Maria Magdalena in der Literatur um 1900: Weiblichkeitskonstruktion und literarische Lebensreform 9783050063737, 9783050062631

Die Studie untersucht die Darstellung Maria Magdalenas in der literarischen Lebensreform, einer bislang in der Forschung

242 29 5MB

German Pages 270 [272] Year 2013

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Maria Magdalena in der Literatur um 1900: Weiblichkeitskonstruktion und literarische Lebensreform
 9783050063737, 9783050062631

Citation preview

Maria Magdalena in der Literatur um 1900

Deutsche Literatur. Studien und Quellen Band 12 Herausgegeben von Beate Kellner und Claudia Stockinger

Andrea Verena Glang-Tossing

Maria Magdalena in der Literatur um 1900 Weiblichkeitskonstruktion und literarische Lebensreform

Akademie Verlag

Gefördert von der FAZIT-STIFTUNG. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2013 Ein Wissenschaftsverlag der Oldenbourg Gruppe www.akademie-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Einbandgestaltung: hauser lacour unter Verwendung eines Fotos: Johann Wolfgang Goethe an Johann Gottfried Herder, wahrscheinlich zwischen Mitte Januar und Mitte Februar 1786 Druck & Bindung: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. ISBN eISBN

978-3-05-006263-1 978-3-05-006373-7

Inhalt

Dank .............................................................................................................................

9

1 Einleitung ............................................................................................................... 11 2 Theoretische Grundlegung der Studie .................................................................. 2.1 Literatur und Wissen ........................................................................................ 2.2 Figur und Typus ............................................................................................... 2.3 Gender als analytische Kategorie ..................................................................... 2.4 Intertextuelle Bezüge ........................................................................................ 2.5 Textkorpus ........................................................................................................ 3 Frauenfiguren aus Neuem Testament und abendländischer Legende und ihr Einfluss auf die Konstruktion der Mischgestalt Maria Magdalena ....... 3.1 Maria von Magdala . ......................................................................................... 3.2 Die namenlose Sünderin ................................................................................... 3.3 Maria von Bethanien ........................................................................................ 3.4 Maria Aegyptica ............................................................................................... 4 Exkurs: Darstellungen Maria Magdalenas in der bildenden Kunst .................... 4.1 Maria Magdalena in der bildenden Kunst des Mittelalters .............................. 4.2 Maria Magdalena in der bildenden Kunst des 16. und 17. Jahrhunderts ......... 4.3 Maria Magdalena in der bildenden Kunst des 18. und 19. Jahrhunderts ......... 5 Darstellung Maria Magdalenas in der deutschsprachigen Literatur bis 1900 ... 5.1 Maria Magdalena in der Literatur des Mittelalters ........................................... 5.2 Maria Magdalena in der Literatur des 17. Jahrhunderts ................................... 5.3 Maria Magdalena in der Literatur des 18. Jahrhunderts ................................... 5.4 Maria Magdalena in der Literatur des 19. Jahrhunderts ................................... 5.5 Zusammenfassung ............................................................................................

17 17 23 26 28 30 31 32 34 35 36 38 38 41 48 55 55 58 62 66 69

6

Inhalt

6 Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900 ....................... 70 6.1 Vorbemerkung .................................................................................................. 70 6.2 Maria Magdalena in der Literatur um 1900 ..................................................... 76 6.2.1 Paul Heyse: „Maria von Magdala“ (1899) ............................................ 78 6.2.2 Agnes Miegel: „Magdalena“ (1901) ...................................................... 79 6.2.3 Marie Madeleine: „Meinem Dämon“ (1900) ......................................... 83 6.2.4 Georg Trakl: „Aus goldenem Kelch. Maria Magdalena. Ein Dialog“ (1906) ................................................................................ 86 6.3 Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform ....................................... 87 6.3.1 Begriffsbestimmung: Die literarische Lebensreform ............................. 87 6.3.2 Otto Erich Hartleben: „Der Magdalenenwein“ (1895) .......................... 90 6.3.3 Hans Benzmann: „Die heilige Magdalene“ (1894) ............................... 101 6.3.4 Richard Dehmel: „Venus consolatrix“ (1896) ....................................... 110 6.3.5 Rainer Maria Rilke: „Pietà“ (1907) ....................................................... 130 6.3.6 Johannes Schlaf: „Jesus und Mirjam. Eine biblische Erzählung“ (1901) .......................................................... 141 6.3.7 Felix Hollaender: Magdalene Dornis. Ein moderner Roman (1896) ......... 165 7 Maria Magdalena als ‚Schutzpatronin‘ der literarischen Lebensreform ............ 211 7.1 Die Heilige Hure – Aktualisierung des Magdalenenstoffs und die Weiblichkeitstypen femme fatale und femme fragile ....................................... 213 7.1.1 Maria Magdalena als Kunstwerk ........................................................... 218 7.1.2 Übermächtigung als Erlösung ................................................................ 220 7.1.3 Selbsterlösung im Medium des Erotischen ............................................ 223 7.1.4 Umkehrung der Geschlechterverhältnisse ............................................. 224 7.1.5 Maria Magdalena als geniale Hetäre ..................................................... 226 7.1.6 Aktualisierende Bezugnahmen auf den Typus der courtisane rachetée . 227 7.2 Lebensmystik und Sakralisierung des Sexus .................................................... 230 7.2.1 Neomystische unio-Erlebnisse ............................................................... 237 7.2.2 Exkurs: Synthese monistischer und christlicher Positionen .................. 240 7.2.3 Der lebensmystische Jesus ..................................................................... 243 7.3 Fazit .................................................................................................................. 246 8 Anhang ................................................................................................................... 249 8.1 Otto Erich Hartleben: „Der Magdalenenwein“ ................................................ 250 8.2 Hans Benzmann: „Die heilige Magdalene“ ...................................................... 252

Inhalt

7

9 Verzeichnisse ........................................................................................................ 255 9.1 Siglenverzeichnis ............................................................................................ 255 9.2 Literaturverzeichnis ......................................................................................... 255 9.2.1 Primärtexte ............................................................................................. 255 9.2.2 Sekundärtexte ........................................................................................ 258 9.3 Abbildungsverzeichnis ..................................................................................... 267 10 Index ...................................................................................................................... 269 10.1 Sachregister .................................................................................................... 269 10.2 Verzeichnis der Personen und biblischen Frauengestalten ............................ 270

Dank

Ich bedanke mich von ganzem Herzen bei meinen Doktormüttern Ruth Florack und Simone Winko, die das Entstehen meiner Dissertation mit konstruktiver Kritik begleitet haben, für ihre Unterstützung und die Zeit, die sie in die Betreuung meiner Arbeit investiert haben. Beide sind für mich zu wichtigen persönlichen Vorbildern geworden. Bei Claudia Stockinger und Beate Kellner bedanke ich mich herzlich dafür, dass meine Arbeit in die Reihe „Deutsche Literatur. Studien und Quellen“ aufgenommen worden ist; ebenso herzlich möchte ich mich bei Dr. Katja Leuchtenberger und Dr. Veit Friemert vom Akademie-Verlag für ihre Arbeit bedanken. Der Graduiertenschule für Geisteswissenschaften Göttingen (GSGG) danke ich für das umfangreiche Weiterqualifizierungsangebot, das ich während meines Promotionsstudiums nutzen durfte; insbesondere das interdisziplinäre Doktorandenforum hat mir wichtige Impulse für meine Arbeit geliefert. Für zahlreiche Anregungen und Diskussionen und die faire Gesprächskultur danke ich den Teilnehmern des Forschungskolloquiums von Claudia Stockinger und Simone Winko. Für viele gewinnbringende Gespräche über die Weltanschauungsliteratur der Jahrhundertwende danke ich Philipp Heine. Niemals genug danken kann ich meinen Korrekturleserinnen Alke Brockmeier, Anna Fenner, Claudia Hillebrandt, Stefanie Preuß und Hanna Stegbauer für ihre ebenso mühe- wie wertvolle Detailarbeit. Die FAZIT-STIFTUNG hat das Entstehen dieser Arbeit mit einem Promotionsstipendium gefördert. Hierfür und für die Gewährung eines Reisekostenzuschusses, der mir das Sichten von Material aus dem Nachlass von Johannes Schlaf ermöglicht hat, möchte ich mich herzlich bedanken. Der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften danke ich für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses zu dieser Arbeit. Meiner Familie und meinen Freunden – in Darmstadt, Göttingen und anderswo – danke ich von Herzen für ihr Interesse an meiner Arbeit und den großartigen Rückhalt, den ich an ihnen habe und ohne den es gar nicht gegangen wäre. Für ihre Unterstützung während

10

Dank

meines Studiums und das Vertrauen, das sie in mich gesetzt haben, danke ich im Besonderen meinen Eltern. Zu großem Dank bin ich Ina John dafür verpflichtet, dass sie zu allem den Grundstein gelegt hat. Für seine unerschütterliche Zuversicht, Geduld und Liebe danke ich meinem Mann Kai. Gewidmet ist dieses Buch Dudi und Meeno Kretschmer.

1

Einleitung

Nein! Das Bildnis ist kein Bild einer Sünderin! Wenn sie liebt, kann sie nicht sündigen, wenn sie sündigt, wird die Lust zur Liebe, und die Liebe des Menschenherzens ist Gottes Segen!1

Mit diesen Worten, die von der religiösen Überhöhung der erotischen Liebe in der Literatur um 1900 zeugen, wird die Protagonistin aus Carl Thomas Richters Erzählung „Magdalena“ charakterisiert, die sich als Geliebte mehrerer reicher Männer aushalten lässt. In ihrer Jugend hat die schöne Frau dem Maler Arthur Waldau, mit dem sie während der Zeit der Erzählung ebenfalls eine Affäre beginnt, Modell gestanden für ein Gemälde, das die Salbungsszene aus dem Lukasevangelium darstellt, in der Jesus der namenlosen Sünderin ihre Schuld vergibt mit den Worten: „Ihre vielen Sünden sind ihr vergeben, denn sie hat viel Liebe gezeigt; wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig.“2 Trotz der positiven Bewertung von Magdalenas promisker Sexualität durch Waldaus Vermieterin in der eingangs zitierten Passage endet die Erzählung mit dem Selbstmord Magdalenas, der auf die Diskrepanz zwischen ihrem Lebenswandel, der dem Maler verborgen bleibt, und dessen Idealisierung seines Modells zum reinen, keuschen Mädchen seiner Jugend zurückzuführen ist. In deutlichem Gegensatz zu Richters Darstellung seiner Protagonistin stehen die Maria Magdalena-Figuren in der literarischen Lebensreform, die in der vorliegenden Studie untersucht werden und die gerade aufgrund ihrer Rolle als ‚Sünderin‘3 idealisiert werden. 1 2

3

Carl Thomas Richter: „Magdalena“, in: Ders.: Magdalena. Die Großmutter. Zwei Erzählungen. Illustriert von H. Schlittgen. Stuttgart o.J. [ca. 1898], S. 1–88, hier S. 30. Lutherbibel. Standardausgabe mit Apokryphen (im Folgenden unter Verwendung der Sigle „LB“ zitiert). Durchges. Ausgabe. Stuttgart 1999, Lk 7,47, S. 80. Das christliche Moment der Sündhaftigkeit tritt um 1900 in der Darstellung Maria Magdalenas zurück, so dass es bei den Autoren der literarischen Lebensreform gerade ihre Sinnlichkeit ist, die Erlösung in Form der Hingabe an eine diesseitige Alleinheit ermöglicht. Aufgrund dieses Bedeutungsverlusts der christlichen Sündekonzeption bzw. ihrer Umwertung in den Texten der literarischen Lebensreform wird in der vorliegenden Untersuchung nicht auf Werke der Erbauungsliteratur eingegangen, die per definitionem „dem Aufbau und der Pflege der Frömmigkeit und einem dadurch geprägten Verhalten dienen will“ (Albrecht Beutel: „Erbauungsliteratur“, in: Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Hrsg. v. Hans Dieter Betz. 4., völlig neu bearb. Aufl. (im Folgenden unter Verwendung der Sigle „RGG“ zitiert), Bd.2: C–E, Sp. 1386–1391, hier Sp. 1386). Beispiele für

