturbetreibers Fehr befanden.120 Aus ihnen lässt sich ableiten, dass Fayencen mit Aufglasurmalerei im Stil der Hausmaler von der Manufaktur für den freien Verkauf produziert wurden. Die damit beauftragen Glas- und Emailmaler waren folglich nicht selbstständig tätig, und es ist bei dem Wenigen, was über einen Hausmaler wie Benckert an biographischen Details bekannt ist, keineswegs ausgeschlossen, dass auch er solche Aufträge annahm.121 Ein Konkurrenzverhältnis zwischen Hausmalern und Manufakturen scheint dagegen erst im fortgeschrittenen 18. Jahrhundert entstanden zu sein. Als die neugegründeten Porzellanmanufakturen den unautorisierten Verkauf ihrer ›Markenware‹ zu unterbinden 115 So auch Feulner, Frankfurter Fayencen, 63−69. 116 Vgl. Klein, Fayence, 896. 117 Vgl. Feulner, Frankfurter Fayencen, 63–65. 118 Benckert, Hermann, Becher mit Darstellung des Frühlings, Schwarzlot auf Glas, um 1681, Höhe 7,4 cm, Wien, Österreichisches Museum für Angewandte Kunst, Inventar-Nr. Gl 49. Vgl. dazu Bosch, Hausmaler, Nr. 144. 119 So auch Feulner, Frankfurter Fayencen, 69. Dagegen vertritt Bosch, Nürnberger Hausmaler, 11, die Auffassung: »Der Hausmaler war an seine Auftraggeber gebunden, Produktionsplan und Serienanfertigung waren unter diesen Umständen unmöglich.« 120 Vgl. Stahl, Die Frankfurter Fayencemanufaktur, 252. 121 Vgl. Feulner, Frankfurter Fayencen, 64.

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versuchten, griffen sie die Hausmaler als Pfuscher und Störer an.122 Dennoch hielt sich die Technik, Einzelstücke aus Glas oder Porzellan mit Aufglasurmalerei zu verzieren, bis ins 19. Jahrhundert. Sie erfuhr seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert eine neue Wertschätzung, als sie zur Fertigung von Porträttassen und Souvenirbechern – wie etwa bei der von Ludwig Sebbers 1826 mit einem Altersporträt Goethes bemalten Porzellantasse123 – eingesetzt wurde.124 Die individualisierten Keramiken und Gläser des Empire und Biedermeier, die von der Forschung oft als neuartig emotionalisierte Objekte wahrgenommen werden,125 können insofern als direkte Nachkommen des Frankfurter Birnkrugs angesehen werden. Die überformende ›Aus-Zeichnung‹ eines seriell gefertigten Gegenstands war ein Verfahren, das im 17. wie im 19. Jahrhundert eine individuelle Bedeutungsaufladung ermöglichte.

6. Resümee Den Frankfurter Fayencekrug als hybrides Objekt und ›aus-gezeichnetes‹ Ding zu analysieren, öffnet den Blick für die Aneignungsprozesse, die sich im frühneuzeitlichen Europa im Austausch mit Asien vollzogen, für die Vielschichtigkeit frühneuzeitlichen Konsums und für die Rolle der Dinge in Praktiken frühneuzeitlicher Vergemeinschaftung. Die mit dem Birnkrug verbundenen kommerziellen und technologischen Transfers zeigen die Entstehung von Gütern eines globalisierten Konsums auf, deren Produktion auf einem Zusammenspiel von handwerklich-kleinbetrieblicher Arbeit und Manufaktur basierte und die sich einer dichotomen Zuordnung von Einzelstück und Massengut, old und new luxury, Dauerhaftem und Unbeständigem entziehen. Dem entsprach eine materiale Hybridität: Durch Edelmetallmontierung und/oder Bemalung wurde eine seriell gefertigte Keramik zu einem Objekt gemacht, welchem eine besondere Wertschätzung zukam, weshalb es dauerhaft bewahrt und bis heute überliefert wurde. Eine zentrale Rolle kam dabei der Praxis des ›Aus-zeichnens‹ zu: Geziert wurde der Krug mit einem Motiv, das als allegorisches Amal122 Vgl. ebd., Bd. 1, 107–108, 175, Bd. 2, 277–279. Pazaurek führt dies am Beispiel von Meißen aus, wo seit den 1720er Jahren die außerhalb der Manufaktur erfolgende Aufglasurmalerei als Problem wahrgenommen wurde – nicht zuletzt, weil dem landesherrlichen Unternehmen damit wertvolle Einnahmen verloren gingen. Vgl. ebd., Bd. 2, 279, das deshalb ausgegangene Edikt von 1723. 123 Vgl. Schroeder, Susanne, Unbekannte Manufaktur. Glockentasse und Untertasse, in: Schuster, Gerhard/Gille, Caroline (Hg.), Wiederholte Spiegelungen. Weimarer Klassik 1759–1832, München/Wien 1999, 902–903; ferner Pazaurek, Fayence- und Porzellan-Hausmaler, Bd. 2, 448–449. 124 Vgl. Pazaurek, Fayence- und Porzellan-Hausmaler, Bd. 2, 417–418. 125 Vgl. Hinze, Kristina, Reise und Reiseandenken. Das Biedermeierglas als Andenkenglas, in: Fuchs, Carl-Ludwig/Himmelheber, Susanne (Hg.), Biedermeier in Heidelberg 1812–1853, Heidelberg 1999, 257–270; Stein, Laurie A., Eine Kultur der Harmonie und Erinnerung – die Transformation des Wohnraums im Biedermeier, in: Ottomeyer, Hans/Asenbaum, Paul (Hg.), Biedermeier. Die Erfindung der Einfachheit, Ostfildern 2006, 71–80, hier 76.

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gam in einem mehrstufigen Prozess der Wissensgenerierung und des Motivtransfers entstand. Dank dieses für Fruchtbarkeit und Verwandtschaft stehenden Motivs war der Krug in besonderem Maß dazu geeignet, als Gabe und Erinnerungsspeicher soziale Positionierungen vorzunehmen und im Rahmen des Umtrunks eine gemeinschaftsstiftende Wirkung zu entfalten. In methodischer Hinsicht stellt die kleinteilige, verschiedene Forschungsstränge und -disziplinen zusammenführende Analyse des Fayencekrugs ein Beispiel dafür dar, wie trotz des Fehlens einer dichten schriftlichen oder bildlichen Überlieferung eine Geschichte aus Dingen und über Dinge geschrieben werden kann, die immer (auch) eine Geschichte der mit den Dingen umgehenden Menschen ist.

Verbrauchsformen und Gebrauchsweisen

Löffelkulturen oder: Zur Beschäftigung mit ›Alltagsgegenständen‹ in der Frühen Neuzeit Elizabeth Harding

Nichts an den Verhaltensweisen bei Tisch ist schlechthin selbstverständlich, gleichsam als Produkt eines »natürlichen« Peinlichkeitsgefühls. Weder der Löffel, noch Gabel, oder Serviette werden einfach, wie ein technisches Gerät, mit klar erkennbarem Zweck und deutlicher Gebrauchsanweisung eines Tages von einem Einzelnen erfunden; sondern durch Jahrhunderte wird unmittelbar im gesellschaftlichen Verkehr und Gebrauch allmählich ihre Funktion umgrenzt, ihre Funktion gesucht und gefestigt.1 Dass die Geschichte der Tischsitten in den historischen Forschungen (und darüber hinaus) als ein gesellschaftlicher Konstruktionsprozess betrachtet wird, geht auf den Soziologen Nobert Elias (1897–1990) zurück, der mit prägnanten Worten bereits in den 1960er Jahren auf vieles von dem, was heute als methodisch-theoretische Grundlagen der ›kulturellen Wende‹ in den Geisteswissenschaften gesehen wird, hinwies. Die Entwicklung des europäischen Mahlhaltens vom Mittelalter bis in die Moderne ist dank der Anstöße, die Elias’ Arbeit gegeben hat, entsprechend gut erforscht, auch und gerade aufgrund des durchaus berechtigten Widerspruchs, den Elias’ Umgang mit dem Quellenmaterial und einige seiner Thesen im Detail hervorriefen.2 Objektgeschichten der frühneuzeitlichen Tafel interessieren die Kunstgeschichte, die die Formenvielfalt der zum Mahlhalten gehörenden Gegenstände in den Blick genommen hat.3 In der Geschichtswissenschaft gehören sie hingegen nicht zu den Themenfeldern, mit denen man sich intensiv beschäftigt. Dieses geringe Interesse für die Dinge des 1

Elias, Norbert, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Bd. 1: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes, Frankfurt a. M. 1997, 235–236. 2 Vgl. Schwerhoff, Gerd, Zivilisationsprozeß und Geschichtswissenschaft. Norbert Elias’ Forschungsparadigma in historischer Sicht, in: Historische Zeitschrift 266 (1998), 561–605; aus der neueren Literatur auch Opitz, Claudia (Hg.), Höfische Gesellschaft und Zivilisationsprozeß. Norbert Elias’ Werk in kulturwissenschaftlicher Perspektive, Köln 2005; Horowski, Leonhard, Hof und Absolutismus: Was bleibt von Norbert Elias’ Theorie?, in: Schilling, Lothar (Hg.), Absolutismus, ein unersetzliches Forschungskonzept? Eine deutsch-französische Bilanz, München 2008, 143–171. 3 Vgl. aus der Fülle an Sammlungskatalogen: Amme, Jochen, Historische Bestecke, 3 Bde. (Bd. 1: Von der Altsteinzeit bis zur Moderne; Bd. 2: Supplement zu Amme 2002; Bd. 3: Von der Frühzeit bis in die Zeit um 1600), Stuttgart 2002–2012; Schmuttermeier, Elisabeth (Bearb.), Metall für den Gaumen. Bestecke aus den Sammlungen des Österreichischen Museums für angewandte Kunst, Wien 1990; Messer – Gabel – Löffel,

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Mahls und der Tischsitte ist insofern bemerkenswert, als Elias mit seinem Hinweis darauf, dass man Essutensilien nicht als gegeben betrachten solle, sondern die Forschung nach der P ­ raxis – nach dem ›Gebrauch‹ – und den Deutungsweisen zu fragen habe, den Weg für eine Beschäftigung damit vorgezeichnet hat.4 Daran anknüpfend nimmt der vorliegende Beitrag die Dinge des Mahlhaltens in den Blick und folgt damit einer Herangehensweise, die im Sinne des neu erwachten Interesses an den Objekten danach fragt, welche Bedeutung und welchen Stellenwert ein Gegenstand in einem Handlungszusammenhang hatte und in welcher Form seine Materialität die Ausgestaltung von Handlungen bedingte.5 Konkret soll dies am Beispiel von Löffeln geschehen und somit anhand einer Objektgattung, die seit dem Credo des Architekturhistorikers Sigfried Giedion (1888–1968) »Auch in einem Kaffeelöffel spiegelt sich die Sonne« in den Wissenschaften für Ausformungen des Alltäglichen steht.6 Die Zuordnung des Löffels zur Sphäre des Alltäglichen ist allerdings problematisch, wie sich im Hinblick auf die große künstlerische Vielfalt der Formen und Materialien von Löffeln zeigt – erkennbar etwa an dem in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel als Seltenheit verwahrten sogenannten Luther-Löffel (Abb. 1). Dieses Stück gelangte bereits in der Frühen Neuzeit in die Sammlung des fürstlich braunschweig-wolfenbüttelschen Hauses. Auch wenn seine konkreten Überlieferungswege sowie die Kontexte seiner Nutzung weitgehend unbekannt sind, ist sicher, dass er in hg. im Auftrag des Dezernats für Kultur und Freizeit, Frankfurt a. M., vom Museum für Kunsthandwerk, Frankfurt a. M. 1995; Laue, Georg (Hg.), Kostbare Bestecke für die Kunstkammern Europas, München 2010. 4 Zu diesem Plädoyer vgl. bereits Korff, Gottfried, »Inkarnat der Seele?« Zehn Anmerkungen zur Materialität der Medialität in Norbert Elias’ Zivilisationstheorie, in: Stollberg-Rilinger, Barbara/Weißbrich, Thomas (Hg.), Die Bildlichkeit symbolischer Akte, Münster 2010, 37–53. 5 Vgl. Reckwitz, Andreas, Die Materialisierung der Kultur, in: Elias, Friederike (Hg.), Praxeologie. Beiträge zur interdisziplinären Reichweite praxistheoretischer Ansätze in den Geisteswissenschaften, Berlin 2014, 13–25; ders., Der Ort des Materiellen in den Kulturtheorien. Von sozialen Strukturen zu Artefakten, in: ders., Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie, Bielefeld 2008, 131–156. Allgemein auch Hahn, Hans Peter/Eggert, Manfred K. H./Samida, Stefanie, Einleitung. Materielle Kultur in den Kulturund Sozialwissenschaften, in: Samida, Stefanie/Eggert, Manfred K. H./Hahn, Hans Peter (Hg.), Handbuch Materielle Kultur. Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen, Stuttgart 2014, 1–12; stärker in Bezug auf die Vormoderne bzw. Frühe Neuzeit: Daston, Lorraine (Hg.), Things that Talk. Object Lessons from Art and Science, New York 2004; Hahn, Hans Peter, Konsumlogik und Eigensinn der Dinge, in: Drügh, Heinz/Metz, Christian/Weyand, Björn (Hg.), Warenästhetik. Neue Perspektiven auf Konsum, Kultur und Kunst, Frankfurt a. M. 2011, 92–110; Siebenhüner, Kim, Things that Matter. Zur Geschichte der materiellen Kultur in der Frühneuzeitforschung, in: Zeitschrift für Historische Forschung 42 (2015), 373–409; Füssel, Marian, Die Materialität der Frühen Neuzeit. Neuere Forschungen zur Geschichte der materiellen Kultur, in: ebd., 433–463. 6 Vgl. Giedion, Sigfried, Die Herrschaft der Mechanisierung. Ein Beitrag zur anonymen Geschichte, Frankfurt a. M. 1982 (urspr. Oxford 1948); hierzu auch Rolshoven, Johanna, Der Frauenschrank. Versuch über den Kaffeelöffel, in dem sich die Sonne spiegelt, in: van Elsbergen, Antje/Engelhardt, Franziska/Stiefbold, Simone (Hg.), Ansichten – Einsichten – Absichten. Beiträge aus der Marburger Kulturwissenschaft, Marburg 2010, 17–33.

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der herzoglichen Kunstsammlung als »Rarität von Luthero« ausgestellt und Besuchern des Hofes gezeigt wurde.7 Der Stiel des 15,5 cm langen, streckenweise feuervergoldeten Silberlöffels besteht aus einem gedrehten Zwischenteil zwischen einem rechteckigen, mit kreuzenden Gravurstrichen versehenen unteren Teil und einem kugelförmigen, aufgesetzten Stielabschluss. In der Laffe, 5,3 cm breit und floral graviert, befinden sich in einem kreisförmigen Rahmen die Buchstaben M.L. und ein Monogramm, das noch nicht aufgelöst ist; um diese Gravur gruppieren sich Inschrift und Datumszeile.8 Die Datumszeile in der Laffe ist nur schwer zu erkennen. Der Reisende Zacharias Conrad von Uffenbach (1683–1734) las die Datierung im Jahr 1710 als 1557, was auf das Wormser Religionsgespräch verweisen könnte.9 Eher unwahrscheinlich ist, dass dort – wie im 19. Jahrhundert behauptet – 1537 steht, was die Entstehungsgeschichte des Löffels in die Lebzeiten Martin Luthers (1483–1546) verlängern würde.10 Dass bei der Beschreibung aller­dings auf das Datum eingegangen wird, verweist auf die Bedeutung dieser Frage für die Authentizität des Löffels als ›Luther-Löffel‹. Welche Autorisierungsstrategien Sammler solcher »Reliquien« wählten und wie diese rezipiert wurden, wäre weitere Forschungen wert.

1. Annäherungen an frühneuzeitliche ›Alltagsgegenstände‹: Fragestellung und Methode ›Alltagsgegenstände‹, ›Alltagsdinge‹, ›things with dirt on them‹ – in diese wenig definierte Kategorie fallen gemeinhin alle Gegenstände, die »hergestellt werden und einen Gebrauchszweck haben, auch wenn die Beziehung zwischen Menschen und Dingen in der Zweckorientierung nicht aufgeht«.11 Es sind folglich Objekte, die – obgleich meist durch Menschenhand geschaffen, planvoll durchdacht und mitunter technisch 7 Erwähnt 1710 etwa bei Uffenbach, Zacharias Conrad von, Herrn Zacharias Conrad von Uffenbach Merkwürdige Reisen durch Niedersachsen, Holland und Engelland, hg. v. Johann Georg Schelhorn, Bd. 1, Ulm/ Memmingen 1753, 535. 8 Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Kulturgeschichtliche Sammlung, 2; ausführlich zu diesem zuletzt Harding, Elizabeth, Luthers Löffel, in: Rößler, Hole (Hg.), Luthermania. Ansichten einer Kultfigur, Wiesbaden 2017 (Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek 99), 134–135. Mit (vermutlich) falschem Datum wird der Löffel auch beschrieben in: So genannter Lutherlöffel, in: Meller, Harald (Hg.), Fundsache Luther. Archäologen auf den Spuren des Reformators (Begleitband zur Landesausstellung »Fundsache Luther – Archäologen auf den Spuren des Reformators« im Landesmuseum für Vorgeschichte Halle a. d. S. 31. Okt. 2008–26. April 2009), Stuttgart 2008, 322. 9 Vgl. von Uffenbach, Reisen, 535. 10 Vgl. Carl Philipp Christian Schönemann, Hundert Merkwürdigkeiten der herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel. Für Freunde derselben aufgezeichnet von C. P. C. Schönemann, Hannover 1849, 70. 11 König, Gudrun M., Dinge zeigen, in: dies. (Hg.), Alltagsdinge. Erkundungen der materiellen Kultur, Tübingen 2005, 9–28, hier 10; zur Definition auch Mohrmann, Ruth-E., Können Dinge sprechen?, in: Rheinisch-Westfälische Zeitschrift für Volkskunde 56 (2011), 9–24.

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Abb. 1a–1b: Sogenannter L ­ uther-Löffel, 16. Jahrhundert, Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, V ­ order- und Rückseite.

komplex – ohne weitere Erläuterung im Hinblick auf die Funktion zu verstehen und zu gebrauchen sind, also gewissermaßen von allein funktionieren. Versucht man die Begriffsverwendung bei aller Vielfalt zu systematisieren, so wird in der Regel auf eine

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allgemeine Zugänglichkeit, eine leichte bzw. bekannte Handhabung und einen hohen Grad an Ge- und Verbrauchbarkeit abgehoben. Bei genauerem Hinsehen sind dies – wie im Weiteren von Bedeutung sein wird – relative Kategorien, durch welche das Ding in Bezug zu anderen gedeutet wird. Es tun sich allerdings, wie angedeutet, aus Sicht der Frühneuzeitforschung etliche Probleme bei der Beschäftigung mit ›Alltagsgegenständen‹ auf: Zum einen ergeben sich Probleme aus der Fokussierung auf die historischen Dinge, deren Erforschung noch am Anfang steht. Dies wird etwa erkennbar an der wenig zufriedenstellenden Forschungslage zu frühneuzeitlichen Objektgeschichten, bei denen man es oft mit einer älteren Sittenund Kulturgeschichte zu tun hat. Ferner erschwert die Überlieferungslage die Analyse der materiellen Kultur. Dies gilt auch für wenig ›alltägliche‹ Dinge, wie den silbernen Luther-­ Löffel, der immerhin in einer fürstlichen Sammlung verwahrt wurde, bereits zeitgenössisch große Aufmerksamkeit auf sich zog und in dessen Kontext trotzdem kaum schriftliche Quellenspuren zu den Sammlungs- und Nutzungspraktiken überliefert sind. Hinzu kommt, dass trotz archäologischer Forschungen eine Vielzahl dieser Dinge – auch und vor allem solcher ›things with dirt on them‹ – heute nicht mehr existiert. Viele Objekte sind nicht mehr erhalten, weil sich die Moden veränderten und die Stücke ausgedient hatten, weil sie aus vergänglichen, organischen Stoffen hergestellt waren oder weil ihr Material zur Herstellung anderer Gegenstände verwendet wurde. Entsprechend sind heute vor allem solche historischen Dinge überliefert, die, wie der Luther-Löffel, dauerhaft aus der Nutzung und Objektzirkulation, also Verkauf, Verpfändung, Schenkung und Erbe, herausgenommen worden waren und die man als Zimelien, als emotional oder ökonomisch wertvoll angesehene Güter, sammelte und verwahrte. Es ist daher kaum mehr möglich, die Tischsitten der unterschiedlichen frühneuzeitlichen Standesgruppen anhand originaler Sachüberreste zu rekonstruieren. Außerdem neigen heutige Ausstellungen dazu, Geschichte eher anhand künstlerisch hochwertiger Gegenstände zu erzählen, anstatt mittels ge- und daher verbrauchter Objekte ein ausgewogeneres Bild zu zeichnen. Der Blick auf die Vielfalt historischer Dingkulturen bzw. auf die hier interessierenden ›Löffelkulturen‹ ist daher nicht zuletzt auch deshalb verengt, weil museale Präsentationen dies tendenziell unterstützen. Zum anderen erweist sich aus Sicht der Frühneuzeitforschung die Beschäftigung mit den konkreten Gegenständen des ›Alltags‹ als problematisch, da mehrere der oben als typisch genannten Merkmale von ›Alltagsgegenständen‹ in dieser Zeit so nicht oder nur bedingt zutreffen. Das betrifft erstens die Verfügbarkeit von Dingen und hier insbesondere das Angebot und die Verbreitung von haushaltsnahen Objekten bzw. Haushaltsgegenständen in der Zeit vor 1800. Wenngleich in der Forschung durchaus strittig ist, wann, wo und wie es zu einem rasanten Anstieg an Konsumgütern, zu einer consumer revolution, kam, so herrscht doch gewisse Einigkeit darüber, dass die Vormoderne eine dingärmere Zeit als spä-

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tere Epochen war.12 Die Übertragung des ›Alltags‹-Begriffs auf die frühneuzeitliche Objektund Konsumgeschichte stößt zweitens an Grenzen, wo es um die Stellung von Dingen in der Anwesenheitsgesellschaft der Frühen Neuzeit geht, in der sich eine spezifische ObjektMensch-Beziehung beobachten lässt und den Dingen eine größere Eigenständigkeit als wirkmächtige Subjekte zugesprochen wurde. Was irdische Objekte den Menschen ›sagten‹, war relevant für das Verstehen der himmlischen Welt und der göttlichen Ordnung. Damit verknüpft und darüber hinausweisend diskutierte auch eine elaborierte zeitgenössische Zeichentheorie, inwiefern die Dinge und ihre spezifische Materialität, vermittelt über die Sinne, auf die Menschen wirkten.13 Für frühneuzeitliche ›Alltagsobjekte‹ bedeutet dies, dass sie eine über ihre instrumentelle Funktion weit hinausgehende Bedeutung besitzen konnten. Ist der Begriff ›Alltagsgegenstand‹ für die Frühe Neuzeit also durchaus problembehaftet, so kann die kritische Auseinandersetzung mit ihm zugleich zu einem erkenntnisfördernden Perspektivwechsel führen. Dabei kann es nicht um eine enggeführte Begriffsbestimmung oder Essenzialisierung des Gegenstands gehen, also nicht um die Frage, was einen frühneuzeitlichen ›Alltagsgegenstand‹ im engsten Sinne des Wortes ausmacht. Ein solcher Definitionsversuch führt schon mangels eines klar zu umreißenden frühneuzeitlichen ›Alltags‹ nicht weiter. Vielmehr soll hier eine methodische Herangehensweise vorgeschlagen werden, die mittels der Fokussierung auf die Zugänglichkeit, die Handhabung und die Verbrauchbarkeit – auch und vor allem im Bezug zu anderen Dingen – stärker vom Objekt ausgeht und sein durch Stofflichkeit und Beschaffenheit vorgegebenes Handlungs- und Deutungspotenzial herausarbeitet. Dabei ist das Ziel dieses Beitrags ein zweifaches: Es sollen zum einen die unterschiedlichen Funktionen, die der Löffel in bestimmten Handlungen in der Frühen Neuzeit übernehmen konnte, deutlich werden, und zum anderen, und damit verknüpft, neue Perspektiven für eine Beschäftigung mit frühneuzeitlichen ›Alltagsgegenständen‹ eröffnet werden.

12 Vgl. de Vries, Jan, Between Purchasing Power and the World of Good: Understanding the Household Economy in Early Modern Europe, in: John Brewer/Roy Porter (Hg.), Consumption and the World of Goods, London 1993, 85–132; ders., The Industrial Revolution and the Industrious Revolution, in: The Journal of Economic History 54 (1994), 249–270; ders., The Industrious Revolution. Consumer Behavior and the Houshold Economy, 1650 to the Present, Cambridge/New York 2008; als Antwort: Ogilvie, Sheilagh, Consumption, Social Capital, and the »Industrious Revolution« in Early Modern Germany, in: The Journal of Economic History 70 (2010), 287–325. 13 Vgl. Daston, Lorraine, Speechless, in: dies. (Hg.), Things that Talk (Anm. 5), 9–24, 375–377; de Boer, Wietse/ Göttler, Christine (Hg.), Religion and the Senses in Early Modern Europe, Leiden 2013. Hierzu auch der Beitrag von Berit Wagner in diesem Band. Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive und mit Blick auf spiritualistische Strömungen: Trepp, Anne-Charlott, Im ›Buch der Natur‹ lesen: Natur und Religion im Zeitalter der Konfessionalisierung und des Dreißigjährigen Krieges, in: dies./Lehmann, Hartmut (Hg.), Antike Weisheit und kulturelle Praxis. Hermetismus in der Frühen Neuzeit, Göttingen 2001, 103–143.

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2. Formen und Materialien Wie bedenklich es ist, den Löffel als einen sich selbst erklärenden ›Alltagsgegenstand‹ zu kategorisieren, zeigt sich nicht zuletzt an der Variation seiner Formen: So entsprach der Löffelstiel zunächst in der Länge der Laffe, streckte sich aber seit etwa 1500 zusehends; der Luther-Löffel hat noch diese ältere Form mit Laffe und Stiel in nahezu gleicher Länge. Die Verlängerung des Stiels erlaubte eine veränderte Handhabung. Denn der Löffel wurde nun nicht mehr mit der ganzen Hand umschlossen, sondern eher mit einigen wenigen Fingern zum Mund geführt. Damit konnte die Handhabung auch einen höheren Grad an (selbst-disziplinierender) Kultiviertheit erreichen, da der längere Stiel Distanz zur gelöffelten Speise schuf und somit einen Schutz vor Verschmutzung bot. Eine ähnliche Entwicklung durchlief die Laffe, die zunächst, wie beim Luther-Löffel zu sehen, beinahe kreisrund und vergleichsweise tief war; diese Form erinnert sehr an eine Schüssel und hat sich vermutlich daraus entwickelt. Aufgrund der Größe der Laffe nahm man solche Löffel sicherlich nicht komplett in den Mund. Mit ihnen ließ sich zwar, im Gegensatz zur Schüssel, nicht so viel Nahrung aufnehmen und verwahren, wie man für eine komplette Mahlzeit benötigte. Dennoch fasste die Laffe deutlich mehr als nur einen einzelnen Schluck Suppe oder einen Happen festerer Nahrung. Im weiteren Verlauf der Frühen Neuzeit setzte sich gegenüber der schüsselförmigen Laffe eine ovale Form durch, die sowohl mundgerechter war als auch weniger Essen befördern konnte, womit sie dem Bedürfnis nach einer Verfeinerung der Tischsitten entsprach.14 Materialien, aus denen Löffel üblicherweise hergestellt wurden, waren Holz, Zinn und Blech sowie – unter den kostbareren Materialien – Silber, zu sehen etwa am Luther-­ Löffel. Dabei lässt sich hinsichtlich der Verbreitung kaum ermessen, in welchem Verhältnis höherwertige zu einfacheren Materialien standen, da entsprechende Quellen – das sind vor allem Inventare – die wertärmeren hölzernen oder zinnernen Löffel seltener als die hochwertigen Objekte aus Edelmetallen verzeichnen. Entsprechend sollte der Befund, dass etwa in Inventaren des 16. und 17. Jahrhunderts aus der Stadt Braunschweig von fast 3500 Löffeln die Hälfte aus Silber hergestellt war,15 nicht mit einer realen Streuung ver14 Einen Überblick hierzu bieten Schmuttermeier (Bearb.), Metall; Hoos, Hildegard, Messer – Gabel – Löffel (I. Kulturhistorischer Überblick, II. Formale Gestaltung des Eßgeräts [15.–19. Jahrhundert]), in: Messer – Gabel – Löffel, 9–36; Amme, Jochen, Einleitung, in: ders., Historische Bestecke, Bd. 1: Von der Altsteinzeit bis zur Moderne, 7–29; Spenlé, Virginie, Prunkbestecke aus Renaissance und Barock. Höfische Tischsitten im Spiegel der fürstlichen Kunst- und Wunderkammern, in: Laue (Hg.), Kostbare Bestecke, 28–43. 15 Vgl. Mohrmann, Ruth-E., Alltagswelt im Land Braunschweig. Städtische und ländliche Wohnkultur vom 16. bis zum frühen 20. Jahrhundert, Bd. 2, Münster 1990, 669.

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wechselt werden.16 Vielmehr ist davon auszugehen, dass der Anteil an Zinngeschirr und Holzlöffeln wesentlich größer war, sich aber einer genauen Bestimmung entzieht. Das verwendete Material bzw. die häufig anzutreffende Zusammensetzung von ­Substanzen, etwa die Verbindung von Holz- und Silberbestandteilen, war keineswegs beliebig, weshalb die Materialanalyse von Löffeln ganz unterschiedliche Forschungskontexte berührt. Sie waren als Artificialia, das heißt als rare, kostbare und künstlerisch aufwendig gearbeitete Sammlungsobjekte, an denen man die Fähigkeiten menschlichen (handwerklichen) Schaffens maß, in höfischen und gehobenen stadtbürgerlichen Kunstund Wunderkammern vorhanden. Das Inventar der sächsisch-kurfürstlichen Kammer von 1640 etwa nennt »allerley Trinckgeschirr, auch Meßer, Löffel vnd gaben von Perlmutter Schnecken, in vergüld silber gefast« sowie »24 Löffel von sprenglichten Meerschnecke [Tigerschnecke] in silber eingefastet und vergüldet, die Stühle daran krumb welche oben von anderer orthe Schnecken seind«.17 Dementsprechend vertrat der bekannte Kunstagent Philipp Hainhofer (1578–1647) die Auffassung, eine vollständige Kunstkammer komme nicht ohne Bestecke aus, und dass er damit auch den Löffel meinte, geht aus seiner eigenen Herstellungs- und Sammlungspraxis hervor: Löffel befanden sich etwa in dem von ihm ausgestatteten Pommerschen Kunstschrank.18 Daneben berührt eine Materialgeschichte des Löffels Wissens- und Wissenschaftsdiskurse von der historischen Diätetik bis hin zur Magie-, Medizin- und Pharmaziegeschichte. Verdeutlicht sei dies am Beispiel eines weiteren Martin Luther zugeschriebenen Löffels, den er der Erzählung nach auf Reisen nutzte und später seinem Weggefährten Kaspar Adler, genannt Aquila (1488–1560), überließ (Abb. 2).19 Dieses Stück diente im Verbund mit der Nahrungsaufnahme in einem sehr weiten, in Vorstellungen vom Überirdischen hineinreichenden Sinne der Gesundheitssicherung, denn seine Laffe war mit »Einhorn« versehen, was vor einer Fülle von Erkrankungen schützen sollte. Spätestens im frühen 19. Jahrhundert meinten Lutherkenner, diese Substanz als Elchhufe identifizieren zu können. Eine Art Bisamapfel, also ein hohler Behälter, aus dem weitere Substanzen, etwa zum Würzen oder Unschädlichmachen des Essens 16 Hierzu ebenfalls für Braunschweig bereits: Spies, Gerd, Braunschweiger Goldschmiede, Bd. 1: Geschichte, München/Berlin 1996, 142. 17 Vgl. Spenlé, Prunkbestecke, 30; auch Emmendörffer, Christoph/Trepesch, Christof (Hg.), Wunderwelt. Der Pommersche Kunstschrank (Katalog zur Ausstellung im Maximilianmuseum Augsburg, 28. März–29. Juni 2014), Berlin 2014. 18 Vgl. Lessing, Julius/Brüning, Adolf (Hg.), Der Pommersche Kunstschrank, Berlin 1905 (Abdruck von P. Hainhofers Sammlungsprinzip). Dazu auch Mundt, Barbara, Der Pommersche Kunstschrank des Augsburger Unternehmers Philipp Hainhofer für den gelehrten Herzog Philipp II. von Pommern, München 2009; Emmendörffer/Trepesch (Hg.), Wunderwelt. 19 Löffel zum Einschlagen, Luthers Reiselöffel, Dauerleihgabe der Stadt Eisenach an die Wartburg nach Abfindung des Großherzoglichen Hauses (um 2004), online verfügbar unter: https://thue.museum-digital. de/index.php?t=objekt&oges=1257, letzter Zugriff: 01.06.2019.

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Abb. 2: Löffel zum Einschlagen, Luthers Reiselöffel, Wartburg-­Stiftung Eisenach.

entnommen werden konnten, unterstreicht die Funktion des Löffels als vielseitiges, apotropäisches Utensil.20 Neben »Einhorn« wurde auch Jaspis (Heliotrop) für die Herstellung übelabweisender Löffel verwendet, da dieser Edelstein unter anderem als blutstillendes Heilmittel galt.21 Löffel mit Koralle und Serpentin wurden zudem für Giftproben verwendet, weil diesen Materialien eine schützende Wirkung nachgesagt wurde.22 Während bei vielen solcher kostbaren Objekte unklar ist, ob sie über das Ausstellen und Präsentieren hinaus verwendet wurden und mit Speisen oder Arzneien in Berührung kamen – ein Problem, das die frühneuzeitliche Objektforschung aus vielen Kontexten kennt

20 Vgl. Luther-Löffel, in: Amme, Jochen (Bearb.), Bestecke: Die Egloffstein’sche Sammlung (15.–18. Jahrhundert) auf der Wartburg, Stuttgart 1994, 37; Reiselöffel Luthers, in: Meller, Fundsache Luther, 320–321. Aus der älteren Literatur: Dr. Martin Luther’s Reiselöffel, in: Curiositäten der physisch-literarisch-artistisch-historischen Vor- und Mitwelt: zur angenehmen Unterhaltung für gebildete Leser, hg. von Christian August Vulpius, 10 Bde., Weimar 1811–1825, Bd. 2 [1812], IV. Stück, 319–322; Effner, Anton Theodor, Dr. Martin Luther und seine Zeitgenossen dargestellt in einer Reihe karakterisirender Züge und Anekdoten zur würdigen Feyer des IIIten Jahrhunderts der Reformation, Bd. 1, Augsburg 1817, 214–216. 21 Vgl. Höfisches Jaspisbesteck, in: Laue (Hg.), Kostbare Bestecke, 195. 22 Vgl. Spenlé, Prunkbestecke, 31; Hoos, Messer – Gabel – Löffel, 26.

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und das an anderer Stelle noch weiter diskutiert wird23 – weist ein aus Rhinozeroshorn gefertigter Löffel des 17. Jahrhunderts Gebrauchsspuren auf. Aufgrund der dem Material zugeschriebenen Heilwirkung bei Vergiftungen wurde er offenbar zur Verarbeitung pharmazeutischer Substanzen verwendet.24 Das Interesse für Löffel reichte bis in die allgemeine Ratgeberliteratur, konkret die Hausväterliteratur, hinein – also jene häufig deutschsprachige, populäre und sehr verbreitete Literaturgattung, die über das richtige Führen eines gottgefälligen Haushalts informierte. So riet etwa Franz Philipp Florin (1649–1699) unter dem Abschnitt »Von der Kochung der Fische, absonderlich aber von Hechten, Karpffen und Forellen« bei der Zubereitung einer Brühe zur Verwendung eines eisernen Löffels, wahrscheinlich weil im Rezept die Zugabe von Essig vorgesehen war und diese sauer-ätzende Zutat andere Materialien angegriffen hätte.25 Bei der Herstellung eines Tortengusses aus Zucker und »Rosenwasser« in einer Zinnschüssel warnte er vor der Verwendung eines Silberlöffels, weil dieser – vermutlich aufgrund der im Tortenguss enthaltenen Stoffe – »ganz schwarzlicht davon wird«.26 Die Gründe für die Empfehlung und Verwendung bestimmter Löffelmaterialien waren nicht immer so naheliegend wie in diesen Fällen, sondern werden oft nur mithilfe jener Eigenschaften verständlich, die den Materialien in zeitgenössischen Wissensordnungen zugewiesen wurden. Wohl auch deshalb steht eine Erforschung der (Be-)Deutungen des frühneuzeitlichen Löffels und seiner Materialien noch am Anfang, trotz der vielfältigen Anknüpfungspunkte an und trotz seiner Relevanz für unterschiedliche Wissens- und Wissenschaftsdiskurse.

3. Mobilität des ›Alltagsgegenstands‹: Löffel als vielseitige Währung Zu den Kennzeichen der frühneuzeitlichen Ökonomie gehört, dass neben Geld und Kredit auch ›Alltagsgegenstände‹ als Bezahlung für Waren oder Dienstleistungen dienen konnten, wozu sie sich auch aufgrund ihrer leichten Benutzbarkeit und Handhabung eigneten. Als Hintergrund hierfür sind einerseits eine generelle Münzknappheit und der Münzwert­verfall zu sehen sowie andererseits die Bereitschaft bzw. die Notwendigkeit vieler Beteiligter, flexibel mit allen verfügbaren Ressourcen zu wirtschaften. Die Forschung hat vielfach herausgearbeitet, dass das Wirtschaften mit den ›Alltagsdingen‹, Kreditpraktiken, die Herstellung von Nah23 Zum Quellenproblem bei der Beschäftigung mit Löffeln aus ethnologischer Sicht auch Carter, Sarah Anne, A Carved Spoon: Pointing a Finger, in: Laurel Thatcher, Ulrich/Gaskell, Ivan/Schechner, Sara J./Carter, Sarah Anne (Hg.), Tangible Things. Making History Through Objects, Oxford 2015, 93–97. 24 Vgl. Rhinozeros-Löffel eines Apothekers, in: Laue (Hg.), Kostbare Bestecke, 207. 25 Vgl. Florin, Franz Philipp, Oeconomus prudens et legalis. Oder allgemeiner Klug- und Rechts-verständiger Haus-Vatter, bestehend in neun Büchern/mit rechtlichen Anmerckungen auf allerhand vorfallende Begebenheiten versehen durch Johann Christoph Donauern, Nürnberg/Frankfurt a. M./Leipzig 1705, 157. 26 Ebd., 175.

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rung und Kleidung für den Selbstgebrauch und das Agieren in lokalen Netzwerken zur komplexen Überlebensstrategie insbesondere derjenigen gehörten, die unter prekären Existenzbedingungen lebten, und hat dies subsumiert unter dem Label »economy of makeshifts«.27 Allerdings ist diese Form der Objekttransaktion nicht nur im Sinne eines Ersatzes, Notbehelfs oder »make shift« zu verstehen, vielmehr verdeckt der Begriff die vielfältigen Funktionen, die Objekte innerhalb von Tauschpraktiken übernehmen konnten.28 Denn der transferierte Gegenstand war mit Sinn (zu) versehen und die (möglicherweise divergierenden) Bedeutungszuweisungen mussten kommunikativ abgeglichen werden. Tatsächlich gab es etliche Situationen, in denen mehrere Interpretationen möglich waren: als materieller Ersatz für einen geforderten Geldpreis oder als freiwillige Gabe, als anerkannte Spende oder als unzulässige Bestechung.29 Es ging also um ein grundsätzliches Austarieren des materiellen und immateriellen Werts, den man dem Gegenstand beimaß. Dies gilt auch für Löffel, die als Essutensilien nicht zuletzt deshalb sehr verbreitet waren, weil sie in unterschiedlicher Weise als Handelsware bzw. Tauschobjekte – im Wechsel für materielle wie immaterielle Güter – eingesetzt werden konnten. Man findet sie nicht nur als geldlose Zahlungsmittel, sondern auch als Geschenke, bei denen Löffel im Sinne einer komplexen »Schenkökonomie« soziale Nähe und zu einem gewissen Grad Verpflichtungen stifteten. Verschenken kann man bekanntlich vieles, es sind aber gerade die kleinen, leicht transportablen Dinge, die sich, wie der Löffel, der Becher oder das Buch, als Gabe eignen. Löffel wurden etwa als »beziehungsstiftende Währung« bzw. als Form der Gunsterweisung für geleistete Dienste verschenkt.30 Vor diesem Hintergrund wird auch der Transfer von Luthers Reise-Löffel zu dessen Weggefährten in der Literatur als Geschenkpraxis gedeutet, da dieser dem Reformator bei Übersetzungsarbeiten geholfen hatte.31 Tatsächlich wäre 27 Der Begriff geht zurück auf Hufton, Olwen H., The Poor of Eighteenth-Century France 1750–1789, Oxford 1974. Zu den Forschungen in dieser Tradition auch Fontaine, Laurence/Schlumbohm, Jürgen (Hg.), Household Strategies for Survival 1600–2000. Fission, Faction and Cooperation, Cambridge 2000; King, Steven/Tomkins, Alannah (Hg.), The Poor in England 1700–1850. An Economy of Makeshifts, Manchester 2003; Stöger, Georg, Sekundäre Märkte? Zum Wiener und Salzburger Gebrauchtwarenhandel im 17. und 18. Jahrhundert, Wien/München 2011. 28 Kritisch am Beispiel des Pfandwesens hierzu bereits Siebenhüner, Kim, Juwelen. Kostbare Objekte zwischen Alltagsökonomie und Sinnstiftung, in: Historische Anthropologie 23 (2015), 167–187 (Themenheft: Objekte des Begehrens). 29 Verdeutlicht wurde dies bereits am Beispiel des Bechers und somit einem anderen, dem Löffel in vielerlei Hinsicht sehr ähnlichen »Alltagsding«. Auch dieser konnte in solchen Transaktionen interpretiert werden als »Ehrengeschenk« und ebenso in die Kategorie des verbotenen politischen Geschenks fallen. Vgl. Jancke, Gabriele, Gastfreundschaft in der frühneuzeitlichen Gesellschaft. Praktiken, Normen und Perspektiven von Gelehrten, Göttingen 2013, 362–373. 30 Vgl. Algazi, Gadi/Groebner, Valentin/Jussen, Bernhard (Hg.), Negotiating the Gift. Pre-Modern Figurations of Exchange, Göttingen 2003; Engels, Jens Ivo/Fahrmeir, Andreas/Nützenadel, Alexander (Hg.), Geld – Geschenke – Politik. Korruption im neuzeitlichen Europa, München 2009. 31 Vgl. dazu die Literatur in Anm. 20.

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aber zu fragen, wo die Grenzen zwischen Geschenk und Bezahlung zeitgenössisch gezogen wurden, und ob nicht die Auffassung, dass Luther seinen Reise-Löffel verschenkt habe, eine retrospektive Vereindeutigung darstellt. Diese Deutungsoffenheit soll am Beispiel der protestantischen Universitätskultur veranschaulicht werden, wo es üblich war, dass Studenten im Haus des Professors nicht nur unterrichtet wurden, sondern auch bei diesem wohnten und als »Tischgenossen« in seinem Haushalt speisten. Die Preise für die studentische Lehre, Kost und Herberge legten die Professoren eigenständig fest.32 Mit einer außeralltäglichen, ritualisierten Handlung gestaltete man dabei den Beginn dieses Zusammenlebens aus: Die Studenten hatten jenen Professoren, bei denen sie einzogen bzw. deren Tischgast sie wurden, im feierlichen Rahmen unter anderem einen Löffel zu überreichen, zeitgenössisch als »anbinden« bezeichnet.33 Damit war mehr als eine Anlehnung an die Idee des christlichen convivium in der Tradition des Abendmahls gemeint, denn begriffsgeschichtlich hieß dies, dass man sich »verbindlich oder schuldig« machte und eine Gegenseitigkeit stiftete, wie dies aus dem entsprechenden Artikel des Zedlerschen Universal-Lexicons zu entnehmen ist.34 Der festliche Akt, in dessen Mittelpunkt eine Gabe stand, begründete eine auf gegenseitiger Verbindlichkeit beruhende Beziehung. Der Löffel übernahm in seiner dinglichen Form die Rolle einer »verpflichtenden Währung« und war somit keineswegs eine Form geldlosen Notbehelfs. Wie man sich die Löffel, die bei diesen Akten überreicht wurden, vorstellen muss, geht aus den Quellen nicht hervor. Ebenso ist unklar, wie mit ihnen umgegangen wurde, solange die Tischgemeinschaft bestand. Ungewiss ist schließlich auch, wie das Ende der Gemeinschaft begangen wurde, und ob der im Ritual des ›Anbindens‹ übergebene Löffel darin eine Rolle spielte. Der ambivalente Charakter der Löffel zwischen Gabe und Gebühr ist hingegen belegt: In der Regel wurde ausgehandelt, was die professoralen Tischherren ihren Studenten für Lehre, Kost und Herberge in Rechnung stellten. Dabei wirtschaftete man mit materiellen Zahlungsmitteln (Geld und Gaben) wie mit immateriellen Gütern (soziale Nähe). Zu diesem komplexen System gehörte auch, dass Zahlungsforderungen unausgesprochen blieben bzw. zurückgestellt wurden und so unklar bleiben konnte, wofür Gebühren verlangt wurden und welche Ausstände noch zu tilgen waren. In Streitfällen geriet dieses System jedoch an seine Grenzen. Uneindeutigkeiten wurden angesprochen, und es kam zu Auseinandersetzungen um die Frage, was ein Professor für seine Auf32 Hierzu bereits Harding, Elizabeth, Der Gelehrte im Haus. Ehe, Familie und Haushalt in der Standeskultur der frühneuzeitlichen Universität Helmstedt, Wiesbaden 2014. 33 Zur Praxis an unterschiedlichen protestantischen Universitäten und den damit verbundenen Konflikten vgl. auch Tholuck, August, Das akademische Leben des siebzehnten Jahrhunderts (Vorgeschichte des Rationalismus, Bd. 1), Halle a. d. S. 1853, 225. 34 Alligare, alligiren, anbinden, verbindlich oder schuldig machen, in: Zedler, Johann Heinrich Zedler, Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 1, Halle a. d. S./Leipzig 1732, 1261.

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wendungen erhalten hatte und welche Ansprüche noch bestanden. In solchen Fällen war dann auch strittig, ob die im Ritual des ›Anbindens‹ überreichten Löffel als konventionelle Gebühr oder freiwilliges Geschenk gelten sollten.35

4. Anforderungsprofil des ›Alltagsgegenstands‹: Simplizität als Objektprogramm Am Beispiel der Formen und Materialien wurde eingangs auf die frühneuzeitliche Vielfalt von Löffeln hingewiesen, die in unterschiedlichen kulturellen Zusammenhängen variierende Nutzungen finden und Deutungen hervorrufen. Zugleich findet auch eine Generierung von Wissen um das Objekt statt, die in Wechselseitigkeit mit der Handhabung anderer Dinge zu sehen ist – oder anders formuliert: das Wissen um die Bedeutung eines Objekts kommt auch durch den Einsatz anderer Objekte zustande. Es sind diese Bezüge zwischen unterschiedlichen Objekten, welche entscheidend dafür verantwortlich sind, dass die Vielfalt an Löffeln trotz ihrer Variationen im Detail zu einer Objektgattung zusammengefasst und mit bestimmten Deutungen aufgeladen werden. Im Falle des Löffels sind es Messer und Gabel, die die vielfältigen Löffelzuschreibungen mitbestimmen. Eine auf dieser Koexistenz beruhende Zuschreibung ist die der Simplizität bzw. Basalität, die in auf- wie abwertender Weise auf den Löffel bezogen wird. Diese Simplizität und mit ihr das geringe Anforderungsprofil des Löffels hängt wesentlich damit zusammen, dass er sich mehr als die Gabel oder das Messer zur Aufnahme von Speisen eignet, die als einfach gelten: Suppen und Brei, also Speisen der Kindheit und des Alters. Dieses Essutensil bot sich so bereits in der Frühen Neuzeit an, um häusliche, basale Lebensbedürfnisse zu repräsentieren, nämlich die standesgemäße Ernährung von Kind, Ehepaar und größerem Haushalt von der Geburt bis zum Tod, weshalb er häufig als Patenoder Hochzeitsgeschenk Verwendung fand. Exemplarisch sei verwiesen auf ein Stück, das anlässlich der Hochzeit eines Nürnberger Brautpaars verschenkt wurde. Dieser Löffel, vergleichsweise groß, aus Silber, zum Teil vergoldet und mit Allianzwappen des Paares versehen, trägt unter anderem die aufschlussreiche Inschrift: »Gott beschehrt das mich ernehret«.36 Eng verbunden mit dieser im ›Objekt-Know-how‹ wurzelnden Idee von der Einfachheit des Löffels als Essutensil ist auch seine Deutung als Zeichen für Friedfertigkeit und Wehrunfähigkeit. Dabei wird gerade bei dieser Deutung sichtbar, wie wichtig es ist, eine relationale Objektgeschichte zu schreiben. Tatsächlich ist die unbedarfte, uninformierte Nutzung 35 Vgl. Harding, Gelehrte, 52. 36 Vgl. Grotkamp-Schepers, Barbara, »Gibt es eine Tischordnung?« Zur Geschichte des Bestecks, in: Laue (Hg.), Kostbare Bestecke, 10–19, hier 17.

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dieses Utensils weniger risikoreich als der Einsatz von Messer und Gabel. Sieht man einmal von den Griffen und einer raren Form des Löffels mit spitz zulaufender Laffe ab, so wohnt dem Löffel eine geringere Wehrhaftigkeit als seinen kantigen und scharfen Besteckpendants inne, wovon nicht zuletzt das moderne Sprichwort »Messer, Gabel, Schere, Licht …« beredtes Zeugnis ablegt. Dass man den im Sprichwort im Mittelpunkt stehenden »kleinen Kindern« den Löffel im Umkehrschluss bedenkenloser geben kann, macht deutlich, dass es bei diesem (sich zu einem gewissen Grad selbsterklärenden) Objekt kaum Handlungsbeschränkungen gibt und keine Expertise erforderlich ist; als entsprechend naheliegend erscheint es heute auch, Löffel, wie beschrieben, als Tauf- und Patengeschenke zu verschenken. Insofern eignete sich der Löffel auch mehr als seine Pendants, das in der christlichen Tradition so wichtige Bild des gemeinsamen Speisens und die darin gestifteten Nahbeziehungen objekthaft zu repräsentieren. Im protestantischen Milieu erhielt das gemeinsame Speisen durch die häufig in Luthers Haus veranstalteten und durch die Überlieferung der Tischreden publik gemachten Gastmähler eine neue Bedeutungsdimension.37 Der Wolfenbütteler Luther-Löffel dürfte sich deshalb als Reliquie des Reformators besonders geeignet haben, denn er rief das Bild von Luther und seinen mit ihm in der Tischgemeinschaft verbundenen Mitstreitern in Erinnerung. Darüber hinaus fand die Idee, der Löffel repräsentiere als Objekt eine über die Tischgemeinschaft gestiftete Treue, bei einer Gruppe savoyischer Adliger Verwendung, die sich 1527 im Konflikt mit der Stadt Genf befanden und sich anlässlich eines Mahls zu einer Interessensgemeinschaft zusammenschlossen. Der Erzählung nach sollen einige Ritter erklärt haben, die Stadt Genf »ebenso leicht mit Löffeln auffressen« zu können, wie den ihnen servierten Brei. In der Folge hefteten bis zu eintausend Edle einen Löffel an ihren Hut und nannten sich fortan »Löffel-Bund« bzw. »Löffel-Gesellschaft«, womit das Essutensil als sichtbares Zeichen für diesen während einer Mahlgemeinschaft geschlossenen Zusammenschluss und für die Erwartung eines leicht zu erringenden Sieges stand.38 Allerdings wird im Hinblick auf das erforderliche Know-how des Objekts und seinen Umgang damit auch klar, dass sich der Löffel durch einen gewissen Mangel, ein ›Weniger-Können-als-Andere‹, auszeichnet, das als Eigenschaft und Ausgangspunkt für seine Ausdeutung erst im Vergleich mit der Beschaffenheit anderer Essutensilien sichtbar wird. Konkret zeigt sich dies auch in der Geschichte der Tischsitten. Hier kann die Simplizität oder Basalität des Löffels bereits darauf zurückgeführt werden, dass er gemeinsam mit dem Messer der Gabel voranging. Messer wurden wohl nur in solchen Situationen als Tafelobjekt genutzt, in denen feste Speisen in fingergerechte Stücke zerteilt werden mussten; 37 Vgl. Bärenfanger, Katharina/Leppin, Volker/Michel, Stefan (Hg.), Martin Luthers Tischreden. Neuansätze der Forschung, Tübingen 2013. Zur Tafelkultur in dieser Hinsicht allgemein auch Jancke, Gastfreundschaft. 38 Vgl. Löffel-Gesellschaft, in: Zedler, Johann Heinrich, Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 18, Halle a. d. S./Leipzig 1738, 161–162.

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ansonsten aß man diese mit den Fingern. Die Gabel kannte man als Besteckteil zunächst nicht; im nordeuropäischen Kulturraum kam sie als Essinstrument erst im 16. Jahrhundert auf. Der Tafelgast sollte nun künftig nicht mehr die Finger nutzen. Da die Nutzung der Gabel jedoch das Essen mit den Fingern unterbinden sollte und so zu einer Distanzierung zwischen Speisendem und Speise führte, rief diese Neuerung Unbehagen und Kritik hervor. Als eine Art »Überwindung der Natur« betrachtet hielten Zeitgenossen die Gabel für wider die Gebote Gottes.39 Dabei übernahm die Gabel als Utensil letztlich Funktionen im Kontext der Nahrungsaufnahme, die zuvor Finger, Messer und Löffel erfüllt hatten (konkret das Aufspießen und Transportieren von Essen). Die Gabel hatte also keine neue Aufgabe – außer eben sichtbares Zeichen gelebter Tischmanieren zu sein. Zeitgleich setzte sich die Idee des gestalterisch aufeinander abgestimmten Besteckpaares durch, in der der Löffel eher eine rahmende Funktion einnahm.40 Überdies etablierte sich der klassische Aufbau von Menüs, bei denen der Löffel vorrangig zum Essen der Vor- und Nachspeise diente, womit ihm tendenziell eine Nebenrolle zugewiesen wurde.41 Seine im Vergleich zu den anderen Besteckpendants geringe Funktionalität hinsichtlich des Zerteilens und Aufnehmens fester Speisen (also vor allem des für seine Nahrhaftigkeit geschätzten Fleisches)42 konnte so die Grundlage für eine entsprechend abwertende Zuschreibung, etwa die einer simpleren, bäuerlich konnotierten Esskultur, bieten.43

5. G  e- und Verbrauchbarkeit des ›Alltagsgegenstands‹: Löffel und ihre Zeitlichkeit Auf den ersten Blick waren Löffel, wie andere ›Alltagsgegenstände‹ auch, viel verwendete Gebrauchsobjekte, die im Gegensatz zu typischen Verbrauchsobjekten, wie etwa Essen oder Brennstoffe, nur abgenutzt wurden. Dieses Wissen um das Ge- und Verbrauchen war Ausgangspunkt für vielfältige Ausdeutungen des Löffels, wobei es auch hier die rela39 Vgl. Spenlé, Prunkbestecke, 41; Hoos, Messer – Gabel – Löffel, 16. 40 Vgl. hierzu auch Grotkamp-Schepers, Tischordnung, 12. 41 So auch in der Regel bei Hof. Eine in dieser Hinsicht noch weiter in den Blick zu nehmende Speise, die den Löffel erforderlich machte und hier aus dem Rahmen fällt, ist die höfische Suppe – konkret die sehr beliebte »Spanische Suppe«, die man durch Fett- und Fleischzusätze und edle Zutaten zu »nobilitieren« suchte. Vgl. hierzu auch Ottomeyer, Hans, Olla potrida und Pot d’oille. Leitfossilie europäischer Tafelkultur, in: Barta-­Fliedl, Ilsebill/Gugler, Andreas/Parenzan, Peter (Hg.), Tafeln bei Hofe. Zur Geschichte der fürstlichen Tafelkultur, Hamburg 1998, 33–42; Haslinger, Ingrid, Die Olio- oder Oleosuppe am Wiener Kaiserhof, in: ebd., 43–44. Allgemein zur höfischen Tafel auch Ottomeyer, Hans/Völkel, Michaela (Hg.), Die öffentliche Tafel. Tafelzeremoniell in Europa 1300–1900 (Katalog zur Ausstellung des Deutschen Historischen Museums Berlin im Kronprinzenpalais, 29. Nov. 2002–11. März 2003), Wolfratshausen 2002. 42 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Janine Maegraith in diesem Band. 43 Vgl. Grotkamp-Schepers, Tischordnung, 16.

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tiven Bezüge waren (sowohl zu anderen Objekten als auch innerhalb der Gattung), in denen der Löffel verortet wurde. Dies zeigt sich auf der einen Seite daran, dass es in vielen Kontexten bis in die Frühe Neuzeit offenbar nicht unüblich war, dass man einen Löffel am Körper bzw. am Hut oder zumindest nah bei sich trug, weshalb man auch bei Gastmählern nicht immer einen Löffel gestellt bekam, sondern seinen eigenen mitbrachte. Ferner ist aus dem höfischen Bereich bekannt, dass man im 17. Jahrhundert Möglichkeiten entwickelte, die Transportfähigkeit des Löffels bzw. Bestecks zu verbessern, und deshalb eine Vielzahl von Etuis, Köchern oder »Futteralen« Verwendung fand, in denen die als individuelles Eigentum geltenden Messer, Gabel und Löffel verwahrt wurden – ein Trend, der sich bis ins 19. Jahrhundert hielt.44 Eine Mode, die sich dagegen nicht behaupten konnte, die aber ebenfalls auf Mobilität setzte, waren frühneuzeitliche Klappbestecke. Hier bestanden die Löffel nur aus der Laffe, an deren Ende eine Vorrichtung angebracht war, die das Verbinden mit den Zinken einer Gabel ermöglichte, so dass eine gebrauchsfertige Einheit entstand.45 Der Löffel konnte ein Objekt sein, das seinen Besitzer nicht nur repräsentierte, sondern zu einem gewissen Grad ein Teil von ihm war, vergleichbar etwa dem Haus oder Wappen, dessen Schändung als persönlicher Angriff galt.46 Dafür spricht auch, dass das Versterben sprichwörtlich ein »Abgeben« oder »Wegwerfen des Löffels« bedeuten konnte, wobei allerdings das Alter dieser Redewendung nicht geklärt ist.47 Die Redewendung verweist dabei zugleich darauf, dass der Löffel für den natürlichen, sterblichen Körper des Besitzers (nicht der besitzenden Familie) stand, der wie jener im Laufe der Jahre allmählich be- und abgenutzt wurde. Der hölzerne Löffel konnte demnach dinglich für seinen Besitzer in seiner irdischen, vergänglichen Form stehen – im deutlichen Kontrast etwa zu Herrschaftsinsignien, die als Teil des ›Staatskörpers‹ für Kontinuität standen und politische Wechsel überdauerten. Auf der anderen Seite konnten diese alltagsnahen Gegenstände eingesetzt werden, um unter Verwendung hochwertiger Materialien Beständigkeit zu demonstrieren. Dauerhafte Werkstoffe fungierten als Repräsentationen sozialer Kontinuität und drückten damit einen zentralen Wert der frühneuzeitlichen Gesellschaft aus; es konnte also mittels des Einsatzes von Dingen und gerade mit Bezug auf ihre Beschaffenheit auf die Zeitlichkeit eingegangen werden. Das Stiften bzw. Erinnern von sozialer, das heißt familiär-­ dynastischer wie politisch-korporativer Kontinuität war in der Frühen Neuzeit elementar, da Anciennität für göttlichen Segen, Tauglichkeit und erfolgreiche Standesbehauptung 44 Vgl. Hoos, Messer – Gabel – Löffel, 20. 45 Vgl. ebd., 26. 46 Vgl. Jütte, Daniel, Living Stones: The House as Actor in Early Modern Europe, in: Journal of Urban ­History 41 (2015), 1–29. 47 Vgl. Haberlandt, Arthur, Löffel, in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. 5, Berlin/New York 2000 (zuerst 1933), 1317–1323.

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stand.48 In den Diskursen der Zeit hieß es entsprechend, die Fähigkeit zu politisch-sozialem Anspruch erwachse aus und reife in einem lange behaupteten Vorrang, weshalb sich daraus Herrschafts­legitimität ableiten ließ.49 Im Fall der ›Alltagsgegenstände‹ speiste sich die Aussagekraft des dauerhaften und hochwertigen Materials gerade aus dem Kontrast zu der Abnutzbarkeit und Vergänglichkeit, welche diese Objekte im Regelfall besaßen: Ein Silberlöffel stach besonders hervor, wenn die Masse der Löffel aus Holz gefertigt war. Auf dieses Bild des Löffels konnte mit hochwertigeren Pendants wirkmächtig aufgebaut werden. Der vielfach belegte Einsatz von (Silber-)Löffeln als ein Familienerbstück, das nur bei bestimmten, außeralltäglichen Festen zum Einsatz, zum Gebrauch, kam, zeugt einerseits vom Bemühen, nur eine minimale Abnutzung zuzulassen. Andererseits reichte aber die Präsentation des Löffels nicht aus, um Wirkung zu entfalten. Vielmehr scheint es seiner Nutzung bedurft zu haben, um den Gegenstand als Zeichen von Beständigkeit vor Augen zu führen – diese Funktion kann folglich auch Nutzungsspuren bei so raren, kostbaren und erkennbar nicht für den Alltagsgebrauch bestimmten Löffeln erklären. Dieses Wissen um Kontinuität mag eine Rolle bei der Wahl von Löffeln als Geschenk in Übergangsritualen, konkret Taufen oder Patenschaften und Hochzeiten, gespielt haben. Bei diesen Festen ging es wie bei kaum einem anderen frühneuzeitlichen Ereignis um die Her- und Darstellung von familiär-dynastischer Kontinuität.50 Es ist bereits angesprochen 48 Vgl. Melville, Gert (Hg.), Gründungsmythen – Genealogien – Memorialzeichen. Beiträge zur institutionellen Konstruktion von Kontinuität, Köln/Weimar 2004; Heck, Kilian, Genealogie als Monument und Argument. Der Beitrag dynastischer Wappen zur politischen Raumbildung der Neuzeit, München/Berlin 2002; ders./Jahn, Bernhard (Hg.), Genealogie als Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit, Tübingen 2000. 49 Dies galt insbesondere mit Blick auf den Adel. Vgl. Asch, Ronald G., Staatsbildung und adlige Führungsschichten in der Frühen Neuzeit. Auf dem Weg zur Auflösung der ständischen Identität des Adels?, in: Geschichte und Gesellschaft 33 (2007), 375–397; aus der neueren Literatur auch Scholz, Peter/Süßmann, Johannes (Hg.), Adelsbilder von der Antike bis zur Gegenwart, München 2013; Leonhard, Jörn/Wieland, Christian (Hg.), What Makes the Nobility Noble? Comparative Perspectives from the Sixteenth to the Twentieth Century, Göttingen 2011; Beck, Hans/Scholz, Peter/Walter, Uwe (Hg.), Die Macht der Wenigen. Aristokratische Herrschaftspraxis, Kommunikation und ›edler‹ Lebensstil in Antike und Früher Neuzeit, München 2008; Wrede, Martin/Carl, Horst (Hg.), Zwischen Schande und Ehre. Erinnerungsbrüche und die Kontinuität des Hauses. Legitimationsmuster und Traditionsverständnis des frühneuzeitlichen Adels in Umbruch und Krise, Mainz 2007. 50 Zum Hochzeitsfest vgl. van Dülmen, Richard, Fest der Liebe. Heirat und Ehe in der Frühen Neuzeit, in: ders., Gesellschaft der Frühen Neuzeit: Kulturelles Handeln und sozialer Prozeß. Beiträge zur historischen Kulturforschung, Wien/Köln/Weimar 1993, 194–235; Roper, Lyndal, »Going to Church and Street«. Weddings in Reformation Augsburg, in: Past and Present 106 (1985), 62–101; zur Rolle von Taufen und Patenschaften Labouvie, Eva, Nachkommenschaft und Dynastie. Geburten und Tauffeste im anhaltinischen Adel zwischen Repräsentation, Präsentation und Präsenz, in: dies. (Hg.), Adel in Sachsen-Anhalt. Höfische Kultur zwischen Repräsentation, Unternehmertum und Familie, Köln/Weimar 2007, 207–243; dies., Schwangerschaft – Elternschaft – Familie. Zur Familiarisierung des Ungeborenen und Geborenen (1500–1800), in: Wulf, Christoph/Hänsch, Anja/Brumlik, Micha (Hg.), Das Imaginäre der Geburt. Praktiken, Narrationen und Bilder, München 2008, 149–170.

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worden, dass man mit dem Löffel häusliche, basale Lebensbedürfnisse repräsentierte. Im Falle der Silberstücke konnte das Essutensil zur Erhöhung des bei solchen Übergangsritualen entfalteten symbolischen Programms in zweierlei Hinsicht beitragen: Der Löffel erinnerte nicht nur daran, dass man von den Beteiligten ein gutes, also gottgefälliges, familiäres Zusammenleben erwartete. Das Besteckstück passte ferner in diesen Abb. 3: Sogenannter Luther-Löffel, Herzog August BiblioKontext auch (und konkreter) in sei- thek Wolfenbüttel, Detail. ner Funktion als zu gebrauchendes und abzunutzendes ›Alltagsobjekt‹, das aber beständiger als seine minderwertigen Pendants war und so für soziale Beständigkeit stand. Das Essutensil diente also als ein Instrument, das durch seine Benutzbarkeit für Kontinuität stehen konnte; die vielen Embleme und Wappen, die auf die Besitzer verwiesen, verschmolzen diesen Wunsch mit familiär-­ dynastischen und politisch-­korporativen Interessen. In diesem Sinne ist auch die Inschrift auf dem Luther-Löffel (Abb. 3) zu lesen: »V.D.M./ I.Æ.A«, aufzulösen als »Verbum Domini Manet/In Aeternum Amen« (Jes 40, 8; I Petr 1, 23). Der Vers war zunächst die Devise Friedrichs des Weisen (1463–1525), fand dann Verbreitung unter anderen Anhängern der Reformation und galt später als typisch reformatorisch.51 Der besondere Reiz, den das Objekt für spätere Generationen besaß, hing allerdings wesentlich mit den Initialen M. L. zusammen, die eine Zuordnung zu Luther zuließen.52 Schadensspuren legen nahe, dass der Luther-Löffel nicht nur verwahrt, sondern auch (im weiteren Sinne des Wortes) benutzt wurde – von wem und wie häufig, ist nicht klar. Eine Nutzungsform war schon Thema: Durch die Präsentation des Löffels konnte auf die protestantische Idee hingewiesen werden. Doch auch der weitergehende Gebrauch dieses Silberlöffels ist im Sinne des zuvor Erläuterten nicht abwegig, da die vergleichsweise beständige Materialität vor allem im Gebrauch erfahrbar wurde und die Nutzung so dazu beitragen konnte, nicht nur die Tradition präsent zu machen, sondern auch einen Anspruch auf Dauerhaftigkeit zu dokumentieren. Die Rolle des Löffels bei der Vergegenwärtigung von Zeitlichkeit gilt dabei nicht nur mit Blick auf den uns heute sehr vertrauten Silberlöffel. Vielmehr gibt es innerhalb die51 Vgl. So genannter Lutherlöffel, 322. 52 Ebd.

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Abb. 4: Apostellöffel, Badisches Landesmuseum Karlsruhe.

ser Objektgattung eine bislang kaum beachtete Fülle von anspruchsvoll hergestellten Essutensilien, die in ganz besonderer Weise dem Changieren zwischen Gebrauchen und Erhalten, zwischen Verweisen auf Vergänglichkeit einerseits und Kontinuität andererseits, verpflichtet sind: Besonders verbreitet war am Beginn der Frühen Neuzeit die Praxis, den Stielansatz eines Holzlöffels mit Silberhülsen zu versehen. Man schuf so, im Kern, einen hölzernen Gebrauchslöffel, der allerdings veredelt war und gleichzeitig einen hohen Grad an Beständigkeit aufwies. Diese bei frühneuzeitlichen Kunstwerken bzw. Artificialia im Übrigen recht beliebte Verbindung kann zum einen als eine Forderung gelesen werden, sich bei der Nutzung dieses Gegenstands mit der Vergänglichkeit des Irdischen zu beschäftigen. Die Tatsache, dass auf dem Aufsatz häufig biblische Figuren zu sehen sind, unterstreicht dies. Veranschaulichen kann dies hier ein Exemplar der im 16. und 17. Jahrhundert sehr beliebten Gruppe der Apostellöffel (Abb. 4). Die materiale Zusammensetzung weist zum anderen auf den Wunsch seiner Besitzer und Benutzer hin, die Fragilität des Löffels in Dauerhaftigkeit zu überführen, indem mit begrenzten Mitteln ein Gegenstand geschaffen wurde, der, wenn nicht täglich, so doch regelmäßig genutzt werden konnte und sollte. Sein Gebrauch bedeutete aber weder ein kurzfristiges noch ein allmähliches Verbrauchen. Gerade unter dem Tafelsilber adliger oder stadt-

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bürgerlicher Familien und in den Schatzkammern politisch-sozialer Korporationen, wie etwa Stadträten und geistlicher Adelskorporationen, lässt sich eine Reihe solcher aus unterschiedlichen Materialien zusammengesetzter Löffel finden. Diese Gegenstände brachten familiäre oder korporative Beständigkeit und Kontinuität zum Ausdruck bzw. zur Aufführung. Dies wiederum trug, gewissermaßen mit himmlischem Zuspruch, dazu bei, den eigenen sozialen Anspruch innerhalb der ständischen Ordnung zu legitimieren und mittels der Vergegenwärtigung von Vergangenheit, Beständigkeit und Kontinuität auf Dauer zu stellen.

6. Fazit Es gab eine Vielzahl von Vorstellungen und Deutungen, die mit dem Löffel verknüpft waren – Löffel waren Schauobjekte von besonderer künstlerischer Feinheit wie haptisch zu erfahrende und zu nutzende Essutensilien. Sie hatten aus modischen Gründen wie aufgrund ihrer Beschaffenheit eine kurz- oder sehr langlebige Geschichte und konnten für Kontinuität und christliche Gemeinschaft, aber auch für Vergänglichkeit und Simplizität stehen. Und alle diese Funktionen wurden, wie Elias bereits am Beispiel der Tischsitten betonte, »durch Jahrhunderte« und »unmittelbar im gesellschaftlichen Verkehr und Gebrauch« gesucht und gefestigt.53 Was man in einem Objekt sah, war dabei nicht beliebig, sein Potenzial trat, wie hier am Beispiel des Löffels gezeigt werden sollte, vielmehr in Relation zu anderen Objekten zutage. So bekam die Simplizität des Löffels klarere Konturen dadurch, dass die Gabel zur »Überwindung der Natur« eingesetzt wurde. Die Funktion des Löffels als friedfertiges Objekt bestach gewissermaßen durch die parallele Nutzung des Messers. Schließlich bekam auch die Vorstellung von der Rolle der Silberlöffel als Symbol für Beständigkeit durch die Verwendung von Holzlöffeln oder den Einsatz von hölzernen Bestandteilen eine größere Plausibilität. Dieser Beitrag öffnet damit den Blick für Relationen in mehrerer Hinsicht: Zum einen wird der Blick ganz allgemein dafür geschärft, wie wichtig es ist, Objektgeschichten im Kontext der materiellen Kultur zu sehen und sie in diese Relationen einzubetten. Zum anderen wird hinsichtlich der Geschichte von ›Alltagsgegenständen‹ deutlich, dass Objekte durch eine solche relative Zugänglichkeit, ein relatives Objektwissen und einen relativen Grad an Verbrauchbarkeit konstituiert werden. Selbst ein zeichenhaft hoch aufgeladenes Objekt wie der Luther-Löffel, der aus dem üblichen Zirkulationsprozess herausgenommen wurde, kann nur bedingt seine ihm zugewiesene Nähe zu Luther konservieren und folglich nur in Grenzen seine ›Alltagsfähigkeit‹ einbüßen. Vielmehr tragen andere Objekte wie Messer und Gabel in ihrer Beschaffenheit und Nutzung stark dazu bei, wie man den Luther-Löffel liest. 53 Elias, Prozeß, 236.

Begehrt, knapp und im Wandel: Fleisch Janine Maegraith

1. Fleisch: eine historische Annäherung Fleisch – wie andere Lebensmittel auch – ist vergänglich: Es wird verzehrt und verschwindet.1 In historischem Kontext ist es daher weder als ›Objekt‹ überliefert noch in Museen zu bewundern. Und doch war Fleisch als Lebensmittel für viele bittere Notwendigkeit, für die Privilegierteren sogar eine Alltäglichkeit. Der frühneuzeitliche Konsum und die Produktion dieses Lebensmittels muss aus schriftlichen Quellen und Hinweisen auf die das Fleisch umgebende materielle Kultur rekonstruiert werden. Einen ersten Eindruck können Abbildungen von Fleisch in der Kunst geben, in der es häufig im Kontext des Schlachtens, des Markts und des Metzgerhandwerks dargestellt wird. Auch wenn dies in manchen Fällen – besonders in der niederländischen Malerei – mit einer religiösen Symbolik verbunden ist,2 so verweisen die häufigen Darstellungen doch auf die große Bedeutung von Fleisch als Nahrungs- und Distinktionsmittel. Ein Gemälde von Annibale Carracci (1560–1609) im Kimbell Art Museum in Texas verdeutlicht beispielsweise die besondere Stellung des Metzgerhandwerks in der Frühen Neuzeit (Abb. 1).3 Auf dem Gemälde sind zwei Metzger abgebildet, die in ihrer Fleischerbude ihrer täglichen Arbeit nachgehen. Der eine spießt gerade ein Fleischstück auf einen der Fleischerhaken an einem Sparren auf, an dem schon mehrere Fleischstücke verkaufsbereit hängen. Der andere Metzger ist im Begriff, ein Fleischermesser aus der Scheide zu ziehen. Beide Männer tragen einen Metzgergürtel mit zwei Messern und einem Wetzstahl. Ihre weißen 1

Vgl. Mintz, Sidney W., The Changing Roles of Food in the Study of Consumption, in: Brewer, John/Porter, Roy (Hg.), Consumption and the World of Goods, London/New York 1994, 261–273, hier 262. Für wertvolle Anregungen danke ich sehr Veronika Čapská, Andrea Caracausi, Christiane Holm, Margareth Lanzinger, Ingrid Matschinegg, Craig Muldrew und Julia Schmit-Funke. 2 Vgl. Irmscher, Günter, Ministrae voluptatum. Stoicizing Ethics in the Market and Kitchen Scenes of Pieter Aertsen and Joachim Beuckelaer, in: Simiolus: Netherlands Quarterly for the History of Art 16, 4 (1986), 219–232. Ich danke Julia A. Schmidt-Funke für den Hinweis. Elisabeth Honig dagegen untersucht die Beziehung zwischen Künstlern und Markt und kann eine Bedeutungsverschiebung von Marktszenen bzw. Stilleben zwischen 1550 und 1650 feststellen, die sie im Sinne einer zunehmenden Kommerzialisierung deutet. Vgl. Honig, Elizabeth, Painting and the Market in Early Modern Antwerp, Yale 1999. Ich danke Margareth Lanzinger für den Hinweis. 3 Vgl. Dickerson, Claude Douglas, Raw Painting. The Butcher’s Shop by Annibale Carracci, Kimbell Master­ piece Series, Fort Worth 2010.

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Abb. 1: Annibale Carracci, The Butcher’s Shop, um 1582, 59,7 × 71 cm, Kimbell Art Museum Fort Worth, Texas.

Leinenschürzen repräsentieren Sauberkeit und Hygiene, womit sie wahrscheinlich die Ehrbarkeit der beiden Handwerker verdeutlichen sollen.4 Hinter den Metzgern ist eine niedrige Öffnung in der Wand zu erkennen, die teilweise durch eine Fleischbank verdeckt wird, auf der weitere Fleischstücke zum Verkauf ausliegen. Ein zweiter horizontaler Balken mit eisernen Spitzen ist im vorderen Teil des Raumes zu sehen. Er wird von einem vertikalen Balken getragen, an dem ein ausgenommenes Kalb hängt. Die Darstellung des frisch geschlachteten Tieres betont dessen Materialität: Das Rot des Fleisches hebt sich vom Weiß des Fettes und der Haut ab und lässt anatomische Details wie die Sehnen am Hals und an den Schultern des Tieres erkennen. Auf der rechten Seite hängt ein geschlachtetes Lamm mit einem Bein an einem Nagel. Hinter dem Kopf des Lammes ist ein Hackblock mit Hackmesser zu sehen. Ein Huf und ein abgetrennter Schafskopf sowie ein am Boden 4 Vgl. zu Leinen Roche, Daniel, A History of Everyday Things. The Birth of Consumption in France, 1600– 1800, Cambridge 2000, 159–160.

Begehrt, knapp und im Wandel

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liegendes totes Lamm oder eine Ziege am linken Tischbein deuten außerdem eine frische Schlachtung an. Die dargestellten Fleischsorten spezifizieren die Fleischerbude als »­beccaria di minuto«, in der nur Schaf, Ziege, Lamm oder Kalb verkauft werden durften.5 Die Einrichtung, Metzgerschürzen, Werkzeuge und Fleischprodukte wirken realistisch. Tatsächlich kannte Carracci das Metzgergewerbe gut, da sein Onkel und dessen Sohn diesem Handwerk angehörten. Der Kunsthistoriker Claude Douglas Dickerson bezieht den historischen Kontext des Metzgergewerbes in seine Analyse des Carracci-Gemäldes ein. Dieses Handwerk genoss eine angesehene soziale Stellung in Bologna – nicht zuletzt aufgrund seiner großen Bedeutung für die Sicherung der städtischen Fleischversorgung.6 Im 16. Jahrhundert wuchs Bolognas Bevölkerung stark an, und das Metzgerhandwerk bemühte sich, mit der Fleischversorgung nachzukommen. Gleichzeitig führte die Obrigkeit verstärkte Preis- und Gewichtskontrollen ein, um sicherzustellen, dass das Fleisch erschwinglich blieb. Dafür wurden die Waagen, Gewichte und das angebotene Fleisch regelmäßig von »straordinari di carne« geprüft.7 Dies sorgte für Konflikte, da die Metzger mit höheren Anschaffungskosten konfrontiert waren, die Preise aber von der Obrigkeit kontrolliert wurden. Diesen Konflikt deutete Carracci auf einem anderen, heute in Oxford befindlichen Gemälde einer Fleischerbude an – nicht jedoch auf dem hier beschriebenen,8 bei dem er sich auf die vermeintliche Darstellung einer Alltagshandlung beschränkte. Doch wie realitätsgetreu ist Carraccis Gemälde tatsächlich? Diese Frage untersucht Dickerson, indem er das Bild in den Kontext anderer zeitgenössischer Metzgerdarstel­lungen Oberitaliens des späten 16. Jahrhunderts stellt. Diese besaßen im Gegensatz zu den flämischen Vorbildern keine religiöse Be­deutung; sie standen mehr in einem komödiantischen Kontext.9 Carracci dagegen brach mit der oberitalienischen Darstellungstradition, indem er die Metzger nicht als komödiantische, sondern als ehrliche, hart arbeitende Leute zeigte, sich also an tatsächlichen Metzgern und deren Buden zu orientieren schien.10 Andere ­oberitalienische Darstellungen offenbaren zu­dem Ähnlichkeiten in der Einrichtung. In einer Handschrift aus dem späten 14. Jahrhundert, die wahrscheinlich in Verona entstand, ist zum Beispiel eine Abbildung einer Fleischerbude enthalten: In dieser wird Kleinvieh angeboten, die Metzger schlachten vor Ort, und auch die Ausstattung mit Fleischbank, Hackblock und Balken zeigt eine Übereinstimmung mit dem Carracci-­Gemälde. Zudem ist

5 6 7 8 9 10

Vgl. Dickerson, Raw Painting, 49. Vgl. ebd., 29. Vgl. ebd., 41. Vgl. ebd., 41–42. Vgl. ebd., 16–20. Vgl. ebd., 37.

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Abb. 2: Carnes arietum, Illustration aus dem Bilderkodex Tacuinum sanitatis in medicina, Oberitalien, Ende des 14. Jahrhunderts, Österreichische Nationalbibliothek Wien.

der Metzger gerade dabei, Fleisch für einen Kunden abzuwiegen (Abb. 2).11 Der einzige gewichtige Unterschied ist die Lage: Carraccis Fleischer­bude befindet sich in einer Fleischhalle und nicht im Freien.12 Dickerson betont den beobachtenden Charakter des Bildes, seinen naturalistischen Ansatz, mit dem Carracci den Eindruck erwecken wollte, es sei vor Ort gemalt.13 Die Illusion der Unmittelbarkeit wird durch die Darstellung der Metzger in ihrem Arbeitsalltag, die Räumlichkeiten der Fleischhallen und nicht zuletzt durch die Materialität des Fleisches erzeugt. Unterstützt von einer raschen Pinseltechnik kehrte Carracci »a painting about the everyday into a painting about the experience of seeing the everyday« um.14 11 Tacuinum sanitatis in medicina, ÖNB Wien, Cod.ser.n. 2644, fol. 72v. Vgl. Grass, Nicolaus/Holzmann, Hermann, Geschichte des Tiroler Metzgerhandwerks und der Fleischversorgung des Landes, Innsbruck 1982, Tafel 1; Dickerson, Raw Painting, 44–45 zieht einen Stich von Francesco Cutti zum Vergleich hinzu, »Trades of Bologna«, von ca. 1640, Fig. 33. 12 Vgl. Dickerson, Raw Painting, 46–49. Er analysiert die Topographie der Stadt, die Lage der drei Fleischhallen und deren Architektur, die auf einen langen und schmalen Innenraum hinweist. 13 Vgl. Dickerson, Raw Painting, 52–53. 14 Vgl. ebd., 67.

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Künstlerische Darstellungen sind – wie Dickerson verdeutlicht – Kreationen des Künstlers und können nur bedingt als historische Quellen verwendet werden. Was ­Carraccis Gemälde jedoch als historische Annäherung an Fleisch als Nahrungsmittel geeignet erscheinen lässt, ist seine Darstellung des Metzgerhandwerks und die Bedeutung des Gewerbes für die Versorgung mit und den Verkauf von Fleisch. Damit verweist es auf einen universellen Aspekt. Fleisch von Tieren war und ist ein Hauptbestandteil in der europäischen Ernährung. Es ist eine reichhaltige Quelle von Protein und Fett und wurde in der Frühen Neuzeit sehr geschätzt.15 Aufgrund steigender Fleischpreise und sinkender Kaufkraft infolge der Preisrevolution des 16. Jahrhunderts war Fleisch ein kostbares, nicht für alle erschwingliches Gut.16 Dennoch wurde es als unentbehrlich angesehen. Dieser hohen Wertschätzung des Fleisches entsprach das Ansehen des Metzgergewerbes. So hieß es 1733 in Zedlers Universal-Lexicon: »Dahero ist das Fleischer = Handwerck ein uhraltes und höchstnützliches Handwerck, weil jedermann bewust, daß der Menschen = Leben ohne Fleisch nicht wohl erhalten werden könne.«17 Fleisch wurde nach Zedler als lebensnotwendiger Bestandteil der Ernährung wahrgenommen und von Metzgern wie auf C ­ arraccis Gemälde öffentlich auf den »Fleisch-Bäncken« verkauft.18 Preis und Gewicht der Ware wurden auch in den deutschen Territorien von der Obrigkeit reguliert. Fleisch war daher nicht unbedingt zu einem freien Marktpreis erhältlich, sondern unterlag den Preisordnungen, die den Fleischpreis besonders mit Blick auf Versorgungsengpässe regulierten.19 Fleisch wurde jedoch nicht nur auf dem Markt bei Metzgern gekauft, sondern auch getauscht, verschenkt, selbst erzeugt oder institutionell bezogen. Die Anschaffungsformen unterschieden sich genauso wie die verzehrten Mengen, Fleischsorten, Zubereitungsformen, Verfügbarkeit und regionale Eigenheiten. Dies spiegelt sich auch in den zahlreichen Ansätzen wider, mit denen Fleisch in der Geschichtswissenschaft untersucht wird.