12

Einleitung

In Bezug auf literarische Weiblichkeitskonzeptionen um 1900 ist in der literaturwissenschaftlichen Forschung immer wieder die Rede von den beiden charakteristischen „stereotype[n] Gegenmodelle[n]“ von „heilige[r] Jungfrau“ und „große[r] Hure Babylon“,4 die sich in den ästhetischen Typen der femme fragile und der femme fatale verkörpert finden. Dass sich in den Texten der literarischen Lebensreform, einer der zahlreichen divergenten Strömungen in der Literatur der Jahrhundertwende,5 in der Figur der „reizvollen Sünderin“6 Maria Magdalena diese beiden konträren Weiblichkeitsstereotype miteinander versöhnt finden, ist – offensichtlich aufgrund einer gewissen interpretatorischen Voreingenommenheit,7 die sich auf die Dominanz der femme fatale und der femme fragile in der Literatur um 1900 bzw. in der literaturgeschichtlichen Forschung zu dieser Epoche zurückführen lässt – bislang unerkannt geblieben.8 Ziel der vorliegenden Studie ist es, diese gravierende Forschungslücke im Bereich literarischer Weiblichkeitskonstruktionen der Jahrhundertwende zu schließen.

4 5

6 7

8

Darstellungen Maria Magdalenas in der Erbauungsliteratur um 1900 sind Anna von Kranes Magna Peccatrix. Ein Legendenroman aus der Zeit Christi (1908), Helene Christallers Magda. Geschichte einer Seele (1905) und Dietrich Vorwerks Versepos Maria Magdalena. Die Geschichte einer Sünderin aus der Zeit Christi (1905). Carola Hilmes: Die Femme fatale. Ein Weiblichkeitstypus in der nachromantischen Literatur. Stuttgart 1990, S. 31. Unter ‚Jahrhundertwende‘ verstehe ich diejenige literarische Epoche, die sich von ca. 1880 bis 1910 erstreckt, sich durch eine „Synchronie der Ismen“ (Walter Fähnders) auszeichnet und Teil der literarischen Moderne ist. Letztere definiert Tom Kindt als „Teilmenge der literarischen Texte [...], die zwischen dem ausgehenden 19. Jahrhundert und der Mitte des 20. Jahrhunderts entstanden sind; das Merkmal, das es neben der Entstehungszeit rechtfertigt, einen Text jener Menge zuzurechnen, ist die Bezugnahme auf gesellschaftliche Modernisierungsprozesse bzw. das breite Spektrum ihrer Folgeerscheinungen.“ (Tom Kindt: Unzuverlässiges Erzählen und literarische Moderne. Eine Untersuchung der Romane von Ernst Weiß. Tübingen 2008, S. 4). Der neutrale Begriff der Bezugnahme verhindert laut Kindt die Beschränkung der literarischen Moderne auf solche Texte, die Modernisierungsprozesse kritisch reflektieren und eignet sich für die Untersuchung der aktualisierenden Darstellungen Maria Magdalenas in der literarischen Lebensreform insofern, als deren Autoren zum Einen moderne wissenschaftliche und weltanschauliche Positionen adaptieren, zum Anderen mit ihrer Resakralisierung der profanierten Heiligen Maria Magdalena und deren Stilisierung zur sexuellen Erlöserin auf romantisch-vormoderne Konzeptionen zurückgreifen. Ingrid Maisch: Maria Magdalena. Zwischen Verachtung und Verehrung. Das Bild einer Frau im Spiegel der Jahrhunderte. Freiburg i.B. u. a. 1996, S. 134. Vgl. in diesem Zusammenhang die Forderung Ina Schaberts nach stetiger Selbstreflexion literarhistorischer Forschung: „Die vertrauten Bilder der literarischen Vergangenheit mit ihren Epochengliederungen, Werkhierarchien, Entwicklungslinien und kontextuellen Mustern müssen ständig einer ideologiekritischen Überprüfung und Erneuerung unterzogen werden. Andernfalls lösen sie sich vom aktuellen Kenntnisstand der Literaturwissenschaften und geraten ins unbeachtete Abseits oder ins Zentrum negativer Kritik.“ (Ina Schabert: „Gender als Kategorie einer neuen Literaturgeschichtsschreibung“, in: Genus – zur Geschlechterdifferenz in den Kulturwissenschaften. Hrsg. v. Hadumod Bußmann und Renate Hof. Stuttgart 1995, S. 162–205, hier S. 162). Zur motivischen Nähe zwischen der femme fatale und den Maria Magdalena-Figuren der Jahrhundertwende siehe unten, Kap. 7.1. Da nicht nur für Femme fatale-, sondern auch für die Maria

Einleitung

13

Die Amalgamierung von femme fatale und femme fragile in der Figur der Maria Magdalena findet sich besonders häufig in der Lyrik Richard Dehmels, der aufgrund ihrer Beliebtheit unter Zeitgenossen eine gewisse Repräsentativität zukommt. Der „Stardichter der Jahrhundertwende“9 entwirft in seinen Gedichten eine Maria Magdalena-Figur, deren Erotik in Bezug zur Jungfräulichkeit der Madonna gesetzt wird. Besonders provokant wird diese Darstellungsweise, wenn in „Venus Consolatrix“ eine Zusammenziehung aus Maria Magdalena und Muttergottes, der „Schutzpatronin christlicher ‚Diätverordnungen‘“,10 das männliche Sprecher-Ich verführt. Dehmel spielt hier mit der Ambivalenz von Verführerin und ‚reiner Frau‘. Typisch für Dehmels Magdalenakonzeption ist dabei die Darstellung der Heiligen als aktiv Verführende. Im Gegensatz dazu spricht Björn Spiekermann in seiner Studie zum Frühwerk Dehmels von dessen „konventionelle[r] Auffassung der Geschlechterrollen [...], die der Frau die passive und somit schwächere Position zuschreibt.“11 An anderer Stelle heißt es von „Dehmels Liebesauffassung“, dass sie „der Frau die Rolle der Überwältigten, Bewundernden zuschreibt.“12 Eine solche Konzeption von Weiblichkeit kann nun gerade für Dehmels Magdalenentexte nicht nachgewiesen werden, in denen die männlichen Figuren sich in der Position des Schwächeren, Überwältigten befinden, wobei die männliche ‚Selbstauflösung‘ im Medium des Sexuellen hier positiv gewertet wird. Durch die differenzierte Analyse der Korpustexte, der ein close reading zugrundeliegt, werden in der vorliegenden Studie solche bislang vernachlässigten Inszenierungen des Weiblichen am Beispiel Maria Magdalenas nachgewiesen. Dabei wird ein neuer Blick auf Weiblichkeitsimaginationen der Jahrhundertwende um 1900 gewonnen und eine vorschnelle und unzutreffende Etikettierung literarischer Figuren mit den in der Forschung gängigen Frauentypen vermieden. Die Figur der Maria Magdalena, wie sie uns in Texten der literarischen Lebensreform begegnet, erfüllt die der Frau seit der Romantik zugeschriebene Rolle als sexuelle Erlöserin des Mannes, die im Fall der femme fatale notwendig enttäuscht

9 10

11 12

Magdalena-Figuren der Jahrhundertwende die Interdependenz von Malerei und Literatur von essenzieller Bedeutung ist, wird in der vorliegenden Arbeit in Form eines Exkurses auf die Verarbeitung des Magdalenenstoffs in der bildenden Kunst eingegangen (vgl. Kap. 4). Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866–1918. Arbeitswelt und Bürgergeist. München 1990, S. 525. So bezeichnet Hans-Georg Kemper die Mutter Jesu in Anspielung auf Nietzsches Charakterisierung der christlichen Moral in Jenseits von Gut und Böse als „religiöse Neurose“, die von den „drei gefährlichen Diätverordnungen Einsamkeit, Fasten und geschlechtlicher Enthaltsamkeit“ geprägt seien (zitiert nach Hans-Georg Kemper: Komische Lyrik – Lyrische Komik. Über Verformungen einer formstrengen Gattung. Tübingen 2009, S. 87). Björn Spiekermann: Literarische Lebensreform um 1900. Studien zum Frühwerk Richard Dehmels. Würzburg 2007, S. 263. Ebd., S. 273.

Einleitung

14 13

wird. So sind die Texte des Korpus dieser Arbeit geprägt durch die positive Bewertung und Idealisierung weiblicher Sexualität, die in deutlichem Kontrast zur zerstörerischen Sinnlichkeit der femme fatale und der Asexualität der femme fragile stehen.14 Die spezifische Prägung, die die Figur der Maria Magdalena bei Autoren der literarischen Lebensreform erhält, resultiert u.a. aus der Identifikation ihrer Sinnlichkeit mit Nietzsches Konzeption des Dionysischen.15 So ist es die lebensphilosophisch geprägte ‚Umwertung‘ christlicher Konzepte, die auf den Bereich des Erotischen angewandt werden, welche diese Texte auszeichnet und die z. T. mit einem explizit antikonfessionellen und blasphemischen Habitus16 verbunden wird. Als Beispiel sei an dieser Stelle Dehmels Gedicht „Venus Religio“ genannt. Hier fragt das Sprecher-Ich die zuvor mit Maria Magdalena verglichene angesprochene Frau nach ihrer (sexuell motivierten) Sehnsucht nach Auferstehung, wobei auf den von Nietzsche proklamierten Tod Gottes und das zeittypische Konzept des Übermenschen angespielt wird: „An seinem Grabe dürstet mich/nach einer neuen Menschheit, Du!/Fühlst du’s wie ich?/Sag: sehnen deine Brüste sich/dieser Auferstehung zu? –“17 Dass für eine solche Darstellung gerade die skandalträchtige christliche Heilige Maria Magdalena von vielen Autoren der Jahrhundertwende gewählt wird, ist kein 13 14

15

16

17

Vgl. hierzu Carola Hilmes: Die Femme fatale, S. 30. Die herausragende Bedeutung einer solchen Weiblichkeitskonzeption verdeutlicht ein Zitat Stephanie Catanis, in dem es in Bezug auf die der Frau im wissenschaftlichen Diskurs der Jahrhundertwende zugeschriebene und als einzig legitim angesehene Rolle der Ehefrau und Mutter heißt: „Beide Funktionen des Weiblichen, Ehefrau und Mutter, bestimmen das Bild der ‚Heiligen‘, welches der lasterhaften weiblichen Sexualität, dem ‚Dirnendasein‘, mahnend entgegengehalten wird.“ (Stephanie Catani: Das fiktive Geschlecht. Weiblichkeit in anthropologischen Entwürfen und literarischen Texten zwischen 1885 und 1925. Würzburg 2005, S. 53). Zur grundsätzlich schlagwortartigen Rezeption von Nietzsches Werk in der Literatur um 1900 vgl. Wolfdietrich Raschs für das Verständnis des zeitgenössischen Lebenspathos nach wie vor grundlegenden Aufsatz: „Aspekte der deutschen Literatur um 1900“:„Die Wirkung Nietzsches auf die Literatur um 1900 ist unabsehbar groß. Dabei ist es nicht eigentlich der philosophische Gehalt seiner Schriften, der rezipiert wird. Dieser bleibt weithin unentdeckt. Was wirkt, sind die Grundpositionen, in dreißig oder vierzig Sätzen erkennbar: Die radikale Verdiesseitigung, die Destruktion der Transzendenz, die neue Bestimmung des Verhältnisses von Geist und Leben, ‚so daß das Leben das Erkennen, den Geist als ihm selbst zugehörig umgreift‘“ (Wolfdietrich Rasch: „Aspekte der deutschen Literatur um 1900“, in: Ders.: Zur deutschen Literatur seit der Jahrhundertwende. Gesammelte Aufsätze. Stuttgart 1968, S. 1–48, hier S. 40). Vgl. hierzu auch Carola Hilmes: „Sehnsucht nach Erlösung: Bilder des Weiblichen um 1900“, in: Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden. Bd. II: Um 1900. Hrsg. v. Wolfgang Braungart, Gotthart Fuchs und Manfred Koch. Paderborn, München, Wien, Zürich 1998, S. 267–289, hier S. 282. Hilmes verweist hier auf das implizit blasphemische Potenzial, das der literarischen Heiligung der Frau per se zukomme. Richard Dehmel: Die Verwandlungen der Venus. Erotische Rhapsodie. Mit einer moralischen Ouvertüre. Nachdruck der Ausg. 1907. Hrsg. von Heike Menges. Eschborn 1996, S. 59. Vgl. hierzu auch die Ausführungen zu den Figuren der Maria Magdalena und der Muttergottes in Dehmels Lyrik, siehe unten, S. 117f.