15 Vgl. Hirschfelder, Gunther, Fleischkonsum, in: Jäger, Friedrich (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 3, Stuttgart 2006, 1015–1018, hier 1015; Fleisch, in: Krünitz, Johann Georg, Oekonomische Encyklopädie oder allgemeines System der Staats- Stadt- Haus- und Landwirthschaft, Bd. 14, Berlin 21786, 116–216. An erster Stelle stand natürlich Getreide, vgl. Sreenivasan, Govind, Food Production, in: Kümin, Beat (Hg.), A Cultural History of Food in the Early Modern Age, London 2012, 13–28, hier 16. 16 Vgl. Teuteberg, Hans Jürgen/Wiegelmann, Günter, Nahrungsgewohnheiten in der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts, Münster 2005, 104; Wiegelmann, Günter, Alltags- und Festspeisen in Mitteleuropa. Innovationen, Strukturen und Regionen vom späten Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert, Münster/New York 2006, § 34. 17 Fleischer oder Metzger, in: Zedler, Johann Heinrich, Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 9, Halle a. d. S./Leipzig 1732, 1210. 18 Die Fleischbank stellte nicht nur den Arbeitstisch des Metzgers dar, sondern bedeutete auch den Ort in einer Stadt, an dem das Fleisch öffentlich verkauft wurde, oder das Recht, es anbieten zu dürfen. Vgl. Fleisch = Bank, in: Krünitz, Oekonomische Encyklopädie, Bd. 14, 216. 19 Vgl. Grass/Holzmann, Geschichte des Tiroler Metzgerhandwerks, bes. Kap. 6–7.

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2. Fleisch als Forschungsgegenstand in der Geschichtswissenschaft In der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte dient der Fleischkonsum als Indikator für soziale und regionale Unterschiede und für Veränderungen in den Lebensstandards.20 Abweichungen gab es je nach Region, ob Stadt oder Land, und nach sozialen Bevölkerungsgruppen, in der Höhe des Fleischverbrauchs, bei Präferenzen der Zubereitungsformen und in der Wahl der Fleischsorten. Dies konnte soziale Differenzen und zeitliche Veränderungen anzeigen.21 Zeitgenössische Berichte von Dürftigkeit einerseits und Schwelgerei bei Gastmahlen andererseits illustrieren diese sozialen Unterschiede.22 Im Rahmen der Industrialisierungsdebatten werden Ernährung und Kalorienangebot durch Fleisch und Getreide als Indikator dafür herangezogen, wie hoch die mögliche Arbeitsleistung der Bevölkerung gemessen am verfügbaren Kalorienangebot zu einem bestimmten Zeitpunkt gewesen sein könnte und wie sich diese mit der Zeit veränderte.23 Ebenso sind periodische Schwankungen des Fleischkonsums ein wichtiges Untersuchungsthema. Nach dem Agrar- und Wirtschaftshistoriker Wilhelm Abel führten Bevölkerungswachstum und steigende Lebensmittelpreise bei gleichbleibender oder sogar sinkender Kaufkraft im 16. Jahrhundert zu einer getreidereicheren Ernährung, da Getreide mehr Kalorien pro Preiseinheit bot als Fleisch.24 Anknüpfend an Abel wird ein Dreistufenmodell der Ernährungsgewohnheiten Mitteleuropas auf Basis quantitativer Schätzungen angenommen: ein relativ hoher Fleischkonsum bis zu Beginn des 16. Jahrhunderts, gefolgt von einem rapiden Rückgang im späten 16. Jahrhundert mit steigenden Bevölkerungszahlen, der Ausweitung des Getreideanbaus und steigenden Vieh- und Fleischpreisen, und schließlich ein langsamer Anstieg des Fleischkonsums im 19. Jahrhundert.25 Während die-

20 Vgl. Sandgruber, Roman, Leben und Lebensstandard im Zeitalter des Barock – Quellen und Ergebnisse, in: Pickl, Othmar/Feigl, Helmuth (Hg.), Methoden und Probleme der Alltagsforschung im Zeitalter des Barock, Wien 1992, 171–189, hier 174; Jütte, Robert, Diets in Welfare Institutions and in Outdoor Poor Relief in Early Modern Western Europe, in: Ethnologia Europaea 16 (1988), 117–135. 21 Vgl. Hirschfelder, Fleischkonsum, 1017; Hirschfelder, Gunther/Trummer, Manuel, Food and Drink, in: European History Online, Mainz 2013, § 19, online verfügbar unter: http://www.ieg-ego.eu/hirschfelderg-trummerm-2013-en, letzter Zugriff: 29.2.2016. 22 Beispiele finden sich bei Abel, Wilhelm, Stufen der Ernährung, Göttingen 1981, 42–43. 23 Vgl. Sandgruber, Roman, Zeit der Muße. Von Arbeit, Uhren und dem Leben in der Zeit, in: Theologisch-­ praktische Quartalschrift 163 (2015), 234–242, hier 236–237; Muldrew, Craig, Food, Energy and the Creation of Industriousness. Work and Material Culture in Agrarian England, 1550–1780, Cambridge 2011. 24 Vgl. Abel, Stufen, hier 32–33, 40 und 64. Die Studie führt die Ergebnisse seiner früheren Arbeiten zusammen, v. a. Abel, Wilhelm, Geschichte der deutschen Landwirtschaft vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert, Stuttgart 31978. Zur kritischen Rezeption vgl. Kleinschmidt, Wolfgang, Essen und Trinken in der frühneuzeitlichen Reichsstadt Speyer. Die Rechnungen des Spitals St. Georg (1514–1600), Münster/New York 2011, 95. 25 Vgl. u. a. Teuteberg/Wiegelmann, Nahrungsgewohnheiten, 103–104; Braudel, Fernand, The Structures of Everyday Life. The Limits of the Possible, New York 1981, 104, 199.

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ses die Frühe Neuzeit überwölbenden Prozesses erfuhren die südlichen und Mittelgebirgsregionen einen stärkeren Rückgang des Fleischkonsums als die norddeutschen Regionen.26 An dieser allgemeinen Darstellung der Epoche als einer sehr dürftigen sind jedoch Zweifel angebracht. Zwar stimmt das Bild knapper Ernährung mit der Krisenanfälligkeit der Landwirtschaft überein, die insbesondere mit der um 1560 einsetzenden Klimaverschlechterung, der ›kleinen Eiszeit‹, in Zusammenhang gebracht wird.27 Die Frühe Neuzeit war eine Epoche, in der Hunger und das Bedürfnis nach Lebensmitteln von großen Teilen der Bevölkerung alltäglich verspürt wurden. Doch bleibt die Frage offen, wie die Menschen ihren Alltag und diese Krisen bewältigten. So wandte die Agrar- und Sozialhistorikerin Heide Wunder zu Recht ein, wie denn unter solchen Bedingungen das Überleben der Menschen und das Bevölkerungswachstum zu erklären seien, und identifizierte komplementäre Ernährungsstrategien am Beispiel der Hirse und des Buchweizens.28 Ähnliche Strategien könnten auch für den Fleischkonsum rekonstruiert werden. Fleisch wird auch im kulturgeschichtlichen Kontext untersucht.29 Dies eröffnet Einblicke in konfessionelle Unterschiede, fragt man nach der Regelung und Einhaltung fleischfreier Tage und deren Änderungen bei Konfessionswechseln. Konflikte mit den Obrigkeiten, die sich aus der Nichteinhaltung solcher Regelungen ergaben, schlugen sich schriftlich nieder und zeugen von einem kulturellen Wandel im Fleischgenuss.30 Ein solcher Wandel ist auch in der Rangordnung der Fleischsorten erkennbar. Medizinische Abhandlungen schlugen eine soziale Hierarchie der Fleischsorten vor, nach denen beispielsweise Geflügel und Kalbfleisch den oberen Schichten vorbehalten waren, während der bäuerlichen Bevölkerung Schweinefleisch genügen sollte.31 Ähnlich wie im Fall der Konfessionalisierung stellt sich allerdings auch hier die Frage der Praxis: Inwieweit beschrieben solche Traktate tatsächliche Ernährungsgewohnheiten?

26 Vgl. Wiegelmann, Alltags- und Festspeisen, §§ 34–36; Hirschfelder, Fleischkonsum, 1016. 27 Vgl. zu Klima als Erklärungskontext Parker, Geoffrey, The Global Crisis. War, Climate, and Catastrophe in the Seventeenth Century, Yale 2013; kritisch dazu Warde, Paul, Global Crisis or Global Coincidence?, in: Past & Present 228 (2015), 287–301; für einen Literaturüberblick vgl. Reith, Reinhold, Umweltgeschichte der Frühen Neuzeit (Enzyklopädie Deutscher Geschichte 89), München 2011, 75–80. 28 Vgl. Wunder, Heide, »Der süße Brei«. Vom Sattwerden und Überleben in der Frühen Neuzeit, in: Meiners, Uwe/Ziessow, Karl-Heinz (Hg.), Dinge und Menschen. Geschichte, Sachkultur, Museologie. Beiträge des Kolloquiums zum 65. Geburtstag von Helmut Ottenjann, Cloppenburg 2000, 45–57. 29 Vgl. Montanari, Massimo, The Culture of Food, Oxford 1994, bes. 71–82 und 104–107; Nipperdey, Justus/ Reinhold, Katharina (Hg.), Essen und Trinken in der Europäischen Kulturgeschichte, Berlin 2016. 30 Vgl. Hirschfelder/Trummer, Food and Drink, § 4; Albala, Ken, The Ideology of Fasting in the Reformation Era, in: ders./Eden, Trudy (Hg.), Food and Faith in Christian Culture, New York 2011, 41–58. 31 Vgl. Grieco, Allen, Lebensmittel und soziale Hierarchien im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa, in: Prinz, Michael (Hg.), Der lange Weg in den Überfluss. Anfänge und Entwicklung der Konsumgesellschaft seit der Vormoderne, Paderborn 2003, 37–46, hier 43–45; Hirschfelder/Trummer, Food and Drink, § 20, die Autoren setzen sich für eine nuanciertere Beschreibung ein.

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Fleischgenuss oder fehlender Zugang zu Fleisch machten soziale Distinktion auch auf der Ebene der Beschaffung deutlich, so zum Beispiel bei der Jagd. Die Jagd war ein Hoheitsrecht, und der Verzehr von Fleisch des Hochwildes war gewöhnlichen Leuten unter Strafe verboten – dieses war den Obrigkeiten und dem Adel vorbehalten.32 Zahlreiche zeitgenössische Beschreibungen brachten diese Gastmähler mit Üppigkeit und Schwelgerei in Zusammenhang, machten den Kontrast zu den dürftigen Mahlzeiten der Bauern deutlich und illustrierten soziale Unterschiede.33 Während der Verzehr von Fleisch eine soziale Normierung erfuhr, wurde der Verkauf von Fleisch durch die Metzger, wie eingangs beschrieben, durch die Obrigkeiten reguliert. Eine rechtshistorische Betrachtung des Metzgerhandwerks verdeutlicht so die gesetzlichen Rahmenbedingungen des Fleischkonsums.34 Und nicht zuletzt spiegelt die zeitgenössische Diskussion um Fleischkonsum medizinische Vorstellungen wider, die umgekehrt Einblicke in die Rolle der alltäglichen Nahrung und Gesundheitsvorsorge zulassen.35 Fleisch ist zwar oft Bestandteil historischer Ernährungsforschung, bildete bisher aber keinen eigenen Schwerpunkt. Dabei stellt Fleisch einen komplexen Untersuchungsgegenstand dar, der mehrere Aspekte sowohl der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte als auch der Kulturgeschichte verbinden kann. Doch die unterschiedlichen Betrachtungen von Fleisch als Lebensmittel lassen ein sehr heterogenes Bild entstehen. Für die Untersuchung der vielfältigen Aneignungspraktiken von Fleisch bieten sich mehrere Quellentypen an. Speiseordnungen und Rechnungen unterschiedlicher Institutionen zeigen die alltägliche Ernährung von Spitalinsassen, Dienst- und Arbeitspersonal oder der Eliten auf.36 Selbstzeugnisse und Reiseberichte wiederum ermöglichen Einblicke in persönliche Erfahrungen und Praktiken, die sonst keinen Niederschlag in Rechnungsbüchern oder Inventaren fanden.37 Vielfach wurden Inventare daraufhin analysiert, Ernährungsgewohnheiten anhand des vorhandenen Küchengeschirrs und etwaiger Vorräte zu erschließen. Manche Aspekte der Ernährungsgeschichte konnten auf diese Weise

32 Vgl. zum rechtshistorischen Kontext Schennach, Martin P., Jagdrecht, Wilderei und »gute Policey«. Normen und ihre Durchsetzung im frühneuzeitlichen Tirol, Frankfurt a. M. 2007. 33 Vgl. Wiegelmann, Alltags und Festspeisen, 31–34. 34 Vgl. dazu Grass/Holzmann, Geschichte des Tiroler Metzgerhandwerks. 35 Vgl. Watts, Sydney, Enlightened Fasting. Religious Conviction, Scientific Inquiry, and Medical Knowledge in Early Modern France, in: Albala/Eden (Hg.), Food and Faith, 111–117. 36 Zu Spitalrechnungen und zum Fleischkonsum in Spitälern vgl. Kleinschmidt, Essen und Trinken. Zu weiteren Quellen in der Nahrungsgeschichte vgl. Jütte, Diets in Welfare Institutions, 117. 37 Beispiele hierfür sind Jancke, Gabriele, Gastfreundschaft in der frühneuzeitlichen Gesellschaft. Praktiken, Normen und Perspektiven von Gelehrten, Göttingen 2013, 30–31; Vickery, Amanda, Women and the World of Goods. A Lancashire Consumer and her Possessions, 1751–81, in: Brewer, John/Porter, Roy (Hg.), Consumption and the World of Goods, London/New York 1994, 274–301; Vickery, Amanda, The Gentleman’s Daughter. Women’s Lives in Georgian England, New Haven 1998.

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beleuchtet werden,38 aber die Aussagekraft von Inventaren bliebt limitiert, denn es sind statische Quellen: einzeln stellen sie eine Momentaufnahme dar, nur quantitative Langzeitstudien können Tendenzen und Veränderungen aufzeigen, lassen allerdings individuelle Entscheidungen im Dunkeln.39 Für diesen Beitrag sollen exemplarisch zwei Quellensorten, situiert in ländlichen Gesellschaften und an den Eckpunkten der auf Abels Dreistufenmodell zurückgehenden Periodisierung (Anfang 17. und Anfang 19. Jahrhundert), ausgewertet werden, die zugleich zwei unterschiedliche Zugriffe auf die Ernährungsgeschichte repräsentieren: Die erste Quellengruppe stammt aus dem medizinisch-institutionellen Bereich und umfasst S­ pitalbzw. Speiseordnungen eines kleinstädtischen Spitals aus dem 17. und 18. Jahrhundert, die in einer medizinischen Topographie aus dem beginnenden 19. Jahrhundert in Südwestdeutschland verzeichnet sind.40 Speiseordnungen von Spitälern und anderen Institutionen wie Waisenhäuser, Zucht- und Arbeitshäuser stellen eine Quellensorte dar, die für quantitative Erhebungen von Ernährungsweisen vor allem der unteren Bevölkerungsschichten mehrfach herangezogen wurden.41 Solche Ordnungen reflektieren, welche Art von Ernährung für die Insassen im Rahmen damaliger medizinisch-diätischer Vorstellungen als angemessen und bezahlbar angesehen wurde. Mit der gebotenen Vorsicht können bei Konsultierung mehrerer Speiseordnungen unterschiedlicher Zeitpunkte nicht nur Einblicke in die Ernährung von Pfründnern, Armen und Kranken, physisch arbeitenden Menschen in Zucht- und Arbeitshäusern und von Kindern in Waisenhäusern gewonnen, sondern auch zeitliche Veränderungen herausgearbeitet werden. Mit Vorsicht deshalb, weil die Ordnungen nicht unbedingt einen tatsächlichen Verbrauch widerspiegeln, sondern im Idealfall mit den Spitalrechnungen abgeglichen werden müssen.42 38 Vgl. z. B. Pennell, Sarah, »For a crack or flaw despis’d«. Thinking about Ceramic Durability and the »Everyday« in Late Seventeenth- and Early Eighteenth-Century England, in: Hamling Tara/Richardson, C ­ atharine (Hg.), Everyday Objects. Medieval and Early Modern Material Culture and its Meanings, Farnham 2010, 27–40; Ogilvie, Sheilagh/Küpker, Markus/Maegraith, Janine, Frauen und die materielle Kultur des Essens im frühneuzeitlichen Württemberg. Ergebnisse aus Wildberger Inventaren, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 71 (2012), 229–254. 39 Vgl. Maegraith, Janine/Muldrew, Craig, Consumption and Material Life, in Hamish, Scott (Hg.), Oxford Handbook of Early Modern European History, Bd. 1, Oxford 2015, 369–397, hier 372 und 390–391. 40 Schirt, Joseph von, Medizinische Topographie des Fürstentums Ochsenhausen, hg. von Kurt Diemer, bearb. von Eberhard Silvers/Karl Werner Steim/Hans Joachim Winckelmann, Konstanz/Eggingen 2006. 41 Vgl. Jütte, Diets in Welfare Institutions; Muldrew, Food, Energy and the Creation of Industriousness; für Österreich vgl. Scheutz, Martin/Weiß, Alfred Stefan, Spital als Lebensform. Österreichische Spitalordnungen und Spitalinstruktionen der Neuzeit, Wien/Köln 2015 (Quelleneditionen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 15/1–2); für einen Überblick über die südwestdeutsche Spitalforschung vgl. Ströbele, Ute, »Ein reich Spittal, den Armen zuguet«. Das Rottenburger Spital als städtische Fürsorgeeinrichtung im 16. und 17. Jahrhundert, in: Fritz, Gerhard/Kirn, Daniel (Hg.), Florilegium Suevicum, Stuttgart 2008, 79–96, hier 79–81. 42 Vgl. Ströbele, Das Rottenburger Spital, 9 Anm. 39.

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Tendenzen können jedoch herausgearbeitet werden. Während die quantitative Analyse des Fleischkonsums aus Speiseordnungen einen schon länger verwendeten Zugriff darstellt, wurden die medizinischen Topographien bislang kaum genutzt. Sie sind jedoch auch und gerade deshalb eine wichtige Quelle, weil sie die Epochengrenze um 1800 einbeziehen. Denn wenn man von der Annahme der Forschung ausgeht, dass Veränderungen im Fleischkonsum bei den unteren und mittleren Bevölkerungsschichten erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eintraten,43 dann muss man den frühneuzeitlichen Untersuchungsrahmen anpassen und die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts berücksichtigen. Einen zweiten, bisher ebenfalls wenig verfolgten Ansatz stellt auch die zweite Quellensorte der Selbstzeugnisse dar. Um Praktiken und Wandlungsprozesse des Fleischkonsums zu analysieren, wird ein Gedenkbuch aus Nordböhmen der Jahre 1629 bis 1649 ausgewertet, welches der Gerbermeister Michel Stüeler (1583–1656), Bürger der freien Bergstadt Graupen (Krupka) im nordböhmischen Erzgebirge, in den Jahren 1629 bis 1649 verfasste.44 Stüeler hielt darin nicht nur die politischen Ereignisse während des Dreißigjährigen Krieges fest, sondern schilderte auch seine Alltagshandlungen, insbesondere Lebensmittelkonsum und Essensgaben. Das Geben, Tauschen und Teilen war neben kommerziellen Transaktionen Bestandteil der frühmodernen Mischökonomie, die damit auch mehrere verschiedene Ebenen von Verbindlichkeiten besaß.45 Hinweise darauf können Annahmen in der Ernährungsgeschichte spezifizieren: Wie sah der Fleischkonsum in einer ländlichen Stadt aus, in der ein Großteil der Bevölkerung landwirtschaftlichen Nebenerwerb betrieb und wo zusammen mit Gabentausch und anderen Tauscharten die Mischökonomie sehr komplex war? Konnte diese Komplexität unterschiedlicher Aneignungspraktiken helfen, Krisenzeiten zu bewältigen?

43 Teuteberg/Wiegelmann, Nahrungsgewohnheiten, 104; Braudel, Structures, 196; Abel, Stufen, 66–67. Abel vermutet, dass der Wandel um 1840 eintrat, da um diesen Zeitraum erst die Fleischpreise anstiegen und mit ihnen auch die Kaufkraft. 44 Das Gedenkbuch wurde ediert und kommentiert von Kilián, Jan, Paměti krupského měšťana Michela Stüelera (1629–1649), Teplice 2013. Die Memoiren sind auf Deutsch verfasst, Kiliáns Einführung und Erläuterungen dagegen auf Tschechisch. Die Edition erschien 2014 auch auf Deutsch, vgl. Kilián, Jan (Hg.), Michel Stüelers Gedenkbuch (1629–1649). Alltagsleben in Böhmen zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges, Göttingen 2014. Ich danke dem Redakteur des Bandes Dr. Markus Meumann (Gotha) sehr für das Zusenden des Bandes. Das Manuskript wurde zuletzt für die sogenannte »Weiner Chronik« 1680 verwendet und erst im 19. Jahrhundert wiederentdeckt. Der zweite Teil wurde transkribiert, aber der Verbleib des Originals ist unbekannt. Siehe Kilián, Michela Stüelera, 46–52. Ich danke Dr. Veronika Capska (Prag) für ihren Hinweis auf Kiliáns Edition. 45 Siehe Muldrew, Craig, The Economy of Obligation. The Culture of Credit and Social Relations in Early Modern England, Basingstoke/New York 1998.

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3. Fleischkonsum im Spiegel von Spitalordnungen und medizinischen Topographien Aus Spitalordnungen können Angaben zum jährlichen Fleischkonsum der Insassen erhoben werden.46 Solche quantitativen Analysen können die Periodisierung und den zeitlichen Wandel des Fleischkonsums ergründen, regionale Unterschiede ermitteln und die These prüfen, ob dieser tatsächlich im Laufe des 17. Jahrhunderts stark zurückging und erst im 19. Jahrhundert wieder zunahm. Etwa seit Mitte des 18. Jahrhunderts wurden im Zuge neuer, durch die Aufklärung beeinflusster medizinischer Konzepte medizinische Topographien verfasst. Diese von Ärzten verfassten Ortsbeschreibungen nahmen neben geographischen, klimatischen und ökonomischen Merkmalen der spezifischen Region die demographischen Verhältnisse, den gesundheitlichen Zustand, die Mentalitäten, Kleidungsgewohnheiten, Lebensverhältnisse und Ernährungsweise der Bevölkerung auf.47 Besonders die letzteren drei Themenbereiche enthalten Informationen für die örtliche Konsumgeschichte. Für den Marktort Ochsenhausen im Kreis Biberach an der Riß schrieb der Landschaftsphysikus Joseph von Schirt (1765–1831) im Jahr 1805 eine medizinische Topographie, die seit 2006 in einer Edition vorliegt.48 Die Benediktiner-Reichsabtei Ochsenhausen wurde nach dem Reichsdeputationshauptschluss von 1803 säkularisiert und mit ihren Ämtern Ochsenhausen, Obersulmetingen und Ummendorf dem Grafen Franz Georg von Metternich-­Winneburg als Fürstentum zugeteilt.49 Er bestellte seinen fürstlichen Leibarzt von Schirt 1803 als Oberamtsarzt nach Ochsenhausen, der dort kurz darauf seine Topographie verfasste.50 Erneut beschrieben wurde Ochsenhausen, als der Landvogteiarzt Carl Endres (1768–nach 1825) 1816 eine Medizinalvisitation des Oberamts Biberach-Riß 46 Vgl. zu Ernährung in Spitälern Jütte, Diets in Welfare Institutions; Scheutz, Martin/Weiß, Alfred Stefan, Spitäler im bayerischen und österreichischen Raum in der frühen Neuzeit (bis 1800), in: Scheutz, Martin/Sommerlechner, Andrea/Weigl, Herwig/Weiß, Alfred Stefan (Hg.), Europäisches Spitalwesen. Institutionelle Fürsorge in Mittelalter und Früher Neuzeit, Wien/München 2008 (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung Ergänzungs-Bd. 51), 185–229; Kleinschmidt, Essen und Trinken, 93, 95–99. 47 Vgl. Deigendesch, Roland, Von Krupp und Krätze. Die »Medizinische Topographie der Stadt Kirchheim unter Teck« von Carl Gottlieb Gaupp, in: Stadt Kirchheim unter Teck (Hg.), Schriftenreihe des Stadtarchivs Kirchheim unter Teck, Band 32 (2008), 44–62; Zwingelberg, Tanja, Medizinische Topographien, städtebauliche Entwicklungen und die Gesundheit der Einwohner urbaner Räume im 18. und 19. Jahrhundert, Göttingen 2013, 49–58. 48 Schirt, Medizinische Topographie. 49 Vgl. Maier, Konstantin, »Im Banne der Sturmglocke der allgemeinen politischen Erschütterung …«. Die Säkularisation der Benediktiner-Reichsabtei Ochsenhausen, in: Rudolf, Hans Ulrich (Hg.), Alte Klöster – Neue Herren. Die Säkularisation im deutschen Südwesten 1803, Bd. 2.1, Ostfildern 2003, 425–436. 50 Zu seinen biographischen Daten vgl. Silvers, Eberhard/Diemer, Kurt, Einleitung, in Joseph von Schirt, Medizinische Topographie, 26–28.

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erarbeitete und dabei Ochsenhausen einbezog. Endres’ Bericht ist als Handschrift im Württembergischen Staatsarchiv Ludwigsburg überliefert.51 Bei beiden medizinischen Beschreibungen muss beachtet werden, dass sie aus der Perspektive von aufgeklärten Medizinern erfolgten.52 Die Gewohnheiten der ländlichen Bevölkerung wurden von den Autoren nach akademischen Standards bewertet, was eine gewisse Beurteilung beinhaltete und zu Konflikten mit der Obrigkeit oder den kritisierten Personen führen konnte.53 Nichtsdestotrotz liefern die beiden Darstellungen einen Einblick in den Alltag und das Konsumverhalten der Landbevölkerung Oberschwabens. Ein Schwerpunkt liegt bei beiden Beschreibungen auf der Armen- und Krankenpflege. Schirt und Endres visitierten daher auch das Spital in Ochsenhausen. Es wurde seit dem 13. Jahrhundert als Siechenhaus und seit dem 17. Jahrhundert vom Benediktinerkloster Ochsenhausen als Spital betrieben, nach der Säkularisation im Jahr 1803 wurde es von der neuen Obrigkeit weitergeführt. Schirt zitiert die Siechenordnung von 1608, die auch Informationen zur Verpflegung enthält.54 Danach erhielt ein Pfründner oder Insasse neben Brot, Wein, Schmalz, Milch (an Festtagen) und anderem pro Woche fünf Pfund Fleisch. Zu »größeren Festen« bekam er ein halbes Pfund Fleisch zum Braten und an anderen Festtagen auch Fisch. Das würde nach einer groben Schätzung etwa 109 Kilogramm Fleisch pro Pfründner und Jahr ergeben, was sehr hoch und nah am von Abel angenommenen Verbrauchsniveau von etwa 100 Kilogramm pro Kopf und Jahr am Ende des Spätmittelalters gewesen wäre.55 Ähnliche Ergebnisse lassen sich in anderen Spitälern finden.56

51 Staatsarchiv Ludwigsburg (StAL), E 162 I, Bü 1714 Medizinalvisitationen im Oberamt Biberach 1816−17. 52 Vgl. Maegraith, Janine, Medical Surveys in Central Europe and the Role of the »Enlightened Physician«, in: Čapská, Veronika in collaboration with Robert Antonín and Martin Čapský, Processes of Cultural ­Exchange in Central Europe, 1200−1800, Opava 2014, 179–206, hier 205–206. 53 Schirt geriet beispielsweise in Konflikt mit von Metternich-Winneburg, der die Publikation der Topographie verbot, und Endres provozierte einen heftigen Protest seitens eines der Apotheker, die er kritisierte. Vgl. Maegraith, Medical Surveys, 189, 199. 54 Vgl. Schirt, Medizinische Topographie, 148–165, hier 156–157. Die Verpflegung in der Siechenordnung wird an dieser Stelle nur in Bezug auf Fleisch ausgewertet. 55 Ob der Verbrauch tatsächlich so hoch war, müsste anhand der Rechnungen geprüft werden. Für die Berechnung folge ich den Parametern von Ströbele, Das Rottenburger Spital, 88 Anm. 40, in der sie sich auf Ulf Dirlmeier bezieht. Es wurden nach Abzug von sechs Fastenwochen 46 Wochen angenommen und eine Mindestzahl von vier Festtagen. Das Pfund wurde zu 472 Gramm berechnet. Zum Fleischverbrauch am Ende des Spätmittelalters, der nach Schätzungen bei ca. 100 kg pro Kopf und Jahr lag, vgl. Abel, Stufen, 11 (er rechnete mit 208 Fleischtagen); Teuteberg/Wiegelmann, Nahrungsgewohnheiten, 99. 56 Vgl. Ströbele, Das Rottenburger Spital, 87–90. Nach den Speiseordnungen von 1561 und 1620 wurden für jeden Sonderpfründner 108,6 kg und für Gemeinenpfründner 65 kg Fleisch pro Jahr angesetzt. Auch die Rechnungsbücher zeigten einen entsprechend hohen Fleischverbrauch in der Praxis an. Für die Armenpfründner wurde keine Menge angegeben, hier lag die Fleischration im Ermessen der Spitalleitung. Vgl. auch Kleinschmidt, Essen und Trinken, 95–99.

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In der erneuerten Ordnung von 1720 findet sich im wöchentlichen Speiseplan der Armen, Alten und Kranken zwar etwas Schmalz, aber kein Fleisch. Eine etwas bessere Verpflegung, die ein wenig Fleisch beinhaltete, wurde nur »nach Beschaffenheit der Krankheit« gewährt. Schirt beurteile die Pfründnerernährung des Jahres 1720 rückblickend als unangemessen für eine Krankenverpflegung. Zu bedenken ist allerdings, dass der Speiseplan von 1720 an zwölf Festtagen mit einem oder einem halben Pfund Fleisch ergänzt wurde.57 Dies waren vorgeschlagene Mindestmengen; die Insassen erhielten zudem etwas Geld für Zulagen und konnten je nach finanziellen Möglichkeiten zusätzliche Rationen auf dem Markt kaufen. Im Vergleich zu der früheren Regelung fällt auf, dass 1720 Fleisch nur an besonderen Festtagen gereicht wurde und nicht mehr wie noch 1608 einen wöchentlichen Bestandteil der Ernährung darstellte. Da keine quantitativen Angaben für die wöchentliche Ration an Fleisch für Kranke gemacht wurden, muss von einem Minimum ausgegangen werden, nach dem etwa an zwölf Festtagen im Jahr und zum Aderlass den Pfründnern Fleisch gereicht wurde. Nimmt man dafür etwa 14 Pfund oder 6,6 Kilogramm Fleisch pro Kopf und Jahr an, so liegt dieses Minimum, ohne die zusätzlichen Fleischrationen, die im Ermessen der Spitalleitung lagen, weit unter dem von 1608. Hier kann ein drastischer Rückgang im Fleischkonsum beobachtet werden.58 Allerdings war der Verpflegungsplan für eine bestimmte Bevölkerungsgruppe bestimmt, die wahrscheinlich nicht körperlich arbeitete. Neben Tendenzen können hier also auch sozialspezifische Ernährungsvorstellungen abgelesen werden. Doch wie sah es mit der Ernährung der Einwohner Ochsenhausens zur Zeit der Erstellung der Beschreibungen aus? Die Beschreibung von 1805 enthält eine Ernährungsskizze der ländlichen Bevölkerung. Schirt begann sein Kapitel »Von der Nahrung« mit dem Satz: »Wenn man viel arbeitet, so ißt man viel!« Er beschrieb die Einwohner des Amtes Ochsenhausen als sehr arbeitsam, fand aber deren Ernährung ungeeignet und unergiebig.59 Diese in den Topographien wiederkehrende Forderung, dass die Ernährung ausreichend Energie für physische Arbeit liefern müsse, evoziert die eingangs beschriebene Debatte im Rahmen der Industrialisierung. Schirt fand entsprechende Unterschiede bei der Ernährung zwischen dem »Landmann«, dem Bürger und den Armen. Im Jahr 1805 hatte Ochsen-

57 Die Insassen erhielten an Ostern, Pfingsten, zur Goldbacher Kirchweihe und zu Weihnachten zusätzlich ein Pfund Fleisch und eine Wurst; an Sankt Udalrici (Kirchenpatron), Neujahr und Fassnacht ein Pfund Fleisch; an Sankt Georgi, Himmelfahrt, Corpus Christi, zur Ochsenhausener Kirchweihe und zum Aderlass ein halbes Pfund Fleisch; und am ersten Rogate vier Pfund Leber für Knödel. Vgl. Schirt, Medizinische Topographie, 158–159. 58 Für das Spital Rottenburg konnte ebenfalls ein Rückgang des Fleischkonsums gegen Ende des Dreißigjährigen Krieges nachgewiesen werden. Vgl. Ströbele, Das Rottenburger Spital, 88 und Anm. 43. Vgl. auch Abel, Stufen, 40–41; Kleinschmidt, Essen und Trinken, 284. 59 Vgl. Schirt, Medizinische Topographie, 96–105.

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hausen ihm zufolge 2000 Einwohner, von denen sich die meisten von der Landwirtschaft und dem »Kornhandel« ernährten und nur wenige einem Handwerk nachgingen.60 Das »Landvolk« Ochsenhausens nahm nach Schirt fünf Mahlzeiten pro Tag ein: Am frühen Morgen Suppe und Mehl- oder Haferbrei; um neun Uhr morgens Kartoffeln oder ein Glas Branntwein und Brot; zu Mittag Suppe, »Krautknöpfel« und bei schwerer Arbeit etwas Fleisch; nachmittags Milch und Brot; zum Abendessen Suppe und einen Mehlbrei. Die beschriebene tägliche Kost der Bauern war sehr kohlenhydratlastig und umfasste Fleisch nur bei »schwerer Arbeit«. Die Ernährung des »Bürgers« oder der »bemitteltern« Leute dagegen enthielt mehr Gemüsesorten (oft aus Eigenanbau), mehr Abwechslung, weniger Mahlzeiten, aber öfter Fleisch, besonders Schweinefleisch. Die Ernährung des »armen Taglöhners« dagegen ließ sowohl Abwechslung wie Fleisch vermissen, indem sie laut Schirt nur aus Milch und Kartoffeln bestand.61 Schirts Ernährungsskizze lässt besonders beim Fleischkonsum eine soziale Hierarchie erkennen. Allerdings fehlen Angaben über zusätzliche Nahrungsmittel, zu denen die Bauern eventuell durch Eigenproduktion, Jagd, Fischfang oder über Essensgaben Zugang hatten. So werden Eier beispielsweise nur am Rande in Bezug auf medizinische Ratschläge erwähnt. In seinen Ausführungen zur Viehhaltung beschreibt Schirt, dass Hornvieh vor allem für Ackerbau und Milchproduktion genutzt wurde. Erst wenn es dem nicht mehr dienen konnte, wurde es gemästet und geschlachtet. Die Schweinezucht war Schirt zufolge wenig verbreitet und erfolgte allenfalls für den Eigengebrauch.62 Fleisch in Eigenproduktion deckte demzufolge auf dem Land nur das Nötigste ab. Der Autor der zweiten Beschreibung von 1816, Endres, konzentrierte sich indessen auf die Ernährung in Institutionen wie den Spitälern in Ochsenhausen und Biberach. Im Spital Biberach wurde sowohl den Gesunden als auch den Kranken an Sonntagen und Festtagen ein halbes Pfund Fleisch gereicht, was also ca. 23,6 Kilogramm pro Jahr entsprochen haben dürfte. Endres beanstandete nur, dass das vorgesehene Viertelpfund Brot pro Person und Tag nicht ausreichten.63 Im Ochsenhausener Spital dagegen wurde den Armen und Kranken eine sehr spärliche Kost aus Suppe und Mehlspeisen gereicht, Fleisch kam nur viermal im Jahr auf den Tisch. Endres kritisierte die zu geringe Versorgung der Insassen scharf, insbesondere die geringen Fleischmengen. Er forderte, »dass der Mensch als Mensch und nicht als Grasfressendes Thier behandelt werde«.64 60 Vgl. Schirt, Medizinische Topographie, 58–63. Zum Amt Ochsenhausen gehörten noch neun Dörfer, 15 Weiler und acht Höfe. 61 Vgl. Schirt, Medizinische Topographie, 96. 62 Vgl. Schirt, Medizinische Topographie, 84, 89. 63 StAL, E 162 Bü. 1714, Medizinalvisitationen im Oberamt Biberach 1816−17, Actum d. 5. May 1816 (Hospital Biberach). Einige Spitaliten erhielten jedoch statt der Kost Viktualien zur Selbstversorgung. 64 StAL, E 162 Bü. 1714, Visitation des Spitals in Ochsenhausen (07.04.1816); für die Kost wurden täglich pro Person 18 Kreutzer und 3 Heller aufgewendet. Für das Fleisch wurde keine Menge angegeben.

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Die medizinischen Beschreibungen lassen eine drastische Abnahme des Fleischkonsums in Ochsenhausen erkennen: während im Spital 1608 noch wöchentlich Fleisch gereicht wurde, nahm dies 1720 auf im Schnitt einmal pro Monat stark ab; 1805 beschreibt Schirt für die Landbevölkerung einen sehr geringen Fleischkonsum, und 1816 wurde im Spital nurmehr viermal im Jahr etwas Fleisch serviert. Das Ergebnis muss aber auch in den Kontext der Säkularisation und der Krisenjahre der Koalitionskriege gestellt werden. Veränderungen der Präferenzen bei der Versorgung der Spitäler und deren finanzieller Ausstattung nach 1803 – nachdem das Kloster, welches das Spital als Stiftung geführt hatte, aufgelöst worden war – müssten hier noch genauer untersucht werden. Insgesamt lassen sich die Ergebnisse gut mit der Historiographie zu Süddeutschland, der Spitalforschung und den Ergebnissen Roman Sandgrubers für Österreich im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert vereinbaren, denn hier wurde ebenfalls ein Rückgang des Fleischkonsums und in Österreich ein hoher Anteil an Mehlspeisen (später auch Kartoffeln) festgestellt.65 Der geringe Fleischkonsum der Landbevölkerung in Ochsenhausen bis ins 19. Jahrhundert geht mit der vorgeschlagenen Periodisierung des Fleischkonsums einher, steht aber in großem Kontrast zur Verpflegung der Mönche des dortigen Benediktinerklosters bis 1803. In den Klöstern der größeren Orden, zu denen auch die Benediktiner gehörten, wurde Fleisch regelmäßig gegessen, außer an Fastentagen, an denen Fleisch von kaltblütigen Tieren genossen wurde.66 Für die benachbarte Zisterzienserinnen-Reichsabtei Gutenzell beispielsweise zeigen die Jahresrechnungen Anschaffungskosten von Fleisch im Bereich von ein bis sieben Prozent der Gesamtausgaben des Klosters – und dies beinhaltete nicht die Eigenproduktion von Fleisch, die den Ordensleuten zusätzlichen Fleischkonsum ermöglichte.67 Während sich die Landbevölkerung und die Spitaliten mit einer sehr fleischarmen Kost begnügen mussten, genossen die Klosterinsassen eine proteinreiche Ernährung. Zusammen mit den Ergebnissen aus den medizinischen Berichten bestärkt dies die Funktion von Fleisch als sozialer Indikator, weist aber auch auf eine notwendige Nuancierung des zeitlichen und regionalen Wandels hin.

65 Vgl. Abel, Stufen, 40, 64; Sandgruber, Leben und Lebensstandard, 174; Wiegelmann, Alltags und Festspeisen, § 36. 66 Vgl. Hersche, Peter, Muße und Verschwendung. Europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter, Freiburg 2006, 349–350. 67 Vgl. Kreisarchiv Biberach, Zisterzienserinnen-Abtei Gutenzell, Jahresrechnung 1671 bis 1770. Danach stieg der Anteil der Ausgaben für Fleisch zwischen 1697 und 1769 von ein auf sieben Prozent. Vgl. Maegraith, Janine, Zucker, Gewürze und Kaffee. Luxusgüter hinter Klostermauern. Das Beispiel der Zisterzienserinnen-Abtei Gutenzell 1670–1770, in: Heimatkundliche Blätter für den Kreis Biberach 1 (2015), 10–21.

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4. Fleisch im Selbstzeugnis. Das Gedenkbuch Michel Stüelers Mit Spitalordnungen und medizinischen Topographien wurden Möglichkeiten aufgezeigt, den Fleischkonsum im Kontext der Ernährungsgeschichte zu untersuchen. Zum einen können quantitative Schätzungen dazu dienen, Tendenzen und zeitliche Veränderungen des Fleischkonsums zu identifizieren. Institutionelle Präferenzen und deren Wandel können zum anderen Auskunft über sozialspezifische Ernährung geben. Wie aber sah der Ernährungsalltag eines Haushaltes aus? Welche Präferenzen gab es, und wie wurde Mangel wahrgenommen und bewältigt? Welche Situation herrschte in den bislang wenig untersuchten frühmodernen Kleinstädten,68 und welche Rolle spielte der dort übliche hohe Anteil an landwirtschaftlichem Nebenerwerb? Können die nicht messbaren Aspekte, wie beispielsweise Gaben, gerichtliche Zuweisungen und Eigenproduktion, mit einbezogen werden? Mikrohistorische Studien kommen der wirtschaftlichen und sozialen Ernährungslage einer Bevölkerung sehr nahe und offenbaren Gewohnheiten und deren Wandel, Bedingungen von Produktion und den Konsum von Nahrungsmitteln. Dies zeigt beispielsweise die Arbeit Rainer Becks über das Dorf Unterfinning.69 Aber auch Selbstzeugnisse lassen differenziertere Einblicke in Konsum, Gebrauch, Konservierung, Umgang, Bedeutung und Eigenproduktion zu. Damit ermöglichen sie eine partielle Rekonstruktion der lokalen Mischökonomie, die eine Verflechtung kommerzieller und nicht-kommerzieller Transaktionen beinhaltete: Fleisch wurde nicht nur gekauft, getauscht, verschenkt, gestohlen oder gemeinschaftlich verzehrt, sondern auch in unterschiedlichem Maß selbst produziert bzw. gejagt.70 Um eine solche Mischökonomie in ihrer Komplexität zu erfassen, müssen multiperspektivische Ansätze verwendet werden. Denn quantitative Analysen können zwar bei gegebener Quellenlage institutionelle Versorgung oder Aktivitäten auf dem Markt und deren zeitlichen Wandel aufzeigen und begrenzte Rückschlüsse auf Eigenproduktion zulassen. Sie lassen aber andere Anschaffungsformen, die nicht »gezählt« werden können, im Dunkeln. Dafür können komplementär qualitative Quellen hinzugezogen werden, wie das Beispiel des Gedenkbuches von Michel Stüeler aus der erzgebirgischen Bergstadt Graupen zeigen soll. 68 Mit der Methode der Archäozoologie konnten wichtige Erkenntnisse für spätmittelalterliche Städte und Kleinstädte gewonnen werden. Vgl. Matschinegg, Ingrid, Tiere in der Stadt. Begegnungs- und Problemzonen zwischen Menschen und Tieren in europäischen Städten des Spätmittelalters, in: Österreich in Geschichte und Literatur 3 (2016), 48–62, hier 50–51. Ich danke Ingrid Matschinegg für die Zusendung des Artikels. 69 Vgl. Beck, Rainer, Unterfinning. Ländliche Welt vor Anbruch der Moderne. München 1993. Ich danke Heide Wunder für den Hinweis. 70 Vgl. zu einem ähnlichen Ansatz bei der Betrachtung der Lebensmittelbeschaffung Radeff, Anne, Food Systems. Central-Decentral Networks, in: Kümin, Beat (Hg.), A Cultural History of Food in the Early Modern Age, London 2012, 29–46, hier 31.

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Michel Stüeler führte in den Jahren 1615 bis 1656 ein Gedenkbuch. Das Original ist zwar nicht erhalten, aber für die Jahre 1629 bis 1649 existiert eine Abschrift aus dem 19. Jahrhundert, die Jan Kilián in einer kommentierten Edition zugänglich gemacht hat.71 Stüelers Selbstzeugnis ist eine wertvolle historische Quelle zum Alltagsleben in einer böhmischen Kleinstadt während des Dreißigjährigen Krieges, die Einblick in die persönliche Perspektive eines Handwerkers und Amtsinhabers gibt.72 Seine Schreibintention ist nicht bekannt, allerdings lässt das Anfangsjahr 1615 vermuten, dass sie mit stadtpolitischen Ereignissen zusammenhing: 1615 schenkte Kaiser Matthias die Stadt Graupen seinem Burggrafen Adam von Sternberg und beraubte die Stadt somit ihrer Privilegien.73 Stüelers Aufzeichnungen sind zeitnah, er trug sowohl alltägliche als auch politische Ereignisse ein, notierte auch Intimes über die Beziehung zu seiner Ehefrau und hielt mit seiner persönlichen Meinung über seine Mitbürger nicht zurück.74 Der Autor beabsichtigte daher wahrscheinlich keine Veröffentlichung seiner Notizen, auch wenn es seinen Zeitgenossen bekannt gewesen sein dürfte, dass er ein Gedenkbuch schrieb, so dass kurz nach seinem Tod Teile seiner Aufzeichnungen für eine Stadtchronik verwendet wurden.75 Michel Stüeler war nicht nur Gerbermeister, sondern zeitweise auch Zunftmeister, Waldwächter, Bergmeister, Gegenhändler und seit 1628 Mitglied der Gemeindeältesten. Er betrieb landwirtschaftlichen Nebenerwerb und besaß mehrere Gärten, Obstwiesen, Weinberge und Äcker.76 Stüeler gehörte der gehobenen Mittelschicht der Stadt an und nahm an offiziellen Maßnahmen teil, wie der Kontrolle der Fleischhauer oder der Bäcker, der Vermessung und Teilung von Landstücken und der Schlichtung von Streit. Einen großen Bestandteil seiner Aufzeichnungen nimmt seine Erfahrung des Dreißigjährigen Krieges und der Rekatholisierung der Stadt nach 1624 ein, die seit ca. 1576 lutherisch gewesen

71 Vgl. Kilián, Michel Stüelers Gedenkbuch, 39. Die Teile 1615–1628 und 1650–1659 sind nicht erhalten. 72 Vgl. ebd., 15–20. Folgende Jahre bzw. Zeitabschnitte fehlen: 21.10.1632 bis März 1633; 04.09.1634 bis 26.12.1634; 18.01.1639 bis 01.01.1640; 12.08.1645 bis April 1646; 1649 unvollständig. Zu Stadtchronistik und deren Quellenwert siehe Bräuer, Helmut, Stadtchronistik und städtische Gesellschaft. Über die Widerspiegelung sozialer Strukturen in der obersächsisch-lausitzischen Stadtchronistik der frühen Neuzeit, Leipzig 2009, bes. 253–254. 73 Vgl. Hallwich, Graupen, 151–155; Smetana, Jan, Graupen (Krupka, Bezirk Teplitz), in: Bahlcke, Joachim/ Eberhard, Winfried/Polívka, Miloslav (Hg.), Handbuch der historischen Stätten. Böhmen und Mähren, Stuttgart 1998, 172; Kilián, Michela Stüelera, 19–37. 74 Vgl. Kilián, Michela Stüelera, 839; ders., Michel Stüelers Gedenkbuch, 15–20. 75 Stüelers Memoiren fanden ihren Weg in die lokale Geschichtsschreibung; eine Stadtchronik Graupens von 1680 verwendete Teile des Textes. Die Weiner Chronik wurde von Johann Michael Weiner (1642–1726) und seinem Schreiber Johann Wagner verfasst, vgl. Kilián, Michela Stüelera, 46–47, 52–54; ders., Michel Stüelers Gedenkbuch, 46–48; Hallwich, Hermann, Geschichte der Bergstadt Graupen in Böhmen, Prag 1868, vi–vii, 209–216, hier bes. 213. 76 Zu Stüelers Biographie vgl. Kilián, Michela Stüelera, 39–46, 841–845; ders., Michel Stüelers Gedenkbuch, 34–39.

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war.77 Er selbst ließ große konfessionelle Unsicherheiten erkennen. Aus seinen Notizen geht hervor, dass er zwar sehr gläubig, aber kein Katholik war.78 Neben demographischen, politischen, landwirtschaftlichen und klimatischen Ereignissen hielt Stüeler in seinem Gedenkbuch familiäre Geschehnisse und seine eigenen Alltagshandlungen fest. Dazu gehörten auch Konsumausgaben etwa für Kleidung und Haushaltsgegenstände. Im November 1643 notierte er beispielsweise, dass er drei Ellen schwarzen Tuches für Hosen von der Ehefrau des Tobias Götlich – der »Götlichin« – für 37 Kreutzer die Elle kaufte und daraufhin Simon Kolschitter aus dem Tuch die Hosen schneiderte. Zwei Wochen später schrieb er: »[…] die schwarzen Gewandthosen angezogen. Gott der himmlische König gebe mir sein Gnad und Segen darinnen. Amen.«79 Diese Eintragungen zu Anschaffungen, deren Herkunft, Preis und Nutzung geben Einblick in die Bedeutung, die diese Dinge für Stüeler hatten. Dies wird noch durch das kurze Gebet bestärkt, mit dem er fast jeder Transaktion eine weitere Dimension der Verbindlichkeit gab. Ebenso wichtig wie Anschaffungen auf dem Markt waren Gaben: Stüeler notierte gewissenhaft Gaben von ihm und an ihn, die von Äpfeln, Zinngeschirr und Kleidungsstücken bis hin zu Geld reichten. In vielen Fällen notierte er neben dem Kontext auch den Geldwert der Gabe, womit er ihrer komplexen symbolischen, sozialen und wirtschaftlichen Bedeutung Rechnung trug. Seine Buchführung hielt Zeitpunkt, Bestandteile und beteiligte Personen fest und erinnert an die von Valentin Groebner besprochene Geschenkbuchhaltung des späten Mittelalters. Groebner betont dabei nicht nur den Zusammenhang mit der kommerziellen Buchführung und der erstrebten Selbstkontrolle des Autors oder der Autorin, sondern unterstreicht auch die Bedeutung, die es für die Zeitgenossen hatte, Gaben, deren Geber und Wert festzuhalten. Gaben hatten einen quasi-öffentlichen Charakter und ihre Reziprozität bedingte eine Verbindlichkeit.80 Tatsächlich ähneln Teile der Einträge bei Stüeler einer Geschenkbuchhaltung und damit einer Schreibpraxis des Bilanzierens. Dies wird besonders bei den Essensgaben deutlich. Diese nahmen einen großen Teil der Gaben ein. Eine Auszählung ergab etwa 163 Essensgaben und 86 Gaben von Geld, Kleidungsstücken oder Zinngeschirr.81 Die Essensgaben überwogen damit deutlich 77 Vgl. Hallwich, Graupen, 165–166, 170. 78 Vgl. auch Kilián, Michela Stüelera, 842; ders., Michel Stüelers Gedenkbuch, 36–37. Kilián bezeichnet S­ tüeler als »heimlichen Nichtkatholiken«. 79 Kilián, Michela Stüelera, 25.11.1643; 06.12.1643. 80 Vgl. Groebner, Valentin, Liquid Assets, Dangerous Gifts. Presentations and Politics at the End of the M ­ iddle Ages, Konstanz 2000, 15–18. Vgl. zum öffentlichen Charakter der Gaben ebd., 1, 35, 70; Douglas, Mary, ­Foreword, in: Mauss, Marcel, The Gift. The Form and Reason for Exchange in Archaic Societies, New York/ London 1990, ix–xxiii, hier xviii. 81 Die Auszählung ist keine absolute Erhebung, sondern gibt Tendenzen wieder. Vgl. Maegraith, Janine, ­Sdílení oblíbených věcí. Dárcovství jídla a dějiny konzumu v severovýchodních čechách 17. Století, in: Dějiny – teorie – kritika/History – Theory – Criticism 2 (2017), 226–267; dies., Communal Favourite Things. Food Gifts in Seventeenth-Century Bohemia, in: Jaritz, Gerhard/Matschinegg, Ingrid (Hg.), My Favourite Things. Object Preferences in Medieval and Early Modern Material Culture, Wien/Zürich 2019, 103–136.

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und umfassten Fleisch, Alkohol, Brot oder Mehl, etwas Obst, wenig Gemüse oder Milchprodukte – meist aus Eigenproduktion und oft gemeinsam konsumiert. Die Essensgaben reflektieren neben der Bandbreite der Grundnahrungsmittel auch Präferenzen, indem Fleisch mit 62 und Alkohol (vor allem Wein) mit 44 Gaben bei Weitem überwogen. Gaben stellten daher einen nicht unwesentlichen Bestandteil des Fleischkonsums dar. Fleisch wurde, wie anfangs anhand von Carraccis Gemälde erörtert, unter anderem bei Metzgern gekauft. Dies beinhaltete eine finanzielle Transaktion auf dem Markt bzw. das Kaufen auf Kredit. Stüelers Gedenkbuch enthält zahlreiche Einträge, die finanzielle Transaktionen beschreiben, aber keine bei einem Metzger getätigte.82 Dagegen beschrieb er die Funktion der »Schatzherren«, die das Fleisch der Metzger schätzten und den Preis prüften. Wie eingangs gezeigt, war die Aufsicht über die Metzger den auf das bonum commune verpflichteten Obrigkeiten wichtig, um sowohl die Qualität als auch den Angebotspreis zu kontrollieren.83 Dass dies nicht immer im kommerziellen Eigeninteresse der Metzger lag, zeigt ein Eintrag des Gedenkbuchs: Den 16. dito [August] ist den Fleischhackern alhier das Fleisch geschazt worden zum erstenmal […]. Merten und Franz Englert haben sich unnüze gemacht, das Fleisch teuer geben, als geschazt ist worden. Den 19. dito sind sie in Bürgermäister-Ambt erfordert und in die Piettelei gesteckt worden.84 Neben Qualitäts- und Preiskontrollen durch die Obrigkeit wurde der Fleischmarkt durch die korporativen Zusammenschlüsse des Metzgerhandwerks reguliert, die in Mitteleuropa weit verbreitet waren.85 Ein wesentliches Instrument korporativer Steuerung war die Begrenzung der Meisterstellen.86 Für das Graupen des Michel Stüeler ist bekannt, dass die Metzgerzunft dort schon vergleichsweise lange existierte. Stüeler verzeichnete in seinem Gedenkbuch, dass die »Fleischhacker« in Graupen ihr Gewerbesiegel im Jahre 1552 erhielten und somit das Recht, ein Innungssiegel zu führen.87 Doch wie viele Metzgerstellen gab es in Graupen und wie verteilten sie sich auf die Bevölkerung? In der Stadt82 Möglicherweise liegt dies daran, dass der Fleischeinkauf in die Kompetenz seiner Ehefrau fiel. Stüeler erwähnt vereinzelte Marktaktivitäten seiner Frau, listet aber nicht ihre regelmäßigen Einkäufe für den Haushalt auf. 83 Zur Aufsicht über die Fleischer und das Umgehen der Fleischpreise und Gewichte durch die Metzger vgl. Fleisch, in: Krünitz, Oekonomische Encyklopädie, Bd. 14, 164. 84 Kilián, Michela Stüelera, 146 (16.08.1631). 85 Zu Handel und Fleischversorgung besonders in spätmittelalterlichen Städten vgl. Matschinegg, Tiere in der Stadt, 50–51. 86 Vgl. Teuteberg/Wiegelmann, Nahrungsgewohnheiten, 103–104. 87 Kilián datiert die Gründung der Metzgerzunft auf 1480. Vgl. Kilián, Michela Stüelera, 122; ders., Michel Stüelers Gedenkbuch, 23.

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geschichte von Hermann Hallwich wird die Anzahl der Innungen und ihrer Meister in Graupen für 1635 und 1648 genannt. Hallwich wollte damit den Rückgang der Anzahl der Innungen und das Ausmaß des Verfalls des Handwerks nach dem Dreißigjährigen Krieg zeigen. Allerdings fällt auf, dass die Anzahl der Metzger angestiegen war. 1635 gab es laut Hallwich drei »Fleischhauer«; 1648 waren es sechs.88 1626 lebten in Graupen laut Hallwich über 1000 Bürger, 1634 starben laut Stüeler 390 Menschen an der Pest, 1649 lebten weniger als 100 Familien in der Stadt.89 Gemessen am starken Bevölkerungsrückgang stieg der Anteil der Metzger massiv an.90 Ob damit eventuell ein Rückgang der Eigenproduktion einherging, vermehrt auf dem Markt gekauft wurde und sich die Lage nach dem Krieg etwas entspannte, oder ob die Zunft weitere Stellen zuließ, um die prekäre ökonomische Lage zu entschärfen, muss hier offenbleiben.91 Neben Fleischgaben oder Einkäufen beim Metzger war die Eigenproduktion ein wichtiger Beschaffungsweg. Zahlreiche Einträge im Gedenkbuch weisen auf eine partielle Selbstversorgung hin, was in frühneuzeitlichen Haushalten, die Zugang zu und genügend Mittel für Land und Futter besaßen, gängig war. Es wurden Schweine, Hühner, Kühe und auch Ochsen gehalten und sowohl für den Eigenbedarf als auch für den Markt Fleisch, Eier und Milchprodukte produziert. Eine wenn auch kleine Viehwirtschaft war unverzichtbarer Bestandteil der bäuerlichen Wirtschaft, die den Dünger und die Zugkraft der Tiere brauchte.92 Damit verbunden war zumindest eine bescheidene Fleischproduktion, die aber nicht unbedingt auf den Eigenbedarf ausgerichtet war. Rainer Beck konnte für das Dorf Unterfinning zeigen, dass die Bauern zwar Vieh hielten, dessen Produkte aber möglichst auf dem Markt für Bargeld verkauften und nur selten selbst konsumierten. Dennoch schätzt Beck den jährlichen Fleischverbrauch im frühen 18. Jahrhundert auf 120 bis 140 Kilogramm pro Haushalt.93 Diese Schätzung bezieht sich allerdings auf die wohlhabenderen Haushalte. Soziale Unterschiede bei der Ernährung von Bauern, Bürgern und Armen treten auch bei Schirt deutlich zutage. Doch in württembergischen Inventaren zeigt sich, dass einige Haushalte von ländlichen Städten ein oder mehrere Rinder für Transport, Fleisch88 Vgl. Hallwich, Graupen, 191. 89 Vgl. ebd., 167, 190. 1648 waren zwei Drittel der Häuser öde. Vermutlich lebten 1649 noch zwischen 400 und 600 Menschen in Graupen. Vgl. Kilián, Michela Stüelera, 242. 90 Genau kann dies nicht berechnet werden, da die Zahlen vage bleiben. Wenn man aber von etwa 600 Personen in 1635 (1000 abzüglich der 390 Pestopfer) und etwa 500 im Jahr 1648 ausgeht, dann erhält man Proportionen von 1:200 und 1:83. Dies unterlag regionalen Schwankungen. So bringt etwa Braudel ein Beispiel aus Montpezat, wo die Metzgerstellen abnahmen, vgl. Braudel, Structures, 196. Im Vergleich dazu gibt Abel für Nürnberg im Jahr 1450 die Dichte der Metzgerbetriebe mit 1:282 an. Vgl. Abel, Stufen, 11. 91 Teuteberg und Wiegelmann erwähnen eine Verringerung der Selbstversorgung mit Fleisch. Vgl. Teuteberg/ Wiegelmann, Nahrungsgewohnheiten, 103. 92 Vgl. Abel, Stufen, 41. Viehhaltung konnte sich wegen des notwendigen Aufwandes auch negativ auswirken; vgl. zur Rolle des Düngers und der Tierhaltung Sreenivasan, Food Production, 21–22. 93 Vgl. Beck, Unterfinning, 567–568.

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und Milchproduktion hielten.94 Für das frühmoderne England wiederum konnte Craig ­ uldrew zeigen, dass in mehr als der Hälfte der ausgewerteten Inventare von Landarbeitern M Vieh, meistens Kühe, vor allem für die Milchproduktion aufgelistet waren.95 Auch Stüeler hielt Schweine, Kühe und Ochsen; Hinweise zu Milchproduktion und Schlachtungen finden sich mehrfach in seinen Aufzeichnungen. 1631 ließ er beispielsweise am 1. Mai ein Kalb schlachten und eine Woche später gleich nochmals: »Den 8. dito ein Kalb schlachten lassen. Gott gesegne uns diese beide.«96 Und 1640 notierte er, nachdem er sich eine neue Kuh gekauft hatte: »[Hat] mein Elisabeth [seine Frau] 9 Kese gemacht zum Anfange von der Kuh. Gott der Allmechtige gebe sein Gnadt und Segen. Amen.«97 Allerdings musste Stüeler mit zunehmenden wirtschaftlichen Problemen die Tierhaltung einschränken. Der letzte Eintrag, der das Schlachten eines Schweines für den Eigenbedarf beschrieb, datiert in das Jahr 1637: »Den 13. dito laßen ein Schwein schlachten. Gott helf, daß ich es mit dem meinigen in Gesundheit vorzehre. Amen.«98 In den 1640er Jahren gab er auch die Kuhhaltung zugunsten der günstigeren Ziegenhaltung auf: Im November 1640 starb ihm eine Kuh, die er kurz zuvor für neun Reichstaler gekauft hatte. Im September des Folgejahres kaufte er dann eine Ziege für zweieinhalb Reichstaler.99 Ziegen dienten sowohl zur Milch- als auch Fleischproduktion für den Eigenbedarf und für den Markt. In manchen Fällen wurden die Tiere auch selbst geschlachtet und Teile verkauft: »Den 30. dito ein junge Zieg geschlacht, Caspar Arnolt ½ vorkaufft pro 9 böhm. Gr. Habe sie selber geschlacht.«100 Tierhaltung und Schlachtung waren für den Autor wichtige Ereignisse, so dass seine Eintragungen Einblicke in Fragen der Erschwinglichkeit und Anpassung an Krisen eröffnen. Die Eigenproduktion von Fleisch als Beschaffungsform spielte in der Frühen Neuzeit eine wichtige Rolle.101 Möglichkeiten und Grenzen der Eigenproduktion bestimmten zum Teil, welche Fleischsorten konsumiert wurden. Die Fleischgaben und Informationen zur Eigenproduktion lassen ein differenziertes Bild der verzehrten Fleischsorten entstehen. Ziegenfleisch wurde zwar für den Eigenbedarf produziert, tauchte aber nicht als Gabe auf. Dagegen wurden Schweine-, Kalb- und Rindfleisch, Wild, Geflügel und Lammfleisch als Gaben verzeichnet. Stüelers Fleischkonsum umfasste demnach alle Fleischsorten. Mit Blick auf medizinische und literarische Quellen wird in der Historiographie betont, dass bestimmte Fleischsorten spezifischen sozialen 94 Vgl. Ogilvie, Sheilagh/Küpker, Markus/Maegraith, Janine, Household Debt in Early Modern Germany. Evidence from Personal Inventories, in: Journal of Economic History 72 (2012), 134–167, hier 160, 163. 95 Vgl. Muldrew, Food, Energy and the Creation of Industriousness, 250. 96 Kilián, Michela Stüelera, 134 (01./08.05.1631). 97 Ebd., 386 (02.03.1640). 98 Ebd., 310 (13.01.1637). 99 Ebd., 416 (18.11.1640), 444 (03.09.1641). 100 Ebd., 632 (30.11.1646). 101 Vgl. Hirschfelder, Fleischkonsum, 1016.

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Schichten zugeordnet wurden.102 Damit wurde eine soziale Hierarchie sowie ein StadtLand Gefälle in Bezug auf Fleischsorten vorgeschlagen. Der Blick auf die Bergstadt Graupen mit landwirtschaftlichem Nebenerwerb weicht dieses Gefälle jedoch auf: hier wurden nicht nur »Herrenspeisen« zwischen Amtsinhabern und Handwerkern getauscht, sondern auch Schweine und Kälber für den Eigengebrauch geschlachtet. Die starke Einbindung der mehrere Tausend Klein- und Kleinststädte in die Agrarwirtschaft und die Annahme, dass etwa ein Viertel der Bevölkerung in Städten unterschiedlicher Größe lebte, macht eine Neuevaluierung dieser Hierarchie notwendig.103 Dass der Fleischkonsum in Städten, die sowohl ländliche als auch urbane Züge vereinten, wesentlich differenzierter aussah, als es die Ernährungsgeschichte nahelegt, darauf weist auch die Zubereitungsform hin. Es wird angenommen, dass der Braten nur an Festtagen oder bei den oberen Schichten beliebt war. Das Braten stellte eine kostspielige Zubereitungsform dar, da dabei das wertvolle Fett verloren ging, wenn es nicht gesammelt wurde. Bei gewöhnlichen Leuten wurde dagegen das Fleisch vorwiegend gekocht (Eintopf), geräuchert oder gepökelt.104 Bei Stüeler geben besonders die Essensgaben Einblick in Zubereitungsformen: Neben rohem Fleisch kommen Fleischgaben in Form von Braten, Wurst und Leberwurst, »Schwarzfleisch« (Rauchfleisch) oder schlicht als Fleischspeisen vor. An Weihnachten 1647 verzeichnete Stüeler zum Beispiel: »Früe hat mir der Vater 1 Schweinbraten und 2 Würste geschickt, ein Strüzel [Striezel] aus 1 Meze Mel beim Junghansen lassen backen.«105 Gekochtes Fleisch oder Eintopf kamen dagegen nicht als Gabe vor. Insgesamt scheint hier die soziale Zuordnung von Fleischsorten und Zubereitungen offener gewesen zu sein als in frühneuzeitlichen medizinischen Traktaten vorgegeben.106 Eine regional und sozial differenzierte Vergleichsanalyse der Zubereitungsformen, Sorten und des Wandels im Fleischkonsum über die Zeit wäre daher erstrebenswert. Ebenso bedingte die Vergänglichkeit des Fleisches ähnlich wie bei Fisch, Milchprodukten oder Obst, dass es entweder gleich konsumiert oder konserviert werden musste. Der in der Literatur betonte Konsum von Rauch- und Pökelfleisch bei den Unterschichten dürfte ein Hinweis darauf sein, dass eher selten geschlachtet wurde und daher die Rationen konserviert wurden, um für eine längere Zeit zur Verfügung zu stehen. Schlachten und Konservieren folgte außerdem saisonalen Voraussetzungen, die das Schlachten im Herbst oder Winter nach der Sommerweide sinnvoll machten. So weist Ingrid Matschinegg darauf hin, dass in spätmittelalterlichen Städten 102 Vgl. Hirschfelder/Trummer, Food and Drink, § 20; Hirschfelder, Fleischkonsum, 1017; Grieco, Lebensmittel und soziale Hierarchien, 37–46. 103 Vgl. Reith, Umweltgeschichte, 60–61. Eine Nuancierung schlagen auch Hirschfelder und Trummer vor, vgl. Hirschfelder/Trummer, Food and Drink. 104 Vgl. Hirschfelder/Trummer, Food and Drink, § 19; Hirschfelder, Fleischkonsum, 1017. 105 Braten kommt insgesamt viermal als Gabe vor, Kilián, Michela Stüelera, 452, 498, 666, 738, hier 666. 106 Vgl. Grieco, Lebensmittel und soziale Hierarchien, 45–46.

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vor allem Schweine im Winter geschlachtet wurden, da sie dann nicht nur gemästet waren, sondern die Kälte das Konservieren des Fleisches vereinfachte.107 Das daraus resultierende beschränkte Angebot an frischem Fleisch stand in scharfem Kontrast zu den Gastmahlen der Eliten, für die verschiedene Sorten an Frischfleisch zubereitet wurden.108 Ein Teil dieses Frischfleisches bestand aus Wildfleisch, das laut zeitgenössischen Schriften vornehmlich den Eliten zugedacht war. Als eine besondere Fleischsorte nimmt es, wie oben bereits erwähnt, auch in der Beschaffungsform der Jagd eine nicht nur soziale, sondern auch politische Bedeutung ein. Dies wird im Gedenkbuch veranschaulicht. Michel Stüeler war Waldwächter; zwar hatte er keine Jagdlizenz, doch liefen bei ihm die Informationen zur Jagd zusammen, so dass es zahlreiche Einträge gibt, die über Jagderfolge und die anschließende Verteilung des Fleisches berichten. Die Jagd auf Wild unterliegt bestimmten zeitlichen Eingrenzungen und ist zudem nicht steuerbar. Wurde ein Tier erlegt, so wurde das Fleisch rasch verteilt, konserviert, gemeinschaftlich konsumiert oder verschenkt. Darin unterschied sich das erlegte Wildfleisch nicht von anderem frisch geschlachteten Fleisch, allerdings wurde Wild in der Regel nicht von Metzgern verkauft. Die Jagdhoheit war in der frühen Neuzeit das Privileg der Landesherren.109 Dieses Privileg konnte aber von untergeordneten Gewalten erworben werden, so dass auch die Stadt Graupen das Recht auf Jagen in den umliegenden Wäldern beanspruchte, nachdem sie sich 1584 durch Freikauf aus der Erbuntertänigkeit der böhmischen Krone gelöst hatte. Allerdings wurde dies der Stadt vom Landesherrn Burggraf Sternberg streitig gemacht, weshalb er jährliche Abgaben von Wildschwein und Hirschfleisch einforderte.110 Indem die Bürgerschaft Graupens auf ihrem Jagdrecht bestand, trat sie in Konflikt mit der Landeshoheit. Vergleichbare Nutzungskonflikte um den Wald sind für die Frühe Neuzeit vielfach belegt: Die Jagdhoheit stellte einen Streitfall in zahlreichen Herrschafts- und Grenzkonflikten dar.111 Angesichts der umstrittenen Jagdhoheit können Wildgaben als ambivalente Gaben verstanden werden, die den fortgesetzten Widerstand der Bürgerschaft gegen den Entzug ihrer Privilegien zeigt. Felicity Heal betonte die große Bedeutung von Wildgeschenken und das Potenzial eines geheimen Handels von Wildfleisch.112 Dies trifft auch für Graupen zu: In einem Fall wurde der Gemeinde eine hohe Geldstrafe für das Erlegen eines Hirsches auferlegt. Und in sechs Fällen wurden dem Landesherrn Rehfleisch und Auerhahn 107 Matschinegg, Tiere in der Stadt, 54. 108 Eine vergleichende Beschreibung der Speisepläne der Knechte und der Edelleute am Hof des Reichsgrafen von Öttingen um 1500 bei Wiegelmann, Alltags- und Festspeisen, § 31. 109 Vgl. Köbler, Gerhard, Lexikon der europäischen Rechtsgeschichte, München 1997, 202, 355. 110 Vgl. Hallwich, Graupen, 181. 111 Vgl. Schindler, Norbert, Wilderer im Zeitalter der Französischen Revolution. Ein Kapitel alpiner Sozialgeschichte, München 2002; Schennach, Jagdrecht. 112 Vgl. Heal, Felicity, Food Gifts. The Household and the Politics of Exchange in Early Modern England, in: Past and Present 199 (2008), 41–70, hier 55, 57–59.

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geschickt – ob als Gabe oder Abgabe bleibt offen.113 Reh- und Hirschfleisch wurde innerhalb der Bürgerschaft relativ häufig als Gabe getauscht. Stüeler erhielt zwischen 1643 und 1648 vier Hirschfleischgaben und beschwerte sich in zwei anderen Fällen, dass er nichts vom erlegten Hirsch erhielt.114 Rehfleisch wurde in etwa 20 Fällen vergeben, daneben wurden Hase und Auerhahn in zehn Fällen verschenkt. Wildfleisch konnte als zusätzliche Besoldung von Amtsinhabern bzw. als eine Gabe innerhalb einer privilegierteren sozialen Gruppe fungieren, wie Heal schon für England vorschlug und auch bei Groebner angesprochen wird.115 Die relative Häufigkeit von Wildfleischgaben könnte auch auf dessen Materialität zurückzuführen sein, denn das Fleisch musste, wie bereits erwähnt, rasch verteilt werden, um entweder frisch verzehrt oder konserviert zu werden. Für die Geschichte des Fleischkonsums bedeutet dies, dass die herrschaftliche Kontrolle der Jagd nicht nur angenommen werden darf, sondern in Einzelfällen zu überprüfen ist, denn bei Stüeler zeigt sich, dass das Jagen eine gewichtige zusätzliche Erwerbsform von Fleisch darstellte. Die inhärenten Konflikte um die Jagd und das Wildfleisch weisen auch auf die unterschiedlichen Bedeutungen, die dem Lebensmittel Fleisch anhafteten. Besonders deutlich wird dies im religiösen Kontext. So gab es konfessionelle Unterschiede beim Fleischkonsum im Hinblick auf die Fastenzeiten. Die katholische Kirche hatte am Ende des Mittelalters bis zu 150 Tage im Jahr bestimmt, an denen das Fleisch warmblütiger Tiere und auch ihrer Produkte wie Eier und Milchprodukte nicht verzehrt werden durften. Dies relativierte sich in der Frühen Neuzeit zwar nicht nur im protestantischen Raum, wo die Fastentage bis zu einem gewissen Grad verworfen wurden, sondern auch in katholischen Gebieten.116 Nichtsdestoweniger entstanden durch die Glaubensspaltung neben regionalen auch konfessionelle Unterschiede bei der Ernährung, die zum Beispiel an den Fastenspeisen wie Fisch und an der Einhaltung der Fastenzeiten erkennbar sind.117 Kleinschmidt analysierte für das Spital St. Georg in Speyer etwa, ob die Einführung der Reformation Veränderungen im Fleischkonsum nach sich zog. Er konnte eine allmähliche Abnahme im Fisch- und eine stetige Zunahme im Fleischkonsum nachweisen, allerdings war dies ein Prozess über etwa 50 Jahre und es wurden bestimmte Fastentage nicht ganz aufgegeben.118 Vor dem Hintergrund der Rekatholisierung in Böhmen konnten alltägliche Praktiken wie der Fleischkonsum als Grenzüberschreitungen und je nach Standpunkt als bewusstes Fastenbrechen – wie in Zürich im Jahr 1522 – oder weitergeführte Gewohn113 Vgl. für den Gabentausch zwischen Bauern und Landesherren Davis, Natalie Zemon, The Gift in Sixteenth-Century France, Madison/Oxford 2000, 40–41 und 52–53. 114 Kilián, Michela Stüelera, 522, 570, 622, 690 (Hirschfleisch als Gabe); 620, 726 (kein Hirschfleisch erhalten). 115 Vgl. Heal, Food Gifts, 55; Groebner, Liquid Assets, 50, 55–59. 116 Vgl. Albala, Ideology of Fasting, 42, 48–49. 117 Vgl. Pelzer-Reith, Birgit, Fischerei, in: Jäger (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 3, 1010. 118 Vgl. Kleinschmidt, Essen und Trinken, 113–118, 291–292.

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heit wahrgenommen werden.119 Auch in Stüelers Aufzeichnungen scheinen konfessionelle Spannungen bei Alltagshandlungen durch. Diese sind wohl darauf zurückzuführen, dass die Stadt lange Zeit lutherisch gewesen war und erst 1628 wieder katholisch wurde. Fleischkonsum während der Fastenzeit war dabei besonders heikel, wie Stüeler anhand des folgenden Ereignisses beschrieb. Der altgläubige Graupener Pfarrer war von Karel Maximilian Bleyleben, Mitglied des Ritterstandes, zu einem Gastmahl eingeladen worden: Den 25. Martii ist unser Pfarrherr beim Jungen Bleilöbel zu Gaste gewest, hat er Fleisch gespeiset und die Trummel schlagen lassen, hat ihn [Bleyleben] der Pfarr angeredet, daß er in der Fasten Fleisch speiset; sind uneins mit einander worden, hat ihn der Bleilöbe wollen zum Fenster nausser stürzen, wen ein fremder Edelman nicht mit Gewalt hette gewehret. Geschwind der Pfarrherr heimgangen, vorredet, er wolle niemehr zu Gaste mehr kommen. (Die Pfaffen sein es werdt.)120 Mitte Februar 1644, zu Beginn der Fastenzeit, notierte Stüeler außerdem, es habe »ein Weib von Behancken den Paul Mennichen Eltern ein wenig Fleisch bracht. Michel Kinel dieses gesehen, ins Haus gelauffen, das Fleisch genommen und in Spital getragen. Der Vorrether wie sein Vater, wird auch von der Stadt vorwiesen.«121 Kinel vermutete wohl hinter dieser Gabe konfessionelle Motive und intervenierte, obwohl es sich wahrscheinlich eher um einen Akt nachbarschaftlicher Hilfeleistung handelte.122 Stüeler selbst war sehr aufgebracht darüber und nannte Kinel einen Verräter. Die Gabe sollte zwar nicht heimlich geschehen, aber sie sollte von den Nachbarn schweigend geduldet werden.123 Die Fleischgabe zur Fastenzeit könnte während dieser konfessionellen Übergangsperiode eine alltägliche Praxis darstellen – oder aber ein subversives Geschenk, das in diesem Fall bestraft wurde. Fleischgaben können Diskrepanzen zwischen Norm und Praxis oder fortbestehende konfessionelle Ambiguitäten innerhalb der Bürgerschaft der Stadt offenlegen, die ansonsten schwer fassbar sind.124 Diese Ereignisse müssen allerdings nicht zwingend 119 Vgl. Conrad, Anne, Von Würsten, Spanferkerln und moralischer Nüchternheit. Essen und Fasten als »christliche Freiheit«, in: Nipperdey, Justus/Reinhold, Katharina (Hg.), Essen und Trinken in der Europäischen Kulturgeschichte, Berlin 2016, 79–93, hier 81; Albala, Ideology of Fasting, 41; zur Rekatholisierung Böhmens vgl. Louthan, Howard, Converting Bohemia. Force and Persuasion in the Catholic Reformation, Cambridge 2009. 120 Kilián, Michela Stüelera, 682 (25.03.1648). Der Einschub Stüelers wird bei Kilián in eckigen Klammern wiedergegeben. Hier werden aufgrund des besseren Verständnisses runde Klammern gewählt. 121 Kilián, Michela Stüelera, 550 (13.02.1644). 122 Zum Konzept »informal support« vgl. Krausman Ben-Amos, Ilana, The Culture of Giving. Informal Support and Gift-Exchange in Early Modern England, Cambridge 2009. 123 Vgl. Groebner, Liquid Assets, 1, 35, 70; Douglas, Foreword, xviii. 124 Zu konfessioneller Ambiguität vgl. Pietsch, Andreas/Stollberg-Rilinger, Barbara (Hg.), Konfessionelle Ambiguität. Uneindeutigkeit und Verstellung als religiöse Praxis in der Frühen Neuzeit, Gütersloh 2013.

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als protestantische Provokation gewertet werden. Sie weisen vielleicht auch auf die konfessionelle Übergangsperiode oder auf eine generelle Wirkungslosigkeit katholischer Fastengebote hin. Letzteres zeigen herrschaftliche Mandate, die wiederholt die Einhaltung der Fastenvorschriften anmahnten.125 Sowohl der religiöse Kontext als auch die Jagd verdeutlichen, dass der Zeitpunkt des Schlachtens, der Konservierung und des Verbrauchs wichtige Aspekte des Fleischkonsums sind, die der Vergänglichkeit des Fleisches inhärent sind. Die konfessionellen Spannungen weisen zudem auf zeitliche Einschränkungen des Fleischessens hin, die nicht unmittelbar mit der Materialität des Fleisches zusammenhingen, sondern interpretatorischen, normativen und konfessionellen Charakter hatten. So wurde Fleisch häufig sonntags gereicht, oder wie erwähnt in Spitälern zu Hochfesten frisches Fleisch geboten oder zu Fastenzeiten in katholischen Gebieten verboten. Es konnte an Festtagen als Prestigeobjekt bei oberen Schichten reichhaltig aufgetischt oder armen Nachbarn zur Unterstützung gegeben werden.126 Als Gabe wurde Fleisch in Stüelers Gedenkbuch für den gesamten Zeitraum 1629 bis 1649 genannt. Anfangs konnte Fleisch und besonders Wild noch als Gabe zwischen sozial Gleichgestellten angesehen werden, die damit ihre soziale Verbundenheit festigten. Aber mit den 1640er Jahren, in denen Stüeler in wachsende finanzielle Schwierigkeiten geriet, nahm die Fleischgabe den Charakter der Hilfeleistung an. So erhielt er beispielsweise an Weihnachten 1641 ein Stück Kalbsbraten und zu Ostern 1643 zwei Pfund Kalbfleisch.127 Stüeler schätzte diese Gaben sehr und vermerkte auch, wenn er sich kein Fleisch leisten konnte: »als der Pfingstag habe ich kein Fleisch gehabt. Der Vater Michel Pazelt hat mir ein Stücke Schwarzfleisch und einen Fleck geschickt.«128 Die Fleischgaben verteilten sich über das ganze Jahr, aber es war an Festtagen, dass der Mangel besonders spürbar wurde. Hinweise zur Erwartungshaltung sind wertvoll, wenn man die chronologische Veränderung des Fleischkonsums betrachtet. In Graupen waren Fleischgaben bis 1649 wichtig und die Zunahme an Metzgerstellen, wie sie oben diskutiert wurde, bestätigt den fortgeführten Konsum ebenso wie die häufigen Bezüge zu Fleisch im Gedenkbuch. Auch wenn keine quantitativen Angaben daraus möglich sind, kann angenommen werden, dass der Fleisch125 Vgl. das Vasten Mandat, vonwegen des Fleischessens, Auch Empfahung des Sacraments Ferdinands II. Erzherzog von Österreich, Innsbruck 1571, abgedr. in: Rapp, Josef, Über das vaterländische Statutenwesen, in: Beiträge zur Geschichte, Statistik, Naturkunde und Kunst von Tirol und Vorarlberg, Bd. 5 (1829), 1–229, hier 222–224. Danach konnten u. a. schwangere Frauen, Kindbetterinnen, alte und schwache Menschen Dispensansuche stellen. 126 Vgl. Hirschfelder, Fleischkonsum, 1017. 127 Kilián, Michela Stüelera, 452 (25.12.1641): »hat mein Gefatter Pfarr ein Stücke Kelberpraden geschickt mit seiner Magd.«; 508 (04.04.1643) »Cornet mir 5 bo. gr. vorehret, der Pfarrherr 3 ggr geliehen zu Brot. Ist ein schoner Tag gewesen, haben ubersingen vor 1 fl Wein ausgetruncken beim Michel Pazelt, und hat Michel Weiner mir 2 lb Kalbfleisch geschickt.« 128 Kilián, Michela Stüelera, 618 (20.05.1646).

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konsum in dieser Gegend 1629 noch relativ hoch war, bevor die Kriegsfolgen besonders die Eigenproduktion erschwerten. Aber selbst 1649 wurde Fleisch noch als Bestandteil der Ernährung erwartet. Das Gedenkbuch verweist auf die notwendige Präzisierung der Annahme, dass der Dreißigjährige Krieg die Spannungen der Ernährungslage der Jahrhundertwende vorerst abmilderte.129 Erst eine Untersuchung der Ernährungslage Graupens im 17. Jahrhundert würde eine definitive Aussage ermöglichen.

5. Perspektiven Eine Konsumgeschichte des Fleisches eröffnet eine Vielzahl an Ansätzen, um Fragen der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte aber auch der Kulturgeschichte zu beleuchten. Eine solche multiperspektivische Betrachtung von Fleischkonsum kann die frühneuzeitliche Mischökonomie in ihrer Komplexität darstellen und die Komplementarität beider Ansätze demonstrieren. Denn Fleisch kann sowohl eine kulturelle, symbolische und religiöse Bedeutung haben als auch eine grundlegend wirtschaftliche, soziale und ernährungstechnische Rolle spielen. Die Heterogenität der sozialen Praktiken der Anschaffung in der frühmodernen Ökonomie beispielsweise konnte sich nach dem nordböhmischen Beispiel in Krisenzeiten bewähren, indem der Mangel an Zahlungsmitteln und Gütern mit informellen Hilfeleistungen aus der Nachbarschaft überbrückt wurde. Ebenso beleuchtet Fleischkonsum das Thema der Eigenproduktion und deren Bedeutung für die Versorgung der Haushalte. Veränderungen im Fleischkonsum können ein Spiegel sozialer Differenzen und sich verändernder Lebensstandards sein, die von den Zeitgenossen durchaus wahrgenommen wurden. Fleisch spielte in beiden Quellen eine wichtige Rolle: Im Selbstzeugnis Stüelers war es ein begehrtes und viel getauschtes Lebensmittel, dessen Mangel infolge des Dreißigjährigen Krieges sehr beklagt wurde. Genauso zeigen die Spitalordnungen eine rapide Abnahme des Fleischkonsums nach 1648, und bis Anfang des 19. Jahrhunderts fallen die geringe Höhe des Fleischkonsums und dessen soziale Distinktionsfunktion auf. Fleisch war, wie andere Lebensmittel auch, nicht umsonst zu haben, und so führen alle Überlegungen notgedrungen zur Frage der Erschwinglichkeit für Konsumentinnen und Konsumenten unterschiedlicher sozialer Gruppen. Allerdings konnten mit der Untersuchung des Gedenkbuchs auch regionale Eigenarten und die Zwischenstellung von ländlichen Kleinstädten erkannt werden, die einmal die angenommene soziale Zuordnung von Fleischsorten und Zubereitungsarten relativieren und zum anderen die Bedeutung der statistisch nicht wahrnehmbaren Beschaffungsformen von Lebensmitteln in den Fokus rücken. In der Geschichte der Ernährung muss die Komplexität der Ökonomie berücksichtigt wer129 Vgl. Abel, Stufen, 40; Teuteberg/Wiegelmann, Nahrungsgewohnheiten, 104.

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den, und nicht quantifizierbare Elemente ebenso wie die Möglichkeit der – wenn auch manchmal begrenzten – Eigenproduktion müssen in sie einbezogen werden. Dies könnte generalisierende Langzeitbetrachtungen ergänzen und dazu beitragen, Fragen nach Krisenbewältigung und komplementären Ernährungsstrategien zu beantworten. Schließlich kann Fleisch kultur- und sozialgeschichtliche Fragen wie konfessionelle Ambiguitäten und Übergangsperioden sowie die noch wenig erörterten geschlechts- und altersspezifischen Ernährungsunterschiede thematisieren. Die vorangegangenen Ausführungen zeigen, dass der Fokus auf ein Nahrungsmittel und die damit einhergehenden Praktiken nicht nur Konsummuster verdeutlicht, sondern auch vielfältige Möglichkeiten für weitere Forschungen eröffnet.

Eignungen und Anforderungen

Miniaturisierung als Verdichtung? Von der Relationalität der Dinge Annette Caroline Cremer

If the Earth were only a few feet in diameter, floating a few feet above a field somewhere, people would come from everywhere to marvel at it. […] The people would declare it as sacred because it was the only one, and they would protect it so that it would not be hurt. The ball would be the greatest wonder known, and people would come […] to wonder how it could be. […] If the Earth were only a few feet in diameter. (Joe Miller, 1998)1

Die Frühe Neuzeit ist ein relationales Zeitalter, das in Ordnungskategorien und Polen ›denkt‹. So etwa über das Verhältnis zwischen Sonne und Erde, zwischen Gott und Mensch, zwischen Fürst und Untertan, zwischen Mann und Frau. Sie ist damit eine Zeit, die sich selbst immer im Verhältnis zu etwas anderem definiert. Sich-in-Beziehung-setzen und Sich-abgrenzen sind zentrale Bedürfnisse der Epoche. Beides, also Beziehung und Abgrenzung sind ebenfalls wichtige Aspekte der Objektwelt.

1. Die Relationalität von Objekten Kleine Dinge, um die es um Folgenden gehen wird, zeichnen sich durch ihre Devianz von der Norm aus. Diese Sichtweise zeigt sich bereits sprachlich.2 Das heute altertümliche Kompositum des Kleinods wurde im ausgehenden 18. Jahrhundert als »ein kleines, zartes Ding, im Gegensatze größerer Dinge seiner Art«3, als Pretiose definiert, aber auch als klei1 2

Joe Miller, If the Earth …Were a Few Feet in Diameter, Greenwich 1998. Im Duden finden sich neben der Hauptbedeutung des Lemmas klein verschiedene Wort- und Bedeutungsfelder, nämlich: in Ausdehnung oder Umfang unter dem Durchschnitt bleibend, als Synonym von jung und von kurzer Dauer, von geringerem Ausmaß, Umfang, Grad; aber auch von geringerer Bedeutung, einfach oder belanglos. Das Adjektiv ist also nicht nur beschreibend wirksam, sondern birgt inhaltlich negative Nebenbedeutungen. 3 Kleinod, in: Krünitz, Johann Georg, Oekonomische Encyklopädie, Bd. 40, Berlin 1787, 336, online verfügbar unter: http://www.kruenitz1.uni-trier.de, letzter Zugriff: 12.06.2016. Das Kleine wird hier entgegen der mitunter diminutiven modernen Nebenbedeutung besonders in seiner Verhältnismäßigkeit verstanden. Tatsächlich wurde jedoch der Begriff der Miniatur in der Mitte des 18. Jahrhundert nicht zur Bezeichnung kleiner oder verkleinerter Dinge im Allgemeinen, sondern ausschließlich für Miniaturmalerei verwendet. Vgl. Miniatur, in: Zedler, Johann Heinrich, Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 21, Halle a. d. S./Leipzig 1739, 373–374, online verfügbar unter: http://www.zedler-lexikon.de, letzter Zugriff: 26.08.2016.

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ner Hausrat, Werkzeug oder kostbarer Schmuck. Das eigentliche Maß der Zuschreibung von ›normal‹, ›groß‹ oder ›klein‹ ist der ›lebensgroße‹ Mensch selbst.4 Als klein sind alle Objekte zu bezeichnen, die ein einzelner Mensch eigenhändig bewegen und tragen könnte. Aber Objekte sind nicht nur klein, sondern ›noch kleiner‹ oder ›verkleinert‹: Eine Gabel ist klein im Verhältnis zu einem Topf; eine Stecknadel ist winzig klein; ein Schiff in einer Flasche ist verkleinert. Das Verhältnis zwischen Klein, Norm und Groß lässt sich demnach als relationales Verhältnis beschreiben.5 Im Jahre 1787 betonte Krünitz in seiner Oekonomischen Encyklopädie eben diese Relationalität des Begriffs: »Klein, kleiner, kleinste, [werde] beziehungsweise gebraucht, [wobei] das Gewöhnliche seiner Art allemahl der Maß=Stab ist, der das klein und groß bestimmet.«6 Von der Größe wird Qualität, Originalität und Authentizität abgeleitet. Die vom Maßstab des Menschen ausgehende Relationalität führt dazu, dass dem Normalgroßen der Status des Prototyps zugewiesen wird und das Kleine eine Variante, eine Übersetzung oder eine Imitation darzustellen scheint, aber nicht die Urform.7 Das Verhältnis der beiden zueinander ist demnach ein vermeintlich hierarchisches, in dem das Kleine in Abhängigkeit vom Großen steht. Verkleinerte Gegenstände beziehen sich damit stets auf etwas außerhalb ihrer selbst, auf ein normalgroßes, häufig vorkommendes oder zumindest allgemein bekanntes Referenzobjekt. Wie sehr diese Idee der Relationalität im kollektiven Bewusstsein der Frühen Neuzeit verankert war und wie sie sich diachron bis ins 21. Jahrhundert nachverfolgen lässt, zeigen einige Beispiele. Erzählungen von kleinen Menschengestalten dienten und dienen auch heute noch als Folie des Imaginativen. Mythologie, Märchen und neuzeitliche Literatur erfanden die unterschiedlichsten Arten kleiner Menschengestalten als Akteure: Die irische Folklore kennt feengleiche Erdbewohner, das Märchen Däumling der Gebrüder Grimm oder die weibliche Version des Däumelinchens von Hans Christian Andersen erzählen die Abenteuer eines daumengroßen Winzlings; der Homunkulus ist der Inbegriff des im Rahmen alchemistischer Versuche von Menschenhand geschaffenen Menschleins. Mit dem Thema der Relationalität spielt die biblische Erzählung des relativ kleinen David gegen den großen Goliath, der diesen aufgrund seiner Klugheit zu besiegen vermag. Jonathan Swifts Gulliver von 1726 führt den Protagonisten im ersten Teil seines Abenteuers ins Land Liliput, wo er, selbst zum Riesen geworden, einen Blick aus der Vogelperspektive auf 4 Größenverhältnisse werden oft anthropomorphisiert, beispielsweise in den Längenmaßen der Elle, des Schuhs oder des englischen Fußes. Größe wird ebenfalls verstanden als in Relation zur durchschnittlich vorkommenden Größe eines Gegenstands. 5 Vgl. Gasché, Rodolphe, Of Minimal Things. Studies on the Notion of Relation, Stanford 1999. 6 Klein, in: Krünitz, Johann Georg, Oekonomische Encyklopädie, Bd. 40, Berlin 1787, 321, online verfügbar unter: http://www.kruenitz1.uni-trier.de, letzter Zugriff: 12.06.2016. Hervorhebungen und Ergänzungen der Autorin. 7 Vgl. Buchli, Victor, The Prototype. Presencing the Immaterial, in: Visual Communication 9 (2010), 273– 286.

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die ideale Gesellschaftskonstruktion der Liliputaner zu werfen vermag. Um Relationalität geht es ebenfalls in Lewis Carolls 1865 veröffentlichtem Alice im Wunderland, dessen Protagonistin eben jenes nur durch Schrumpfen betreten kann. Das Thema lässt sich bis in die Gegenwart hineinverfolgen und wird auch von der Filmindustrie immer wieder erfolgreich aufgegriffen, wie etwa in Nachts im Museum von 2006, in dem die Miniaturen der musealen Dioramen jede Nacht zum Leben erweckt werden, oder etwa in Ant man von 2015, in dem ein Wundermittel das Schrumpfen eines Menschen auf Ameisengröße ermöglicht. Die eigentliche Funktion der imaginierten kleinen Wesen im Rahmen der relationalen Beziehung zum Großen scheint dabei folgende zu sein: Das kleine Wesen kann Orte betreten, die dem großen verschlossen sind. Obwohl mit der Kleinheit auch große Fragilität verbunden ist, die Schutzbedürftigkeit aufruft, ist es gerade diese gleichsam magische Kleinheit, die neue (gedankliche) Perspektiven eröffnet. Die Vorstellung von kleinen menschenähnlichen Gestalten findet sich dabei nicht nur in literarischen oder allgemein textlichen Quellen, sondern in ebenfalls diachron nachvollziehbaren figürlichen Miniaturen, oftmals in Form von ganzen Ensembles. Diese Tradition lässt sich bereits in Oberägypten als Grabbeigabe des Meket-re um 1980 vor unserer Zeitrechnung nachweisen und reicht als dreidimensionale Visualisierungsstrategie bis in die Gegenwart.8 In der Frühen Neuzeit sind figürliche Miniaturen ab dem 16. Jahrhundert in Sammlungen dokumentiert, sie erleben jedoch eine Konjunktur zwischen der Mitte des 17. Jahrhunderts und dem ausgehenden 18. Jahrhundert, vor allem in Form von Krippendarstellungen und Puppenhäusern. Ein frühes Beispiel, das in diese Kategorie gehört, ist das um 1600 entstandene Miniaturtheater im Garten von Schloss Hellbrunn von Markus Sittikus von Hohenems (1574–1619), Fürstbischof von Salzburg; ein anderes stellt der Hofstaat des Großmoguls im Grünen Gewölbe in Dresden von Melchior Dinglinger von 1708 dar.9 Diese Tradition lässt sich etwa über Zinnsoldaten und Spielzeugfiguren der bürgerlichen Schichten bis ins 20. Jahrhundert verfolgen. Auch hier finden sich Miniaturensembles beispielweise als Medium eines individuellen Eskapismus zweier DDR-Bewohner oder aber auch als ausreichend abstrahierter Darstellungsmodus des unaussprechlichen und undarstellbaren Holocaust als trotzdem gegenständliches Angebot einer gedanklichen Auseinandersetzung.10 Ziel meiner Ausführungen ist es nicht, diese Indienstnahmen des kleinen

8 Bäckerei und Brauerei, Grabbeigabe aus dem Grab des Meket-re, Ägypten 1981–1975 v. Chr., 73 × 55 × 29 cm, Metropolitan Museum New York, Inventar-Nr. 20.3.11. 9 Syndram, Dirk, Der Thron des Großmoguls im Grünen Gewölbe zu Dresden, Leipzig 2009. Aktuell entsteht eine Monografie zum Thema von Dror Wahrman, Universität Jerusalem. 10 Bätz, Gerhard/Kiedorf, Manfred, Rococo en miniature, 1950 bis ca. 2000, Schloss Heidecksburg Rudolstadt; Stobierski, Mieczysław, Modell des Krematoriums II des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau, 1994/95, Deutsches Historisches Museum Berlin.

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Figurenformats zu qualifizieren, sondern dadurch eine Idee von der langen Tradition der Miniaturisierung als Thema von Erzählungen und im Rahmen des Figürlichen zu vermitteln. Wenn wir über Miniaturen und Miniaturisierung sprechen, dann müssen wir zunächst Kategorien bilden, die eine systematische Analyse erlauben: Wir müssen zuerst zwischen natürlich vorkommenden kleinen Dingen und von Menschenhand erschaffenen kleinen Dingen unterscheiden. In der frühneuzeitlichen Sammlungsterminologie wären diese als Naturalia und Artificialia zu bezeichnen. Innerhalb der Artificialia wäre weiter zu unterscheiden zwischen funktionalen Instrumenten (Löffel, Werkzeug) und Miniaturisierungen. Letztere lassen sich aufgrund ihrer Konstruktionsprinzipien und Wirkungsabsichten weiter differenzieren in a) Miniaturen (Verkleinerungen), b) Mikrokosmen (aufeinander bezogene Ensembles von Einzelminiaturen) und c) Modelle (proportional verkleinert mit abbildender Funktion). Im Folgenden geht es um figürliche und um nicht-figürliche Miniaturisierungen. Ich versuche anhand einiger Beispiele der These der Verdichtung nachzugehen. Ich werde mich dabei von Verkleinerungen über Mikroformate bis hin zu Nanoobjekten vorarbeiten und aus einer diachronen vergleichenden Perspektive heraus nach den zugrunde liegenden Ideen, Wirkungsprinzipien und der Rezeption des einzelnen Objekts fragen. Präzise frage ich a) nach dem, was eigentlich genau verdichtet wird, b) inwiefern die Wirkung des Objekts etwas mit dem Wissen über seinen Herstellungsprozess zu tun hat und c) welchen Einfluss Rezeptionsvorgaben und Rezeptionsbedingungen auf die Bewertung des Objekts haben. Im Zentrum meiner Ausführungen stehen vier Objekte bzw. Objektgruppen: Geduldflaschen, ein Kirschkern, ein Nadelöhr und ein Fliegenpaar.

2. Staunen und Affektkontrolle – kunsthandwerkliche ›Magie‹ in Flaschen Wer schon einmal ein Flaschenschiff betrachtet hat, der weiß, welche große Faszination es ausübt: die detaillierte Verkleinerung eines monumentalen Segelschiffs, das sich mit scheinbar aufgeblähten Segeln im Bauch der Flasche befindet (Abb. 1). Flaschenschiffe gehören zur Gattung der Geduldsgläser oder auch Eingerichte. Sie zählen nicht zur sogenannten Hochkultur und sind daher bislang in der Forschung kaum wahrgenommen worden.11 Die Gattung lässt sich anhand musealer Bestände bereits um 1700 in Einzelstücken nachweisen und erlebte eine Blüte von der zweiten Hälfte des 18. Jahr11 Vgl. Schlee, Ernst, Die Volkskunst in Deutschland, München 1978, 228. Abb. 390 zeigt ein besonderes Beispiel eines Eingerichts von fünf umgestülpten Glaskugeln mit sakralen Sujets in einer baumartigen Anordnung über drei Stockwerke, um 1700, Bayerisches Nationalmuseum München, Inventar-Nr. 34/2308. Flaschenschiffe sind eine Sonderform des Geduldsglases, die sich als Untergattung erst in der zweiten Hälf-

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hunderts bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Darstellungen folgten dabei ebenso religiösen wie profanen Themen. Es finden sich besonders häufig Passionsszenen (Abb. 2), Paradiesdarstellungen und Krippen sowie Handwerksdarstellungen, die das Weben, Spinnen oder den Bergbau in verkleinerter Form zeigen. Geduldsgläser fungierten als Devotionalien, als Andachtsgegenstände der Volksfrömmigkeit und avancierten zeitgleich jenseits ihrer konkreten Entstehungskontexte aufgrund ihrer Kuriosität zu populären Sammlungsobjekten.12 Textliche Zeugnisse über ihre Herstellung und Funktion oder Nutzung sind rar. Vermutlich wurden Motive gewählt und in verkleinerter Form in die Flaschen gebracht, die eng mit der Lebensrealität oder dem Selbstverständnis der jeweiligen Person, die ein solches Eingericht schuf, verbunden waren. Auch ob diese eher von Frauen oder eher von Männern erstellt wurden oder vielleicht sogar in Auftrag gegeben wurden, ist unklar.13

Abb. 1: Flaschenschiff, Deutschland, 19. Jahrhundert – Anfang 20. Jahrhundert, Glas, Holz bemalt, Luffabäume, Länge 32,7 cm, Durchmesser 9 cm, Museum für Sächsische Volkskunst Dresden.

Heute gehören Eingerichte bzw. Geduldsflaschen meist zum Sammlungsbestand von volkskundlichen Sammlungen oder Regionalmuseen.14 Sie werden auch im 21. Jahrhundert noch hergestellt und zeigen neben klassischen Motiven wie Schiffen moderne, säkulare te des 19. Jahrhunderts entwickelte. Während die älteren Exemplare mit religiösen und handwerklichen Themen in stehenden, quadratischen, runden oder birnenförmig geblasenen Flaschen präsentiert wurden, sind Flaschenschiffe entsprechend der horizontalen Ausrichtung der Referenzobjekte liegend gestaltet. 12 Vgl. Müller-Bahlke, Thomas, Die Wunderkammer der Franckeschen Stiftungen, Halle a. d. S. 2012, 115. Zum methodischen Zugang vgl. Schumann, Dirk (Hg.), Sachkultur und religiöse Praxis, Berlin 2007; Kürzeder, Christoph, Als die Dinge heilig waren. Gelebte Frömmigkeit im Zeitalter des Barock, Regensburg 2005. 13 Auch die Provenienzen sind unklar, und häufig fehlt eine präzise Datierung. 14 Diese Tradition scheint aus dem Erzgebirge zu stammen und lässt sich ebenfalls in Teilen Bayerns nachweisen. Die Onlinekataloge des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg (http://objektkatalog.gnm.de/ recherche) sowie der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden (http://skd-online-collection.skd.museum/ de/contents/search) führen unter dem Suchwort »Eingericht« mehrere Exemplare auf. Explizite Forschung zu Geduldsflaschen oder Eingerichten existiert nicht. Sammlungen von Flaschenschiffen finden sich in der Dawe Collection des Dartmouth Museum, Devon, England (http://dartmouthmuseum.org/collections/kings-room/) und im Buddelschiffmuseum Neuharlingersiel (http://www.buddelschiffmuseum.de/). Letzter Zugriff für alle Links: 03.06.2016.

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Themen.15 Betrachtet man die Objekte in den Flaschen, stellt sich die Frage, in welcher Weise die visuellen Informationen des Referenzobjekts verändert werden müssen, damit ihre unmittelbare Erkennbarkeit gesichert bleibt. Bei der Verkleinerung beispielsweise eines Schiffes oder eines Kreuzes müssen die Grundform und die Proportionen grob erhalten bleiben. Das Glas, in das es eingebracht und in dem es verwahrt wird, ist Schutzhülle und Schranke zugleich. Eingerichte führen beim Betrachtenden un­wei­gerlich zu der verwunderten Frage, wie das Objekt wohl in die Flasche gelangt sein kann, ist der Flaschenhals doch viel zu eng für eben jenes Objekt im Innern. Der englische Begriff der impossible bottle für das mechanische Rätsel transportiert in seiner Doppelbedeutung zugleich das Staunen, das die Betrachtung auslöst. Tatsächlich sind die verkleinerten Schiffsmodelle flach zusammengeklappt und werden so durch den Flaschenhals geschoben und danach im Innern mithilfe von Fäden und winzig kleinen Werkzeugen fixiert und aufgerichtet. Ohne Kenntnis dieses Herstellungsprozesses sind Betrachterinnen und Betrachter mit dem Paradoxon des vermeintlich Unmöglichen und damit der ›Magie‹ des Gegenstands konfrontiert, die im Moment der Interaktion des Menschen mit dem Objekt entsteht.16 Aber auch mit dem Wissen um die Fertigungsbedingungen bleiben Bewunderung und Staunen angesichts der künstlerischen, handwerklichen und technischen Fähigkeiten des Kunsthandwerkers oder der Kunsthandwerkerin bestehen. Noch um die Wende zum 19.  Jahrhundert Abb. 2: Eingericht, Kreuzigung, Deutschland, 1. Hälfte 19. Jahrhundert, Abrissjedoch scheint dieses Wissen nicht weit verbreitet glas, Holz, geschnitzt, gedrechselt, bemalt, gewesen zu sein, denn die im Flascheninnern aus- Höhe 33 cm, Breite 11 cm, Tiefe 7 cm, Mugestellten Miniaturen erzeugten nach wie vor Ver- seum für Sächsische Volkskunst Dresden. 15 Aktuelle Anfertigungen finden sich beispielsweise im Portal Folk Art In Bottles (http://www.folkartinbottles. com/bottle-gallery/maker-year-information, letzter Zugriff: 09.09.2016), eine Anleitung zur Herstellung einer impossible bottle im Video »How to make an impossible bottle« (https://youtu.be/GmgGPhBzY7Q, letzter Zugriff: 09.09.2016). 16 Hahn, Hans Peter, Der Eigensinn der Dinge – Einleitung, in: ders. (Hg.), Vom Eigensinn der Dinge. Für eine neue Perspektive auf die Welt des Materiellen, Berlin 2015, 9–56, hier 53, in Anlehnung an Walter Benjamin.

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wunderung: »Letztere Art von Spielwerk verlangt ganz eigne Kunstgriffe und Fertigkeiten; weshalb man auch gemeiniglich glaubt, die Flasche müsse über das Model geblasen werden.«17 Das jedoch war technisch nicht möglich. Die Wirkmächtigkeit der Miniatur in der Flasche hängt damit einerseits von ihrer Kuriosität, von der Detailliertheit der Darstellung und der Qualität der Übersetzung, andererseits jedoch vom (Nicht-)Wissen über den Herstellungsprozess und zugleich von den vom Objekt selbst vorgegebenen Rezeptionsbedingungen ab, zu denen wir später noch einmal zurückkehren. Die Herstellung von solchen und anderen Miniaturen erfordert größtes handwerkliches Geschick, Ausdauer, Konzentration und »ungemein viel Geduld und große Behutsamkeit«, wie Johann Georg Sulzer 1771 formulierte.18 Miniatur-Malerei, auf die sich diese Aussage bezog, trüge Sulzer zufolge jedoch keine nachvollziehbaren Spuren ihres Herstellungsprozesses, weil dieser auf Verkleinerungsebenen jenseits der natürlichen Sehfähigkeit stattfinde. Frühneuzeitliche Handwerker oder Künstler als Schöpfer von Miniaturportraits benötigten Zedlers Universal-Lexicon zufolge eine reiz- und störungsarme Umgebung in ihren Werkstätten oder Ateliers, um filigrane Motive auf winzige Oberflächen aufzubringen. Die Herstellung einer Miniatur, egal welcher Gattung, erforderte ein Höchstmaß an Körperbeherrschung und Affektkontrolle.19 Nur durch größte Präzision, durch die Verlangsamung des Herzschlags und das kaum wahrnehmbare Führen der Hand zwischen den Herzschlägen seien Miniaturen herstellbar.20 Diese Mühen waren für die Betrachter der Auslöser für Begeisterung und Faszination.21 Das Ergebnis der künstlerischen Arbeit verwies damit nicht nur auf das Überwinden materieller Eigenschaften, auf die handwerklich-künstlerischen Fähigkeiten und die Grenzen des technisch Machbaren, sondern gemahnte auch an den fast schon meditativen Schöpfungsakt und die Eigenschaften, die ihm zugrunde lagen: Disziplin, Selbstkontrolle, Geduld, Zurücknahme oder Selbstlosigkeit. Die Wirkung der Miniaturen ging dabei nicht nur von der extremen Kleinheit des Objekts selbst und dem Herausarbeiten der visuellen Verdichtung der Charakteristika des Referenzobjekte (hier in Gestalt eines Portraitierten) aus, sondern – nach dem Offenlegen des Herstellungsverfahrens – von dem Wissen der Betrachter über die Bedingungen ihres

17 Merkel, Dankegott Immanuel, Erdbeschreibung von Kursachsen, Bd. 1, Dresden 31804, 198, online verfügbar unter: http://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb10020535–7, letzter Zugriff: 10.06.2019. 18 Sulzer, Johann Georg, Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 2, Leipzig 1773 (zuerst 1771), 243. 19 Das Leben des Künstlers habe monastische Züge; die Planung einer Miniatur bedürfe vergleichsweise umfangreicherer Vorbereitung. Vgl. Miniatur, in: Zedler, Universal-Lexicon, Bd. 21, 373. 20 Ebd. 21 Deshalb bemerkte Sulzer 1771, die Miniaturen ließen »mehr die Geduld und den Fleiß des Künstlers, als sein Genie bewundern.« Sulzer, Theorie der Schönen Künste, Bd. 2, 243. Und auch Leonard Christoph Sturm bemerkte 1704: »manches ist rar nur um der Grösse willen«. Sturm, Leonard Christoph, Die geöffnete Raritäten- und Naturalien-Kammer, Hamburg 1704, 8.

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Herstellungsprozesses. Dies gilt für Geduldsflaschen, für Miniaturmalerei wie auch für die Mikroschnitzerei, auf die gleich zurückzukommen sein wird.

3. Realienkunde – Lernen mit (kleinen) Dingen Geduldflaschen wurden aufgrund ihrer aufwändigen Herstellung und ihres besonderen Charakters, die Inhalte sichtbar, aber nicht berührbar vorzustellen, im Kontext ihrer jeweiligen Nutzungen mit bestimmten Funktionen und Bedeutungen aufgeladen. Die Wirkung des Objekts in der Flasche konnte also instrumentalisiert werden und das aus folgendem Grund: Objekte wurden in der frühneuzeitlichen Pädagogik als didaktische Werkzeuge angesehen. Das Lernen an Objekten führte nach zeitgenössischer Meinung sowohl zu schnellerer Auffassung als auch zu verbesserter Erinnerung des Inhalts.22 Ausgeprägt fand sich ein solches Bildungskonzept beispielsweise im Kontext des Waisenhauses, das der Pietist August Hermann Francke (1663–1727) kurz vor 1700 in Halle bzw. in dessen Vorort Glaucha mit dem Bau einer »Gottesstadt« als Erziehungsund Bildungszentrum, als »Forschungs-, Lehr- und Wirtschaftsorganismus«23 begründet hatte. Dazu gehörten eine Eliteschule (Pädagogium), eine Bibliothek, eine Druckerei und eine Buchhandlung, eine Kunst- und Wunderkammer, eine Apotheke, Labore und eine Baumschule. Der Pietismus gilt als eine »der bedeutendsten religiösen Reformbewegungen innerhalb des kontinentaleuropäischen Protestantismus nach der Reformation«24 und betonte die Individualisierung und Verinnerlichung des Religiösen. Die Glauchaschen Anstalten in Halle wurden zum Vorbild und zum Ausgangspunkt dieser weltweit gedachten Bewegung. Von dort erfolgte die Verbreitung des Pietismus einerseits durch die Aussendung von Pfarrern und Erziehern, andererseits durch die Verbreitung von in der hauseigenen Druckerei und Verlagsbuchhandlung gefertigten programmatischen Schriften. 22 Vgl. dazu im frühen 18. Jahrhundert auch Leupold, Jacob, Kurtzer Unterricht von Kunstkammern (1718), Thüringer Landesarchiv – Staatsarchiv Gotha, Kammer Gotha Immediate Nr. 1378, 29. Darin heißt es über einen Gegenstand in einer Lehrsammlung: »weil [er] von lauter Realität ist, da man alles was einer in Büchern nur gelesen oder sonst gehört in natura sehen kann und ist allda in einer Stunde mehr zu sehen und zu lernen, als aus Büchern in vielen Tagen und Wochen.« Nach Johann Amos Comenius (1592–1670) sollte »alles […] wo immer möglich den Sinnen vorgeführt werden, was sichtbar dem Gesicht, was hörbar dem Gehör, was riechbar dem Geruch, was schmeckbar dem Geschmack, was fühlbar dem Tastsinn […] Und weil die Sinne die treusten Sachverwalter des Gedächtnisses sind, so wird diese Veranschaulichung der Dinge bewirken, daß jeder das, was er weiß, auch behält.« Zit. nach Flitner, Andreas (Hg.), Johann Amos Comenius: Große Didaktik, Düsseldorf/München 102007 (zuerst 1954), 135. 23 Laube, Stefan, Von der Reliquie zum Dinge, Berlin 2011, 326. 24 Breul, Wolffgang/Waczkat, Andreas/Schneider, Johann, Pietismus, in: Jäger, Friedrich (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit Online, verfügbar unter: http://dx.doi.org/10.1163/2352–0248_edn_a3256000, letzter Zugriff: 09.06.2016.

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Francke war davon überzeugt, »dass Dinge das Wissen effektiver vermitteln als Worte«, für ihn »manifestierte sich Gottes Wirken im Stein, im Ding […], im Realienunterricht, in der Kunst- und Wunderkammer.«25 Er stellte seine Sammlung daher als Lehrinstrument in besonderer Weise in den Dienst der Nützlichkeit.26 Das taktile Verstehen im buchstäblichen Sinne des Begreifens, das In-die-Hand-­Nehmen, Drehen, Wenden und intensive Betrachten galt daher in Halle als selbstverständliches sinnliches Erkenntniswerkzeug und diente der konkreten Berufsvorbereitung.27 Diese Methode funktionierte besonders gut anhand von natürlichen kleinen Dingen oder proportional verkleinerten mechanischen und funktionstüchtigen Instrumenten und Modellen, etwa zur Salzgewinnung oder zur Baukunst, an denen sich die Wissensvermittlung orientierte.28 In der Franckeschen Schau- und Lehrsammlung haben sich bis heute Modelle, Miniaturen und auch Geduldsgläser aus dem frühen 18. Jahrhundert erhalten. Wie entfalten sich die Wirkungsweise des kleinen Objekts und seine Funktionen als Informationsspeicher und Lehrmittel, wenn es zwar klein und modellhaft, aber wie im Beispiel des Geduldsglases nicht berührbar ist und hinter Glas präsentiert wird? Betrachten wir ein Eingericht aus dem Besitz der Franckeschen Stiftungen im Detail: In einer über quadratischer Grundfläche und oben rund geblasenen Glasflasche befinden sich auf zwei Stockwerken übereinander zwei Ensembles von Miniaturobjekten, die eine Druckerei und eine Setzerei darstellen (Abb. 3).29 Die Gegenstände und Themen anderer Geduldsflaschen, Devotionalien mit Passionsszenen oder die in Stockwerken übereinander dargestellte Arbeitswelt des Untertage-Bergbaus, die Spinn- und Webinstrumente der textilen Gewerke oder das Buddelschiff bilden in verkleinerter Form die zentralen Gegenstände ab, die das alltägliche Leben ihrer Besitzer prägten und identitätsstiftend wirkten. 25 Laube, Reliquie, 310. 26 Lernen an Objekten war an ökonomischen Zielen orientiert. Laube, Reliquie, 350. Die Arbeit mit der Sammlung gehörte als ein fester Bestandteil zum Unterricht. Auch die Fächer Physik, Botanik, Zoologie, Mineralogie, Anatomie, Ökonomie, Astronomie waren an den Gegenständen orientiert. Vorreiter dieser Entwicklung war die Nutzung der Kunstkammer Herzog Ernst des Frommen von Sachsen-Gotha. Vgl. Jacobsen, Roswitha/Ruge, Hans-Jörg (Hg.), Ernst der Fromme (1601–1675). Staatsmann und Reformer, Bucha bei Jena 2002. 27 Das eigenhändige Herstellen bestimmter Objektgruppen durch Nachahmung war ebenfalls ein wichtiger Bestandteil der Erkenntnisgenese. In höfischen Kontexten der Prinzenerziehung wurde oftmals das Drechseln von Holz und Elfenbein als mechanische Kunstform eingesetzt. Vgl. Maurice, Klaus/Schade, Dorothy Ann, Der drechselnde Souverän. Materialien zu einer fürstlichen Maschinenkunst, Zürich 1985. 28 Vgl. Fox, Celina, The Arts of Industry in the Age of Enlightenment, New Haven 2009; Ludwig, David/ Weber, Cornelia/Zauzig, Oliver (Hg.), Das materielle Modell. Objektgeschichten aus der wissenschaftlichen Praxis, München 2014. 29 Mehrere Eingerichte haben sich in Halle erhalten. Über die genaue Herkunft und Verwendung ist nichts bekannt. Es liegen keine Belege für die konkrete Verwendung der Geduldsflaschen vor. Vgl. Inventar zu Schrank IX. unter Franckesche Stiftungen Archiv, AFSZ/W XI/-/58:4, Eintrag Nr. 2: »Ein Bergwerk in einem verriegelten Glas«. Druckerei unter Nr. 12, ebenso Nr. 13, Nr. 14, Nr. 30, dabei keinerlei Beschreibung oder Hinweis auf die Provenienz.

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Ähnlich hier: Das für den Halleschen Pietismus so bedeutsame Gewerk der Setzerei und Druckerei als Medium der öffentlichen Verbreitung und der ökonomischen Relevanz der Buchproduktion wurde als Miniatur in der Flasche vergegenwärtigt und damit symbolisch aufgeladen.30 Das Geduldsglas mit dem Sujet der Setzerei und Druckerei spiegelt die Bedeutung dieser Gewerke für die Missionstätigkeit der Pietisten. Mit der Platzierung der Druckerei in der Flasche im Kontext des Halleschen Pietismus wird eine Verdichtung vollzogen: Während die originalgroße Druckerei ausschließlich Ausdruck ökonomischer Schwerpunktsetzung und Ausdruck ihrer selbst als realer Arbeitskontext ist, macht ein Modell einer Druckerei die Abfolge der Arbeitsschritte nachvollziehbar und ermöglicht das Erlernen der Fach- Abb. 3: Geduldsglas, Miniatur mit Druckerei, frühes termini, das Verstehen der Mecha- 18. Jahrhundert, Franckesche Stiftungen zu Halle. nik oder des Werkprozesses aus der Übersicht. Die Miniatur in der Flasche dagegen verdeutlicht durch ihre Verkleinerung primär den symbolischen Wert der Druckerei für die Identität und das Selbstverständnis der Trägerinstitution. Die Druckerei in der Flasche ist eben kein Lehrmodell, sondern eine dreidimensionale Repräsentation. Die Objekte im Innern sind proportional zueinander verkleinert, doch sie haben ihre mechanische Funktion eingebüßt. Das Eingericht wird 30 Dass sich in den Geduldsgläsern neben sakralen Sujets besonders Bergwerke und andere Gewerke finden lassen, resultierte nicht nur aus ihrem identitätsstiftenden Charakter, sondern auch aus der zeitgenössischen Meinung, »daß die Manufacturen, Commertien, Berck und Saltzwercken wie auch nicht weniger die Oeconomie die wichtigsten Stücke sind, wo durch ein Land reich und in Auffnehmen kan gebracht werden«. Leupold, Unterricht, 33. Jakob Leupold bezog diese Aussage 1718 auf die Realiensammlung des Herzogtums Sachsen-Gotha, sie gilt jedoch nicht nur für Territorien, sondern ebenso für ein haushaltendes Großunternehmen wie die Franckeschen Stiftungen. Zu Leupold siehe Troitzsch, Ulrich, Leupold, Jacob, in: Neue Deutsche Biographie 14 (1985), 377–378, online verfügbar unter: https://www.deutsche-biographie. de/gnd118572210.html#ndbcontent, letzter Zugriff: 24.08.2016.

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als kurioses ›Knobelobjekt‹ – in Analogie zu den Geduldsflaschen mit biblischen Motiven – zum profanen Andachtsgegenstand, zum programmatischen Spiegel, quasi zur verdichteten Essenz der Glauchaschen Anstalten, deren Werk und Ziel der Betrachter in kontemplativem Eintauchen wiederholen kann und zu übernehmen aufgefordert wird. Ohne dies explizit sprachlich zu verdeutlichen, wirkte dieser Teil der pietistische Sachkultur, die Geduldsflasche mit der Druckerei, als impliziter Vermittler zentraler Werte.31

4. Von Mini zu Mikro und die Herstellung von Sichtbarkeit Die Voraussetzung für die Herstellung, aber auch die Rezeption nicht nur kleiner, sondern winzig kleiner Objekte waren optische Hilfsmittel. Durch optische Vergrößerung und Bündelung des Lichts mithilfe von Prismen, Lupen und Licht-Mikroskopen wurden »die kleinsten Dinge, und die sonst den blossen Augen fast unsichtbar sind, groß und ordentlich vorgestellet.«32 Die seit der Antike bekannte sogenannten Wasserlupe firmierte im 18. Jahrhundert auch unter der Bezeichnung »Floh-Gicker«. Sie bestand laut Christian Wolff aus zwei Glasplatten mit Flüssigkeit,33 »in welchem ein Floh oder ander kleines Würmlein gelegt, nicht kleiner als ein Käfer erscheint«.34 Aber auch die optischen Eigenschaften konvexer und konkaver Linsen, etwa aus Bergkristall oder auch mit Wasser gefüllter Glaskugeln waren bereits aus der Antike bekannt und wurden im 13. Jahrhundert unter anderem von Roger Bacon weiterentwickelt.35 Einzelne Wissenschaftler und Künstler im Kontext der Höfe wandten sich im 16. Jahrhundert nicht mehr dem schwer Herstellbaren und dem schwer Sichtbaren, sondern dem quasi unmöglich Herstellbaren und dem nicht mehr ohne Hilfsmittel Sichtbaren zu. Damit wurden die menschlichen Fähigkeiten sowohl auf der Seite der Produzierenden als auch auf der Seite der Rezipierenden in ihrem Extrem erprobt. 31 Vgl. Scharfe, Martin, Pietismus und Kultur. Bedenken und Denkmöglichkeiten, in: Lächele, Rainer (Hg.), Das Echo Halles. Kulturelle Wirkungen des Pietismus, Tübingen 2001, 11–30, hier 14. 32 Vergrösserungs-Glas, in: Zedler, Johann Heinrich, Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 47, Halle a. d. S./Leipzig 1746, 765–766, online verfügbar unter: http://www.zedler-lexikon.de, letzter Zugriff: 26.08.2016. 33 »Microscopium aqueum, ein Vergrösserungs-Glaß aus Wasser, Ist ein Instrument, welches durch ein kleines Tröpfchen Wasser die kleinesten Sachen vergrössert«. Wolff, Christian, Mathematisches Lexicon, Leipzig 1716, 898. 34 Vergrösserungs-Glas, in: Zedler, Universal-Lexicon, Bd. 47, 765. Giambattista della Porta hatte bereits 1593 in Neapel ein Traktat mit dem Titel De refractione optices parte veröffentlicht, in dem er die vergrößernden Eigenschaften geschliffener, gewölbter Gläser erklärte. Giambattista Della Porta, De refractione optices parte libri novem, Neapel 1593, online verfügbar unter: http://reader.digitale-sammlungen.de/resolve/­ display/bsb10164533.html, letzter Zugriff: 26.08.2016. 35 Harting, Pieter, Geschichte und gegenwärtiger Zustand des Mikroskops und der Hülfsapparate. Bd. 3: Die Geschichte des Mikroskopes, Braunschweig 1856, 373–388.

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Die Entwicklungen in der optischen Vergrößerung führten einerseits zu einer Steigerung der künstlichen Verkleinerungsmöglichkeiten und andererseits zu neuen naturwissenschaftlichen Projekten. Das Ziel bestand darin, entweder kleine biologische Spezies oder die Zusammensetzung und Detailstrukturen alltäglicher Dinge sichtbar zu machen. Dieses Herstellen von Sichtbarkeit war als Prozess und auch im Ergebnis in einem Grenzbereich zwischen Wissenschaft und Kunst angesiedelt. Der technische Fortschritt der visuellen Hilfsmittel, die ungewöhnliche Handwerkskunst und die Wertschätzung der Zeitgenossen für Mikrokunst zeigten sich an dem frühen Beispiel eines geschnitzten Kirschkerns aus dem letzten Viertel des 16. Jahrhunderts aus dem Bestand des Grünen Gewölbes in Dresden, der als Kostbarkeit in einer goldenen Rahmung gefasst ausgestellt wurde (Abb. 4).36 Nur wenig ist über ihn bekannt: Den Kirschkern schenkte der kaiserliche Rat und spätere Hofmarschall Christoph von Loß (1545–1609) aus Pillnitz 1589 Kurfürst Christian I. von Sachsen. Eine neuere Prüfung ergab, dass der Kern 113 Gesichter zeigt.37 Neickels Museographia zählte den »Kirschkern mit ca. 180 Menschen-Angesichtern« und andere Mikroformen aus »zarten Reiß- und Gerstenkörnern geschnitzt« bereits 1727 trotz ihres geringen Materialwerts zu den berühmten Schätzen der Dresdner Sammlung.38 Durch das Ausstellen des Kirschkerns mit den Gesichtern in der zumindest eingeschränkt öffentlich zugänglichen Kunstkammer der sächsischen Kurfürsten wurde die Mikroschnitzerei als Ergebnis großer Handwerkskunst gewürdigt und bewahrt.39 Der geschnitzte Kirschkern verlangte jedoch besondere Rezeptionsbedingungen, denn er allein war schlicht zu klein, und die darauf aufgebrachten Gesichter waren mit bloßem Auge kaum erkennbar. Seine geringe Größe machte die Rahmung durch ein vergoldetes ornamentales Schmuckgestell nötig, an dem sich der Kern aufhängen und – ohne dass er Schaden nahm – drehen und betrachten ließ. Doch nicht nur die Einfassung, die auf seine unvergleichliche Besonderheit verwies, war eine Präsentationsnotwendigkeit, 36 Vgl. Philippovich, Eugen von, Kuriositäten – Antiquitäten, Braunschweig 1966, 326–331. 37 Vgl. Kirschkern mit 185 geschnitzten Köpfen, in: Staatliche Kunstsammlungen Dresden (Hg.), Online Collection, Dresden 2016, online verfügbar unter: https://skd-online-collection.skd.museum/Details/ Index/117609, letzter Zugriff: 13.08.2019. 38 Neickel, Kaspar Friedrich/Kanold, Johann, Museographia oder Anleitung zum rechten Begriff und nützlicher Anlegung der Museorum, oder Raritäten-Kammern, Leipzig 1727, 407. 39 Zu Mikroschnitzkunst siehe auch Schütte, Rudolf-Alexander, Die Kostbarkeiten der Renaissance und des Barock. Pretiosa und allerley Kunstsachen aus den Kunst- und Raritätenkammern der Herzöge von Braunschweig-Lüneburg aus dem Hause Wolfenbüttel, Braunschweig 1997; Ellis, Lisa/Suda, Alexandra (Hg.), Small Wonders. Gothic Boxwood Miniatures (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in der Art Gallery of Ontario, Toronto 05. Nov. 2016–22. Jan. 2017), Toronto 2016; Hartmann, P. W., Meisterwerke filigraner Schnitzkunst, in: Die Kunst 12 (1986), 918–923; ders., Die feinsten Bildwerke der Welt. Zu den Mikroschnitzereien einer Maria-Theresien-Brosche, in: Weltkunst 67, H. 22 (1997), 2588–2589; ders., Mikrobilder. Wunder der Bildhauerkunst, Wien 1999.

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Abb. 4: Kirschkern mit 185 geschnitzten Köpfen, Deutschland, kurz vor 1589, Kirschkern, Gold, Email, Perle, in Gold gefasst, Höhe 4,5 cm, Grünes Gewölbe Dresden.

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sondern auch das Vergrößerungsglas, das man sehr wahrscheinlich schon in der Frühen Neuzeit – ähnlich wie in der heutigen Ausstellung – vor ihm platzierte. Diese Vergrößerungshilfen wiederum galten ebenfalls als Raritäten und gehörten als »optische Curiositäten« mitunter selbst zu den Ausstellungsstücken mit besonderen Eigenschaften.40 Leonard Christoph Sturm beschrieb 1704 die verschiedenen Arten von Vergrößerungsinstrumenten, die in den zeitgenössischen Sammlungen aufbewahrt wurden. Demnach war die Vergrößerungsstufe mancher Gläser so stark, dass ein menschliches Haar fast so dick wirkte wie ein Finger.41 Jacob Hoefnagel veröffentlichte 1592 die Archetypa Stvdiaqve seines Vaters Joris Hoefnagel, bei deren Entstehung ein Mikroskop zum Einsatz gekommen sein muss;42 mit größerer Sicherheit lässt sich dies von seinen eigenen Diversæ insectarum volatilium icones, einer Sammlung von nach dem Leben gezeichneten Insektendarstellungen, annehmen.43 Die Erfindung des Mikroskops fand vermutlich bereits deutlich vor 1590 statt: Moritz von Oranien (1567–1625) und Erzherzog Albrecht von Habsburg (1559–1621) sollen beide bereits 1584 bzw. 1596 ein Mikroskop besessen haben.44 Der englische Forscher Robert Hooke publizierte 1665 seine Micrographia, in der er Dinge festhielt, die nicht mit dem bloßen Auge sichtbar waren, u. a. einen Stecknadelkopf, die Schneide einer Rasierklinge, die vergoldete Kante von venezianischem Papier sowie Details von Insekten, von denen bis dato nahezu nur die Konturen sichtbar

40 Solche Geräte wurden gegliedert in »Diejenigen welche ihre Objecta durch die Radios Refractos, das ist durch geschlieffene oder geschnittene Gläser oder Crystallen zu sehen geben. Solche können auff dreyerley Sorten gebracht werden/indeme die Gläser so zugerichtet und zusammen gesetzet werden/daß sie entweder die Objecta vergrössern/oder die Ferneren näher vorstellen […].« Sturm, Naturalien-Kammer, 52–53. 41 Die einfachste Form von Vergrößerungsgläsern waren »in runde Rahmen eingefasset/die so tieff sind/ daß man das Auge wohl hineinlegen kann. […] Je kleiner die Gläser sind/je mehr vergrössern sie/aber so viel weniger kann man auch auff einmahl sehen. Es werden diese Gläser an ein gebogenes meßinges Stänglein/und dieses durch eine Hülse gestecket/damit man jene nahe oder weit vom Objecto halten kann/ welches auff einem Postementgen [Objektträger] geleget wird […].« Ebd., 130. Technisch komplexer und leistungsstärker war die Variante, in der »ein Loch durch ein Stück Holtz also gebrochen/daß ein Aug bequem darinnen liegen und durchsehen kann. Hinten hat das Holz auff beiden Seiten eine Nuth. Die Gläser […] sind in meßinge Blech gefasset, welche […] in vorbesagte Nuth geschoben werden. Das Objectum kann gleich dahinter auff spitzigen Nadeln angestecket/und mit Schrauben unter sich/ober sich/ vorwarts/hinterwarts und nach der Seite getrieben werden. Ein Menschen-Haar erscheint fast Fingers dick darauff.« Ebd., 131. 42 Vgl. Hoefnagel, Jacob, Archetypa stvdiaqve patris Georgii Hoefnagelii, Frankfurt a. M. 1592, online verfügbar unter: https://doi.org/10.5962/bhl.title.137706, letzter Zugriff: 01.06.2019. 43 Vgl. Hoefnagel, Jacob, Diversæ insectarum volatilium. Icones ad vivum accuratissmè depictæ per celeberrimum pictorem, Amsterdam 1630, online verfügbar unter: https://doi.org/10.5962/bhl.title.39010, letzter Zugriff: 01.06.2019. 44 Vgl. Harting, Mikroskop, 595.

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Abb. 5: Robert Hooke, Micrographia, London 1665, Taf. XXIII. Zu sehen sind die Ober- und Unterseite eines Fußes von einer Fliege und ein Auge einer Fliege.

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waren (Abb. 5).45 Durch die Bündelung verschiedener Linsen war es Hooke gelungen, das Licht zu konzen­trieren und die Beleuchtung des Objekts zu steigern.46 Ähnlich den oben beschriebenen Be­din­gungen zur Schaffung von Miniaturen erga­ben sich besondere Anforderungen aus der Vermittlung dessen, was nur der Forscher selbst durch die Vergrößerungslinse sehen konnte. Der dauernde Wechsel zwischen dem genauen Betrachten des Objekts und der Übertragung auf Papier stellte eine eigene Herausforderung dar und beinhaltete einen künstlerischen Prozess der Deutung, in dem Hooke zeichnerisch und damit interpretierend übersetzte, was er sah. Als unabdingbar galt die sofortige graphische Fixierung des Erblickten.47

45 Hooke, Robert, Micrographia (or some physiological descriptions of minute bodies made by magnifying glasses), Weinheim 1961 (zuerst London 1665). Weitere Darstellungen wurden publiziert in der Micrographia restaurata, London 1745, online verfügbar unter: https://archive.org/details/micrographiarest00hook, letzter Zugriff: 02.01.2017. Vgl. auch Chapman, Allan, England’s Leonardo, Robert Hooke and the Seventeenth-Century Scientific Revolution, Bristol 2005; Stewart, Susan, On Longing. Narratives of the Miniature, the Gigantic, the Souvenir, the Collection, Durham/London 102007, 40. 46 Sturm beschreibt »des berühmten Engelländers Hoocks vortreffliches Microscopium« und die Beleuchtungsmethode detailliert. »Dieses bestehet aus vier grossen Gläsern die in eine Röhre zusammen gesetzet. Die Röhre ist mit Schrauben solchergestalt auff ein Bret befestiget/daß man sie nach belieben richten/wenden und stellen kann. Nicht weit von dem Postementgen/worauf die Objecta geleget werden/stehet eine gläserne Kugel/die mit Wasser kan gefüllet werden/dahinter stehet eine Lampe/und hinter derselben ein hohler Metallener Spiegel. Wenn nun die Lampe angestecket wird/sammlet der hohle Spiegel ihre Strahlen und wirfft sie auf die mit Wasser gefüllete Kugel/allwo sie noch enger zusammen gebracht und also mit einem sehr hellen Punct auf das Objectum geworffen werden/also daß es dadurch so helle wird als von der Sonne am Mittage.« Sturm, Naturalien-Kammer, 131. 47 »Was man gesehen, muß alsofort gezeichnet oder in einen Riß gebracht werden.« Vgl. Vergrösserungs-Gläser, in: Zedler, Universal-Lexicon, Bd. 47, 761–765, hier 762. Doch setzte dies Praktiken der Präparation voraus, besonders im Fall von Specimen aus dem Bereich der Tier- oder Pflanzenwelt. Vgl. Mariss, Anne, »… for fear they might decay.« Die materielle Prekarität von Naturalien und ihre Inszenierung in naturhistorischen Zeichnungen, in: Cremer, Annette C./Mulsow, Martin (Hg.), Objekte als Quellen der histori-

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Ob Kirschkern oder Fliege: Noch Mitte des 18. Jahrhunderts misstraute man dem Wahrheitsgehalt dessen, was man durch die optischen Hilfen erblickte, und brachte dieses Misstrauen auch dessen graphischen Darstellungen entgegen. Man stellte sich die Frage, »ob die Vergrösserungs-Gläser die Sachen vielleicht anders vorstellen, als sie würcklich sind,« und unterstellte einen »Betrug der Sinne« durch das Mikroskop.48 Mit »wirklich« war ›mit bloßem Auge‹, also makroskopisch, gemeint. Die Optik berge Gefahren der Täuschung und »derowegen wäre freylich gut, wenn diejenigen, welche Observationen beschreiben, die sie mit Vergrösserungsglas angestellet, in ihren Beschreibungen […] nur sagten, wie ihnen die Sache vorgekommen«49 sei, nicht etwa behaupten, die Dinge seien tatsächlich so. Die Art und Weise der graphischen Übersetzung der subjektiven Beobachtung eines Objekts durch die optische Verstärkung kam große Bedeutung zu in der Behauptung der Echtheit, der Wirklichkeit und damit dem Generieren von Wissen. Die Praxis des »naturkundliche[n] Zeichnen[s] entwickelte sich – parallel zum Beobachten durch das Mikroskop […] – zu einer Sehschule und wissenschaftlichen Tugend: Fleiß und Geduld waren die entscheidenden Parameter zur Erforschung der Natur.«50 Notwendig waren also Eigenschaften, die uns bereits im Kontext der Herstellung der Miniaturkunstwerke begegnet sind und die auch bei der individuellen Auseinandersetzung in der Rezeptionssituation eine Rolle spielen.

5. Rezeption der Miniaturen – Visus und Kontemplation Nach den Erkenntnissen der Rezeptionsästhetik ›denken‹ Kunstwerke und künstlich hergestellte Dinge den Rezipienten mit und präfigurieren die Art und Weise der Nutzung und Wahrnehmung eines Gegenstands.51 Dies gilt sowohl für den Gebrauchsgegenstand als auch für die ästhetischen Miniaturen, die – es ist schon mehrfach angeklungen – durch

48 49 50 51

schen Kulturwissenschaften. Stand und Perspektiven der Forschung, Köln/Weimar 2017, 137–148. Fliegen beispielsweise konnten entweder lebend und auf Knochenleim fixiert oder tot unter Formverlust betrachtet und gezeichnet werden. Vgl. auch Fischel, Angela, Sehen, Darstellen, Beschreiben. Mikroskopische Beobachtung in den Kupferstichen der Micrographia, in: kunsttexte.de 1 (2002), online verfügbar unter: https://edoc.hu-berlin.de/bitstream/handle/18452/7559/fischel.PDF, letzter Zugriff: 01.06.2019; Wendler, Reinhard, Kunst unter dem Mikroskop: Ein Vergleich von Hookes Beobachtungen und Leibniz’ Philosophie, in: kunsttexte.de 1 (2002), online verfügbar unter: https://edoc.hu-berlin.de/bitstream/handle/18452/7560/ wendler.PDF, letzter Zugriff: 01.06.2019. Vergrösserungs-Gläser, in: Zedler, Universal-Lexicon, Bd. 47, 762. Ebd., 764, Hervorhebung durch die Autorin. te Heesen, Anke, Sammlung, gelehrte, in: Jäger (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit Online, verfügbar unter: http://dx.doi.org/10.1163/2352–0248_edn_a3727000, letzter Zugriff: 03.06.2016. Vgl. Kemp, Wolfgang (Hg.), Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, Ostfildern 1991.

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ihre Kleinheit eine besondere Rezeptionssituation herstellen. Dingen wohnt ein Aufforderungscharakter inne, der vonseiten der Archäologie als Affordanz beschrieben wird. Damit sind unter anderem die »durch die physischen Eigenschaften eines Gegenstandes vorgegebene(n) Nutzungsmöglichkeit(en)« gemeint.52 Die Kleinheit eines Objekts birgt besondere Potenziale und Herausforderungen in Hinblick auf seine Sichtbarkeit und Wahrnehmbarkeit, und sie wirkt sich direkt auf das Verhalten derjenigen aus, die es betrachten oder benutzen. So fordert das Kleine eine physische Nähe der Betrachtung,53 das normalgroße mittlere und das große Objekt größere physische Distanz. Die Größe des Objekts bewirkt ein quasi natürliches Verhalten der Rezipienten zum Gegenstand.54 Während große, normalgroße und kleine Objekte es dem menschlichen Körper erlauben, sich in Beziehung zum betrachteten Gegenstand zu setzen, entzieht sich die Mikroform in gewisser Weise dieser Möglichkeit: Die Kontur des Kleinen kann mit einem Blick erfasst werden, während das winzig Kleine eine wiederholte und differenzierte Sehtätigkeit verlangt.55 Die Rezeption, die Wahrnehmung und das Verstehen des Bedeutungsinhalts des miniaturisierten Objekts forder(te)n von den Menschen Vorsicht, Körperkontrolle, Stillhalten und Geduld. Damit zwang und zwingt die Miniatur die Betrachtenden ansatzweise zur Nachahmung der für den Herstellungsprozess nötigen Verhaltensweisen und der ihm zugrunde liegenden Geisteshaltung. Der Rezeptionsvorgang kam einem Akt der Kontemplation gleich, der mit der Zurücknahme und Unterordnung des betrachtenden Egos einherging und damit im Habitus der Demut dessen Geringfügigkeit im Vergleich zu Gottes Schöpfung nachvollzogen haben mag.

52 Ein kniehoher Sandstein lädt zum Darauf-Sitzen und ein Kieselstein lädt zum Aufsammeln ein. Vgl. Fox, Richard/Panagiottopoulos, Diamantis/Tsouparopoulou, Christina, Affordanz, in: Meier, Thomas/Ott, Michael R./Sauer, Rebecca (Hg.), Materiale Textkulturen. Konzepte – Materialien – Praktiken, Berlin/New York 2015, 63–70, hier 66, online verfügbar unter: http://dx.doi.org/10.1515/9783110371291.63, letzter Zugriff: 09.09.2016. 53 »[…] daher sie auch nur in der Nähe muss angesehen und betrachtet werden.« Miniatur, in: Zedler, Universal-Lexicon, Bd. 21, 373. Zedler geht dann über zur Beschreibung der benötigten Materialien und der besonderen Herstellungsart sowie der Anweisung, man solle in einem Zimmer mit nur einem Fenster malen und das Licht von links auf den Werktisch fallen lassen. Er schließt mit der Bemerkung, die Miniaturmalerei solle von Persien gekommen sein. 54 Zur agency von Objekten vgl. Latour, Bruno, La clef de Berlin, Paris 1993 (dt.: Der Berliner Schlüssel, Berlin 1996). 55 Vgl. Bryson, Norman, Vision and Painting. The Logic of the Gaze, London 1983, zu den Modalitäten der Betrachtung, die er mit den Begriffen/Konzepten von Gaze und Glance fasst.

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6. Von Mikro zu Nano – die Überschreitung des sinnlich Wahrnehmbaren Im 21. Jahrhundert wird die Erforschung der Natur mit modernen Mitteln fortgeführt.56 Entsprechend der technischen Entwicklung hat allerdings eine Verschiebung auf die NanoEbene stattgefunden. Miniaturisierung bewegt sich heute tatsächlich jenseits der Sichtbarkeit und ist ohne optische Hilfsmittel oder zusätzliche Informationen nicht zu rezipieren: Während Mikrokunst jenseits des Haptischen liegt, entzieht sich Nanokunst auch der visuellen Wahrnehmung. Die Anforderungen, die die Herstellung einer Nanoskulptur an den Künstler, die Präsentationsform und die Betrachtungsweise sowie die Wirkungsweise auf die Rezipienten stellen, haben sich an die zeitgenössischen technischen Möglichkeiten der Herstellung und Betrachtung angepasst, nicht aber verändert – die Prinzipien sind gleich geblieben. Noch immer erscheint Miniaturisierung als eine Kunstfertigkeit, die Unvorstellbares leistet, woraus sich Kuriosität, Rarität und Kostbarkeit des Gegenstands ableiten. Zwei Beispiele sollen dies abschließend erläutern. »Weniger (viel, viel weniger) ist mehr«, so titelte das Magazin der Süddeutschen Zeitung 2009.57 Der Nano-Skulpteur Willard Wigan (geb. 1957 in England) entwickelt die Technik der Mikroschnitzerei mit modernen technischen Mitteln und zum größten Teil mit modernen Trägermaterialien – Teppichfasern oder Nylonetiketten, aber auch Sandkörner – stets weiter und spitzt das mikroskopische Schnitzen und Gestalten zu (Abb. 6). Seine Nanoskulpturen wie die miniaturisierte Freiheitsstatue passen in ein Nadelöhr oder auf einen Stecknadelkopf. In seiner Arbeit, in seinen Sujets rekurriert er mitunter auf klassische Ikonographien wie die Pietà oder das letzte Abendmahl, häufig aber auch auf popkulturelle Themen. Der Schlüssel zu seiner kunsthandwerklichen Produktion ist seine absolute Körperbeherrschung und äußerste Konzentration, die genau wie es die frühneuzeitlichen Quellen über die Künstler besagen, eine Verlangsamung des Herzschlags und ein Aussetzen der Atmung vorrausetzt und minimale Bewegung mit äußerster Kontrolle zwischen den Schlägen ermöglicht. Diese Arbeitsweise beschreibt Wigan selbst als körperlich sehr anstrengenden meditativen Zustand. Die Umgebung muss ebenfalls so störungsfrei wie möglich sein, bereits die elektrostatische Aufladung seiner Hände führe dazu, dass die winzig feinen Fasern einfach wegflögen.

56 Vgl. Schäffner, Wolfgang/Weigel, Sigrid/Macho, Thomas (Hg.), »Der liebe Gott steckt im Detail«. Mikrostrukturen des Wissens, München 2003 und Breitsameter, Florian/Hauser, Birte/Hauser, Walter (Hg.), Nano- und Biotechnologie im Zentrum Neue Technologien (Führer zur Dauerausstellung im Deutschen Museum München), München 22011. 57 Christine Zerwes im Interview mit Willard Wigan, in: Süddeutsche Magazin 45 (2009), online verfügbar unter: http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/31387/1/1, letzter Zugriff: 12.08.2019.

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Abb. 6: Willard Wigan, To See a World, um 2010.

In dieser Weise arbeitet Wigan 18 Stunden pro Tag und benötigt circa zwei Monate zur Fertigstellung einer Nanoskulptur. Pro Jahr stellt er zwischen vier und fünf Skulpturen her. Sie sind dabei so klein, dass ihm das Missgeschick passierte, Alice im Wunderland einfach eingeatmet zu haben. Neben dem unerlässlichen Mikroskop baut Wigan seine Werkzeuge wie ein Mikroskalpell oder Pinsel selbst: »Wenn eine Figur fertig ist, nehme ich die kleinste Wimper am Rand meines Augenlids und reiße sie heraus. Mit einer Pinzette wird sie zu einem winzigen Pinsel. Früher habe ich ein Haar vom Rücken einer Fliege genommen […].«58 Das Haar einer Fliege, das Hooke in seiner Micrographia 350 Jahre zuvor überhaupt erst sichtbar gemacht hatte, wird hier zum Werkzeug der Herstellung einer noch viel kleineren Form. Auch die Präsentationsform und die Rezeptionsbedingungen sowie der Status der Kuriosität ähneln den mikroskopierten Gegenständen und der Mikrokunst der Frühen Neuzeit. Präsentiert werden die sehr teuren Sammlerstücke in einer durchsichtigen Kugel mit Mikroskop.59 Wigans Nanoskulptur stellt immer noch Handwerkskunst in der Tradition der Mikroschnitzerei dar, die unter anderem von der Schaffung des Dresdner Kirschkerns begründet wurde. Das Motiv der Freiheitsstatue, im Original das monumentalste und symbolträchtigsten Bauwerk und Inbegriff des modernen amerikanischen Selbst­ verständnisses, aufzugreifen und es in eine Nanoskulptur zu übersetzten, ähnelt zugleich dem Prinzip des Flaschenschiffs, das auf der Reduktion eines monumentalen Objekts 58 Ebd. 59 »Die Leute flippen aus, wenn sie die Sachen sehen. Sie schreien: ›Das ist ja unglaublich!‹ Das ist immer wieder ein großer Moment für mich: das fassungslose Erstaunen der Menschen, wenn sie durch das Mikroskop sehen.« Ebd.

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beruht.60 Die Erde und das gesamte Universum mit seiner unfassbaren Ausdehnung in ein Nadelöhr zu bannen, betont den Kontrast zwischen der eigentlichen Größe des Dargestellten und der faktischen Größe der Darstellung einmal mehr (Abb. 6). Das letzte Beispiel erinnert an das frühneuzeitliche Beobachten der Natur und zeigt die Potenzierung der symbolischen Aufladung durch einen Nanoeingriff: Während der 13. Documenta Kunstausstellung im Jahre 2012 in Kassel führte ein sehr kleines Exponat, eine Nanoskulptur mit biologischen ›Materialien‹, zu großer Irritation. Im Fridericianum, dem ersten Museum Kontinentaleuropas im 18. Jahrhundert und damit dem reputationsträchtigsten Ort der Ausstellung, wurden die Besucher mit einer fast leeren Vitrine konfrontiert. Im Zentrum befanden sich »zwei tote Fliegen auf einem Marmorsockel hinter Glas«.61 Es handelte sich »hierbei um zwei Tsetsefliegen, die in Afrika die tödliche Schlafkrankheit verbreiten und damit jährlich Tausende Menschen das Leben kosten […],« so der digitale Katalog und das begleitende Videoformat.62 Das Konzept der 13. ­Documenta bestand unter anderem darin, in situ nichts zu erklären. An dem Exponat befand sich nur ein kleines Schild mit dem Namen des Künstlers und dem Titel, aber keinerlei Erklärung. Die beiden Fliegen waren auf den ersten Blick kaum zu sehen. Der Betrachter war gezwungen sich der Vitrine physisch zu nähern, sich darüber zu beugen, um überhaupt erkennen zu können, was hier zu sehen gegeben wurde. Tote Fliegen als Kunstwerk? Das löste bei vielen Besuchern der Documenta Verwirrung bis hin zu echter Empörung aus.63 Dabei lag die Krux der Aussage in einem Detail, das man nicht sehen, sondern nur wissen konnte: Das Fliegenmännchen war angeblich kastriert worden. Und zwar durch einen mikroskopisch kleinen Eingriff, der nicht nur enorme operative Handwerkskunst vorausgesetzt haben, sondern auch unter einem Mikroskop mit hochtechnisierten ­Instrumenten vonstattengegangen sein musste. Dass der Künstler mit seinem streitbaren Werk auf die aktuell 500.000 an der Schlafkrankheit erkrankten Menschen, auf die Ausbreitung der Epidemie durch instabile politische Lagen und Migrationsströme sowie auf die verheerende medikamentöse Unterversorgung hindeuten wollte, teilte sich durch das Objekt selbst nicht mit. Doch das Exponat verwies implizit auf die Diskussion um die Probleme der Welt-Überbevölkerung und deren Eindämmung durch Krankheiten mit Todesfolge. Oder wollte Sleeping Sickness etwa die Übertragung der Methode der Sterilisation auf Teile der menschlichen Bevölkerung insi60 Wigan, Willard, Statue of Liberty in the Eye of a Needle (2001), online verfügbar unter: http://www.artnet. com/artists/willard-wigan/statue-of-liberty-in-the-eye-of-a-needle-OLaypZ6xFI0 lDyH_1P77HA2, letzter Zugriff: 12.08.2019. 61 Vgl. Phinthong, Pratchaya, Sleeping Sickness, Documenta 13, Fridericianum (N° 136), in: Momenta 100. (081) Fliegen. Documenta 13, online verfügbar unter: https://youtu.be/VSGNIEw_h2Y, letzter Zugriff: 12.08.2019. 62 Ebd.  63 Vgl. ebd. 

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nuieren? Der Mensch verhält sich durch sein Konsumverhalten letztendlich zum Planeten Erde ähnlich tödlich, wie die Tsetsefliege zum Menschen. All dies wurde durch die kleinen, toten Fliegen transportiert, ausgestellt in einer übergroßen Vitrine, auf hellem Untergrund. Die Bedeutung des Fliegenexponats lag also jenseits des Sichtbaren und zugleich ausschließlich im Denkraum, in der kognitiven Auseinandersetzung mit der Information, die Fliege sei kastriert worden, denn ob dieser Eingriff tatsächlich stattgefunden hatte, blieb unklar – und für das Gedankenspiel letztlich nicht relevant.64 Die Nanoskulptur der ›aufgeladenen‹ Fliege fungierte nur durch die Erzählung von der Kastrierung als Diskursfolie.

7. Fazit: Miniaturisierungen als Medien der Verdichtung Beide Beispiele führen noch einmal zu Kernfragen bei der Betrachtung von kleinen Dingen zurück. Miniaturisierungen sind das Ergebnis eines kulturellen Prozesses, der nicht selten zugleich einen Übersetzungsprozess impliziert. Bei der Übersetzung von groß nach klein oder bei der Konzeption des Kleinen als eigener Entität wird im Schaffen (oder Sichtbarmachen) des Kleinen nicht einfach nur eine Verkleinerung des Maßstabs vorgenommen, sondern diese Verkleinerung geht auch mit einer Ausweitung bis hin zur Übertreibung des Inhalts einher.65 Solange es dem Kleinen gelingt, unsere Aufmerksamkeit zu erregen, bewirkt Kleinheit Neugier und Staunen, wenn sich der Rezipient über den ersten Impuls der flüchtigen Betrachtung und Geringschätzung hinwegsetzt. Dazu muss er die Mühe des Betrachtens auf sich nehmen und dem Aufforderungscharakter, der vom Kleinen ausgeht, folgen. Durch physische Nähe, Zeit und Konzentration kann aus der Betrachtung Erkenntnis generiert werden. Die Steigerung des Verkleinerungsmaßstabs bis zur Unsichtbarkeit wird von zwei grundlegenden Veränderungen der Wahrnehmungsbedingungen begleitet: Erstens verschiebt sich der Aufforderungscharakter zur Rezeption mehr und mehr vom Objekt selbst auf das Hilfsmittel der Objektrezeption – Lupe, Mikroskop und Glaskugel. Mit Teilen der Mikro- und Nanokunst findet damit eine Verschiebung der Bedeutung der Hilfsmittel statt: Waren die extremen Formen der Mikrokunst ohne optische Vergrößerungshilfen nicht herstellbar, aber zumindest noch in den Konturen sichtbar, ist bei der Nanoskulptur allein schon die Betrachtung ohne technische Hilfsmittel unmöglich. Die Abhängigkeit des Rezeptionsvorgangs vom Hilfsmittel wächst also. Zweitens kehrt sich das Verhältnis von Sehen und Wissen um. Während bei den frühneuzeitlichen Objekten die 64 Dass das Kleine mit Wirkungsmacht bezogen auf die Entwicklung der Menschheit ausgestattet ist, demonstrierte Josef Reichholf 1997 in seinem Rätsel der Menschwerdung, in dem er die Tsetsefliege verantwortlich erklärte für die Migrationsbewegung des Homo Sapiens aus Zentral- und Ostafrika vor 70.000 Jahren. 65 Ein sprachliches Analogon wäre der Witz, der durch Übertreibung und Reduktion den Inhalt verdichtet und betont.

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Betrachtung des Objekts Wissen begründete, verhält es sich heute umgekehrt: das Wissen (um die Existenz des Nanoskulptur oder des Nano­eingriffs) geht dem Sehakt voraus. Ein Experiment mit der Interaktion zwischen Menschen und Puppenhäusern hat ergeben, dass sich die subjektive Wahrnehmung von Zeit umgekehrt proportional zur Größe der Gegenstände verhält: Je kleiner also Gegenstände sind, desto länger fühlt sich die Zeitspanne der Beschäftigung mit diesen an.66 Miniaturen produzieren im Betrachtenden ein deutlich verlangsamtes Zeitgefühl. Damit tragen sie eine Qualität in sich, die im Lauf der zunehmenden Beschleunigung des alltäglichen Lebens durch die Veränderung der Umweltbedingungen zu einem Eigenwert der Miniaturen wird: sie sind Objekte der Entschleunigung.67 Heute ist es zudem möglich, ein Abbild von sich selbst als 3D-Druck in Miniatur herstellen zu lassen und diese in einer impossible bottle als Form der Selbstkonservierung ›einzufrieren‹, quasi als eine moderne Form eines personalisierten memento mori.68 Normale, alltägliche Dinge in stark verkleinerter Form darzustellen, bedeutet, sie in eine andere Bedeutungsdimension zu überführen, sie mit einer vom Referenzobjekt verschiedenen Wirkungsmacht auszustatten. Um eine makroskopische Betrachtung und die unmittelbare Identifizierung des Gegenstands oder Themas überhaupt möglich zu machen, werden die Charakteristika der ›Originale‹ – Schiffe, Gesichter, Freiheitsstatue – auf ihre wesentlichen Merkmale reduziert (Rumpf/Mast, Augen, Nase, Mund, Kontur, Haltung). Rekurriert wird damit auf Charakteristika, die fest im kollektiven visuellen Gedächtnis verankert sind. Zu betonen ist damit auch die gestalterische Verdichtungsleistung von visuellen Informationen. Zu unterscheiden ist dabei zwischen dem Verfahren der Miniaturisierung, Verkleinerung oder Reduktion und dem der Verdichtung. Verdichtung, als eigentlich technischer Begriff, der das Komprimieren von Masse beschreibt, ist hier zu verstehen als Konzentration und Bündelung eines komplexen Inhalts auf einen kleinen bis mikroskopisch kleinen materiellen Träger. Konzentriert wird hier nicht der Stoff selbst, sondern – in Abhängigkeit seines Kontexts – die Bedeutung, die er trägt. Die Verdichtungsleistung liegt nicht in der Miniaturisierung als Objekt begründet, sondern im Kontext und im Wissen des Betrachters um das Referenzobjekt. Die oben ausgeführten Beispiele zeigen, dass Miniaturen Diskursphänomene darstellen, deren Bedeutungsinhalte durch die physische Reduktion nicht etwa geschmälert, sondern verstärkt werden.

66 Stewart, On Longing, 66. 67 Es ist zu hinterfragen, ab welcher Dimension der Miniaturisierung die Entschleunigung wächst oder die Beschäftigung mit dem Objekt aufgrund der anstrengenden Sehbedingungen nach kurzer Zeit schwindet. 68 Beispielsweise unter: https://web.twindom.com/und http://bottlemagic.com/bottles/(für beide letzter Zugriff: 12.08.2019).

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Miniaturen bewirken zweierlei in besonderem Maß: sie affirmieren einerseits die Handlungsmacht des Menschen und können andererseits Anlass sein, die eigene Kleinheit zu überdenken. Gaston Bachelard schrieb 1958: »the better I am at miniaturizing the world, the better I possess it«.69 Er meinte damit die geistige Inbesitznahme, die gedankliche Auseinandersetzung. Die Verkleinerung ermöglicht die Übersicht, die Vogelperspektive. Das eingangs zitierte umweltaktivistische Gedicht von Joe Miller aus dem Jahr 1998, das die Erde als Miniatur konzeptualisiert, macht sich diesen Grundgedanken zunutze. Denn in der Relation zu den kleinen Dingen reflektiert der Mensch auch die Frage nach der Schöpfung, seiner eigenen Macht und seiner Ohnmacht.

69 Bachelard, Gaston, The Poetics of Space, Boston 1969 (zuerst 1958), 150.

Parerga des Wissens Der Drogentisch der Franckeschen Stiftungen zu Halle und die Genese von Sammlungsmöbeln um 1700 Christiane Holm

In der im 18. Jahrhundert eingerichteten Kunst- und Naturalienkammer der Franckeschen Stiftungen zu Halle ist heute zwischen wandfüllenden Glasschränken und großformatigen Schaumodellen ein schwergewichtiger Tisch zu sehen (Abb. 1).1 Diese fotografisch über-

Abb. 1: Drogentisch in der Kunst- und Naturalienkammer der Franckeschen Stiftungen zu Halle, Laub- und Nadelholz, außen grau-beige Holzimitationsmalerei, Länge 229 cm, Breite 114 cm, Höhe 89 cm, Franckesche Stiftungen zu Halle.

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Müller-Bahlke, Thomas, Die Wunderkammer der Franckeschen Stiftungen, Halle a. d. S. ²2012, 98–99. Die folgenden Ausführungen zum Drogentisch profitieren nicht nur von dieser Studie, sondern auch von der gemeinsam mit Thomas Müller-Bahlke erarbeiteten objektbezogenen Präsentation im Rahmen eines Workshops »Die Wunderkammer der Franckeschen Stiftungen. Wissen – Werte – Praktiken«, den die Franckeschen Stiftungen im Februar 2015 gemeinsam mit dem DFG-Netzwerk »Materielle Kultur und Konsum im Europa der Frühen« veranstalteten. Mein besonderer Dank gilt Thomas Müller-Bahlke, dem Direktor der

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lieferte Anordnung aus dem 19. Jahrhundert ist plausibel,2 da sich der Tisch mit seinem über zwei Meter langen, über einen Meter tiefen Tischblatt als Schau- und Arbeitsfläche im Umgang mit den Sammlungsobjekten anbietet. Seine Objektgeschichte als Sammlungsmöbel jedoch ist alles andere als eindeutig. Dass der Tisch das älteste Stück innerhalb des historischen Möbelensembles darstellt, fällt angesichts der stilgeschichtlichen Kontinuität der barocken Tischform kaum ins Auge. Der Tisch ist erstmals 1713 in den Akten der 1698 angelegten »Naturalien-Kammer« des sogenannten Waysen-Haußes zu Glaucha an Halle belegt.3 Die Kammer war zunächst im Dachboden des Haupthauses untergebracht, wurde jedoch nach drei Jahrzehnten mit den beträchtlich, auch um Artefakte angewachsenen Beständen in den ehemaligen Schlafsaal der Waisenkinder im Unterdachgeschoss verlegt. Die räumlichen Dimensionen dieser Veränderung lassen sich gut an einem historischen Modell des Hauses nachvollziehen, das die Inneneinrichtung vor dem Umzug dokumentiert (Abb. 2).4 Angelegt wurde die Naturalienkammer als Lehrsammlung für die Schulen der Glauchaschen Anstalten,5 jedoch erfüllte sie zunehmend repräsentative Funktionen, um Besucher nicht nur von der pädagogischen, sondern auch von der wissenschaftlichen

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Franckeschen Stiftungen, und Claus Veltmann, deren Kustos, für den fachlichen Austausch. Auch danke ich der Holzrestauratorin Kerstin Klein, die das Möbel einer makroskopischen Untersuchung mit Blick auf die Konstruktion, die verarbeiteten Holzsorten und die Farbfassung unterzog, deren Befunde in diesen Beitrag eingingen. Schließlich sei auch Thomas Ruhland, Diana Stört und Claudia Weiss für kritische Lektüren und weiterführende Hinweise gedankt. Fotografie von Max Sauerlandt, vor 1911, abgebildet in Müller-Bahlke, Wunderkammer, 24–25. Rechnungen über Einnahme und Außgabe bey der Naturalien-Kammer und Bibliothek geführet von Adam Viebig ab No. 1709 bis Febr. 1715. Ausgabe vom 4. Aug. 1713 zum »Mat[eria] med[ica] Tisch«, Archiv der Franckeschen Stiftungen zu Halle, W Rep VIb/263/XIX 1. Bei allen in diesem Beitrag zitierten Archivalien und historischen Drucken handelt es sich um Bestände des Archivs sowie der Bibliothek der Franckeschen Stiftungen, weshalb die Signatur-Nachweise im Folgenden mit den Kürzeln AFSt bzw. BFSt versehen sind. Die »Naturalien-Kammer« ist in einem um 1705 hergestellten Kupferstich vom Grundriss des Waisenhauses »unter dem Altan […] in der Gegend des Unterdaches« eingetragen. Vgl. Das Waysen-Haus zu Glaucha vor Halle, in: Franckesche Stiftungen zu Halle (Hg.), Tief verwurzelt – hoch hinaus. Die Baukunst der Franckeschen Stiftungen als Sozial- und Bildungsarchitektur des protestantischen Barock (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in den Franckeschen Stiftungen 12. Sept. 2015–21. Febr. 2016), Halle a. d. S. 2015, 10. Dieser präzisen Angabe gemäß lässt sich die Kammer auch innerhalb des vermutlich im frühen 18. Jahrhundert gefertigten Modells des Waisenhauses (Abb. 2), das 1741 in Gründlers Katalog notiert ist, unter dem Altan mit drei Fenstern zur Hofseite zuordnen. Zu sehen ist ein alle drei fensterlosen Seiten umlaufender Wandschrank, der in der mittleren Zone offen, möglicherweise verglast ist und somit fast an heutige Ausstellungsarchitekturen erinnert. Müller-Bahlke, Wunderkammer, 118–121. Hornemann, Dorothea/Veltmann, Claus, »Zu Erziehung der Jugend«. Die Naturalienkammer August Hermann Franckes in der Tradition der frühneuzeitlichen Sammlungs- und Bildungskultur, in: Zaunstöck, Holger/Müller-Bahlke, Thomas/Veltmann, Claus (Hg.), Die Welt verändern. August Hermann Francke – Ein Lebenswerk um 1700 (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in den Franckeschen Stiftungen vom 24. März–21. Juli 2013), Halle a. d. S. 2013, 129–143; Veltmann, Claus, »Umb von allen dingen lebendige impressiones und connoissance zu bekommen«. Die Kunst- und Naturalienkammer August Herrmann Franckes in der frühneuzeitlichen Bildungstradition, in: Bätzner, Nike (Hg.), Assoziationsraum Wunder-

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Abb. 2a–2b: Modell des Waisenhauses zu Glaucha bei Halle, vor 1741, bemaltes Holz, Pappe, Stroh, oben: Einblick in das Oberdach von der Hofseite mit Naturalienkammer, unten: Einblick in das Unterdach von der Fassadenseite mit Schlafsaal, Franckesche Stiftungen zu Halle.

Arbeit der Anstalten und deren weltweiter Vernetzung zu überzeugen.6 Bereits Caspar Friedrich Neickels einflussreiche Museographia, ein 1727 erschienenes museumskundliches Grundlagenwerk, listet die Franckesche Sammlung in ihrem Verzeichnis deutkammer. Zeitgenössische Künste zur Kunst- und Naturalienkammer der Franckeschen Stiftungen zu Halle (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in den Franckeschen Stiftungen 24. Apr.–16. Aug. 2015), Halle a. d. S. 2015, 39–54. 6 Müller-Bahlke, Thomas, Die Einzigartigkeit der Kunst- und Naturalienkammer in den Franckeschen Stiftungen, in: Troitzsch, Ulrich (Hg.), »Nützliche Künste«. Kultur- und Sozialgeschichte der Technik im 18. Jahrhundert, Münster 1999.

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Abb. 3: Caspar Friedrich ­Neickel, Museographia, Leipzig/Breslau 1727, Frontispiz.

scher Kunst- und Naturalienkammern.7 Dies trug nicht nur zur Verstärkung der Außenwahrnehmung der Kammer im Waisenhaus bei, sondern lieferte zugleich wichtige Impulse zur Neukonzeption der Inneneinrichtung zwischen 1736 und 1741.8 Denn der Privatgelehrte und Bildkünstler Gottfried August Gründler, der den Auftrag zur Katalogisierung, Neuordnung und Möblierung der Sammlung erhielt, folgte darin der von Neickel empfohlenen Raumordnung. Das wurde dadurch begünstigt, dass der ehemalige Schlafsaal mit seinem rechteckigen Zuschnitt die museumskundlichen Vorgaben

7 Neickel, Caspar Friedrich [d. i. Kaspar Friedrich Jencquel], Museographia oder Anleitung zum rechten Begriff und nützlicher Anlegung der Museorum, oder Raritäten-Kammern, Leipzig/Breslau 1727, 56. 8 Müller-Bahlke, Wunderkammer, 44.