Einleitung

15

Zufall. Die ‚heilige Hure‘, welche traditionell die Ambivalenz von Sünde und Buße bzw. Entsühnung verkörpert, wird im Kontext der um 1900 aufkommenden neuen Religiosität bzw. der Auseinandersetzung mit der ‚alten‘ Religion auf spezifische Weise funktionalisiert und zur erlösungsgewährenden, sinnlichen ‚Sünderin‘ stilisiert. Leitende Arbeitshypothese der vorliegenden Untersuchung ist, dass sich anhand der Figur der reizvollen Sünderin ein neuer Weiblichkeitstypus, nämlich der der erlösungsgewährenden Verführerin, für die Literatur um 1900 nachweisen lässt, dessen Sexualität – anders als im dominanten Diskurs – nicht mehr bedrohlich wirkt, sondern als den Mann erlösend konzipiert ist. Analog zur literaturwissenschaftlichen Erforschung der Weiblichkeitsimaginationen von femme fatale und femme fragile geht es im Rahmen der vorliegenden Studie darum – wie Wolfgang Riedel es in seiner Studie zur literarischen Anthropologie um 1900 für den literaturwissenschaftlichen Umgang mit Wedekinds Lulu-Figur als Typus fordert – „den intendierten Typus zu erkennen, den Bauplan seiner Wunschprojektion zu rekonstruieren und seine Quellen zu ermitteln.“18 Neben dem Nachweis des von den Autoren der literarischen Lebensreform „intendierten Typus“ der erlösungsgewährenden Sünderin, den sie bei ihren Aktualisierungen des Magdalenenstoffs ausbilden, liegt eine weitere wesentliche Leistung der vorliegenden Studie darin, nicht kanonisierte und heute z.T. vergessene, für ihre Entstehungszeit aber überaus repräsentative Texte der Jahrhundertwende wieder aufs Tapet literaturwissenschaftlicher Forschung gebracht zu haben. Mit der Untersuchung dieser Texte soll ein Beitrag geleistet werden zur Auseinandersetzung der Literaturwissenschaft mit der in der Forschung immer noch vernachlässigten Unterströmung der literarischen Lebensreform. Die Untersuchung der Figur der Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform ist im Kontext der Jahrhundertwende v.a. im Hinblick auf den synkretistischen Charakter lohnenswert, der der christlichen Heiligen traditionell zukommt (vgl. Kap. 3) und nun noch gesteigert wird. So finden sich um 1900 im Motivbereich Maria Magdalenas neben Bezügen zum Dionysischen und einer spezifischen Umdeutung christlicher Konzepte wie Erlösung und Auferstehung u.a. auch Hinweise auf zeitgenössische monistisch-pantheistische Entgrenzungsphantasien. Dieses synkretistische Moment ist besonders vor dem Hintergrund der zahlreichen divergenten, um 1900 populären ästhetischen, philosophischen und religiösen Strömungen aufschlussreich, die in der Figur der christlichen Heiligen miteinander in Beziehung gesetzt werden. Daraus ergibt sich in den untersuchten Texten eine spezifische Form der Aktualisierung19 des traditionellen Magdalenenstoffs. Um aufzeigen zu können, welche Merkmale der „Mischgestalt aus Bibel und Legende“20 in den untersuchten Texten 18 19 20

Wolfgang Riedel: „Homo natura“. Literarische Anthropologie um 1900. Berlin 1996, S. 209. Zum Begriff der Aktualisierung, siehe unten Kap. 6.1. Magda Motté: „Esthers Tränen, Judiths Tapferkeit“. Biblische Frauen in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Darmstadt 2003, S. 233. Wenn im Folgenden von Maria Magdalena die Rede ist, so ist hiermit diese Mischgestalt, die auch als Heilige Maria Magdalena verehrt wird, gemeint.

16

Einleitung

übernommen werden, sollen zunächst – im Anschluss an die theoretische Grundlegung dieser Arbeit (Kap. 2) – in Form eines Überblickteils zur Entstehung der Mischgestalt Maria Magdalena (Kap. 3) und zur Darstellung Maria Magdalenas in Kunst und Literatur seit dem Mittelalter (Kap. 4 und 5) die wichtigsten Elemente des traditionellen Magdalenenstoffs vorgestellt werden. Die ersten Kapitel dienen als Folie für die Analysen der Korpustexte in Kap. 6, deren Ergebnisse in Kap. 7 zusammengefasst werden.

Strikt davon zu unterscheiden ist die im Neuen Testament erwähnte Maria von Magdala. Vgl. hierzu auch Kap. 3.

2

Theoretische Grundlegung der Studie

2.1 Literatur und Wissen In meiner Untersuchung der Figur der Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform orientiere ich mich methodisch an aktuellen kulturwissenschaftlich ausgerichteten Positionen der Literaturwissenschaft. Während in zahlreichen kulturwissenschaftlichen Untersuchungen in Anlehnung an Foucault der Diskursbegriff genutzt wird,1 um die Rückbindung literarischer Texte an die Kultur, in der sie entstanden sind, zu untersuchen, ist im Rahmen dieser Studie der Wissensbegriff besser geeignet, um zeitgenössische Kontexte in den Texten des Korpus nachweisen zu können. Der Diskursbegriff, wie Foucault ihn in der Ordnung des Diskurses (1974) verwendet, ist eher auf die Makroebene, nämlich auf die „äußeren Formationsfaktoren“2 von diskursiven Gebilden bzw. auf die Frage des Zusammenhangs von Diskurs und Macht,3 ausgerichtet. Im Rahmen der Einzeltextanalysen dieser Studie hingegen wird es darum gehen, den Einfluss kultureller Kontexte auf der Mikroebene,

1

2

3

Klaus-Michael Bogdal charakterisiert Foucaults Diskurs-Begriff, wie er von diesem in der Archäologie des Wissens verwendet wird, als „das nach bestimmten Regeln und Praktiken erscheinende, abgrenzbare und geordnete Ensemble von Aussagen“ (Klaus-Michael Bogdal: Historische Diskursanalyse der Literatur. Theorie, Arbeitsfelder, Analysen, Vermittlung. Wiesbaden 1999, S. 8). Zur Kritik am unspezifischen Gebrauch des Diskursbegriffs in kulturwissenschaftlichen Untersuchungen vgl. Achim Geisenhanslüke: „Foucault in der Literaturwissenschaft“, in: Foucault in den Kulturwissenschaften. Eine Bestandsaufnahme. Hrsg. v. Clemens Kammler und Rolf Parr. Heidelberg 2007, S. 69–81, hier S. 78f. Rolf Parr: „Diskurs“, in: Foucault-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. v. Clemens Kammler, Rolf Parr und Ulrich Johannes Schneider. Stuttgart, Weimar 2008, S. 233–237, hier S. 235. Vgl. hierzu auch die Einschätzung Parrs, dass es Foucault noch in der Archäologie des Wissens eher um „die intradiskursive Formation von Diskursen“ gehe (ebd.). Vgl. hierzu auch Birgit Neumanns Explikation des Foucaultschen Begriffs des Dispositivs als „machtstrategische[ ] Verknüpfung von Diskursen und Praktiken“ (Birgit Neumann: „Kulturelles Wissen und Literatur“, in: Kulturelles Wissen und Intertextualität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien zur Kontextualisierung von Literatur. Hrsg. v. Marion Gymnich, Birgit Neumann und Ansgar Nünning. Trier 2006, S. 29–52, hier S. 33).

18

Theoretische Grundlegung der Studie

nämlich anhand einer literarischen Figur, nachzuweisen.4 Als analytische Kategorie bei der Untersuchung der – hochgradig synkretistischen – Figur der Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform ist der Wissensbegriff v.a. deswegen besser geeignet als der Begriff des Diskurses, weil er in einem ersten Schritt die Unterteilung der relevanten zeitgenössischen Kontexte in einzelne Wissenselemente erlaubt, die im Rahmen der Textanalysen nachgewiesen werden (siehe unten, S. 22). Im Folgenden möchte ich kurz die Verwendung des Wissensbegriffs im Rahmen der vorliegenden Arbeit erläutern. Hier ist zunächst die Frage nach dem Verhältnis von Literatur und (kulturellem) Wissen bzw. die Frage, ob Literatur als eine Form des Wissens verstanden werden kann5, zu klären. Ausgehen möchte ich hierbei von Ralf Klausnitzers Definition, die ‚Wissen‘ wie folgt fasst: […] Gesamtheit von begründeten (bzw. begründbaren) Kenntnissen [ ], die innerhalb kultureller Systeme durch Beobachtung und Mitteilung, also durch Erfahrungen und Lernprozesse erworben sowie weitergegeben werden und einen reproduzierbaren Bestand von Denk-, Orientierungs- und Handlungsmöglichkeiten bereitstellen.6

Diese Definition umfasst neben ‚objektivem‘ wissenschaftlichem Wissen7 auch lebensweltliches, so genanntes Alltagswissen.8 Solches Wissen wird z.B. im Zuge der Sozialisation, vermittelt durch ein soziales Umfeld, erworben („[...] innerhalb kultureller Systeme durch Beobachtung und Mitteilung, also durch Erfahrungen und Lernprozesse erworben sowie weitergegeben [...]“) und wird durch Tradierung zum „reproduzierbaren Bestand von Denk-, Orientierungs- und Handlungsmöglichkeiten.“9 4