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erfüllte.9 Bezeichnenderweise ist die in der Bibliothek der Franckeschen Stiftungen überlieferte Museographia mit dem ersten, um 1701 gedruckten Katalog der Kammer und weiteren bis 1741 datierten Katalogen anderer Referenzsammlungen zu einem Buchkörper gebunden.10 Dieser Band ist sicherlich mit Abschluss der Neueinrichtung als Arbeitsexemplar zusammengestellt worden und macht die direkte Beziehung zwischen normativer und pragmatischer Textsorte greifbar. Mit Blick auf die überlieferte Einrichtung der Franckeschen Kammer scheint es so, als habe sich Gründler auch in der Möblierung eng an Neickels Vorgaben gehalten. Auf dem programmatischen Frontispiz der Museographia Neickeliana ist das Bild eines Sammlers in actu dargestellt (Abb. 3): Im Raumzentrum zwischen wandfüllenden offenen Repositorien mit Büchern und Objekten studiert er ausgewählte Sammlungsstücke und Texte an einem barocken Tisch mit Balusterbeinen und Fußbrett, der dem Exemplar der Franckeschen Kammer ähnlich ist. Abweichend vom modellgebenden Raumbild hatte Gründler statt einfacher Repositorien teilverglaste Schränke mit sammlungsbezogenen Bekrönungsmalereien gestaltet.11 Doch so plausibel seine heutige Aufstellung wirkt, den Tisch hatte Gründler offenkundig nicht in die Neueinrichtung integriert, er kam vermutlich erst

9 Als Schlafsaal für die Waisenkinder angelegt, bot dieser im Unterdachgeschoss gelegene Raum mit vergleichsweise wenigen und kleinen Fenstern allerdings nicht die von Neickel vorausgesetzte Lichtqualität, was Gründler durch eine ausgefeilte Lichtregie durch Positionierung und Teilverglasung der Schränke auch an den Seitenwänden auszugleichen gelang. Müller-Bahlke, Wunderkammer, 45–46. 10 Neben der Museographia Neickeliana und der Specification, derer Sachen Welche zu der für die Glauchaschen Anstalten angefangenen Naturalien-Cammer bis anhero verehret worden sind Kataloge anderer naturkundlicher und ethnographischer Sammlungen eingebunden, dessen jüngster, Friedrich Hoffmanns Mineralienkollektion, 1741 erschienen ist (BFSt 67 D 3). Es ist davon auszugehen, dass der Band mit Abschluss von Gründlers Arbeiten für die Handbibliothek der Kammer zusammengestellt wurde. Das belegen die Q ­ -Signaturen bei zwei Einzeldrucken, denn unter dieser Signaturengruppe hatte Gründler die Handbibliothek im Schrank XVI.Q positioniert und verzeichnet. Dafür spricht zudem mit Blick auf andere Bände dieser Provenienz wie Valentinis Museum Museorum (BFSt 72 A 20), der gleichförmige Pergamenteinband sowie die Umsignierung von einer Hand, die 1771 bei der Überführung der Hand- in die Hauptbibliothek erfolgt sein dürfte. Für die vergleichende Untersuchung der Bände danke ich Anke Mies, Bibliothekarin der Franckeschen Stiftungen. 11 Laube, Stefan, Von der Reliquie zum Ding. Heiliger Ort – Wunderkammer – Museum, Berlin 2011, 356–366; Dolezel, Eva, Inszenierte Objekte. Der Indienschrank in der Kunst- und Naturalienkammer der Franckeschen Stiftungen zu Halle, in: Fremde Dinge. Zeitschrift für Kulturwissenschaften 1 (2007), 29–38; Uhlig, Ingo, Ordnung des Lebendigen. Naturgeschichtliche Malereien im Kabinett der Franckeschen Stiftungen zu Halle, in: McCarthy, John/Hilger, Stephanie/Saul, Nicholas/Sullivan, Heather (Hg.), The Early History of Embodied Cognition 1740–1920. The Lebenskraft-Debate and Radical Reality in German Science, Music and Literature, Leiden/Boston 2016, 75–97; Ruhland, Thomas, Objekt, Parergon, Paratext. Das Linné’sche System in der Naturalia-Abteilung der Kunst- und Naturalienkammer der Franckeschen Stiftungen, in: Knebel, Kristin/Ortlieb, Cornelia/Püschel, Gudrun (Hg.), Steine rahmen, Tiere taxieren, Dinge inszenieren. Sammlung und Beiwerk, Dresden 2018 (Parerga und Paratexte 1), 72–105.

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1835/36 in dieses Ensemble.12 Und bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass dieses Möbel anders als Neickels idealtypischer Arbeitstisch unter dem überkragenden Tischblatt einen Magazinkasten enthält, der eine Sitzhaltung nicht zulässt und ein stehendes Arbeiten erfordert. Während die jüngeren Samm­ lungsschränke einem einheitli­ chen Form- und Farbkonzept folgen, ist der Tisch zudem in Material und Machart heterogen: Die Balusterbeine aus Laubbaumholz sind dunkel gebeizt und poliert, das Fußbrett wie der Kasten aus Nadelholz sind mit einer Holzimitationsmalerei geAbb. 4: Drogentisch in geöffnetem Zustand, innen rot, grün und fasst. Besonders gestaltet ist das Tischblatt, das ein in zwei Grau- holzfarben gefasst, Franckesche Stiftungen zu Halle. tönen angelegtes Muster aus aufeinander zulaufenden Halbkreisen zeigt. Die langen Seiten des Kastens sind mit einem vorgesetzten Brett verkleidet, an den kurzen Stirnseiten jedoch ist das Hirnholz der Kon­struktion zu sehen (Abb. 4).13 Diese augenscheinliche Differenz in der Ausführung lässt darauf schließen, dass die Tischbeine von einem älteren und hochwertigeren Möbel stammen, das bei der Fertigung nachgenutzt wurde, und dass die Raumsituation der Erstaufstellung des Tisches die gestalterisch vernachlässigten Seiten kaum sehen ließ. Nachnutzungen und Um12 Der Katalog zur Neueinrichtung sowie auch der zur späteren Überarbeitung im 18. Jahrhundert, die detailliert nicht nur die Inhalte der einzelnen Möbel, sondern auch alle Außenobjekte verzeichnen, nennen den Drogentisch nicht. Gründler, Gottfried August, Catalogus derer Sachen, die sich in der Naturalien-Kammer des Waysen-Hauses befinden, AFSt W XI/-/58:12; Bullmann, Johann Carl, Ein von der Naturalien-Cammer des Waysenhauses hierselbst enthaltendes Verzeichniß, zu meinem Gebrauch von mir angefertigt im Sommer 1787, AFSt W XI/-/58:14. Der zuerst Anfang des 20. Jahrhunderts am heutigen Standort bezeugte Drogentisch galt derzeit als Münztisch und kam vermutlich 1835/36 im Zuge einer räumlichen Verkleinerung der Kunst- und Wunderkammer in das Ensemble. Müller-Bahlke, Wunderkammer, 23–26, 98. 13 Dass die beiden kurzen Seiten von vornherein unverkleidet blieben, zeigt deren holzfarbene Fassung. Die kleinen Löcher deuten nicht etwa auf die Anbringung einer Verkleidung, sondern rühren von den Holznägeln, mit denen die Innenböden im Tischkasten befestigt sind.

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formungen von Möbeln waren in der Frühen Neuzeit der Normal­fall, da sie, wie Inventare bezeugen, einen relativ stabilen Wert bildeten und wie alle anderen Dinge vielfältig wiederverwendet wurden.14 Der Zugriff auf den Magazinteil des Möbels fällt nicht sofort ins Auge. Etwas versteckt unter dem überstehenden Rahmen des Tischblatts ist an den beiden langen Seiten des Kastens jeweils mittig ein Schloss angebracht. Wird es geöffnet, lässt sich das vorgesetzte Brett über ein Scharnier nach unten aufklappen und zeigt flache Schubladen verschiedenen Formats mit dunkelgrünen, rot gerahmten Stirnseiten und ringförmigen Messinghandhaben. Die obere Zone des Magazinteils ist über das Tischblatt zugänglich, das durch einen zweiteiligen Rahmen in zwei Binnenplatten gegliedert ist, die jeweils von innen nach außen aufgeklappt werden kön- Abb. 5: Eingerichte des Drogentischs mit pharnen. Während diese beiden Binnenplatten mazeutischer Etikettierung, Franckesche Stiftungen zu Halle. bei Handhabung des Drehverschlusses jeweils einen Einblick in das darunterliegende Innere erlauben, kann die gesamte Tischfläche nur über den mit einem Schloss versehenen zweiteiligen Rahmen geöffnet werden. Das komplette Tischblatt ist innenseitig himmelblau gestrichen und gibt den Blick auf das in 406 quadratische Binnenfächer gegliederte Eingerichte frei, das in seiner Farbstellung der Gestaltung der Schubladen folgt und somit die beiden Ebenen des Magazinteils optisch miteinander verklammert (Abb. 5). Die grünen Stege der Quadrate mit einem Innenmaß von 5 × 5 cm sind teilweise mit rot beschrifteten Etiketten beklebt, die in einheitlicher Leserichtung in lateinischer Fachsprache pharmazeutische Simplizien bzw. Drogen,15 pflanzliche, tierische, menschliche 14 Vgl. Stöger, Georg, Weiternutzen, Reparieren, Wiederverwerten. Der »Umgang mit den Dingen« in der Vormoderne, in: Jakubowski-Tiessen, Manfred (Hg.), Von Amtsgärten und Vogelkojen. Beiträge zum Göttinger Umwelthistorischen Kolloquium 2011–2012, Göttingen 2014, 147–172; North, Michael, Genuss und Glück des Lebens. Kulturkonsum im Zeitalter der Aufklärung, Köln 2003, 78–86. 15 Im heutigen pharmazeutischen Sprachgebrauch bezeichnen Drogen pflanzliche und auch tierische, nicht aber mineralische Stoffe. Im frühneuzeitlichen Sprachgebrauch ist der Begriff jedoch nicht durch die Wissenschaft, sondern durch das Handelswesen geprägt, so werden im Zedler »Drogistereyen« als »Apothecker-Waaren«

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und auch mineralische Ausgangsstoffe für die Herstellung von Medikamenten, bezeichnen: Notiert sind beispielsweise R[ADIX] ­ANGEL[ICAE] (Engelswurzel), DENT[ES] LUPI (Wolfszähne), MUMIA (Totenpech und Mumiensubstanz).16 Der Boden der Fächer ist in einem holzähnlichen Rosaton gefasst und weitgehend ohne Verfärbungen. Dies lässt darauf schließen, dass die Drogen in entsprechend normierten Behältnissen eingestellt wurden, was das Entleeren, Befüllen und Reinigen erleichterte und dabei die sichere Trennung der losen Substanzen innerhalb des Tischkastens gewährleistete. Solange nur eine Seite geöffnet ist, lässt sich das verbleibende halbe Tischblatt als Arbeitsfläche im direkten Zugriff auf die Drogen nutzen. Auffällig ist, dass sich die Binnenplatten mit dem umlaufenden Rahmen nicht um 180 Grad aufklappen lassen, wodurch sich das geöffnete Drogensortiment ohne weiteres um zwei seitlich angrenzende Stell- und Arbeitsflächen hätte erweitern lassen können. Zusammen mit der schon erwähnten nachlässigen Gestaltung der kurzen Seiten weist auch die Materialabnutzung an den tischmittig gelegenen Außenkanten von Binnenplatten und Rahmen darauf hin,17 dass der Drogentisch für eine begrenzte Raumsituation gefertigt wurde, in der die aufgeklappten Elemente seitlich an eine Wand, einen Pfeiler oder ein angrenzendes Möbel angelehnt wurden. Der Tisch musste wegen der dort positionierten Schubladen von beiden langen Seiten zugänglich sein, jedoch privilegierte er mit den beschrifteten Etiketten im Eingerichte eine Lese- und Schauseite. Insofern spricht die seitliche Begrenzung dafür, dass das Möbel den Zugang auf die Drogen performativ als Schranke in eine Zone vor und eine Zone hinter dem Tisch teilte. Seine Konstruktion als Raumteiler sowie die pharmazeutische Etikettierung des Drogentischs machen innerhalb der Glauchaschen Anstalten auch einen anderen Nutzungszusammenhang als den der Naturalienkammer denkbar. Historische Besucher definiert. In diesem Sinne ist die im vorliegenden Artikel vorgenommene Benennung des zentralen Objekts als Drogentisch zu verstehen. Vgl. Droguistereyen, in: Zedler, Johann Heinrich, Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 7, Halle a. d. S./Leipzig 1734, 1468–1469. 16 Die durch den Pharmaziehistoriker Hans-Joachim Poeckern vorgenommene Transkription und Auswertung der Etiketten listet ausschließlich »Drogen« im Sinne von organischen Simplizien, jedoch geht Poeckern davon aus, dass auch »Mineralien« (anorganische Simplizien) darunter waren. Poeckern, Hans-­ Joachim, Der große (Drogen‑)Sammlungstisch. Typoskript o. J., Handbibliothek zur Wunderkammer in den F ­ ranckeschen Stiftungen. In diesem Sinne ließe sich die von Müller-Bahlke herangezogene Quelle aus dem Jahr 1730 interpretieren, wonach eine Mineralienlieferung in den Materia medica-Tisch eingelagert wurde. Müller-Bahlke, Wunderkammer, 99. Dass der Tisch für die Präsentation einer Mineralien- oder Münzsammlung umgenutzt wurde, ist nicht anzunehmen, da die Drogen-Etiketten weder entfernt noch überklebt wurden. 17 Zudem findet sich an den Außenseiten der Binnenplatten je ein gleichmäßiger Streifen mit Leimresten, der auf eine Beklebung mit Leder oder Stoff schließen lässt. Die äußeren Rahmen waren offensichtlich so verbraucht, dass sie bis auf die Elemente an den Scharnieren bei der Restaurierung 1993 durch Horst-­ Dieter Jach ersetzt werden mussten. Siehe das Präsentationsfoto aus dem Artikel: Heckelsbruch, Rolf, Bald bergen sie wieder Raritäten. Schränke aus den Franckeschen Stiftungen in Halle wurden in Braunschweig restauriert, in: Braunschweiger Zeitung, 25.07.1995.

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des Waisenhauses gelangten über die Freitreppe im Hochparterre zunächst in zwei Ladenlokale, die seit der Gründung der Institution deren ökonomische Basis bildeten: der Buchladen und die Apotheke.18 Die Fertigung des Tisches lässt sich weder in den Akten der Apotheke noch in denen der Naturalienkammer nachweisen. Erstmals aktenkundig ist das Möbel als bereits vorhandenes Objekt durch eine tischlerische Umbaumaßnahme: Eine im Rechnungsbuch der Naturalienkammer verzeichnete Ausgabe vom 4. August 1713 dokumentiert den Einsatz von »2 Dratthurchen auf den Mat[eria] med[ica] Tisch«.19 Vermutlich war damit die Neugestaltung des gesamten Tischblatts gemeint.20 Auf der Innenseite des originalen Rahmenstücks sind noch Nagellöcher und Reste einer Drahtverspannung zu erkennen. Diese besondere Zurichtung mit einem Drahtgitter im Rahmen und den beiden darin eingepassten Binnenplatten war pragmatisch wie epistemisch weitreichend, denn sie separierte den visuellen vom taktilen Zugang zu den Materialien. Das Drahtgitter machte aus einem kaufmännischen Magazinmöbel ein pädagogisches Zeigemöbel, aus einem Warenbehältnis eine Museumsvitrine.

1. Epistemische Möbel – ein praxeologischer Zugang zur Sammlungsgeschichte Ein Sammlungsmöbel lässt sich im Verhältnis zu Sammlungsstücken und somit als Medium zweiter Ordnung beschreiben und analysieren. Diese strukturbildende Relation führt zumeist dazu, dass die Möblierung bei der Untersuchung einer Sammlung als Nebensache einer Sache, als Parergon eines Ergon ausgeblendet wird. Ein starkes Konzept des Parergon jedoch, wie es Jacques Derrida formuliert hat, verschiebt die Untersuchungsperspektive vom Werk zum Beiwerk: »Ein Parergon tritt dem ergon […] entgegen, zur Seite und zu ihm hinzu, aber es fällt nicht beiseite, es berührt und wirkt, von einem 18 Die Anstalten hatten im Zuge ihrer Gründung 1698 von Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg ein »Privilegium über das Waysenhauß zu Glaucha an Halle« erhalten. Poeckern, Hans-Joachim, Waisenhaus-­ Apotheke und Medikamenten-Expedition der Franckeschen Stiftungen zu Halle a.d. Saale, in: Toellner, Richard (Hg.), Die Geburt einer sanften Medizin. Die Franckeschen Stiftungen zu Halle als Begegnungsstätte von Medizin und Pietismus im frühen 18. Jahrhundert, Halle a. d. S. 1998, 73–86; Ernst, Antje/Ernst, Mathias, Druckerschwärze und Goldtinktur. Zum 300jährigen Jubiläum der Apotheke und Buchhandlung des Waisenhauses zu Halle (Katalog zur Sonderausstellung anlässlich der Festtage zum Doppeljubiläum 300 Jahre Apotheke und Buchhandlung des Waisenhauses zu Halle), Halle a. d. S. 1998. 19 Rechnungen der Naturalien-Kammer, 04.08.1713, AFSt, W Rep VIb/263/XIX 1. 20 Dafür spricht erstens die vergleichsweise hohe Rechnung von 2 Talern und 16 Groschen, zweitens, dass die schlichten Scharniere der Rahmenkonstruktion nicht von derselben Machart sind wie die ornamentaler gestalteten Scharniere der Seitenklappen und schließlich drittens, dass die Separierung von Rahmen und Binnendeckeln in der Konstruktion des Tischblatts generell nur für einen derart gestaffelten Zugang Sinn macht.

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bestimmten Außen her, im Inneren des Verfahrens mit«.21 Was Parerga auszeichnet, »ist nicht einfach ihre überflüssige Äußerlichkeit, es ist das interne strukturelle Band, das sie mit dem Mangel im Innern des Ergon zusammenschweißt. Und dieser Mangel ist damit konstitutiv für die Einheit selbst des Ergon.«22 Dass das Parergon bei einem Mangel des Ergon einspringt, ist im Falle des Drogentischs besonders gut im oberen Magazinteil nachvollziehbar: Die quadratischen, etikettierten Fächer geben den losen Substanzen eine Form und einen Namen; sie machen sie überhaupt als Sache identifizierbar. Zugleich lenken sie die visuelle Erfassung dahingehend, dass sie die materialen Besonderheiten der einzelnen Drogen im Vergleich mit anderen Materialproben evident machen. Die in der Wissenschafts- und Sammlungsgeschichte verhandelte Frage nach einer Sprache der Dinge23 kann mit Blick auf die Sammlungsmöbel insofern modifiziert werden, als Sammlungsobjekte erst durch konkrete materielle Zurichtungen einen Dingstatus erhalten, durch den sie im doppelten Wortsinn zur Sprache kommen: als Gegenstand des Gesprächs und als auskunftsfähige Aktanten.24 Sammlungsmöbel schaffen konkrete Wahrnehmungs- und Erkenntnissituationen, die eine Sammlung als System aussagekräftiger Dinge konstituieren. Im Vergleich zu anderen Parerga wie Etiketten, Rahmen oder Sockeln organisieren Sammlungsmöbel in der Regel eine größere Stückzahl an Objekten, erlauben eine Fluktuation derselben und staffeln den Zugriff performativ durch mehrere Sequenzen. Auch diese Aspekte sind gut an dem Drogentisch zu beobachten, da er eine große Menge verschiedener Materialien aufnehmen, in Kästchen austauschbar und in den Laden erweiterbar halten kann, wobei der Zugang über die verschiedenen Öffnungsebenen des Kastens mehrere Raumzonen und Ansichten hintereinanderschaltet. Zudem geben Spuren tatsächlichen Gebrauchs als auch gegebene Optionen der Handhabung des Möbels Aufschluss über den Umgang mit den gesammelten Materialien. Ein solcher objektzentrierter Zugang zur Sammlung über dokumentierte und mögliche Gebrauchsweisen der Sammlungsmöbel fragt weniger nach dem Warum, sondern nach dem Wie der Praktiken. Damit begibt er sich methodisch in das Feld der Praxeologie, deren aktuelle Konjunktur eng mit der Dingforschung verbunden ist. In der Methoden21 Derrida, Jaques, Die Wahrheit in der Malerei, hg. von Peter Engelmann, Wien 1992 (zuerst Paris 1978), 74. 22 Ebd., 80. Johannes Grave hat dieses Konzept für die Untersuchung materieller Zurichtungen von Sammlungsstücken erschlossen: Grave, Johannes, On the Aesthetics of Scientific Objects. Three Case Studies, in: Vackimes, Sophia/Weltersbach, Konstanze (Hg.), Wandering Seminar on Scientific Objects, Berlin 2007, 35–47. 23 Daston, Lorraine (Hg.), Things that Talk. Object Lessons from Art and Science, New York 2004. 24 Diese Fragestellung verfolgte das von 2015 bis 2018 durch das BMBF geförderte Verbundprojekt »­Parerga und Paratexte – Wie Dinge zur Sprache kommen. Praktiken und Präsentationsformen in Goethes Sammlungen« der Klassik Stiftung Weimar und der Universitäten in Bielefeld, Erlangen und Halle an der Saale. Vgl. Knebel, Kristin/Ortlieb, Cornelia/Püschel, Gudrun (Hg.), Steine rahmen, Tiere taxieren, Dinge inszenieren. Sammlung und Beiwerk, Dresden 2018 (Parerga und Paratexte 1); Grave, Johannes/Holm, Christiane/Kobi, Valérie/van Eck, Caroline (Hg.), The Agency of Display. Objects, Framings and Parerga, Dresden 2018 (Parerga und Paratexte 2).

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debatte der Kulturwissenschaften wurden Ansätze der Medientheorie sowie der AkteurNetzwerk-Theorie, die die Mitwirkung des Eigensinns von Dingen in ihrer unhintergehbaren Materialität an kulturellen Sinnproduktionen betonen, durch Theorieimporte aus der traditionellen Handlungstheorie erweitert.25 Denn der konsequente Fokus auf die Praktiken stellt nicht nur die Grenzziehung zwischen sayings und doings, sondern auch die zwischen handelnden Subjekten und behandelten Objekten in Frage. »Eine Praktik bezeichnet dann eine Verhaltensroutine, die von einem impliziten Wissen abhängt, die aber zugleich material in Körpern wie in Artefakten und in deren spezifischen Arrangements verankert ist.«26 Stellt man die Frage nach den historischen Praktiken vom Objekt aus, dann erweist sich das in der Archäologie modifizierte wahrnehmungspsychologische Konzept der Affordanz als ergiebig, das »die durch die physischen Eigenschaften eines Gegenstandes vorgegebenene(n) Nutzungsmöglichkeit(en)« umfasst.27 Dabei geht Affordanz nicht in der Kategorie der Funktionalität auf, sondern denkt deren kulturelle »Systemfunktion« mit.28 Entscheidend dabei ist, dass die dem Objekt immanenten »Angebotsstrukturen für Verwendungsweisen […] gleichzeitig variabel und nicht arbiträr« sind.29 Dass die Kernfrage des Affordanz-Konzepts: »what things furnish«30 gewinnbringend auf die Objektgattung Möbel applizierbar ist, liegt auf der Hand. An dem Drogentisch ist die »Angebotsstruktur für Verwendungsweisen« gut nachvollziehbar – nicht nur das also, was ermöglicht, sondern auch das, was verunmöglicht ist. So steht der visuelle Zugang auf die Drogen im Magazinkasten jedem Akteur offen, der taktile Zugang jedoch ist an eine Autorität mit Schlüsselgewalt gebunden. Aussagekräftig ist zudem, dass die Konstruktion des Möbels für eine freistehende Positionierung im Raum, so wie es als Arbeitstisch oder als Vitrine in einer Sammlung zu gebrauchen wäre, nur bedingt Sinn ergibt, denn die geöffneten Deckelplatten des Tischblatts können weder angelehnt noch zu einer nahe25 Reckwitz, Andreas, Der Ort des Materiellen in den Kulturtheorien. Von sozialen Strukturen zu den Artefakten, in: ders., Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie, Bielefeld 2008, 131–156; Elias, Frederike/Franz, lbrecht/Murmann, Henning/Weiser, Ulrich Wilhelm (Hg.), Praxeologie. Beiträge zur interdisziplinären Reichweite praxistheoretischer Ansätze in den Geistes- und Sozialwissenschaften, B ­ erlin/ Boston 2014 (Materielle Textkulturen 3). Darin leitend der Beitrag von Reckwitz, Andreas, Die Materia­ lisierung der Kultur, in: ebd., 13–25. 26 Reckwitz, Materialisierung der Kultur, 23. 27 Fox, Richard/Panagiottopoulos, Diamantis/Tsouparopoulou, Christina, Affordanz, in: Meier, Thomas/ Ott, Michael R./Sauer, Rebecca (Hg.), Materiale Textkulturen. Konzepte  – Materialien  – Praktiken, ­Berlin/New York 2015, 63–70, hier 66, online verfügbar unter: http://eprint.ncl.ac.uk/file_store/production/217592/1328F234-EF58–4D07–9119–3D9BEEA6504A.pdf, letzter Zugriff: 30.05.2016. 28 Ebd., 67. 29 Reckwitz, Materialisierung der Kultur, 21. Dazu auch Keupp, Jan/Schmitz-Esser, Romedio, Einführung in die »Neue alte Sachlichkeit«. Ein Plädoyer für eine Realienkunde des Mittelalters in kulturhistorischer Perspektive, in: dies. (Hg.), Neue alte Sachlichkeit. Studienbuch Materialität des Mittelalters, Ostfildern 2015, 9–46, hier 25–27. 30 Gibson, James J., The Senses Considered as Perceptual Systems, Boston 1966, 285.

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liegenden ebenen Arbeitsfläche erweitert werden, so dass hier die Machart des Objekts die Sammlungspraxis des Subjekts einschränkt. Über den Einzelfall hinaus vermag die ›kulturwissenschaftliche Affordanz‹ des Drogentischs in den Franckeschen Stiftungen zu zeigen, was generell bei der Konzeptualisierung des Sammlungsmöbels zu berücksichtigen ist: Im Vergleich zu anderen Möbeln dient es der Einrichtung von Wahrnehmungs- und Erkenntnissituationen für Sammlungsobjekte, es ist ein »epistemisches Möbel«.31 Diese Gattungsbezeichnung ist nicht im Feld des Kunsthandwerks über eine bestimmte Materialität, Machart oder Form bestimmbar, sondern allein über die Praxis. Auf diese Weise gelangen nicht nur Behältnismöbel, sondern etwa auch Tische, und nicht nur intentional gefertigte, sondern auch aus anderen Gebrauchskontexten übernommene Möbel in das Blickfeld. Zudem sind die möglichen Gebrauchsweisen abhängig vom räumlichen Sammlungszusammenhang, und vielfach ergeben die Möbel nur im Ensemble Sinn. So kann das großflächige Tischblatt des Drogentischs nur bedingt als Arbeitsfläche im Zusammenspiel mit dem darunter befindlichen Magazinteil verwendet werden, sehr wohl aber bietet es sich für die temporäre Sichtung, Assemblierung und Untersuchung der in den umlaufenden Sammlungsschränken verwahrten Objekte an. Kurz: Das epistemische Möbel bezeichnet ein praxeologisches Konzept, denn es muss nicht zwingend durch eine vorgängige Sammlungs- oder Wissenstheorie formatiert sein, wohl aber formt es in situ und in actu spezifische Sammlungs- oder Wissensweisen. Eine praxeologische Möbelforschung befindet sich noch in den Anfängen und ist weniger in dem angestammten Fach dieser Objektgruppe, nämlich in der Kunst(handwerks) geschichte zu finden, als vielmehr wissens-, medien- und literaturgeschichtlich geprägt.32 Für den Sonderfall des Sammlungsmöbels fehlt es an Grundlagenforschung, anders als etwa zu Schreib- und Lesemöbeln stehen übergreifende historisch-typologische Monographien noch aus.33 Der Spezialfall des frühneuzeitlichen Kunstschranks ist vergleichsweise gut erforscht, das allerdings deshalb, weil er in seinen ästhetischen Qualitäten mehr als ergon denn als parergon untersucht wird.34 Die entscheidende Innovation für eine praxeologische Erforschung des Sammlungsmöbels wurde im Feld der Wissenschafts31 Dieses Konzept war leitend für das von mir in Halle geleitete Teilprojekt »Epistemische Möbel. Wahrnehmungs- und Erkenntniseinrichtungen in Goethes Sammlungen«, das von Diana Stört bearbeitet wurde. 32 Hackenschmidt, Sebastian/Engelhorn, Klaus (Hg.), Möbel als Medien. Beiträge zu einer Kulturgeschichte der Dinge, Bielefeld 2011; Marinelli, Lydia (Hg.), Die Couch. Vom Denken im Liegen (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Sigmund-Freud-Museum Wien 5. Mai–5. Nov. 2006), München/Berlin 2006; Pelz, Annegret, Tischszenen. Inszenierung und Verobjektivierung des Schreibens in der Moderne, Habilitationsschrift Universität Paderborn 2003. 33 Eller, Wolfgang L., Schreibmöbel 1700–1850 in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Petersberg 2006; Hanebutt-Benz, Eva Maria, Die Kunst des Lesens. Lesemöbel und Leseverhalten vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Frankfurt a. M. 1985. 34 Laue, Georg (Hg.), Möbel für die Kunstkammern Europas. Kabinettschränke und Prunkkassetten, München 2008.

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geschichte durch Anke te Heesen formuliert. Ihre Studien zum »Kabinetseculum«35 (wie bezeichnenderweise die Sammler des 18. Jahrhunderts ihre Epoche beschrieben) sowie zu Schränken in Forschungsinstitutionen des 19. und 20. Jahrhunderts lassen sich wie folgt zusammenfassen:36 In naturkundlichen Kollektionen setzt sich Mitte des 18. Jahrhunderts ein neuer Typus des Sammlungsschranks durch, der aus einem Magazinsockel mit Schubladen und einem verglasten Repositorium besteht. Anders als die barocken Kabinettschränke tritt das zunehmend schlichter gestaltete Behältnis optisch zugunsten der Objekte zurück, die nun weniger als Solitäre denn in Ensembles gezeigt werden. Ausgestellt werden also nicht allein Objekte, sondern Ordnungssysteme. Zudem entkoppelt die Verglasung den Tast- vom Sehsinn und ist als Vorform der Vitrine und somit der modernen Museumseinrichtung zu verstehen, in der der visuelle Zugang zu den Objekten apparativ geregelt wird, während die kommunikativ-taktile Aktion des Vorführers entfällt. Dieser epistemisch weitreichende Vorgang ließ sich bereits sehr gut an dem Drogentisch nachvollziehen, wenngleich er die transparente Barriere nicht durch den Einsatz von Glas, sondern eines Drahtgeflechts erhielt. Gerade weil der Tisch, anders als die ihn heute umstellenden teilverglasten Magazinschränke mit den wahrnehmungslenkenden Bekrönungsmalereien, vermutlich nicht von vornherein als Sammlungsmöbel gefertigt wurde und zumindest in seiner Affordanz auf einen kaufmännischen Kontext verweist, eröffnet er neue Fragen nach der Genese des Sammlungsmöbels, die aus dem disziplinären Rahmen der Wissenschaftsgeschichte hinausführen. Da die skizzierte Forschung zum naturkundlichen Sammlungsmöbel auf die Zäsur um 1750 fokussiert, gilt es im Folgenden die normativen Quellen um 1700 mit Blick auf ihre Aussagen zur Möblierung zu befragen, der Zeit also, in der der Drogentisch in der Aktenführung der Naturalienkammer der Glauchaschen Anstalten erfasst wurde.

35 Schröter, Johann Samuel, Abhandlungen über verschiedene Gegenstände der Naturgeschichte, Theil 1, Halle a. d. S. 1776, 48. 36 te Heesen, Anke, Die Schränke des Kabinetseculums. Das Naturalien-Kabinett und seine Repräsentation im 18. Jahrhundert, in: Geus, Armin (Hg.), Repräsentationsformen in den biologischen Wissenschaften, Berlin 1999, 59–71; dies., Geschlossene und transparente Ordnungen. Sammlungsmöbel und ihre Wahrnehmung in der Aufklärungszeit, in: Dürbeck, Gabriele (Hg.), Wahrnehmung der Natur, Natur der Wahrnehmung. Studien zur Geschichte visueller Kultur um 1800, Dresden 2001, 19–34; dies., Der Schrank/The Cupboard, in: Baur, Andreas/Berg, Stephan (Hg.), Marc Dion – Encyclomania (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in den Galerien der Stadt Esslingen am Neckar 1. Dez. 2002–2. Feb. 2003), Nürnberg 2003, 25– 33; dies./Michels, Anette (Hg.), Auf/Zu. Der Schrank in den Wissenschaften (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen 24. Okt. 2007–15. Feb. 2008), Berlin 2007. Neben der Frage nach Visualität und Taktilität ist ein weiterer Aspekt der der inwendigen Flexibilisierung des Schrankes als Ordnungsinstrument. Dazu: Müller-Wille, Staffan, Carl von Linnés Herbarschrank. Zur epistemischen Funktion eines Sammlungsmöbels, in: te Heesen, Anke/Spary, Emma C. (Hg.), Sammeln als Wissen. Das Sammeln und seine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung, Göttingen 2002, 22–38.

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2. Sammlungsmöbel in der Museumskunde um 1700 Gilt es auch als Gründungstext der Museumskunde, so ist Samuel Quicchebergs im Umfeld des bayrischen Herzoghofs entstandenes Traktat Inscriptiones vel Titutli Theatri ­Amplissimi von 1565 doch eher als Spezialfall zu werten, zumal er der späteren Fachliteratur der Frühen Neuzeit nicht bekannt geworden zu sein scheint.37 Die darin entworfene enzyklopädische Kunst- und Naturaliensammlung mit Bibliothek, Archiv und Werkstätten füllt ein großes Gebäude, für dessen Möblierung Quiccheberg verschiedentlich Tische, Regale, Schränke und mobile Behältnisse wie Kästen und Körbe nennt. Herausgehoben beschreibt er die Gestaltung von exklusiven Sammlungsschränken in Form von Türmen, Pyramiden, Triumphbögen und anderer Architekturen, wobei er sie weniger über ihre Relation zum Inhalt als über ihre Skulpturalität definiert und konsequenterweise als kunsthandwerkliche Exponate behandelt.38 Gegen derartige Schausammlungen positioniert sich der Arzt und Universalgelehrte Johann Daniel Major 1674 mit seinem Traktat Unvorgreiffliches Bedenken von Kunst und Naturalienkammern insgemein. Seine Kritik gilt den zeittypischen Präsentationsformen der Sammlungen, die Objekte optisch gefällig, etwa »nach Orgel-Pfeiffen-Manier«, oder pragmatisch, nach der »Erträglichkeit des Orths«, anordnen und zudem alle wertvollen Stücke in »einem absonderlichen kleinern Schranck« separieren, so dass die Position jedes Stücks mehr oder weniger zufällig gegeben ist.39 Major hingegen plädiert für eine »physicalische[n] Ordnung«, die sich nicht nur in dem Katalog, sondern auch in den Museumsräumen bis in die Binnenräume der Möblierung hinein abbilden soll, etwa indem noch fehlende Belegstücke oder nicht in das jeweilige Behältnis passende Objekte an ihrem systematischen Ort durch ein »nach verjüngtem Maß-stab gezeichnetes kleines Conterfait« vertreten werden.40 Sollen dabei die einzelnen Sammlungsbereiche eindeutig durch je eigene Schränke oder Repositorien voneinander gesondert werden, so spricht Major sich gegen fixierte Eingerichte aus, die »von dem Schreiner in viel kleine Fächer und quadrat spacia eingetheilet« werden. Stattdessen plädiert er für ein flexibles Ordnungssystem

37 Brakensiek, Stephan, Samuel Quicchelberg. Gründungsvater oder Einzeltäter? Zur Intention der Inscriptiones vel Tituli Theatri amplissimi (1565) und ihrer Rezeption im Sammlungswesen Europas zwischen 1550 und 1820, in: metaphorik.de 14 (2008), 231–252, online verfügbar unter: http://www.metaphorik.de/sites/ www.metaphorik.de/files/journal-pdf/14_2008_brakensiek.pdf, letzter Zugriff: 01.06.2016. 38 Roth, Harriet (Hg.), Der Anfang der Museumslehre in Deutschland. Das Traktat »Inscriptiones vel Tituli Theatri Amplissimi« von Samuel Quiccheberg, Berlin 2000, 153–157. 39 Major, Johann Daniel, Unvorgreiffliches Bedenken von Kunst- und Naturalienkammern insgemein, Erstdruck Kiel 1674, hier konsultiert nach dem Nachdruck in: Valentini, Museum Museorum, Frankfurt a. M. 1704, 11–12 § 4, 14 § 6, 16–17 § 6. 40 Ebd., 16 § 5.

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durch innerhalb der jeweiligen Behältnismöbel eingestellte offene Kästen.41 Majors Traktat wirkte nachhaltig auf die diskursbestimmenden museumskundlichen Schriften des frühen 18. Jahrhunderts:42 Leonhard Christoph Sturm, Caspar Friedrich Neickel und Bernhard Valentini zitieren ihn breit, letzterer integriert zudem einen Nachdruck des kanonischen Textes in sein Museum Museorum. Der Baumeister und Architekturtheoretiker Sturm kann in seiner 1707 erscheinenden Programmschrift Die geöffnete Raritäten- und Naturalien-Kammer, in der er einen idealtypischen Museumsbau mit allen Einrichtungsdetails entwirft, bezüglich des Ordnungssystems gut an Majors Traktat anknüpfen. Sein Kapitel zu den »Schränken und ­Repositoriis« leitet er jedoch mit dem Hinweis ein, dass für die Möblierung noch konzeptionelle Grundlagenarbeit zu leisten ist, denn »es wird kaum darauf geachtet, obwohl die Vollkommenheit der Kammer darauf beruhet«.43 Sind auch Tische, Schränke, Repositorien und Pulte selbstverständlicher Bestandteil von systematisch angelegten Sammlungen, fehlt nach Sturm jedoch eine Ausdifferenzierung mit Blick auf die spezifische Medialität der jeweiligen Bestandsgruppe. So plädiert er dafür, die Exponate »bequem und prächtig« anzuordnen,44 das heißt nicht nur die visuelle Inszenierung der Objekte, sondern auch deren Handhabung leitend für die Gestaltung zu machen. Entsprechend entwirft er, teilweise von Abbildungen illustriert, bestandsspezifische Sammlungsmöbel für Antiquitäten, Gemmen, Münzen und Medaillen, Gemälde und Bildhauerarbeiten, Ethnographica, Instrumente, Waffen, Mineralien, Botanika, Tierpräparate und anderes mehr. Das innovative Potenzial dieser kunsthandwerklich extrem aufwändigen Entwürfe besteht darin, dass Sturm auf Elemente bereits etablierter Arbeitsmöbel aus anderen Bereichen, insbesondere der Druckerei und der Bibliothek, zurückgreift, indem er zum Beispiel für Münzschränke die Form der Lettern-Fächer oder für Mineralienrepositorien die drehbaren Elemente der Lesepulte übernimmt.45 41 Ebd., 17 § 7. Hierfür überträgt Major das im 18. Jahrhundert entwickelte Karteiverfahren auf die Objektkultur, indem statt eines Reiters ein Objekt in der Innenseite des vorn entsprechend etikettierten Kastens fixiert wird und weitere Belegexemplare der Objektgruppe dahinter einsortiert werden können. Steckner, Cornelius, Das Museum Cimbricum von 1688 und die cartesianische »Perfection des Gemüthes«. Zur Museumswissenschaft des Kieler Universitätsprofessors Johann Daniel Major (1634–1693), in: Grote, Andreas (Hg.), Macrocosmos in microcosmo. Die Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammelns 1450 bis 1800, Opladen 1994 (Berliner Schriften zur Museumskunde 10), 603–628, hier 615–616. 42 Zur Entstehung der Museumskunde: Waidacher, Friedrich, Handbuch der Allgemeinen Museologie, Wien/ Köln ³1999, 125–134; Valter, Claudia, Studien zu bürgerlichen Kunst- und Naturaliensammlungen des 17. und 18. Jahrhunderts in Deutschland, Aachen 1995. 43 Sturm, Leonhard Christoph, Die geöffneten Raritäten- und Naturalien-Kammern: worinnen der galanten Jugend, andern Curieusen und Reisenden gewiesen wird, wie sie Galerien, Kunst- und Raritätenkammern mit Nutzen besehen und davon raisoniren sollen, Hamburg 1704, 57–72. Zu dem von Sturm entworfenen Möbeltypus des Naturalienschranks te Heesen, Geschlossene und transparente Ordnungen, 25–29. 44 Sturm, Die geöffneten Raritäten- und Naturalien-Kammern, 72. 45 Ebd., 23, 66–67.

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An diese elaborierten Entwürfe kann der gebildete Kaufmann Kaspar Friedrich Jencquel, der seine Museographia von 1727 unter dem Pseudonym Neickel veröffentlichte, allein deshalb nicht anknüpfen, weil er sich an den Privatmann wendet, der weniger einen eigenen Museumsbau, sondern eine Kammer im Sinne eines Einraum-Museums im häuslichen Umfeld anzulegen plant. Scheint ihm die von Major und Sturm beschriebene Möblierung, welche die Sammlungssystematik bis zum Rückgriff auf stellvertretende Referenzbilder sichtbar macht, für enzyklopädische Kabinette durchaus sinnvoll, so müsste ein solcher Anspruch in einer kleineren Sammlung dazu führen, dass sie wegen der überwiegenden Leerstellen zum »Kupferstich- und Schildereyen-Gemach« geraten würde.46 In seinem Entwurf, der von drastischen worst practice Beispielen aus dem Hamburger Raum flankiert ist – dies vermutlich der Grund für die Zurückhaltung seines realen Namens –, geht es Neickel vornehmlich um einen sicher gelegenen, übersichtlich eingerichteten Raum mit optimalen Licht- und Temperaturverhältnissen. Die Möblierung orientiert sich explizit an der Bibliothek und ist, wie auch das oben bereits angeführte Frontispiz in seiner Verbindung von Buch- und Objektsammlung illustriert, durch wandfüllende offene Repositorien und einen zentralen Tisch geprägt, lediglich ein kleines Schließmöbel für Preziosen ist vorgesehen.47 Resümierend lässt sich festhalten, dass in der sich um 1700 formierenden Museumskunde die empirische Selbstverständlichkeit, dass Sammlungen möbliert sind, nur am Rande zum Gegenstand des Nachdenkens wird. Die zitierten Ausnahmen vergleichsweise konkreter Entwürfe zeigen, dass die Gesamtmöblierung einer Sammlung einerseits an deren Systematik ausgerichtet wird. Andererseits werden die Einzelmöbel über den visuellen und taktilen Umgang mit den jeweiligen Sammlungsobjekten definiert, wobei Elemente bewährter Möbelformen anderer Arbeitspraktiken, vor allem aus Bibliothek und Druckerei, als Referenzformen in den Blick kommen. Diese wissenspraktische Ausrichtung des Sammlungsmöbels bestimmt das weitere 18. Jahrhundert. Setzen sich in den naturkundlichen Sammlungen auch teilverglaste Magazinschränke durch, so finden sich doch vergleichsweise wenige Belege dafür in der normativen Literatur. Selbst gegen Ende des »Kabinetseculums« bietet das Journal des Luxus und der Moden, das mit seiner Rubrik »Ameublement« für den deutschsprachigen Raum als einer der Gründungstexte für die Konzeptualisierung und Popularisierung eines funktionellen Möbelverständnisses gilt, keine Sammlungsmöbel an, während es unzählige Schreib- und Zeichen-, Lese- und Bibliotheksmöbel vorstellt und zugleich in der Beilage Bestellkataloge für verschiedene Sammlungsbereiche bereithält. Sammlungsmöbel waren – und noch Goethes umfang46 Neickel, Museographia, 420. 47 Das Frontispiz unterscheidet sich dahingehend, dass die von Neickel betonte Zusammengehörigkeit von Bibliothek und Sammlung hier auch räumlich eingelöst ist, während das im Text skizzierte Einraum-Museum allein den Artifizialien und Naturalien dient.

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reiche Sammlung in seinem Weimarer Wohnhaus ist dafür ein guter Beleg – Sache von Einzelaufträgen für Handwerker und am Bedarf des Auftraggebers ausgerichtet. Erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts lässt sich in der Ratgeberliteratur für Sammler eine Konfektionierung des Sammlungsmöbels beobachten.48 Mit Blick auf die Genese des Sammlungsmöbels im langen 18. Jahrhundert ist es doppelt interessant, die materiell überlieferten Exemplare um 1700 zu untersuchen: Gerade weil es der Normalfall war, Möbel von einer konkreten Nutzungsabsicht her zu konstruieren oder umzubauen, erlauben diese Objekte differenzierte Einblicke in die jeweilige Sammlungspraxis, und gerade weil sie dabei weniger auf einen normierten Idealtypus als auf die Affordanzen anderer Arbeitsmöbel rekurrieren, machen sie Strukturanalogien zwischen dem Sammeln und anderen Kulturpraktiken nachvollziehbar. Vor diesem Hintergrund ist es alles andere als arbiträr, dass der Drogentisch der Kunst- und Naturalienkammer offenkundig nicht von vornherein für den musealen Gebrauch konstruiert war und sich durch eine Affinität zum Arbeitsfeld des Drogenhandels auszeichnet. Bevor diese Konstellation innerhalb des konkreten institutionellen Gefüges der Glauchaschen Anstalten untersucht wird, soll vorab der historischen Beziehung zwischen Naturalienkammern und Apotheken nachgegangen werden.

3. Wissensordnung und Warenkunde um 1700 In der Sammlungsforschung war die Objektkultur in ihrer räumlichen Inszenierung sowie den damit verbundenen epistemischen Praktiken immer schon ein zentraler Gegenstand. Dabei wurde lange Zeit für das 18. Jahrhundert ein grundlegender Wandel von der vormodernen enzyklopädisch angelegten Kunst- und Naturalienkammer, in verschiedenen Akzentuierungen auch als Wunder- oder Raritätenkammer bezeichnet, zur modernen Fachsammlung angenommen. Dieses Narrativ war sozialgeschichtlich akzentuiert und unterschied prinzipiell Kollektionen im Dienste fürstlicher Repräsentation mit einem Fokus auf exklusive Raritäten und Luxuswaren von einem neuen Sammlungstypus im Dienste bürgerlicher Gelehrsamkeit mit einem Fokus auf weniger wertvolle, allein dem Wissensgewinn verpflichtete Objektensembles. Dieses Bild wurde in den letzten Jahrzehnten gründlich korrigiert, da höfische und städtische Sammlungen seit der Renaissance nebeneinander und in engem Austausch miteinander standen und gerade das moderne Museum seine Vorläufer in der Öffnung fürstlicher Sammlungen im 18. Jahrhundert fin-

48 Diesen Hinweis verdanke ich Diana Stört, die in ihrer Untersuchung von Goethes Möbelbestand die Diskursiverung des Sammlungsmöbels in der Ratgeberliteratur nachgezeichnet hat. Vgl. Stört, Diana, Goethes Sammlungsschränke. Wissensbehältnisse nach Maß, Dresden 2019 (Parerga und Paratexte 4).

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det.49 In heuristischer Perspektive jedoch bleibt die typologische Gegenüberstellung von enzyklopädischer Kunst- und Naturalienkammer/Raritäten/Geldwert einerseits und Fachsammlung/Objektensembles/Wissenswert andererseits durchaus sinnvoll, um verschiedene Konzepte beschreiben und analysieren zu können – und zwar gerade dann, wenn sie sich nicht eindeutig einem Modell zuordnen lassen. Neue Impulse erhielt die Forschung zu Wissensordnungen von Sammlungen durch konsumgeschichtliche Ansätze, die zeigen konnten, dass die Entstehung und Profi­ lierung von Kollektionen nicht allein durch genuin sammlungsbezogene Argumente, sondern durch bestimmte Händlerpersönlichkeiten und Sammlungsmärkte geformt wurden.50 Gerade im pietistischen Umfeld eröffnete die ausgedehnte Missionstätigkeit einen ­lukrativen Naturalienhandel.51 Neben dem Fokus auf die strukturbildende Rahmung der Sammlungen durch verschiedene Märkte wird zudem nach solchen, den Kollektionen inhärenten »Sammlungsökonomien« seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert gefragt, in denen Prozesse von Wertschöpfung etwa durch den Ein- oder Ausgang von Stücken aus angesehenen Kollektionen verfolgt werden.52 Innerhalb dieses noch jungen Forschungsfeldes der Sammlungsgeschichte am Schnittpunkt von Wissen und Wirtschaft wurde bislang kaum nach entsprechenden Verbindungen zwischen den raum- und objektbezogenen Praktiken gefragt. Begriffsgeschichtlich steht außer Frage, dass das ›Ausstellen‹ zunächst nicht eine Praxis des Zeigens in Wunder-, Kunst- oder Wissensräumen, sondern auf den Märkten und Messen, in den Ständen und Ladenlokalen bezeichnete und dann erst auf solche Innenräume übertragen wurde, die die zirkulierenden Objekte auf Dauer zu beheimaten suchten.53 Bislang kaum untersucht wurden die damit verbundenen Raumeinrichtungen, was im Hinblick auf den deutschsprachigen Kulturraum schon allein deshalb schnell an Grenzen stoßen muss, weil hier

49 Söll-Tauchert, Sabine/Beuing, Raphael/Roda, Burkard von: Die grosse Kunstkammer. Bürgerliche Sammler und Sammlungen in Basel, Basel 2011; Savoy, Bénédicte (Hg.), Tempel der Kunst. Die Geburt des öffentlichen Museums in Deutschland 1701–1815, Mainz 2006. 50 Cools, Hans/Keblusek, Marika/Badeloch, Noldus (Hg.), Your Humble Servant. Agents in Early Modern Europe. Hilversum 2006; Wagner, Berit, Bilder ohne Auftraggeber. Der deutsche Kunsthandel im 15. und frühen 16. Jahrhundert. Mit Überlegungen zum Kulturtransfer, Petersberg 2014; Siemer, Stefan, Geselligkeit und Methode. Naturgeschichtliches Sammeln im 18. Jahrhundert, Mainz 2004 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abt. für Universalgeschichte 192), 181–197; Müller-Wille, Staffan, Nature as Marketplace. The Political Economy of Linnaean Botany, in: History of Political ­Economy 35 (2003), 154–172. 51 Ruhland, Thomas, Zwischen grassroots-Gelehrsamkeit und Kommerz. Der Naturalienhandel der Herrnhuter Südasienmission, in: Förschler, Silke/Mariss, Anne (Hg.), Akteure, Tiere, Dinge. Verfahrensweisen der Naturgeschichte, Köln/Weimar 2017, 29–47. 52 Güttler, Nils/Heumann, Ina (Hg.), Sammlungsökonomien, Berlin 2016. 53 Polano, Sergio, Über das Aus-stellen, in: Erber-Groiß, Margarete (Hg.), Kult und Kultur des Ausstellens. Beiträge zur Praxis, Theorie und Didaktik des Museums, Wien 1992, 81–89.

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eine Forschung zum Ladenlokal fehlt.54 Eine Ausnahme bildet ein spezieller Typus des Ladenlokals, die Offizin der Apotheker, die Gegenstand der Pharmaziegeschichte ist.55 Auffällig ist, wie stark die Berufsgruppe der Apotheker in der Frühen Neuzeit an der Entwicklung der Kunst- und Naturalienkammer beteiligt war.56 Der erste belegte wissenschaftliche Sammlungskatalog erschien 1622 bezeichnenderweise nicht zu einer fürstlichen Kunst- und Naturalienkammer, sondern zur Kollektion des Apothekers Francesco ­Calzolari.57 Dass der Apotheker als frühneuzeitlicher Gelehrtentypus, der sein Wissen nicht durch eine akademische, sondern durch eine handwerklich-kaufmännische Ausbildung erwarb, ein plausibles Modell für die Neujustierung von Kunstund Naturalienkammern liefern konnte, liegt auf der Hand: Ein Apotheker war ein gelehrter Kaufmann mit hoher Material­kenntnis, er war Depotmeister einer großen Menge verschiedenster, mitunter äußerst kostbarer oder gefährlicher Stoffe und er trat als Verkäufer einer sozial breit gefächerten Kundschaft gegenüber.58 In der Offizin präsentierte er seine Ware geordnet und interessant, wobei das obligatorische Krokodil an der Decke nur ein Aspekt der Einrichtung ist, wenngleich ein besonders markanter, der es mit zeitgleichen Kunst- und Naturalien­kammern verbindet. Eine solche idealtypische Einrichtung lässt sich am Beispiel einer Buchillustration von 1652 nachvollziehen (Abb. 6): Der Apotheker steht in einem hohen, großen Raum, der mit bis an die Gewölbe reichenden, im Sockelbereich verschlossenen, oben offenen Repositorien umgeben ist, und bereitet eine Arznei zu. Vor ihm steht der Käufer mit dem ärztlichen Rezept, hinter ihm ein Mitarbeiter, der die Substanzen zerkleinert. Durchblicke in zwei dahinter liegende Räume zeigen eine Bibliothek und ein Laboratorium und somit die besondere Stellung des Apothekers zwischen wissenschaftlicher und handwerklicher Profession. Die skulpturale Ausstattung ist bildlich in der Mittelachse konzentriert, unter dem Krokodil ist eine Marienfigur mit Christuskind in einer Nische positioniert. Die christliche Rahmung des Medikamentenvertriebs ist ein wichtiger Aspekt und formierte sich 54 Ansätze finden sich aktuell bei Julia A. Schmidt-Funke, Haben und Sein. Materielle Kultur und Konsum im frühneuzeitlichen Frankfurt am Main, Habilitationsschrift Friedrich-Schiller-Universität Jena 2016, S. 176–204. 55 Friedrich, Christoph/Müller-Jahncke, Wolf-Dieter, Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart (Geschichte der Pharmazie Band 2), Eschborn 2005, 169–189; Huwer, Elisabeth, Das Deutsche Apotheken-Museum. Schätze aus zwei Jahrtausenden Kultur- und Pharmaziegeschichte, Regensburg ³2015; Kallinich, Günter, Schöne alte Apotheken. Heilkunst, Aberglaube, pharmazeutische Technik, München 1999. 56 Dilg, Peter, Apotheker als Sammler, in: Grote (Hg.), Macrocosmos in microcosmo, 453–474. 57 Ein beigebundenes Blatt im Katalog von Calzolaris Sammlung zeigt einen Raum, in dem die Wände mit umlaufenden Einbaumöbeln, Repositorien mit Magazinsockeln, versehen und dicht mit Behältnissen verschiedener Art gefüllt sind, an der Balkendecke sind präparierte Tiere montiert. Dilg, Apotheker als Sammler, 457. 58 Friedrich/Müller-Jahncke, Geschichte der Pharmazie, 79–99, 241–266. Neuere Ansätze fokussieren auf den Konsumenten im medizinischen Markt, dazu Wallis, Patrick, Introduction. The Growth of the Early Modern Medical Economy, in: Journal of Social History 43/3 (2016), 477–482.

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Abb. 6: Malachias Geiger, ­Microcosmos Hypochondriacus sive de Melancholia ­Hypochondriaca Tractatus, München 1652, Illustration.

in der emblematischen Malerei und Druckgraphik im 17. Jahrhundert zur Ikonographie von Christus als Apotheker, der seinen Kunden auf dem Rezepturtisch aus Glaube, Liebe, Hoffnung und anderen Ingredienzien heilbringende Medikamente zubereitet.59 Der Raum ist strukturiert durch die wandfüllende Lagerung der Materialien einerseits, die, wie die Beschriftungen anzeigen, kategorial gesondert sind, und den zentralen Tisch andererseits, an dem sich die Interaktionen verdichten. Es handelt sich um ein multifunktionelles Arbeitsmöbel, das die Bereiche der Magazinierung, der Herstellung und des Verkaufs der Pharmazeutika organisiert: Als geschlossenes Behältnismöbel sichert der Tisch erstens besonders kostbare oder gefährliche Simplizien. Zweitens dient er, wie die seitlich montierten Werkzeuge zeigen, als Arbeitsfläche, die für den Kunden einsehbar ist, um des59 Krafft, Fritz, Christus als Apotheker. Ursprung, Aussage und Geschichte eines christlichen Sinnbildes, ­Marburg 2001 (Schriften der Universitätsbibliothek Marburg 104).

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sen Vertrauen in ein korrekt hergestelltes Medikament zu gewinnen. An dem massiven Block wird stehend gearbeitet, das zentrale Instrument ist eine Waage, zudem sind Gefäße zum Mischen und Abfüllen der Pharmazeutika erforderlich. Drittens teilt das Möbel den Raum in eine Zone für die Käufer und eine Zone für den Apotheker und fungiert somit als Schranke und Verkaufstresen. Diese Form der Einrichtung findet sich ebenso in den Verkaufsräumen der im Materialwarenhandel tätigen Grossisten, der sogenannten Materialisten, die wie die Apotheker das Erbe der renaissancezeitlichen Kaufleute antraten, welche einen zunächst noch undifferenzierten Handel mit Arzneien, Spezereien und Drogen en gros und en détail betrieben hatten.60 Im Gefolge dieser Materialkammern entstand gegen Ende des 17. Jahrhunderts eine gleichnamige warenkundliche Textsorte für Kaufleute.61 Abb. 7: Johann Jacob Marx, Neu-viel-vermehrte und verDie erstmals 1687 erschienene, 1709 besserte Material-­Kammer, Nürnberg 1709, Frontispiz. überarbeitete Neu-viel-vermehrte und verbesserte Teutsche Material-Kammer von Johann Jacob Marx zeigt in ihrem Frontispiz einen Raum, der in seiner Beschränkung auf wandfüllende Einbaumöbel, deren Schubladen nur mit Leitern erreichbar sind, und einen zentralen Magazintisch mit Waage und Behältnissen an eine Offizin erinnert (Abb. 7). Jedoch werden die Waren nicht präsentiert, denn sie sind den Blicken entzogen in Fässern und Gefäßen, vor allem in den gleichformatigen Laden des Schrankes. Ebenfalls anders als in einer Offizin bildet das Mobiliar keine Systematik etwa durch entsprechende Beschriftung ab, in seiner Schmucklosigkeit und Gleichförmigkeit entspricht es eher einer Archiveinrichtung, die auf optimale Nutzung des Stauraums zielt und nur im Zusammen60 Vgl. dazu z. B. Dietz, Alexander, Frankfurter Handelsgeschichte, Bd. 2, Glashütten 1971 (zuerst Frankfurt a. M. 1921), 133–142. 61 Konjunktur und Breite dieser Textsorte beschreibt und analysiert Kim Siebenhüner in ihrem Beitrag.

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spiel mit einem Findbuch funktioniert. In diesem Sinne lässt sich das großformatige Buch auf dem zentralen Tisch und die davor abgelegte eingepackte Warenlieferung verstehen, denn allein die schriftliche Navigation sichert den Überblick über die in großen Mengen fluktuierenden Materialien der Kammer. Mit Blick auf die Darstellung von einräumigen Kunst- und Naturalienkammern, beispielsweise im Frontispiz der Museographia Neickeliana, fällt auf, wie ähnlich die Räume möbliert sind mit ihren wandfüllenden Magazineinbauten und der zentralen Schaufläche des Tisches. Anders jedoch als in einer Sammlung werden in der Materialkammer weder die Objekte noch deren Wissensordnung ausgestellt, der entscheidende Unterschied ist der zwischen dauerhafter und temporärer Verfügbarkeit, zwischen Musealisierung und Zirkulation: Während die Objekte auf dem Sammlungstisch wieder in die Repositorien zurück gestellt werden, sollen die Waren im Ladenlokal über den Tisch gehen. Die in den herangezogenen programmatischen und insofern freilich idealtypischen Raumbildern auszumachenden Analogien von Praktiken des Sammelns und Verkaufens von Objekten lassen sich durch die sammlungstheoretische Literatur um 1700 verdichten. Interessant ist, dass gerade die beiden museumskundlichen Texte, die Museographia und das Museum Museorum, die für die Neueinrichtung wie für die Systematik des Kataloges der Kunst- und Naturalienkammer der Glauchaschen Anstalten leitend waren, sowohl den ökonomischen Diskurs als auch den konkreten Raumtypus der Offizin bzw. der Material-Kammer mitführen. Neickel bzw. Jencquel war bezeichnenderweise kein Wissenschaftler, sondern ein informierter Hamburger Kaufmann, dessen Autorisierung durch das vorgeschaltete Empfehlungsschreiben eines wissenschaftlichen Gutachters für den Verlag beglaubigt wurde.62 In seiner Schrift differenziert er Einrichtungskonzepte von Museen über ihre Referenz zu pragmatischen, also nicht genuin sammlungsspezifischen Raumtypen: Er nennt Arbeitsräume wie die »Conclave« oder »Camera«, aber auch das »Promptuarium« (Vorratskammer) und die »Offizin«, die er als »Werkstatt und Kaufmannsladen«, als »Apotheker- und Materialisten-Winkel« charakterisiert.63 Bernhard Valentini, Gießener Mediziner und Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina, stellt in seinem Museum Museorum von 1701 ein Meta-­Museum im Sinne einer übergreifenden Systematik für alle denkbaren Sammlungsobjekte vor. Diese Systematik war deshalb so erfolgreich, weil sie nach Materialien differenzierte und somit jedem Objekt unabhängig von seinem natur- oder kulturgegebenen Kontext eine eindeutige Position zuweisen konnte. Innerhalb der Materialkategorien führt Valentini ausgehend von den Materialeigenschaften die darauf basierenden kulturellen Erfahrun62 Autorisiert wurde Neickel durch Johann Kanold, Breslauer Arzt und Leopoldina-Mitglied, der einen über 250-seitigen Anhang mit der Beschreibung weiterer Museen beisteuerte. 63 Neickel, Museographie, 410.

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gen als Heilmittel oder als Werkstoffe aus, wobei der Autor sein angestammtes Fach, die Medizin, verlässt und auch die Handwerke und Künste und somit die Artifizialien einbezieht. Mit einem Plädoyer gegen die kunsthandwerklich bearbeiteten »grossen Goldklumpen« in den Sammlungen, distanziert sich Valentini von dem Typus der fürstlichen Schatzkammer, indem er den Geld- bzw. Materialwert vom Erkenntniswert der Objekte abkoppelt und allein letzteres Kriterium für den Eingang in eine Sammlung gelten lässt.64 Mit diesem Ausschluss von Luxusobjekten als unzureichenden Wissensobjekten zieht Valentini sich jedoch keineswegs aus dem ökonomischen Feld zurück, sondern er verweist ausdrücklich auf »nützliche Material-­Kammern, welche man in Handel-Städten, als Lübeck, Hamburg, Leipzig, Frankfurt und Nürnberg findet«, die er für Abb. 8: Bernhard Valentini, Museum Museorum, 1. Theil, »beste Musea« hält und auch die entFrankfurt am Main 1704, Frontispiz. sprechende Textsorte als Referenzliteratur seiner Museumskunde nennt.65 Umgekehrt adressiert er schon in der barocken Titelei nicht allein die »[s]tudierende Jugend« sondern auch »Materialisten« und »­Apothecker«. Und das Frontispiz zum Museum Museorum verknüpft im mittigen Kurz­titel sogar die beiden Formate zu »Natur- und Materialienkammer«, zugleich erinnert es in der rahmenden Raumdarstellung mehr an ein Warendepot als an einen Ort des Studiums (Abb. 8). In der Sockelzone sind in drei 64 Valentini, Michael Bernhard, Museum Museorum. Oder Vollständige SchauBühne aller Materialien und Specereyen. Nebst deren Natürlichen Beschreibung, Election, Nutzen und Gebrauch. Aus andern Material- Kunst- und Naturalien-Kammern, Oost- und West-Indischen Reiß-Beschreibungen, Curiosen Zeitund Tag-Registern, Natur- und Artzney-Kündigern, wie auch selbst-eigenen Erfahrung. Zum Vorschub Der Studirenden Jugend, Materialisten, Apothecker und deren Visitatoren, Wie auch anderer Künstler, als Jubelirer, Mahler, Färber [3 Bde.], Frankfurt a. M. 1704/1714, [Bd. 1],)()(2r. 65 Ebd.,)()(2v.

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Binnenfeldern die drei Reiche der Natur gesondert und jeweils in einem offenen Repositorium vorgestellt, in dem die Objekte je nach Größe ausgelegt oder in Fässern, beschrifteten Kästen und Säcken transportfähig verpackt sind. Im Zentrum dieser Sockelzone, im Bildfeld der Pflanzenwelt also, steht Merkur, der Gott des Handels, neben fünf beschrifteten Säcken mit Rinde, Wurzeln, Samen, Blüten und Blütenstaub, in der Hand ein Etikett mit der Aufschrift »Ostindien«.66 In der oberen Bildzone verdichtet sich das Raumbild in durchgehenden Deckenbalken, an denen exotische oder mutierte Tiere, aber auch ein Ethnographicum befestigt sind. Neickels und Valentinis Bezugnahmen zur Offizin und zur Materialkammer in Text und Bild machen deutlich, dass die Entwicklung der Kunst- und Naturalienkammer zu Beginn des 18. Jahrhunderts weniger als kritische Auseinandersetzung mit dem Spektrum der fürstlichen Sammlungen, denn als Orientierung an anderen pragmatischen Raumformen insbesondere aus dem Handels­wesen erfolgte.

4. Der Drogentisch als Schnittstelle epistemischer, pädagogischer, kaufmännischer und religiöser Praktiken August Hermann Francke begründete die Naturalienkammer explizit nicht über eine Ankaufsstrategie, sondern allein über den Eingang von Sachspenden.67 Eine solche schwer steuerbare An-Sammlung von Objekten, die bald auch um Artefakte erweitert wurde, mag auf den ersten Blick dem enzyklopädischen Konzept widersprechen, doch gerade darin bestand die öffentlichkeitswirksame Raffinesse der Sammlungspolitik: Die Kollektion bildete das weltweite Netzwerk der Glauchaschen Anstalten ab, und sie zeigte sich zugleich informiert über aktuelle wissenschaftliche Debatten zur Systematisierung von Objekten.68 Ausgangspunkt waren die 1698 nach Erhalt der landesherrlichen ökonomischen Privilegien beim Kurfürsten Friedrich III. von Brandenburg eingeworbenen Stücke, die ­Francke durch die gezielte Anfrage nach solchen »naturalia und rariora in duplo« aus dessen »naturalienund raritaeten-Kammer« mit der Begründung erbat, dass diese »gnädigste Beschenckung die studierende Jugend kräftig ermuntern würden, das höchstnüzl[iche] und zu Gottes sonder66 Die Säcke sind beschriftet mit: Gentices, Radices, Semina, Flores, Crocus. Es handelt sich also nicht nur um Pflanzen für Pharmazeutika, sondern auch um Gewürze wie das damals viel gehandelte Genussmittel Safran. 67 Entsprechend werden in den Berichten neben den Geld- auch die Sachspenden für die Kammer aufgeführt. Müller-Bahlke, Einzigartigkeit, 226. 68 Francke hatte in Kiel bei dem museumskundlich informierten Daniel Georg Morhof studiert und sicher vor Ort auch Major und dessen Sammlung kennengelernt. Im Sinne dieser museumskundlichen Position, die eine bestandsübergreifende Systematik forderte, ist im ersten Katalog der Franckeschen Kammer von 1701 die noch fehlende Ordnung als zukünftige Aufgabe bei wachsendem Bestand angesprochen. Hornemann/Veltmann, Erziehung der Jugend, 135.

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baren Ehren zielende studium naturale emsig zu excoliren«.69 Tatsächlich erhielt er alsbald Dubletten der höfischen Sammlung, unter anderem »Ein Einhorn. Ein Horn von einem Rhinoceros. Drey Priapi Ceti«, die im ersten, um 1701 gedruckten Katalog eigens gekennzeichnet waren und somit auch die königliche Protektion des Unternehmens ausstellten.70 Dass die Anlegung der Sammlung neben erinnerungspolitischen Motiven nicht auf Geld-, sondern auf Wissenswerte zielte, findet auch darin Ausdruck, dass allzu kostbare Sachspenden direkt verkauft und somit an anderer Stelle investiert wurden.71 Dementsprechend wurde nach der aufwendigen Neueinrichtung durch Gründler in den ­Instructionen für den Herumführer von 1741 eigens festgehalten, dass es immer die Provenienz der Sammlung, »de[n] kleine[n] Anfang und de[n] Zweck« zu erläutern gelte, »damit die Leute nicht dencken, man wende auf solche Dinge so viel Geld, und mache damit Parade.«72 Deutlich steht die Franckesche Sammlung in der frömmigkeitspraktischen Tradition der enzyklopädischen Kammern, die auf die sinnliche Vergegenwärtigung der göttlichen Schöpfungsleistung zielen.73 Auch wenn sie durch die steigenden Besucherzahlen zunehmend als Instrument der Öffentlichkeitsarbeit Profil gewinnen sollte, was nicht zuletzt durch die Missionstätigkeit und den daraus resultierenden Eingang exotischer Sammlungsstücke begünstigt wurde, blieb sie in der alltäglichen Praxis eine Lehrsammlung im Kontext der Schulen der Glauchaschen Anstalten. Deshalb muss sie im Rahmen eines »Bildungssets« betrachtet werden, zu dem ebenso eine Bibliothek, ein botanischer Garten, ein anatomisches Kabinett, eine Instrumentensammlung, ein Observatorium und auch das Laboratorium der Apotheke gehörten.74 Dabei konnte die Lehrsammlung an Konzepte von Andreae über Bacon und Comenius bis zu Leibniz anknüpfen, in denen eine christlich geprägte Wissensordnung über objektzentrierte Methoden vermittelt und diskutiert wurde.75 Ein folgenreicher Synergie­effekt während der Etablierungsphase der Kammer ergab sich aus dem Kontakt mit dem Theologen und Pädagogen Christoph Semler, der 1707 in unmittelbarer Nachbarschaft die erste »Mathematische und Mechanische Realschule« für Kinder aus Handwerkerfamilien eröffnet hatte, deren innovative Lehrmittel nach dem Scheitern des Projekts in die Franckesche Kammer eingingen. Semler hatte seine Lehrmethode konsequent aus der visuellen und taktilen Aneignung von Dingen entwickelt und diese nicht nur als motivierend, sondern auch 69 Acta die An- und Einrichtung der Naturalienkammer des Waisenhauses betreffend, Vol. 1, 1, AFSt W XI/-/ 14. 70 Specification Naturalien-Cammer, BFSt 67 D 3, Nr. 12–14. 71 Müller Bahlke, Einzigartigkeit, 236–237. 72 Instructionen für den der das Herumführen der Fremden in den Anstalten des Waysenhaußes hat, 1741, AFSt W VII/I/20, § 18, Abs. 8. 73 Laube, Von der Reliquie zum Ding, 265–385. 74 Hornemann/Veltmann, Erziehung der Jugend, 129, 136. 75 Ebd., 132–137. In diesem pädagogischen Kontext wurde auch die Gestaltung der Naturalienschränke in Respondenz auf Leibniz gelesen: Uhlig, Ordnung des Lebendigen.

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als erkenntnishaltig eingestuft.76 Gerade diese Verbindung schärft den Blick dafür, dass auch die Kammer der Glauchaschen Anstalten nicht nur dem Wissenszuwachs über die göttliche Schöpfung, sondern auch ganz pragmatisch zur Einübung in die Berufspraxis und somit als »Vor-Ort der Normalität der Arbeit« diente.77 Vor diesem Hintergrund ist abschließend noch einmal genauer nach der Beziehung von Lehrsammlung und Apotheke zu fragen. Das ist aus zwei Gründen naheliegend: Zum einen, weil, wie oben ausgeführt, der bürgerliche Typus der enzyklopädischen Kunst- und Naturaliensammlung generell von der Apotheke geprägt ist, zum anderen, weil die Apotheke der Glauchaschen Anstalten als expandierendes Unternehmen nachhaltig deren ökonomischen Grundlage sicherte und somit einen bevorzugten Ausbildungsort für die beschulten Kinder darstellte. Die Apotheke wurde in dem kurfürstlichen Privilegium über das Waysen-Hauß zu Glaucha an Halle zunächst mit der medizinischen Versorgung der Waisen sowie der armen Bevölkerung des vor den Toren der Stadt gelegenen Glauchas begründet. Sie durfte Gratisrezepte vergeben, verkaufte jedoch auch weit darüber hinaus Haus-, Reise- und Feldapotheken. Schließlich erzielte sie in der sogenannten »Medikamenten-Expedition«, der Entwicklung und dem Vertrieb anstaltseigener Pharmazeutika, einen durchschlagenden ökonomischen Erfolg.78 Zur Finanzierung der zunächst mehr kostspieligen denn einträglichen »Medikamenten-Expedition« wurde 1717 in der Leitung der Glauchaschen Anstalten die Idee entwickelt, selbst einen Großhandel aufzubauen, der gut drei Jahrzehnte später von der zeitgenössischen Historiographie als »Handel mit Material-Waaren und Gewürtz« und als entscheidende Strategie der Apotheke auf dem Weg zum städtischen Marktführer beschrieben wurde.79 Dass der Etablierung des Material-Handels bereits eine extensive Verkaufspraxis von Spezereien vorausgeht, belegen die Rechnungsbücher der Apotheke, die schon in den Jahren zuvor einen großen Absatz an Kaffee und Zucker verzeichnen, der kaum von der armen Klientel aus Glaucha konsumiert 76 Müller[-Bahlke], Thomas, Der Realienunterricht in den Schulen August Hermann Franckes, in: Schulen machen Geschichte. 300 Jahre Erziehung in den Franckeschen Stiftungen zu Halle, Halle a. d. S. 1997 (­Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in den Franckeschen Stiftungen vom 11. Mai 1997–1. Febr. 1998), 43–65, hier 46–49; Whitmer, Kelly Joan, The Halle Orphanage as Scientific Community. Oberservation, Eclecticism, and Pietism in the Early Enlightenment, Chicago/London 2015, 60–85. 77 Bätzner, Nike, Ein pietistisches Kuriositätenkabinett. Die Wunderkammer der Franckeschen Stiftungen in Halle, in: Bertsch, Christoph/Vahrson, Viola (Hg.), Gegenwelten. Ein Forschungs- und Ausstellungsprojekt der Stiftung Universität Hildesheim und der Universität Innsbruck in Zusammenarbeit mit dem Römerund Pelizaeus-Museum Hildesheim und Schloss Ambras Innsbruck (Ausstellung auf Schloss Ambras 27. Sept.–1. Nov. 2013), Innsbruck/Wien 2014, 264–273. 78 Poeckern, Waisenhaus-Apotheke; Helm, Jürgen, Krankheit, Bekehrung und Reform. Medizin und Krankenfürsorge im Halleschen Pietismus, Tübingen 2006 (Hallesche Forschungen 21), 144–149. 79 Dreyhaupt, Johann Christoph von, Pagus Neletici ed Nudzici, Oder Ausführliche diplomatisch-historische Beschreibung des zum ehemaligen Primat und Ertz-Stifft, nunmehr aber durchden westphälischen Friedens-Schluß secularisirten Hertzogthum Magdeburg gehörigem Saal-Creyses, Und aller darinnen befindlichen Städte, Schlösser, Aemter […], Theil 2, Halle a. d. S. 1750, 158. Vgl. dazu Poeckern, Waisenhaus-­ Apotheke, 77–78.

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worden sein dürfte.80 Auch ist bereits im Grundriss um 1705 im großen, hellen Eckraum neben der Offizin »[e]ine Materialien-Kammer der Apotheke« eingetragen, die über eine kleine Passage mit dem »Laboratorium« verbunden ist.81 In seiner 1702 gedruckten Ordnung und Lehr-Art für das Pädagogium, die Schule für die sozial privilegierten und deshalb schulgeldpflichtigen Kinder, stellte Francke eine direkte Verbindung zwischen der Naturalienkammer und der Apotheke her. Demnach wurde in der Naturalienkammer »wöchentlich eine Stunde gelesen«, die jedoch nicht im Stundenplan festgelegt war, sondern situativ und nach inhaltlichen Anknüpfungspunkten, somit »unvermuthet« zur Motivation in den Unterricht eingebaut wurde. Hier werden nun diejenigen Dinge vorgenommen, die in der Naturalien-Kammer befindlich, und nach ihrer Natur und Eigenschafften, Nutzen und Gebrauch erkläret. An deren statt werden bißweilen auch andere Naturalien, so in der Apothecken zufinden, und jedermann nicht sogar bekant sind, genommen: auch wol dann und wann einige experimenta physica gezeiget.82 Explizit unterscheidet Francke hier zwischen den in der Kammer befindlichen Exponaten und den in der Apotheke befindlichen Naturalien, die als ersetzbare Waren in Experimenten verbraucht werden können. Das ließe sich entsprechend der schon zitierten Einsichten zum »Bildungsset« der Glauchaschen Anstalten raumsoziologisch mit der Unterscheidung von Ort und Raum präzisieren:83 Während die Naturalienkammer ihren (Stand-)Ort im oberen Dachgeschoss hat, ist ihr (Handlungs‑)Raum weiter gesteckt, da ihre Lehr- und Lernpraxis auch auf andere Orte ausgreift. In diesem Szenarium ließe sich der Drogentisch als pädagogisches Zeigemöbel eher in der Apotheke, und zwar konkret in der Material-Kammer in ihrer Position zwischen Offizin und Laboratorium verorten. Im Vergleich mit überlieferten Lehrmöbeln aus dem Ausbildungskontext der Apotheke, sogenannten Demonstrierkabinetten, ist festzuhalten, dass diese deutlich kleiner und mobil 80 [Rechnungsbuch der Apotheke von Januar 1708 bis April 1719], AFSt W VIIa/292/Rep. 2. Hierin sind monatlich größere Einnahmen für den Verkauf von »Coffee« und »Candis« bzw. »Zucker« verzeichnet, zudem werden neben den Medikamenten z. B. für Januar 1709 »Materia Varia« oder im Januar 1713 »­Materialien und Gewürze« summarisch notiert. 81 Das Waysen-Haus zu Glaucha vor Halle, um 1702. Abgesehen davon, dass der mit fünf Fenstern versehene Raum im repräsentativen Hochparterre sich nicht zum Lagern von Waren anbietet, sind im Kellergeschoss neben den Papier- und Druck-Lagern noch eine weitere »Material-Kammer der Apotheke« sowie ein »Keller« und ein »Gewölbe für Apothekersachen« eingetragen, so dass dort reichlich Lagerraum zur Verfügung stand. 82 Francke, August Hermann, Ordnung und Lehr-Art. Wie selbige in dem Paedagogio zu Glaucha an Halle eingeführet ist, Halle a. d. S. 1702, 73. Dazu Müller-Bahlke, Einzigartigkeit, 229–231. 83 Certeau, Michel de, Praktiken im Raum (1980), in: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2006, 343–353.

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sind84 und der massive und großformatige Drogentisch überdimensioniert erscheint. Auch als Arbeitsmöbel der Offizin, konkret als Rezepturtisch, ist der Drogentisch ungeeignet, da die Klappfunktion der Deckel der Positionierung der schweren Messvorrichtungen entgegenläuft. Sehr wohl aber ergibt er Sinn als repräsentatives Zeigemöbel in der Materialkammer, als werbewirksames Instrument innerhalb der vielen Maßnahmen, durch welche die Waisenhausapotheke sich gegen die etablierten innerstädtischen Apotheken durchsetzen konnte.85 Eine solche Adressierung an ein Fachpublikum, andere Apotheker wie materialkundige Spezereienhändler, würde auch erklären, dass das schützende Gitter erst mit der pädagogischen Nutzung angebracht wurde. Möglicherweise spielte der Drogentisch als repräsentatives Zeigemöbel sogar im April 1713, ein Vierteljahr vor dem Einbau der Gitter, eine Rolle bei der Begehung durch den neuen Landesherren Friedrich Wilhelm I. zwei Monate nach dessen Regierungsantritt, denn hier galt es, die Erfolge von 15 Arbeitsjahren räumlich erfahrbar zu machen, um eine Verlängerung der Privilegien zu erwirken.86 Angesichts der raumpraktischen Struktur des »Bildungssets« ist sowohl denkbar, dass der »Mat. Med. Tisch« mit dem Einbau der Drahtgitter in die Dachkammer verlegt wurde, als auch, dass er seinen Standort in der Materialkammer und somit auch seine kaufmännische Aufgabe beibehielt. Dem Zuschnitt der Räume nach ist beides möglich und könnte zudem erklären, warum Gründler den Tisch nicht in die Neueinrichtung der Kunst- und Naturalienkammer integrierte. Bei einer Doppelfunktion für Verkauf und Unterricht hätte der Drogentisch in der Materialkammer verbleiben müssen. Für seine Aufstellung am ersten Standort der Naturalienkammer auf dem Dachboden und seinen Verbleib dort nach Umzug und Ausbau der Sammlung spricht die räumliche Nachbarschaft zum Trockenboden der Apotheke, auf dem die in den Anstalten gezogenen und geernteten Pflanzen gedörrt wurden. Wo auch immer der Tisch innerhalb des »Bildungssets« positioniert war, sicherlich blieb er mit dem Realienunterricht der Naturalienkammer verbunden,

84 Vgl. z. B. das Demonstrierkabinett aus der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts aus dem Schweizerischen Pharmazie-­Historischen Museum Basel, in: Kallinich, Schöne alte Apotheken, 62. 85 Dass der Tisch aus dem Kontext der Apotheke stammt, vermutete zuerst Thomas Müller-Bahlke, und auch aus der Perspektive der Apothekenforschung ist eine solche Provenienz denkbar. Apothekentisch war Werbegag, in: Mitteldeutsche Zeitung, 19.08.1997; Ernst/Ernst, Druckerschwärze und Goldtinktur, 28. 86 In dem Protokoll der Begehung wird die Apotheke nur mit Blick auf ihre Erträge erwähnt, auch die Naturalienkammer wird gezeigt, und auf dem Rückweg wird ausdrücklich auf den Trockenboden hingewiesen. Möglicherweise sind die Möblierungsarbeiten in der Naturalienkammer Ende März 1713, die durch hohe Tischler‑, Glaser- und Schlosserrechnungen bezeugt sind und sicherlich der Fertigung der raumbestimmenden Wandschränke galten, schon eine Vorbereitung auf diesen Besuch, der seit dem Tod Friedrich I. im vorangegangen Monat erwartbar war. Vgl. Rechnungen der Naturalien-Kammer, März 1713, AFSt, W Rep VIb/263/XIX 1. Zur politischen Relevanz dieser Evaluation im Verhältnis von preu­ßischem Staat und Pietismus unter Friedrich Wilhelm I.: Wallmann, Johannes, Preußentum und Pietismus, in: ders., Pietismus-Studien, Tübingen 2008, 362–394, hier 374–394.

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denn im Lehrplan des Pädagogiums von 1721 ist unter den »Rekreations-[Ü]bungen« eigens »[d]er Unterricht von der Materia medica« verzeichnet.87 Keineswegs steht der auf ökonomischen Erfolg hin ausgerichtete Vertrieb der Pharmazeutika den in den Glauchaschen Anstalten vermittelten Frömmigkeitspraktiken entgegen. Sehr aufschlussreich ist in dieser Hinsicht eine Grundsatzerklärung zum Unterricht in der Naturalienkammer, die bezeichnenderweise in den Akten zur Apotheke, im Jahre von deren Einrichtung im Haupthaus, notiert wurde. Die Naturalien-Cammer ist für die Jugend eine nützliche Sache, weil sie dabei die mannigfaltige Weißheit Gottes, wie sich dieselbe in der sichtbaren Welt ausdrücket, schauen, und also viel lebhaffter dieselbe erkennen mögen, als wenn sie ihnen nur mit Worten fürgestellet und gepriesen würde; zumal wenn Gott Vermögen und Weißheit schenken sollte, bey den Chymischen Arbeiten als ein parergon [Streichung im Original] in einem Wabenwerk, die innerliche geheime structur, in welcher eigentl[ich] das verwunderns-würdige Theil verschlossen lieget, zu entdecken, und das unsichtbare sichtbar oder wenigstens merklich zu machen, gegen welches das äußerliche ansehen, und Form als nichts, oder doch nur als eine Scheide und Schale zu ästimieren ist, daher denn dieses die Ursache zu seyn pfleget, warum die Menschen bei Anschauung der Geschöpfe Gottes so wenig afficieret und so selten von dem Herrlichen und mächtigen Wesen des unsichtbaren Gottes kräftig überzeuget, und gerühret werden weil sie nur auf die Excrementa der Welt allein gaffen, und den unwürdigsten und schlechtesten Theil der Geschöpfe betrachten. Welche Sache denn zu treiben bißhero Zeit und Unkosten gehindert haben. Zu geschweigen, daß die Jugend daher zeitlich cognitionem materie medicae, und deren Dinge, welche im gemeinen Leben gebraucht, verlangen kann, wovon es wohl manchem Gelehrten fehlet, der daher in dergleichen Dingen leicht betrogen wird.88 Die theologisch reich tradierte Metaphorik von sinnlicher Schale und geistigem Kern findet auch in Franckes Predigten prominent Verwendung. Gemessen an der lutherisch-­ orthodoxen Grundierung des Bildes jedoch räumt Francke dem Sinnlichen einen höheren Stellenwert ein, wonach die Erscheinung der materiellen Welt zwar zweitrangig ist, ihre Wahrnehmung jedoch, in Form des Affekts der Rührung etwa, durchaus den Bekehrungsprozess initiieren kann. In diesem Sinne werden in dem zitierten Eintrag aus der Apotheken-­Akte das sichtbare »Waben Werk« der Chemie und seine »innerliche 87 [Freyer, Hieronymus], Verbesserte Methode des Paedagogii Regii zu Glaucha vor Halle, [Halle a. d. S.] 1721, 110–121. 88 Acta Die Einrichtung der Apotheke und was dem anhängig betreff ab an[no] 1702 sequ. AFSt W IX/I/Nr. 1 Schr II/Fach 59, Abschnitt Nr. 14.