5

6 7

8

9

Vgl. hierzu auch die Einschätzung Simone Winkos, dass die „Diskursanalyse überwiegend kein Verfahren zur Einzeltextanalyse“ sei (Simone Winko: „Diskursanalyse, Diskursgeschichte“, in: Grundzüge der Literaturwissenschaft. Hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold und Heinrich Detering. München 2008, S. 463–478, hier S. 472. Zur Diskussion, ob legitimerweise von ‚Wissen in Literatur‘ gesprochen werden kann bzw. welcher Wissensbegriff in Bezug auf Literatur anwendbar ist, vgl. exemplarisch: Tilmann Köppe: „Vom Wissen in Literatur“, in: Zeitschrift für Germanistik 17 (2007), S. 398–410 und die Replik Fotis Jannidis’: „Zuerst Collegium Logicum. Zu Köppes Beitrag ‚Vom Wissen in Literatur‘“, in: Zeitschrift für Germanistik 18 (2008), S. 373–377; Ralf Klausnitzer: Literatur und Wissen. Zugänge – Modelle – Analysen. Berlin 2008; Literatur und Wissen. Theoretisch-methodische Zugänge. Hrsg. v. Tilmann Köppe. Berlin, New York 2011. Ralf Klausnitzer: Literatur und Wissen, S.12. Klausnitzer charakterisiert dieses Wissen als „[...] das in spezialisierten Wissenskulturen gewonnene und methodisch gesicherte Wissen, das in diskursiven und begründbaren Urteilen fixiert ist“ (ebd., S. 42). Den Unterschied zwischen dem an wissenschaftliche Disziplinen gebundenen Spezialwissen und lebensweltlichem Wissen macht Klausnitzer u.a. daran fest, dass letzteres „keine methodisch erzeugte Distanz sowie eigene Beschreibungssprachen entwickelt, sondern dem Material der natürlichen Weltwahrnehmung und seiner Sprache verpflichtet bleibt“ (ebd., S. 43). In Hinblick auf das Kriterium der Reproduzierbarkeit im Falle lebensweltlichen Wissens, vgl. ebd., S. 43. Klausnitzer geht hier auf „sprachlich fixierte Formen von Erfahrung in ihren historischen

Literatur und Wissen

19

Neben der allgemeinen Definition von Wissen geht Klausnitzer auch auf diejenigen Wissenselemente ein, die sich in genuin ästhetischen Erzeugnissen, also etwa in Literatur, nachweisen lassen. Hierfür verwendet er – in deutlichem Rekurs auf Aristoteles’ „Erhebung der Poesie zu einem Medium des Allgemeinen“10 – den Begriff des hypothetischen Wissens und charakterisiert dieses wie folgt: […] das hypothetische Wissen symbolischer Kommunikationen in Kunst und Literatur, das Abwesendes wie Vergangenheit und Zukunft thematisiert, Unsichtbares wie Gedanken und Gefühle sichtbar macht und in vielfältiger Weise auf Lebensweltwissen und spezialisierte Erkenntnisse bezogen bleibt.11

Klausnitzers Betonung der Verschränkung von lebensweltlichem Wissen und wissenschaftlichem Spezialwissen in Werken der Kunst und Literatur erweist sich im Rahmen der vorliegenden Arbeit als sehr geeignet. Sie erlaubt es, die für die Figur der Maria Magdalena, wie sie die Autoren der literarischen Lebensreform konzipieren, wichtige Verknüpfung bzw. Überblendung von zeitgenössischen Wissensbeständen rekonstruieren zu können. Es wird zu zeigen sein, dass eine für die Fragestellung der vorliegenden Studie angemessene Interpretation der Korpustexte die Kenntnis verschiedener Gebiete des zeitgenössischen wissenschaftlichen Wissens,12 wie z.B. philosophische und weltanschauliche Konzepte, sowie bestimmter Elemente des zeitgenössischen Alltagswissens einbeziehen muss. Beispiele für dieses lebensweltliche Wissen sind u.a. die Vertrautheit mit bestimmten Werken der Literatur oder der bildenden Kunst sowie das um 1900 noch recht weit verbreitete Bibelwissen.13 Für die Gesamtmenge der Wissensbestände einer Gesellschaft hat sich in der Forschung der Begriff ‚kulturelles Wissen‘ etabliert, den Michael Titzmann definiert als

10 11 12

13

Realisationen“ ein und nennt als Beispiele u.a. Bauernregeln und Klugheitslehren. Ein weiteres einschlägiges Beispiel für die Epoche der Jahrhundertwende stellen m.E. die zahlreichen Anstandsbücher der Zeit für Mädchen und Frauen dar, die als wichtige sozialgeschichtliche Quelle für die Rekonstruktion des (zumindest offiziell propagierten) Frauenbilds der Zeit dienen (vgl. zu diesem Zusammenhang: Günter Häntzschel: Bildung und Kultur bürgerlicher Frauen 1850–1918. Eine Quellendokumentation aus Anstandsbüchern und Lebenshilfen für Mädchen und Frauen als Beitrag zur weiblichen literarischen Sozialisation. Tübingen 1986). Ralf Klausnitzer: Literatur und Wissen, S. 69. Ebd., S. 42 (Hervorhebung A.G.-T.). Vielen der um 1900 als wissenschaftlich anerkannten Theorien würde aus heutiger Sicht kaum noch ein solcher Status zugesprochen werden können. Dies ist aber im Rahmen des literarhistorischen Ansatzes der vorliegenden Arbeit unwesentlich. Vgl. dazu folgende Einschätzung Michael Titzmanns in Bezug auf die wissenssoziologische Verwendung des Begriffs ‚Wissen‘: „[...]: Wissenselement einer Kultur bzw. einer Gruppe ist eine Proposition p, wenn sie für wahr gehalten wird, unabhängig davon, ob sie wahr ist.“ (Michael Titzmann: „Propositionale Analyse – kulturelles Wissen – Interpretation“, in: Medien und Kommunikation. Eine interdisziplinäre Einführung. Hrsg. v. Hans Krah und Michael Titzmann. Stuttgart 2006, S. 67–92, hier S. 74 (Hervorhebung im Original). Vgl. hierzu die Ausführungen zu intertextuellen Bezügen in Kap. 2.4.

20

Theoretische Grundlegung der Studie […]: Gesamtmenge aller von den Mitgliedern einer Kultur, daß heißt in einer bestimmten Zeitphase Ti (z.B. etwa einer Epoche) in einem bestimmten Raum Ri (z.B. deutsches Sprachgebiet und/oder Europa), für wahr gehaltenen Propositionen. Jede solche Proposition ist ein Wissenselement.14

Für die Analyse der Korpustexte dieser Arbeit ist diese Definition durch die Ausdifferenzierung des kulturellen Wissens in einzelne Wissenselemente, also „für wahr gehaltene[ ] Propositionen“, besonders geeignet, da sich die Maria MagdalenaTexte durch eklektische Verarbeitungen spezifischer Wissensbestände in spezifischer, an die Unterströmung der literarischen Lebensreform gebundener Kombination auszeichnen. So sind es etwa nur einzelne Gedanken, Argumente oder Motive, die aus den zeitgenössischen Wissensbeständen, wie z.B. Nietzsches und Ernst Haeckels weltanschaulichen Schriften, ‚übernommen‘ werden.15 Aus der Bestimmung des kulturellen Wissens als „Gesamtmenge aller von den Mitgliedern einer Kultur, [...] für wahr gehaltenen Propositionen“ geht hervor, was Titzmann an anderer Stelle ausdrücklich betont, dass nämlich kulturelles Wissen immer als „Kollektivwissen“ zu konzipieren ist.16 Dem Kollektivwissen stellt er das „Individualwissen“ gegenüber. In Bezug auf die Rekonstruktion einer „gesuchte[n] Teilmenge eines k[ulturellen] W[issens]“ heißt es bei Titzmann: Unter Ausscheidung textspezifischer, also individueller Wissensbehauptungen sind aus der Menge der ableitbaren Propositionen diejenigen herauszufiltern, die sich als gruppenspezifisches oder allgemeines Element des k[ulturellen] W[issens] nachweisen lassen.17

Die Unterscheidung zwischen allgemeinem und gruppenspezifischem kulturellen Wissen ist im Rahmen dieser Studie von besonderem Interesse, da das gruppenspezifische Wissen lebensreformerisch orientierter Autoren in deutlichem Kontrast steht zu Wissenselementen, die als typisch für die Wilhelminische Gesellschaft18 14 15

16 17 18

Michael Titzmann: „Propositionale Analyse – kulturelles Wissen – Interpretation“, S. 74. Vgl. hierzu auch Arndt Brendeckes Einschätzung der Jahrhundertwende als „Zeitalter eklektischer Motivik“ (Arndt Brendecke: „Das Fin de siècle als Paradigma der Moderne. Wider einen überdeterminierten Epochenbegriff“, in: Das intellektuelle Europa der Jahrhundertwenden. Hrsg. v. Barbara Surowska. Warschau 2000, S. 33–64, hier S. 37). An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass es für die Darstellung der Maria Magdalena in der Literatur grundsätzlich typisch ist, dass ebenfalls nur bestimmte Elemente des Magdalenenstoffs verarbeitet werden, vgl. hierzu Kap. 3–5. Vgl. Michael Titzmann: „Propositionale Analyse – kulturelles Wissen – Interpretation“, S. 79. Ebd., S. 84. Zum Wilhelminismus vgl. Martin Doerry: Übergangsmenschen. Die Mentalität der Wilhelminer und die Krise des Kaiserreichs. Weinheim 1986. Zur Oppositionshaltung lebensreformerischer Bewegungen zum Wilhelminismus bzw. zu dessen Prüderie, Doppelmoral und Spießigkeit vgl. Klaus Wolbert: „Die Lebensreform – Anträge zur Debatte“, in: Die Lebensreform: Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900. Hrsg. v. Kai Buchholz et al. Darmstadt 2001, S. 13– 21, hier S. 17. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Peter Sprengels Einschätzung, dass sich die „Opposition zum Wilhelminismus“ als „schlechthin fundamental für das Selbstverständnis der frühen Moderne erweist“ (Peter Sprengel: Literatur im Kaiserreich. Studien zur Moderne. Berlin 1993, S. 8).

Literatur und Wissen

21

gelten, aber auch zu solchen, die in der literarischen Décadence rezipiert worden sind (zur Explikation des Begriffs der literarischen Lebensreform vgl. Kap. 6.1). Eine weitere für die vorliegende Studie wichtige Unterscheidung, die Titzmann vornimmt, ist diejenige zwischen potenziell und faktisch relevantem kulturellem Wissen. Während das potenziell relevante Wissen zum „Konnotationsraum [eines] Textes“19 zählt, sind Wissenselemente laut Titzmann genau dann faktisch relevant, wenn sie vom Text funktionalisiert werden, also Textbehauptungen verstehbar machen oder erklären, argumentative, motivationale, usw. Nullpositionen auffüllen, nichttriviale Zuordnungen zu Klassen ermöglichen.20

Auf Grundlage dieser Definition habe ich eine Auswahl derjenigen interpretatorisch relevanten Elemente des kulturellen Wissens der Jahrhundertwende getroffen, die bei den Analysen der Korpustexte herangezogen werden. M.E. ist die Spezifik der synkretistischen Maria Magdalena-Figuren der Jahrhundertwende ohne Einbeziehen dieser kulturellen Kontexte nicht adäquat erklärbar.21 19

20

21

Michael Titzmann: „Propositionale Analyse – kulturelles Wissen – Interpretation“, S. 89. Titzmann expliziert den Begriff „Konnotationsraum des Textes“ als die „nicht subjektiv willkürlichen, sondern vom Text selbst objektiv legitimierten möglichen Assoziationen eines Lesers/Hörers.“ (ebd.) (Hervorhebung im Original). Ebd. (Hervorhebung im Original). Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen Christine Maillards und Michael Titzmanns zu der Frage, „ob eine [...] Teilmenge des kulturellen Wissens für den Text interpretatorisch relevant oder nicht interpretatorisch relevant ist“: „Vereinfacht gesprochen, ist ein Wissenselement dann für einen literarischen Text interpretatorisch relevant, wenn sich mit seiner Hilfe, als einer zusätzlichen Interpretationsprämisse, aus dem Text Bedeutungen folgern lassen, die sich ohne dieses Wissen nicht ableiten ließen.“ (Christine Maillard/Michael Titzmann: „Vorstellung eines Forschungsprojekts: „‚Literatur und Wissen(schaften) in der Frühen Moderne‘“, in: Literatur und Wissen(schaften) 1890–1935. Hrsg. v. C. Maillard und M. Titzmann. Stuttgart 2002, S. 7–37, hier S. 22 (Hervorhebung im Original). Genau das trifft m.E. für die in den Korpustexten der vorliegenden Arbeit identifizierten Wissenselemente zu. Vgl. hierzu Michael Titzmann: „Propositionale Analyse – kulturelles Wissen – Interpretation“, S. 90: „Methodologisch korrekt gewonnene Folgerungen aus den Textdaten mit Hilfe des kulturellen Wissens können ohne das k[ulturelle] W[issen] gewonnene Interpretationsergebnisse nur ergänzen und modifizieren. Interpretatorische Aussagen, die das k[ulturelle] W[issen] nicht einbeziehen, sind unvollständig, aber nicht unzutreffend.“ Vgl. in diesem Zusammenhang auch Köppes Rückbindung des Forschungsbereichs ‚Literatur und Wissen‘ an das Modell der literarischen Kommunikation, der zufolge zwischen Wissen auf Autoren-, Text-, und Leserseite und in Bezug auf den jeweiligen Kontext unterschieden werden muss. Die zum ersten Punkt gehörenden Fragen, auf welche Weise der Autor auf Wissensbegriffe zurückgreifen konnte und inwiefern sie sein Werk beeinflusst haben bzw. wie er sich zum Wissen seiner Zeit positioniert, werden im Analyseteil der vorliegenden Arbeit ebenso berücksichtigt wie die der Leserseite zuzurechnende Frage: „Was muss ein Leser wissen, um den Text zu verstehen oder sich auf sonstige angemessene Weise dem Text gegenüber verhalten zu können?“ (Tilmann Köppe: „Literatur und Wissen: Zur Strukturierung des Forschungsfeldes und seiner Kontroversen“, in: Literatur und Wissen, S. 1–28, hier S. 3). Die Fähigkeit, sich „auf angemessene Weise“ einem Text gegenüber verhalten zu können, verstehe ich als äquivalent zu einer vollständigen interpretatorischen Aussage unter Einbeziehung des kulturellen Wissens im Sinne Titzmanns.

22

Theoretische Grundlegung der Studie

Als relevante Kontexte haben sich in der Auseinandersetzung mit den Texten des Korpus dieser Arbeit v.a. das Frauenbild in Kunst und Literatur der Zeit,22 zeitgenössische populäre philosophische Konzepte wie etwa Nietzsches Propagierung des Dionysischen sowie das in Texten der Epoche allgegenwärtige Lebenspathos23 erwiesen. Eine weitere philosophische bzw. pseudo-religiöse Erscheinung der Zeit um 1900, die hier zu erwähnen ist, ist der Monismus Ernst Haeckels. Um die Maria Magdalena-Figur, wie sie von Autoren der literarischen Lebensreform entworfen wird, angemessen beurteilen zu können, ist auch auf die Veränderung des zeitgenössischen Jesus-Bilds einzugehen, da ein grundlegendes Element des traditionellen Magdalenenstoffs die Vorstellung von Maria Magdalena als Geliebte bzw. Partnerin Jesu ist. Daher ist davon auszugehen, dass mit dem Wandel im (literarischen) Jesus-Bild auch eine Veränderung der Konzeption von Maria Magdalena-Figuren in der Kunst eintritt. Anhand der nachgewiesenen Wissenselemente der Jahrhundertwende, die Einfluss auf die Konzeption der Maria Magdalena-Figur im Werk damals bekannter Autoren genommen haben, tritt die kulturhistorische Relevanz24 dieser Figur, die in ihrem christlich-heidnischen Synkretismus typisch für die Epoche ist, besonders deutlich hervor (vgl. Kap. 7).

22

23

24

Hierbei werde ich mich auf ästhetische Weiblichkeitskonzeptionen der Jahrhundertwende konzentrieren. Auf die sozialgeschichtliche Position der Frau in der wilhelminischen Gesellschaft wird nur am Rande eingegangen. Vgl. hierzu folgende Einschätzung Silvia Bovenschens: „Der im ‚Weibtum ruhende‘ (Simmel), ‚die Werte des geschlossenen Seins‘ (Scheler) und der ‚Natureinheit‘ (Scheffler) verkörpernden geschichtlich ungeformten ‚Wesenssubstanz Frau‘ steht das endliche bürgerliche Subjekt Mann gegenüber, das, eingebettet in ein Gitterwerk sozialer Funktionen, wirkt und schafft. Von den realen Frauen ist hier nicht die Rede. Die beständige Beschwörung weiblicher Naturpotenz verrät eine Verschiebung. Die Sehnsucht nach der Versöhnung mit der Natur, nach einem nichtentfremdeten Dasein, wird, ideologisch verzerrt, auf das Weibliche projiziert. Diese Verschiebung – eine häufig anzutreffende Figur – betrifft mithin nur das gedachte Weibliche; die Verwandtschaft der realen Frauen mit der Natur beschränkt sich darauf, daß sie wie diese Objekt der männlichen Zugriffe und Beherrschung sein sollen. Die weibliche ‚Natur‘ wird so einerseits zur Trägerin der ideellen männlichen Harmonie- und Einheitssehnsüchte stilisiert, andererseits schließt ihre Definition das Gebot der Unterwerfung und des Stillhaltens ein.“ (Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen. Frankfurt/M. 1979, S. 32). Zur „Erhebung des irrationalistischen Lebensbegriffs zur Legitimations- und Berufungsinstanz“ im kulturellen Leben der Jahrhundertwende vgl. die folgende Einschätzung Spiekermanns: „‚Leben‘ erfüllt die Funktion eines säkularen Ganzheitsbegriffs, in dem biologistisch-monistisches und lebensphilosophisches Gedankengut zusammenfließen.“ (Björn Spiekermann: Literarische Lebensreform um 1900, S. 234). Vgl. hierzu auch die Einschätzung Titzmanns, dass „auch aus fiktiven Welten k[ulturelle] W[issens]-Mengen (z.B. Werte, Normen, anthropologische und sonstige Ideologeme) erschlossen werden können, [...].“ (Michael Titzmann: „Propositionale Analyse – kulturelles Wissen – Interpretation“, S. 90).

Figur und Typus

23

2.2 Figur und Typus Der Begriff des ‚Typus‘, der bisher verwendet wurde, ist als „Figuren-Modell“25 zu verstehen. Fotis Jannidis definiert letzteres als „gestaltförmige Konfiguration von Figureninformationen [...]“26 und grenzt den Terminus deutlich von der wertenden Verwendung des Begriffs ‚Typus‘ als Antonym zu ‚Charakter‘27 ab. Jannidis spezifiziert den Begriff des Figurenmodells wie folgt: Das Wissen über einen bestimmten Typus von Personen und Figuren stammt aus der Lebenswelt, aus den zahlreichen nicht-fiktionalen Diskursen, z.B. Theologie, Anthropologie, Psychologie, Psychiatrie, oder dem Wissen über fiktionale Welten, erzeugt durch Literatur, Theater [...] usw.28

Das Konzept des Figurenmodells bietet sich aus zwei Gründen für die Untersuchung der Texte des Korpus dieser Arbeit an. Zum Einen ermöglicht das Kriterium der „gestaltförmigen Konfiguration von Figureninformationen“ bzw. der „typisierte[n], die Einzelfigur übergreifende[n] Zusammenhänge“29 die Abstraktion von der eigentlichen Figur der Maria Magdalena auf Frauenfiguren, welche die für diese Figur typischen Merkmale teilen. Mit Hilfe der Einzeltextanalysen soll so u.a. die Frage geklärt werden, welche Eigenschaften bzw. welche Muster der Figurenkonstellation im Typus der erlösungsgewährenden Verführerin, wie sie in den Texten der literarischen Lebensreform entworfen wird, gebündelt werden. Zum Anderen entspricht die Annahme, dass das Wissen über ein Figurenmodell aus lebensweltlichen Kontexten stammt, der im Vorherigen dargestellten Konzeption des Verhältnisses von Literatur und Wissen. Im Rahmen der vorliegenden Studie ist v.a. der Einfluss des „Wissen[s] über fiktionale Welten, erzeugt durch Literatur [...]“ von Interesse, wenn es darum geht, aufzuzeigen, welche Elemente des traditionellen Magdalenenstoffs in Texten expliziert und welche als dem zeitgenössischen Leser bekannt vorausgesetzt werden.30 Besonders interessant ist hier die Frage, wie die Autoren der literarischen Lebensreform den traditionellen Typus der ‚reuigen Sünderin‘ funktionalisieren, der sich u.a. durch folgende Merkmale auszeichnet: große Liebesfähigkeit, Läuterung durch ‚wahre Liebe‘, Mitleid und Bußfertigkeit.31 25 26 27 28 29 30

31

Fotis Jannidis: Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie. Berlin 2004, S. 214. Ebd., S. 214. Vgl. ebd., S. 102. Ebd., S. 214. Ebd., S. 239. Vgl. hierzu Jannidis’ Hinweis in Bezug auf die „Untersuchung der figurenbezogenen Informationsvergabe“, dass nicht nur diejenigen Informationen, die im Text vergeben werden, untersucht werden müssen, sondern dass „man ebenso rekonstruieren [muss], was nicht im Text steht, jedoch vorausgesetzt wird“ (ebd., S. 7). Die sündige Vergangenheit bzw. die Sinnlichkeit der Büßerin Maria Magdalena liegt, explizit oder implizit, allen Verarbeitungen des Magdalenenstoffs zugrunde. Vgl. hierzu auch den Überblicksteil zum traditionellen Magdalenenstoff, Kap. 3.

24

Theoretische Grundlegung der Studie

Wie Jannidis geht auch Ralf Schneider in seiner rezeptionsästhetisch ausgerichteten Studie davon aus, dass literarischen Figuren „ein lebensweltliches Fundament zugesprochen“32 werden kann, und bezieht sich bei seiner Untersuchung der zeitgenössischen Rezeptionsbedingungen für den viktorianischen Roman auf das Konzept des kulturellen Wissens.33 Für die Figurenrezeption ist laut Schneider besonders ein Teilbereich dieses Wissens relevant, nämlich das „kulturelle[ ] Wissen über den Menschen“, das er als „soziales Wissen“ kennzeichnet. Teil dieses Wissens sind laut Schneider „Persönlichkeitstheorien“. Schneider subsumiert unter diesem Begriff alle schematischen Strukturen (Wissen über Ereignis- und Verhaltenssequenzen, Überzeugungen und Einstellungen) und kategorialen Strukturen (Wissen über Personen, Personengruppen und Selbstkonzepte, [...]) [...], welche die Vorhersage und die Erklärung menschlichen Verhaltens ermöglichen und somit soziale Interaktionen in einer Gesellschaft regulieren.34

Schneider zufolge bedienen sich nicht nur Autoren beim Kreieren literarischer Figuren der jeweiligen Persönlichkeitstheorien ihrer Zeit, sondern auch Leser greifen bei der Rezeption von Literatur bzw. beim Figurenverstehen auf diese Wissensstrukturen zurück.35 Wie bereits bei Titzmann und Jannidis wird also auch in Schneiders rezeptionsästhetischer Studie die Rückbindung literarischer Texte an ihre Entstehungszeit betont. Für die Einzeltextanalysen im Rahmen der vorliegenden Studie erscheint ein weiteres Theorieelement aus Schneiders Studie besonders geeignet, nämlich die Unterscheidung zwischen Figurenkonzeptionen und Figurenkonzepten. Unter „Figurenkonzeptionen“ will Schneider die in einer Epoche „häufig rekurrente[n] Ausgestaltungen von Figuren, bei denen wiederholt auf bestimmte Persönlichkeitstheorien zurückgegriffen wird“,36 verstanden wissen. Hierunter zählen im Fall der Gestaltung der Maria Magdalena-Figuren in der literarischen Lebensreform die aktualisierenden Konzeptionen, welche die relevanten Elemente des zeitgenössischen kulturellen Wissens verarbeiten. Mit dem Begriff ‚Figurenkonzept‘ fasst Schneider hingegen die