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geheime Structur« der »Weißheit Gottes« unterschieden. Die verworfene Formulierung vom »parergon« im semantischen Fahrwasser von »Waben Werk« sowie »Scheide und Schale« ist mehr als aufschlussreich und hätte Derrida vermutlich gefallen. Ein Beiwerk im Sinne einer verzichtbaren, nach dem Erkenntnisvorgang überflüssigen Schale ist offenkundig gerade nicht gemeint, deshalb die Streichung, sondern vielmehr ein starker Begriff von Parergon, der nicht in seiner »überflüssigen Äußerlichkeit« aufgeht, sondern es über das »interne strukturelle Band« definiert, das es »mit dem Mangel im Innern des Ergon zusammenschweißt«. Gerade angesichts der »Chymischen Arbeiten« der Apotheke wird die besondere Herausforderung der Pädagogik darin formuliert, »das unsichtbare sichtbar oder wenigstens merklich« zu machen. Dieses Verfahren richtet sich explizit gegen eine wissensgeleitete Allegorese der Objekte, die »nur mit Worten« vermittelbar ist. Es geht vielmehr darum, in der Naturalienkammer zu trainieren, an der Schale der sichtbaren Welt den Kern der göttlichen Weisheit wahrnehmbar zu machen. Das Objekt wird also als Wissens- und zugleich als Andachtsmedium begriffen, das substanziell Anteil an der Nachricht hat und sich nicht auf einen theologisch generierten Zeichencharakter reduzieren lässt. Dass den gottgemachten Dingen der Natur eine eigene Sprachfähigkeit, eine nicht durch biblische Worte ersetzbare agency zugestanden wird, ist in der Alchemie tradiert und wurde auch im Halleschen Pietismus entsprechend rezipiert.89 Auf der Folie einer solchen frömmigkeitspraktisch geprägten Objektauffassung ist abschließend nochmals die ästhetische Gestaltung des Drogentisches und die sequenziell gestaffelte Wahrnehmungssituation des »Waben-Werks« der Alchemie zu vergegenwärtigen. Das schon erwähnte halbkreisförmige Muster des Tischblatts erinnert einerseits an mit Leimpapier kaschierte Bucheinbände und ist andererseits in der Deckenbemalung von Sakralräumen belegt.90 Die einbandförmige Gestaltung der Tischdeckel impliziert das Aufschlagen eines Buches, was durch die zeilenförmige Strukturierung des Eingerichtes mit den beschrifteten Stegen unterstützt wird. Die kuppelförmige Gestaltung der Tischplatte hingegen verkehrt die Raumlogik der Vertikale und verweist gewissermaßen kopfüber in eine himmlische Sphäre unter dem irdischen Artefakt. Das Möbel ist ein Buch der Natur, das sich aufschlagen und einer sinnlichen, nicht in der Wortsprache aufgehenden Lektüre unterziehen lässt, die zugleich fachliche Erkenntnis und pietistische Andacht ist. Zudem markiert das innen blau gestrichene Tischblatt im Akt des Öffnens den Eingang in eine himmlische Sphäre, die der göttlichen Weisheit also, welche in der geordneten Präsentation der Simplizien, dem »Waben Werk« der Chemie, sinnlich erfahrbar wird. Zugleich, und das macht die Besonderheit der Glauchaschen Anstalten aus, ist das Lernen aus dem 89 Weiß, Claudia, Alchemie und Hallescher Pietismus. Alchemistische Einflüsse auf die Pharmazie der Glauchaschen Anstalten im 18. Jahrhundert, Masterarbeit an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 2016, insbes. 24–51. 90 Müller-Bahlke, Wunderkammer, 98.

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Buch der Natur nicht nur mit der Andacht verkoppelt, sondern es gilt immer auch, mit diesen Einsichten Geld zu verdienen.

5. Fazit Stabile, weitflächige Tische zum Zeigen und Erforschen von Sammlungsstücken sind zentrale Schauplätze in frühneuzeitlichen Kunst- und Naturalienkammern. Der Drogentisch der Kunst- und Naturalienkammer in den Franckeschen Stiftungen ermöglicht darüber hinaus alle Arbeitsweisen des Museums, das Sichern, das Ordnen, das Zeigen und Studieren von mitunter schwer handhabbaren Materialien. Dabei handelt es sich nicht um ein Exemplar einer etablierten Möbelform, sondern um ein außergewöhnliches Einzelstück. Und gerade deshalb vermag der Drogentisch ein Spezifikum von Sammlungsmöbeln um 1700 zu zeigen, einer Zeit also, als die Museumskunde sich gerade formierte und erst vereinzelt die Möblierung problematisierte, deren wissenschaftliche und warenförmige Normierung erst um 1800 einsetzen sollte. Folglich ist die Forschung zu dieser Phase der Genese des Sammlungsmöbels vor allem auf die nicht sehr dichte materielle Überlieferung solcher Gebrauchsstücke angewiesen. In dieser Konstellation ist ein praxeologischer Zugriff, der weniger auf die Form als auf die Affordanz des Objekts zielt, doppelt plausibel. Der Fokus auf die Gebrauchsweisen führt zugleich in andere Handlungsfelder, wodurch die in der sammlungsgeschichtlichen Forschung erst neuerdings interessierenden, aber noch unterbelichteten Verflechtungen von Handel und Sammlung, konkret die Modellierung des Museums durch kaufmännische Praktiken und frühneuzeitliche Raummodelle von Offizin- und Materialkammer, beobachtbar werden.

Beziehungen und Bewegungen

Objektbiographie Die Mobilität der (Kunst-)Dinge als Beute, Gabe und Ware Michael Wenzel

1. Objektbiographie: Zirkulation, symbolischer Wert und Preis Die Geschichte eines Dings spiegelt sich in unterschiedlichen Quellen und Überlieferungen wider. Dies gilt insbesondere dann, wenn es sich bei dem ›Ding‹ um ein wertvolles, hochgeschätztes Kunstwerk wie das Mantuanische Onyxgefäß im Herzog Anton Ulrich-­Museum handelt (Abb. 1). Dieses in Steinschnitt aus Sardonyx erstellte Salbölfläschchen befand sich bis 1630 in Mantua, wo es während der spektakulären Plünderung der Gonzaga-­Residenz durch kaiserliche Truppen infolge des Mantuanischen Erbfolgekriegs als Beutestück einem Soldaten in die Hände fiel und dann eine lange, hier nachzuzeichnende Odyssee antrat, bevor es schließlich in das spätere Herzog Anton Ulrich-Museum nach Braunschweig gelangte.1 Der vorliegende Beitrag widmet sich der Existenz des Mantuanischen Onyxgefäßes im 17. Jahrhundert und erzählt diese Geschichte erneut2 aus der Perspektive der Objektbiographie.3 Dies findet seine Begründung in der dichten historischen Überlieferung zu diesem Kunstwerk, welche den Lebensweg des Objekts, seine Mobilität und Zirkulation sowie den Wandel der mit ihm verbundenen Wert- und Deutungszuweisungen in besonderer Weise greifbar macht. Gegenstände wie das Onyxgefäß werden, zumindest wenn sie sich in einem musealen Kontext befinden, von Aufzeichnungen begleitet, den ›Objektakten‹. Sie gehören zu den Dingen in ähnlicher Form wie Dokumente, welche die meisten Menschen zu ihrer Existenz besitzen und die über Ausweispapiere, Lebensläufe, Personalakten bis hin zu ausführlichen Memoiren und Biographien reichen können. Neben den institutionellen Bewahrern der Objektbiographie haben sich im Falle des Mantuanischen Onyxgefäßes bereits früh individuelle Biographen gefunden, die aus 1 Mantuanisches Onyxgefäß, frühe römische Kaiserzeit, Sardonyx, Höhe 15,3 cm, Herzog Anton Ulrich-­ Museum Braunschweig, Inventar-Nr. Gem 300. 2 Zuerst: Mack, Heinrich, Zur Geschichte des Mantuanischen Onyxgefäßes, in: Braunschweigisches Magazin [N.F.] 19 (1913), 1–7, 17–19; Fink, August, Die Schicksale des Onyxgefäßes, in: Bruns, Gerda/Fink, ­August, Das Mantuanische Onyxgefäß, Braunschweig 1950 (Kunsthefte des Herzog Anton Ulrich-Museums 5), 13–20. 3 Vgl. Hahn, Hans Peter, Materielle Kultur. Eine Einführung, Berlin 22014, 40–45; Hennig, Nina, Objektbiographien, in: Samida, Stefanie/Eggert, Manfred K. H./Hahn, Hans Peter (Hg.), Handbuch Materielle Kultur. Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen, Stuttgart 2014, 234–237.

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Abb. 1: Mantuanisches Onyxgefäß, frühe römische Kaiserzeit, Sardonyx, Höhe 15,3 cm, Herzog Anton ­Ulrich-Museum Braunschweig.

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Interesse die ›Lebensdaten‹ dieses herausragenden Stückes verzeichneten und zugehörige Archivalien zu einer ›Objektakte‹ versammelten. Es sind dies der Vikar des Braunschweiger Domstifts St. Blasii Johann August Heinrich Schmidt (gest. 1855) und der ebendort ansässige Gerichtsregistrator und Heimatforscher Karl Wilhelm Sack (1792– 1870). Ersterer nutzte offensichtlich zu Beginn des 19. Jahrhunderts seinen Zugang zum Archiv der Herzöge von Braunschweig-Bevern in der Dompropstei, um originale Dokumente – zumeist Briefe – zu sammeln und in einem handschriftlichen Aufsatz auszuwerten; Letzterer systematisierte dieses Konvolut durch weitere Abschriften und Exzerpte sowie durch ein Register. So kam eine komplexe Sammlung zusammen, bestehend aus »einige[n] alten[n] Stiche[n] des Gefäßes, eine[m] Zeitungsartikel, literarische[n] Notizen Sacks«, dem erwähnten Aufsatz Schmidts sowie »archivalische[m] Material«, welches seinerseits aus »Briefe[n] und Aktenstücke[n] des 17. und 18. Jahrhunderts teils in Originalen, wozu wir auch die vorhandenen Konzepte rechnen, teils in gleichzeitigen Abschriften, teils in Abschriften und Auszügen des 19. Jahrhunderts« gebildet wird.4 Die Objektakte besitzt also ebenfalls eine eigene ›Biographie‹, die sich aus dem Faszinosum ›Onyxgefäß‹ speist. Mit dem methodisch-narrativen Zugriff der Objektbiographie lässt sich an Krzystof Pomians berühmte Fallstudie zu den Vasen der Medici-Sammlung anschließen,5 da es sich bei dem Mantuanischen Onyxgefäß um einen (im Idealfall) dauerhaften, dem Kreislauf der Dinge enthobenen (Kunst-)Gegenstand handelt. Gerade dies ist für das Verfahren der Objektbiographie, dessen Modell der Lebenszyklus ist, von besonderer Relevanz, denn nur scheinbar macht die Musealisierung einen Gegenstand unsterblich. Ähnlich wie aus dem Müll recycelte Gegenstände werden auch Kunstwerke durch ihre Neukontextualisierung gleichsam mit neuer Bedeutung und neuen Funktionen ›wiedergeboren‹ und können als biographische Objekte in enger, mit Sinn aufgeladener Beziehung zu ihren (neuen) Besitzern stehen.6 Außerdem lassen sich, wie gerade aufgezeigt, unterschiedliche Medien der objektbiographischen Überlieferung an diesem Stück besonders gut nachzeichnen und mit dessen einzelnen Daseinsphasen in Verbindung bringen. Auslöser und Katalysator der Mobilität des im Blickpunkt stehenden (Kunst-)Dings waren vorrangig Krieg und Kunstraub. Allerdings kommen neben den kulturellen Praxen des legalen Erbeutens in Kriegszeiten und des stets mit Illegalität behafteten Steh4 Niedersächsisches Landesarchiv, Standort Wolfenbüttel (NLA W), Signatur VI Hs 17, Nr. 4; ehemals im Besitz des Stadtarchivs Braunschweig, Sacksche Sammlung, von dort abgegeben an das Landesarchiv. Ausgewertet von: Mack, Zur Geschichte des Mantuanischen Onyxgefäßes, Zitat: 1; zur Geschichte des Aktenfaszikels ebd., 1–2. Die vorliegende Darstellung beruht auf der Auswertung von Mack unter Rückgriff auf die von Schmidt und Sack gesammelten Briefkopien und weitere Archivalien des NLA W. 5 Pomian, Krzysztof, Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln, Berlin 1988, 73–90. 6 Vgl. Hahn, Materielle Kultur, 40–45; Hennig, Objektbiographien, 234–237.

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lens7 auch solche des Schenkens,8 des Veräußerns, Aneignens und Übereignens zur Sprache. Die Dinge sind Gegenstände menschlichen Handelns, aber auch selbst Akteure bzw. Aktanten9, indem sie aufgrund ihrer spezifischen Form, Symbolik und Biographie ein eigenes Handlungspotenzial entwickeln. Das Onyxgefäß wandert gleichsam als ›Fremdkörper‹ durch verschiedene soziale Stände und durch die Hände verschiedener sozial Handelnder, dabei wird es symbolisch umgewertet und erfährt unterschiedliche politische, ökonomische und sakrale Wertzuweisungen.10 Die Biographie des Objekts beleuchtet Schnittstellen zwischen kulturellen Praxen des Schenkens und Erbeutens und betrachtet den Kunst- bzw. Objekttransfer im Sinne eines kulturellen Austausches, hier vor allem vor der Folie des Kunstmarkts und der Preisbildung. Da die Bedeutung und der Wert von Dingen sich grundlegend mit dem Umstand ändern, ob sie als Einzelobjekt oder innerhalb eines Arrangements bzw. Ensembles (einer ›Sammlung‹) vorliegen, liegt zudem ein 7 Zum Erbeuten und Stehlen von Kunst als kulturellen Praxen hier ebenfalls nur eine Auswahl an jüngeren Titeln: Jucker, Michael, Le butin de guerre au Moyen Age. Aspects symboliques et économiques, in: F ­ rancia 36 (2009), 113–133; Bénédicte Savoy, Kunstraub, in: Fleckner, Uwe/Warnke, Martin/Ziegler, H ­ endrik (Hg.), Politische Ikonographie. Ein Handbuch, 2 Bde., München 2011, Bd. 2, 73–78; Jucker, Michael, Raub, Geschenke und diplomatische Irritationen. Die ökonomische Zirkulation und Distribution von Beutestücken und Luxusgegenständen (13.–16. Jahrhundert), in: Häberlein, Mark/Jeggle, Christof (Hg.), Materielle Grundlagen der Diplomatie. Schenken, Sammeln und Verhandeln in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (Irseer Schriften. Studien zur Wirtschafts-, Kultur und Mentalitätsgeschichte, N.F. 9), Konstanz/München 2013, 59–77; Savoy, Bénédicte, Restitution, in: Großmann, G. Ulrich/Krutisch, Petra (Hg.), The Challenge of the Object/Die Herausforderung des Objekts. 33rd Congress of the International Committee of the History of Art/33. Internationaler Kunsthistoriker-Kongress, 4 Bde., Nürnberg 2013 (Wissenschaftlicher Beiband zum Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums 32), Bd. 4, 1346–1350; Furlotti, Barbara, Unexpected Shifts. Thieves as Mobilizers of Art and Luxury Goods in Early Modern Italy, in: ebd., Bd. 2, 673–676; Jucker, Michael, Objektraub und Beuteökonomien. Methodische Überlegungen zu Wirtschaftsformen im Krieg des Spätmittelalters, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 65 (2014), 548–562. Bei den angeführten Artikeln von Jucker ist hier vor allem das Beispiel der Burgunderkriege von 1476 und deren Beuteökonomien von Belang, die sich zu größeren Teilen, insbesondere mit Blick auf Wertzuweisungen und Verkaufsstrategien, noch auf das frühe 17. Jahrhundert übertragen lassen, wie weiter unten noch dargelegt werden wird. 8 Zu Geschenk und Gabe als kultureller Praxis hier nur eine kleine Auswahl jüngerer Literatur: Davis, ­Natalie Zemon, Die schenkende Gesellschaft. Zur Kultur der französischen Renaissance, München 2002; ­Algazi, Gadi/Groebner, Valentin/Bernhard, Jussen (Hg.), Negotiating the Gift. Pre-Modern Figurations of Exchange, Göttingen 2003 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 188); zumeist im politischen Kontext: Cassidy-Geiger, Maureen (Hg.), European Diplomatic Gifts, Sixteenth–Eighteenth Centuries, Chicago 2008 (Studies in the Decorative Arts 15 [2007/2008]); Häberlein/Jeggle (Hg.), Materielle Grundlagen der Diplomatie; Quadflieg, Dirk, Tauschen und Geben, in: Samida/Eggert/Hahn (Hg.), Handbuch Materielle Kultur, 117–124. 9 Latour, Bruno, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt a. M. 2010 (zuerst 2007), bes. 109–149; dazu u. a. zum Überblick: Belliger Andréa/Krieger, David, Netzwerke von Dingen, in: Samida/Eggert/Hahn (Hg.), Handbuch Materielle Kultur, 89–96. 10 Vgl. Herklotz, Ingo, Objekte auf Reisen und ihre Überlieferungsgeschichte. Bilanz und Perspektiven der Forschung, in: The Challenge of the Object, Bd. 2, 640–645; Jucker, Raub, Geschenke und diplomatische Irritationen.

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besonderes Augenmerk einerseits auf der Mobilisierung und Rekontextualisierung von Kunstgegenständen, andererseits auf der geordneten Verdichtung von Objekten innerhalb festgelegter räumlicher Strukturen.

2. Kaiserzeitliche Lekythos und antikes Sammelstück Das Mantuanische Onyxgefäß entstand nach heutigem Wissen in der frühen römischen Kaiserzeit und ist seiner ursprünglichen Form nach eine Lekythos (ein Öl- oder Salb­gefäß). Seine Reliefs zeigen im Hauptfries die Ausfahrt des Triptolemos, eines der Demeter und der Verbreitung des Ackerbaus verbundenen griechischen Kulturheros, auf einem von Schlangen gezogenen Wagen sowie weitere Figuren wie Demeter und Tellus, aber auch solche, deren Identifikation aufgrund mangelnder Attribute schwierig bis unmöglich ist. Nach einer der vielen Deutungen ist die Fackelträgerin der linken Nebengruppe als die von dem jugendlichen Nero verehrte Göttin Dea Syria (Astarte) zu verstehen, Triptolemos folglich ein Identifikationsporträt dieses Kaisers anlässlich seines Regierungsantritts am 13. Oktober 54 v. Chr.11 Auch wenn diese Vermutung letzten Endes nicht zu belegen und sogar unwahrscheinlich ist, offenbart sich darin doch die Wertschätzung, die die spektakuläre und kunstvolle Form des Gefäßes erfahren hat und die wie bei anderen Stücken der Glyptik, etwa der Gemma Augustea im Kunsthistorischen Museum Wien, die – wenn auch nur hypothetische – Verbindung mit dem julisch-claudischen Kaiserhaus begründete. Geschnitten aus einem fünfschichtigen Sardonyx musste der Künstler alle seine Fertigkeit aufbringen, um aus der kontingenten Materialstruktur sowohl die Form des Gefäßes als auch den Relieffries in schlüssiger Figur-Grund-Beziehung zu gewinnen. Nachzuweisen ist das Mantuanische Onyxgefäß erstmalig in der Grotta der ­Isabella d’Este (1474–1539), dem hinteren, einer Schatzkammer ähnlichen ihrer beiden Sammlungsräume an der Corte Vecchia des Palazzo Ducale in Mantua. Im Inventar ihrer Verlassenschaft, dem Inventario Stivini von 1540 bis 1542, wird es als zweites von 41 Stücken, und an zweiter Stelle des Inventares überhaupt, als »vaso di cameo con figure de relevo de varii colori, fornito de oro, con manico e piede e bocchino« im »­armario de megio che è nella Grotta di Madama in Corte Vecchia« an der Rückwand des Raumes 11 Diese Deutung bei Simon, Erika, Die Portlandvase, Mainz 1957, 56–64. Nach einer anderen, vermutlich ebenfalls nicht zutreffenden Auffassung handelt es sich um ein Identifikationsporträt des Caracalla, und das Gefäß datiert um das Jahr 198 n. Chr. Vgl. Bruns, Gerda, Das Mantuanische Onyxgefäß, in: Bruns/ Fink (Hg.), Das Mantuanische Onyxgefäß, 3–12, hier 10–11. Zur Ikonographie zuletzt als Überblick mit weiteren Literaturangaben: Peter Seiler, Das Onyxgefäß aus Mantua, in: Bungarten, Gisela/Luckhardt, Jochen (Hg.), Reiz der Antike. Die Braunschweiger Herzöge und die Schönheiten des Altertums (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Herzog Anton Ulrich-Museum Braunschweig, 21. Aug.–16. Nov. 2008), Petersberg 2008, 209–211.

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beschrieben.12 Im Inventar der Gonzaga-Sammlungen von 1626/1627, welches kurz vor der Veräußerung großer Teile des Kunstbesitzes und der Plünderung des Restbestandes aufgestellt wurde, ist das Kunstwerk wahrscheinlich mit »un vaso lavorato a cameo, legato in argento adorato stimato ducatoni 300« im »camerino piciolo sopra ale sodette stanze« im Bereich der Schatzkammer des Palastes zu identifizieren.13 In beiden Fällen war es Teil eines sinnstiftenden Abb. 2: Schematische Darstellung der Rückwand der Grotta an der Sammlungsgefüges, einer der Corte Vecchia nach Clifford M. Brown. profiliertesten frühen Kunstsammlungen Italiens.14 Isabella d’Este hatte den »vaso de aghitta (Achatvase)« vermutlich 1506 in Venedig erworben und gemeinsam mit einem im Stivini-Inventar als Porträtdarstellung von »Cesare e Livia« gedeuteten Kameo sowie 38 weiteren Objekten, zumeist 12 »[…] ein Kameengefäß mit Relieffiguren von verschiedenen Farben, versehen mit Gold, mit einem Henkel, Fuß und Tülle« im »mittleren Schrank, der sich in der Grotta von Madama in der Corta Vecchia befindet«; Übersetzung durch den Verfasser; Original zitiert nach Brown, Clifford M., Per dare qualche splendore a la gloriosa cità di Mantua. Documents for the Antiquarian Collection of Isabella d’Este, Rom 2002 (Biblioteca del Cinquecento 106), 330 (Abdruck des gesamten Inventars: 329–346). Vgl. Morselli, Raffaella (Hg.), Gonzaga. La Celeste Galeria (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in Mantua, Palazzo Te und Palazzo Ducale, 2. Sept.–8. Dez. 2002), 2 Bde., Mailand 2002, Bd. 2: Le raccolte, 289–290, Katalog-Nr. 79 (Paola Venturelli). Eine weitere Fassung des Stivini-Inventars mit deutscher Übersetzung findet sich abgedruckt in: Das Inventar der Grotta von Odoardo Stivini aus dem Jahr 1542, in: Ferino-Pagden, Sylvia, »La prima donna del mondo«. Isabella d’Este. Fürstin und Mäzenatin der Renaissance (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Kunsthistorischen Museum Wien, 10. Febr.–24. Mai 1994), Wien 1994, 263–288 (Katalog-Nr. 95). 13 Vgl. Morselli, Raffaella, Le Collezioni Gonzaga. L’elenco dei beni del 1626–1627, Cinisello Balsamo 2000, 341, 349 (Nr. 1680), Übersetzung des Verfassers: »eine als Kamee gearbeitete Vase, eingefasst in vergoldetem Silber und auf 300 Ducatoni geschätzt« im »[…] kleinen Kämmerchen oberhalb der genannten Zimmer«. Der Schätzwert liegt deutlich unter den späteren Veranschlagungen (s. u.). 14 Zu Isabella d’Estes Profil als Antikensammlerin vgl. u. a. Brown, Documents for the Antiquarian Collection, 13–20. Zur ihrer ›Einkaufspolitik‹ allgemein vgl. auch Welch, Evelyn, Shopping in the Renaissance. Consumer Cultures in Italy 1400–1600, New Haven/London 2005, 245–273.

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Glyptik, in besagtem Schrank aufbewahrt.15 Sie ergänzte die darin versammelten Kunstobjekte zudem um ihre eigene Porträtmedaille, womit sie die Sammlungsstücke auf ihre eigene Person bezog und biographisch konnotierte. In den beiden benachbarten Schränken befanden sich ähnliche Stücke, wohingegen in den beiden zu der mit einem Fenster versehenen gegenüberliegenden Schmalwand hin gelegenen Schränken auf den Längsseiten (»armario presso la finestra«) wertvolle Einzelplastiken wie die Cupido-Statuen angeblich des Praxiteles und des Michelangelo und eine sterbende Kleopatra sowie Medaillen und Münzen aufbewahrt wurden. In der oberen Abb. 3: Inventar der Isabelle d’Este, Archivio di Stato di Wandzone der Grotta befanden ­Mantova. An zweiter Stelle ist das Mantuanische Onyxgefäß sich vor allem antike und antiki- ­verzeichnet. sierende Skulpturen, so auf der Rückwand die Büste von Oktavian, flankiert von Faustina und Lucilla, darüber als Naturalie das vermeintliche Horn eines Einhorns (Abb. 2). Die virtuelle Rekonstruktion der Grotta ist vor allem auf der Grundlage des Stivini-Inventars möglich, wie auch dessen kalligraphische und illuminierte Ausführung darauf angelegt zu sein scheint, die Ord15 Vgl. Brown, Documents for the Antiquarian Collection, 223 (Brief von Taddeo Albano an Isabella d ­ ’Este vom 4. Juni 1506), 330; Morselli (Hg.), Gonzaga, 288–289 (Katalog-Nr. 77–78, Paola Venturelli). Die Porträtmedaille der Isabella d’Este nach Vorlage von Giancristoforo Romano befindet sich heute im Münzkabinett des Kunsthistorischen Museums Wien (Inventar-Nr. 6833b). Hingegen ist die Identifizierung des »cameo grande […] con due teste di relevo di Cesare e Livia« mit dem Ptolemäer-Kameo des Kunsthistorischen Museums Wien (Inventar-Nr. ANSA IX 81) unwahrscheinlich. Vgl. Brown, Clifford M., Isabella d’Este Gonzaga’s Augustus and Livia Cameo and the »Alexander and Olympias« Gems in Vienna and Saint Petersburg, in: ders. (Hg.), Engraved Gems: Survivals and Revivals, Washington 1997 (Studies in the History of Art 54), 85–107, bes. 88, 97–98.

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nung der Dinge in der dem Inventar inhärenten, perspektivierten Struktur zu garantieren und zu perpetuieren (Abb. 3).16 Wohl mit dem Eingang in die Sammlung der Isabella d’Este erhielt das Gefäß einen neuen, goldenen Henkel, da der originale, aus Stein gefertigte und von der Mündung bis zur Schulter führende Griff nicht mehr vorhanden war. Zur Befestigung der Ergänzungen – neben dem Henkel die ebenfalls im Stivini-Inventar erwähnten Hinzufügungen von Tülle und Fuß aus Gold – wurden in den Gefäßkörper Rillen eingeschnitten, die zur Aufnahme der fixierenden Goldbänder und zum Ansatz des Fußes dienten.17 Diese Komplettierung des Gefäßes aus seinem fragmentarischen Zustand heraus stabilisierte neben seiner Einordnung in ein Sammlungsgefüge samt zugehörigem Sammlungsmobiliar sein Bedeutungsspektrum. Es wird zu einem Zeichenträger in einem musealisierten Kontext – einem Semiophor im Sinne Pomians,18 wobei die tragende Funktion des Henkels hier tatsächlich auch in ihrem übertragenen Sinn wiederum wörtlich verstanden werden kann.19

3. Beutegut und Spekulationsobjekt Angesichts der kostbaren Ergänzungen aus Gold grenzt es fast an ein Wunder, dass das Onyxgefäß, als es 1630 infolge des Raubzugs durch Mantua seinen protomusealen Kontext verlor und eine temporäre Desemiotisierung erfuhr, nicht das Schicksal zahlreicher anderer Sammlungsstücke des Herzogspalastes teilte: seiner Edelmetallmontierungen beraubt und zerschlagen zu werden.20 Drei Jahre zuvor war es mitsamt dem übrigen Inhalt der 16 Vgl. Stivini, Odoardo, Inventario delle Robbe si sono ritrovate […] nella Grotta di Madama in Corte vecchia, Manuta, Archivio di Stato di Mantova, Busta 400, fol. 7r. Vgl. dazu u. a. Ferino-Pagden, Isabella d’Este, 263–372 (Katalog-Nr. 95–119); Brown, Documents for the Antiquarian Collection, 321–328. 17 Vgl. Bruns, Das Mantuanische Onyxgefäß, 3–4; Seiler, Onyxgefäß, 209. Die Montierung ist 1831 verloren gegangen; vgl. Fink, Die Schicksale des Onyxgefäßes, 19–20. 18 Kanonisch: Pomian, Der Ursprung des Museums, bes. 49–50, 73–90. Vgl. auch Thiemeyer, Thomas, Die Sprache der Dinge. Museumsobjekte zwischen Zeichen und Erscheinung, http://www.museenfuergeschichte.de/downloads/news/Thomas_Thiemeyer-Die_Sprache_der_Dinge.pdf, letzter Zugriff: 29.03.2016. 19 Ich danke Christiane Holm für diesen anregenden Hinweis. Selbst wenn diese Montierung älter sein und aus einer Zeit stammen sollte, als die Onyxvase nach einer unbelegten These in kirchlichem Besitz war und als Abendmahlskanne genutzt wurde (vgl. Fink, Die Schicksale des Onyxgefäßes, 13), käme diese Umnutzung mit der Anbringung des Griffs und der Einbindung in einen christlich-sakralen Kontext einem Akt der Resemiotisierung des Objekts gleich. 20 Zum Begriffspaar ›Desemiotisierung – Resemiotisierung‹ vgl. Korff, Gottfried, Betörung durch Reflexion. Sechs um Exkurse ergänzte Bemerkungen zur epistemischen Anordnung von Dingen, in: te Heesen, Anke/ Lutz, Petra (Hg.), Dingwelten. Das Museum als Erkenntnisort, Köln/Weimar/Wien 2005 (Schriften des Deutschen Hygiene-Museums 4), 89–108, hier 97. Das Pomian folgende Argument Korffs wird allerdings im vorliegenden Fall umgekehrt, da es sich bei dem aufgehobenen gegebenen Kontext um den der protomusealen Gonzaga-Sammlung handelt und das Objekt quasi wieder aus dem Museum in den ›Alltagsraum‹ zurückgeführt wird.

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Grotta noch vom Verkauf großer Teile der Gonzaga-Sammlung ausgenommen worden, diesem Geschäft, das einen gewaltigen, europaweiten Transfer von Kunst- und Kulturgütern darstellte und in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts nur noch mit der Plünderung von Prag durch die Schweden 1648 und mit der Veräußerung der Sammlung Karls I. von England während des Interregnums zu vergleichen ist, bei welcher wiederum große Teile der ehemaligen Gonzaga-Besitztümer erneut verkauft wurden.21 Doch der Plünderung der Stadt und des Palastes von Mantua im Jahr 1630 konnte das wertvolle Kunstwerk nicht entgehen. Mit diesem Akt der gewaltsamen Aneignung und der Verwandlung des Sammlungsstücks in ein Beutegut ändert sich auch die Textsorte der Quellen, die über seinen Werdegang Auskunft geben. Statt des kunstvollen, geordneten Stivini-Inventars, das nur Objekte in ihrer Beziehung zueinander verzeichnet, sind es nun die 1683 posthum publizierten Memoiren eines Offiziers, die von ihm berichten. Der in kaiserlichen Diensten stehende Claude de Létouf de Sirot (1600–1652) kaufte den Onyx bei der Einnahme Mantuas einem Soldaten ab, wie er selbst notierte: Je n’eus de tout pillage qui se fit à Mantouë, qu’un petit Vaze d’Agathe alamée, qui étoit grand environ comme un vinaigrier, encore l’achetay-je d’un Soldat dix-sept ducatons; parce qu’il étoit relié de petites bandelettes d’or, & que le couvercle étoit d’or, & par hazard c’étoit la plus belle piece, & la plus rare du Cabinet du Duc de Mantouë. Il y avoit sur le couvercle un petit billet, sur lequel étoit écrit Primera Pessi, qui veut dire la premiere piece, & la plus précieuse de tout le Cabinet.22 Der Soldat hatte sein Beutestück folglich für 17 Ducatoni (1 Ducatone entspricht etwa 1  Reichstaler) dem Offizier verkauft. Ihm war vermutlich nur an dem Materialwert gelegen.23 Sirot hatte wenige Seiten zuvor das Zerstörungswerk der Söldner im Palazzo 21 Die Literatur zum Verkauf der Gonzaga-Sammlung von 1627 ist umfangreich. Grundlegend: Luzio, Alessandro, La Galleria dei Gonzaga venduta all’Inghilterra nel 1627–28, Mailand 1913; als jüngere Studie: Anderson, Christina M., The Flemish Merchant of Venice. Daniel Nijs and the Sale of the Gonzaga Art Collection, New Haven/London 2015, 115–143. 22 Létouf de Sirot, Claude de, Mémoires et la vie de Messire Claude de Létouf, Chevalier Baron de Sirot, 2 Bde., Paris 1683, Bd. 1, 175. Übersetzung des Verfassers: »Ich hatte von den Plünderungen, die sich in Mantua zutrugen, nur eine kleine Vase aus ›durchwirktem‹ [?] Achat, die ungefähr so groß war wie ein Essigfläschchen, außerdem hatte ich sie einem Soldaten für 17 Ducatoni abgekauft; weil sie von kleinen Goldbändchen eingefasst und der Deckel von Gold war und es zufällig das schönste und seltenste Stück aus dem Kabinett des Herzogs von Mantua war. Es hatte auf dem Deckel einen kleinen Zettel, auf dem Primera Pessi geschrieben war, was sagen will, das erste Stück und das wertvollste aus dem ganzen Kabinett.« 23 Explizit gesagt wird dies von Sirot entgegen der 1950 gemachten Aussage von August Fink aber nicht. Vgl. Fink, Die Schicksale des Onyxgefäßes, 14: »Er ist mit 17 Dukaten für den Goldbeschlag zufrieden. Das Gefäß bekommt Herr von Sirot als Zugabe«. Diesem folgend und weiter ausschmückend: Chambers, David/ Martineau, Jane (Hg.), Splendours of the Gonzaga (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Victoria und

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Ducale beschrieben, die Bergkristallgefäße zertrümmert hätten, um an die Edelmetallmontierungen zu gelangen, bis die Scherben an manchen Stellen einen Fuß hoch lagen.24 Der Edelmetallwert war also für die Soldaten das ausschlaggebende Kriterium, nicht etwa der Kunstwert. Auch waren die Kunstwerke meist zu schwer und auch zu fragil, als dass sie bei einem unkontrollierten Akt des Plünderns in größerer Zahl und damit zu höherer Wertschöpfung durch den Einzelnen hätten abtransportiert werden können. Auf diese Weise wurde die Ordnung der in Mantua verbliebenen Gonzaga-Sammlungen binnen weniger Augenblicke zunichtegemacht, und aus Objekt-Ensembles wurden wieder Einzelobjekte oder es wurden gar, wie in dem beschriebenen Fall, Abb. 4: Johann Jakob Thurneysen (der Ältere), Claude de von Menschen geschaffene Werke in Létouf de Sirot, Kupferstich, Herzog A ­ ugust Bibliothek Wolfenbüttel. Rohmaterial verwandelt. Damit stellt sich aus dem Blickwinkel der Objektbiographie von Sammlungstücken ex negativo die Frage nach deren Anspruch auf eine ›unbegrenzte‹ Lebensdauer aufgrund ihrer Musealisierung.25 Die Annullierung des museaAlbert Museum London 4. Nov. 1981–31. Jan 1982), Mailand 1981, 168–169 (Katalog-Nr. 119, Anna Somers Cocks): »The vase narrowly escaped destruction in the sack of the Ducal Palace in 1630. A mercenary officer in the imperial army, Claude Latouf [sic], Baron de Sirot, bought it for 17 ducats from a soldier, who was about to destroy it for sake of its gold mounts.« Auch erscheint Sirot in der autobiographischen Schrift nicht als der gewissenlose »Glücksritter«, als den ihn Fink auf der Grundlage eben dieser Quelle darstellt. Eine Zusammenfassung seiner Biographie findet sich in: Sirot, in: Zedler, Johann Heinrich, Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 37, Halle a. d. S./Leipzig 1743, 1811–1812. 24 Vgl. Sirot, Mémoires, Bd. 1, 169: »L’Armée y fit un butin que l’on ne peut estimer, & de choses les plus précieuses qui fussent en Europe; car il y avoit dans le Château du Duc plusieurs chambres, & plusieurs cabinets remplis de toutes sortes de curiositez, & entr’autres quantité de Vazes de cristal de roche, qui étoint enjolivez avec de petites lames d’argent, qui pour la pluspart étoient dorées: Les Soldats les jettoient contre terre les cassoient, & les mettoient en pieces, pour avoir l’argent qui les lioit, ou pour ne les pouvoir emporter à cause de leur pesanteur; & l’on marchoit par tous les Cabinets sur le cristal de roche, qui en quelques endroits étoit épais d’un pied.« 25 Vgl. Hahn, Materielle Kultur, 42.

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len Kontexts, die Konfrontation mit einer sozial nicht vorgesehenen Gruppe von ›Rezipienten‹ sowie deren in Zeit und Möglichkeiten limitierter Handlungsspielraum heben die aus dem künstlerischen Herstellungsprozess und der vorhandenen Bildhaftigkeit resultierende Wertzuweisung als ›Kunst‹ für Objekte der Gonzaga-Sammlung auf und führen diese wieder in den Lebenskreislauf der Dinge durch das Ende der musealen Objekt-Nutzung zurück. Im Gegensatz zu den ›einfachen‹ Soldaten vermochte der adelige französische Offizier (Abb. 4) das vermutlich aufgrund seiner geringeren Größe, seiner Kompaktheit und materiellen Beschaffenheit weitgehend intakte Onyxgefäß durchaus als Kunstwerk zu würdigen. Zwar war seine primäre Herangehensweise alltagsbezogen und von Gebrauchsobjekten (»grand environ comme un vinaigrier«) bestimmt, doch nicht zuletzt der Zettel auf dem Deckel mit dem Vermerk »Primera Pessi«, der, vergleichbar späteren Inventarnummern, eine letzte Verbindung zu der Sammlungsordnung der Gonzaga herstellte und den er vermutlich im Gegensatz zu dem Soldaten auch zu deuten wusste, ließ ihn zu der Überzeugung gelangen, in den Besitz eines der wertvollsten Stücke der Mantuaner Fürstenfamilie gelangt zu sein. Er behielt es nicht lange, sondern verschenkte es, vermutlich als materialisierten Dankesbeweis, an seinen Vorgesetzten von fürstlichem Rang, Herzog Franz Albrecht von Sachsen-Lauenburg (1598–1642). Dieser hatte ihn kurz zuvor vor einer Schwertattacke des Generals Johann von Aldringen (1588–1634) bewahrt, der eine Beleidigung, eine Ohrfeige und ein Zweikampf Sirots mit einem Offizier des Generals vorausgegangen waren.26 So mutierte das antike Gefäß binnen kürzester Zeit vom Sammlungsobjekt zum Beutestück, vom Beutestück zum Gegenstand eines Geldgeschäfts und anschließend zur Gabe. Mit jedem dieser Vorgänge änderten sich auch sein Funktionszusammenhang und seine Bedeutungsdimension: Je ne la voulus pas garder: mais j’en fis un present au Duc Franc-Albert de Saxe mon Colonel, lequel le montra au Garde joyaux du Duc de Mantouë, chez lequel il etoit logé, qui luy dit que c’étoit la piece la plus rare de tout le Cabinet du Prince, & un present qu’un Roy de Perse avoit envoyé aux Souverains de Mantouë, s’imaginant par là le fort gratifier, parceque l’on croyoit que c’étoit le premier Vaze dans lequel le Roy Salomon avoit sacrifié, & qu’il étoit d’agathe alamée noire & blanche, sur laquelle étoit d’un côté taillée l’image de ce Prince, & de l’autre étoit la figure de Judith, cette Amazone Juïfve, qui delivra son Païs de la crainte qu’il avoit d’Holophernes.27 26 Sirot, Mémoires, Bd. 1, 170–174. 27 Ebd., 175. Übersetzung des Verfassers: »Ich wollte es nicht behalten, sondern ich machte es zu einem Geschenk an Herzog Franz Albrecht von Sachsen, meinen Obersten, welcher es dem Hüter der Juwelen des Herzogs von Mantua zeigte, bei welchem er logierte, der ihm sagte, dass es sich um das seltenste Stück des ganzen Kabinetts des Fürsten und um ein Geschenk handelte, das ein König von Persien den Herrschern

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Sobald das Objekt wieder in fürstlichen Besitz gelangt war, wurde es Gegenstand einer umfassenden Resemiotisierung, die mit großer Wahrscheinlichkeit ausgerechnet der seit dem Ende des 16. Jahrhunderts in den Diensten der Herzöge von Mantua stehende Verwalter der mobilen Güter des Fürstenhauses, der »guardarobbiere maggiore delle gioje et delle gallerie« bzw. »guardarobiere capo« Giulio Campagna,28 in die Wege leitete: Das Stück wurde als diplomatisches Geschenk eines Königs von Persien und als das seltenste Gut der Gonzaga-Sammlung deklariert, weil es sich nach einer alten Vorstellung um das Salbgefäß König Salomos handele. Seine Ikonographie wurde folglich alttestamentlich gelesen: Der genannte biblische König und die biblische Heroine Judith seien auf den beiden Seiten dargestellt. Die Hervorhebung Judiths als »jüdische Amazone«, die ihr Land befreit, macht deutlich, dass die kriegerische Eroberung Mantuas und der militärische Kontext fast sämtlicher Akteure auch Einfluss auf die Bedeutungszuweisung haben, die ein Objekt und dessen Bildwelt in einer solchen Situation erfahren. Nichts davon findet sich, wie oben aufgezeigt, in den Inventaren der Gonzaga-Sammlung. Als Rechtsdokumente sind diese auch nicht zwingend der Ort für weitergehende inhaltliche Beschreibungen, obwohl eine solch spektakuläre Provenienz sich auch in den Gonzaga-Inventaren hätte niederschlagen müssen. So geben nur der prominente Ort innerhalb der Grotta und die Positionierung innerhalb des Stivini-Inventars Hinweise auf die herausragende Stellung des Onyxgefäßes. Auch ist der Eingang des Stückes in den Kunstbesitz der Gonzaga nach heutigem Forschungsstand, wie ebenfalls bereits erwähnt, nicht das Ergebnis eines diplomatischen Aktes durch den Herrscher einer Großmacht des Nahen Ostens, sondern eines Ankaufs im Jahre 1506 gewesen. Es ist also auf der Grundlage der momentanen Kenntnisse völlig unklar, wie diese Deutung des Kunstwerks als Salbgefäß König Salomos entstand und woher sie stammt. Womöglich handelt es sich um ein innerhalb der mantuanischen Sammlung und unter ihren Akteuren entstandenes und tradiertes Wissen oder auch nur um die Phantasie eines einzelnen Guardarobiere. Angeblich stellte dieser, was später noch eine Rolle spielen wird, sogar ein schriftliches Gutachten von Mantua gesandt hatte, der sich vorstellte, diese dadurch besonders zu beehren, weil man glaubte, dass es das erste Gefäß war, mit dem der König Salomo gesalbt wurde und weil es aus schwarz und weiß ›durchwirktem‹ [?] Achat war, auf welchem auf einer Seite das Bild diesen Fürsten eingeschnitten war. Und auf der anderen war die Figur der Judith, dieser jüdischen Amazone, die ihr Land von der Angst befreite, die es vor Holofernes hatte.« 28 Vgl. d’Arco, Carlo (Hg.), Due cronache di Mantova dal MDCXXVIII al MDCXXXI, la prima di Scipione Capilupi, la seconda di Giovanni Mambrino, in: Raccolta di cronisti e documenti storici lombardi inediti, Bd. 2, Mailand 1857, 465–680, hier 553; Morselli, Raffaella, »Il più grande edificio principesco del mondo«. Storia e fortuna delle collezioni ducali da Guglielmo Gonzaga al sacco di Mantova, in: dies., Collezioni Gonzaga, 35–173, hier 54, 63, 77, 78, 83, 96, 104, 112–117, 125, 144, 155, 161; Piccinelli, Roberta, The Position of Artists at the Gonzaga Court (1587–1707), in: Fumagalli, Elena/Morselli, Raffaella (Hg.), The Court Artists in Seventeenth-Century Italy, Rom 2014 (Kent State University European Studies 1), 167–198, hier 178–179, 181, 183.

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über das Stück aus, das sich allerdings nur in einer deutschen Abschrift erhalten hat und aus diesem Grund auch eine Fälschung sein kann: Den 10. Octob: 1630. In Mantua Ich vnterschriebener bekenne hiermit, daß ich beÿ N.N. gesehen habe ein geschirr gearbeitet von Agato Gameo, mit reinen güldenen bändern beschlagen, welches geschirr vor diesem den Hertzogen zu Mantua zuestendig, Vndt von Ihnen vor eines der außerwähltisten vndt liebsten Sachen, so sie gehabt, gehaltten worden, beÿder wegen seiner Schönheit vndt antiquitet, dann Sie es gewiß dafur gehaltten, daß es eines von den geschirren auß dem Tempell Salomonis seÿ, Vndt gedachte Hertzogen hetten sich deßen vmb groß geldt so Sie davor haben können, nicht begeben, Vnd daß dieses also vndt die warheit seÿ, habe ich dieses zum Zeugnuß von mirr gegeben, vndt eigenhändig vnterschrieben Im Jahr vndt tag wie oben Julius Campagna Schatzmeister der Hertzogen von Mantua.29 Wie auch immer es sich mit diesem Gutachten verhält: Der gewaltsame Akt der Plünderung und der dadurch vollzogene Besitzerwechsel bewirkten eine nachhaltige und umfassende Resemiotisierung des Objekts, die in den folgenden Jahrzehnten die Wertzuweisungen durch die verschiedenen mit dem Onyxgefäß konfrontierten Akteure und den Umgang mit ihm bestimmte. Herzog Franz Albrecht war immerhin so vorsichtig, weitere Expertisen einzuholen, und zeigte das Stück Mailänder Juwelieren, die es auf 20.000 Dukaten schätzten. Der Baron de Sirot erhielt daraufhin von ihm 2000 Dukaten, die allerdings auch als Aufwandsentschädigung und Gunstbeweis für die Loyalität des Franzosen gegenüber Franz Albrecht bei den internen Rivalitäten der kaiserlichen Offiziere verstanden wurden.30 Angesichts des Umstands, dass eine solche Schätzung auf dem Kunstmarkt zunächst einmal realisiert werden musste, war diese Summe keine schlechte Gegenleistung für ein Geschenk. Denn das Stück umgehend wieder gewinnbringend zu veräußern, scheint auch die Absicht des Lauenburger Herzogs gewesen zu sein, selbst wenn die Quellen hierzu etwas widersprüchlich sind: 1636 bekundete der englische Diplomat und Kunst29 NLA W, VI Hs 17, Nr. 4, fol. 74r. Weitere Abschrift: Ebd., 1 Alt 5, Nr. 680, fol. 2r. 30 Vgl. Sirot, Mémoires, Bd. 1, 175–176: »Un jour que le Duc Franc-Albert étoit à Milan, il montra aux ­Joüailliers de cette Ville là, qui la luy estimerent vingt mille ducats. Alors le Duc se crut obligé d’entrer en reconaissance du present que je luy avois fait, & il m’envoya deux mille ducats, qui me servirent à ­fournir aux frais des procedures, & des informations qu’il me falut faire en l’affaire que j’eus contre le Baron ­Distrestein & Adstringhen.«

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sammler Thomas Howard, Earl of Arundel (1585–1646), jedenfalls Interesse an dem kunstvoll geschnittenen Gefäß, wie er am 16. September 1636 aus Regensburg an William Petty in Rom schrieb: I haue not seene one Colloredoe, who was sayde to haue somethinge he gotte at Mantoa, nor Duke Franc: Alberte of Saxe (whoe is nowe with the Elector of Saxe), whoe I heare hath two little bottles of Aggathe, wch he had there, but will not sell them, but I sawe a rare heade greate in basso relieuo of Alexander & a woman wch he had there, & will, I beleeve, present it unto ye Empresse […].31 Dass hier von zwei Onyxfläschchen die Rede ist, verwundert angesichts der großen Beute in Mantua kaum, nur muss dieses zweite Stück von wesentlich geringerer Bedeutung gewesen sein, da es ansonsten anscheinend nur noch einmal aktenkundig geworden ist. Die Nennung des Habsburger Feldmarschalls Rudolf von Colloredo-Waldsee, der sich ebenfalls in Mantua bereichert hatte, macht zudem nochmals die Rolle dieser Militärs bei der Neuverteilung der Kunstobjekte infolge des Dreißigjährigen Krieges deutlich. Einem Sammler wie Arundel war dies, wie die Briefstelle belegt, bei der Akquise neuer Werke durchaus bewusst. Systematisch scheint er hierzu die möglichen Quellen durchforstet zu haben. Seine Informationen über die Onyxfläschchen beruhten nur auf Hörensagen, genauso wie der Umstand, dass Herzog Franz Albrecht diese nicht verkaufen wolle. Ein Zusammentreffen des englischen Earls, eines eher preisbewussten Kunstfreunds, mit dem von hochfliegenden Preisvorstellungen angetriebenen Lauenburger hätte vermutlich auch keinen Handel zur Folge gehabt.32 Möglicherweise hatte der Herzog auch für das Onyxgefäß im Sinn, was Arundel für das »basso relieuo of Alexander & a woman« andeutet, es nämlich mit Kaiserin Eleonora (1598–1655) einer ranghöheren Adressatin zu schenken. Die Monarchin war eine gebürtige Gonzaga. Mitte des Jahres 1638 sind dann doch Verkaufsbestrebungen Franz Albrechts von Sachsen-Lauenburg gegenüber einem »englischen Gesandten« belegt, mit dem er über seinen Rat Johann Milden in Altona in Kontakt stand.33 Zuvor scheint er das Stück bereits an 31 Zitiert nach: Springell, Francis C., Connoisseur and Diplomat. The Earl of Arundel’s Embassy to Germany in 1636 as Recounted in William Crowne’s Diary, the Earl’s Letters and Other Contemporary Sources with a Catalogue of the Topographical Drawings Made on the Journey by Wenceslaus Hollar, London 1963, 253. Vgl. Brown, Isabella d’Este Gonzaga’s Augustus and Livia Cameo, 92–93; Morselli (Hg.), Gonzaga, 289–290 (Katalog-Nr. 79, Paola Venturelli); zu Arundel: Howarth, David, Lord Arundel and his Circle, New Haven/ London 1985. 32 Vgl. zu Arundels preisbewusstem Erwerbungsverhalten: Keblusek, Marika, A Frugal Man in the Kunstkammer. Cultural Exchanges between Thomas Howard, Earl of Arundel, and Philipp Hainhofer, in: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 41 (2014), 95–110, hier 109. 33 Mack, Zur Geschichte des Mantuanischen Onyxgefäßes, 2.

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seinen Konkurrenten innerhalb der kaiserlichen Truppen, General Johann von Aldringen, zu veräußern versucht zu haben, nur habe dieser mit 23.000 Reichstalern ein zu geringes Angebot gemacht. Im Januar 1641 deponierte Franz Albrecht das wertvolle Kleinod bei dem Gastwirt des »Lion Bianco« in Venedig, Johannes Schuster, der am 12. April des Jahres den Herzog dazu aufforderte, für den Fall einer sich bietenden Verkaufsgelegenheit einen Mindestpreis zu benennen, da der Gesandte des Großmoguls von Indien nach Verhandlungen in Konstantinopel in der Stadt erwartet werde.34 Die imaginierte Herkunft der Kameenvase aus dem Mittleren Osten als Geschenk des Königs von Persien kodierte diese offenkundig als potenzielles Sammelobjekt für einen asiatischen Kunden.

4. Erbstück und ›Ladenhüter‹ 1640 hatte der fürstliche Heerführer die Herzogin Christine Margarete von Mecklenburg-­ Güstrow (1615–1666) geheiratet,35 der er in einem ein Jahr später aufgestellten Testament seinen gesamten Nachlass vermachte.36 Der Erbfall trat am 10. Juni 1642 ein, als Herzog Franz Albrecht nach der Schlacht von Schweidnitz, in die er als kaiserlich-sächsischer Kommandeur gegangen war, in schwedischer Gefangenschaft verstarb. Für die hier gerade beschriebenen wie für die noch zu schildernden das Onyxgefäß betreffenden Veräußerungsversuche und Erbansprüche ist eine in diesem Beitrag noch nicht ausführlicher gewürdigte Quellengattung relevant, aufgrund derer die Objektbiographie des antiken Kunstwerks weiter rekonstruiert werden kann. Neben dem Inventar, dem eng damit in Zusammenhang stehenden Testament und den für solche Fragestellungen bislang wenig rezipierten, aber hier erfrischend ergebnisreichen Memoiren ist der Brief nun das Medium, das in der Geschichte der Dinge eine bedeutende Übermittlerrolle spielt. Die weiteren Geschicke des Mantuanischen Onyxgefäßes ab 1640 bis in das 19. Jahrhundert hinein lassen sich vor allem auf der Grundlage des eingangs genannten Konvolutes solcher Korrespondenzstücke aus der Sackschen Sammlung beschreiben.37 Herzogin Christine Margarete musste ihre Erbansprüche zunächst gegenüber dem Wirt des »Lion Bianco« durchsetzen. Dieser verweigerte anfänglich die Herausgabe der 34 NLA W, VI Hs 17, Nr. 4, fol. 65; Mack, Zur Geschichte des Mantuanischen Onyxgefäßes, 2. Herzog Franz Albrecht gab in seiner Antwort an Johannes Schuster den Mindestverkaufspreis für das Onyxgefäß mit 12.000 Kronen an. 35 Vgl. zu deren Biographie: Bepler, Jill, Christine Margarete, Herzogin von Mecklenburg-Schwerin, geb. von Mecklenburg-Güstrow, in: Jarck, Horst-Rüdiger (Hg.), Braunschweigisches Biographisches Lexikon. 8. bis 18. Jahrhundert, Braunschweig 2006, 143–144. 36 NLA W, VI Hs 17, Nr. 4, fol. 60r–64r. Schriftliche Bestätigungen dieses Dokuments nach dem Tod des Erblassers vom September/Oktober 1642 durch die Testamentszeugen finden sich ebd., fol. 65r–73r. 37 Vgl. dazu die obigen Angaben in Anm. 4.

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Onyxkanne, da sie nicht ausdrücklich im Testament Erwähnung finde, ein Bruder des Verstorbenen, Herzog Franz Karl, das Stück für sich reklamiere und weil der Gläubiger eines anderen, bereits verstorbenen Bruders namens Stephan Koch es unter Sequester gestellt habe. Erst durch kaiserliche Intervention erreichte die Witwe Ende September 1643 die Aushändigung des Onyxes an die dazu bevollmächtigten Kaufleute Georg Ebertz d.Ä. und Mitverwandte in Venedig. Allerdings war ein bereits benannter, mit der Weiterbeförderung beauftragter Gewährsmann der Herzogin schon abgereist, wie sich aus der sich nun entspinnenden Korrespondenz zwischen den Kaufleuten Ebertz, den Agenten Christine Margaretes in Wien, Zacharias Quetz, und Hamburg, Georg und Hans Hainz, sowie der Herzogin selbst ergibt. Die entstandene Verzögerung nutzten wiederum zwei Brüder des Lauenburgers, die Herzöge Julius Heinrich und Franz Karl, die persönlich in der Lagunenstadt erschienen und die Herausgabe des Onyxgefäßes verlangten. Die Ebertz gerieten somit zunehmend in eine Zwangslage: Ihnen war untersagt, die Preziose an die hochrangigen Anspruchsteller auszuhändigen, sie durften sie aber auch nicht versenden. Letzteres wurde schließlich am 19. Januar 1644 beschlossen; als Empfänger wurde die Firma ›Georg Drieben sel. Erben‹ in Augsburg benannt. Doch die Ebertz zögerten und erklärten schließlich am 25. März gegenüber den Gebrüdern Hainz in Hamburg, dass die »Versendung […] bisher untunlich gewesen [sei]; dies Geschäft mache ihnen wenig Freude, und sie würden sich gar nicht darauf eingelassen haben, wenn sie die damit verbundenen Ungelegenheiten vorher gekannt hätten; es habe sich nämlich vor kurzem ein Fürst von Sachsen-Lauenburg bei ihnen als rechtmäßigen Besitzer des Geschirrs angegeben und ihnen gedroht, er werde ihnen genug Kosten machen, falls sie es aus den Händen ließen, ähnlich hätten andere Fürsten gesprochen, und mit solchen Herren lasse sich doch nicht scherzen; obendrein sei nun auch noch des Herzogs Julius Heinrich Gemahlin eingetroffen, habe sich auf das in ihren Händen befindliche rechte und letzte Testament Herzogs Franz Albrechts berufen, in dem das Geschirr ihrer Mutter zugesprochen sei, und gestützt auf deren Vollmacht seine Auslieferung verlangt; bisher hätten sie derartigen Anforderungen die Behauptung entgegengehalten, das Geschirr sei nach Deutschland gesandt, doch würden sie die Wahrheit gestehen müssen, wenn man noch weiter in sie dringe; man möge ihnen also baldige weitere Befehle und glaubhafte Beweise zukommen lassen.«38 Das erwähnte neu aufgetauchte Testament in Form eines auf den 16. April 1642 in Wien datierten Schreibens Herzog Franz Albrechts an seinen Bruder Julius Heinrich – in den 38 Zitiert nach der indirekten Wiedergabe bei Mack, Zur Geschichte des Mantuanischen Onyxgefäßes, 3. Vgl. auch die umfangreiche diesbezügliche Korrespondenz in: NLA W, 1 Alt 5, Nr. 680.

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Quellen »militärisches Vermächtnis« genannt –, stellte sich im weiteren Verlauf als eine krude Fälschung heraus, die mithilfe eines Wiener Geistlichen, der in den Dokumenten als Barnabitenpater Julian erscheint, aufgedeckt wurde. Dieser war seinerseits von der Mutter der dritten Gemahlin Herzog Julius Heinrichs und Begünstigten dieses vorgeblichen Testaments in Bezug auf das wertvolle Gefäß, Benigna Katharina Popel von Lobkowitz (1594–1653), unter Vorspiegelung falscher Tatsachen zur Niederschrift dieses gefälschten Schreibens angeleitet worden, das mit einem nachgeschnittenen Petschaft Franz Albrechts gesiegelt worden war. Vor dem Reichshofrat in Wien wurden ihr diese Vergehen zwar nachgewiesen; der Prozess gegen sie wurde aber durch den Kaiser im Januar 1646 niedergeschlagen, wie der Agent der Herzogin Christine Margarete in Wien, Andreas Neumann, berichtete, angeblich wegen ihrer Beteiligung an der Verschwörung gegen Wallenstein.39 Das rare »mantuanische Geschirr«, wie es häufig in den Quellen genannt wird, hatte Herzogin Christine Margarete endlich im Juni 1644 nach Deutschland transportieren lassen können. Nachdem sie vehement bei den Ebertz insistiert hatte, hatten diese eine günstige Gelegenheit gefunden und es nach Augsburg gesandt. Damit kamen sie einer kaiserlichen Anordnung zuvor, die anlässlich des zu diesem Zeitpunkt noch anhängigen Prozesses aufgrund des zweiten ›Testaments‹ die Aushändigung des Streitobjekts an eine der beiden Parteien eigentlich unterbinden wollte. Von der schwäbischen Handelsmetropole wurde das in der diesbezüglichen Korrespondenz vermutlich zu Tarnzwecken nur als »mobile«40 bezeichnete Kunstwerk in einem »Kistlein« nach Nürnberg gebracht, dort in einem von Franken nach Hamburg zu liefernden Fass mit Barchent versteckt und weitertransportiert. Die Gebrüder Hainz übergaben es dem Sekretär der Herzogin Christine Margarete, und Anfang Oktober 1644 konnte diese es dann in ihren Händen halten.41 Umgehend versuchte auch Franz Albrechts Witwe, das kostbare Erbstück zu veräußern, so dass es weiter Gegenstand der Korrespondenz mit ihrem Wiener Agenten Neumann blieb. Aufgrund der desolaten wirtschaftlichen Lage im Reich riet dieser ihr in einem Schreiben vom 24. April/4. Mai 1645, die Kameenkanne in Italien anzubieten, da sie andernfalls nicht einmal den ursprünglich gezahlten Preis würde erzielen können. Sein Blick richtete sich vor allem auf die Barberini, die sich nach dem Tod Urbans VIII. im Juli 1644 in Gegnerschaft zu dessen Nachfolger, dem Pamphilj-Papst Innozenz X., befanden und somit für den Erwerb eines hochrangigen diplomatischen Geschenks zur 39 Vgl. Mack, Zur Geschichte des Mantuanischen Onyxgefäßes, 4, 5–7; eine Abschrift des gefälschten Testaments nach einer alten Kopie ebd., 4. Zu den Vermächtnissen und Erbstreitigkeiten vgl. auch NLA W, 1 Alt 5, Nr. 677. 40 Da diese Bezeichnung nur in der Korrespondenz zum Transport vorkommt, scheint die Absicht, die eigentliche Qualität des Objekts unbestimmt zu lassen, vorrangiger Zweck zu sein. Inwieweit damit auch auf die erbrechtlich relevante Kategorie der mobilia Bezug genommen wird, bleibt unklar. 41 Vgl. Mack, Zur Geschichte des Mantuanischen Onyxgefäßes, 4–5.

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Wiedergewinnung kurialer Gunst durchaus infrage kommen konnten. Als notwendige Bedingung hierfür benennt er allerdings ein Gutachten, das die Herkunft des Onyxes aus dem Tempel Salomos bestätigen möge. Falls ein solches nicht vorhanden sei, werde er versuchen, über den Geistlichen, der bereits bei der Aufklärung des Testamentsbetrugs behilflich gewesen sei, ein entsprechendes Dokument aus Mantua zu erhalten. Doch die Herzogin konnte selbst ein entsprechendes Testat liefern. Neben einer Zeichnung des Gefäßes übersandte sie am 23. Mai eine Abschrift des oben zitierten Gutachtens mit Datum vom 30. Oktober 1630, in dem der Guardarobiere des Herzogs von Mantua, ­Giulio Campagna, dessen Herkunft aus der Kunstsammlung der Gonzaga und deren hohe Wertschätzung des Objekts bezeugte, da sie der festen Auffassung gewesen seien, dass die Kanne einstmals zur Ausstattung des ›Templum Salomonis‹ gehört habe. Allerdings konnte die Herzogin das Original dieses Schriftstücks nicht beibringen, so dass sie eine erneute Erkundigung des genannten Paters in Mantua oder auch bei der Kaiserinwitwe Eleonora Gonzaga befürwortete. Diese Fürstin, die ihre Jugend in der Residenz am Mincio zugebracht hatte, bekundete laut Neumann zwar mehrfach ihr Interesse an dem Familienstück, beklagte aber die mangelnden Finanzen des kaiserlichen Hofes, die einem Kauf zu dem wohl inzwischen von Christine Margarete geforderten Preis im Wege stünden. Ähnlich äußerte sich gegenüber dem Agenten am 21./31. Oktober 1647 auch der Herzog von Mantua aus der jetzt regierenden Linie Gonzaga-Nevers, Carlo II. (1629–1665), weswegen eine Rückkehr des Kleinods in die Sammlungen der oberitalienischen Dynastie nicht weiter verfolgt wurde.42 Erst Ende 1655 ist in den Quellen wieder von einem Kaufinteresse an dem seltenen antiken Stück die Rede: Herzogin Christine Margarete, die inzwischen am Hof ihres Schwagers Herzog Augusts d. J. zu Braunschweig-Lüneburg in Wolfenbüttel lebte, erreichte eine Anfrage von Magdalena Sibylla von Sachsen (1617–1668), in zweiter Ehe seit 1652 Herzogin von Sachsen-Altenburg,43 die wegen des »klein kenlein […] von einem for nemen ort angesprochen worden« sei.44 Ein solcher Interessent könnte ein Verwandter der sächsischen Prinzessin und verwitweten Kronprinzessin von Dänemark in Dresden oder Kopenhagen gewesen sein, wenn sie verdeckt nicht doch für sich selbst nachfragte. Die Antwort Christine Margaretes war ebenso vorsichtig: Eigentlich wolle sie die Preziose gar nicht veräußern, aber aufgrund ihrer gegenwärtigen finanziellen 42 Vgl. ebd., 16. 43 Vgl. zu Magdalena Sibylla von Sachsen: Wade, Mara R., Magdalena Sibylla von Sachsen. »Ein im Glück und Unglück Frewde und Traurigkeit […] geübter Mensch«, in: Kappel, Jutta/Brink, Claudia (Hg.), Mit ­Fortuna übers Meer. Sachsen und Dänemark – Ehen und Allianzen im Spiegel der Kunst (1548–1709) (­Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden 24. Aug. 2009– 4. Jan. 2010), Berlin/München 2009, 175–179. 44 NLA W, VI Hs 17, Nr. 4, fol. 124r–v.

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Situation würde sie sie, obwohl schon einmal 60.000 Dukaten dafür geboten worden seien, für die Hälfte hergeben.45 Damit scheint die Kauflust der Altenburgerin bzw. der hinter dem Angebot stehenden ungenannten Person bereits wieder erloschen zu sein, zumindest sind keine weiteren Verhandlungen bekannt. Der nächste (und letzte) großangelegte Veräußerungsversuch Christine Margaretes ist dann für die erste Hälfte der 1660er Jahre belegt. Zum einen wurde Gerhard ­Mercator in Hannover als Agent beauftragt, nachdem er nach einer durch den Hofprediger Appelius vermittelten Besichtigung des Onyxgefäßes in Wolfenbüttel angeboten hatte, entweder persönlich in Frankreich oder »durch ­correspondentz in Italien« einen finanzkräftigen Käufer zu finden. Die Herzogin machte in einem Brief­entwurf vom 19. Januar 1663 zur Bedingung, dass der Preis nicht unter 50.000 Reichstalern liegen dürfe, und bot dem Agenten im Falle eines erfolgreichen Geschäftsabschlusses eine Provision von fünf Prozent des in bar erhaltenen Verkaufserlöses. Dem Schreiben wurden Zeichnungen des Mantuanischen Gefäßes sowie eines weiteren, kleineren »Geschirrs« beigelegt, Letzteres vielleicht die zweite »bottle of Aggathe«, die Arundel 1636 erwähnte.46 Zum anderen versuchte die Herzogin selbst noch einmal, wohl um die Provision zu umgehen, das »Geschirr« direkt zu veräußern, wie ein nur fragmentarisch erhaltenes, an Ludwig XIV. von Frankreich gerichtetes Briefkonzept belegt. Darin nennt sie wiederum 50.000 Reichstaler als Preis und verweist darauf, »daß ihr einst, als ein venetianischer Bürger das Kleinod für sie in Gewahrsam gehabt, der erste Minister des Königs von Hindostan vergeblich 150000 Tlr dafür geboten habe«, womit sie die seinerzeitige Mitteilung von Johannes Schuster etwas »konkreter« darstellte, als es der Fall war, aber mit dem Potentaten aus dem ­Mittleren Osten eine durchaus zutreffende Referenzgröße für den französischen Monarchen ins Spiel brachte.47 Daneben engagierte sich ihr Stiefneffe Herzog Anton Ulrich zu Braunschweig-­Lüneburg (1633–1714) bei dem Versuch, für das Onyxgefäß in Frankreich einen Käufer zu finden. In einem undatierten Schreiben an ihn versprach ein gewisser Miniers (?), dort den Verkauf »du vaze de S.A. Madame la Duchesse de Meklenbourg« an »S.E.« voranzutreiben,48 wobei »S.E.« hier wahrscheinlich als »Son Éminence« aufzulösen ist und somit vermutlich der im März 1661 verstorbene Kardinal Mazarin für das Sammelstück interessiert werden sollte. Dann würde dieser Verkaufsversuch mindestens zwei Jahre vor dem Engagement

45 Ebd., fol. 126r. Vgl. Mack, Zur Geschichte des Mantuanischen Onyxgefäßes, 16. 46 NLA W, VI Hs 17, Nr. 4, fol. 129r–v. Vgl. Mack, Zur Geschichte des Mantuanischen Onyxgefäßes, 17. 47 Mack, Zur Geschichte des Mantuanischen Onyxgefäßes, 17 (mit Zitat). Vgl. NLA W, VI Hs 17, Nr. 4, fragmentiertes Blatt zwischen fol. 151 und fol. 152. 48 NLA W, VI Hs 17, Nr. 4, fol. 130r–131v. Der Brief ist in zwei Fassungen von unterschiedlichen Händen erhalten. Die Unterschrift des Verfassers ist schwer lesbar.

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Mercators datieren und nahelegen, dass noch weitere Bemühungen dieser Art unternommen wurden.49 Mazarins politische Karriere hatte ihren Ausgangspunkt im Mantuanischen Erbfolgekrieg als Diplomat des Barberini-Papstes Urban  VIII. genommen. Nachdem er 1642 regierender Minister des französischen Königs geworden war, bemühte er sich, wichtige Gemälde aus dem Verkauf der Güter Karls I. von England durch den Commonwealth in seinen Besitz zu bringen, die der englische König 1627/1628 wiederum aus der Gonzaga-­ Sammlung erworben hatte. Allein waren die politischen Umstände ungünstig, denn als der Englische Bürgerkrieg zuende ging und 1650/1651 der ›Sale of the Century‹ stattfand, war Mazarin selbst durch die Wirren der Fronde in seinem Aktionsradius dermaßen eingeschränkt, dass die Agenten des spanischen Königs die meisten Gemälde aus der Sammlung Karls I. an sich bringen konnten: ein diplomatischer Stellvertreterkrieg um prestigeträchtige Objekte, die das Hegemoniestreben der jeweiligen Mächte repräsentieren konnten.50 Mit Mazarin wäre eine weitere bedeutende Sammlerpersönlichkeit des 17. Jahrhunderts in die Verkaufsverhandlungen um die seltene Onyxvase involviert gewesen, ein abermaliger Beleg für die Effizienz von Agenten-Netzwerken und fürstlichen Informationskanälen in der Zeit während und nach dem Dreißigjährigen Krieg.

5. Sammlungsstück und Forschungsgegenstand Am 16. August 1666 verstarb Herzogin Christine Margarete in Wolfenbüttel. Das Onyx­ gefäß fiel als Erbe an ihre Schwester Herzogin Sophie Elisabeth, Gemahlin Augusts d. J. zu Braunschweig-Lüneburg, und nach deren Tod 1676 an ihren Sohn Ferdinand Albrecht I. (1636–1687), der von seinen Halbbrüdern weit vom Regierungssitz entfernt mit dem Schloss Bevern an der Weser und einer Apanage abgefunden worden war. Dort hatte er

49 Vgl. Mack, Zur Geschichte des Mantuanischen Onyxgefäßes, 17. Herzogin Christine Margarete wird hier aufgrund ihrer 1650 geschlossenen zweiten Ehe mit Christian Ludwig von Mecklenburg-Schwerin als »Duchesse de Meklenbourg« bezeichnet. 50 Vgl. Brown, Jonathan, Kings and Connoisseurs. Collecting Art in Seventeenth-Century Europe, New Haven/London 1995, 185–188. Zum Verkauf der Sammlung Karls I. von England: MacGregor, Arthur (Hg.), The Late King’s Goods. Collections, Possessions, and Patronage of Charles I in the Light of the Commonwealth Sale Inventories, London/Oxford 1989; Brown, Jonathan/Elliott, John (Hg.), The Sale of the Century. Artistic Relations between Spain and Great Britain, 1604–1655 (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Museo del Prado Madrid, 15. März–2. Juni 2002), New Haven/London 2002; Haskell, Francis, The King’s Pictures. The Formation and Dispersal of the Collections of Charles I and his Courtiers, New Haven/ London 2013. Einen umfangreichen Überblick zu Mazarin als Sammler bietet: Patrick Michel, Mazarin, Prince des collectionneurs. Les collections et l’ameublement du Cardinal Mazarin (1602–1661). Histoire et analyse, Paris 1999 (Notes et documents des Musées de France 34).

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eine Kunstkammer installiert, deren Glanzstück der Onyx wurde.51 In Ferdinand Albrechts 1677 veröffentlichter Schrift Sonderbahre Andächtige Gedancken ist die Beschreibung dieser Sammlung, des Techophilacium Ferdinandaeum Albertinum, enthalten, darin an prominenter Stelle das Onyxgefäß: Noch in einem ziervergüldetem schwartzen Schrancken allerhand kostbahre schöne Raritäten/darunter das also genante Mantuanische Geschirr zu sehen/welches an den tapfferen Helden Hertzog Frantz Albrechten gewesenen Keyserl Feldmarschalln/da er Mantua erobert/alß das pretiosiste und rareste in der Weltberühmten Mantuanischen Schatzkammer gediehen/von Ihme/nach seinem Todt/auff dessen Frau Gemahlin die Weyland Durchleuchtige Fürstin Frau Christinam Margaretham gebohrne Hertzogin zu Mecklenburg/kommen/darauff per testamentum auff dero Frau Schwester die auch Weyland Durchleuchtige Fürstin Frau Sophien Elisabeth gebohrne Hertzogin zu Mecklenburg/Fürstin zu Wenden/Schwerin und Ratzenburg/auch Gräfin zu Schwerin/ der Lande Rostock und Stargard Frau/des Erfinders [sc. Herzog Ferdinand Albrecht] numehr höchstseligste Frau Mutter gefallen/jetzund aber als ein praelegatum laut des Fürst Mütterlichen Testaments und Codicillen auff den Erfinder selbsten devolviret. Dieses rare und kostbahre Geschirr befindet sich in einem grünen/mit Sammet in und außwendig gefuttertem Futterall mit einer silbernen Schnur umbher besetzt/dessen Handgriff/Fuß/Döpfgen [sc. Deckel]/Schnepfgen [sc. Ausguss] und clausuren, besag derer dabey befindlichen Akten von purem Gold auß Ophir [sc. sagenhaftes Land, aus dem König Salomo Gold bezog]/umb und umb mit alten Bildnissen und f­ ascibus Romanis außgezieret; der Stein hat wegen rar- und pretiosität bey taxirung der Fürstlichen Erbschafft vom Jubilirer nicht können geschätzet/vielweniger wegen der vielen schönspielenden Adern und alten antiquitäten der Bildnissen benahmset werden/Endlich vor ein onyxadonyx erkant worden. Wie die acta besagen/hat man davor schon sechzig biß neuntzig tausend Rthaler geboten/wird in gedachten actis vor hundert und funfzig tausend Rthaler gehalten. Auß offt erwehnten scriptis ersiehet man gleichfals das offterwehntes rare und denckwürdige Mantuanische Geschirr dem König Salomo sey dem König Salomo [sic] auß Aegypten vom König Hyram überschickt/und er darauß gesalbet worden.52 51 Vgl. Fink, August, Herzog Ferdinand Albrecht I. von Braunschweig und die Kunstsammlungen von Bevern, in: Jahrbuch des Braunschweigischen Geschichtsvereins, 2. F. 4 (1931), 16–47, bes. 40, Nr. 36; Bepler, Jill, Barocke Sammellust. Die Bibliothek und Kunstkammer des Herzogs Ferdinand Albrecht zu Braunschweig-Lüneburg (Katalog der gleichnamigen Ausstellung im Zeughaus der Herzog August Bibliothek 28. Mai–30. Dez. 1988), Weinheim 1988 (Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek 57), bes. 130–131 (Katalog-Nr. 128). 52 Zitiert nach: Bepler, Barocke Sammellust, 122–123. Erläuterungen in eckigen Klammern vom Verfasser.

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Der hier angeführte Objekteintrag aus einer autobiographisch gefärbten Kunstkammerbeschreibung, diese wiederum Teil einer Schilderung von Ferdinand Albrechts Schloss Bevern und der dort von ihm angebrachten Embleme,53 ist aus verschiedenen Gründen bemerkenswert: Im Unterschied zum Stivini-Inventar von 1542 ist die Objektbiographie integraler Bestandteil des Objekts, mehr noch, die Biographien des Artefakts und der mit ihm verbundenen Akteure verschmelzen miteinander und steigern einander. Der Ruhm des Beutestücks ließ aus der Retrospektive den damit Beschenkten, zu diesem Zeitpunkt noch nicht im Range eines Feldmarschalls, zum Eroberer von Mantua werden. Auch die »dabey befindlichen Akten« gehören zu dem Objekt, da sie dessen tatsächliche wie legendäre Geschichte bereithalten und Auskunft über seine Beschaffenheit geben. Der deskriptive Zugang erfolgt von außen nach innen, wobei dem Artefakt als solchem noch immer wenig Raum zuteilwird. Trotzdem ist dies die bis dato umfänglichste bekannte Beschreibung des Stückes und von einer eingehenderen Beobachtung geprägt. Ferdinand Albrecht benennt zum Beispiel die altrömischen Fasces, womit sich ein latenter Zweifel an der Herkunft von Salomo verbindet. Diese Provenienz wird erst ganz am Ende konjunktivisch aus der beiliegenden textlichen Überlieferung angeführt und in die zuvor erfolgte Taxierung nicht einbezogen. Zudem weist das Unvermögen des Juweliers, für das Testament einen Schätzwert vorzulegen, auf Spannungen und Probleme bei der Wertbestimmung hin: Zu dem ohnehin schwer zu bestimmenden Kunstwert, der nach Material und künstlerischer Qualität bemessen werden kann, kommt der aus der Objektbiographie, also aus der Abfolge von Eigentümern, Sammlungen und Funktionen resultierende Wertzuwachs, der noch in eine gleichsam magische Dimension einer legendären Herkunft aus dem Salomonischen Tempel verlängert wird. Letztere hatte aber anscheinend an Glaubwürdigkeit eingebüßt, so dass eine geldwerte Veranschlagung der Onyxkanne kaum zu leisten war und enorme Preise kursierten, die dazu beitrugen, dass das Kunstwerk letzten Endes unverkäuflich wurde. Herzog Ferdinand Albrecht war der erste Besitzer nach den Gonzaga, der das Onyxgefäß wieder in einen Sammlungskontext integrierte. Aber auch er gedachte, das kostbare Artefakt nutzbringend für sich einzusetzen: 1677 war sein Sekretär Justus Eberhard Passer am Kaiserhof in Wien, um wieder eine Kaiserin aus dem mantuanischen Fürstenhaus, jetzt die Witwe Ferdinands  III., Eleonora Magdalena Gonzaga-Nevers (1630–1686), für den Erwerb des Familienstücks zu gewinnen. Sein dortiger Agent regte an, die Vase als Gegenleistung für bestimmte Vergünstigungen, unter anderem die Statthalterschaft von Tirol, für den politisch bedeutungslosen, zudem unter dieser Bedeutungslosigkeit leidenden Herzog ins Spiel zu bringen. Offensichtlich mit dem Ziel einer – im Vergleich zur Zeichnung – besseren Visualisierung wurde als dreidimensionales Modell ein bemalter Bleiabguss 53 Diese Schlossbeschreibung ist wiederum nur die »Zugabe« zu einer Gedichtsammlung Ferdinand Albrechts. Vgl. hierzu ebd., 221 (Katalog-Nr. 221).

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nach Wien mitgegeben (Abb. 5). Solche Bleiabgüsse finden sich bereits 1676 in den Inventaren des Witwensitzes von Ferdinand Albrechts Mutter, so dass jene bereits früher zum Zweck der Bewerbung angefertigt worden waren. Trotz des beträchtlichen Aufwands scheiterte auch dieses Vorhaben. 1680 bis 1682 verhandelte der Beverner Herzog mit Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg, doch er erhielt nur ein Angebot über 2000 Reichstaler und nicht das erhoffte politische Amt in Minden. Ein letzter Versuch in Wien im Juli 1681 durch seinen Hofrat Barthold Baltzers blieb ebenso erfolglos.54 Neben der Einbindung in seine Kunstkammer tat Herzog Ferdinand Abb. 5: Abguss des Mantuanischen Onyxgefäßes, Mitte Albrecht noch einen zweiten Schritt, des 17. Jahrhunderts, Blei, farbig gefasst, vergoldet, Herzog der eine Rekontextualisierung des Anton Ulrich-­Museum Braunschweig. Onyx­gefäßes zur Folge hatte. Er ließ es 1682 durch den Bremer Ratssekretär Johann Heinrich Eggeling (1639–1713) wissenschaftlich erforschen und die Ergebnisse publizieren (Abb. 6).55 Darin legte ­dieser die Grundlage für den bis heute gültigen Deutungsrahmen für die Ikonographie des Stückes, indem er Ceres und Triptolemos als Hauptfiguren seiner Bildwelt erkannte. Die legendäre Provenienz aus dem Salomonischen Tempel wird keiner Auseinandersetzung gewürdigt, stattdessen stellt Eggeling fest: Was die Art/Nahmen und Gebrauch desselben betrifft/wird man wol nicht fehlen/wann man es vor ein Heydnisches Opffer-Gefäß ansiehet/und zwar von der Art/welche man Guttos genannt/und aus denen man die so genannten Libamina oder Opffer-Weine zwischen die Hörner des Opffer-Viehs/auf den Altar/und in das Feuer gegossen. 54 Vgl. Mack, Zur Geschichte des Mantuanischen Onyxgefäßes, 17; Bepler, Barocke Sammellust, 130–131, Katalog-Nr. 128. Diesbezügliche Korrespondenz mit Baltzers in: NLA W, VI Hs 17, Nr. 4, fol. 139r–144r. 55 Eggeling, Johann Heinrich, Mysteria Cereris et Bacchi in vasculo ex uno onyche serenissimi et reverendissimi principis ac domini Dn. Ferdinandi Alberti, ducis Brunsvicens. […] per epistolam […] evoluta, Bremen 1682.