32 33 34

35 36

Ralf Schneider: Grundriß zur kognitiven Theorie der Figurenkonzeption am Beispiel des Viktorianischen Romans. Tübingen 2000, S. 5. Schneider orientiert sich hierbei an Titzmanns Definition des kulturellen Wissens (vgl. ebd., S. 82). Ebd., S. 83. Als Beispiele für Spezialdiskurse im Sinne Jürgen Links, deren Elemente in das soziale Wissen eingehen, nennt Schneider den „medizinischen, religiösen, ökonomischen, politischen Diskurs“ und charakterisiert diese als Diskurse, „deren ‚Redegegenstand‘ Wissen über den Menschen und seine Handlungen ist“ (ebd., S. 82). Vgl. ebd., S. 84. Ebd. Vgl. hierzu auch die Ausführungen Titzmanns zu gruppenspezifischen Wissenselementen, S. 7. Eine für die Aktualisierung des Magdalenenstoffs in der literarischen Lebensreform relevante Persönlichkeitstheorie ist die des ‚neuen Menschen‘ bzw. des homo natura. Vgl. hierzu Riedel: „Homo natura“ und Kap. 7 der vorliegenden Arbeit.

Figur und Typus

25

individuelle Ausgestaltung der Figur, die durch die Elaboration verschiedener Aspekte einer Persönlichkeitstheorie ebenso zustande kommen kann wie durch unterschiedlich starke Anlehnung an oder Abkehr von den üblichen Darstellungsmustern.37

Anhand des Figurenkonzepts können also die individuellen Unterschiede innerhalb der literarischen Gestaltung der Figur der Maria Magdalena um 1900 erfasst werden, wenn man unter den „üblichen Darstellungsmustern“ etwa den traditionellen Magdalenenstoff oder die für die Epoche als typisch geltenden literarischen Entwürfe von Weiblichkeit (femme fatale und femme fragile) fasst, von denen die untersuchten Texte abweichen. Besonders interessant ist die Frage nach dem Entwurf eines spezifischen Figurenkonzepts v.a. im Fall jener Autoren, in deren Werk die Figur der Maria Magdalena sich häufiger gestaltet findet. Wie zu zeigen sein wird, rezipiert z.B. Rilke deutlich andere Aspekte des Magdalenenstoffs bei seiner Darstellung der Heiligen als etwa Dehmel bei seiner Darstellung der „fühlenden Sünderin“.38 Während sich die Kategorie des Figurenkonzepts also besonders für das Aufzeigen solcher individuellen Unterschiede innerhalb des Textkorpus eignet, wird Schneiders Kategorie der Figurenkonzeption v.a. bei der Rekonstruktion des in den Maria Magdalena-Figuren sich manifestierenden Weiblichkeitstypus hilfreich sein. Laut Jannidis ist der Typus, im Gegensatz zum Charakter, „nur durch wenige Merkmale gekennzeichnet.“39 Als ein weiteres Unterscheidungskriterium nennt Jannidis die „Originalität der Figur bzw. die Bekanntheit der figurenspezifischen Merkmalskombination.“ 40 Diese sei „als Stereotyp Teil des kulturellen Wissens, sei es nun als lebensweltliche oder spezifisch fiktionale Typisierung, oder es handelt sich um eine neue Kombination von Elementen.“41 Im Falle der Maria Magdalena-Figuren der literarischen Lebensreform, die sich durch die Amalgamierung von Merkmalen des Typus der reuigen Sünderin, der femme fragile und der femme fatale, welche auf charakteristische Weise aktualisiert und umgewertet werden, mit zeitgenössischen, modernen Wissenselementen auszeichnet, haben wir es mit Letzterem zu tun.42 Wie Jannidis an mehreren Stellen seiner Untersuchung betont, macht die Wertung einer literarischen Figur einen Großteil von deren Charakterisierung 37 38 39

40 41 42

Ralf Schneider: Grundriß zur kognitiven Theorie der Figurenkonzeption, S. 84. So wird Maria Magdalena in Dehmels Gedicht „Das Gesicht“ charakterisiert (siehe unten, S. 118). Fotis Jannidis: Figur und Person, S. 103. Vgl. hierzu auch die Einschätzung Thomas Kochs in Bezug auf die Unterscheidung von „Typ und Individuum“, dass ersterer nur „wenige, in sich konsistente Eigenschaften aufweist“ und somit als „Repräsentant einer Menschenkategorie gedacht werden kann.“ (Thomas Koch: Literarische Menschendarstellung. Studien zu ihrer Theorie und Praxis. (Retz, La Bruyère, Balzac, Flaubert, Proust, Lainé). Tübingen 1991, S. 136f.). Fotis Jannidis: Figur und Person, S. 103. Ebd. Vgl. hierzu auch folgende Frage Jannidis’ in Bezug auf „[d]as Verhältnis von Figuren zur Personenwahrnehmung sowie zur Tradition fiktionaler Figuren“: „Ist die Figur originell auf der Grundlage der dem Leser bekannten Figuren?“ (ebd., S. 106). Wie die Textanalysen zeigen werden, ist diese Frage im Kontext der vorliegenden Arbeit nicht anders als mit einem deutlichen ‚ja‘ zu beantworten.

26

Theoretische Grundlegung der Studie

aus. Unter Charakterisierung versteht Jannidis „die Summe aller relevanten figurenbezogenen Tatsachen in der erzählten Welt“.43 Weshalb die Autoren die von ihnen gestalteten Maria Magdalena- Figuren, die den Typus der reuigen Sünderin auf z.T. karikierende Weise umdeuten, positiv bewerten, wird im Rahmen der Einzeltextanalysen der vorliegenden Arbeit deutlich werden. Mit Hilfe der genannten theoretischen Annahmen zur Figurenanalyse wird die Spezifik der „heidnischen Heiligen“44 Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform, die deutlich durch religiöse, psychologische, sexualwissenschaftliche und ästhetische Wissensbestände der Jahrhundertwende geprägt ist, aufgezeigt. Bei der Untersuchung der aktualisierenden Verarbeitungen des Magdalenenstoffs wird nicht nur der Status der weiblichen Figuren als „Projektionsfläche erotischer Phantasie“45 aufgedeckt, sondern auch das in den literarischen Texten gestaltete Geschlechterverhältnis berücksichtigt.

2.3 Gender als analytische Kategorie Um die Konzeption des Geschlechterverhältnisses der jeweiligen Autoren nachzeichnen zu können, wird bei der Untersuchung der literarischen Darstellung Maria Magdalenas immer auch die korrespondierende Jesus-Figur bzw. die in der Rolle Jesu erscheinende männliche Figur in den Blick genommen. Um das Geschlechterverhältnis, das in den Korpustexten entworfen wird, angemessen bewerten zu können, müssen also neben den ästhetischen Vorstellungen des Weiblichen46 auch die Konstruktionen von Männlichkeit, die m.E. ein wichtiger Bestandteil der literarischen Verarbeitungen des Magdalenenstoffs sind, beachtet werden. Für die Untersuchung der Korpustexte bietet sich daher der gender-Begriff als analytische Kategorie an.47 43 44

45 46

47

Fotis Jannidis: Figur und Person, S. 207. Diese Bezeichnung wurde Franziska zu Reventlow von den Münchner Kosmikern um Klages zuerkannt. Vgl. hierzu Johannes Székely: Franziska Gräfin zu Reventlow. Leben und Werk. Mit einer Bibliographie. Bonn 1979, S. 134. Aufgrund der intertextuellen Verweise auf Nietzsches Konzept des Dionysischen im Rahmen der Aktualisierungen des Magdalenenstoffs in der literarischen Lebensreform und des damit verbundenen Aufrufs zur Lebensfeier kann auch Maria Magdalena als ‚heidnische Heilige‘ bezeichnet werden. Carola Hilmes: Die Femme fatale, S. 64. Rita Burrichter spricht in Bezug auf die Geschichte der Ikonografie der Heiligen und ihre kulturgeschichtliche Bedeutung von Maria Magdalenas „Entwicklung zum visuellen Prototyp des imaginären ‚Weiblichen‘“. (Rita Burrichter: „Maria Magdalena. Kunst“, in: Wörterbuch der Feministischen Theologie. Hrsg. v. Elisabeth Gössmann et al. 2. Aufl. Gütersloh 2002, S. 403–404, hier S. 403). Zur gender-Kategorie als analytischer Kategorie in literaturwissenschaftlichen Analysen vgl. Inge Stephan: „Literaturwissenschaft“, in: Gender-Studien. Eine Einführung. Hrsg. v. Christina von Braun und Inge Stephan. Stuttgart, Weimar 2000, S. 290–299, hier S. 294 und Jutta Osinski: Einführung in die feministische Literaturwissenschaft. Berlin 1998, S. 137.

Gender als analytische Kategorie

27

Unter ‚gender‘ wird bekanntermaßen die „soziale Kodierung der Geschlechterrolle“48 verstanden, während der Oppositionsbegriff ‚sex‘ das biologische Geschlecht bezeichnet.49 Diese Unterscheidung wird in einem Zitat der Historikerin Joan Wallach Scott besonders deutlich, in dem sie sich „von biologische[n] Erklärungen für den Unterschied der Geschlechter“ distanziert. Statt dessen bietet Gender die Möglichkeit, kulturelle Konstrukte, die gesellschaftliche Herausbildung von Auffassungen über Geschlechterrollen, zu untersuchen. Hierbei stützt man sich auf die ausschließlich sozialen Wurzeln der subjektiven Identität von Männern und Frauen. [...] Mit der Zunahme von Studien über das Geschlecht wird Gender zu einem besonders nützlichen Begriff, da er es uns erlaubt, zwischen der geschlechtlichen Praxis und den Frauen und Männern zugeordneten sozialen Rollen zu unterscheiden.50

Diese „Frauen und Männern zugeordneten sozialen Rollen“ finden sich auch in literarischen Texten gestaltet. Insofern wird im Rahmen der vorliegenden Studie über die traditionelle Frauenbildforschung, die sich mit ästhetischen Weiblichkeitsstereotypen als Projektion männlicher Phantasien befasst,51 hinausgegangen und das Augenmerk auf die Frage gelenkt werden, inwiefern traditionelle Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit in den Maria Magdalena-Texten der literarischen Lebensreform – ähnlich wie im Falle der femme fatale52 – unterlaufen werden.53

48 49

50

51 52

53

Michael Titzmann: „Propositionale Analyse – kulturelles Wissen – Interpretation“, S. 78. Judith Butler entwickelt in ihrer für die Gender Studies bekanntermaßen überaus einflussreichen Studie Gender trouble (1990) die Vorstellung, dass auch das biologische Geschlecht sozial konstruiert sei. Vgl. zu der damit einhergehenden „Akzentverschiebung der Debatte vom Verhältnis zwischen sex und gender auf gender“: Isabelle Stauffer: Weibliche Dandys, blickmächtige Femmes fragiles. Ironische Inszenierungen des Geschlechts im Fin de Siècle. Köln 2008, S. 9. Joan Wallach Scott: „Gender: Eine nützliche Kategorie der historischen Analyse“, in: Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Hrsg. v. Dorothee Kimmich, Rolf G. Renner und Bernd Stiegler. Vollst. überarb. und aktualis. Neuausg. Stuttgart 2008, S. 388–413, hier S. 391f. (Hervorhebung im Original). Vgl. hierzu Inge Stephan: „Literaturwissenschaft“, S. 292f. Hier soll nicht angedeutet werden, dass in Werken der literarischen Lebensreform keine femme fatale-Figuren vorkommen. Vgl. zu diesem Zusammenhang die Einschätzung Lissy Winterhoffs, dass die Thematisierung der femme fatale in der Kunst und Literatur „stilübergreifend“ sei, in der literarischen Décadence aber besonders deutlich ausgeprägt vorkomme (Lissy Winterhoff: Ihre Pracht muß ein Abgrund sein, ihre Lüste ein Ozean. Die jüdische Prinzessin Salome als Femme fatale auf der Bühne der Jahrhundertwende. Würzburg 1998, S. 53). Zum Typus der femme fatale siehe unten, Kap. 7.1. Vgl. zur Interdependenz literarischer Entwürfe von Männlichkeit und Weiblichkeit in der Literatur der Jahrhundertwende folgende Einschätzung Bettina Pohles: „Das Verständnis eines Weiblichkeitsbildes, wie es um 1900 auftrat, ist nur unter Einbeziehung des herrschenden Männlichkeitsbildes möglich.“ (Bettina Pohle: Kunstwerk Frau. Inszenierungen von Weiblichkeit in der Moderne. Frankfurt/M. 1998, S. 30).

Theoretische Grundlegung der Studie

28

2.4 Intertextuelle Bezüge Schon die Bezugnahme des Magdalenenstoffs auf verschiedene Quellentexte, wie z.B. die Bibel, lässt die Untersuchung intertextueller Bezüge bei der Analyse der Korpustexte, die sich wiederum diesen Magdalenenstoff aneignen, sinnvoll erscheinen. Darüber hinaus beziehen sich die Autoren der literarischen Lebensreform, wie bereits erwähnt, vielfach auf zeitgenössische Wissensmengen bzw. -elemente. Auch diese Bezugnahme lässt sich anhand intertextueller Bezüge zu weltanschaulichen und philosophischen Texten der Zeit, etwa auf der Motivebene, nachweisen. Für die Textanalysen dieser Arbeit hat sich Manfred Pfisters Begriffsdefinition von Intertextualität54 bzw. seine Auflistung von „Kriterien für die Intensität intertextueller Bezüge“55 als besonders geeignet erwiesen. Pfister diskutiert zunächst verschiedene Modelle von Intertextualität, u.a. dasjenige, das Julia Kristeva in Rekurs auf Michail Bachtins Konzept des Dialogischen entwickelt. Kristeva operiert mit einem entgrenzten kultursemiotischen Textbegriff, der nicht nur Einzeltexte, sondern auch „jedes kulturelle System und jede kulturelle Struktur“56 umfasst. Im Rahmen dieser poststrukturalistischen Verwendung des Textbegriffs wird letztlich jeder Text für intertextuell erklärt. Pfister kritisiert diesen „total entgrenzte[n] Textbegriff“,57 der für Einzeltextanalysen letztlich nicht operationalisierbar ist. Zu diesem Zusammenhang sei exemplarisch die Einschätzung Pfisters zu einem enger gefassten, von ihm präferierten Intertextualitätsmodell zitiert, dass dieses in dem Maße dominant wird, in welchem sich der einzelne Theoretiker und Kritiker auf konkrete Textanalyse einläßt. Selbst Kritiker, die [...] nachdrücklich vom textontologischen Axiom eines globalen Intertextes ausgehen, verengen ihre Perspektive, sobald sie sich der konkreten Analyse von Intertextualität zuwenden. Das überrascht auch nicht, denn ein Konzept, das so universal ist, daß zu ihm keine Alternative und nicht einmal dessen Negation

54

55 56 57

Irina O. Rajewsky definiert Intertextualität bzw. intertextuelle Bezüge in ihrer Studie zur Intermedialität als „konkrete, fakultative Verfahren der Bedeutungskonstitution eines Textes in Relation zu einem oder mehreren Prätexten“ (Irina O. Rajewsky: Intermedialität. Tübingen 2002, S. 48). Diese Definition überschneidet sich mit der Pfisters und erscheint für den Analyseteil dieser Arbeit als ebenso geeignet. Besonders wichtig ist hier der Aspekt der „Bedeutungskonstitution“. So liegt der Untersuchung von intertextuellen Bezügen in den Korpustexten die Annahme zugrunde, dass die jeweiligen Prätexte „sinnmodifizierend“ auf die untersuchten Folgetexte wirken (vgl. Jörg Helbig: Intertextualität und Markierung. Untersuchungen zur Systematik und Funktion der Signalisierung von Intertextualität. Heidelberg 1996, S. 73) bzw. dass solche Relationen vom Leser als „zusätzliche Ebene der Sinnkonstitution erschlossen werden“ sollen (Manfred Pfister: „Intertextualität“, in: Intertextualität: Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Hrsg. v. Ulrich Broich und Manfred Pfister. Tübingen 1985, S. 1–31, hier S. 23). Manfred Pfister: „Konzepte der Intertextualität“, S. 26. Ebd., S. 7. Ebd.

Intertextuelle Bezüge

29

mehr denkbar ist, ist notwendigerweise von geringem heuristischen Potential für die Analyse und Interpretation.58

Bei der Ausformulierung seiner eigenen Definition von Intertextualität orientiert sich Pfister maßgeblich an Gérard Genettes differenziertem Konzept der Transtextualität.59 Dabei geht Pfister von verschiedenen „Graden der Intensität des intertextuellen Bezugs“ aus, die er veranschaulicht anhand des Bildes von einem System konzentrischer Kreise oder Schalen [...], dessen Mittelpunkt die höchstmögliche Intensität und Verdichtung von Intertextualität markiert, während diese, je weiter wir uns vom ‚harten Kern‘ des Zentrums entfernen, immer mehr abnimmt und sich asymptotisch dem Wert Null annähert.60

Die einzelnen „Kriterien für die Intensität intertextueller Bezüge“ sollen im Rahmen der Vorbemerkung zum Analyseteil der vorliegenden Arbeit (Kap. 6.1) vorgestellt werden. An dieser Stelle sei nur kurz auf Pfisters Unterscheidung von Einzeltext- und Systemreferenz eingegangen. Pfister liefert eine Explikation seines Kriteriums der Selektivität, anhand derer diese in der Intertextualitätsforschung vorgenommene Differenzierung deutlich wird: Und analog ist der Verweis auf einen individuellen Prätext [Einzeltextreferenz] prägnanter und damit intensiver intertextuell als der Bezug auf die Normen und Konventionen einer Gattung, auf bestimmte Topoi und Mythen oder auf noch abstrakter definierte textkonstituierende Systeme [Systemreferenz].61

Die Unterscheidung zwischen Einzeltext- und Systemreferenz ist für den Kontext der vorliegenden Studie wichtig, da die Autoren nicht nur mit punktuellen intertextuellen Verweisen, etwa auf zeitgenössische Literatur und die Bibel, arbeiten, sondern sich auch auf die Normen religiösen Sprachgebrauchs beziehen. Ein Beispiel hierfür ist etwa 58 59

60 61

Ebd., S. 15. Genette untergliedert die Transtextualität in fünf Subkategorien: Intertextualität, Paratextualität, Metatextualität, Hypertextualität und Architextualität. Vgl. hierzu Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt/M., S. 1–18. Manfred Pfister: „Konzepte der Intertextualität“, S. 25. Ebd. (Hervorhebung A.G.-T.). Zur Unterscheidung von Einzeltext- und Systemreferenz vgl. auch Manfred Pfister: „Zur Systemreferenz“, in: Ulrich Broich/Manfred Pfister: Intertextualität, S. 52– 58. Pfister betont hier, dass die Systemreferenz „im Gegensatz zur völlig entgrenzten Konzeption von Intertextualität [ ] auf sprachliche oder versprachlichte Systeme“ (S. 53) eingeschränkt sei. Diese Binnendifferenzierung ist im obigen Zitat mit der Rede von „noch abstrakter definierte[n] textkonstituierenden Systemen“ nicht vorgenommen. Für den Zusammenhang der vorliegenden Arbeit wichtig ist auch der Hinweis Pfisters, dass ein Beispiel für Systemreferenz die Bezugnahme auf „eine historisch-spezifische Ausformung [von] [...] Diskurstypen, hinter denen immer auch bestimmte Sinnsysteme stehen“, sei. Als Beispiel nennt er hier u.a. den religiösen, philosophischen oder wissenschaftlichen Diskurs. In einem solchen „Aufgreifen nichtliterarischer, dem gesellschaftlichen Leben unmittelbar verhafteter Sprach- und Textformen“ liegt, wie bereits erwähnt, die Besonderheit der Maria Magdalena-Figuren, wie sie von Autoren der literarischen Lebensreform in ihren Texten entworfen werden (vgl. hierzu Kap. 7).

30

Theoretische Grundlegung der Studie

die Verwendung von Majuskeln bei der Beschreibung der Schwangerschaftstreifen der Mischgestalt aus Maria Magdalena und Muttergottes in Dehmels „Venus Consolatrix“, die in Bezug zu den Stigmata Jesu gesetzt werden: „[...] komm, stehe auf, und sieh auch Meine Wunden,/und lerne dich erlösen und gesunden!“ (siehe unten, Kap. 6.3.4).

2.5 Textkorpus Der Fokus der vorliegenden Studie liegt auf der Untersuchung der Figur der Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform. In einem kurzen Vorspann zum Analyseteil der Arbeit werden weitere Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur der Jahrhundertwende vorgestellt, wie z.B. Paul Heyses Drama Maria von Magdala oder Marie Madeleines Gedichtzyklus „Meinem Dämon“. Die Spezifik der Darstellung Maria Magdalenas bei den Autoren der literarischen Lebensreform tritt so noch deutlicher hervor. Kriterium für die Aufnahme der Texte in das Korpus der Arbeit war die Konzeption Maria Magdalenas bzw. einer weiblichen Figur, die Züge dieser „reizvollen Sünderin“ trägt, als Protagonistin. Des Weiteren finden sich im Korpus nur solche Texte, die die zeittypische aktualisierende Tendenz der Darstellung aufweisen, die also den traditionellen Magdalenenstoff rezipieren, um ihn mit zeitgenössischen Wissenselementen zu verknüpfen und so ‚moderne‘ Maria Magdalena-Figuren zu entwerfen. Folgende Prosatexte wurden in das Korpus aufgenommen: Johannes Schlafs biblische Erzählung „Jesus und Mirjam“ (1901) sowie Felix Hollaenders Roman Magdalene Dornis (1896). Die Auswahl von lyrischen Texten der Jahrhundertwende umfasst Richard Dehmels Gedicht „Venus Consolatrix“ (1896), Otto Erich Hartlebens „Der Magdalenenwein“ (1895), Hans Benzmanns „Die heilige Magdalene“ (1894) sowie Rilkes „Pietà“ (1906). Um die in den genannten Texten nachgewiesenen Elemente des Magdalenenstoffs identifizieren und angemessenen in den kulturellen Kontext einordnen zu können, wird im folgenden Kapitel auf die Entstehung der Mischgestalt Maria Magdalena eingegangen.