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So viel sich von dem Alterthum dieses Kunst-Stücks errahten lässet/muß es gewiß in einem Seculo, da so wohl Kunst/als der Aberglaube der Heydnischen Theologie, im grössesten Flor gestanden/verfertiget seyn.56 Mit der Publikation begann eine neue Karriere des Onyxes, nämlich als wissenschaftliches Streitobjekt, denn die antiquarischen Beobachtungen Eggelings blieben nicht unwidersprochen, ohne dass eine Rückkehr zur These einer Herkunft von Salomo je zur Debatte stand. Es ging um Details, die innerhalb des Wissenschaftskontexts mit großer Heftigkeit diskutiert wurden. So begegnete Eggeling seinem Kritiker an der Leipziger Universität mit einer »Reinigung von dem verleumderischen Geifer und der unerhörten Beleidigung, womit meine Person, Ehre und Werke ohne jede Rücksicht auf christliche Nächstenliebe mit einer geradezu zynischen Unverschämtheit zu besudeln sich unterstanden hat Herr Joachim Feller [1638–1691]«.57 Gegen Ende des 17. Jahrhunderts stabilisierten sich also die Biographie des Onyxes und seine semiotische Verortung zum einen durch die Eingliederung in einen neuen dynastischen Sammlungskontext und zum anderen durch die Einbindung in einen Wissenschaftskontext. Diese Neujustierung von Provenienz und inhaltlicher Dimension reduzierte die Bedeutung des Onyxgefäßes als politisch wirkmächtiges, magisches Objekt in erheblichem Maße, sollte die Verbindung zu König Salomo im Laufe des 17. Jahrhunderts überhaupt noch als glaubwürdig gegolten haben. Zweifel daran bestanden wohl, wie die kritische Einordnung dieser Provenienz in der Beschreibung seiner Kunstkammer durch Herzog Ferdinand Albrecht nahelegt. Eine größere Begierde seitens potenzieller Käufer löste die legendäre Überlieferung ebenfalls nicht aus. Vielmehr scheint der gewaltsame Besitzwechsel als Einzelstück in die Hände wenig bedeutender, nicht regierender Mitglieder norddeutscher Fürstenhäuser seinem Symbol- und damit Tauschwert mehr geschadet zu haben, als ihm die Salomo-­ Legende an Wert zutrug. Die hier dargelegten langwierigen, immer wieder von Neuem und nach ähnlichen Mustern vollzogenen Verkaufsversuche zeugen zwar von einer Informiertheit der Agenten, was mögliche Interessenten und deren eventuelle Intentionen angeht, aber nicht von einem bevorzugten Zugang zu diesen Personen oder etwa von der Fähigkeit, gleichzeitig zwei oder mehr in Konkurrenz zueinander stehende Dynastien für dieses Objekt einzunehmen, um das Prestige und den Preis des Objekts zu steigern. Solche Vorgänge ließen sich aber exemplarisch beobachten anhand des oben geschilderten Wettstreits verschiedener 56 Zitiert nach der deutschen Ausgabe: Eggeling, Johann Heinrich, Kurtze Beschreibung Eines Heydnischen Opffer-Gefässes/Welches gantz aus einem Onyx künstlich geschnitten/In des weyland Durchlauchtigsten, Hochwürdigsten/Fürsten und Herrn/Herrn Ferdinand Albrechts/Hertzogen zu Braunschweig und Lüneburg […] hinterlassener Kunst-Kammer annoch befindlich. Aus einem wieder aufgelegten Lateinschen Tractat heraus gezogen, und zu besonderer Nachricht zum Druck befordert, Braunschweig 1712, 4. 57 Vgl. Fink, Die Schicksale des Onyxgefäßes, 17 (mit Zitat).

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Akteure im »Sale of the Century«, dem Verkauf hochrangiger Kunstwerke aus dem Nachlass Karls I. von England, für ihre jeweiligen Mächte die prestigeträchtigsten Stücke zu ergattern. Gleichzeitig wird an diesem Beispiel deutlich, dass mit dem beginnenden gattungsmäßigen Vorrang von Gemälden in der Kunsttheorie des 17. Jahrhunderts diese auch den Markt für Renommee-Sammlungsstücke zu dominieren begannen, so dass Antiken wie das Onyx sich auf dem Markt gegenüber jenen zu behaupten hatten. Die Folge war, dass das Artefakt trotz zahlreicher Anläufe nicht mehr veräußert wurde. Seine Kodierung als dynastisch gebundenes Objekt bewegte sich im Verlauf des 17. Jahrhunderts von einer Verbindung mit den Gonzaga  – hiervon zeugt das immer wiederkehrende Muster, Mitglieder dieser Familie zu einem Ankauf zu bewegen – zu einer solchen mit dem Abb. 6: Heydnesches Opffer-Gefäß, aus einem Onyx Haus Braunschweig-Lüneburg-Bevern: künstlich geschnitten, Holzschnitt, Herzog August BiblioDie einzige Gelegenheit, bei der doch thek Wolfenbüttel. noch Geld für das Stück fließen sollte, war die Erbregelung von 1766 innerhalb des Fürstenhauses, als die inzwischen in Braunschweig regierende Hauptlinie die Nebenlinie in Bevern ausbezahlte. Das »mantuanische Geschirr« wurde dabei mit 100.000 Reichstalern bewertet, der Rest der Beverner Kunstkammer mit 1000 Reichstalern.58 58 Vgl. Fink, Ferdinand Albrecht I. von Braunschweig und die Kunstsammlungen von Bevern, 31. Die spannungsreiche Biographie des Onyxgefäßes ist damit noch nicht zu Ende: 1830 hatte der während der Revolution aus Braunschweig geflohene Herzog Karl II. von Braunschweig (1804–1873) das Kleinod mit in sein Exil genommen. Es wurde erst 1874 aus Genf zurückgeführt. Während der letzten Monate des 2. Weltkriegs war das Onyxgefäß auf das Schloss Blankenburg im Harz ausgelagert und mit anderen wertvollen Stücken im dortigen Keller eingemauert. Als das Schloss in den letzten Kriegstagen zur Festung erklärt werden sollte, bannte Landeskonservator Kurt Seeleke (1912–2000) die Gefahr nach eigenen Worten wie folgt: »Ich legte ihm [sc. dem Kampfkommandanten General Walter Lucht] während der Unterhaltung

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6. Fazit Die Objektbiographie des Mantuanischen Onyxgefäßes beschreibt ein Kunstwerk, das als Beute sowohl aus seinem langjährigen kulturellen Kontext als auch aus seinem angestammten Ensemble von Kunstgegenständen oder auch einem ›Netzwerk von Dingen‹ transloziert wurde. Dieser Objekttransfer bedeutete demnach zum einen eine Singularisierung des Artekfakts, zum anderen auch einen Kulturtransfer, den der Kunstgegenstand auslöste und diesen zu einem Aktanten werden ließ. Voraussetzung hierfür waren seine Handhabbarkeit und Mobilität, bedingt durch seine Objekteigenschaften Größe, Material und Aufbewahrungsmöglichkeit. Nicht umsonst figuriert die Onyxvase in den ihren Transport nach Deutschland betreffenden Briefen als ein ›mobile‹, wobei gleichzeitig aufgrund ihrer mobilitätsbedingten Gefährdung die Beschaffenheit ihrer Verpackung in einem »Kistlein« thematisiert wird. Durch die Nachzeichnung der Objekt-Überlieferung konnten die verschiedenen, kontextabhängigen Möglichkeiten der Zeichenhaftigkeit von Kunstgegenständen im 17. Jahrhundert dargelegt werden. Das gewaltsam entrissene Onyxgefäß war zunächst einem intensiven Prozess der Resemiotisierung unterworfen, der mit seiner Rekontextualisierung und Aneignung durch Angehörige verschiedener sozialer Gruppen und/oder Vertreter differenter kultureller Praxen und Verortungen einherging und sowohl seine symbolische wie geldwerte Einordnung betraf. Symbolische und materielle Wertzuweisungen gingen in der Vorstellung seiner Besitzer immer überein, auch wenn sich letztere auf dem Kunstmarkt nicht realisieren ließen. Wertzuwachs und Wertverfall eines spektakulären (Kunst-)Dings sind demnach auch das Resultat einer Beziehungsstiftung durch das Objekt, einerseits zu anderen Objekten (›Sammlung‹), andererseits zu Personen (›Gesellschaft‹). Die Biographien von Beutegut scheinen hierin häufig ähnlichen Mustern zu folgen: Nach der Schlacht von Grandson während der Burgunderkriege 1476 soll ein Knabe den sogenannten Florentiner, einen außergewöhnlich wertvollen Diamanten, auf dem Schlachtfeld gefunden und dafür 10 Gulden von den Eidgenossen erhalten haben, die das Stück wiederum in ihrem Beuteinventar auf 20.000 Gulden schätzten. Die Parallelen zu dem Soldaten bei der Plünderung von Mantua, der 17 Ducatoni für die Onyxkanne bekam, sind offensichtlich: Der soziale Rang des Besitzers bestimmte den Wert der Entschädigungsdas kostbare Onyxgefäß aus dem Herzog-Anton-Ulrich-Museum auf den Tisch und bot ihm an, es gegen die Wand zu werfen, für den Fall, daß ihm die Dinge, für die ich mich glaubte einsetzen zu müssen, nichts weiter bedeuten würden. Das stimmte ihn immerhin nachdenklich, und er kündigte, indem er mich wider Erwarten lebendig entließ, seinen Besuch auf dem Schloß an.« (zit. nach Döring, Thomas, Herzogliches Museum – Landesmuseum – Herzog Anton Ulrich-Museum: 1887 bis 1954, in: Luckhardt, Jochen (Hg.), Das Herzog Anton Ulrich-Museum und seine Sammlungen. 1578–1754–2004, München 2004, 254–304, hier 287). Zur Geschichte des Mantuanischen Onygefäßes nach 1700 allgemein vgl. Mack, Zur Geschichte des Mantuanischen Onyxgefäßes, 17–19; Fink, Die Schicksale des Onyxgefäßes, 17–20.

Objektbiographie

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leistung, auch wenn die rechtliche Lage bei Grandson etwas anders als in Mantua war, da die Eidgenossen die meisten Güter als kollektive Beute begriffen, was allerdings in der Realität aufgrund der chaotischen Situation nach der Schlacht kaum umgesetzt werden konnte, und somit spontane, individuelle Plünderungen vorherrschten. Auch die spätere Biographie des Florentiners ähnelt der des Onyxgefäßes in frappierender Weise: Erst nach langen Verkaufsverhandlungen mit verschiedenen Interessenten konnte der Stein 1492 für 5000 Gulden an einen Berner Kaufmann veräußert werden, der ihn über Genueser Kaufleute in fürstlichen Besitz brachte, wodurch er wieder im Wert stieg und der generell höhere Stellenwert kostbarer Dinge in der höfischen Gesellschaft zum Ausdruck kommt.59 Im Gegensatz zum Onyx, und hierin liegt ein Unterschied, blieb der Edelstein aber Teil einer auf Handel und Geldfluss beruhenden Zirkulation, vermutlich weil ein Diamant trotz aller Unwägbarkeiten sicherer zu taxieren war als das durch symbolische und sakrale Werte aufgeladene antike Onyxgefäß.60

59 Vgl. zur Burgunderbeute in diesem Zusammenhang: Jucker, Raub, Geschenke und diplomatische Irritationen, 69–70, 72–73; Jucker, Objektraub und Beuteökonomien, 551–544. 60 Dass Diamanten aber ebenfalls enorme Preisvorstellungen generieren konnten, die letztlich zu ihrer Unverkäuflichkeit führten, belegt u. a. im 18. Jahrhundert die ›Big Diamond Affair‹. Vgl. Trivellato, Francesca, The Familiarity of Strangers. The Sephardic Diaspora, Livorno, and Cross-Cultural Trade in the Early Modern Period, New Haven/London 2009, 251–270 (freundlicher Hinweis von Kim Siebenhüner).

Wissen und Wahrnehmungen

Material und alchemistische Metamorphose Tizians Tod des Aktaion als gemalte Kunsttheorie Berit Wagner

Die zunehmende Wertschätzung materieller Güter in der Frühen Neuzeit wurde sicher nicht zufällig von einer spektakulären Entwicklung in der Malerei begleitet. Die Entdeckung der Dinge in einer sich etablierenden Konsumgesellschaft war mit einem wortwörtlichen Perspektivwechsel verbunden. Materielle Objekte wurden nun mittels unterschiedlicher Darstellungsstrategien optisch dreidimensional wahrnehmbar auf die zweidimensionale Bildebene projiziert und somit für das Betrachterauge zum Verwechseln ähnlich in den Bildraum gestellt. Es sind aber bei Weitem nicht nur die perspektivischen Eigenschaften der Dingwelt, die nun eine mimetische Inszenierung erfuhren, vielmehr entwickelten sich weitere Kategorien von Materialität als Untersuchungs- und Darstellungsgegenstände der Malerei. Oberflächenstrukturen wurden nahezu haptisch erfahrbar; Lichtreflexe breiteten sich täuschend echt auf den dargestellten Objekten aus. Eine solche Malerei stellte den betrachtenden Zeitgenossen die Objekte gewissermaßen als anknüpfungsreiche Diskussionsgrundlage zur Verfügung. Über die semantischen Deutungsebenen der Dinge im Spannungsfeld zwischen symbolischer Aufladung, virtuoser Beschreibung1 und einem ›selbstbewussten‹ Gemälde,2 das bildimmanent seinen Triumph über die Natur zelebriert, wird in der Kunstgeschichte trefflich diskutiert. Unbestritten gilt jedoch, dass innovative Strategien der Sichtbarmachung jeweils mit sich überlagernden Veränderungen der Rezeptions- und Erkenntnisprozesse korrelierten. In dieser Frage ist man sich auch bei Tizian Vecellios (um 1490–1576) Gemälde Tod des Aktaion einig (Abb. 1), das sich allerdings mimetischen Bildanforderungen vehement verweigert und uns im Folgenden aufgrund seiner ›selbstbewusst‹ zur Schau getragenen farblichen Materialität im komplexen Bezugsfeld der materiellen und spekulativen Alchemie bzw. Mythoalchemie interessieren soll. Der erste Teil dieses Beitrags erörtert die Forschungslage bezüglich frühneuzeitlicher Konzepte der Bild- bzw. Gemäldeproduktion – insbesondere an den Rändern der konventionellen Kunsttheorien –, um im Anschluss daran eine Verbindung zu Tizians später, scheinbar unvollendeter Fleckenmalerei herzustellen. 1

Vgl. z. B. Panofsky, Erwin, Studien zur Ikonologie. Humanistische Themen in der Kunst der Renaissance, Köln 1980; Eco, Umberto, I limiti dell’ interpretazione, Mailand 1990. Dort insbesondere zur hermetischen Semiotik, die auch die anschlussfähige, aber somit problematische Auslegung von Gemälden als alchemische Bilder diskutiert, 38–99. Vgl. dazu auch Gabriele, Mino, Alchimia e iconologia, Udine 1997, bes. der methodologische Anhang: Alchimia e storia dell’arte? Zur Darstellung von Objekten als Freude am Besitz sowie Repräsentation künstlerischer Virtuosität siehe Alpers, Svetlana, Kunst als Beschreibung. Holländische Malerei des 17. Jahrhunderts, Köln 1985. 2 Vgl. Stoichiţă, Victor I., Das selbstbewußte Bild – Vom Ursprung der Metamalerei, München 1998.

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Abb. 1: Tizian, Der Tod des Aktaion, 1559–1575, Öl auf Leinwand, 179 × 189 cm, London, National Gallery.

Dabei schließen die Ausführungen an einen Strang der Forschungen an, der sich in das große Feld des material turn in den Kunstwissenschaften in Verbindung mit wissenschaftsund ideengeschichtlichen Fragestellungen einordnen lässt. Aufgezeigt wird damit zugleich, dass der material turn in den kunstwissenschaftlichen Disziplinen teils anders gewichtet ist als in den Geschichts- oder Kulturwissenschaften, die aktuell die Beziehungen der Dinge zueinander oder Objektbiographien bzw. -geschichten als heuristische Methode für sich (wieder-)entdecken. In den Kunst- und Bildwissenschaften, die mehr oder weniger immer mit Objekten beschäftigt waren und sind, konnte dies schwerlich aus den Augen geraten.3 3 In diesem Zusammenhang allerdings auch für die Kunstgeschichte innovativ als eine ›Kulturgeschichte der Dinge‹: Daston, Lorraine (Hg.), Things that Talk. Object Lessons from Art and Science, New York 2004. Die Zirkulation von Kunstwerken als Wissensspeicher betreffend vgl. Dupré, Sven/Lüthy, Christoph (Hg.), Silent Messengers. The Circulation of Material Objects of Knowledge in the Early Modern Low Countries, Berlin 2011.

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Neben der weitverzweigten Diskussion um die Interpretationsfelder auf der zweidimensionalen Bildfläche schafft sich seit geraumer Zeit der materielle Aspekt der Gemäldebetrachtung seinen ansehnlichen Platz. Dabei steht nun nicht mehr nur die abbildhaft inszenierte Materie, sondern vielmehr das Kunstwerk selbst als materielles Objekt bzw. als materieller Bedeutungsträger im Mittelpunkt der Überlegungen. Im Rahmen breit angelegter Materialitätsdebatten wird im Zusammenhang mit Gemälden – über die konventionelle, etwa christliche Materialikonologie hinaus – auch zunehmend Fragen nach der spezifischen Bedeutung oder den cultural logics der verwendeten Materialien sowie deren prozessualer Transformation oder diskursiver Thematisierung im Bild selbst nachgegangen.4 Hauptfelder im Bereich der Malerei sind somit etwa Forschungen zur Physiognomie bzw. Materialität der (gemalten) Farben oder des Bildträgers, zur Rolle des Bildgrundes sowie zur zeitgenössischen Rezeptionsästhetik und zur Theoretisierung bzw. Semantisierung der genannten Aspekte.5 Diese Untersuchungen werden flankiert von Veröffentlichungen zu (alchemistischen) Rezeptsammlungen für die Farb- und Gemäldeherstellung, das heißt zum kunsttechnologischen Know-how, sowie zu dem dafür notwendigen Wissen über das verwendete Ausgangsmaterial. Außerdem wird der weitreichende Material- und Farbhandel – als Folge wachsender Kunstmärkte und der Kommerzialisierung von Gemälden – mitsamt seinen Protagonisten und künstlerischen Austauschphänomenen untersucht.6 4 Vgl. Raff, Thomas, Die Sprache der Materialien. Anleitung zu einer Ikonologie der Werkstoffe, Münster/New York 2008; Wagner, Monika (Hg.), Lexikon des künstlerischen Materials. Werkstoffe moderner Kunst; von Abfall bis Zinn, München 2002; Anderson, Christy/Dunlop, Anne/Smith, Pamela H. (Hg.), The Matter of Art. Materials, Practices, Cultural Logics, c. 1250–1750, Manchester 2014. Dort jeweils auch Ausführungen zu einer theoretischen Fundierung der unterschiedlichen Begrifflichkeiten Materie, Material, Materialität und Materialisierung, die nicht Thema des vorliegenden Aufsatzes darstellt. Siehe auch die Projekte des DFG-Graduiertenkollegs 1678 »Materialität und Produktion« (Düsseldorf). Für eine signifikante Einzelstudie in einem ebenfalls einschlägigen Sammelband siehe Felfe, Robert, Gold, Gips und Linienzug. Kostbare Materialien und Bilder ad vivum in der Kunst des 16. Jahrhunderts, in: Böhme, Hartmut/Endres, Johannes (Hg.), Der Code der Leidenschaften. Fetischismus in den Künsten, München 2010, 197–229. 5 Im Kontext der Alchemie bzw. der Überlegungen zu einem alchemistisch aufgeladenen Farbkonzept vgl. z. B. Meganck, Tine, Der Rotfärber. Peter Paul Rubens und die Alchemie, in: Dupré, Sven/Wismer, Beat (Hg.), Kunst und Alchemie. Das Geheimnis der Verwandlung (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in der Stiftung Museum Kunstpalast Düsseldorf 05. April–10. Aug. 2014), München 2014, 146–154. Zur physischen Affektwirkung auf den Betrachter vgl. Heinen, Ulrich, Haut und Knochen – Fleisch und Blut. Rubens’ Affektmalerei, in: ders./Thielemann, Andreas (Hg.), Rubens Passioni. Kultur der Leidenschaften im Barock, Göttingen 2001, 70–109. Zum Bildgrund vgl. etwa Suthor, Nicola, Transparenz der Mittel. Zur Sichtbarkeit der Imprimitur in einigen Werken Rembrandts, in: Boehm, Gottfried/Burioni, Matteo (Hg.), Der Grund. Das Feld des Sichtbaren, Paderborn 2012, 223–249. Zur Theorie der Farben vgl. stellvertretend die wegweisende Studie von Gage, John, Kulturgeschichte der Farbe. Von der Antike bis zur Gegenwart, London 1994, bes. 139–152. 6 Vgl. Kirby, Jo/Nash, Susie/Cannon, Joanna (Hg.), Trade in Artists’ Materials. Markets and Commerce in Europe to 1700, London 2010; Striebel, Ernst, Das Augsburger Kunstbuechlin von 1535. Eine kunsttechnologische Quellenschrift der deutschen Renaissance, Saarbrücken 2013. Hierbei handelt es sich um

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Allgemein lässt sich feststellen, dass bei dieser Herangehensweise das Gemälde als Untersuchungsgegenstand in seiner materiellen Dreidimensionalität begriffen werden muss und die Geschichte der Malerei – inklusive der Bildträger7 – als eine Geschichte der Farbe bzw. der Metamorphose des Materials geschrieben werden kann.

1. Konzepte des (Gemälde-)Machens in der Frühen Neuzeit Eine zentrale Rolle bilden folgerichtig Untersuchungen der Konzepte des (Gemälde‑) Machens, die mit der von Victor Stoichiţă angestoßenen Debatte um das ›Selbstbewusstsein‹ von Kunstwerken verknüpft zu sein scheinen,8 da sie zumeist die diskursiven und kommunikativen Möglichkeiten des Gemäldes und somit auch des Malers reflektieren.9 Dabei geht es nicht nur um die methodisch bewährte Klärung der materiellen Genese des einzelnen Gemäldes, sondern um die Erforschung von Theorie und Praxis des Herstellungsprozesses. Zunehmend wird herausgearbeitet, wie die Maler selbst oder die Verfasser von Traktaten den physischen Prozess des Bildermachens – den hier interessierenden Umgang mit der Materie – in einen wertschätzenden, beispielsweise mit naturphilosophischen Strömungen verknüpften Fokus nahmen. Die Etablierung und Ausdifferenzierung der experimentellen Naturwissenschaften oder der spekulativen Naturphilosophie und die intensive Zirkulation von verdichtetem Wissen zogen demnach Folgen für die Produktion der Gemälde nach sich – und umgekehrt. Mit der Theoretisierung des Produktionsprozesses waren somit auch neue Wissenspraktiken verbunden. Des Öfteren gingen dabei der Transformationsprozess der Materie als bewusster, teils hermetisierter Akt und die Ikonographie des Gemäldes eine komplexe, (absichtlich) nicht immer eindeutig zu interpretierende Synthese ein, so dass die ikonologischen Aspekte des Kunstwerkes mit denen der Materialität und der Prozessualität verschränkt wurden. Das Wechselverhältnis von ars und natura und der damit jeweils verbundenen Schöpfungsakte stellte ein Paradigma frühneuzeitlicher Kunsttheorie dar. Aus der Sicht italienischer Künstler der Renaissance entsprachen sich Produzieren der Natur und Pro-

die erste deutschsprachige, gedruckte kunsttechnologische Rezeptsammlung zur alchemistischen Metallverarbeitung, Materialimitation und Farbherstellung aus dem Verlag Heinrich Steiner in Augsburg. 7 Zu innovativer Forschung zu Bildträgern als Quelle semantischer Kontexte vgl. Hirakawa, Kayo, Narrative and Material: Paintings on Rare Metal, Stone and Fabric in the Late Sixteenth and Early Seventeenth Centuries, in: ders. (Hg.), Aspects of Narrative in Art History, Kyoto 2014, 33–45. 8 Vgl. Stoichiţă, Metamalerei. 9 Stellvertretend für die Forschung zum Bild als Teil von nonverbalen Kommunikationsprozessen vgl. Boehm, Gottfried/Mersmann, Birgit/Spies, Christian (Hg.), Movens Bild. Zwischen Evidenz und Affekt, Paderborn 2008.

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duzieren der Kunst.10 Insbesondere von Frank Fehrenbach wird deshalb auf die emanative Dynamik des Bildfeldes und den Drang zu einer performativen Verlebendigung des Bildes verwiesen.11 Forschungen zur nordalpinen Kunst bezeugen gleichfalls eine (wenn auch nicht explizit artikulierte) Theorie der Herstellungspraxis der Bilder, die etwa das mimetische Gemälde bzw. die Herstellung von Bildern als Mimesis der Natur in Zusammenhang mit einem »biotischen Vermögen zur Reproduktion«12 zu bringen wusste. Am Beispiel niederländischer Waldbodenstillleben zeigt Karin Leonhard, wie pastos aufgetragene Farbmassen die Evolution der Lebewesen aus der modrig feuchten prima materia simulieren und folglich nur im Kontext naturwissenschaftlicher wie naturmagischer Entwicklungen verständlich werden. In einer Art alchemistischer sublimatio verjüngt sich der Farbauftrag oberhalb des Bildträgers, auf dem sich Schmetterlinge als ätherische Gebilde und Ergebnis der gewohnt stufenförmigen Metamorphose erheben. Leonhard operiert daher – mit Blick auf die parallelen und mit der barocken Kunsttheorie eng verbundenen Entwicklungstendenzen der (hermetischen) Naturphilosophie – mit der zeitgenössischen Metapher des Gemäldes bzw. Bildfeldes als »zu beackerndem Campus« (»Picturas Acker«).13 Eine Hauptrolle spielt dabei die grobkörnig aufgetragene Farbe Braun als Sinnbild der Urmaterie, von der ausgehend beispielsweise Otto Marseus van Schrieck (1619/20–1678) seine terra nati geradezu plastisch nachbaute.14 Robert Felfe erörtert weiterhin ins Gemälde gesetzte Künstlersignaturen als Praktiken der imitatio naturae und als Folge der Auseinandersetzung mit der Signaturenlehre des Magier-­Alchemisten Paracelsus.15 Das Gemälde (imago) wurde schließlich selbst zur Signatur: ein signifikantes Ding (res), das gelesen werden wollte. 10 Vgl. Pfisterer, Ulrich, Zeugung der Idee – Schwangerschaft des Geistes. ›Sexualisierte Theorien‹ zur Werkgenese in der Frühen Neuzeit, in: ders./Zimmermann, Anja (Hg.), Animationen, Transgressionen. Das Kunstwerk als Lebewesen, Berlin 2005, 41–72, hier 57. Pfisterer parallelisiert beispielsweise die vis imaginativa des Malers mit Paracelsus’ De virtute imaginativa (in der Tradition des Aristoteles). Vgl. zuletzt Pfisterer, Ulrich, Kunst-Geburten. Kreativität, Erotik, Körper in der Frühen Neuzeit, Berlin 2014. 11 Vgl. Fehrenbach, Frank, Calor nativus – color vitale. Prolegomena zu einer Ästhetik des »Lebendigen Bildes« in der frühen Neuzeit, in: Pfisterer, Ulrich/Seidel, Max (Hg.), Visuelle Topoi. Erfindung und tradiertes Wissen in den Künsten der italienischen Renaissance, München 2003, 151–170. Dort nur marginal zum Zusammenhang der Malerei mit der frühneuzeitlichen Alchemie (verstanden als Farbherstellung und -behandlung) und mit einer klaren Abgrenzung zur Bildmagie als einem zu überwindenden kultischen Relikt. Eine rationale sowie von der Magie distanzierte Wirkungsästhetik der Lebendigkeit sei erreicht, wenn der Renaissance-Künstler bewusst ohne göttlichen Beistand Lebendigkeit erziele. Vgl. die Projekte der »Forschungsstelle Naturbilder« am Kunstgeschichtlichen Seminar Hamburg unter der Leitung von Frank Fehrenbach sowie zuletzt Bredekamp, Horst, Bildakt, Berlin 2015. 12 Leonhard, Karin, Bildfelder. Stilleben und Naturstücke des 17. Jahrhunderts, Berlin 2013, 428. 13 Vgl. ebd., 13–23. 14 Vgl. ebd., 9–24; dies., Mutter Erde, oder die Farbe Braun. Zur Promiskuität des barocken Bildfelds, in: Löve-­Hansen, Aage A./Ott, Michael/Schneider, Lars (Hg.), Natalität. Geburt als Anfangsfigur in Literatur und Kunst, Paderborn 2014, 151–169. 15 Vgl. Felfe, Robert, Natura faciebat? Signaturen als Reflex einer produktiven Natur, in: Hegener, Nicole/Horsthemke, Florian (Hg.), Künstler-Signaturen von der Antike bis zur Gegenwart, Petersberg 2013, 350–369.

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Das neue Verhältnis von Künstler und Materie bzw. das neue Verständnis des Künstlers als signator perfectus kündete somit seinerseits von einem material turn in der Malerei der Frühen Neuzeit. Nur zu gern demonstrierten die Maler ihre Kompetenz als Macher der dynamischen Stoffumwandlung. Kompetent auf dem Feld der Transformation ungeordneter Materie, sprich der Farbe, gelang denselben eine beispiellose Metamorphose der Dingwelt: Dem Jahreskreis zuwiderlaufende Blumensträuße, die niemals verblühen, oder die Materialisierung ansonsten utopischer Bildwelten gehörten zum Repertoire. In diesem Rahmen kamen Konzepte vom Künstler nicht nur als Alchemisten und Materialkundler, sondern als (Natur-)Magier zum Tragen. Diese historische Hinwendung zu materiellen und gleichsam naturmagischen Aspekten der Bildherstellung verlief parallel zu der Verbreitung sämtlicher Spielarten der sowohl materiell als auch spirituell ausgerichteten kulturellen Praxis der Alchemie. Die Alchemie figurierte dabei – neben der Astrologie – als eine handlungsorientierte Disziplin auf der Grundlage der übergeordneten magia naturalis,16 deren Konzept auf dem Analogiedenken zwischen Makrokosmos und Mikrokosmos beruhte.17 Eine herausragende Begleiterscheinung der Popularisierung der Alchemie war das Aufkommen illustrierter alchemistischer und alchemischer Hand- und Druckschriften. Dabei entstand eine an komplexen Metaphern und Allegorien reiche Bildsprache,18 deren Verhältnis zur Gemäldeproduktion bzw. der Interpretation von Bildkompositionen wenig untersucht ist. Spricht man vom Künstler als Alchemisten19, muss also zwangsläufig das Konzept des Künstlers als Magier bzw. der magia artificialis mitgedacht werden. Aktuelle Veröffentlichungen verweisen in diesem Kontext darauf, dass sich die Interessen der Alchemisten mit denen der (Figuren-)Maler – südlich und nördlich der Alpen, was angesichts der 16 Ein wichtiges Referenzwerk stellt u. a. Giambattista della Portas Magiae naturalis sive de miraculis rerum naturalium (Neapel 1558) dar. Dazu zuletzt Santoro, Marco (Hg.), La »mirabile« natura. Magia e scienza in Giovanni Battista Della Porta (1615–2015), Pisa/Rom 2016. 17 Vgl. Grafton, Anthony/Newman, William (Hg.), Secrets of Nature. Astrology and Alchemy in Early Modern Time, Cambridge 2001; Gilly, Carlos/van Heertum, Cis (Hg.), Magie, Alchemie und Wissenschaft vom 15. bis zum 18. Jahrhundert, der Einfluss des Hermes Trismegistus, Florenz 2002; Neugebauer-Wölk, Monika, Esoterik in der Frühen Neuzeit. Zum Paradigma der Religionsgeschichte zwischen Mittelalter und Moderne, in: Zeitschrift für Historische Forschung 27 (2000), 321–364. In den genannten Publikationen auch zur elementar wichtigen Unterscheidung der Konzepte von Naturmagie als rational verstandener okkulter Wissenschaft und schwarzer Magie (z. B. Kontakte mit Dämonen, Zauberei). 18 Vgl. z. B. Laube, Stefan/Feuerstein-Herz, Petra (Hg.), Goldenes Wissen. Die Alchemie, Substanzen, Synthesen, Symbolik (Katalog der gleichnamigen Ausstellung in der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel 31. Aug.–22. Febr. 2015), Wiesbaden 2014. 19 In der deutschsprachigen Alchemieforschung wird mittlerweile häufig zwischen Alchemist – ausschließlich Goldmacher – und Alchemiker unterschieden, etwa in der Einleitung von Laube/Feuerstein-Herz (Hg.), Goldenes Wissen. Diese Unterscheidung ergibt m. E. jedoch vor allem Sinn im Hinblick auf spekulative Überlegungen zur Alchemie als Gegensatz zur praktischen Materialumwandlung. Paracelsus bezeichnete nicht zuletzt auch Bäcker, Müller und Weber als Alchemisten, da sie natürliche Prozesse vollenden würden. In diesem Aufsatz wird daher zwischen praktischen Transformationsprozessen (alchemistisch) und spekulativen, oft poetisch formulierten Überlegungen (alchemisch) unterschieden.

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ansonsten geläufigen Trennung dieser Kunstbereiche entscheidend ist – in einem wesentlichen Punkt überschnitten: dem Thema der Veredelung von Materie und der damit verbundenen, den Intellekt fordernden Lektüre im ›Buch der Natur‹.20 Die hermetische Transmutationslehre scheint sich somit im Zuge der Rekonstruktion derartiger Parallelen unaufhaltsam als eine der wesentlichen Grundlagen und ebenso als Motor der frühneuzeitlichen Kunstproduktion bzw. Kunsttheorie zu entpuppen.21 Materialverständig transformierte der Maler-Alchemist die ›toten‹ Farbpigmente zu seinem bevorzugten Malmittel (insbesondere Ölfarben), um dieselben dann auf einer höheren Ebene auf dem Bildfeld nicht nur zu ›vereinen‹, sondern im Zuge einer »alchemistisch-künstlerischen Metamorphose, in der sich magia naturalis und magia artificialis verschränken«22, eine zweite Natur zu kreieren. Praktische und spirituelle Alchemie – Materie und Geist – verbanden sich in diesem Prozess. Peter Paul Rubens (1577–1640), nicht nur ein Hauptvertreter der Barockmalerei, sondern auch passionierter Bewunderer und Weiterentwickler zahlreicher Gemälde Tizians, behauptete beispielsweise von sich, er habe den lapidem philosophicum in seinem Pinsel gefunden.23 Das Konzept vom Maler als pictor doctus findet hier ebenso Platz wie die Anerkennung der Maler als kenntnisreiche Praktiker stofflicher Transmutationen.24 Die frühneuzeitliche Wertschätzung des Machens25 und jeglichen produktiven Potenzials erscheint nahezu als Äquivalent einer pragmatisch veranlagten und materiell orientierten Produktions- und Konsumgesellschaft, die den Dingen mit dem im Mittelalter verpönten, nun gestatteten Blick der curiositas begegnet. Die (geheime) Vormachtstellung der 20 Zuerst Kris, Ernst/Kurz, Otto, Die Legende vom Künstler, Wien 1934. Vgl. dazu die von der deutschsprachigen Forschung oft vernachlässigten Publikationen des Heidelberger Professors Gustav Friedrich Hartlaub (1884–1963). Hartlaub, Gustav Friedrich, Kunst und Magie. Gesammelte Aufsätze, hg. von ­Norbert Miller, Hamburg 1991. Der ikonologische Ansatz auch bei Gabriele, Alchimia e iconologia, wenngleich mit starker Konzentration auf alchemische Handschriften. Zum Konzept des Künstlers als Alchemist vgl. Elkins, James, What Painting Is. How to Think about Oil Painting, Using the Language of Alchemy, New York 1999. Die Alchemie als theoretische Grundlage des bildnerischen Prozesses untersucht ebenfalls Newman, William R., Promethean Ambitions, Alchemy and the Quest to Perfect Nature, Chicago 2005. 21 Leonhard, Bildfelder, bes. 259–331. Vgl. die Publikationen und Projekte der von Sven Dupré geleiteten Forschergruppe »Art and Knowledge in Pre-Modern Europe«, Teilgebiet »Art and Alchemy«, am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte Berlin (Laufzeit 2011–2015). 22 Weddigen, Tristan/Weber, Gregor J. M., Alchemie der Farben. Tizian porträtiert seinen Farbenhändler Alvise »dai colori« dalla Scala, in: Henning, Andreas/Ohlhoff, Günter (Hg.), Tizian – Die Dame in Weiß, Dresden 2010, 47–59, hier 57. 23 Vgl. Meganck, Rotfärber. In seinen (geheimen) Studien zum menschlichen Körper befasste sich Rubens auch mit Paracelsus bzw. rezipierte dessen Gedankengut. 24 Grundlegend zu den Austauschverhältnissen vom Künstler-Handwerker zur (Kunst-)Theorie bzw. zur Naturwissenschaft – und nicht umgekehrt – vgl. Smith, Pamela H., The Body of the Artisan. Art and ­Experience in the Scientific Revolution, Chicago 2004. 25 Die Wertschätzung lässt sich auch anhand kunsthandwerklich und ebenso alchemistisch tätiger Souveräne ablesen. Vgl. etwa Klaus, Maurice, Der drechselnde Souverän. Materialien zu einer fürstlichen Maschinenkunst, Zürich 1985.

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Alchemie als kulturelle Praktik der Optimierung, Beschleunigung und Veredelung lässt sich nicht nur auf die grassierende Luxusgüterproduktion von Glas oder Porzellan und die damit verbundenen Auswirkungen auf verfeinerte ästhetische Sehgewohnheiten der Konsumenten (bis hin zur Stilllebenmalerei),26 sondern m. E. auch auf soziale Entwicklungen übertragen. Man denke an die frühneuzeitlichen Wellen der Erhebung von Künstlern in den Adelsstand (Tizian 1533),27 gewissermaßen als Folge des nahezu obsessiven Drangs (oder der Strategie) nach Selbstoptimierung, und nicht zuletzt die angestrebte Nobilitierung der Malerei aus den vermeintlichen Niederungen des Handwerks in den Stand der artes liberales. Bei aller Fokussierung auf die Kunsttheorie darf insofern nicht vergessen werden, dass beispielsweise der Arzt und Naturmagier Paracelsus (1493–1541) bei seiner Definition des Alchimisten nicht den Laboralchemisten, auch nicht den Maler oder Bildhauer heranzieht (wie an anderen Stellen), sondern die prima materia der Natur als alltägliche Herausforderung menschlicher Betätigung benennt. Die ultima materia bildet folgerichtig das Ziel sämtlicher Prozesse der menschlichen Produktion, angefangen beim Brotbacken oder dem Weben von Tuchen über die Anfertigung von Geräten und Werkzeugen,28 die somit folgerichtig als epistemische Objekte – menschliche Kunstprodukte und Vehikel frühneuzeitlicher Vollendungssehnsüchte – in den Mikrokosmos der entstehenden Kunst- und Wunderkammern gelangten. Die vollendete Perfektion auf Erden – ultima materia29 – entstammt demnach der zur Transmutation fähigen Hand des Menschen. Dieser Auffassung entspricht bekanntlich ein Teil der sogenannten Kunstkammerobjekte, die in unerschöpflicher Vielfalt das chan26 Am Beispiel allegorischer Gemälde bzw. der Stilllebenmalerei vgl. Göttler, Christine, Allegorien des Feuers und der Künste, in: Dupré/Wismer (Hg.), Alchemie, 134–145. Vgl. auch weitere Publikationen von Göttler zum Thema Alchemie und Allegorie sowie das Projekt zu dem Antwerpener Händler Emmanuel Ximenez an der Universität Bern unter Göttlers Leitung: Göttler, Christine/Moran, Sarah Joan (Hg.), Reading the Inventory. The Possessions of the Portuguese Merchant-Banker Emmanuel Ximenez (1564–1632) in Antwerp, online verfügbar unter: www.ximenez.unibe.ch, letzter Zugriff: 12.08.2019. Zum Zusammenhang zwischen Tafelglas, verfeinerten Tischsitten und Gemälden, aber ohne den Bezug zur Alchemie, vgl. Hills, Paul, Venetian Glass and Renaissance Self-Fashioning, in: Ames-Lewis, Francis/Rogers, Mary (Hg.), Concepts of Beauty in Renaissance Art, Ashgate 1998, 163–178. Für den großen Zusammenhang zwischen Luxusgüterindustrie und veränderten Sehgewohnheiten vgl. Goldthwaite, Richard, Wealth and Demand for Art in Italy 1300–1600, Baltimore 1993. 27 Erst im Anschluss an seine Adelserhebung stellte Tizian wiederholt den Vergleich mit dem Malerfürsten Apelles an. Eine Übersicht geadelter Künstler (freilich ohne den Bezug zur Alchemie) bei Warnke, Martin, Zur Vorgeschichte des modernen Künstlers, Köln 1996, 202, 217–223. 28 Vgl. Paracelsus, Das Buch Paragranum, 1530, Abschnitt: Alchimia, der dritte grund der Medicinae, in: Sudhoff, Karl (Hg.), Paracelsus. Sämtliche Werke. Medizinische, naturwissenschaftliche und philosophische Schriften, 14 Bde., München 1922–1933, Bd. 8, 1927, 181–203, hier 181. Der Erstdruck wurde 1565 realisiert. Die beiden von Paracelsus zuerst ausgeführten Grundlagen der Medizin sind Philosophie und Astronomie. Zur Bedeutung des Paracelsus für die Kunsttheorie vgl. Smith, Body of the Artisan. Ausführlich Möseneder, Karl, Paracelsus und die Bilder. Über Glauben, Magie und Astrologie im Reformationszeitalter, Tübingen 2009. 29 »Aber alle ding werden zu prima materia beschaffen und über das folgt der vulcanus hernach, der macht’s in ultimam materiam durch die kunst alchimiae.« Paracelsus, Labyrinthus medicorum errantium, 1538, Kap. 5, in: Sudhoff (Hg.), Paracelsus, Bd. 11, 1928, 188.

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Abb. 2a–2b: Caspar Ulich, Handstein, Vorderseite: Auferstehung, Rückseite: Karl V., die Huldigung Franz I. entgegennehmend nach der Schlacht bei Pavia (1525), 1556–1562, Höhe 31,7 cm, Silber, vergoldet, Silberglanz (Silberglaserz), Kunsthistorisches Museum Wien.

gierende Wechselspiel zwischen Natur und Kunst thematisieren, indem sich beispielsweise anthropomorphe Formen, teils ganze historien aus der unbehandelten Erzstufe – Material der Mutter Erde – hervordrängen (Abb. 2), oder indem einer naturalie wie dem Gehäuse der Tigerschnecke durch artifizielle Bearbeitung ihr epistemischer oder praktisch-magischer Sinn, etwa als Tischgeschirr oder Besteck, zugewiesen wird.30 Nicht das Vertuschen materieller Dinglichkeit stand im Fokus der Theorie der Kunst- und Wunderkammern,

30 Vgl. Daston, Lorraine/Park, Katharine (Hg.), Wunder und die Ordnung der Natur, 1150–1750, Berlin/ Frankfurt a. M. 2002. Dort auch zu den (natur-)magischen Kontexten der Kunst- und Wunderkammerobjekte bzw. der Theorie der Kunst- und Wunderkammer. Insbesondere zum Kontext der Kunstkammerobjekte als Wissensspeicher vgl. auch Findlen, Paula, Possessing Nature. Museums, Collecting, and Scientific Culture in Early Modern Italy, London 1994.

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sondern im Gegenteil der Verweis auf die Materialität. Die Kunst der schöpferischen Natur findet ihr Pendant, gar ihren Meister, in der mimetischen Kunstproduktion des Menschen.31

2. Tizian, der Maler-Alchemist Nicht nur in dem Punkt der Materialsichtigkeit gibt es eine augenscheinliche Parallele zu Tizians Fleckenmalerei (pittura di macchia). Im Folgenden soll überlegt werden, ob sich die Theorie der Kunstkammerobjekte bzw. die als alchemistische Naturmagie verstandene Theorie des Machens auf Tizians Tod des Aktaion (Abb. 1) übertragen lässt. Während der Konnex zwischen Kunst und Alchemie für Florenz oder einzelne italienische Manieristen wie Francesco Mazzola, genannt Parmigianino (1503–1540), überzeugend dargelegt ist,32 sind Tizians Berührungen mit der Alchemie bislang jeweils nur separat betrachtet worden, wenngleich Rodolfo Palluchini dessen gesamten Spät- bzw. Fleckenstil unter dem Begriff der »alchimia chromatica tizianesca«33 subsumiert. Diese Zurückhaltung ist vor allem deshalb erstaunlich, da Venedig, ähnlich wie Antwerpen, nicht nur Denk- und Verlagsort für naturphilosophische Schriften und Geheimnisliteratur, sondern auch gefeierter Standort für eine auf alchemistischen Prozessen gegründete Luxusgüterproduktion war. Tizian hielt sich folglich in einem überdurchschnittlich stark von der Alchemie geprägten Umfeld auf. Gleichwohl ist für alle hier angestellten Beobachtungen in Erinnerung zu behalten, dass die (spekulative) Alchemie wie andere heterodoxe Denkmodelle im Zeitalter der Gegenreformation wiederholt Häresievorwürfen ausgesetzt und somit – selbst im eher liberalen Venedig – in das Feld der segreti verwiesen war.34 31 Zum Diskurs Naturprodukt versus Kunstprodukt, der in den Kunst- und Wunderkammern seinen materiellen Ausdruck findet, vgl. z. B. Long, Pamela O., Objects of Art/Objects of Nature. Visual Representation and the Investigation of Nature, in: Smith, Pamela H./Findlen, Paula (Hg.), Merchants and Marvels. Commerce, Science, and Art in Early Modern Europe, New York 2002, 63–82. Die Rolle der Alchemie und des Künstlers als Materialkenner betont in diesem Zusammenhang Smith, Body of the Artisan. 32 Vgl. Fadda, Elisabeta, Arte e alchimia negli ultimi anni del Parmigianino, in: Morel, Philippe (Hg.), L’art de la Renaissance entre science et magie, Paris 2006, 295–324. 33 Obwohl Pallucchini wiederholt von Tizians alchimia chromatica spricht, wird der Autor nicht konkret, was über die Betrachtung der Licht- und Farbmalerei Tizians bzw. seines späten Hangs zum sensitiven bzw. dramatischen Manierismus hinaus mit der Verbindung – als »strumento linguistico« – zur Alchemie gemeint ist. Vgl. Pallucchini, Rodolfo, Tiziano, Florenz 1969, Bd. 1, 156, 170, 201; ders. (Hg.), Tiziano e il manierismo europeo, Florenz 1978, 26, 200, 202–203. Das mutmaßliche Zitat Giovanni Paolo Lomazzos, wohl aus der Idea del Tempio della pittura (1590), konnte im Rahmen dieser Untersuchung nicht verifiziert werden. Roberto Longhi, auf den sich Pallucchini u. a. beziehen, spricht mit Blick auf Tizians Verkündigung (San Salvador, 1564–1565) vom oft zitierten »impressionismo magico«. Vgl. Longhi, Roberto, Viatico per cinque secoli di pittura veneziana, Florenz 1946, 24. 34 Hartlaub erwähnt ein allgemeines Verbot der Alchemie im Jahre 1488, worauf sich in Venedig eine Geheimgesellschaft gegründet habe, vgl. Hartlaub, Gesammelte Aufsätze, 168. Die Bücher des Pseudo-Raimundus Lullus kamen beispielsweise 1554 auf den Index verbotener Bücher von Venedig. Vgl. Zambelli, Paola,

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Abb. 3: Tizian, Danae, 1550–1553, Öl auf Leinwand, 129× 180 cm, Museo del Prado Madrid.

Blicken wir nun zuerst auf die Materialität der erhaltenen, exemplarisch ausgewählten Realie, um später Tizians Berührungspunkte mit dem System der magia naturalis und der Mythoalchemie im Bezugsfeld seines habsburgischen Mäzens Philipp II. – dem avisierten Rezipienten des Auftragsbildes – zu beleuchten. Der Tod des Aktaion gilt als Bestandteil einer Reihe mythologischer Bilder der von Tizian selbst so bezeichneten Poesie für Philipp II. in Madrid. Eine 1553 gelieferte Danae mit dem (später noch expressiver) als brodelnde Farbexplosion inszenierten Goldregen war das erste Gemälde der Bilderserie (Abb. 3).35 White Magic, Black Magic in the European Renaissance. From Ficino, Pico, Della Porta to Thritemius, Agrippa, Bruno, Leiden 2007, 211. Es kam weiterhin zu einer Reihe von Hexen-Prozessen, vgl. dazu mit weiterer Literatur: Milano, Marisa, Streghe e diavoli nei processi del S. Uffizio: Venezia, 1554–1587, Bassano del Grappa 1994. 35 Über die Präsentation der Gemälde ist nichts Stichhaltiges bekannt. Vgl. Keller, Harald, Tizians Poesie für König Philipp II. von Spanien, Wiesbaden 1969. Zu Danae und Farben, die ins »Glühen und Brodeln geraten«, ebd. 142. Ein fundierter Überblick zur Bedeutung der Poesie für Tizians Bilderzyklus und sämtliche Literatur bei Fellinger, Markus, Tizians Danae als gemalte Poesie. Eine Studie zur ›ut pictura, poesis‹-Thematik in Tizians mythologischer Malerei, Wien 2010. Weiterhin muss berücksichtigt werden, dass von den sechs bekannten Danae-Versionen Tizians neuerdings jene der Wellington Collection als die an

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In einem Brief vom Juni 1559 war nach der Übersendung des Bildpaares Diana und Callisto sowie Diana und Aktaion36 ein weiteres Gemälde angekündigt worden, nämlich der Tod des Aktaion. Da aber dieser von Tizian in Aussicht gestellte »Atheone, lacerato da i cani suoi«37 offenbar nie in Madrid ankam, wird das heute in London befindliche Gemälde von einigen Autoren als unvollendet, als sogenannter abbozzo, von anderen als zweite und spätere Fassung eingestuft. Ausgehend von weiteren vermeintlichen abbozzi, die Tizian selbst hingegen als vollendete Gemälde ansah, ist m. E. auch für den Londoner Tod des Aktaion ein durchdachtes, im Folgenden zu diskutierendes Bildkonzept Grundlage des nur vermeintlich fehlenden Finishs.38 Nicht zeichnerisch mittels der Linie, sondern skizzenhaft und mit dem sinnlichen Instrument der Farbe (colore) entsteht die scheinbar unvollendete Komposition ohne klare Umrisse. Im Wesentlichen zurückgehend auf den Diana und Aktaion-Mythos in Ovids Metamorphosen (3, 138–252), taucht im rechten Bildteil die Figur des Jägers Aktaion auf. Sein nackter Oberkörper unterscheidet sich nur wenig von dem Farbgemenge des dem Wald vorgelagerten Gestrüpps. Als Strafe für den unerlaubten Zutritt zum Bad der Naturgöttin Diana muss er, transformiert in einen Hirsch, durch die Zähne der eigenen Jagdhunde sterben. Rasend schnell stürzen sich die vier Tiere in wilder Pose auf ihren ehemaligen Gebieter. Prominent prangt im linken Vordergrund Diana statuenhaft im Profil mit flatterndem Gewand. Ihren Bogen – irritierenderweise ohne Sehne und Pfeil – richtet die Gedemütigte auf den Todgeweihten. In der malerischen Faktur des Gemäldes lassen sich deutliche Abstufungen erkennen: Inkarnat, filigran gearbeitete Armbänder und die Haare der Jagdgöttin sind zusammen mit dem Efeu des flankierenden Baums der rechten Bildhälfte detaillierter (her-)ausgearbeitet als die ineinander verworrenen Farbmassen von Bildmitte und -hintergrund. Dort flimmern vermittels kräftiger Pinselhiebe Philipp II. gesendete Version gilt. Das Gemälde ist an der oberen Kante stark beschnitten. Daher fehlen große Teile der hier interessierenden Feuer- bzw. Verwandlungsszene. Die berühmtere, hier gezeigte Version im Prado wird nach den Restaurierungsarbeiten an der Wellingtoner Danae von 2013 auf die Zeit nach 1553 datiert. Der erste Käufer war – vor Philipp II. – Diego Velázquez. Vgl. Falomir, Miguel (Hg.), Dánae y Venus y Adonis. Las primeras »poesías« de Tiziano para Felipe II, Madrid 2014 (Boletín del Museo del Prado), 7–51. Freundlicher Hinweis von Hans Aurenhammer, Frankfurt a. M. 36 Diana und Aktaion, Öl auf Leinwand, 190,3 × 207 cm, Edinburgh, National Gallery of Scotland. 37 Brief vom 19. Juni 1559, in: Crowe, Joseph A./Cavalcaselle, Giovanni B. (Bearb.), Tizian. Leben und Werke, übers. v. Max Jordan, 2 Bde., Leipzig 1877, Bd. 2, Nr. LXXXVII, 762. 38 Die komplexe Argumentation zur Frage der Vollendung im konkreten Fall des Londoner Tod des Aktaion (eine Version befand sich in Tizians Nachlass) spielt in dem hier behandelten Kontext keine Rolle, da es im Spätwerk ausreichend Beispiele für scheinbare abbozzi gibt. Vgl. Busch, Das unklassische Bild, 107; Rosen, Valeska von, Mimesis und Selbstbezüglichkeit in Werken Tizians. Studien zum venezianischen Malereidiskurs, Emsdetten 2001, 339, online verfügbar unter: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/rosen2001, letzter Zugriff: 27.07.2018. Weitere Beispiele bei Ferino-Pagden (Hg.), Der späte Tizian. Siehe auch Pignatti, Terisio, Abbozzi and Ricordi. New Observations on Titian’s Technique, in: Studies in the History of Art 45 (1994), 72–83.

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(colpi) aufgetragene olivgrüne oder braunrote Farbtöne als Flecken (macchie) aus gelb-­ braunen Texturen heraus. Dem Auge bietet sich dieser Part als ein aus oszillierenden Farben bestehendes, vibrierendes Gewebe dar, das sich oberhalb des Sterbenden zum rechten »Bildrand hin zu (einem) schweren Goldton«39 verdichtet. Aktaions dunkel untermalter Körper scheint sich mit dem Gestrüpp zu verbinden und, statt sogleich zerfetzt zu werden, in die Natur zu diffundieren. Anders als die vom disegno dominierte Maltradition in Florenz mit dem betonten Ziel der Augentäuschung durch mimetischen Pinselstrich und spiegelglatte (somit entmaterialisierte) Bildoberfläche verweist das Aktaion-Bild mittels pastosen Farbauftrags (impasto) und absichtlicher Sichtbarmachung des Pinselduktus bewusst auf seine Malmittel.40 Die differenzierte Materialität der Farbe, die partiell sichtbar belassene, grob gewebte Leinwand, deren Fadenmuster die Darstellung nochmals verunklart, die deutliche Fingerarbeit am rosavioletten Gewand Dianas stellen für Tizian bei der Verbildlichung des imaginierten Mythos wesentliche Ausdrucksmittel dar. Das Gemälde wird qua seiner materiellen Beschaffenheit zum Bedeutungsträger. Tizian demonstrierte ein neues Verhältnis sowohl zum Material als auch zum nachvollziehbaren Produktionsprozess seines (Kunst-)Objektes. Das ostentative Sichtbarmachen materieller Umwandlungsprozesse trifft sich dabei sicher nicht zufällig mit Tizians permanenter Beschäftigung mit den ovidischen Metamorphosen während seines Spätstils ab 1550. Der Kunsttheoretiker Giorgio Vasari (1511–1574) fühlte sich zugleich angezogen wie abgestoßen von den kraftvoll hingeklecksten Pinselhieben und Flecken der ultima maniera Tizians. Als Augenzeuge berichtete er von dem Effekt, dass man derartige Gemälde nur mit einem gewissen Abstand betrachten könne. Erst wenn man sich entferne, zeige sich ihre Perfektion. Nicht minder haben Auftraggeber – anders als Philipp II. als einer der 39 Keller, Tizians Poesie, 164. Vgl. dazu zuletzt Busch, Das unklassische Bild, 91–121, mit Zusammenfassung der Literatur sowie Überlegungen zur Ikonographie ohne direkte Textvorlage, die gleichfalls ein »unklassisches«, somit freiheitliches Moment für Rezipient und Maler darstellt. Dort auch der Hinweis auf die der schriftlichen Metamorphose entsprechende metamorphotische Entwicklung der Figuren bzw. Malerei auf dem Bildträger. Zur Bildfindung bei Tizian und dem Abweichen von klassischen Textvorlagen siehe Panofsky, Erwin, Problems in Titian, Mostly Iconographic, New York, 1969. 40 Die Zeichnung (disegno) galt in der frühneuzeitlichen Kunsttheorie als immaterielles, daher intellektuelles, per se theoriebasiertes Medium der Kunst. Ohne die Belastung der Idee mit dem Material erschien die Zeichnung daher dem (Erfinder-)Geist des Künstlers – der den disegno interno imaginierte, dann nach außen brachte (disegno esterno) – am nächsten. Auf die Leinwand wurde gemäß der finalen Entwurfszeichnung die Bildfindung nur noch übertragen. Dieser Strang der – später akademischen – »klassischen Kunsttheorie« degradierte das Stilmittel der Farbe als sinnliche, teils sogar überflüssige Ablenkung sowie »Resultat von Handwerk«. Vgl. Rosen, Mimesis, 299–467, bes. 422–433. Vgl. auch Woods-Marsden, ­Joanna (Hg.), Titian. Materiality, Likeness, Istoria, Turnhout 2007, sowie Busch, Das unklassische Bild, bes. 92–93, mit Verweis auf eine Fülle von Literatur. Zur Darstellung einer gegenläufigen, teils auch sich überschneidenden Entwicklung, die die Kenntnisse des Handwerks und den Umgang mit dem Material anders gewichtete, vor allem Smith, Body of the Artisan.

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fast ausnahmslos begeisterten Hauptabnehmer – über die mutmaßlich eilig gemalten Flecken gerätselt oder zeigten sich schlichtweg verärgert. Vasari unterstellte Tizian mangelnde Sorgfalt und Geldgier, andere bezeichneten den vormaligen Hauptvertreter der venezianischen Hochrenaissance als zunehmend wunderlich, gleichwohl fest überzeugt von seiner auffälligen Stiländerung.41 Tizian selbst, darauf weist Valeska von Rosen hin, sah in seinen Fleckenbildern ein Alleinstellungsmerkmal mit Berühmtheitsgarantie in der Folge einer alternativlosen »natürlichen Begabung« für diesen »neuen Weg« der Malerei.42 Die anhaltende und wirksame Verwunderung der gebildeten Bildbetrachter schien ihn ungleich mehr herauszufordern als die vorhersehbare Anerkennung der in Florenz angepriesenen, den etablierten Sehgewohnheiten angepassten Manier, die ihn lediglich zum Nachahmer degradierte. Pietro Aretino (1492–1556), der enge Freund des Malers, rühmte die ingeniöse Unmittelbarkeit der skizzenhaften, absichtlich als abbozzo belassenen figure und parallelisierte die zügige, somit intuitive, nicht vom Verstand korrigierte Maltechnik mit seiner ebenfalls absichtlich nicht bis ins letzte Detail ausgearbeiteten Textproduktion. Ergebnis dieser künstlerischen, intellektuell überlegenen Strategien wäre insbesondere im Rahmen des gemalten wie literarischen Porträts vivacità und die Fixierung des spirito des Dargestellten.43 So unterschiedlich die zeitgenössische Rezeption des von Tizian propagierten neuen Weges sich darstellte: In jedem Fall scheint Tizian mit seiner scheinbar bis heute zu uns sprechenden selbstreflexiven Farb- und Maltechnik die Sonderrolle eines Inventors zuzukommen, deren konzeptionelle »Eloquence of the brush«44 bei den Metamorphosen-Bildern im höchsten Maß Bezug zum Inhalt des Dargestellten nimmt und von den Zeitgenossen als Wunder (meraviglia; miracolo) aufgefasst wurde. Ausgehend von Theodor Hetzers wegweisender Studie von 1935 zu Tizians Farbe, in der der Autor die mit der Bildfläche scheinbar verwachsenen Farbberge und deren Model-

41 Vgl. Checa, Fernando, Der späte Stil Tizians, in: Ferino-Pagden, Sylvia (Hg.), Der späte Tizian und die Sinnlichkeit der Malerei (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Kunsthistorischen Museum Wien 18. Okt. 2007–06. Jan. 2008), Wien 2007, 61–67, hier 63. Insgesamt muss man Tizians Spätwerk als heterogen bezeichnen. Auch buntfarbige Gemälde werden weiterhin angefertigt. Vgl. z. B. Schlink, Wilhelm, ­Tizian. Leben und Werk, München 2008, Abschnitt Spätwerk. 42 Rosen, Mimesis, 299, 352. Dort das vollständige Zitat aus einem Gespräch mit dem kaiserlich-spanischen Botschafter in Venedig 1553. Nur hier äußerte Tizian sich einmalig bzw. konkret zu der offenen Malweise. 43 Vgl. Rosen, Mimesis, 299–365. Rosen verweist auf ein Widmungsschreiben Aretinos (1536), in welchem derselbe erläutert, dass Tizians ingegno die Gemälde gebar, »bevor der Verstand mit ihnen schwanger geworden sei«. Ebd., 314. Bei Rosen auch zur Anpreisung der intellektuellen Überlegenheit des Malstils in Aretinos Briefen und zum Unverständnis der unkundigen Auftraggeber sowie zur Auslegung der prestezza (Schnelligkeit des Malens) als eine Art sprezzatura der höfischen Etikette von Lodovico Dolce. 44 Rosand, David, Titian and the Eloquence of the Brush, in: Artibus et Historiae 3 (1981), 85–96. Rosand spricht von »coincidence of technique and meaning« (88), also der Maltechnik als einem linguistischen Instrument bzw. einer eigenständigen ästhetischen Kategorie. Zu den unterschiedlich repräsentierten Malweisen und Ausführungsgraden im selben Bildraum vgl. auch Rosen, Mimesis.

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lierung mit Strukturen der Natur verglich,45 haben sich zahlreiche Untersuchungen der affektiven Wirkung des Kolorits bei Tizian gewidmet. Im Fokus stehen dabei vor allem die sinnliche Suggestivkraft und die visuelle Rezeption der Farbe bzw. des pastosen Farbauftrags auf dem Bildträger.46 Insbesondere die Darstellung von Fleisch (Inkarnat) und die Instrumentalisierung von Farbe als dessen nahezu physisches Substitut bilden den Gegenstand der Betrachtungen. Der Ästhetik des ›lebendigen Bildes‹ (vivacità), der »Korrespondenz von Körperlichkeit und Materialität«47 und der damit unter anderem auch verbundenen haptischen Physiognomie der Farben wird ausgehend von Tizians Gemälden nachgespürt. Stets wird dabei Marco Boschinis (1613–1678) originäre Beschreibung der Malpraxis in Tizians Werkstatt herangezogen (publiziert 1660). Hier vergleicht der Autor mithilfe seiner barocken, metaphorisch-animistischen Sprache etwa rote Farbspritzer mit Blutstropfen, die Inkarnate mit lebendigem Fleisch und die zahlreichen Pentimenti Tizians mit der Arbeit des chirurgo benefico am kranken Fleisch des Patienten,48 wodurch das Gemälde nahezu – nun wieder modern gesprochen – selbst zum Organismus wird. Die Modellierung der Figuren, die Tizian aus einem ›Bett‹ großer Mengen auf dem Bildträger ausgestrichener Farbe (massa di colori) mit wenigen Strichen herausformte, sowie das Weglassen eines gezeichneten Entwurfs stehen für eine – in Florenz undenkbare – schrittweise Bildfindung während des Malaktes auf der Leinwand, der das Primat der Farbe für die künstlerische Gestaltung herausstellte.

45 Vgl. Hetzer, Theodor, Tizian. Geschichte seiner Farbe, Frankfurt a. M. 1935. 46 Vgl. z. B. Suthor, Nicola, Augenlust bei Tizian. Zur Konzeption sensueller Malerei in der Frühen Neuzeit, München 2004. Zu colore und colorito als zu unterscheidende Kategorien vgl. Rosand, Eloquence of the Brush, 95–96. Vgl. auch Rosen, Mimesis, die die offene Malweise Tizians wiederum im Bezugsfeld der venezianischen Rhetorik (ut pictura poesis) bzw. der lockeren Gesprächs- bzw. Dialogkultur ohne dogmatischen Wahrheitsanspruch innerhalb der privaten Akademien interpretiert. Dazu gehört die gegenseitige Angleichung von Sprach- und Bildmodus, die Verwendung ›sensonaler‹ Stilmittel und die Vermeidung einer redaktionellen Beschneidung von Texten zugunsten des ingegno (Aretino). 47 Bohde, Daniela, Haut, Fleisch und Farbe – Körperlichkeit und Materialität in den Gemälden Tizians, ­Emsdetten 2002, 14. Vgl. auch Rosand, David, The Meaning of the Mark. Leonardo and Titian, Kansas City 1988; Rosen, Mimesis; Fehrenbach, Calor nativus – color vitale. Während Fehrenbach auf dem ästhetischen Moment der Verlebendigungsstrategien besteht, dennoch auch auf die durchlässigen Grenzen verweist, argumentiert Weststeijn für Tizians Figuren- und Inkarnatmalerei in Verbindung mit der Alchemie als naturmagisch verstandene Belebung durch die Übertragung von spirito. Vgl. Weststeijn, Thijs, ›Painting’s Enchanted Poison‹. Artistic Efficacy and the Transfer of Spirits, in: Göttler, Christine/Neuber, Wolfgang (Hg.), Spirits Unseen. The Representation of Subtle Bodies in Early Modern European Culture, Leiden 2008, 141–177. Interessant ist in diesem Kontext der Verweis Bohdes auf Aretinos Titulierung Tizians als spirito della carne, vgl. Bohde, Haut, 323. Zu Dolces Auffassung von vivacita, energeia, affetti dell’animo vgl. auch Checa, Fernando, Der späte Stil Tizians, in: Ferino-Pagden (Hg.), Der späte Tizian, 61–68, hier 62. 48 Boschinis Bericht basiert vorgeblich auf der Überlieferung Palma il Giovanes (gest. 1628). Vgl. den betreffenden Text aus dessen La carta del navegar pitoresco (Venedig 1660), abgedruckt italienisch/deutsch bei Rosen, Mimesis, 414–417, oder in deutscher Übersetzung bei Ferino-Pagden (Hg.), Der späte Tizian, 19.

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Bereits im venezianischen Malereidiskurs des Cinquecento bot die Verlebendigung der Figuren durch das Mittel der (Öl-)Farbe Anlass zum Vergleich mit deren magischer Wirkung auf die zunächst unbelebte Materie. Das Verhältnis von Natur und Kunst reflektierend, schrieb Lodovico Dolce (1508–1568) in seinen Malereidialogen Tizian die gelungene imitatio naturae aufgrund seiner koloristischen Fähigkeit zu, die ihn als schöpferisch wirksamen alter deus erscheinen lasse.49 Der Umgang mit der Materie als Sieger über die schaffende Natur (natura naturans) bildete für Tizian den Ausgangspunkt seines künstlerischen Selbstverständnisses und macht ihn zum typischen Vertreter der Malerei des Manierismus. Programmatisch scheint das für Tizians Imprese gewählte Motto Natura potentior ars50 mit eindeutig alchemistischer Implikation.51 Der Bildkorpus zeigt die leckende Bärenmutter, die ihrem gerade geborenen, noch unförmigen und leblosen Jungen zu seiner figura und Lebendigkeit verhilft. Das Motiv findet sich nicht nur in Plinius’ Naturgeschichte, sondern ebenso als Sinnbild für natura als Verwandlerin aller Dinge in Ovids Metamorphosen, die Dolce, Tizians Freund, in den 1550er Jahren übersetzte und publizierte.52 Motto und Bild zusammen interpretiert, folgt daraus das Paradigma der aufkommenden Kunst- und Wunderkammern: Die Kunst möge nicht darin verharren, die Natur abzubilden (imitatio), sondern sie solle diese in ihrem dynamisch-prozesshaften Umgang mit der Materie offenlegen, imitieren und schließlich – etwa bei der Formgebung – kreativ übertreffen (aemulatio naturae). Hinzu kommt Tizians Arbeit mit der reduzierten Farbpalette und der Dominanz von Brauntönen (auch im Aktaion-Bild). Erinnert sei in diesem Zusammenhang an den von Leonhard naturphilosophisch begründeten Malakt auf dem als fruchtbar verstandenen 49 Dolce verfasste L’Aretino o Dialogo della pittura (Venedig 1557) sowie Dialogo dei colori (Venedig 1565). Vgl. Weddigen/Weber, Alchemie, 55. Dort auch der Verweis auf Sperone Speronis Dialogo d’amore von 1542. Darin vergleicht Speroni das miracolo der Farbmalerei Tizians mit der magischen Kraft der Kräuter des Glaucus, die in mythologischen Erzählungen Tote zum Leben erwecken. Vgl. auch die deutsche Übersetzung bei Bohde, Haut, 343: Tizian wäre kein Maler und seine Gabe keine Kunst, sondern ein Wunder. 50 Vgl. Pittoni, Battista, Imprese di diversi principi, Venedig 1564. Der Kupferstich in Dolces Nobili et ­Ingeniose von 1578. Das Motto ist in seiner wörtlichen Übersetzung umstritten. Für einen Überblick über die verschiedenen, nicht auf die Alchemie rekurrierenden Übersetzungen sowie den Topos des kompetitiven Verhältnisses zwischen Natur und Kunst siehe Jonietz, Fabian, Labor omnia vincit. Fragmente einer kunsthistorischen Kategorie, in: Müller, Jan-Dirk/Pfisterer, Ulrich/Bleuler, Anna Kathrin/Jonietz, Fabian (Hg.), Aemulatio. Kulturen des Wettstreits in Text und Bild (1450–1620), Berlin 2011, 573–682, hier 576–577. Vgl. weiterhin den großen Sammelband von Laufhütte, Hartmut (Hg.), Künste und Natur in Diskursen der Frühen Neuzeit, 2 Bde., Wiesbaden 2000. 51 Für eine überzeugende alchemistische Auslegung vgl. Garrad, Mary D., »Art More Powerful than Nature«? Titian’s Motto Reconsidered, in: Melman, Patricia (Hg.), The Cambridge Companion to Titian, Cambridge 2004, 241–261. Dem zustimmend Busch, Das unklassische Bild, 58–59. Busch zufolge stünden Natur und Kunst allerdings auf einer Stufe. 52 Vgl. Suthor, Augenlust bei Tizian, 15–20. Garrad verweist auf die Verbindung zu den Hieroglyphica des Horapollon, die Pierio Valeriano im Jahre 1556 herausgab. Tizian war mit Valeriano bekannt. Vgl. Garrad, Nature.

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Bildfeld, welches van Schrieck wie der alchemistische Ackermann durchpflügte und aus der Farb- bzw. Urmaterie tierische Kreaturen zeugte. Der Theoretiker Joachim von ­Sandrart (1606–1688) beschrieb die Farbe Braun überdies als potentes materielles Chaos, in dem »alle Farben beysammen und durch einander vermänget«53 sind. Hier sind deutliche Parallelen zu Tizians Malerei sichtbar, der die barocke Kunsttheorie – wenn auch unter anderen Vorzeichen – antizipierte. Betrachtet mit der Sprache der Alchemie erscheinen auch laut Werner Busch, der sich dabei vorsichtig (und mit einiger Distanz) auf James Elkins bezieht,54 Boschinis Überlieferung der Werkstattpraxis und der materielle Bestand der Fleckengemälde in einem neuen Licht. Busch sieht, insbesondere mit dem Blick auf den Tod des Aktaion, in dem suchenden Umgang mit der Malmaterie eine verblüffende Analogie zu Elkins Diktum »painting is alchemy«.55 Der von Tizian auf den Bildträger aufgetragene bräunliche Farbbrei entspreche folglich der prima materia, der unedlen, schmutzigen Ausgangssubstanz der Alchemisten. Aus dieser »trächtigen Materie« werde der »schrittweise aufgebaute Farbkörper« entwickelt, die scheinbar lebenden Figuren tauchten aus dem Dunkel auf; »einzelne Lichter konkretisieren die Erscheinung«.56 Nun ist darauf hinzuweisen, dass die Beschreibung Boschinis, der an anderer Stelle die Wirkung der macchie Tizians unmissverständlich mit betörender »strigarie«57 oder »magia, che incanta le persone, che la vede«58 verglich, deutliche terminologische Hinweise auf Tizian als Maler-Alchemisten bzw. Maler-Magier liefert (»Questa no’ xè Pitura, l’è magia«59). Wir müssen entsprechend nicht auf Buschs Beobachtung am materiellen Bestand und Elkins allgemeine Formulierungen zurückgreifen, sondern Boschinis Überlieferung als alchemistische Metapher lesen:60 Das ›Farbbett‹, von dem aus Tizian seine espressioni herauszuarbeiten begann, impliziert die Fruchtbarkeit des oben angesprochenen 53 Sandrart, Joachim von, Teutsche Akademie der edlen Bau-, Bild- und Malereikünste, Bd. 1, Nürnberg 1675–1679, 86, 88, zit. 86, online verfügbar unter: Sandrart.net, http://ta.sandrart.net/-text-173-de-fr, letzter Zugriff: 10.06.2019. Vgl. Leonhard, Bildfelder, 421. 54 Vgl. Busch, Das unklassische Bild, bes. Kap. 4; Elkins, What Painting is. 55 Elkins, What Painting is, 8. 56 Alle Zitate bei Busch, Das unklassische Bild, 98–99. Dort gleichfalls zur speziellen, geradezu den Körper abtastenden Pinselführung in der Madrider Danae, 1550–1553. 57 Boschini, Marco, La carta del navegar pitoresco. Dialogo tra un Senator venetian deletante e un professor de Pitura, soto nome d’Ecelenza, e de Compare. Comparti in oto venti, Venedig 1660, 296, online verfügbar unter: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/boschini1660, letzter Zugriff: 10.06.2019. Vgl. auch Sohm, Philip, Style in the Art Theory of Early Modern Italy, Cambridge 2001, 144–164, hier bes. 152; Weststeijn, Transfer of Spirits, 148. 58 Boschini, La carta del navegar pitoresco, 182. 59 Ebd. Dieser Passage ist vorangestellt: »Non fu mai visto certo tra Pitori/Pompa real, azion si maestosa,/ Maniera cusi grave e decorosa!« Ebd., 181. 60 Hier muss künftig eine fundierte Quellenkritik folgen, da Boschinis Bericht nicht dem Cinquecento bzw. der Ära Tizians entstammt. Der Maler – und interessanterweise Händler von perle false und granate false – stand meines Erachtens deutlich unter dem Einfluss alchemistischer Strömungen. Zahlreiche Ausführungen Boschinis deuten auf die Rezeption barocker Alchemiepoesie.

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(Bild‑)Ackers und nicht zuletzt die Fruchtbarkeit des ehelichen Bettes.61 Auffallend ist die ausschließliche Aufzählung der verwendeten Farben Schwarz, Weiß, Gelb und Rot für die Anlage einer Art energisch hingeworfenen Skizze auf der Leinwand.62 Diese entsteht »con queste massime di dottrina« aus lediglich vier farbigen Strichen und lässt aus der Malmaterie eine prächtige Figur »aufscheinen« (comparire).63 Sorglos und frei hintereinander (in unterschiedlicher Reihenfolge) sowie mit ein und demselben Pinsel verwandte Tizian dieses Quartett, das – abgesehen von dem Bezug auf die Vierfarbenlehre des Apelles – im alchemistischen Labor die Farbsequenz des Opus Magnum (nigredo, albedo, citrinitas und rubedo) kennzeichnet. In der spirituellen Alchemie symbolisiert das effektvolle Farbspiel die Stufen der Veredelung. Logisch erscheint weiterhin die wiederholte ›Reduktion‹ der Formen oder die Unterbrechung des Malaktes für mehrere Monate, da auch der Alchemist die Materie »reduzieren« (reductio), »trocknen« (Teil der calcinatio) oder monatelang wachsen lässt, um anschließend den Prozess fortzuführen.64 Der oben erwähnte Vergleich des Malers mit dem guten Chirurgen, der das kranke Fleisch entfernt, entspricht dem alchemistischen Topos der Trennung des Reinen vom Unreinen. Vor allem die fleischliche Belebung seiner Figuren mit carne viva, ausgehend von den »estratti di quinta essenza«65 (entstanden 61 Boschini, La carta del navegar pitoresco, zit. nach 415: »massa di colori che servivano (come dire) per far letto o base alle espressioni, che sopra pi li doveva fabbricare«. Noch heute ist im Italienischen der Begriff letto vielfach mit dem Bereich der Zeugung verbunden, beispielsweise in letto caldo (Frühbeet), figlio di primo letto (Kind aus erster Ehe). 62 Ebd.: »con una pennellata di biacca, con lo stesso pennello tinto rosso, di nero e di giallo, formava il ­relievo d’un chiaro«. Übersetzung: Denselben Pinsel, den er für Bleiweiß benutzt hatte, tauchte er in Rot, Schwarz oder Gelb und brachte so den rilievo der hellen Partien hervor. Vgl. Rosen, Mimesis, 447, auch zum möglichen Antikenbezug bzw. der Reduktion der Farbpalette in der Nachahmung des Apelles auf Rot, Gelb, Schwarz und Weiß. Vgl. auch Gage, Kulturgeschichte der Farbe, 34. Im sogenannten alchemistischen Farbspiel bzw. Pfauenschweif (cauda pavonis) zeigt das erhitzte Metall nacheinander diese vier Farben, ebd., 139–141. 63 Boschini, La carta del navegar pitoresco, zit. nach Rosen, Mimesis, 416: »e con queste massime di dottrina, faceva comparire in quattro pennellate la promessa di una rara figura.« Rosen übersetzt »comparire« mit »andeuten«, die Wortgruppe »massime di dottrina« – Maximen/Regeln der Lehre – überträgt sie lediglich mit »überlegte Arbeitsweise«. Nicht ganz klar wird, ob sich Boschini mit den »massime« auf die vier Farben oder auf den Vorgang des Skizzierens mit vier Strichen bezieht. 64 Ebd., 415: »Così operando e riformando quelle figure, le riduceva nella più perfetta simmetria che potesse rappresentare il bello della Natura e dell’Arte; e dopo fatto questo ponendo le mani ad altri, fino che quello fosse asciutto, faceva lo stesso […].« Interessanterweise bedeutet reductio im alchemistischen Prozess die erneute Vereinigung von Geist und Materie. Zum Prozess des ungewöhnlichen Trocknen-Lassens muss darauf hingewiesen werden, dass Tizian vor allem dadurch die gewünschten Effekte der Taktilität erzielen konnte. Das Aushärten der einzelnen Farbschichten nahm mehrere Wochen in Anspruch. Vgl. Hills, Paul, Venetian Colour. Marble, Mosaic, Painting and Glass 1250–1550, New Haven 1999, 225. 65 Boschini, La carta del navegar pitoresco, zit. nach Rosen, Mimesis, 415: »e di quando in quando poi copriva di carne viva quegli estratti di quinta essenza, riducendoli con molte repliche che sol il respirare loro mancava«.

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durch die von Tizian vorgenommene Reduktion), muss aufhorchen lassen, handelte es sich doch bei der quinta essentia im 16. Jahrhundert um einen Signalbegriff, der für die alchemistische Extrahierung der mystischen, himmlischen – übrigens auch heilenden – Kraft aller Stoffe stand. Die arkane Quintessenz wurde auch dafür verwendet (metaphorisch oder laborantisch), an sich unvereinbare Stoffe miteinander zu verbinden.66 In diesen Zusammenhang passen sich Formulierungen wie »Vereinigung der Farben« (»unendo una tinta con l’altra«)67 ein oder etwa die Annahme Boschinis, Tizian wäre in die segreti dell’Arte eingeweiht gewesen. Dass Tizian zwar intuitiv, aber während seiner schöpferischen Tätigkeit als alter deus – wie ein Plastiker68 – zielgerichtet konzeptionell formte, bezeugt Boschini, wenn er überliefert: »egli con ragione così operò«.69 Statt den mimetischen Schein des Bildes zu verstärken und die üblicherweise als Last empfundene Materialität des Kunstwerkes aufzuheben, verheiratete Tizian Material und malerische Idee in einer Art Chymischen Hochzeit,70 die als zwei Elemente diskursiv sichtbar bleiben und den dynamischen Prozess ihrer Vereinigung und Werdung – auf dem fruchtbaren »letto […] alle espressioni«71 – scheinbar nie abzuschließen gewillt sind. Pentimenti verdeutlichen die optionale – gleichfalls metamorphotische respektive transmutative – Veränderung der Bildfindung als Erkenntnisprozess im Vergleich zu einer statischen Übertragung des vorgefertigten Entwurfes. Mehr oder weniger pastos aufgetragene Farbfelder thematisieren bzw. kommunizieren die allgegenwärtige Metamorphose des Materials. Die fleckige vermeintliche Unordnung des Kolorits, unter der einstweilen die grundierte Leinwand hervorlugt, die sich der gestrengen Ästhetik des disegno-Paradigmas widersetzt, wird dem Betrachter als generative Bildfindung vorgeführt, die anschließend durch verschiedene Techniken der individuellen Betrachtungen – sich nähern, heranzoomen, den Blickwinkel verändern – stets aufs Neue dynamisch wandelbare Bilder und an den Rezipienten gebundene Imaginationen zeigt. Die offene Malweise gibt somit wesentlich mehr Raum für eine interpretative Rezeption bzw. eine erneute Metamorphose des Materials. Nicht nur Tizian betätigte 66 Zur Definition vgl. Priesner, Claus/Figala, Karin (Hg.), Alchemie. Lexikon einer hermetischen Wissenschaft, München 1998, 300; Pagel, Walter, The Higher Elements and Prime Matter in Renaissance Naturalism and in Paracelsus, in: Ambix 21 (1974), 93–127. Vgl. auch das Werk des deutschen Wunderheilers Leonhard Thurneysser (1531–1596): Hofmeier, Thomas (Hg.), Leonhard Thurneyssers Quinta Essentia 1574. Ein alchemistisches Lehrbuch in Versen, Berlin/Basel 2007. 67 Boschini, La carta del navegar pitoresco, zit. nach Rosen, Mimesis, 415. 68 van Gastel, Joris, Il Marmo spirante. Sculpture and Experience in Seventeenth-Century Rome, Berlin 2013, Abschnitt: Titian as a sculptor of flesh. Siehe auch Plackinger, Andreas, »Violenza«. Gewalt als Denkfigur im michelangelesken Kunstdiskurs, Berlin 2016, 137–139, bes. 139: »Tizian malt kein Bild, er macht ein Bild, er formt es, überschreitet die Schwelle vom Maler zum Modelleur […]«. 69 Boschini, La carta del navegar pitoresco, zit. nach Rosen, Mimesis, 416. 70 Zur Chymischen Hochzeit als einem zentralen Leitmotiv der alchemistischen Vereinigung gegensätzlicher Prinzipien zum perfekten Ganzen vgl. den Eintrag bei Priesner/Figala (Hg.), Lexikon, 47–48, 157, 217. 71 Boschini, La carta del navegar pitoresco, zit. nach Rosen, Mimesis, 414–415.

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sich demnach als Schöpfer oder Verlebendiger nach dem oben diskutierten Motto der endlos schöpferischen natura naturans, sondern der Betrachter selbst. Das scheinbar Unentschiedene, Verschwommene, nicht von klaren Linien Umrissene wächst vor dem inneren Auge weiter. Frappant ist hier die Parallele von Tizians non finito (bildästhetisch und im nie abgeschlossenen Arbeitsprozess mit den vielen Überarbeitungen und Farbschichten) zum hermetisch-magischen Korpus der Frühen Neuzeit, dessen Exegese und Erkenntnisstrategien von seinen läuterungswilligen Utopisten gerade dafür geschätzt wurden, nicht auf der Suche nach einem unumstößAbb. 4: Tizian, Bildnis des Farbenhändlers Alvise dalla lichen Kanon oder vorgeprägten Grenz- Scala, um 1561/62, Öl auf Leinwand, 138 × 116 cm, Geziehungen zu sein. Beim Blick des Indi- mäldegalerie Alte Meister Dresden. viduums auf die aus dem Dunkel der durchgeistigten Materie hervorgeholten Gestalten des Maler-­Alchemisten entsteht jeweils aufs Neue eine spezifische Erkenntnis. Umso sinnfälliger wird weiterhin, warum die Koloristen – im Vergleich zu den Verfechtern des disegno-­Paradigmas – kein Interesse an einer kanonisierten Kunsttheorie mit autoritärem Wahrheitsanspruch zeigten.72 Mit Blick auf den als (Flecken-)Gemälde inszenierten Landschaftsausblick im Porträt des Farbenhändlers und Alchemiekundigen Alvise dalla Scala (Abb. 4)73 kommen Tristan Weddigen und Gregor Weber zu der Auffassung, dass die Bedeutung der Alchemie für Tizians Bildkonzept bislang zu wenig bedacht wurde. Was üblicherweise – und nach wie vor richtig – als Paragone zwischen ars und natura gedeutet werden kann, erhielt durch die erst vor einigen Jahren gelungene Identifikation des Porträtierten eine präzisere Variante der Interpretation: Auf dem Fenster mit ostentativ offen gemaltem Landschaftsausblick stellt 72 Zur Bevorzugung des Dialoges über Kunst anstelle des autoritären Kunsttraktates vgl. Rosen, Mimesis, 81–124. 73 Dalla Scala, Mitglied der Apothekerzunft der speziali, war höchstwahrscheinlich Tizians persönlicher Farbenlieferant. Außerdem kannten sich die beiden über ihre Mitgliedschaft in der Scuola Grande di San Rocco. Im Auftrag Philipps II., des Königs von Spanien, besorgten Tizian (1561) und ebenso sein Sohn Orazio (1572) bei Alvise hochwertige Farben für den spanischen Hof. Die Anfertigung eines Porträts versteht sich für den um sozialen Aufstieg bemühten Händler als integraler Bestandteil einer »repräsentativen Selbstveredelung«. Vgl. Weddigen/Weber, Alchemie, 57.

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der in schwarze Seide gekleidete vendecolori seinen geöffneten Farben- bzw. Probenkasten zur Schau. Die darin gezeigten Farbmaterialien finden in der triumphierenden Kunstlandschaft mit Unsterblichkeitscharakter ihre Entsprechung. Als gottähnlicher Schöpfer und produzierender Farbenmischer in Personalunion fördert Tizian »quasi alchemistisch das wahre Licht aus der dunklen, von Gott durchdrungenen Materie an den Tag.«74 Tizian sah sich freilich gleichzeitig der Ironie der Kunsttheorie ausgesetzt, wenn Paolo Pino (1548) unter der »vera alchimia della pittura«75 die lukrative Umwandlung von Malfarbe in das Gold des zahlenden Auftraggebers subsumiert. Aber vor allem die schöpferische Alchemie der Farben als Element der Suche nach dem lapis philosophorum im Rahmen der imitatio naturae muss, jenseits der Lobpreisung der alchimia de i pittori Venetiani als Farbproduktion durch Giovanni Paolo Lomazzo (1584), ein Thema zwischen den beiden Männern gewesen sein.76 Sowohl physiognomisch (durch die haptisch greifbare Faktur der Landschaft) als auch optisch (mittels der farblichen Beziehungen zwischen Landschaft und dem Farbmaterial im Schaukasten)77 und nicht zuletzt ikonographisch (in der Absetzung des Gemäldes der Natur von dem scheinbar lebendigen Porträt) inszeniert Tizian programmatisch sein Konzept der (Flecken-)Malerei zu Beginn der 1560er Jahre: Wenn er etwas Substanzielles über das Wesen der Materie und die Schöpferkraft der Natur artikulieren möchte, muss sich der Maler-Alchemist mit der offenen Malweise mitteilen. An dieser Stelle sei nun der Vergleich der reliefartigen Gemälde Tizians mit den in ihrem materiellen Bildkonzept einfacher zu interpretierenden typischen Kunstkammerstücken – ebenfalls meraviglie – gewagt, die augenscheinlich und allgemein anerkannt die Entwicklungsmöglichkeiten der Materie reflektieren. So unterstreicht beispielsweise Caspar Ulichs Handstein die Kenntnis des Naturmaterials bzw. lässt der Künstler den verwendeten Rohstoff auffällig sichtbar zurück, wenn er sein Historienbild nicht wie Tizian aus dem Farbmaterial, sondern aus dem Erz hervorgräbt (Abb. 2). Geformt aus mineralischen Funden frühneuzeitlicher Bergwerksreviere, die man bekanntlich mit alchemistischen Hervorbringungen der Mutter Erde verband, griff der Künstler die Naturform auf und betätigte sich als zweite Natur, die aber als vollendende Kraft imstande war, den Heiland auftauchen zu lassen.78 74 Ebd. 75 Pino, Paolo, Dialogo di pittura, Venedig 1548, fol. 22r. 76 Vgl. Lomazzo, Giovanni Paolo, Trattato de l’arte de la pittura, Mailand 1585, 191, bezüglich der Herstellung von Auripigment (oropimento arso, il quale si dice color d’oro). Vgl. dazu auch Hills, Venetian Colour, 146– 150. 77 Der Hinweis auf Tizians Experimentieren mit physischen und optischen Farbmischungen bei Fehrenbach, Frank, Kohäsion und Transgression. Zur Dialektik des lebendigen Bildes, in: Pfisterer/Zimmermann (Hg.), Das Kunstwerk als Lebewesen, 1–40, bes. 4–6. 78 Siehe Neumann, Erwin, Werke der Steinschneidekunst im Kunsthistorischen Museum in Wien, in: Kulturelle Monatsschrift 18 (1958), Heft 11, 95–97.

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3. Mythoalchemie und der Tod des Aktaion Schauen wir nun in einem weiteren Schritt auf die Interpretation des im Aktaion-Bild dargestellten Mythos in Verbindung mit einem noch wenig beachteten Strang der frühneuzeitlichen Mythosrezeption. Dafür muss der Fokus weg von der traditionell herangezogenen Textversion der Metamorphosen des Ovid, die Lodovico Dolce publizierte,79 auf mögliche Textvorlagen im Bereich der Mythoalchemie80 verschoben werden, die jedoch nicht weniger bedeutend waren als die umfassende Alchemisierung der christlich-mystischen Heilsgeschichte. Der alchemische Hermetismus der Frühen Neuzeit hielt den antiken Mythos für verschlüsselte Botschaften des verschütteten Wissens, was in der Mythenexegese zur Alchemisierung dieser geheimnisvollen Überlieferungen führte (beispielsweise Goldenes Vlies, Venus und Adonis81). Insbesondere die mythoalchemische Ovid-Rezeption82 verband Elemente der Naturphilosophie mit dem Stoff der polymorphen Gestaltverwandlungen in den Sagen der Metamorphosen.83 Folgerichtig wurde beispielsweise auch das von Tizian mehrfach gemalte Motiv der Danae (Abb. 3), welcher sich Jupiter als Goldregen näherte, in alchemischen Publikationen mythoalchemisch ausgedeutet. Jupiters Verwandlung galt dabei unter anderem als metallurgisch-alchemistische Transformation oder als die Dif79 Dolce, Lodovico, Trasformationi, Venedig 1553; 1558. Konventionell setzen sich ikonographische bzw. ikonologische Untersuchungen gleichfalls mit der bis in das 17. Jahrhundert maßgeblichen Deutung der Mythen durch Natale Conti (1520–1582) auseinander. Die Mythologiae, sive explicationis fabularum libri decem erschienen bei Paolo Manuzio in Venedig 1551. Conti gehörte zu den ausgesprochenen Gegnern mythoalchemischer Interpretationen. Allerdings stehen seine allegorischen Mythenausdeutungen deutlich unter dem Einfluss des Florentiner Neuplatonismus: Der entschlüsselte Mythos sei Grundlage der antiken Philosophie. Vgl. Thimann, Michael, Lügenhafte Bilder. Ovids favole und das Historienbild in der ­italienischen Renaissance, Göttingen 2002. 80 Vgl. Priesner/Figala (Hg.), Lexikon, 247–248. Insbesondere der Florentiner Neoplatonismus und die Etablierung einer hermetischen Kosmologie sowie Naturmagie auf der Basis des sogenannten Corpus ­hermeticum lösten diesen Zweig der Auseinandersetzung mit den Göttersagen aus. Zur christlich-alchemischen Allegorese vgl. z. B. Obrist, Barbara, Les débuts de l’imagerie alchimique (XIVe–XVe siècles), Paris 1982. Vgl. zur Mythoalchemie in Italien auch Ricciardi, Antonio, Commentaria Symbolica, 2 Bde., Venedig 1591, hg. von Mino Gabriele/Antonia Ida Fontana, Trient 2005, mit zahlreichen mythoalchemischen Deutungen Ricciardis (1527–1610). 81 1554 sandte Tizian im Rahmen der Poesie-Folge auch Venus und Adonis nach Madrid (heute Museo del Prado). Zur Auslegung im Rahmen der Mythoalchemie und der Chymischen Hochzeit der beiden Sagengestalten vgl. Muñoz Simonds, Peggy, Love is a Spirit All Compact of Fire. Alchemical Coniunctio in Venus and Adonis, in: Adams, Alison/Linden, Stanton J. (Hg.), Emblems and Alchemy, Glasgow 1999, 133–156. 82 Vgl. Kühlmann, Wilhelm, Sinnbilder der Transmutationskunst. Einblicke in die mythoalchemische Ovidrezeption von Petrus Bonus bis Michael Maier, in: Marek, Heidi/Neuschäfer, Anne/Tichy, Susanne (Hg.), Metamorphosen. Wandlungen und Verwandlungen in Literatur, Sprache und Kunst von der Antike bis zur Gegenwart, Wiesbaden 2002, 163–176; Kahn, Didier/Matton, Sylvain (Hg.), Alchimie, art, histoire et mythes, Paris 1995, mit weiterer Literatur. 83 Vgl. z. B. Harzer, Friedmann, Arcana Arcanissima. Emblematik und Mythoalchemie bei Michael Maier, in: Harms, Wolfgang (Hg.), Polyvalenz und Multifunktionalität der Emblematik, Bd. 1, Frankfurt a. M. 2002, 319–332.

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fusion des alchemistischen Taus, der die Welt befruchtet. Die ›alchemisierte‹, in ihrem Turmverlies eingesperrte Danae als züchtiges, gleichwohl in erotischer Pracht darstellbares vas hermeticum nimmt den göttlichen Samen auf und gilt als das metaphorische Pendant zur Gottesmutter Maria.84 Nun führt die frühe Geschichte der Mythoalchemie mit den gedruckten Büchern des Petrus Bonus oder Giovanni Bracescos (um 1481–um 1555)85 direkt in das Venedig Tizians. Petrus Bonus’ Kompendium Pretiosa margarita novella de thesauro, ac pretiosissimo philosophorum lapide (ca. 1335) gilt als Beginn der alchemischen Exegese der Metamorphosen (und allgemein antiker Mythen). Die Sammlung erschien 1546 erstmals in gedruckter, teilweise bebilderter Fassung in der Lagunenstadt. Verleger war Paolo Manuzio (1512–1574), Sohn des berühmten Verlagsgründers Aldo Manuzio und ebenso bekannt aus dem für Tizian bedeutenden intellektuellen Umfeld Pietro Aretinos und Giulio Camillos (1480–1544).86 Vincenzo Percollas (gest. 1572) alchemische Interpretation der Metamorphosen des Ovid wurde etwas später, ungefähr um die 1560er Jahre, als Auriloquio handschriftlich fixiert.87 Mit präzisen laborantischen Experimentiervorlagen hat Percollas Text keinerlei Gemeinsamkeiten; Adressat ist ein gebildetes, auslegungsfreudiges Publikum. Nach meinem Eindruck setzen die teils sporadischen Autorenkommentare die Kenntnis der bis dahin längst verbreiteten ›klassischen‹ Metamorphosen-Ausgaben voraus. Jeweils auf ihren arkanen Gehalt reduziert, verknappt Percolla die favole wiederholt. In diesem ersten systematisch angelegten Kompendium mythoalchemischer Deutungen liefert die hier besonders interessierende favola di Atheone ein Lehrstück der alchemischen Exegese der ovidischen Sagen.88 Erwartungsgemäß geht es unter den Aspekten der Verwandlung, Vereinigung und Teilung der Elemente um spirituell erlangte Naturerkennt-

84 Vgl. Linden, Stanton J., Darke Hierogliphicks. Alchemy in English Literature from Chaucer to the Restoration, Kentucky 2008. 85 Vgl. die erstmals in Venedig verlegte mythoalchemische, mehrfach auch über Farben bzw. Färbungen handelnde Publikation von Bracesco, Giovanni, La Espositione di Geber, Venedig 1544 (sowie 1551, 1572). 86 Vgl. Kühlmann, Sinnbilder der Transmutationskunst, 164–165. (Dort fälschlich mit dem Erscheinungsjahr 1547). Titel der Kompilation: Lacinio, Giovanni, Pretiosa margarita: novella de thesauro, ac pretiosissimo philosophorum lapide. Collectanea ex Arnaldo, Rhaymundo, Rhasi, Alberto, & Michaele Scot, Venedig 1546. Schon 1557 folgte eine zweite Auflage in Venedig. Zu Manuzio, der Mitglied der Accademia Veneziana war, und Giulio Camillo vgl. Bolzoni, Lina, The Gallery of Memory. Literary and Iconographic Models in the Age of the Printing Press, Toronto 2001, bes. 30–34. 87 Percolla, Vincenzo, Auriloquio. Nel quale si tratta dello ascoso secreto dell’Alchimia. Trattato manoscritto del ’500 d’interpretazione alchemica dei miti greci et romani, hg. von Carlo Alberto Anzuini, Paris/Mailand 1996, V–XVIII. Der Codex befindet sich in der Biblioteca Nazionale di Napoli. Bis 1865 befand er sich in der neapolitanischen Kirchenbibliothek der Padri Cappuccini dell’Immacolata Concetione (ebd. XV). 88 Vgl. ebd., 127 (Della favola di Atheone, nella quale si contiene la via della divisione degli elementi).

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nis.89 Die Aktaion-Passage kann als chiffrierter Hinweis auf die mythischen Weisheiten zur Herstellung des Steins der Weisen gedeutet werden, denn erste Grundlage für das Magisterium ist das Zerteilen des Ausgangsmaterials in die Elemente bzw. die prima materia.90 Die Verwandlung der äußeren Form mit den Spritzern des quecksilbrigen Dianenbades ist für den ›totalen‹ Jäger (»Cacciatore, essendo quell cacciatore che piglia ogni caccia«91) nur ein Zwischenziel. Als sublimiertes Wesen kann er die Alembik passieren, also entweichen (»fatto cervo, lo solve et fà leggiero animale, perciò che soluto salta et passa lambicco«92). Die damit verbundene, durch das Feuer angefachte Zerstückelung bzw. putrefactio ist, im krassen Gegensatz zu Ovid, keine angsteinflößende Strafe, sondern das, wohin die glühenden Leidenschaften Aktaions konsequent führen mussten (»E’ da suoi cani lacerato, da suoi fuocchi, con i quali s’affina et caccia tutto quello che vuole«93). Somit bildet der vorläufige ›Tod der Materie‹ die Voraussetzung für die nächsten Stufen des Opus Magnum.

4. Alchemie am spanischen Hof und in Tizians persönlichem Umfeld in Venedig Was läge näher, als die zur Schau getragene Kenntnis der Umwandlung oder sogar der Auflösung von Materie bei Tizians sterbendem Aktaion mit der mythoalchemischen Metamorphose Aktaions in Verbindung zu bringen?94 Ohne hier andere Deutungsansätze auszuschließen,95 scheint im Tod des Aktaion die hermetische Transmutation – materiell und spirituell – eine Hauptrolle zu spielen. Die vorgeführte künstlerisch-alchemistische Metamorphose des dreidimensional zu lesenden Bild- und Farbmaterials verschränkt die zwei89 Bei Percolla symbolisiert das Dianenbad die Veredelung von Quecksilber zu sublimiertem bzw. spirituellem Mercurius. Aktaion wird als überhitztes Gold interpretiert (l’oro calcinato), das sich seinerseits mit dem animierten Mercurius für einen Veredelungsprozess verbinden möchte (Erlösung und Erkenntnis zugleich). Folglich ist der Akt des Wasserbespritzens hier als Auflösung/Sublimierung für eine sich dann neu formierende Transformation gemeint. Das »Zerreißen« des verwandelten Jägers durch die Hunde (tätig als feuriges Element) legt Percolla als putrefactio bzw. Teilung der vier Elemente aus. 90 Vgl. Putrefactio, in: Priesner/Figala (Hg.), Lexikon, 32, 41, 54, 60, 64, 219, 239, 262, 322. Im alchemistischen Prozess wird diese erste Stufe auch als nigredo angesprochen, da sich der Stoff schwarz färbt. 91 Percolla, Auriloquio, 127. 92 Ebd. 93 Ebd. 94 Eine hermetische Ausdeutung (ohne Verweis auf Quellen) mit einer Betonung der Enthüllung esoterischen Wissens für Tizians Gemälde Diana und Aktaion bei Battistini, Matilde, Astrologia, magia e alchimia, Mailand 2004, 159. 95 Zur Auslegung der Metamorphosen vgl. Thimann, Ovids favole, Einleitung. Allgemein zum Diana-Aktaion-­ Motiv vgl. z. B. Margolin, Jean Claude, Sur quelques figures d’Actéon à la Renaissance, in: Marek (Hg.), Metamorphosen, 129–139.

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dimensionale Darstellung eines Mythos’ mit den Möglichkeiten der alchemischen Auslegung. In diesem Zusammenhang spielt das bislang nicht berücksichtigte Interesse des spanischen Habsburgers Philipp II. an der metallurgischen und ebenso an der spekulativen Alchemie eine Hauptrolle. Der katholische Philipp, ab 1556 Nachfolger Karls V. als König von Spanien, verlor nur allmählich – aber niemals endgültig – in den späten 1560er Jahren das Interesse an der goldsuchenden Alchemie und förderte überdies intensiv die paracelsische (Pflanzen-)Medizin (Spagyrik) auf der Suche nach dem Universalheilmittel (panacea).96 Der Monarch, zwischen 1563 und 1571 Erzieher des für seinen Hang zu Magie und Alchemie besser bekannten Rudolph II. (1552–1612),97 sammelte schwerpunktmäßig Publikationen der okkulten Wissenschaften in der Bibliothek des neu errichteten Escorial.98 Philipp II. pflegte nicht nur Kontakte zu Alchemisten in Antwerpen oder Mecheln, sondern errichtete in den 1560er Jahren im Escorial selbst ein Labor mit den dafür nötigen Brennöfen. Genauestens ließ er sich unter anderem über die signifikanten Farbveränderungen und langwierigen Transmutationen der Substanzen unterrichten, war offenbar auch in Detailfragen der materiellen Kultur der Alchemie und in den Zeitaufwand der Experimente eingewiesen.99 Anstellung bei Philipp II. fanden auch italienische Alchemisten mit Kontakten nach Venedig. Der wichtigste und schillerndste Vertreter war mit Sicherheit der akademisch geschulte und dennoch bekennende Paracelsus-Anhänger Leonardo Fioravanti (1518–1588), der ab 1558 dauerhaft in Venedig – offiziell als praktischer chirurgo – lebte und dort bis in die 1570er Jahre acht Bücher publizierte.100 Als gefragter Shootingstar der Alternativmedizin stellte er Elixiere wie eine gefragte quinta essentia her (fenice hieß einer seiner Läden). Von der Lagunenstadt, in der er ebenfalls (gewohnt) 96 Vgl. Puerto Sarmiento, Francisco Javier, La panacea aúrea. Alquimia y destilación en la corte de Felipe II, in: Dynamis. Acta Hispanica ad Medicinae Scientiarumque Historiam Illustrandam 17 (1997), 107–140; Ruiz, Javier, Los Alquimistas de Felipe II, in: Historia 16 (1977), 49–55, hier bes. 49–50 ; Rodríguez Guerrero, José, Censura y paracelsismo durante el reinado de Felipe II, in: Azogue 4 (2001), online verfügbar unter: http:// www.revistaazogue.com/inquisicion.htm, letzter Zugriff: 27.07.2018. Die Arbeiten von Ruiz sowie Sarmiento relativierend vgl. Mar Rey Bueno, Maria del, La Mayson pour Distiller des Eaües at El Escorial. Alchemy and Medicine at the Court of Philip II, 1556–1598, in: Medical History, Supplement 29 (2009), 26–39. 97 Vgl. Marshall, Peter, The Magic Circle of Rudolf II. Alchemy and Astrology in Renaissance Prague, New York 2006. Zur Verbindung mit der Malerei vgl. Metzler, Sally, Artists, Alchemists and Mannerists in Courtly Prague, in: Wamberg, Jacob (Hg.), Art and Alchemy, Copenhagen 2006, 129–148. 98 Die Schwerpunkte bestanden in »alquimia, astrología, cábala y magia natural«. Die Bibliothek sollte das gesamte Wissen der Menschheit umfassen. Vgl. Mar Rey Bueno, Maria del, Alquimia. El gran secreto, ­Madrid 2002, 77. Nukleus der Sammlung war die berühmte Bibliothek des spanischen Diplomaten in ­Venedig Diego Hurtado de Mendoza (1503–1575). 99 Vgl. Mar Rey Bueno, Mayson pour Distiller. Zweifellos ist Philipp II. daher im gemalten Explosionsdrama der von Tizian übersendeten Danae die oben diskutierte, allen Alchemisten bekannte Farbkombination aufgefallen. 100 So auch die enzyklopädische Schrift von Fioravanti, Leonardo, Dello Specchio Di Scientia Universale. Libri Tre, Venedig 1567, 39–41 (Kap. 15: Dell’arte del Dipintore, & suoi belli effetti). Dort auch weitere Kapitel über die Alchemie, Glas- und Spiegelherstellung bzw. Murano.

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viele Gegner (etwa orthodoxe Ärzte, Apotheker, Anatomen), aber auch viele wichtige Förderer wie Girolamo Ruscelli hatte, ging der Wunderheiler 1573 auf Einladung Philipps nach Madrid und verbreitete dort in den höfischen Zirkeln seine okkulten Theorien.101 Derartige, stets streng verheimlichte Ambitionen gelten heute als konstituierend für das moderne Herrscherverständnis des Habsburgers.102 Noch zwingender stellt sich die Verbindung zwischen der Mythoalchemie des Auriloquio und dem Habsburgerhof in Madrid als Empfänger der Poesie dar, beachtet man, dass der Autor Vincenzo Percolla – dottissimo d’ogni scienza103 – zwischen 1562 und 1572 der von Philipp entsandte spanische Regent Siziliens war. Bevor Percolla 1572 bei Philipp in Ungnade fiel und in Gefangenschaft verstarb, konnte er für die Abfassung des Kompendiums aus einer längeren italienischen und spanischen Tradition der alchemischen Auslegung der ovidischen Verwandlungsgeschichten schöpfen.104 Seine bisher kaum beachtete Geheimnis- und Mythensammlung konzipierte Percolla bereits im Umfeld Philipps in Madrid.105 Es ist naheliegend, dass er mit seiner Systematik der alchemisierten Mythen im Interessenbereich des spanischen Hofes arbeitete106 und Tizian mit seinen Verwandlungsbildern bzw. »pitture di fabulosa inventione«107 ebenfalls – zumindest partiell – auf dieses moderne Verständnis der Mythologie abzielte.108 101 Vgl. Eaman, William, Masters of Fire. Italian Alchemists in the Court of Philip II of Spain, in: López Pérez, Miguel/Kahn, Didier/Mar Rey Bueno, Maria del (Hg.), Chymia. Science and Nature in Medieval and Early Modern Europe, Cambridge 2010, 138–156. Vgl. auch Eaman, William, Alchemy in Popular Culture. Leonardo Fioravanti and the Search for the Philosopher’s Stone, in: Early Science and Medicine 5 (2000), 196–213. Zu Fioravanti in Venedig mitsamt seinen Medikamenten und Verbindungen vgl. Palmer, Richard, Pharmacy in the Republic of Venice, in: Wear, Andrew/French, Roger Kenneth/Lonie, Iain M. (Hg.), The Medical Renaissance of the Sixteenth Century, Cambridge 1985, 100–117. 102 Vgl. Mar Rey Bueno, Mayson pour Distiller, 36. 103 Percolla war promovierter Jurist und übernahm 1569 erstmalig auch die Position des Presidente del Giustitia della Cran Corte. Vincenzo Auria nennt Percolla 1697 »il Dottor […] dottissimo d’ogni scienza«. Vgl. Auria, Vincenzo, Historia cronologica delli signori vicere di Sicilia, Palermo 1697, 298, 302 (Zitat 302). Außerdem unterstreicht der Verfasser Percollas Kampf gegen die Häresie und dessen Rolle als Haereticae Pravitatis Inquisitor. 104 Zur Tradition der Mythoalchemie in Spanien vgl. etwa Franch, Joan Feliu, El Toisón de Oro y la alquimia en la Corte de Felipe II. De brazo armado de Dios a rey pastor, in: Mínguez, Víctor (Hg.), Visiones de la monarquía hispánica, Castelló de la Plana 2007, 285–320. 105 In der Vorrede verlautet der Autor, dass »la Maesta Cattolica vuole, che tuttavia io presveri ne’ i suoi servigi in questo supremo Consiglio, hò deliberato manisfestarti tutto quello, che io intendo in questo breve compendio, che chiamo Auriloquio«, vgl. Percolla, Auriloquio, Einleitung. 106 Philipp II. besaß drei Ausgaben der Metamorphosen. 1556 hatte er in Antwerpen fünf Tapisserien mit weiteren Themen der Metamorphosen erworben, die ebenfalls als poesie bezeichnet worden sind. Vgl. Falomir, Miguel, The poesie, in: Falomir, Miguel (Hg.), Tiziano (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Museo del Prado Madrid 10. Juni–07. Sept. 2003), Madrid 2003, 386–391, hier 387. 107 Brief vom 28. Juli 1563. Vgl. Crowe, Joseph A./Cavalcaselle, Giovanni B. (Bearb.), Tizian. Leben und Werke, übers. von Max Jordan, 2 Bde., Leipzig 1877, Bd. 2, 771 (Nr. CIV). 108 Bei Percolla finden sich überdies auch favole zu Themen, die Tizian in die poesie integrierte. Vgl. Percolla, Auriloquio, 122–123 (Perseo, Andromeda und Danae), 149–150 (Calisto), 150 (Adone und Venere).

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Derartige Kenntnisse erlangte Tizian unter anderem aufgrund der Vernetzung mit hochgradig an Alchemie interessierten Personen. Zu nennen wäre etwa Giulio Camillo, den Tizian bereits seit den 1530er Jahren kannte.109 Weit über den üblichen Umgang eines jeden Malers mit Farbpigmenten sowie deren alchemistische Aufbereitung ­hinaus110 ging demnach Tizians Auseinandersetzung mit der spekulativen Naturmagie. Dass Tizian über die venezianischen Humanistenzirkel und Akademien mit spekulativer Naturmagie, insbesondere der Alchemie als gängigem Diskurs der Gelehrtenkultur, in enger Verbindung stand, kann an dieser Stelle nicht ausführlich abgehandelt werden. Es kann nur anklingen, dass auch Tizians bekannteste Impulsgeber – Aretino und Dolce – alchemistisches Gedankengut verarbeiteten.111 Künftige Studien werden das bislang noch unsichtbare Netzwerk aufzeigen, in dem alchemistische Ärzte und naturmagisch interessierte Freidenker im Umfeld Tizians gewirkt haben.112 Nicht zuletzt ist Venedig – von der Tizian-Forschung bislang völlig unbeachtet – insbesondere nach 1550 und somit parallel zum Spätwerk Tizians als wichtiger Verlagsort für naturmagische Schriften zu berücksichtigen.113

109 Zuerst hat Frances Yates auf den Zusammenhang mit der Alchemie verwiesen bzw. die Camillo-Forschung begründet. Vgl. Yates, Frances, The Art of Memory, London 1966, bes. 129–172. Zum Zusammenhang zwischen Alchemie und Camillos Schrift vgl. Latto, Jeff, The Idea of Transmutation in the Theatre of Giulio Camillo, Ph.D. Thesis McGill University, Montreal 1991. 110 Der handwerklich-technische bzw. alchemistische Umgang mit den Farben ist ein kunsthistorischer Allgemeinplatz und entspricht den üblichen Werkstattgewohnheiten der Frühen Neuzeit. Vgl. eine Auswahl bei Weddigen/Weber, Alchemie. 111 Zu Aretino und der Alchemie vgl. Gage, Kulturgeschichte der Farbe, 149–150. Zu Lodovico Dolce siehe etwa Saß, Maurice, Ludovico Dolce’s Libri delle gemme als naturspekulatives Komplementär seines Dialogo della pittura, in: Steinbrenner, Jakob/Hard, Manfred (Hg.), Bilder als Gründe, Köln 2013, 85–135. 112 In der Habilitationsschrift der Autorin zum Thema der Verbindung von »Magie und Alchemie in der Kunst der Frühen Neuzeit« werden die alchemistisch interessierten Zirkel im Umfeld Tizians und deren Einfluss auf seine Malerei rekonstruiert. 113 Vgl. z. B. die bereits erwähnte mythoalchemische Publikation des Giovanni Bracesco oder die Kompilation der Pretiosa margarita. Weiterhin etwa die naturmagische Schrift Secreti diversi e miracolosi, 1563 (Anonymus, fälschlich Gabriele Falloppio zugeschrieben) oder die italienische Ausgabe der naturmagischen Publikation (unter anderem zu magisch-heilenden Naturabgüssen) Giambattista della Portas Dei Miracoli et maravigliosi effetti dalla natura prodotti, Venedig 1560.

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5. Tizians Paragone mit den Glaskünstlern Die in Venedig hochkonzentrierte Luxusgüterproduktion von farbigen Textilien (vor allem die mit Zinnober gefärbten Stoffe114), Schminke115 und Glas116 sowie der florierende Farbhandel117 stehen nicht nur für eine umfassende ›Industrie der Farbe‹, der die (Figuren‑)Maler als kleines Segment angehörten. Sie bildeten auch einen Wirtschaftszweig, dessen spezialisierte Veredelungstechniken untrennbar mit der Alchemie verbunden waren – und die ebenso geheim gehalten wurden wie diese. Immer wieder wurde in den letzten Jahren auf die Synergie- und Austauschphänomene zwischen Malern und anderen, ebenfalls Farben verwendenden Kunsthandwerkern innerhalb der venezianischen Farbindustrie verwiesen. Insbesondere die Farbhändler, die vendecolori, die ihre Farben in immer differenzierterer Form und steigender Qualität veräußerten, besaßen ein vielfältiges Wissen über die Färbemittel, das sie an die experimentierfreudigen Werkstätten der Maler weitergaben. In den Geschäften der vendecolori, zu denen auch der bereits genannte Alvise dalla Scala gehörte, trafen sich die Berufsgruppen der Glasmacher, Keramiker, Textilfärber und Maler zum Informationsaustausch. Giovanni Bellinis Orangetöne, häufig gelbes Auripigment oder rötlich oranges Realgar (jeweils Arsensulfide) beinhaltend, lassen sich, gemäß den Beobachtungen von Paul Hills, beispielsweise auf die Nachahmung strahlender Farbeffekte auf Majoliken zurückführen.118 Nicht zuletzt überschnitt sich in diesem Spannungsfeld das Interesse an sämtlichen alchemistisch-­ transformativen Vorgängen.

114 Zum Zinnoberrot als der alchemistischen Farbe vgl. Elkins, What Painting is, 19–20; Gage, Kulturgeschichte der Farbe, 139–14; zuletzt im Zusammenhang mit Rubens Meganck, Rotfärber. 115 Unter anderem auch zu diesem Aspekt neuerdings Ray, Meredith K., Daughters of Alchemy. Women and Scientific Culture in Early Modern Italy, Harvard 2015. 116 Vgl. McCray, William Patrick, Glassmaking in Renaissance Venice. The Fragile Craft, Aldershot 1999. Allgemein Dupré, Sven, Trading Luxury Glass, Picturing Collections and Consuming Objects of Knowledge in Early Seventeenth-Century Antwerp, in: Intellectual History Review 20 (2010), 53–78. 117 Allgemein zum Farbenhandel vgl. stellvertretend für eine Fülle an Literatur die Zusammenfassung der diesbezüglichen Forschung bei Matthew, Louisa C., »Memoria de colori che bisognino torre a vinetia«. Venice as a Centre for the Purchase of Painters’ Colours, in: Kirby/Nash/Cannon (Hg.), Trade in Artists’ Materials, 245–252. Vgl. auch Weddigen/Weber, Alchemie, mit weiterführender Literatur. 118 Vgl. Matthew, Louisa C./Berrie, Barbara H., Venezianisches Kolorit. Künstler an der Schnittstelle von Technologie und Geschichte, in: Brown, David Alan/Ferino-Pagden, Sylvia (Hg.), Bellini, Giorgione, Tizian und die Renaissance der venezianischen Malerei (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in Washington, National Gallery of Art, 18. Juni–17. Sept. 2006, Wien, Kunsthistorisches Museum, 17. Okt. 2006–07. Jan. 2007), Mailand 2006, 301–309, mit weiterführender Literatur auch zum Luxusgüterhandel und zur Glasherstellung. Zu den Austauscheffekten und den für Maler bewundernswerten Qualitäten des Glases vgl. die Studie von Hills, Venetian Colour.

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Abb. 5: Millefiori-Gläser, Venedig, frühes 16. Jahrhundert, British Museum London.

An Tizians Fleckenmalerei und deren auffallende ästhetische Verbindung zum Millefiori-­ Glas Venedigs mit seinen prägnanten koloristischen Effekten (Abb. 5), die wesentlich auf einem changierenden Ineinander und Auseinander geheimnisvoll verschmolzener Farbflecken beruhen, hat man – jenseits der optischen Erscheinung der Farbigkeit – bislang noch nicht gedacht.119 Hills sieht allerdings einen formalästhetischen Zusammenhang zwischen der Herstellung des sogenannten Eisglases mit überraschend rauer Oberfläche – das heiße Glas wird in Eiswasser getaucht, wodurch das knittrig-raue Relief als Zufallsform in der Begegnung der Elemente Wasser und Feuer geformt wird – und Tizians Spätstil. Aufgrund der (jeweils technisch unterschiedlichen) Erzeugung von lichtbrechenden Schlieren auf dem Glas oder dem Farbgrund entstehen ähnliche Effekte einer absicht119 Im frühen 16. Jahrhundert wurde die antike Millefiori-Technik in Venedig wiederbelebt und verfeinert. Auch die Ästhetik der sogenannten Calcedonio-Gläser, die Achat nachahmen, kann man m. E. mit ­Tizians Fleckenmalerei vergleichen. Ein Beispiel bei Hills, Venetian Colour, 121. Dort der Vergleich mit einer ­Gruppe von Millefiori-Gläsern im British Museum in Bezug auf deren objektimplizite Rezeptionsästhetik, die auf der Veränderung von Blickwinkel und Lichteinfall beruht. Vgl. auch Hills, Venetian Glass, 165 (Abb. 172) das Beispiel einer Millefiori-Schale mit scharfen und unscharfen »patches of color«.

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lichen Verunklarung. Die wilde und unberechenbare Rauheit der im Herstellungsprozess partiell scheinbar unkontrolliert generierten Farbformationen Tizians, so Hills, stellen sich der üblichen Ästhetik venezianischer Malerei genauso entgegen wie das im nicht kontrollierbaren Naturprozess erzeugte Eisglas gegenüber den transluziden Kristallgläsern. Hills unterstreicht, »for the sophisticated, roughness had become a necessary relief after polish«.120 Jenseits einer ästhetischen Parallelisierung scheint erneut der Vergleich mit der Theorie der Kunstkammerstücke im Kontext der alchemistischen Metamorphose als ­Matrix der Kunstproduktion angebracht. Der Vergleich mit der konzeptionellen Nachahmung zufälliger Naturprozesse als Operation der Naturmagie lässt sich ebenso auf die im Kräftefeld des Feuers produzierten fleckigen Signaturen der Millefiori-Artefakte ausweiten. Die ›Signaturen‹ der rauen Pinselstriche und ebenso die Zeichen des fleckigen Glases zu lesen, wird dem neugierigen Auge des Betrachters zur Aufgabe und Freude überlassen. Tizian, der von seinem Garten am Biri Grande nach Murano hinüberblicken konnte, stand die ›Meisterinsel‹ der gefeierten Feuerkünstler, den in die prisca sapientia Eingeweihten, die billigen Sand in Luxusware verwandelten,121 beständig vor Augen. Er sah sich mit den Magiern der farbigen Glasschmelze zu einem Paragone angespornt. Nahezu als ambitionierter ›Werbeagent‹ der venezianischen Glas- und Spiegelkunst, des Signums verfeinerter Hofkultur, gibt sich Tizian, laut Hills, mit der Darstellung dieser effektvollen Exportschlager in zahlreichen seiner ebenfalls als Luxusgüter verstandenen Gemälde zu erkennen.122 Die zwei oben erwähnten Diana-Bilder empfing Philipp II. auf ausdrücklichen Wunsch zusammen mit Murano-Glas, darunter womöglich auch Spiegel.123 Gleichfalls malte Tizian um 1530 mit der Allegorie der Ehe – auch interpretiert als Kristallseherin – ein verrätseltes Gemälde, das die geheimnisvolle Bedeutung transluzider Kristallkugeln

120 Vgl. Hills, Venetian Glass, 168. Hills verweist darauf, dass Eisglas häufig von Philipp II., der auch eine Vorliebe für rustikale Grotten entwickelt hatte, angekauft wurde. 121 Die venezianische Glasherstellung wird, unter anderem aufgrund der Kontakte zwischen dem Philosophen und Alchemisten Paolo da Pergola (gest. 1455) und seinem Schüler, dem Glashersteller Antonio Barovier, seit jeher mit den Geheimnissen der Alchemie in Verbindung gebracht. Erstmals publizierte Antononio Neri (1576–1614) mit L’arte vetraria (Florenz 1612) die Geheimnisse der Glasherstellung. Nachweislich hatte sich der Florentiner in Murano aufgehalten. Vgl. Beretta, Marco, The Alchemy of Glass. Counterfeit, Imitation, and Transmutation in Ancient Glassmaking, New York 2009. Zum Thema des Wissenstransfers durch Zirkulation luxuriöser Glasprodukte siehe Dupré, Sven, The Value of Glass and the Translation of Artisanal Knowledge in Early Modern Antwerp, in: Nederlands kunsthistorisch jaarboek 64 (2014), 139– 161. Zu den weitreichenden Verbindungen von Glasmacherkunst, Alchemie, Luxusgüterindustrie und Sammelleidenschaft vgl. Göttler/Moran (Hg.), Reading the Inventory. 122 Vgl. etwa das exponierte Kristallgefäß in Aktaion und Diana. Zur gleichrangigen Bedeutung von Glas und Gemälden sowie zu Tizians Werbestrategien für das Glas (z. B. Leichtigkeit) vgl. Hills, Venetian Glass. 123 Vgl. die Briefe des Diplomaten Garcia Hernandez an Philipp II. Darin ist die Rede von Gläsern für Wasser sowie Wein und Glastafeln (Spiegeln?): »Estos quadros con los vidros cristalinos […], los vasos de vidro«. Crowe/Cavalcaselle (Bearb.), Tizian, Bd. 2, 764 (Nr. LXXXIX). Vgl. auch ebd., 765 (Nr. XCI), 772 (Nr. CV).

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inszeniert.124 Bezüglich einer technologischen wie ästhetischen Hierarchie aller materieller Transmutationen haben die Kenner der Alchemie Vannoccio Biringuccio (De la piro­ technica libri X, Venedig 1540125) und Georgius Agricola (De re metallica libri XII, Basel 1556) überbordende Lobpreisungen der Glaskünstler geliefert. Kollegiale Kontakte nach Murano lassen sich für Tizian im Rahmen der Anfertigung von Modeln für Glasgefäße als Agent für Alfonso d’Este nachweisen. Hills verweist nicht nur auf das außergewöhnlich hohe (Sozial-)Prestige der Murano-Glasmacher und die vor den Brennöfen zelebrierte – von den Malern zweifellos bemerkte – Kultur der »performance of production«126 vor den Augen erlesener Potentaten, sondern weiterhin auf die dramatische Darstellung des Feuers der Verkündigung für einen von Tizian in den 1530er Jahren gefertigten Altar für die Nonnen von Santa Maria degli Angeli auf Murano. Den feurigen Brennofen der Glasmacher »as womb or crucible of creation«127 habe Tizian hier wie auch bei der Darstellung der berühmten Verkündigung von San Salvador als explosives Feuerspektakel im Sinn gehabt. Alle Feuer, die Tizian umgaben – venezianische Feuerwaffen, nächtliches Feuerwerk, die Brennöfen der Glasmacher, nicht minder das Feuer der Liebe in der italienischen Dichtung –, betrachtet Hills in seiner kurzen, jedoch atemberaubenden Archäologie des Feuers in Venedig.128 Allein die schöpferische und in Venedig allgegenwärtige Feuerkraft des Athanor, des (philosophischen) Erzeuger-Ofens der Alchemisten, blendet der Autor aus.129

124 Allegorie der Ehe, 1530–1535, 121 × 107 cm, Paris, Louvre. Vgl. Panofsky, Studien zur Ikonologie, 203–239. Dort zur Allegorie der Ehe (Allegorie des Alphonse d’Avalos, Marchese del Vasto). Die unverdient vergessene Auslegung als Kristallseherin bei Hartlaub, Gustav Friedrich, Antike Wahrsagungsmotive in Bildern Tizians, in: Pantheon. Monatsschrift für Freunde und Sammler der Kunst 14 (1941), 250–253, online verfügbar unter: http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/volltexte/2014/2616, letzter Zugriff: 10.06.2019; ders. Tizians Liebesorakel und seine Kristallseherin, in: Hartlaub, Gesammelte Aufsätze, 222–232. 125 Zu Komponenten der Alchemie und dem Verhältnis von ars und natura bei Biringuccio, der ein gespaltenes Verhältnis zur Alchemie bzw. Magie offenbart, vgl. ausführlich Newman, William R., Promethean Ambitions. Alchemy and the Quest to Perfect Nature, Chicago 2005, 127–132. 126 Hills, Venetian Colour, 166. 127 Hills, Paul, Titian’s Fire. Pyrotechnics and Representations in Sixteenth-Century Venice, in: Oxford Art Journal 30 (2007), 185–204, 199. Für einen Vergleich mit Florenz und der Wirkung der Glasmacherkunst vgl. Conticelli, Valentina (Hg.), L’alchimia e le arti. La fonderia degli Uffizi da laboratorio a stanza delle meraviglie, Florenz 2012. 128 Vgl. Hills, Titian’s fire. 129 Der Athanor ist gleichfalls kosmischer Ofen der Zeugung. Vgl. Gebelein, Helmut, Alchemie. Die Magie des Stofflichen 1996, 299; Priesner/Figala (Hg.), Lexikon, 195. Auf Geralomo Cardano (1501–1576) verweist übrigens Hills, Venetian Colour, 224.

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6. Fazit Wir können schlussfolgern, dass die Gemälde in Tizians Spätwerk mit den dreidimensionalen artificialia der Kunstkammern – häufig halb Naturprodukt, halb Artefakt – konzeptionell verwandt sind. Den auffällig als Synthese von Natur und Kunst inszenierten Objekten ähnlich, simuliert bzw. reflektiert insbesondere der Tod des Aktaion die Prozesse der Transformation oder Transmutation nicht lediglich illustrativ,130 sondern gleichfalls auf der materiell prozesshaften Ebene. So versteht sich Tizians offene Malweise als performative Intention mit klaren ästhetischen und ebenso naturphilosophisch gestuften Regeln der Bildproduktion nicht zwangsläufig nur als der Kunsttheorie geläufige aemulatio naturae, sondern – in der Sprache der Alchemie – als sublimatio naturae (Veredelung der Natur). Das Gemälde ist als materielles Gesamtkunstwerk bzw. als epistemisches Objekt konzipiert, denn die Darstellung des alchemisch interpretierbaren Mythos’ stellt lediglich eine Ebene der Wissensvermittlung dar. Nicht zu vergessen ist dabei, dass die Fleckenbilder gerade nicht als Einzelstücke gedacht waren, sondern ebenso wie Tizians andere Gemälde – dem venezianischen Glas vergleichbar – unter dem für seine Werkstatt üblichen kommerziellen Aspekt als hochpreisige Werkstattrepliken131 und luxuriöse ›Konsumartikel‹ über Kunstagenten in die europäischen Kunstkammern gelangt sind.132 Hier bliebe zu untersuchen, inwiefern die Metamorphosen-Bilder an diesen Höfen – Teile der Poesie wurden als Replik Kaiser Maximilian II. und Albrecht V. von Bayern angeboten – auf ein passendes Publikum im Umkreis der verbreiteten Fürstenalchemie trafen.133 Es ist vor diesem Hintergrund kaum verwunderlich, dass sich der Tod des Aktaion später im Besitz Rudolphs II. in Prag auffinden lässt, mutmaßlich in einer zweiten Fassung.134 Dort, wie auch in der Sammlung Philipps II., befand sich selbstverständlich gleichfalls das Glas aus Murano.135 130 Vgl. ein Beispiel zum Paragone von ars und natura in der Darstellung von Rustika-Architektur im Sinne Serlios – halb Natur, halb Kunst – in Tizians Diana und Aktaion, 1556–1559, bei Busch, Das unklassische Bild, 102–104. 131 Vgl. Weddigen/Weber, Alchemie, 16–17; Busch, Das unklassische Bild, 91–121; Keller, Tizians Poesie, 9–10. Zu den Dianen-Bildern vgl. Pignatti, Abbozzi and Ricordi; Ferino-Pagden (Hg.), Der späte Tizian. 132 Den Handel mit den preisgünstigeren Kupferstichreproduktionen fünfzehn ausgewählter Meisterwerke, ausgeführt von Cornelis Cort (zwischen 1565 und 1572), wickelte Tizian unter anderem über den Kunsthändler Niccolò Stoppio (gest. 1570) ab. Vgl. Crowe/Cavalcaselle (Bearb.), Tizian, Bd. 2, 656. 133 Zur Alchemie, dem Paracelsismus und zur Rolle von Samuel Quicchebergs Inscriptiones vgl. Pilaski Kaliardos, Katharina, The Munich Kunstkammer. Art, Nature, and the Representation of Knowledge in Courtly Context, Tübingen 2013. Albrechts Hofkünstler und Kunstagent Jacobo Strada (1507–1588) vermittelte 1568 den Verkauf der Repliken der Poesien. Quiccheberg und Strada kannten sich persönlich. Allgemein zur Fürstenalchemie vgl. Priesner/Figala (Hg.), Lexikon, 140–143. 134 Vgl. Rearick, William R., Titian’s Later Mythologies, in: Artibus et Historiae 33 (1996), 23–67, bes. 53, 56–57. Siehe zur komplizierten Überlieferungsgeschichte und der Frage zweier Versionen auch Wethey, ­Harold E., The Paintings of Titian, Bd. 3, The Mythological and Historical Paintings, Princeton 1975, Nr. 8, 136–138. 135 Vgl. Hills, Venetian Colour, 165.

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Abb. 6: Sog. Alchemistische Weltlandschaft, aus: Johann Daniel Mylius, Musaeum Hermeticum, Reformatum et Amplificatum, Figur IV, gestochen von Matthäus Merian (1618), Frankfurt am Main 1678.

Im letzten Viertel des 16. Jahrhunderts, insbesondere verbreitet durch den Erzhermetiker Giordano Bruno (1548–1600), manifestierte sich Aktaions kanonische Symbolhaftigkeit für die arkane Metamorphose. In De gl’eroici furori (1584) wird der Mythos zu Brunos persönlichem Emblem, vorgetragen mit dem – auch für Tizian, dessen Auftraggeber Philipp II. und die Mythoalchemie so bedeutendem – Stilmittel der Poesie.136 Die faustische Begegnung mit Diana verkörpert die leidenschaftliche Sublimation der menschlichen Seele und den Status der Einsicht des nach Wahrheit jagenden Naturphilosophen in die 136 Zur Verbindung von Poesie und Magie siehe Wildgen, Wolfgang, Giordano Bruno. Neun Studien und Dialoge zu einem extremen Denker, Berlin 2011, 44–58.

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divina sapienza. Auch hier werden die Hunde – wie in Tizians Gemälde – in einem autoaggressiven Umkehrprozess zu Helfern der tötenden Göttin. Der irdische Jäger stirbt im beißenden Feuer seiner Leidenschaft.137 In hermetischen Druckwerken, beispielsweise in der von Matthäus Merian entworfenen Alchemistischen Weltlandschaft (auch Tabula Smaragdina) des Musaeum Hermeticum, figuriert Aktaion gleichfalls – halb Mensch, halb Hirsch – als sublimiertes Wesen (Abb. 6).138 Aufgrund der starken Assimilierung dieses Strangs der alchemischen Mythenallegorese139 erklärt sich womöglich, dass Tizian gleich zwei Gemälde der Aktaion-Sage für den initiierungswilligen Habsburger konzipierte. Der Maler zeigt im Tod des Aktaion den Moment zwischen Leben und unmittelbar bevorstehendem Tod, der durch Zerteilen – die Putrefactio – herbeigeführt wird. Bekanntlich ohne eindeutige literarische Vorlage integriert der Maler, ganz im Sinne seiner Poesie als poetische Innovation, Diana, die als am Auflösungs- bzw. Erlösungsprozess direkt Beteiligte gezeigt wird.140 Den zu Boden gehenden Jäger, reichlich ungewöhnlich im Cinquecento, als noch nicht gänzlich in einen Hirsch transformiertes Zwitterwesen zu zeigen, kann eine Anspielung auf den menschlichen Willen dieses absichtlich herbeigeführten ›Todes‹ sein. Die oben erörterte, scheinbare Diffusion des menschlichen Körpers in die umgebende Natur zeigt die Auflösung in die ursprünglichen Elemente. Die Schützin ohne Bogen unterstreicht den Tod als lediglich symbolischen Akt. Wesentlich wird an dieser Stelle die grundlegende Überlegung Werner Buschs, wenn er Tizians »unterschiedlich weit gestaltete Materie«141 als einen Schwebezustand zwischen Leben und Tod charakterisiert, der das Gemälde selbst zur Metapher werden lässt. Im Londoner Tod des Aktaion verschränken sich diese sinnlich-­ materiellen Aspekte mit der inhaltlichen Bildaussage in unvergleichlicher Zuspitzung.

137 Die Hunde sind Synonym für den intelletto, der sich gegen den Wissenschaftler richten kann. Vgl. zusammenfassend Blum, Paul Richard, Giordano Bruno, München 1999, 92–94. Allgemein siehe Yates, Frances, Giordano Bruno and the Hermetic Tradition, Chicago 1964. 138 Luna, die zusammen mit Aktaion gezeigt wird, ist gleichzeitig auch Verkörperung Dianas. Vgl. dazu Böhme, Gernot/Böhme, Hartmut, Feuer, Wasser, Erde, Luft. Eine Kulturgeschichte der Elemente, München 1996, 254–257. 139 Vgl. z. B. van Schrieck, Otto Marseus, Waldbodenstilleben mit Diana und Aktaion, Öl auf Leinwand, 67 × 72 cm, Alte Pinakothek München. Eine Abb. bei Leonhard, Bildfelder, 277–279. 140 Busch verweist darauf, dass es bei Ovid zumindest heißt, dass Diana im Moment der Begegnung bedauert, Pfeil und Bogen abgelegt zu haben. Busch, Das unklassische Bild, 107. 141 Ebd., 106.

Frühneuzeitliche Warenkultur? Zwischen Staunen und Wissen über fremde Güter Kim Siebenhüner

Die Sammlung von Schloss Ambras beherbergt heute ein Objekt, von dem die Zeitgenossen des späten 16. Jahrhunderts sagten, es sei »ain Indianische grosse dekhn von zarter leinwat, mit gar schöner Indianischer arbait von allerlai thüeren ausgenäet mit roher ­gelfleter seiden« (Abb. 1).1

Abb. 1: Bettdecke (Colcha), indo-portugiesisch, Bengalen, zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts, Baumwolle und Seide, 242 × 312 cm, Kunsthistorisches Museum Wien. 1

Das Zitat stammt aus dem Nachlassinventar Ferdinands II. von 1596, fol. 459 v, hier zitiert nach Seipel, Wilfried (Hg.), Exotica. Portugals Entdeckungen im Spiegel fürstlicher Kunst- und Wunderkammern der Renaissance (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Kunsthistorischen Museum Wien 3. März–21. Mai 2000), Mailand/Wien 2000, 216. Dort auch eine detaillierte Beschreibung des Objekts. Zu diesem und anderen Objekten der indo-islamischen Welt vgl. auch Karl, Barbara, Treasury – Kunstkammer – Museum. Objects from the Islamic World in the Museum Collections of Vienna, Wien 2011, bes. 54. Das Objekt ge-

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An dieser Beschreibung war manches richtig und einiges ungenau: Es handelt sich um einen großen Bettüberwurf aus feinem, mit gelber Seide besticktem Gewebe, nicht aus Leinen, sondern aus Baumwolle. Auch die Herkunftsangabe war etwas grob, denn wie wir heute wissen, kamen derartige Colchas aus Bengalen, wo jene, die für den europäischen Markt bestimmt waren, nach portugiesischen Vorlagen hergestellt wurden.2 Schaut man die Stickerei genau an, offenbart sich eine gleichermaßen von bengalischen, alttestamentarischen und griechisch-römischen Motiven beeinflusste Ikonographie. Für den nach asiatischen Gütern verlangenden Markt in Europa stellten die Colchas ein kostbares High-End-Produkt dar, das mehrheitlich an adeligen Kunden verkauft wurde.3 Doch wie die ersten Ladungen von Pfeffer und Kardamom, die die Häfen von Lissabon und Antwerpen nach 1500 erreichten, so kündeten auch die Colchas nur vom zukünftigen Boom transkontinentaler Güter in Europa. Eine Vielzahl von neuen Waren aus Asien und Amerika wurde im Laufe der Frühen Neuzeit nach Europa importiert, und obwohl diese Waren bis ins 18. und mancherorts bis ins 19. Jahrhundert etwas Besonderes blieben, führte ein komplexer Prozess von wachsenden Importen, kundenorientierter Produktion in Asien und europäischer Importsubstitution dazu, dass immer mehr dieser Güter für bürgerliche und mittlere Stände erschwinglich und in Praktiken des Vorzeigens, Konsumierens, Herstellens und Heilens einbezogen wurden. Der auf Schloss Ambras überlieferte Bettüberwurf ist für diese sich wandelnde Welt der Waren nur eines von vielen möglichen dinglichen Zeugnissen. Auch wenn die Geschichte dieses Bettüberwurfes oder allgemeiner die Geschichte der indischen Baumwolltextilien in Europa hier nicht im Detail weiterverfolgt werden soll,4 ist der Beitrag einer objektzentrierten Perspektive verpflichtet.5 Allerdings geht er nicht von einem einzigen Objekt

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hört zu den überlieferten Sammlungsgegenständen der ursprünglichen Kunst- und Wunderkammer Ferdinands II. In seinem Nachlassinventar heißt es, der Bettüberwurf werde im 17. Kasten der Kunst- und Wunderkammer aufbewahrt. Karl, Barbara, ›Marvellous Things are Made with Needles‹. Bengal Colchas in European Inventories, c. 1580– 1630, in: Keating, Jessica/Markey, Lia, Captured Objects – Inventories of Early Modern Collections, Oxford 2011 (Journal of the History of Collections 23,2 [2011]), 301–313; dies., Embroidered Histories. Indian Textiles for the Portuguese Market during the Sixteenth and Seventeenth Centuries, Wien/Köln 2016; Peck, Amelia/­ Bogansky, Amy, Interwoven Globe. The Worldwide Textile Trade, 1500–1800 (Band zur gleichnamigen Ausstellung im Metropolitan Museum of Art, New York, 16. Sept. 2013–5. Jan. 2014), London 2013, 145–147. Karl, Marvellous Things, 7–8. Vgl. dazu hier nur Riello Giorgio/Roy, Tirthankar (Hg.), How India Clothed the World. The World of South Asian Textiles, 1500–1800, Leiden 2009; Riello, Giorgio/Parthasarathi, Prasannan (Hg.), The Spinning World. A Global History of Cotton Textiles, 1200–1850, Oxford 2009; Riello, Giorgio, Cotton. The Fabric that Made the Modern World, Cambridge 2013 sowie Siebenhüner, Kim/Jordan, John/Schopf, Gabi (Hg.), Cotton in Context. Manufacturing, Marketing, and Consuming Textiles in the German-speaking World (1500–1900), Köln/Wien 2019 (Ding, Materialität, Geschichte 4). Vgl. dazu Siebenhüner, Kim, Things that Matter. Zur Geschichte der materiellen Kultur in der Frühneuzeitforschung, in: Zeitschrift für Historische Forschung 42 (2015), 373–409; dies., Die Spur der Juwelen. Transkontinentale Verbindungen und materielle Kultur in der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar 2018 (Ding, Materialität, Geschichte 3).

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(oder einer Objektgattung), sondern von einem Ensemble von Objekten, und genauer noch, von Gütern aus. Das Augenmerk liegt auf den Dingen in ihrer Eigenschaft als Waren, das heißt auf dem Markt verfügbaren, auf kommerziellem Weg ausgetauschten Gütern. Damit situiert sich dieser Beitrag an der Schnittstelle einer Geschichte der materiellen Kultur und der history of commodities – einem Feld, das durch Arbeiten über Güter hervorgetreten ist, die ältere wirtschaftshistorische Dichotomien zwischen einer Geschichte der Produktion und einer Geschichte des Konsums überwinden und stattdessen die Herstellung, (globale) Zirkulation und Aneignung der Dinge in Beziehung setzen.6 Gut erforscht sind die Genussmittel Kaffee, Tee und Tabak,7 doch sind inzwischen auch andere globale Waren in das Blickfeld der Frühneuzeitforschung gerückt, angefangen von Farbstoffen bis hin zu Porzellan und Textilien.8 Maxine Berg und andere haben die enorme transformative Kraft betont, die insbesondere den transatlantischen und asiatischen Gütern zukam. Sie stießen nicht nur einen Konsumwandel in den europäischen Gesellschaften an, sondern wälzten auch ganze Gewerbelandschaften um.9 Auch im deutschsprachigen Kontext ist dieser grundlegende Wandel von Konsum und materieller Kultur mittlerweile Gegenstand der Forschung.10 Der vorliegende Beitrag will diesem Forschungsfeld nicht eine weitere Warengeschichte hinzufügen, sondern vielmehr die kumulative Wucht der nach Europa importierten Güter thematisieren und dafür den Begriff der »Warenkultur« fruchtbar machen. Auch wenn der 6 Klassisch: Mintz, Sidney W., Die süße Macht. Kulturgeschichte des Zuckers, Frankfurt a. M. 1987 (zuerst 1985). 7 In Auswahl: Menninger, Annerose, Genuss im kulturellen Wandel. Tabak, Kaffee, Tee und Schokolade in Europa (16.–19. Jahrhundert), Stuttgart 2004; Hochmuth, Christian, Globale Güter – lokale Aneignung. Kaffee, Tee, Schokolade und Tabak im frühneuzeitlichen Dresden, Konstanz 2008; Krieger, Martin, Tee. Eine Kulturgeschichte, Köln 2009; ders., Kaffee. Geschichte eines Genussmittels, Köln 2011; Vries, Peer, Zur politischen Ökonomie des Tees. Was uns Tee über die englische und chinesische Wirtschaft der frühen Neuzeit sagen kann, Wien 2009. 8 Findlen, Paula (Hg.), Early Modern Things. Objects and their Histories, 1500–1800, London/New York 2013; Gerritsen, Anne/Riello, Giorgio (Hg.), The Global Lives of Things. The Material Culture of Connections in the Early Modern World, London 2015; vgl. zu Farbstoffen hier nur: Engel, Alexander, Farben der Globalisierung. Die Entstehung moderner Märkte für Farbstoffe 1500–1900, Frankfurt a. M. 2009; Timmer­mann, Anja, Indigo. Die Analyse eines ökonomischen Wissensbestandes im 18. Jahrhundert, Stuttgart 2014. 9 Berg, Maxine, From Imitation to Invention: Creating Commodities in Eighteenth-Century Britain, in: The Economic History Review 55 (2002), 1–30; dies., In Pursuit of Luxury: Global History and British Consumer Goods in the Eighteenth Century, in: Past and Present 182 (2004), 85–142; dies. (Hg.), Goods from the East, 1600–1800. Trading Eurasia, Basingstoke 2015. Für den deutschsprachigen Kontext: Schmidt-­Funke, Julia A., ›Eigene fremde Dinge‹. Surrogate und Imitate im langen 18. Jahrhundert, in: Neumann, Birgit (Hg.), Präsenz und Evidenz fremder Dinge im Europa des 18. Jahrhunderts, Göttingen 2015, 529–549; und aus der Perspektive der europäischen Expansion dazu auch: Wendt, Reinhard, Vom Kolonialismus zur Globalisierung. Europa und die Welt seit 1500, Paderborn 22016 (zuerst 2007), bes. 84–100, 185–204. 10 Vgl. dazu die Einleitung zu diesem Band. An dieser Stelle danke ich Julia A. Schmidt-Funke herzlich dafür, dass sie mir für die Fertigstellung dieses Beitrags das Manuskript ihrer Habilitationsschrift »Haben und Sein. Konsum und materielle Kultur im frühneuzeitlichen Frankfurt am Main« zugänglich gemacht hat.

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Begriff grundsätzlich alle Waren umfasst, soll er hier dazu dienen, erstens ein Ensemble von Gütern in den Blick zu nehmen, deren Gemeinsamkeit ihre außereuropäische Herkunft war, und zweitens den kulturellen Effekten der wachsenden Präsenz und Zirkulation dieser Güter in Europa nachzugehen. Bislang ist im geschichtswissenschaftlichen Kontext vor allem für das 19. und 20. Jahrhundert von Warenkultur gesprochen worden. Thomas Richards, Ulrich Pfister und andere verstanden darunter die im 19. Jahrhundert sich verdichtende Kommunikation, die die materiellen Dinge mit einer regelrechten »Sphäre des Spektakels« überzog: Durch die Multiplikation von Orten und Medien wurden Waren so sehr wie noch nie zuvor thematisiert und inszeniert, auf Weltausstellungen, in Schaufenstern und in der Werbung in Zeitungen, auf Litfaßsäulen, an Hausfassaden.11 Ein analoger Zugriff wäre auch für die frühneuzeitliche Warenkultur denkbar: Selbst wenn die Praktiken der Werbung andere waren, hat die Forschung gezeigt, dass der Akt des Konsumierens im Laufe der Frühen Neuzeit durch Anzeigen, Ladenschilder, trade cards und weitere Medien zunehmend beworben und geschult wurde.12 Im Folgenden soll jedoch eine andere Annäherung an die frühneuzeitliche Warenkultur zur Debatte gestellt werden. Im Mittelpunkt stehen die zwischen Staunen und Wissen changierenden Diskurse über fremde Güter. Die seit dem Spätmittelalter und zunehmend mit der globalen Verflechtung einsetzende Expansion der europäischen Warenwelt mündete in einen breiten Diskurs über neue Güter, an dem nicht nur Experten, sondern auch Laien teilnahmen. Reisende, Kaufleute und Moralisten nahmen die fremden Güter wahr, 11 Richards, Thomas, The Commodity Culture of Victorian England. Advertising and Spectacle 1851–1914, Stanford 2000; Pfister, Ulrich, Vom Kiepenkerl zu Karstadt. Einzelhandel und Warenkultur im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 87 (2000), 38–66, Zitat: 54. Vgl. zum Problem der Warenästhetik in diesem Zusammenhang auch Haug, Wolfgang Fritz, Kritik der Warenästhetik, Frankfurt a. M. 1971; Schwer, Thilo, Produktsprachen. Design zwischen Unikat und Industrieprodukt, Bielefeld 2014. 12 Homburg, Heidrun, Warenanzeigen und Kundenwerbung in den »Leipziger Zeitungen« 1750–1800. Aspekte der inneren Marktbildung und der Kommerzialisierung des Alltagslebens, in: Petzina, Dietmar/ Hesse, Klaus (Hg.), Zur Geschichte der Ökonomik der Privathaushalte, Berlin 1991, 109–131; Wischermann, Clemens/Shore, Elliott (Hg.), Advertising and the European City. Historical Perspectives, Aldershot 2000; Coquery, Natacha, The Language of Success. Marketing and Distributing Semi-Luxury Goods in Eighteenth-Century Paris, in: Journal of Design History 17 (2004), 71–89; Morgan, Victoria, Beyond the Boundary of the Shop: Retail Advertising Spaces in Eighteenth-Century Provincial England, in: Benson, John/Ugolini, Laura (Hg.), Cultures of Selling. Perspectives on Consumption and Society since 1700, Aldershot 2006, 59–79; Berg, Maxine/Clifford, Helen, Selling Consumption in the Eighteenth Century, in: Cultural and Social History 4 (2007), 145–170; Stobart, Jon, In and Out of Fashion? Advertising Novel and Second-Hand Goods in Georgian England, in: Blondé, Bruno/Coquery, Natacha/Stobart, Jon/van Damme, Ilja (Hg.), Fashioning Old and New. Changing Consumer Preferences in Europe (Seventeenth-Nineteenth Centuries), Turnhout 2009, 133–144; Dries, Lyna/van Damme, Ilja, A Strategy of Seduction? The Role of Commercial Advertisment in the Eighteenth-Century Business of Antwerp, in: Business History 51 (2009), 100–121.

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bestaunten oder beklagten sie, näherten sich ihnen neugierig oder wissend. Reiseberichte, Handelskorrespondenzen, Luxuskritiken und Warenkunden geben Einblicke in die mental maps, auf denen die neuen Güter verortet, geordnet und bewertet wurden. Sie zeigen, dass die transkontinentalen Waren und die wachsende Warenvielfalt in Europa eine Beund Verwunderung auslösten, die bis ins späte 18. Jahrhundert anhielt, während sie von Fachleuten zugleich in geordnetes Wissen transformiert wurde. Für einen Kreis von Reisenden, interessierten Laien und kaufmännischen Experten wurden im Laufe der Frühen Neuzeit immer mehr und immer genauere Informationen über afrikanische, asiatische und transatlantische Waren zugänglich und spätestens in den Warenkunden des 17. Jahrhunderts enzyklopädisch aufbereitet. Diese verschiedenen und zugleich korrespondierenden Diskurse des Staunens und Wissens sollen in den folgenden Abschnitten genauer analysiert werden. In aller Kürze ist davor jedoch der materielle Wandel der Warenwelt selbst zu vergegenwärtigen.

1. Eine expandierende Welt der Waren Seit dem Spätmittelalter griffen die Verdichtung binneneuropäischer und seit 1500 auch transkontinentaler Handelsverbindungen und die wachsende Verfügbarkeit neuer Güter ineinander. Dabei waren nicht alle neuen Güter zwangsläufig auch »fremd« im Sinne einer nichteuropäischen Herkunft. Wichtige Produktinnovationen wie Barchent, draperies nouvelles und andere textile Mischgewebe, die in Europa seit dem 14. Jahrhundert massenhaft produziert wurden, gingen auf europäische Hersteller zurück.13 Auch die Neuheit der fremden Güter war relativ, hatten doch italienische Kaufleute schon im Mittelalter Gewürze, Stoffe, Porzellan und andere asiatische Luxusgüter über Aleppo und Alexandria nach Europa gebracht.14 Doch die seit 1500 entstehenden Kulturkontakte nach West- und Ostindien verliehen der Erweiterung der europäischen Warenwelt einen wichtigen Schub. Über Kaufleute, Reisende, Gesandte und Naturforscher gelangte eine Fülle von neuen Gütern nach Europa. Diese Verdichtung und Vervielfältigung der Warenwelt ist unterschiedlich gut erforscht. Schon Werner Sombart attestierte der Frühen Neuzeit einen wachsenden »Güterbedarf«,

13 Stromer von Reichenbach, Wolfgang, Die Gründung der Baumwollindustrie in Mitteleuropa. Wirtschaftspolitik im Spätmittelalter, Stuttgart 1978; Harte, Negley B. (Hg.), The New Draperies in the Low Countries and England, 1300–1800, Oxford 1997; Spohr, Marc, Auf Tuchfühlung. 1000 Jahre Textilgeschichte in Ravensburg und am Bodensee (Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung im Museum Humpis-Quartier Ravensburg, 26. April–13. Okt. 2013), Konstanz/München 2013. 14 Ertl, Thomas, Seide, Pfeffer und Kanonen. Globalisierung im Mittelalter, Darmstadt 2008, 66, 71–74.

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»Güterumsatz« und (angeblich vor allem weiblichen) Luxuskonsum,15 war jedoch von einer global- und kulturgeschichtlich informierten Geschichte der Waren weit entfernt. Einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der transkontinentalen Warenströme leisteten Arbeiten zu den Ostindischen Handelskompanien.16 Sie verdeutlichten unter anderem die steigenden Importe asiatischer Güter nach Europa. Allein die Portugiesen brachten beispielsweise zwischen 1580 und 1640 über 10.000 Tonnen Pfeffer über die Carreira da Índia nach Lissabon und Antwerpen.17 Mit dem Eintritt der englischen und holländischen Ostindienkompanien in die Asiengeschäfte vergrößerte sich dieses Volumen weiter: Zwischen 1660 und 1700 verschiffte die englische East India Company rund 70.000 Tonnen schwarzen Pfeffer nach London.18 Lückenhafter ist das Wissen über die anschließende Distribution und den Konsum transkontinentaler Güter. Während für Nordwest- und teilweise auch für Südeuropa eine breite Konsum- und Shopping-Forschung vorliegt, gewinnen vergleichbare Forschungen zum zentraleuropäischen und deutschsprachigen Raum erst jetzt an Dynamik.19 Sie deuten an, dass die Verfügbarkeit fremder Güter von Ort zu Ort extrem unterschiedlich war. Warenverzeichnisse einer Messe- und Reichsstadt wie Frankfurt am Main nennen schon für das 15. Jahrhundert sackweise verkauften Ingwer, Pfeffer, Nelken, Muskatnuss, Zimt und Zucker. Das Geschäftsinventar einer Krämerin von 1557 führt weitere west- und ost15 Sombart, Werner, Der moderne Kapitalismus. Historisch-systematische Darstellung des gesamteuropäischen Wirtschaftslebens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart, 2 Bde. mit je zwei Halbbänden, Berlin 1969, bes. Bd. 1: Die vorkapitalistische Wirtschaft, Halbbd. 1, 213–246; Bd. 2: Das europäische Wirtschaftsleben im Zeitalter des Frühkapitalismus, Halbbd. 1, 436–480; ders., Liebe, Luxus und Kapitalismus. Über die Entstehung der Welt aus dem Geist der Verschwendung, Berlin 1992 (zuerst 1922). 16 Die immer noch grundlegendsten Studien zu den Warenströmen zwischen Asien und Europa legten Vitorino Magalhães Godinho, James Boyajian, Kirti N. Chaudhuri und Kristof Glamann vor. Vgl. Chaudhuri, Kirti Narayan, The Trading World of Asia and the English East India Company 1660–1760, Cambridge 1978; Glamann, Kristof, Dutch-Asiatic Trade 1620–1740, Kopenhagen/Den Haag 1981 (zuerst 1958); Boyajian, James C., Portuguese Trade in Asia under the Habsburgs, 1580–1640, Baltimore/London 1993; Magalhães Godinho, Vitorino, Os Descobrimentos e a Economia Mundial, 4 Bde., Lissabon 1982–1986. 17 Boyajian, Portuguese Trade, Appendix A, eigene Zusammenstellung der Summe und Umrechnungen von quintal in Tonnen. 18 Chaudhuri, Trading World, 529, eigene Zusammenstellung der Zahlen aufgrund von Appendix 5, Table C. 14; zu Pfeffer auch ebd., 313–328. 19 Vgl. zur Konsumforschung die Einleitung zu diesem Band sowie Siebenhüner, Things that Matter; zur history of shopping vgl. hier nur Welch, Evelyn, Shopping in the Renaissance. Consumer Cultures in Italy 1400–1600, New Haven 2005; Blondé, Bruno/Coquery, Natacha, Retailers and Consumer Changes in Early Modern Europe. England, France, Italy and the Low Countries. Actes de la session »Retailers and Consumers Changes« co-organisée par Bruno Blondé et Natacha Coquery au sein de la 7e Conférence Internationale d’Histoire Urbaine: »European City in Comparative Perspective« (Athènes, Le Pirée 27–30 octobre 2004), Tours 2005; Blondé, Bruno (Hg.), Buyers & Sellers. Retail Circuits and Practices in Medieval and Early Modern Europe, Turnhout 2006; Stobart, Jon/Hann, Andrew/Morgan, Victoria, Spaces of Consumption. Leisure and Shopping in the English Town, c. 1680–1830, London 2007; Coquery, Natacha, Tenir boutique à Paris au XVIIIe siècle: luxe et demi-luxe, Paris 2011.

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indische Spezereien, Farbstoffe und Baumwolle auf. Zudem nahm die Zahl der Spezereihändler seit dem 16. Jahrhundert zu.20 Dagegen war das Angebot neuer Handelsgüter im ländlichen Württemberg noch um 1700 verschwindend gering.21 Und während sich die Zahl der Distributoren überseeischer Güter in Frankfurt schon im 16. Jahrhundert multiplizierte, geschah dasselbe im westlichen Alpenraum erst im 18. Jahrhundert.22 Um die Verfügbarkeit neuer Güter quantitativ und qualitativ in breiterem Stil zu ermessen, sind weitere Forschungen gefragt, die von Zollakten, Laden- und Haushaltsinventaren, Korrespondenzen und Rechnungsbüchern von Groß- und Detailhändlern systematischen Gebrauch machen.23 Derweil gibt die Korrespondenz von Hans Fugger aus den Jahren 1566 bis 1594 einen exemplarischen Einblick in das Ausmaß überseeischer und einheimischer Luxusgüter, die schon im 16. Jahrhundert tagein, tagaus quer durch Europa wanderten.24 Zusammen mit seinem Bruder Marx hatte Hans Fugger eine der zwei Nachfolgefirmen von Anton Fugger übernommen. Über Antwerpen und die Niederlande bezog Hans Fugger zum Beispiel asiatische Spezereien, Hölzer und Edelsteine, exotische Vögel und Hausgenossen – so bestellte er kleine Papageien aus Malakka,25 exotische Hölzer aus Indien und »ain Medlin und Knäblein […], id est negrillios«.26 Aus Spanien wurden feine Lederware und Rohseide bestellt, aus Böhmen und Polen Pelze, aus Paris ausgefallene Federn, aus Wien türkische Pferde und Teppiche, aus Venedig und Genua Kristallsachen, Antiquitäten und Zitrusfrüchte und so weiter. Alles, was für den gehobenen Konsum gutsituierter Kreise im 16. Jahrhundert begehrenswert war, floss durch das Fuggersche Handelsnetz. Hans Fuggers Korrespondenz legt zugleich Zeugnis ab von der Standortgebundenheit der Wahrnehmung und Deutung fremder Güter, auf die sich die restlichen Teile dieses Beitrags nun konzentrieren. In seinen Briefen begegnete Hans Fugger den fremden Gütern mit dem geschäftsmäßigen Interesse eines Handelsherrn. Über seine Agenten und 20 Dietz, Alexander, Frankfurter Handelsgeschichte, Bd. 2, Glashütten 1971 (zuerst Frankfurt a. M. 1921), 125–133. Zu den Infrastrukturen des Kaufens und Verkaufens sowie zum Konsum exotischer Güter in Frankfurt am Main demnächst ausführlich: Schmidt-Funke, Haben und Sein. 21 Ogilvie, Sheilagh/Küper, Markus/Maegraith, Janine, Krämer und ihre Waren im ländlichen Württemberg zwischen 1600 und 1740, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 59 (2011), 54–76, bes. 72–73. 22 Radeff, Anne, Du café dans le chaudron. Économie globale d’Ancien Régime (Suisse occidentale, Franche-­ Comté et Savoie), Lausanne 1996. 23 Vgl. für die Auswertung von Zollakten z. B. Fertig, Christine/Pfister, Ulrich, Coffee, Mind and Body: Global Material Culture and the Eighteenth-Century Hamburg Import Trade, in: Gerritsen/Riello (Hg.), The Global Lives of Things, 221–240. 24 Karnehm, Christl, Die Korrespondenz Hans Fuggers von 1566–1594. Regesten der Kopierbücher aus dem Fuggerarchiv, 3 Bde., München 2003. Zur Geschichte der Fugger: Häberlein, Mark, Die Fugger. Geschichte einer Augsburger Familie (1367–1650), Stuttgart 2006. 25 Brief an Hans Keller in Antwerpen vom 17. August 1568, in: Karnehm, Korrespondenz, Bd. 1, Nr. 288. 26 Briefe an Jakob Maier in Antwerpen vom 5. Juli 1569 und 6. Mai 1572, in: Karnehm, Korrespondenz, Bd. 1, Nr. 458 und Nr. 752 (Zitat).

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Angestellten in Antwerpen, Venedig, Genua und Madrid27 holte er Informationen über Verfügbarkeit, Preise und Qualität der importierten Güter ein. So konnte er seine Kunden zum Beispiel wissen lassen, dass die gewünschten Diamanten in Antwerpen derzeit nicht zu bekommen und »dergleichen Sort« eher in Venedig zu finden seien,28 dass die »peruvschen Schmarall« im Preis gefallen seien und so weiter.29 Über Informanten vor Ort und den eigenhändigen Umgang mit den Dingen besaß Hans Fugger eine Expertise für die Waren, die er ein- und verkaufte. Personen, die nicht unmittelbar in den Handel mit den neuen Gütern involviert waren, nahmen diese durchaus anders wahr.

2. Das Staunen über fremde Waren Als sich Albrecht Dürer in den Jahren 1520 und 1521 in den Niederlanden aufhielt, sah er sich mit einer beeindruckenden, neuen Welt von Waren konfrontiert. Aufgrund der wachsenden Beziehungen nach Asien und Amerika war Antwerpen im Begriff, zu einem der führenden maritimen Umschlagplätze Europas aufzusteigen. Zahlreiche Handelshäuser und ihre Agenten sorgten dafür, dass eine Fülle von exotischen und kostbaren Gütern importiert, verteilt oder in der Stadt weiterverarbeitet wurden. Dürer selbst hatte an diesem materiellen Reichtum teil, indem er seine Bilder und Zeichnungen verkaufte, verschenkte oder eintauschte. In einer Schrift, die zugleich Tage- und Rechnungsbuch war,30 dokumentierte Dürer nicht nur seine Wahrnehmung dieser Welt von Waren, sondern auch seine Anteilnahme an ihrem Austausch. Für die Anfertigung von Porträts oder als Gegengeschenk für verehrte Gaben erhielt Dürer zum Beispiel »ein getruckt türckisch tuch«, »zwey calacutisch tücher«, »3 groß schachtel mit eingemachte[m] citernat« oder »zween groß schön weiß zuckerhütt«. Andere Male erhielt er »eine helffenbaine pfeiffen und gar ein schöne porzelona«, »6 jndianische groß nuß«, »ein papagey […], die man von Malaca bringt« und vieles andere mehr.31 Teils handelte es sich um Leckereien und Luxuswaren des alten Kontinents, größtenteils aber um aus Asien und der Neuen Welt importierte Waren wie bengalische Textilien, sri-lankische Elfenbeinschnitzereien, chinesisches Porzellan oder tropische Vögel. 27 Karnehm, Korrespondenz, Bd. 1, Einleitung, 25*–30*. 28 Briefe von Hans Fugger vom 10. Mai bis 30. Juni 1569, in: Karnehm, Korrespondenz, Bd. 1, Nr. 425, 426, 428, 430, 439–441, 449, 454, Zitat: Nr. 440. 29 Brief an Balthasar Trauson in Prag vom 6. November 1578, in: Karnehm, Korrespondenz, Bd. 2, Nr. 1258. 30 Eising, Erik, Geschäft und Vergnügen zugleich. Albrecht Dürers Reise in die Niederlande, in: Sander, Jochen (Hg.), Dürer. Kunst – Künstler – Kontext (Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung im Städel Museum Frankfurt a. M., 23. Okt. 2013–2. Febr. 2014), München/London 2013, 333–337. 31 Dürer, Albrecht, Tagebuch der Reise in die Niederlande, in: Rupprich, Hans (Hg.), Schriftlicher Nachlass. Dürer, Bd. 1: Autobiographische Schriften, Briefwechsel, Dichtungen, Beischriften, Notizen und Gutachten, Zeugnisse zum persönlichen Leben, Berlin 1956, 146–202, Zitate: 165, 166, 175.

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Regelrecht fasziniert war Dürer beim Besuch des Brüsseler Schlosses, in dem die Geschenke ausgestellt waren, die Hernán Cortés von dem mexikanischen Herrscher Moctezuma erhalten und an den spanischen Hof hatte bringen lassen. Karl V. hatte Teile davon im Vorfeld der Kaiserkrönung in die Niederlande transferiert.32 Dürer staunte über allerley jhrer waffen, harnisch, geschucz, wunderbahrlich wahr [sc. wehr], selczsamer klaidung, pettgewandt und allerley wunderbahrlicher ding zu maniglichem brauch, das do viel schöner an zu sehen ist dan wunderding. Diese ding sind alle köstlich gewesen, das man sie beschäczt vmb hundert tausent gulden werth. Und ich hab aber all mein lebtag nichts gesehen, das mein hercz also erfreuet hat als diese ding.33 Dürer kam in Brüssel und Antwerpen mit einer Sachkultur in Kontakt, die voll sinnlicher Überraschungen war: voll fremder Ästhetik, neuer Materialien und unbekannter Artefakte. Er schmeckte Zucker, fühlte Baumwollstoff und bewunderte die »subtile jngenia der menschen jn frembden landen«,34 also ihre Kreativität und Kunstfertigkeit. Die sich wiederholende Beschreibung der Dinge als »wunderbahrlich« verweist auf das Staunen, das sie bei Dürer auslösten. Was aber bedeutet es, über eine Sache zu staunen? Die Wissenschaftsgeschichte geht seit Langem von einem komplexen Wechselverhältnis von Neugierde, Staunen und Wissen aus.35 Sie hat Neugier und Staunen als kognitive Emotionen verstanden – zwitterhafte Zustände, die zwar Gefühle, aber zugleich mit dem Prozess des Wissens verknüpft sind.36 Dem Staunen geht ein bestimmtes Wissen voraus, und Staunen vermag neues Wissen anzuregen. Antiken und mittelalterlichen Theoretikern galt das Staunen als erkenntnisfördernd, die Neugier hingegen als lasterhaft. Diese Hierarchie wurde in der Frühen Neuzeit einer Neubewertung unterzogen und die Neugierde dem Staunen angenähert.37 Sowohl Dichter als auch (Natur-) Philosophen führten eine Debatte über den Wert des Staunens und ordneten es zwischen dienstbarer Verwunderung und lähmendem Unwissen ein, zwi-

32 Unverfehrt, Gerd, Da sah ich viel köstliche Dinge: Albrecht Dürers Reise in die Niederlande, Göttingen 2007, 70. 33 Dürer, Tagebuch der Reise in die Niederlande, 155. 34 Ebd. Für eine Thematisierung des Exotischen vgl. Feest, Christian, Von Kalikut nach Amerika. Dürer und die »wunderliche künstlich ding« aus dem »neuen gulden land«, in: Sander (Hg.), Dürer, 367–371. 35 Blumenberg, Hans, Der Prozess der theoretischen Neugierde, erw. und überarb. Neuausg., Frankfurt a. M. 1973; Daston, Lorraine/Park, Katharine, Wunder und die Ordnung der Natur 1150–1750, Berlin/Frankfurt a. M. 2002 (engl. 1998); Daston, Lorraine, Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität, Frankfurt a. M. 2001. 36 Daston, Lorraine, Die kognitiven Leidenschaften: Staunen und Neugier im Europa der frühen Neuzeit, in: dies., Wunder, Beweise und Tatsachen, 77–97. 37 Ebd., 83–89.

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schen der elitären Neugier der Gelehrten und dem einfältigen Staunen der Ignoranten.38 Nach Descartes ließ das Erstaunen »den ganzen Körper wie eine Statue erstarren«, Verwunderung aber uns »Dinge bemerken, die wir bis dahin nicht gewusst haben«. Für ihn war die Verwunderung die »erste aller Leidenschaften«, die bewirke, »mit Aufmerksamkeit die Objekte zu betrachten, die ihr [der Seele] als selten und außerordentlich erscheinen«.39 Es war also vor allem das Neue, Seltene und Ungewöhnliche, das Anlass zu Verwunderung gab. Für viele deutsche Barockdichter stand das Staunen zudem am Anfang aller Kunstrezeption. In den Poetiken des 17. und 18. Jahrhunderts wurde die Verwunderung als Ziel der Dichtung bestimmt. Literaturhistoriker haben das Staunen vor diesem Hintergrund auch als ästhetische Emotion bezeichnet, verstanden als »emotionale Reaktion auf ästhetische Objekte«.40 Das Staunen war für die Barockdichter ein »Zustand des Gemüths« und ein lustvolles »Ergetzen« über das Wunderbare, und damit war nicht vornehmlich das Neue, sondern das Schöne und Erhabene gemeint.41 Ob Dürers Staunen überwältigend oder forschungstreibend war, lässt sich nicht mehr bestimmen. Man darf jedoch annehmen, dass er die fremden Güter nicht nur wahrnahm, sondern dass sie ihn sinnlich, ästhetisch und emotional berührten. Dürer war kein Einzelfall, auch der Basler Arzt und Botaniker Thomas Platter der Jüngere (1574–1628) beschrieb sich als ähnlich lustvoll angesichts der vielfältigen fremden Güter, die er im Hafen von Marseille beobachtete: Ich sahe auch an dem port allerley seltzame wahren außladen, dann ettliche schiff kurtz darvor ankamen. In ettlichen wahre gewürtz ein mechtiger last, in anderen rhabarbaren unndt sonst artzneyen. In anderen affen, dann gemeinlich sie auch frembde thier mittbringen; in anderen pomerantzen, zitronen undt sonst wahren; es kann einer sich nitt ersettigen, also lustig ist es zuzusehen.42 Anders als Antwerpen, das seinen Aufstieg zum maritimen Umschlagplatz der Kaproute nach Indien verdankte, prosperierte Marseille dank der weiterhin frequentierten Über-

38 Ebd., 83–94. 39 Descartes, René, Die Leidenschaft der Seele. Französisch-Deutsch, hg. und übers. von Klaus Hammacher, Hamburg 1984, 95, 109–121, Zitate: 115, 117, 109. 40 Gess, Nicola, Staunen als ästhetische Emotion. Zu einer Affektpoetik des Wunderbaren, in: Baisch, Martin/Degen, Andreas/Lüdtke, Jana (Hg.), Wie gebannt. Ästhetische Verfahren der affektiven Bindung von Aufmerksamkeit, Freiburg 2013, 115–130, hier 115. 41 Ebd., 118, 123. 42 Platter, Thomas, Beschreibung der Reisen durch Frankreich, Spanien, England und die Niederlande 1595– 1600, 2 Bde., hg. von Rut Keiser, Basel 1968, Bd. 1, 186.

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land- und Mittelmeerrouten.43 Spektakulär war die Anlieferung exotischer Tiere, doch als Arzt registrierte Platter auch die weniger auffälligen Waren, die in Marseille ankamen. Darunter Rhabarber, eine Pflanze, deren Wurzel in der Frühen Neuzeit als Heilmittel bei Magen-Darm-Erkrankungen begehrt und geschätzt war.44 Ursprünglich in China heimisch, wurde der Rhabarber über verschiedene eurasische Handelsrouten in wachsender Menge nach Europa importiert.45 Wie Dürer beobachtete auch Platter die fremden Waren (und Kreaturen) mit Neugierde und Bewunderung. Kaum sattsehen konnte er sich an den »seltzamen wahren«. Und wie Dürer drängte es auch Platter, einige dieser Dinge selbst zu besitzen: Als er Marseille am 19. Februar 1597 wieder verließ, hatte er »alle [s]eine erkaufte perlinmuter, straußeneyer, frücht, corallen unndt andere meergewegs« im Gepäck.46 Diese Dinge besaßen Seltenheits-, ästhetischen oder kulinarischen Wert; sie bestachen durch irisierenden Glanz, süßsauren Geschmack oder die Eignung zum Kunstkammerstück. Die sinnlich-emotionale Reaktion auf fremde Produkte war einem tiefsitzenden Narrativ verpflichtet. Im Staunen über die transkontinentalen Güter wiederholte sich ein Staunen über das Wunderbare, über das die Reiseforschung bereits vieles gesagt hat.47 Reisende des 15. und 16. Jahrhunderts hatten ihrer Verwunderung über die Welten des Fernen Ostens und des amerikanischen Kontinents wiederholt Ausdruck verliehen. Paradigmatisch schlug sich das Narrativ des Wunderbaren schon im Titel von Jean Mandevilles spätmittelalterlichem Reisebuch nieder, Le livre des merveilles du monde.48 Auch die frühen Entdecker und Eroberer drückten ihre Begegnung mit dem Fremden in vielfältigen Formen des Erstaunens und der Verwunderung aus. Von den Eingeborenen 43 Zur anhaltenden Bedeutung der eurasischen Überlandrouten vgl. Steensgaard, Niels, The Route through Quandahar: the Significance of the Overland Trade from India to the West in the Seventeenth Century, in: Chaudhury, Sushil/Morineau, Michel (Hg.), Merchants, Companies and Trade. Europa and Asia in the Early Modern Era, Cambridge 1999, 55–73. 44 Monahan, Erika, Locating Rhubarb. Early Modernity’s Relevant Obscurity, in: Findlen (Hg.), Early Modern Things, 227–251. 45 Ebd., 229, 235. 46 Platter, Beschreibung, Bd. 1, 196. 47 Harbsmeier, Michael, Wilde Völkerkunde. Andere Welten in deutschen Reiseberichten der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M./New York 1994; Greenblatt, Stephen, Wunderbare Besitztümer. Die Erfindung des Fremden: Reisende und Entdecker, Berlin 1994 (engl. 1991); Dharampal-Frick, Gita, Indien im Spiegel deutscher Quellen der Frühen Neuzeit (1500–1750). Studien zu einer interkulturellen Konstellation, Tübingen 1994, bes. 120–135; Burghartz, Susanna/Christadler, Maike/Nolde, Dorothea (Hg.), Berichten, Erzählen, Beherrschen. Wahrnehmung und Repräsentation in der frühen Kolonialgeschichte Europas, Frankfurt a. M. 2003 (Zeitsprünge 7, H. 2/3); Bitterli, Urs, Die »Wilden« und die »Zivilisierten«. Grundzüge einer Geistesund Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung, München 32004 (zuerst 1976). 48 Mandeville, Jean de, Le livre des merveilles du monde. Édition critique par Christiane Deluz, Paris 2000; Mandeville, John, Mandeville’s Travels. Texts and Translations by Malcom Letts, Nendeln (Liechtenstein) 1967.

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Amerikas schrieb Kolumbus, sie seien »zum Verwundern furchtsam«,49 und der Indienreisende Balthasar Sprenger bezeichnete seine Merfart (1509) als Reise zu den »wunderbarlichen new erfunden[en] lande[n]«.50 Stephen Greenblatt hat in diesen Reden eine rhetorische Strategie zur Bewältigung des Fremden gesehen, die »zwischen der widerspenstigen Andersartigkeit einer neuen Welt und den Gefühlen, die diese Andersartigkeit auslöst«, vermittelte und sie ästhetisch transformierte.51 Im Reden über das Wunderbare war nicht nur die Furcht vor dem Unbekannten aufgehoben, sondern auch das Entzücken über seine Schönheit.52 Diese narrative Strategie hatte weitreichende Wirkung. Um den Reiz des Fremden zu bewältigen, wurden selbst kommerzielle Güter im Modus des Staunens beschrieben. Auf der anderen Seite rief die wachsende Verfügbarkeit ausländischer Waren kritische Redeweisen wach, die ebenfalls eine lange Tradition hatten. Die Verurteilung jeglichen Konsums, der als überflüssig, maßlos, hoffärtig oder nicht standesgemäß betrachtet wurde, reichte bis in die Antike zurück, fand mit der weitgehenden Gleichsetzung von Luxus und luxuria in der christlichen Sittlichkeitslehre einen Niederschlag und ging in vielfältige literarische und normative Texte ein.53 Im 17. und 18. Jahrhundert wurden vor allem die neuen Genussmittel Kaffee, Tee und Tabak zum Gegenstand kontroverser Debatten,54 doch setzte die Kritik schon sehr viel früher ein. Neben Bewunderung lösten die ausländischen Güter Abwehr und Ängste aus, denen bereits Humanisten und Reformatoren eine Stimme verliehen. Der Publizist und Humanist Ulrich von Hutten (1488–1523) ließ sich im neunzehnten Kapitel seines Traktats Von der wunderbar­lichen artzney des holtz Guaiacum genannt (1519) ausführlich über das Laster des Luxus und des Konsums fremder Waren aus.55 In einem auf die deutsche Nation gemünzten Appell geißelte er jene, deren »Finger von safferon gel seint«, und rief dazu auf, Konsum zu mäßigen und sich auf ein49 Zitiert nach Burghartz, Susanna, Aneignungen des Fremden. Staunen, Stereotype und Zirkulationen um 1600, in: Huwiler, Elke/Wachter, Nicole (Hg.), Integrationen des Widerläufigen. Ein Streifzug durch geistes- und kulturwissenschaftliche Forschungsfelder, Münster 2004, 109–137, hier 113. 50 Erhard, Andreas/Ramminger, Eva, Die Meerfahrt. Balthasar Springers Reise zur Pfefferküste. Mit einem Faksimile des Buches von 1509, Innsbruck 1998, 11. 51 Greenblatt, Wunderbare Besitztümer, 119. 52 Ebd., 119–120. 53 Wyrwa, Ulrich, Luxus und Konsum – begriffsgeschichtliche Aspekte, in: Reith, Reinhold/Meyer, Torsten (Hg.), »Luxus und Konsum« – eine historische Annäherung, Münster/New York 2003, 47–59; Grugel-Pannier, Dorit, Luxus. Eine begriffs- und ideengeschichtliche Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung von Bernard Mandeville, Frankfurt a. M./Berlin 1996. Vgl. zur Luxusdebatte des 18. Jahrhunderts Berg, Maxine, Luxury and Pleasure in Eighteenth-Century Britain, Oxford 2005; dies./Eger, Elizabeth (Hg.), ­Luxury in the Eighteenth Century. Debates, Desires and Delectable Goods, Basingstoke 2003. Zu konsumkritischen Diskursen und obrigkeitlicher Konsumregulierung am Beispiel von Frankfurt am Main ausführlich Schmidt-Funke, Haben und Sein. 54 Menninger, Genuss im kulturellen Wandel, bes. 375–376; Hochmuth, Globale Güter. 55 Hutten, Ulrich von, Von der wunderbarlichen artzney des holtz Guaiacum genannt, Straßburg 1519.

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heimische Produkte zu besinnen. Warum, so fragte er, müssten »specery un artzney von end dieser welt« hergebracht werden, wenn das Land doch über eine eigene Warenvielfalt verfüge?56 Süddeutsche Handelshäuser hatten sich in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts besonders im überseeischen Gewürzhandel engagiert,57 und so richtete sich von Huttens Kritik denn auch besonders gegen diese Güter: »Des lob ich mein großvater der nie specery ließ in sein huß kumē«.58 In der 16 Jahre später erschienenen englischen Fassung des Traktats hieß es noch expliziter, sein Großvater habe nie »Pfeffer, Safran, Ingwer oder irgendwelche anderen fremden Gewürze« in sein Haus kommen lassen.59 Von Hutten kompensierte mit dieser Kritik am Konsum fremder Waren ein Stück weit sein Lob des Guajakholzes, das ihn nach eigenen Angaben von einer schweren Infektion kuriert hatte. Es handelte sich um ein aus Neuspanien importiertes Holz, das in Europa als Heilmittel gegen Syphilis und später auch als Rohstoff für Holzutensilien und Accessoires verwendet wurde.60 Trotz der Befürwortung des Guaiacum spielte Ulrich von Hutten Argumente gegen die fremden Waren aus, die auch in merkantilistischen Diskursen immer wieder vorgebracht wurden. In seiner Schrift An den christlichen Adel deutscher Nation (1520) mahnte Martin Luther, dass »got uns […] genug geben, wolle, har, flachsz, […] das wir nit bedurfften, szo grewlichen grossen schatz zur seyden, sammet, guldenstuck, und was der auszlendischen war ist«. Im Konsum fremder Güter erkannte Luther nicht nur eine Verachtung vorhandener Ressourcen im eigenen Land, sondern auch den schädlichen Abfluss von Devisen: »Desselben gleychen were auch not, wenigern specirey, das auch der grossen Schiff einis ist, darynnen das gelt ausz deutschen landen gefuret wird.«61 So stand dem lustvollen Staunen über die fremden Güter eine rational gekleidete Kritik gegenüber, 56 Ebd., fol. 31v. 57 Häberlein, Die Fugger, 54–56; Kalus, Maximilian, Pfeffer – Kupfer – Nachrichten. Kaufmannsnetzwerke und Handelsstrukturen im europäisch-asiatischen Handel am Ende des 16. Jahrhunderts, Augsburg 2010, 139–159; Kellenbenz, Hermann, Neues zum oberdeutschen Ostindienhandel, insbesondere der Herwart in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: Fried, Pankraz (Hg.), Forschungen zur schwäbischen Geschichte. Herausgegeben anläßlich des 40jährigen Bestehens der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft und zur 20-Jahrfeier der Universität Augsburg, Sigmaringen 1991, 81–96, bes. 85–86. 58 Hutten, Von der wunderbarlichen artzney, fol. 31r. 59 Hutten, Ulrich von, Of the Wood Called Guaiacum: that Healeth the French Pockes […], London 1536, fol. 48r/v: »The frugality of my grandefather Laurence Hutten, whiche is worthy to be written, ought to move us unto moche glorye, who although he were ryche, and moche occupied in greatte matters of our princes, […] yet wolde he never admytte into his house papper, saffron, ginger, nor suche other straung spyces […]«. 60 Franzosen=Holz, in: Krünitz, Johann Georg, Oekonomische Encyklopädie […], Bd. 14, Berlin 1778, 777– 785, online verfügbar unter: http://www.kruenitz1.uni-trier.de, letzter Zugriff: 27.10.2016; Pomet, Pierre, Der aufrichtige Materialist und Specerey-Händler, hg. von Hans-Joachim Poeckern, Neudruck der Ausgabe von 1717, Leipzig 1986, 139–142. 61 Luther, Martin, An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung, in: Werke. Kritische Gesamtausgabe (=WA), Bd. 6, Weimar 1888, 404–469, Zitate: 465, 466.

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die sich gegen den Konsum kostbarer Importwaren und die befürchtete Schwächung der einheimischen Wirtschaft richtete.

3. Neue warenkundliche Informationen und ihre Zirkulation Eine zentrale Bedeutung für den Übergang vom Staunen zum Wissen über die importierten Güter kam warenkundlichen Informationen zu. Dabei waren staunende und explorierende Akteure, jene, die Informationen besaßen und anwandten, und jene, die sie popularisierten, keineswegs identisch. Vielmehr entstand ein vielschichtiger Diskurs, in dem Verwunderung, Kritik und zunehmende Expertise neben- und miteinander existierten. Zu den wichtigsten Akteuren, die im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts Informationen über die fremden Güter bereitstellten, gehörten die Reisenden selbst, die aus unterschiedlichen Teilen der Welt mit mehr oder weniger empirischer Akkuratesse über die ausländischen Waren berichteten. Die zuverlässigsten unter ihnen stützten ihre Berichte auf eine vor Ort erworbene Expertise, die sich sowohl aus dem eigenhändigen Umgang mit den Dingen als auch aus der Aneignung von lokalem Wissen speiste. Duarte Barbosa (gest. 1546) zum Beispiel informierte in seinem Livro (1516) in umfassender Weise über die Ressourcen und Produkte Indiens und deren Austausch im Indischen Ozean. Als Faktor in portugiesischen Diensten hatte er sich in Cochin und Cannanore detailreiches Wissen über Waren und Warenströme, Häfen und Märkte, Handelsakteure und Praktiken angeeignet. Von Barbosa erfuhren die Portugiesen, dass die Häfen der Malabarküste Umschlagplätze für »Pfeffer, Ingwer, Zimt, Kardamom, Myrobalane, Tamarinde, Röhrenkassie, alle Sorten von Edelsteinen, kleine Perlen, Moschus, Amber, Rhabarber, Aloehölzer, einen großen Vorrat an Baumwollstoffen und Porzellan« waren, dass der beste Zimt von der Insel Ceylon komme und der Zentner Pfeffer in Calicut etwa 50 Silberpesos koste.62 Ähnlich fachkundig präsentierte der portugiesische Arzt Garcia da Orta (ca. 1499–1568) neue Informationen über asiatische Heilpflanzen und Mineralien. Sein Wissen hatte er im Laufe von über 30 in Indien verbrachten Lebensjahren gesammelt. Er bestätigte zum Beispiel, dass der beste Zimt der ceylonesische sei, beschrieb das Aussehen der Pflanze und erklärte, dass Zimt außer als Gewürz auch als milde Medizin für den Magen nützlich sei.63 Gut unterrichtete Reisende lie62 Barbosa, Duarte, The Book of Duarte Barbosa. An Account of the Countries Bordering on the Indian Ocean and Their Inhabitants, written by Duarte Barbosa, and completed about the year 1518, übersetzt aus dem Portugiesischen, hg. und kommentiert von Mansel Longworth Dames, 2 Bde., Nendeln (Liechtenstein) 1967 (zuerst 1918–1921), Bd. 2, 77, 112–113, 227. 63 Orta, Garcia da, Colloquies on the Simples and Drugs of India. Edited and Annotated by the Conde de ­Ficalho. Translated with an Introduction and Index by Sir Clements Markham, London 1979 (zuerst 1913), 118–137.

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ferten somit wesentliche neue Informationen über die geographische Herkunft der fremden Güter, über unterschiedliche Varianten und Qualitäten, Kosten und Verwendungszwecke. In Europa wurden solche Informationen durch vielfältige Medien rezipiert und transformiert. Sowohl Duarte Barbosas Livro als auch Garcia da Ortas Colóquios wurden, allerdings in erheblich gekürzter Form, veröffentlicht, das Livro im ersten Band der bekannten Sammlung Navigazioni et viaggi von Giovanni Ramusio (1550),64 die Colóquios in einer von dem niederländischen Botaniker Carolus Clusius (1526–1609) erstellten lateinischen Zusammenfassung, die auch ins Italienische und Französische übersetzt wurde (1582 und 1619).65 Aus Veröffentlichungen wie diesen wanderten Informationen über transkontinentale Waren in andere Textgenres weiter. Die erfolgreiche Vermarktung großangelegter Reiseeditionen und die neue Umtriebigkeit von Verlegern und Herausgebern erhöhten im 17. Jahrhundert insgesamt die Verfügbarkeit von Nachrichten über fremde Länder. Dementsprechend konnte der Polyhistor E ­ rasmus ­Francisci (1627–1694) auf eine erkleckliche Zahl von Berichten von Reisenden und Naturforschenden aus Westund Ostindien zurückgreifen, als er 1688 seine monumentale Enzyklopädie herausbrachte. Auf über 1500 Seiten kompilierte der Ost- und West-Indische wie auch Sinesische Lust- und Staats-Garten botanische, geographische und politische Nachrichten über die Länder Asiens und Amerikas.66 Auch zahlreiche Informationen über die nach Europa importierten Naturstoffe und Produkte waren enthalten, doch führte die vom Autor gewählte dialogische Darstellungsform dazu, dass aktuelle und veraltete, spekulative und gesicherte Versatzstücke weitgehend unkommentiert nebeneinanderstanden. Zum Rhabarber trug Francisci beispielsweise Fakten aus den über 100 Jahre alten Colóquios von Garcia da Orta und aus dem erst wenige Jahre zuvor erschienenen Chinabericht von Joan Nieuhof (1618–1672) zusammen. Auch wenn ein Teil dieser Fakten korrekt war, spiegelte der Beitrag die zeitgenössische Verwirrung über verschiedene Varianten des Rhabarbers und seiner Bezeichnungen.67 Als zuverlässige Quelle für Warenwissen war zumindest diese Enzyklopädie des 17. Jahrhunderts nicht zu empfehlen. 64 Barbosa, Duarte, Libro, in: Ramusio, Giovanni, Delle Navigazioni et viaggi, Bd. 1, Venedig 1550, fol. 310– 348. 65 Orta, Garcia da, Aromatum, et simplicium aliquot medicamentorum apud Indos nascentium historia: primùm quidem Lusitanica lingua dialogikos conscripta à D. Garçia ab Horto […] deinde Latino sermone in epitomen contracta à Carolo Clusio […], quarta editio, Antwerpen 1593. Vgl. auch Markham, Clements R., Introduction, in: Orta, Colloquies, xi. 66 Francisci, Erasmus, Ost- und West-Indischer wie auch Sinesischer Lust- und Staats-Garten. […] aus den fürnemsten, alten und neuen Indianischen Geschicht-, Land- und Reisebeschreibungen mit Fleiß zusammengezogen und auf annehmliche Unterredungs-Art eingerichtet, Nürnberg 1668. Zum Genre frühneuzeitlicher Enzyklopädien vgl. Schneider, Ulrich Johannes (Hg.), Seine Welt wissen. Enzyklopädien in der Frühen Neuzeit (Katalog zur Ausstellung in der Universitätsbibliothek Leipzig Jan.–April 2006 und in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel Juni–Nov. 2006), Darmstadt 2006. 67 Francisci, Lust- und Staatsgarten, 724–727; Mohan, Rhubarb, 229.

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Hinzu kam, dass viele transkontinentale Waren in Europa eine schillernde Existenz führten. Sie zirkulierten nicht nur als kommerzielle Güter, sondern landeten als Sammlungsobjekte auch in den Kunst- und Wunderkammern bürgerlicher und adeliger Familien. Sie fanden deshalb Niederschlag in einem weiteren Genre von Texten – den frühneuzeitlichen Museologien. Samuel Quiccheberg (1529–1567), der anhand der Münchner Kunstkammer eine erste Systematisierung von Sammlungsobjekten vornahm, schloss fremde Rohstoffe und Artefakte ausdrücklich in seine Systematik ein. Neben »fremdländischen Gefäßen« und »ausländischer Kleidung« nannte er vielfältige Samen, Früchte und Wurzeln, unter denen »die ausländischen, wundersamen, duftenden immer den Vorzug« hätten.68 Entsprechend fanden sich in der Münchner Kunstkammer etliche Gegenstände, die in anderen Kontexten als kommerzielle Güter gehandelt wurden, darunter mehrere »Schüßelen de Porcellana«, Baumwolltextilien, Muskatnüsse und Guajakholz.69 Auch der am Anfang dieses Beitrags genannte Bettüberwurf aus der Kunstkammer Ferdinands II. verweist auf die wechselnden Kontextualisierungen der überseeischen Dinge. Zwar wurden Colchas als kommerzielle Güter zwischen Bengalen und Portugal gehandelt. Viele, insbesondere die für bescheidenere Kunden gedachten Exemplare wurden über den Markt von Lissabon verkauft.70 Doch mit dem Transfer in die Kunstkammer wurden aus Waren Exponate. Ungeachtet ihrer zunehmenden Kommerzialisierung blieben viele fremde Güter in Europa bewundernswert für ihre Seltsamkeit und Schönheit und aus diesem Grund geeignet für einen Ort, der beanspruchte, Weltwissen nicht zuletzt anhand von »exotischen« Dingen zu repräsentieren. Für die Erweiterung und Systematisierung von Wissen über fremde Waren blieb die Rolle der Kunstkammern jedoch ambivalent. Auf der einen Seite gingen die Sphären von Kommerz, Sammlung und Wissen insbesondere dort ineinander über, wo merchant-collectors begannen, sich für neue Luxusgüter nicht nur aus geschäftlichen, sondern auch aus wissenschaftlichen Gründen zu interessieren.71 Der Antwerpener Handelsherr Emmanuel Ximenez (1564– 1632) etwa, einer der reichsten portugiesischen Neuchristen der Stadt, handelte mit einer Vielzahl von Luxusgütern, darunter auch Glas, dessen Herstellung er zugleich stu-

68 Harriet, Roth (Hg.), Der Anfang der Museumslehre in Deutschland. Das Traktat »Inscriptiones vel Tituli Theatri Amplissimi« von Samuel Quiccheberg: lateinisch-deutsch, Berlin 2000, hier 49, 57, 69. 69 Fickler, Johann Baptist, Das Inventar der Münchner herzoglichen Kunstkammer von 1598, hg. von Peter Diemer in Zusammenarbeit mit Elke Bujok und Dorothea Diemer, München 2004, 1162–1177 (Nr. 543: Porzellan, Nr. 261–275: Muskatnüsse, Nr. 264, 398: Gefäße »de ligno Guaiaco«, Nr. 1950: Baumwolle). 70 Karl, Marvellous Things, 8. 71 Dupré, Sven, Trading Luxury Glass, Picturing Collections and Consuming Objects of Knowledge in Early Seventeenth-Century Antwerp, in: ders. (Hg.), Silent Messengers. The Circulation of Material Objects of Knowledge in the Early Modern Low Countries, Berlin/Münster 2011, 261–291, bes. 268.

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dierte.72 Darüber hinaus hat die jüngere Wissenschaftsgeschichte den systematischen Zusammenhang zwischen den Praktiken des Sammelns und der Genese neuen Wissens betont.73 Insbesondere die Naturalienkabinette wurden zu »Orten einer beobachtenden, ordnenden und experimentierenden Naturgeschichte, an denen das Außerordentliche betrachtet und das Seltene studiert wurde«.74 Auf der anderen Seite blieben viele Kunstkammern und ihre Inventare im Hinblick auf die Genauigkeit der Beschreibung der fremden Dinge unpräzise und hinter schon verfügbaren Informationen zurück. Vielfach wurden die exotischen Objekte gerade nicht als Wissensquelle benutzt, sondern als Illustration bestehenden Bücherwissens.75 Es muss an dieser Stelle also offen bleiben, inwiefern einzelne Sammlungen konkret zum Wissenszuwachs über transkontinentale Waren beitrugen.

4. Erste Warenkunden und die Systematisierung von Wissen Im Laufe der Frühen Neuzeit wurde das Spektrum fremder Güter unübersichtlicher. Es waren nicht nur die verschiedenen asiatischen Textilien und Gewürze sowie die bekannten Genussmittel Tee, Kaffee, Kakao und Tabak, die Europas Warenwelt im 17. und 18. Jahrhundert weiter veränderten. Darüber hinaus wurde eine Fülle von transatlantischen, afrikanischen und asiatischen Gemüse- und Obstsorten, Farbstoffen, Pflanzen, Hölzern und Samen importiert, die sowohl den Konsum von Haushalten als auch Gewerbe und Medizin beeinflussten. So wurde die im Andenraum gewonnene Chinarinde im 17. Jahrhundert als Arznei gegen Fieberschübe und Malaria bekannt,76 und Färber, Maler, Hutmacher und andere Spezialisten begannen zunehmend, exotische Hölzer wie Kampescheholz und Brasilienholz zum Rot-, Violett- und Schwarzfärben zu 72 Vgl. Göttler, Christine/Moran, Sarah Joan (Hg.), Reading the Inventory. The Possessions of the Portuguese Merchant-Banker Emmanuel Ximenez (1564–1632) in Antwerp, online verfügbar unter: www.ximenez. unibe.ch, letzter Zugriff: 12.08.2019, hier bes. die Einträge »Historical Context«, »Laboratory« und »Correspondence Neri-Ximenez«. 73 Findlen, Paula, Possessing Nature. Museums, Collecting, and Scientific Culture in Early Modern Italy, Berkeley 1994; te Heesen, Anke/Spary, Emma C. (Hg.), Sammeln als Wissen. Das Sammeln und seine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung, Göttingen 2001; te Heesen, Anke/Lutz, Petra, Einleitung, in: dies. (Hg.), Dingwelten. Das Museum als Erkenntnisort, Köln 2005, 11–23; Felfe, Robert, Naturform und bildnerische Prozesse: Elemente einer Wissensgeschichte der Kunst des 16. und 17. Jahrhunderts, Berlin 2015. 74 te Heesen, Anke/Spary, Emma C., Sammeln als Wissen, in: dies. (Hg.), Sammeln als Wissen, 7–21, Zitat: 10–11. 75 Collet, Dominik, Die Welt in der Stube. Begegnungen mit Außereuropa in Kunstkammern der Frühen Neuzeit, Göttingen 2007, 128, 164, 195, 332; vgl. zur Kunstkammer als Erkenntnisort jedoch ebd., 196. 76 Gänger, Stefanie, Mikrogeschichten des Globalen. Chinarinde, der Andenraum und die Welt während der »globalen Sattelzeit« (1770–1830), in: Barth, Boris/Gänger, Stefanie/Petersson, Niels P. (Hg.), Globalgeschichten. Bestandsaufnahme und Perspektiven, Frankfurt a. M. 2014, 19–40.

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benutzen.77 Aus den wachsenden Importen überseeischer Güter und der gleichzeitigen Unzulänglichkeit geordneter Information ergab sich ein neuer Bedarf nach Systematisierung. Diesem Bedarf kam zumindest teilweise ein neues Genre von Texten entgegen. Unter Titeln wie Gründliche Beschreibung Fremder Materialien und Specereyen (1676)78 oder Teutsche Material-Kammer (1687) erschienen seit dem letzten Drittel des 17.  Jahrhunderts warenkundliche Werke, die sogenannte »Material-Waaren« oder »Droguistereyen« verzeichneten, worunter sämtliche Gewürze, Arznei-, Farb- und Räucherstoffe zählten (Abb. 2).79 Nicht alle, aber viele dieser Güter waren ausländischer Herkunft. Nicht behandelt werden dagegen gewerblich hergestellte Produkte aus Übersee, wie Baumwoll- und Seidengewebe, Por- Abb. 2: Johann Jacob Marx, Neu-viel-vermehrte zellan, Möbel oder Kunstwerke. Diese neuen und verbesserte Material-Kammer, Nürnberg Warenkunden standen in der Tradition 1709, Titelseite. verschiedener Textgattungen und besaßen zugleich einen distinkten Charakter. Als Vorläufer sind zum einen die schon im frühen 16. Jahrhundert publizierten Kräuterbücher zu nennen, die bekannte Pflanzen und Heilkräuter enzyklopädisch erfassten.80 Auch die neuen Güter fanden in die Kräuterbücher teilweise Eingang, etwa in der Schrift des 77 Vom Indianischen Holtze, in: Pomet, Aufrichtiger Materialist, 145–148. Zur Verwendung des aus Afrika importierten Gummiarabikums vgl. Wimmler, Jutta, Material Exchange as Cultural Exchange. The Example of West African Products in Late 17th- and early 18th-Century France, in: Hyden-Hanscho, Veronika/ Pieper, Renate/Stangl, Werner (Hg.), Cultural Exchange and Consumption Patterns in the Age of Enlightenment. Europe and the Atlantic World, Bochum 2013, 131–151. 78 Vielheuer, Christoph, Gründliche Beschreibung Fremder Materialien und Specereyen Ursprung, Wachstum, herkommen und deroselben Natur und Eigenschaften […], Leipzig 1676; Marx, Johann Jacob, Neuviel-­vermehrte und verbesserte Teutsche Material-Kammer […], Nürnberg 1709 (zuerst 1687). Vgl. dazu auch den Beitrag von Christiane Holm in diesem Band. 79 Material-Waaren, in: Krünitz, Oekonomische Encyklopädie, Bd. 85, Berlin 1802, 447–449. 80 Zum Beispiel Brunfels, Otto, Kreüterbuch contrafayt, beyde Teyl vollkummen nach rechter, warer beschreibung der Alten leerer und ärtzt, Straßburg 1539. Vgl. dazu auch Cook, Harold J., Das Wissen von Sachen, in: Schneider (Hg.), Enzyklopädien, 81–124.

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Basler Stadtarztes Bernhard Verzascha, der unter anderem neuestes botanisches Wissen zum Tee zusammenstellte.81 Naturkundliches und warenkundliches Wissen waren insofern nicht scharf voneinander zu trennen. Dennoch lassen sich die »Materialkunden« in mehreren Hinsichten von den Kräuter- und Arzneibüchern abgrenzen. Erstens bildeten sie das durch die überseeischen Importe deutlich erweiterte Spektrum von Pflanzen und Kräutern ab. Zweitens behandelten sie ein durch den Materialwaren-Begriff erweitertes, umfangreiches Sortiment unterschiedlicher Stoffe: Neben Pflanzen und ihren Früchten, Blüten und Rinden gingen Gummi und Harze, Mineralien, Korallen, Perlen, Öle, Metallsalze und vieles mehr in die Werke ein. Drittens waren diese Texte nicht vornehmlich an Naturforschende und Ärzte gerichtet, sondern an Gewerbetreibende, die mit eben jenen »Material-Waaren« zu tun hatten, also bestimmte Handwerker, Apotheker, Gewürzkrämer und Materialisten. Letztere definierte die Krünitzsche Enzyklopädie im 18. Jahrhundert als Groß- und Detailhändler, die Materialwaren einkauften und weitervertrieben und sich von den Apothekern und Gewürzkrämern dadurch abgrenzten, dass sie Substanzen nicht zu Arzneien vermischten und neben den für Speisen verwendeten Gewürzen zahlreiche weitere Substanzen führten.82 Zum anderen fügten sich die neuen Warenkunden in die seit dem Spätmittelalter existierende kaufmännische Literatur ein und erweiterten sie zugleich.83 Seit dem späteren 15. Jahrhundert machten gedruckte Handbücher und Manuale kaufmännisches Wissen verfügbar, das sich zunächst weitgehend auf Techniken der Buchführung und des Rechnens konzen­ trierte, sich dann auf Münzkunde, Wechselpraxis und kaufmännische Kommunikation ausdehnte und im 17. Jahrhundert auch handelsgeographische und warenkundliche Informationen umfasste. Die Forschung über die Ars Mercatoria hat die zunehmende Verdichtung und die Integration unterschiedlicher Wissensbestände in die kaufmännische Literatur herausgearbeitet sowie den Trend zu enzyklopädisch angelegten Handbüchern aufgezeigt, der mit dem Erscheinen von Jacques Savarys Parfait Négociant im Jahr 1675 einen vorläufigen Höhepunkt erreichte – also etwa zeitgleich mit dem Aufkommen der »Materialkunden« im

81 Verzascha, Bernhard, Neu Vollkommenes Kräuter-Buch, von allerhand Gewächsen der Bäumen, Stauden und Kräutern, die in Teutschland, Italien, Franckreich, und in andern Orten der Welt herfür kommen […], Basel 1678, 783–785, zitiert nach Hochmuth, Globale Güter, 51. 82 Materialist, in: Krünitz, Oekonomische Enzyklopädie, Bd. 85, Berlin 1802, 438–446. Vom Gewürzkrämer unterschied sich der Materialist dadurch, dass er »die ungemein, sonderbar, fein nicht jedermann bekannten, und mehr zur Arzeney, Chemie, Seltenheit in den Naturalien und Kunstkammern, als in der Küchen dienen[den]« Güter verkaufte und »Pfeffer, Ingwer, Zucker und anderes Gewürz« den Gewürzhändlern überließ. 83 Hoock, Jochen/Jeannin, Pierre/Kaiser, Wolfgang (Hg.), Ars mercatoria. Handbücher und Traktate für den Gebrauch des Kaufmanns, 1470–1820. Eine analytische Bibliographie, 3 Bde., Paderborn 1991–2001.

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deutschsprachigen Raum.84 Anders als diese enzyklopädischen Handbücher, die zwar auch warenkundliche Informationen bereitstellten, jedoch in weniger detaillierter und spezialisierter Form, gliederten die neuen Nachschlagewerke warenkundliches Wissen aus und trugen damit zugleich zur Ausweitung und Differenzierung der kaufmännischen Literatur bei. In den »Materialkunden« wurden erstmals Informationen zu einer großen Gruppe fremder Waren systematisch gesammelt und geordnet. Anders als bisweilen behauptet worden ist, können sie als die ersten eigentlichen Warenkunden der Frühen Neuzeit gelten. Johann Beckmann verfasste mit seiner zweibändigen Vorbereitung zur Waarenkunde (1793/1800) zwar einen Klassiker; dass er damit die »Disziplin und Buchgattung der Warenkunde« erfand, ist jedoch nicht haltbar.85 Zu den wichtigsten frühen Warenkunden gehörten im deutschsprachigen Raum die zuerst 1672 erschienene Neu-eingerichtete Material-­ Kammer von Georg Nicolaus Schurtz (gest. vor 1696) und die 1687 publizierte Teutsche Material-Kammer von Johann Jacob Marx.86 Beide Autoren griffen sowohl auf eigenes Erfahrungswissen als auch auf angelesene Kenntnisse zurück. Während Schurtz in einer

84 Kaiser, Wolfgang, Ars Mercatoria – Möglichkeiten und Grenzen einer analytischen Bibliographie und Datenbank, in: Hoock/Jeannin/Kaiser (Hg.), Ars mercatoria, Bd. 3: Analysen: 1470–1700, Paderborn 2001, 1–26; Hoock, Jochen, Vom Manual zum Handbuch. Zur diskursiven Erweiterung der kaufmännischen Anleitungen im 16. und 17. Jahrhundert, in: ebd., 157–172. 85 So Eggers, Michael, Weltliteratur und Warenkunde. Zur ökonomischen und naturhistorischen Wissensordnung bei Johann Beckmann und Goethe, in: Neumann (Hg.), Präsenz und Evidenz, 512–528, hier 515: »Die Neuerung, die mit der auf Beckmann zurückgehenden Disziplin und Buchgattung der Warenkunde zu einem Teil der Ökonomie und des Handelsverkehrs des 18. Jahrhunderts wird, besteht in der zielgerichteten Ordnung und Zusammenstellung des verfügbaren Wissens vor allem über die im außereuropäischen Ausland erhältlichen Waren, zu dem Zweck, ein praktisch verwendbares und zugleich archivierendes Nachschlagewerk in der Art eines Katalogs in der eigenen Sprache zu erhalten.« Die genannten Eigenschaften treffen vollumfänglich schon auf die ›Materialkammern‹ zu. 86 Die Bibliographie der kaufmännischen Literatur, Ars Mercatoria, umfasst für den Zeitraum von 1470 bis 1700 rund 4600 Titel (inklusive zahlreicher Auflagen eines Werkes). Die systematische Durchsicht dieser Titel ergibt eine erste Zunahme von Werken mit warenkundlicher Information für das späte 16. und frühe 17. Jahrhundert (vgl. dazu auch die Tabellen und Graphiken in Bd. 2, 646 und 663). Bei genauerem Hinsehen erweisen sich die Titel jedoch als Traktate zu einzelnen Gewerben wie Anselm Boece de Boots Gemmarum et lapidum historia (1609) oder als Reiseberichte wie Jan Huygen Linschotens Itinerario (1596). Für die Mitte und die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts werden weitere Werke als warenkundlich kategorisiert, so Lewes Roberts Merchants Mappe of Commerce (1638) oder Jacques Le Moine de L’Espines Le négoce d’Amsterdam (1694), nicht jedoch Jacques Savarys Parfait Négociant (1675) oder Jean-Baptiste Taverniers Six Voyages (1676). Von den von mir gesichteten »Materialkunden« wird nur Georg Schurtz’ Neu-eingerichtete Material-Kammer (1672) und Pierre Pomets Histoire générale des drogues (1694) aufgeführt. Trotz dieser Lücken und Inkonsistenzen deckt sich Jochen Hoocks Einschätzung, dass mit Pierre Pomet »die eigentliche warenkundliche Tradition einsetzte«, grob mit der hier vorgenommenen Periodisierung der Warenkunden. Vgl. Hoock, Vom Manual zum Handbuch, 163. Vgl. zu den späteren deutschsprachigen Klassikern der Warenkunde, wie Paul Marpergers Neu-eröffnetes Kaufmanns-Magazin (1708), ebd.; sowie Reith, Reinhold, Einleitung: »Luxus und Konsum« – eine historische Annäherung, in: ders./ Meyer, Torsten (Hg.), »Luxus und Konsum«, 9–27, bes. 16–19.

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nicht näher bestimmten »Handlung« tätig war, arbeitete Marx als Materialist in Nürnberg.87 Gemeinsam war den Autoren die Absicht, das für einen Kaufmann nötige Wissen, »was die Güte, Prob und Sorten eines und des anderen [Ware] anbetrifft«, zusammenzustellen.88 Ein grundlegendes Anliegen der frühen Warenkunden war damit die Aufbereitung von Informationen über die Herkunft der fremden Güter, über verschiedene Anbaugebiete und Beschaffungsmärkte, über das Aussehen der Pflanzen, über diverse Sorten, unterschiedliche Qualitäten und Preise. Das entsprechende Wissen sollte nicht nur der professionellen Formation dienen, sondern auch Warentests und praktische Anwendungen fördern. In einer »Materialkunde« sollten Apotheker, Gewürzkrämer, Materialisten und nicht zuletzt Handwerker nachschlagen können, wie die Echtheit der Abb. 3: Pierre Pomet, Histoire générale des droGüter zu prüfen sei und welchen Nutzen die gues, Paris 1694, Titelseite. aufgeführten Substanzen hatten. Wie die Ordnung der »Materialkunden« unterschiedlichen Prinzipien folgte, so waren auch die Lemmata von unterschiedlicher Länge und Qualität. Während Georg Nicolaus Schurtz dort, wo er sich wie beim Pfeffer, Safran und Zimt offenbar auf eigene Anschauung stützte, ausführliche Artikel verfasste, fielen andere Einträge wie etwa zum Indigo knapper aus, wieder andere Güter wie etwa der Rhabarber fehlen ganz.89 Im Vergleich zu Marx Teutscher Material-Kammer fiel Schurtz’ Nachschlagewerk deutlich kürzer aus, war jedoch wie dieses auch alphabetisch sortiert. Die wohl umfassendste »Materialkunde« des 17. Jahrhunderts stammte aus der Feder des französischen Drogisten, Spezereihändlers und Naturforschers Pierre Pomet (1658– 87 Vgl. zu Johann Jacob Marx die knappen biographischen Informationen in: Würfel, Andreas, Verzeichnis und Lebensbeschreibungen der Herren Prediger […] der Kirche zu St. Jacob in Nürnberg, Nürnberg 1760, 46–47. Georg Nicolaus Schurtz ist als Verfasser mehrerer kaufmännischer Werke bekannt; genauere biographische Informationen fehlen jedoch. Vgl. Hoock/Jeannin/Kaiser (Hg.), Ars Mercartoria, Bd. 2: 1600–1700, 504–506. 88 Marx, Material-Kammer, Vorrede an den geneigten günstigen Leser, fol. 2v; Georg Nicolaus Schurtz, Neu-eingerichtete Material-Kammer: Das ist, Gründliche Beschreibung aller fürnehmsten Materialien und Specereyen […], Vorrede (»Gunstgeneigter Leser«), o.S. 89 Vgl. Cinamomi, in: Schurtz, Material-Kammer, 25–26; Indigo, in: ebd., 47–48.

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1699), dessen Histoire générale des drogues 1717 als Der aufrichtige Materialist auch in deutscher Sprache erschien (Abb. 3).90 Anders als seine deutschen Vorgänger ordnete Pomet die behandelten Substanzen nicht alphabetisch, sondern nach Pflanzen, Tieren und Mineralien. Damit folgte der Autor zwar einer aus der Antike herrührenden Dreiteilung, nahm jedoch innerhalb dieses Schemas eine neue Ordnung vor, indem er die Materialien (mit Ausnahme des Tierreichs) nach morphologischen Bestandteilen sortierte (etwa bei Pflanzen nach Samen, Wurzeln, Hölzern, Rinden, Blättern usw.) und damit Grundlagen für die spätere Pharmakognosie legte.91 Pomet führte sämtliche zu seiner Zeit bekannten, sowohl einheimischen als auch überseeischen »Droguistereyen« auf und erläuterte, woher sie stammten, wie sie aussahen, in welchen Varianten sie vorkamen, wer sie verarbeitete und wozu sie nutzten. Sein Wissen bezog Pomet aus eigenen Erfahrungen als Spezereihändler, dem Studium seiner umfassenden Materialiensammlung in Paris und dem Austausch mit befreundeten Weltreisenden und Naturkundigen.92 Obwohl den Autoren der frühen Warenkunden aus heutiger Sicht Fehler unterliefen – Pomet zum Beispiel ordnete Cochenille trotz zunächst richtiger Information der zeitgemäßen Vorstellung folgend dem Pflanzen- anstelle des Tierreichs zu –, bestand der Mehrwert der Texte in der systematischen Sammlung und Ordnung von Informationen. Die Werke trugen die zu ihrer Zeit verfügbaren Informationen aus unterschiedlichsten Quellen mehr oder weniger umfassend und zuverlässig zusammen, formten sie zu einem Wissensbestand und machten dieses Wissen nachschlagbar. Es lag am Charakter der »Materialien«, dass dabei oft warenkundliches, botanisches und pharmazeutisches Wissen Hand in Hand gingen. Für die frühneuzeitliche Warenkultur markierte das Erscheinen der frühen Warenkunden einen deutlichen Wissenszuwachs.

5. Die Persistenz der Leidenschaft Die Präsenz fremder Güter schrieb sich im Laufe der Frühen Neuzeit in ein breites diskursives Feld ein, in dem Verwunderung und Expertise nur die jeweils äußersten Ränder zu markieren schienen. Die hier untersuchten Quellen bezeugen das Potenzial der asiatischen und transatlantischen Waren, zu faszinieren und zu verstören, Kritik, Staunen und den 90 Pomet, Pierre, Histoire générale des drogues. Traitant des plantes, des animaux et des mineraux […], Paris 1694; ders., Aufrichtiger Materialist. 91 Löhr, Hannsgeorg, Nachwort, in: Pomet, Aufrichtiger Materialist, 3–21, hier 9. 92 Dies wird in vielen Einträgen deutlich, in denen Pomet seine Quellen benennt, etwa die Reiseberichte von Jean-Baptiste Tavernier und Duarte Barbosa, die Briefkorrespondenz mit François Rousseau in St. Domingue sowie mit dem französischen Botaniker Joseph Pitton de Tournefort, vgl. Pomet, Aufrichtiger Materialist, 3, 18, 31–32, 56, 153.

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Wunsch auszulösen, sie zu erforschen und zu ordnen. Fremde Dinge, die auf dem Markt zirkulierten, wurden trotz ihres kommerziellen Charakters auch als sinnliche Objekte wahrgenommen, die aufgrund ihrer ungewohnten Ästhetik und Materialität Aufmerksamkeit erregten. Wie andere fremde Dinge gaben auch die fremden Güter der Epoche neue visuelle, haptische und kulinarische Reize, während sie auf der anderen Seite die Verdichtung des Warenverkehrs und der Kaufs- und Verkaufsorte beflügelten. Infrastrukturelle Veränderungen standen damit Seite an Seite mit neuen Erfahrungen. Während die analysierten Berichte der Europareisenden das Vermögen der fremden Waren, Verwunderung und Emotion zu wecken, verdeutlichen, zeigen die Berichte von Asien- und Amerikareisenden und besonders die späteren Warenkunden das epistemische Potenzial der überseeischen Güter. Fachkundige Weltreisende stellten wertvolle Informationen über die Herkunft, das Aussehen, die Sorten und den Nutzen fremder Güter zur Verfügung, die unter anderem in die frühen Warenkunden eingingen und dort systematisch aufbereitet wurden. Damit standen auch die fremden Waren in wechselseitigem Wirkungsverhältnis zu neuen Wissensfigurationen.93 Die zunehmende Präsenz und kommerzielle Verfügbarkeit der überseeischen Güter erregte sowohl Neugier als auch Wissensbedarf. Diesem Bedarf kamen die frühen Warenkunden teilweise nach, indem sie für Profis, aber auch für interessierte Laien Informationen über Qualität und Nutzen spezifischer Warengruppen systematisierten. Im Fall von Pierre Pomets Histoire générale des drogues wurde für die »Drogereyen« damit sogar eine neue pharmakognostische Ordnung angelegt. Trotz des chronologischen Trends vom Staunen zum Wissen sollte die Geschichte der kognitiven Aneignung fremder Güter nicht vorschnell für das Masternarrativ der Rationalisierung vereinnahmt werden. Unterschiedliche Wahrnehmungen, Urteile und Handhabungen der neuen Waren standen teils getrennt, teils korrespondierend nebeneinander. Während sich Thomas Platter für die Fülle exotischer Güter in Marseille begeisterte, gehörten Beschaffung und Weiterverkauf solcher Güter für Kaufleute zur selben Zeit zum geschäftlichen Alltag. Und während transkontinentale Güter in vielen Gegenden Europas noch im späten 18. Jahrhundert eine Seltenheit darstellten,94 waren sie in einigen urbanen Zentren schon im 16. Jahrhundert Normalität. Noch am Ende der Frühen Neuzeit evozierten Warenfülle und fremde Güter jedenfalls leidenschaftliche Reaktionen. Literarisierende Darstellungen von urbanen Konsumorten 93 Dazu Neumann, Birgit, Präsenz und Evidenz fremder Dinge im Europa des 18. Jahrhunderts, in: dies. (Hg.), Präsenz und Evidenz, 9–36, bes. 11. 94 Ogilvie/Küper/Maegraith, Krämer und ihre Waren; Ogilvie, Sheilagh, Revolution des Fleißes. Leben und Wirtschaften im ländlichen Württemberg von 1650 bis 1800, in: Hirbodian, Sigrid/Ogilvie, Sheilagh/Regnath, Johanna R. (Hg.), Revolution des Fleißes, Revolution des Konsums? Leben und Wirtschaften im ländlichen Württemberg von 1650 bis 1800, Ostfildern 2015, 173–193; Sandgruber, Roman, Die Anfänge der Konsumgesellschaft. Konsumgüterverbrauch, Lebensstandard und Alltagskultur in Österreich im 17. und 18. Jahrhundert, München 1982.

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vermittelten die anhaltende Faszination für neue, fremde und luxuriöse Güter. Ein 1793 publiziertes Gedicht über den Zürcher Jahrmarkt beschrieb staunend das Angebot von Spezereien, Porzellan, Tabak, Stoffen, Knöpfen, Ferngläsern und Kinderspielzeugen.95 Auch in den großen Metropolen Europas blieb die Vielfalt der Waren eindrücklich, geschildert unter anderem von dem französischen Schriftsteller Louis Sébastien Mercier (1740–1814) in seinem bekannten Tableau de Paris (1781). Dabei war Mercier kein naiver Bewunderer von Paris und seiner materiellen Kultur. Vielmehr spielte die monumentale Darstellung der Stadt mit den Widersprüchen zwischen Abscheu vor sozialer Ungerechtigkeit, moralischer Korruption und exzessivem Luxus der Eliten einerseits und Anziehung durch die überwältigende Sinnlichkeit der Stadt andererseits.96 Tous les sens sont interrogés à chaque instant; on brise, on lime, on polit, on façonne […] Paris peut être considéré comme un large creuset, où les viandes, les fruits, les huiles, les vins, le poivre, la cannelle, le sucre, le café, les productions les plus lointaines viennent se mélanger […], quel torrent de vapeurs et d’exhalaisons!97 Mercier weckte Bewunderung und Irritation durch die Beschreibung der sinnlich-­ emotionalen Effekte der Stadt.98 Fremdheit und Vielfalt der Waren schilderte er auf eine Weise, die zugleich verstörte und neugierig machte. Der Aufenthalt in einem Pariser Bürgerhaus lade zu Imaginationsreisen ein, schrieb Mercier: La Chine et le Japon ont fourni la porcelaine où bouillonne le thé odoriférant; on prend avec une cuiller arrachée des mines du Pérou, le sucre que de malheureux nègres, transplantés d’Afrique, ont fait croître en Amérique; on est assis sur une étoffe brillante des Indes, pour laquelle trois grandes puissances se font une guerre longue et cruelle […].99. Mercier hatte das Staunen über fremde Waren vielleicht hinter sich gelassen. Asiatische und transatlantische Güter waren für ihn nicht dasselbe Wunderbare wie für die Autoren des 16. Jahrhunderts. Vielmehr hatte er die tiefen Widersprüche, die globalen Kosten die95 Hottinger, Johann Jakob, Der Zürcherische Jahrmarkt, in: Bürkli, Johannes, Gedichte über die Schweiz und die Schweizer, Bern 1793, 41–46. 96 Majewski, Henry F., L. S. Mercier: A Pre-Romantic View of Paris, in: Studies in Romanticism 5 (1965), 16–29. 97 Mercier, Louis Sébastien, Tableau de Paris, 2 Bde., hg. von Jean-Claude Bonnet, Paris 1994, Bd. 1, Kap. 1, Zitat: 24–25. 98 Kimminich, Eva, Louis-Sébastien Merciers Tableau de Paris: Chaos und Struktur – Schritt und Blick, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 18 (1994), 263–282. 99 Mercier, Tableau, Bd. 1, 28.

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ser Güter im Blick, wenn er auf koloniale Ausbeutung, Sklavenhandel und Eroberungskriege anspielte. Und trotzdem vermittelte Mercier seinen Lesern eine Bewunderung für die Waren aus verschiedensten Weltteilen, für die Fülle des Verfügbaren und die scheinbar nie stillstehenden Kreisläufe von Produktion und Konsum. Obwohl zu diesem Zeitpunkt Gewöhnungs- und Aneignungsprozesse stattgefunden hatten – asiatische Gewürze seit Jahrhunderten in den Küchen vornehmer Haushalte präsent waren und indische Baumwollstoffe durch europäische, billigere Importsubstitute (teilweise) ersetzt und für untere Bevölkerungsschichten erschwinglicher geworden waren – hatten die importierten Güter ihr Potenzial zu faszinieren, zu verwundern oder zu erfreuen offenbar nicht verloren.

6. Schluss Die Beobachtung des Sehens, Fühlens, Erforschens und Beurteilens fremder Güter bietet einen Zugang zur materiellen Kultur der Frühen Neuzeit, der die Dinge in ihrer Eigenschaft als Ware in den Mittelpunkt stellt und zeigt, dass der Wandel der frühneuzeitlichen Warenwelt in ein komplexes Gewebe von menschlicher Wahrnehmung, Deutung und Emotion eingebettet war. Im Laufe der Frühen Neuzeit erfuhr die europäische Sachkultur eine grundlegende Erweiterung und Verfeinerung. Auch wenn sich nicht jede Produktinnovation durchsetzte und Güter vom Markt verschwanden,100 nahm die Vielfalt der verfügbaren Waren insgesamt zu. An dieser Entwicklung hatten asiatische und transatlantische Güter einen erheblichen Anteil. Mit ihrer zunehmenden Zirkulation verdichteten sich Handelsbeziehungen und Orte des Kaufens und Verkaufens. Mit dem Begriff der Warenkultur rückt die immaterielle Seite dieses dinglichen und infrastrukturellen Wandels in den Vordergrund. Der Begriff setzt eine Vielzahl von Quellen auf die Agenda, die die grundsätzliche Verquickung des Ökonomischen mit dem Kulturellen deutlich machen. Während frühneuzeitliche Anzeigen, Plakate und Visitenkarten von Händlern Aufschluss über werbungsbezogene Kommunikation über Waren geben können, verdeutlichen Gemälde und Graphiken die ästhetische Transformation der Warenwelt in der visuellen Kultur. Zu denken ist hier nicht nur an die niederländischen Stillleben, die bekannte wie fremde Waren in ungeahnter Plastizität und Virtuosität porträtierten,101 sondern auch 100 Styles, John, Product Innovation in Early Modern London, in: Past and Present 168 (2000), 124–169; de Vries, Jan, The Industrious Revolution. Consumer Behavior and the Household Economy, 1650 to the ­Present, Cambridge 2008, 1–3. 101 Hochstrasser, Julie, Stil-staende dingen: Picturing Objects in the Dutch Golden Age, in: Findlen (Hg.), Early Modern Things, 105–124. Zur deutschen Tradition der Stillleben vgl. Sander, Jochen, Die frühe Stilllebenmalerei am Main: die flämischen Emigranten, Georg Flegel und Sebastian Stoskoopff, in: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst 72 (2010), 22–34.

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an Sinnes-Zyklen wie von Jan Breughel dem Älteren und anderen. Im vorliegenden Beitrag wurde die frühneuzeitliche Warenkultur dagegen über eine Analyse vornehmlich deutschsprachiger Diskurse konturiert, in denen sich Staunen, Faszination, Kritik und Wissen in Bezug auf fremde Waren artikulierten. Diese Analyse verschiebt den Blick von einzelnen Gütergeschichten auf den gerade durch die Fülle transkontinentaler Waren initiierten Wandel der materiellen Kultur in Europa.

Autorinnen und Autoren

Dr. Andrea Caracausi lehrt als Professore associato frühneuzeitliche Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Università degli Studi in Padua. Seine Forschungen zur Geschichte der Arbeit, der Zünfte und des Handels befassen sich mit Italien und dem Mittelmeerraum in ihren globalen Bezügen. Er gehört dem »European Labour History Network« an und wurde 2017 zum Präsidenten der Società Italiana di Storia del Lavoro gewählt. Aus seiner Mitarbeit in mehreren internationalen Forschergruppen sind zahlreiche Publikationen hervorgegangen, darunter die Sammelbände »Commercial Networks and European Cities (1400–1800)«, London 2014, und »Between Regulation and Freedom. Work and Manufactures in European Cities, 14th–18th Centuries«, Cambridge 2018. Dr. Annette Caroline Cremer studierte Kunstgeschichte und Anglistik in Mainz, Cork/Irland und Marburg und arbeitet seit 2013 als Akademische Rätin am Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Justus-Liebig-Universität Gießen. In ihrer kulturwissenschaftlichen Promotion (2007–2012) an der DFG-Exzellenzeinrichtung des International Graduate Centre for the Study of Culture (GCSC, Justus-Liebig-Universität Gießen) bearbeitete sie die barocke Puppenhaussammlung »Mon Plaisir« und interpretierte sie als dreidimensionales Selbstzeugnis. Seit 2018 leitet sie ein vom BMBF gefördertes, dreijähriges Projekt zu Glasobjekten in der Frühen Neuzeit. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der europäischen Kulturgeschichte, der Hofforschung sowie in der Rechts- und Geschlechtergeschichte. Aktuell arbeitet sie an einem Methodenbuch zur Materiellen Kulturforschung. Dr. Elizabeth Harding ist Frühneuzeithistorikerin und stellvertretende Leiterin der Abteilung Stipendien, Wissenschaftliche Veranstaltungen und Nachwuchsförderung an der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Von 2010 bis 2014 arbeitete sie dort in einem durch das »Niedersächsische Vorab« geförderten Forschungsprojekt zum Helmstedter Professorenhaus, aus dem ihre Studie »Der Gelehrte im Haus. Ehe, Familie und Haushalt in der Standeskultur der frühneuzeitlichen Universität Helmstedt« hervorging. Derzeit befasst sie sich im Rahmen des Projektes »Dinge des Wettbewerbs: Auktionen in der Frühen Neuzeit« mit der Verschränkung von Objekt-, Ökonomie- und Wissensgeschichte.

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Autorinnen und Autoren

Dr. Christiane Holm ist seit 2012 wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Neuere Literaturwissenschaft am Germanistischen Institut der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und arbeitet am Schnittpunkt von Literatur-, Kunst- und Kulturgeschichte zu Dingkulturen des 18. bis 20. Jahrhunderts. Sie war Mitkuratorin der Ausstellungen »Der Souvenir« (Frankfurt am Main 2006) und »Weimarer Klassik – Kultur des Sinnlichen« (Weimar 2012). Von 2015 bis 2018 leitete sie das Teilprojekt »Epistemische Möbel« im BMBF-Projekt »Parerga und Paratexte – Wie Dinge zur Sprache kommen. Praktiken und Präsentationsformen in Goethes Sammlungen«. Dr. Janine Maegraith ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im FWF-Forschungsprojekt »Vermögen als Medium der Herstellung von Verwandtschaftsräumen vom 16. bis zum 18. Jahrhundert« an der Universität Wien, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte (2016–Januar 2020) und Special Supervisor am Newnham College, Cambridge. Von 2014 bis 2015 arbeitete sie in dem vom Südtiroler Wissenschaftsfond geförderten Forschungsprojekt »Rechtsräume & Geschlechterordnungen als soziale Prozesse – transregional. Vereinbaren und Verfügen in städtischen und ländlichen Kontexten des südlichen Tirols vom 15. bis zum 19. Jahrhundert« mit; von 2008 bis 2012 war sie Research Associate im ESRC-Forschungsprojekt »Human Well-Being and the Industrious Revolution: Consumption, Gender and Social Capital in a German Developing Economy«, Faculty of Economics, University of Cambridge. PD Dr. Julia A. Schmidt-Funke ist Frühneuzeithistorikerin und Privatdozentin an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Von 2013 bis 2016 leitete sie das DFG-Netzwerk »Materielle Kultur und Konsum im Europa der Frühen Neuzeit. Objekte – Zirkulationen – Aneignungen«. Seit 2017 ist sie als wissenschaftliche Koordinatorin des Sammlungs- und Forschungsverbunds Gotha tätig. Ihre Habilitationsschrift »Haben und Sein. Materielle Kultur und Konsum im frühneuzeitlichen Frankfurt am Main« erscheint in Kürze im Böhlau-­ Verlag. Prof. Dr. Kim Siebenhüner ist Inhaberin des Lehrstuhls für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und befasst sich seit vielen Jahren mit der materiellen Kultur der Frühen Neuzeit. Von 2013 bis 2018 leitete sie das Projekt »Textilien und materielle Kultur im Wandel. Konsum, kulturelle Innovation und globale Interaktion in der Frühen Neuzeit« an der Universität Bern. 2018 erschien ihre Habilitationsschrift »Die Spur der Juwelen. Materielle Kultur und transkontinentale Verbindungen zwischen Indien und Europa in der Frühen Neuzeit«.

Autorinnen und Autoren

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Dr. Berit Wagner ist seit 2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin der Städel-Kooperations­ professur am Kunstgeschichtlichen Institut der Goethe-Universität Frankfurt. Ihre Forschungs- und Lehrinteressen betreffen die kulturellen (Wissens-)Praktiken des Kunsthandelns und Kunstsammelns zwischen 1400 und 1650. Im Rahmen ihrer Habilitationsschrift forscht sie zum Thema »Feuer – Farbe – Alchemie. Naturmagische Bildkonzepte und ihre Transformationen von Dürer bis Rubens« unter Beachtung der materiellen Kultur in den frühneuzeitlichen Kunst- und Wunderkammern. Dr. Michael Wenzel ist Kunsthistoriker und Bearbeiter des DFG-Langfristvorhabens »Kommentierte digitale Edition der Reise- und Sammlungsbeschreibungen Philipp Hainhofers (1578–1647)« an der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Seine Monographie »Philipp Hainhofer. Handeln mit Kunst und Politik« wird im Frühjahr 2020 erscheinen.

Abbildungsverzeichnis

Titel und Einleitung Abb. 1: Martin van Valckenborch (?), Georg Flegel, Stillleben mit Prunkgeschirr und Magd, nach 1597, Öl auf Leinwand, Höhe 91,5 cm, Breite 120,5 cm, Privatbesitz, akg-images AKG138838.

Andrea Caracausi Abb. 1: Proben von Bändern, Venedig, Archivio di Stato di Venezia, Inquisitorato alle arti, b. 65. Abb. 2: Probe eines Seidenbands, Padua, Archivio di Stato di Padova, Dazi b 225. Abb. 3: Bandwebstuhl, aus: Recueil de planches sur les sciences et les arts, Bd. 11, Paris 1772, s.v. Passamenterie, 8, Paris, Bibliothèque Mazarine, 2 ° 3442 vol. 32, URL: https:// mazarinum.bibliotheque-mazarine.fr/records/item/2143-l-encyclopedie-volume-32-­ planches-11. Abb. 4: Bandmühle, aus: Recueil de planches sur les sciences et les arts, Bd. 11, Paris 1772, s.v. Rubanier, 1, Paris, Bibliothèque Mazarine, 2 ° 3442 vol. 32, URL: https://mazarinum.bibliotheque-mazarine.fr/records/item/2143-l-encyclopedie-volume-32-planches-11. Abb. 5: Zompini, Gaetano, Le arti che vanno per via nella città di Venezia, Venedig 1785, Paris, Bibliothèque Nationale de France, OB-48-FOL. © BNF.

Julia A. Schmidt-Funke Abb. 1a–b, 2, 6: Benckert, Hermann, Birnförmiger Fayencekrug mit Silberfassung, 1681, weiß glasiert, bemalt in Schwarz, Manganviolett und Hellrot, Höhe mit Montierung 22,6 cm, Frankfurt a. M., Historisches Museum, X 29345. © Historisches Museum Frankfurt, Foto: Horst Ziegenfusz. Abb. 3: Ficus indica, aus: Clusius, Carolus, Exoticorum Liber Primum, Leiden 1605, 1, Bibliothèque numérique patrimoniale du Service Commun de la Documentation de l’Université de Strasbourg, URL: http://docnum.u-strasbg.fr/cdm/ref/collection/coll13/ id/28156.

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Abbildungsverzeichnis

Abb. 4: Zincgref, Julius Wilhelm, Emblematum Ethico-Politicorum Centuria, Heidelberg 1666, Nr.  XCV, Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, M: Li 10083, PURL: http:// diglib.hab.de/drucke/li-10083/start.htm?image=00211. Abb. 5: Benckert, Hermann, Birnkrug, 1677, Schwarzlot auf Fayence, Höhe 17,8 cm, mit Montierung 22 cm, Prag, Kunstgewerbemuseum, 10839.

Elizabeth Harding Abb. 1a–b, 3: Sogenannter Lutherlöffel, Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, KGS 2. Abb. 2: Löffel zum Einschlagen (Luthers Reiselöffel), Eisenach, Wartburg-Stiftung, Fotothek, KB0039. Abb. 4: Apostellöffel, Karlsruhe, Badisches Landesmuseum, 55/223 und 55/224, Foto: Thomas Goldschmidt.

Janine Maegraith Abb. 1: Carracci, Annibale, The Butcher’s Shop, um 1582, Höhe 59,7 cm, Breite 71 cm, Kimbell Art Museum, Fort Worth, Texas, AP 1980.08 Abb. 2: Tacuinum sanitatis in medicina, Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. ser.n.2644, fol. 72v.

Annette Caroline Cremer Abb. 1: Flaschenschiff, Deutschland, 19. Jahrhundert – Anfang 20. Jahrhundert, Glas, Holz bemalt, Luffabäume, Länge 32,7 cm, Durchmesser 9 cm, Dresden, Museum für Sächsische Volkskunst, C 1343. © SKD, Museum für Sächsische Volkskunst. Abb. 2: Eingericht, Kreuzigung, Deutschland, 1. Hälfte 19. Jahrhundert, Abrissglas, Holz, geschnitzt, gedrechselt, bemalt, Höhe 33 cm, Breite 11 cm, Tiefe 7 cm, Dresden, Museum für Sächsische Volkskunst, C 102. © SKD, Museum für Sächsische Volkskunst. Abb. 3: Geduldsglas, frühes 18. Jahrhundert, Miniatur mit Druckerei, Naturalienkammer der Franckeschen Stiftungen zu Halle, Foto: Klaus E. Göltz. Abb. 4: Kirschkern mit 185 geschnitzten Köpfen, Deutschland, kurz vor 1589, Kirschkern, Gold, Email, Perle, Höhe mit Einfassung 4,5 cm, Dresden, Grünes Gewölbe, VII 32 ee. © bpk, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: Jürgen Karpinski. Abb. 5: Ober- und Unterseite eines Fußes von einer Fliege, Auge einer Fliege, aus: Hooke, Robert, Micrographia, London 1665, Taf. XXIII. Abb. 6: Wigan, Willard, To See a World, um 2010, online verfügbar unter: https://twitter.­ com/willardwiganMBE/status/1152228320140042240, letzter Zugriff: 12.08.2019.

Abbildungsverzeichnis

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Christiane Holm Abb. 1: Drogentisch in der Kunst- und Naturalienkammer der Franckeschen Stiftungen zu Halle, um 1700, Laub- und Nadelholz, außen grau-beige Holzimitationsmalerei, Länge 229 cm, Breite 114 cm, Höhe 89 cm, Franckesche Stiftungen zu Halle, Foto: Christiane Holm. Abb. 2a–b: Modell des Waisenhauses zu Glaucha bei Halle, vor 1741, bemaltes Holz, Pappe, Stroh, Franckesche Stiftungen zu Halle, Foto: Klaus E. Göltz. Abb. 3: Neickel, Caspar Friedrich, Museographia, Leipzig/Breslau 1727, Frontispiz, Bibliothek der Franckeschen Stiftungen zu Halle, 67 D3. Abb. 4: Drogentisch in geöffnetem Zustand, innen rot, grün und holzfarben gefasst, Franckesche Stiftungen zu Halle, Foto: Klaus E. Göltz. Abb. 5: Eingerichte des Drogentisches mit pharmazeutischer Etikettierung, Franckesche Stiftungen zu Halle, Foto: Klaus E. Göltz. Abb. 6: Geiger, Malachias, Microcosmos Hypochondriacus sive de Melancholia Hypochondriaca Tractatus, München 1652, Illustration, Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Xb 1929. Abb. 7: Marx, Johann Jacob, Neu-viel-vermehrte und verbesserte Material-Kammer, Nürnberg 1709, Frontispiz, Göttingen, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek, 8  MAT  MED  40/81  (1), PURL: http://resolver.sub.uni-goettingen.de/ purl?PPN632056304. Abb. 8: Valentini, Bernhard, Museum Museorum, 1. Theil, Frankfurt a. M. 1704, F ­ rontispiz, Bibliothek der Franckeschen Stiftungen zu Halle, 72 A 20.

Michael Wenzel Abb. 1: Mantuanisches Onyxgefäß, frühe römische Kaiserzeit, Sardonyx, Höhe 15,3 cm, Braunschweig, Herzog Anton Ulrich-Museum, Kunstmuseum des Landes Niedersachsen, Gem 300, Foto: Museumsfotograf. Abb. 2: Schematische Darstellung der Rückwand der Grotta an der Corte Vecchia, nach Brown, Clifford M., Per dare qualche splendore a la gloriosa cità di Mantua. Documents for the Antiquarian Collection of Isabella d’Este, Rom 2002, 54. Abb. 3: Stivini, Odoardo, Inventario delle Robbe si sono ritrovate […] nella Grotta di Madama in Corte vecchia, Mantua, Archivio di Stato di Mantova, Busta 400, fol. 7r. Abb. 4: Thurneysen (der Ältere), Johann Jakob, Claude de Létouf de Sirot, Kupferstich, Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, A 12404. Abb. 5: Abguss des Mantuanischen Onyxgefäßes, Mitte des 17. Jahrhunderts, Blei, farbig gefasst, vergoldet, Braunschweig, Herzog Anton Ulrich-Museum, Kunstmuseum des Landes Niedersachsen, Foto: Museumsfotograf.

292

Abbildungsverzeichnis

Abb. 6: Heydnesches Opffer-Gefäß, aus einem Onyx künstlich geschnitten, Holzschnitt, Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Top. App. 1:165.

Berit Wagner Abb. 1: Tizian, Der Tod des Aktaion, 1559–1575, Öl auf Leinwand, Höhe 178,8 cm, Breite 197,8 cm, London, The National Gallery, NG6420. Abb. 2a–b: Ulich, Caspar, Handstein, Vorderseite: Auferstehung, Rückseite: Karl V., die Huldigung Franz I. entgegennehmend nach der Schlacht bei Pavia (1525), bez. CV, 1556–1562, Silber, vergoldet, Silberglanz (Silberglaserz), Höhe 31,7 cm, Wien, Kunsthistorisches Museum, Kunstkammer, 4148. Abb. 3: Tizian, Danae, 1550–1553, Öl auf Leinwand, Höhe 129,8 cm, Breite 181,2 cm, Madrid, Museo Nacional del Prado, P000425. Abb. 4: Tizian, Bildnis des Farbenhändlers Alvise dalla Scala, um 1561/62, Öl auf Leinwand, Höhe 138 cm, Breite 116 cm, Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister, Gal.-Nr. 172. Abb. 5: Millefiori-Gläser, Venedig, frühes 16. Jahrhundert, London, British Museum, S. 796. © Trustees of the British Museum. Abb. 6: Sog. Alchemistische Weltlandschaft, aus: Mylius, Johann Daniel, Musaeum Hermeticum, Reformatum et Amplificatum, Figur IV, gestochen von Matthäus Merian (1618), Frankfurt a. M. 1678, Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Xb 9751.

Kim Siebenhüner Abb. 1: Bettdecke (Colcha), indo-portugiesisch, Bengalen, zweite Hälfte des 16.  Jahrhunderts, Baumwolle und Seide, Höhe 242 cm, Breite 312 cm, Wien, Kunsthistorisches Museum, Sammlungen Schloss Ambras, PA 72. Abb. 2: Marx, Johann Jacob, Neu-viel-vermehrte und verbesserte Material-Kammer, Nürnberg 1709, Titelseite, Göttingen, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek, 8 MAT MED 40/81 (1), PURL: http://resolver.sub.uni-goettingen.de/purl?PPN632056304. Abb. 3: Pomet, Pierre, Histoire générale des drogues. Traitant des plantes, des animaux et des mineraux, Paris 1694, Titelseite, Paris, Bibliothèque Nationale de France, FOL-S1015, PURL: https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b8626561c/f7.image.

Register

Personen Adler, Kaspar gen. Aquila 94

Braunschweig-Lüneburg, August d. J. zu 212

Agricola, Georgius 255

Braunschweig-Lüneburg-Bevern, Ferdinand

Albrecht V. von Bayern (Herzog) 256 Albrecht VII. von Habsburg (Statthalter der ­Niederlande) 150

­Albrecht I. von 214–218 Breughel, Jan d. Ä. 284 Bruno, Giordano 257

Aldringen, Johann von 205, 209 Andersen, Hans Christian 138

Calzolari, Francesco 179

Andreae, Johann Valentin 185

Camillo, Giulio 247, 251

Appelius, Johannes 213

Campagna, Giulio 206–207

Arcularius, Johann Daniel 79

Carracci, Annibale 107–111, 125

Aretino, Pietro 238, 247, 251

Carroll, Lewis 139 Christian I. von Sachsen 148

Bachelard, Gaston 159

Clusius, Carolus 73–74, 273

Bacon, Francis 185

Colloredo-Waldsee, Rudolf von 208

Bacon, Roger 147

Comenius, Johann Amos 185

Bally, Johannes 68

Cortés, Hernán 267

Baltzers, Barthold 217 Barbosa, Duarte 272–273

Derrida, Jacques 169, 190

Beckmann, Johann 278

Descartes, René 268

Behaghel, Daniel 67, 72

Dinglinger, Melchior 139

Bellini, Giovanni 252

Dolce, Lodovico 240, 246, 251

Benckert, Hermann 61, 63, 74–77, 81–82

Dürer, Albrecht 266–269

Biringuccuio, Vannoccio 255 Bonus, Petrus 247

Ebertz, Georg d. Ä. 210–211

Boschini, Marco 239, 241–243

Eggeling, Johann Heinrich 217–218

Bracesco, Giovanni 247

Elias, Norbert 87–88, 106

Brandenburg-Ansbach, Albrecht von (Herzog

Endres, Carl 117–118, 120

von Preußen) 80 Braunschweig-Lüneburg, Anton Ulrich zu 213

Este, Alfonso d’ 255 Este, Isabella d’ 199–202

294

Register

Faust von Aschaffenburg, Maria Ursula 72

Hooke, Robert 150

Faustina 201

Howard, Thomas, Earl of Arundel 208, 213

Fehr, Johann Christoph 68, 82

Hugo, Hermann 77

Feller, Joachim 218

Hutten, Ulrich von 270–271

Ferdinand III. (Kaiser) 216 Fioravanti, Leonardo 249 Florin, Franz Philipp 96

Innozenz X. (eigentlich Pamphilj, Giovanni B ­ attista) 211

Francisci, Erasmus 273 Francke, August Hermann 144–145, 184, 187, 189

Jencquel, Kaspar Friedrich siehe Neickel

Franz I. (französischer König) 233 Friedrich III. (der Weise) von Sachsen (Kurfürst) 104

Kaib, Johann Balthasar von 69–70 Kaib, Justina von 69–70

Friedrich III. von Brandenburg (Kurfürst) 184

Kaib, Philipp Ludwig von 72

Friedrich Wilhelm I. von Brandenburg, König in

Karl I. (englischer König) 203, 214

Preußen 188

Karl V. (Kaiser) 249

Friedrich Wilhelm von Brandenburg (Kurfürst) 217

Kleopatra 201

Fuchs, Leonhard 80

Koch, Stephan 210

Fugger, Anton 265

Kolumbus, Christoph 270

Fugger, Hans 265–266

Krünitz, Johann Georg 138

Fugger, Marx 265 Landriani, Marsilio 48, 59 Giedion, Sigfried 88

Leibniz, Gottfried Wilhelm 185

Goethe, Johann Wolfgang von 83, 176

Létouf de Sirot, Claude de 203–205, 207

Gonzaga, Eleonora 208

Linschoten, Jan Huygen van 74

Gonzaga-Nevers, Carlo II. 212

Livia 200–201

Gonzaga-Nevers, Eleonora Magdalena 216

Lomazzo, Giovanni Paolo 245

Grimm, Jacob 138

Loß, Christoph von 148

Grimm, Wilhelm 138

Lucilla 201

Gründler, Gottfried August 164–165, 185, 188

Ludwig XIII. (französischer König) 214

Grunelius, Johann 79

Ludwig XIV. (französischer König) 213 Luther, Martin 89, 94, 97–98, 100, 104, 106, 271

Hainhofer, Philipp 94 Hainz, Georg 210–211

Major, Johann Daniel 174–175

Hainz, Hans 210–211

Mandeville, Jean 269

Hoefnagel, Jacob 150

Manuzio, Aldo 247

Hoefnagel, Joris 150

Manuzio, Paolo 247

Hohenems, Markus Sittikus von 139

Marsegni, Cornelius de 71

Holzhausen, Johann Hector von 72

Marx, Johann Jacob 181, 278–279

295

Personen

Maximilian II. (Kaiser) 73

Phinthong, Pratchaya 156

Mazarin, Jules 213

Pino, Paolo 245

Mecklenburg-Güstrow, Christine Margarete von

Platter, Thomas d. J. 268–269, 281

209–215

Plinius 73, 240

Mecklenburg-Güstrow, Sophie Elisabeth von 214

Pomet, Pierre 279–281

Meket-re 139

Pomian, Krzystof 197, 202

Melchior, Elisabeth Dorothea 79

Popel von Lobkowitz, Benigna Katharina 211

Mercator, Gerhard 213–214

Praxiteles 201

Mercier, Louis Sébastien 282–283 Merian, Matthäus d. Ä. 75–76, 258

Quetz, Zacharias 210

Metternich-Winneburg, Franz Georg von 117

Quiccheberg, Samuel 174, 274

Michelangelo (eigentlich Buonarotti, ­Michelangelo) 201

Ramusio, Giovanni 273

Mignon, Maria 71

Reichencron, Maria Euphrosina von 68

Milden, Johann 208

Rubens, Peter Paul 231

Moctezuma 267

Rudolph II. (Kaiser) 249, 256

Molière (eigentlich Poquelin, Jean-Baptiste) 44

Ruscelli, Girolamo 250

Mordente, Fabrizio 73–74 Sachsen, Magdalena Sibylla von 212 Neickel, Kaspar Friedrich (eigentlich Jencquel, ­Kaspar Friedrich) 148, 163–166, 175–176, 182, 184

Sachsen-Lauenburg, Franz Albrecht von 205, ­207–211

Neumann, Andreas 211–212

Sachsen-Lauenburg, Franz Karl 210

Nieuhof, Joan 273

Sachsen-Lauenburg, Julius Heinrich 211

Nero 199

Sack, Karl Wilhelm 197 Sandrart, Joachim von 241

Oktavian 200–201

Savary des Bruslon, Jacques 39, 277

Oranien, Moritz von 150

Scala, Alvise dalla 244, 252

Orta, Garcia da 272–273

Schirt, Joseph von 117–121, 126

Ovid 75, 77, 236–237, 240, 246–248, 250

Schmidt, Johann August Heinrich 197 Schrieck, Otto Marseus van 229, 241

Paracelsus 249

Schurtz, Georg Nicolaus 278–279

Parmigianino (eigentlich Mazzola, Francesco) 234

Schuster, Johannes 209, 213

Passer, Justus Eberhard 216

Sebbers, Ludwig 83

Pazaurek, Gustav E. 81

Semler, Christoph 185

Percolla, Vincenzo 247–248, 250

Simonet, Jean 68

Petty, William 208

Sombart, Werner 263

Philipp II. (spanischer König) 35, 235, 237, 249,

Spener, Philipp Jakob 79

254, 257

Sprenger, Balthasar 270

296

Register

Stivini, Odoardo 199–203

Vasari, Giorgio 237–238

Stüeler, Michel 34, 116, 122–133

Verzascha, Bernhard 277

Sturm, Leonhard Christoph 150, 175–176 Sulzer, Johann Georg 143 Swift, Jonathan 138

Wallenstein (eigentlich Waldstein, Albrecht Wenzel Eusebius von) 211 Weber, Max 20

Theophrast 73

Weis von Limpurg, Maria Margaretha 72

Tizian (eigentlich Vecellio, Tiziano) 35, 225,

Wigan, Willard 154–155

­231–232, 234–258

Wolff, Christian 147

Tucher (Familie) 81

Wrangel, Carl Gustav 70

Uffenbach, Zacharias Conrad von 89

Ximenez, Emmanuel 274

Ulich, Caspar 233, 245 Urban VIII. (eigentlich Barberini, Maffeo) 211, 214

Zincgref, Julius Wilhelm 75–76

Valentini, Bernhard 175, 182–184 Van de Walle, Jakob 67

Orte Afrika 275

Bern 221

Ägypten 26, 139, 215

Bevern 35, 214, 216, 219

Aleppo 263

Biberach an der Riß 117, 120

Alexandria 263

Böhmen 116, 130, 265

Alpen 230, 265

Bologna 45, 109

Altona 208

Brasilien 56

Ambras 259–260

Braunschweig 93, 195, 219

Amerika siehe auch Westindien 25–26, 33, 44, 54,

Bremen 69, 217

56–57, 60, 155, 260, 266, 269–271, 273, 281

Brüssel 267

Antwerpen 234, 249, 260, 264–268, 274 Asien siehe auch Ostindien 25–26, 33, 60, 63–64,

Cadiz 56–57

66, 69–70, 73–74, 83, 209, 260–261, 263–265,

Cannanore 272

268, 272, 275, 280, 282–283

China 26, 269, 273

Augsburg 210–211

Cochin 272 Coventry 45, 48

Basel 45, 48, 50, 59, 268, 277 Bengalen 260, 274

Delft 66

Berlin 67

Dresden 139, 148, 212

297

Orte

England 41, 44, 51–52, 54, 56–57, 66, 127, 130, 154, 203, 214, 219, 264

Madrid 235–236, 250, 266 Mailand 45–46, 49–51, 53, 57–59, 207 Malakka 265

Florenz 45, 234, 237–239 Frankfurt am Main 12, 33, 66–72, 79, 82, 183, ­264–265 Frankreich 44, 50–53, 56–58, 60, 68, 213

Mantua 35, 195, 199, 202–208, 212, 215–216, ­220–221 Marseille 268–269, 281 Mecheln 249 Mexiko 56, 267

Genf 100

Minden 217

Genua 45, 58, 221, 265–266

Murano 36, 254–256

Gießen 182 Glaucha 144, 162, 186

Neapel 45–46, 56–58

Graupen (Krupka) 116, 122–133

Niederlande 45, 57, 66–68, 71, 264, 266–267

Gutenzell 121

Nürnberg 61, 81, 99, 183, 211, 279

Halle 144–146, 161–163

Obersulmetingen 117

Hanau 66–67

Ochsenhausen 117–121

Hannover 213

Oranienbaum 70

Hellbrunn 139

Ostindien siehe auch Asien 66, 184, 263–264, 273

Heusenstamm 66

Österreich 50, 121

Indien siehe auch Ostindien 26, 73–74, 76, 209, 265,

Padua 41, 45–47, 48, 51–52, 57, 59

268, 270, 272 Italien 32, 41, 45, 50–51, 56–57, 59, 109, 200, ­211–213, 228, 234, 250, 255, 263, 273

Paris 53, 57, 282–283 Persien 206, 209 Peru 56 Piemont 54, 56

Kassel 67

Pillnitz 148

Konstantinopel 209

Polen 265

Kopenhagen 58, 212

Portugal 66

Krefeld 45, 50

Prag 75, 77, 203, 256

Krupka siehe Graupen Racconigi 45 Leipzig 183, 218

Regensburg 208

Lissabon 56–57, 260, 264, 274

Rom 26, 45, 208

Lombardei 48

Rouen 48

London 44, 236, 258, 264 Lübeck 69, 183

Salzburg 139

Lyon 45, 57–58

Schweidnitz 209

298

Register

Skokloster 70

Verona 45, 109

Spanien 35, 56, 214, 249–250, 264, 267

Vigevano 45–47, 48

Speyer 130 Weimar 177 Tübingen 80

Westindien siehe auch Amerika 56, 263–265, 273

Turin 45–46, 49–51, 53–56, 59

Wien 50, 199, 210–211, 216–217, 265 Wolfenbüttel 88, 100, 212–214

Ummendorf 117 Venedig 33, 45–46, 49, 54–56, 60, 150, 200, ­209–210, 234, 240, 247–255, 265–266

Württemberg 118, 126, 265