3

Frauenfiguren aus Neuem Testament und Legende und ihr Einfluss auf die Konstruktion der Mischgestalt Maria Magdalena

Das Bild der Maria Magdalena, wie es in abendländischer Kunst und Literatur entwickelt wurde, setzt sich aus Charakteristika verschiedener Frauenfiguren aus Neuem Testament und Legende zusammen. So werden z.B. Eigenschaften der biblischen Frauen Maria von Magdala, Maria von Bethanien und der der Legende1 entstammenden Heiligen Maria Aegyptica bei der Konstruktion der Figur der Maria Magdalena zusammengefasst. Die Identifizierung Marias von Magdala, Marias von Bethanien und der namenlosen Sünderin aus dem Lukas-Evangelium setzt in der lateinischen Kirche bereits mit den Magdalenenhomilien Gregors I. (Pontifikat 590–604) ein. Die Einheit der drei biblischen Frauen wird erst seit dem späten Mittelalter infolge des durch Jacques Lefèvre ausgelösten exegetischen Streits angezweifelt.2 Wie groß der Einfluss dieses Einheitsbilds auf die spätere Darstellung der Heiligen Maria Magdalena gewesen ist, verdeutlicht ein Zitat Hans Hansels:

1

2

Auf die v.a. in Südfrankreich verbreitete Legende über das nachbiblische Leben Maria Magdalenas wird wegen deren geringer Bedeutung für die Darstellung der Heiligen in der deutschsprachigen Literatur in der vorliegenden Studie nicht detailliert eingegangen, sondern es werden nur einzelne in bildender Kunst und Literatur adaptierte Aspekte genannt. Zur südfranzösischen Maria Magdalena-Legende vgl. Simone Schimpf: Profanierung einer Heiligen. Maria Magdalena in der französischen Kunst des 19. Jahrhunderts. Berlin 2007, S. 39–58; Susan Haskins: Mary Magdalen. Myth and Metaphor. London 2005, S. 98–133. Auch auf die Charakterisierung Maria Magdalenas in apokryphen Texten wird wegen ihrer geringen Signifikanz für die Entwicklung des Magdalenenstoffs nur am Rand eingegangen. Vgl. hierzu Judith Hartenstein: Charakterisierung im Dialog. Maria Magdalena, Petrus, Thomas und die Mutter Jesu im Johannesevangelium im Kontext anderer frühchristlicher Darstellungen. Göttingen 2007, S. 117–156; Judith Hartenstein: „Maria Magdalena in apokryphen Evangelien“, in: Bibel und Kirche 55, 2 (2000), S. 188–191; Silke Petersen: „Zerstört die Werke der Weiblichkeit!“ Maria Magdalena, Salome und andere Jüngerinnen Jesu in christlich-gnostischen Schriften. Leiden 1999, S. 94–194. Vgl. Hans Hansel: Die Maria-Magdalena-Legende. Eine Quellenuntersuchung. Bottrop i.W. 1937, S. 50 f.; Lexikon der Namen und Heiligen. Hrsg. v. Otto Wimmer und Hartmann Melzer. 4., neubearb. und wesentl. erw. Aufl. Innsbruck, Wien, München 1982, S. 553. Zur Kritik der Feministischen Theologie am Fortleben der Mischgestalt bzw. an der Identifikation Marias von Magdala als Sünderin auch in der Theologie vgl. Elisabeth Moltmann-Wendel: „Maria Magdalena. Tradition“, in: Wörterbuch der Feministischen Theologie, S. 402f., hier S. 403.

Frauenfiguren aus Neuem Testament und Legende

32

Ueberall, nicht nur in Legende und Dichtung, auch in Kult, Kunst und Volkstum herrscht die Vorstellung von Maria Magdalena als jener Idealgestalt, die die Reue der Sünderin, den Eifer der Maria von Bethanien und die Liebe der Maria von Magdala in sich harmonisch vereinigt.3

Im Folgenden sollen die drei genannten Frauen aus dem Neuen Testament sowie die Heilige Maria Aegyptica kurz charakterisiert werden, um so nachvollziehen zu können, welche Aspekte der jeweiligen Frau bei der Konstruktion der Figur der Maria Magdalena besonders einflussreich gewesen sind.

3.1 Maria von Magdala Maria von Magdala wird im Neuen Testament namentlich nur an wenigen Stellen erwähnt: So wird sie etwa in Lk 8,2 im Zuge der Aufzählung der Jüngerinnen Jesu als „Maria, genannt Magdalena, von der sieben böse Geister ausgefahren waren“,4 eingeführt. In Joh 19,25 erscheint sie als eine der Frauen am Kreuz, während sie an anderen Stellen des Neuen Testaments zusammen mit weiteren Frauen aus dem Gefolge Jesu die Kreuzigung aus der Ferne beobachtet.5 In Mt 28,1, Mk 16,1–8 und Joh 20,11– 18 findet Maria von Magdala als Zeugin der Auferstehung Erwähnung. Besonders bedeutsam für die literarische Verarbeitung des Magdalenenstoffs ist die „Noli-metangere“-Szene, also die Begegnung Marias von Magdala mit dem Auferstandenen. Die „Noli-me-tangere“-Szene wird in Joh 20,14–18 ausführlich geschildert. Bei den Synoptikern hingegen wird entweder nur kurz von der Begegnung berichtet oder sie bleibt gänzlich ausgespart (so im Lukas-Evangelium). Ein weiterer Unterschied zwischen der erwähnten Stelle im Johannes-Evangelium und den synoptischen Texten liegt darin, dass in Joh 20,14–18 allein Maria von Magdala der Auferstandene erscheint und Jesus mit ihr in einen Dialog tritt. Nachdem die Weinende den Auferstandenen zunächst für einen Gärtner hält und um Auskunft über den Verbleib des Leichnams Jesu bittet (Joh 20,15), spricht Jesus sie mit ihrem Namen an, woraufhin Maria von Magdala das hebräische Wort „Rabboni“ (Meister) exklamiert (Joh 20,16). Jesus antwortet ihr mit den Worten: „Rühre mich nicht an! Denn ich bin noch nicht aufgefahren zum Vater. Geh aber hin zu meinen Brüdern und sage ihnen: ich fahre auf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott.“6 3

4 5 6

Hans Hansel: Die Maria-Magdalena-Legende, S. 51. Zur „Hartnäckigkeit des traditionellen Magdalenenbildes“ vgl. Franz W. Niehl: „Einem Mythos auf der Spur – Didaktische Wege zu Maria Magdalena“, in: Bibel und Kirche 55, 2 (2000), S. 212–216, hier S. 215. Vgl. hierzu auch Rita Burrichters Hinweis auf die kulturelle Verbindlichkeit des in der bildenden Kunst ausgeprägten Maria Magdalena-Bildes (Rita Burrichter: „Erkenntnis und Hingabe – Maria Magdalena in der bildenden Kunst“, in: Bibel und Kirche 55, 2 (2000), S. 178–186, S. 178). LB, Lk 8,2, S. 81. Vgl. ebd., Mt 27,55–28,10, Mk 15,40–16,11, Lk 23,49–24,11 und Joh 19,25–20,18. LB, Joh 20,17, S. 138.

Maria von Magdala

33

Daraufhin eilt Maria von Magdala zu den Jüngern und berichtet ihnen von der Auferstehung Jesu. Die Worte „Noli me tangere!“, hier mit „Rühre mich nicht an!“ übersetzt, gaben Anlass für eine Vielzahl theologischer Interpretationen und haben das für die Entwicklung des Magdalenenstoffs einflussreiche Bild von Maria Magdalena als Liebender, die den begehrten Jesus halten will, geprägt.7 Nicht nur die Intimität der Szene,8 sondern auch Parallelen in der Anlage zum antiken Liebesroman, haben, ebenso wie die typologische Auslegung des Hohelieds Salomos bzw. die Identifikation der „dulcis amica dei“9 und des Auferstandenen als sponsa und sponsus des Hohelieds (siehe unten, S. 56), die Vorstellung von Maria Magdalena als Geliebter Jesu geprägt.10 In der von Hippolyth von Rom geprägten Bezeichnung apostola apostolorum für die Heilige Maria Magdalena spiegelt sich die herausragende Rolle Marias von Magdala als Zeugin und Verkünderin der Auferstehung wider. Betrachtet man allerdings die Darstellung der Heiligen Maria Magdalena in nichtbiblischen Texten bzw. in Legende sowie in Literatur und Kunst, so fällt auf, dass hier wesentlich andere Aspekte als die heilsgeschichtliche Bedeutung Marias von Magdala als Zeugin und Verkünderin der Auferstehung Jesu und ihre Rolle als eine der Trauernden hervorgehoben werden: Aus den biblischen Figuren Maria von Magdala, der namenlosen Sünderin und Maria von Bethanien sowie verschiedentlich auch weiteren Frauenfiguren der Legende wird die Mischgestalt Maria Magdalena konstruiert, der eine sündige Vergangenheit zugeschrieben wird.

7

8 9 10

Hansel gibt als Beispiele u.a. die Auffassungen J.E. Belsers und K. Kastners wieder. Während Kastner in den Worten Jesu ein Abwehren des Versuchs Marias von Magdala, mit Jesus zu kommunizieren, sieht, dient laut Belser das Berührungsverbot dazu, Maria von Magdala „nicht sinnlich zu erregen“, vgl. Hans Hansel: Die Maria-Magdalena-Legende, S. 46 f. Susan Haskins verweist darauf, dass die der lateinischen Übersetzung entsprechenden griechischen Worte „me mou aptou“ eher im Sinne von „do not seek to hold onto, cling to, or embrace me“ zu verstehen seien. Dieser Auslegung entsprechend können die Worte Jesu als Hinweis darauf, dass der Auferstandene nicht mehr Teil der irdischen Welt und somit für Maria von Magdala ‚unerreichbar‘ ist, gedeutet werden (Susan Haskins: Mary Magdalen, S. 10). Dem entspricht auch die Einschätzung Regina Radlbeck-Ossmanns: „Das μή μον άπτυ, zu übersetzen mit „Halt mich nicht fest!“, betont, dass Jesus auf neue Weise lebt.“ (Regina Radlbeck-Osmann: „Maria Magdalena“, in: Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 6. Hrsg. v. Walter Kasper. Freiburg i. B., Basel, Rom, Wien 1997, S. 1340) (Hervorhebung im Original). Vgl. hierzu auch Kap. 4 und 5 der vorliegenden Studie. So wird Maria Magdalena von Petrarca bezeichnet. Zu Petrarcas Besuchen der Pilgerstätte Maria Magdalenas in Sainte Baume vgl. Susan Haskins: Mary Magdalen, S. 192f. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Darstellung Maria Magdalenas im apokryphen Philippusevangelium, wo sie als besonders geliebte Jüngerin, die von Jesus auf den Mund geküsst wird, erscheint (vgl. Judith Hartenstein: „Maria Magdalena in apokryphen Evangelien“, S. 190).

34

Frauenfiguren aus Neuem Testament und Legende

3.2 Die namenlose Sünderin Besonders einflussreich bei der Konstruktion des Bildes von der reuigen Sünderin Maria Magdalena ist die Identifikation Marias von Magdala mit der namenlosen Sünderin aus dem Lukas-Evangelium. Diese kommt in das Haus des Pharisäers Simon, wo sie Jesu Füße mit Tränen benetzt, mit ihren Haaren trocknet und sie anschließend mit kostbarem Öl salbt. Daraufhin vergibt Jesus ihr ihre Schuld („Ihre vielen Sünden sind ihr vergeben, denn sie hat viel Liebe gezeigt; wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig.“). Hansel legt in seiner Untersuchung die Vermutung nahe, dass die Zusammenziehung der beiden Frauen aufgrund der Nähe der erwähnten Salbungsszene zu jener Stelle im Lukas-Evangelium, in der Marias von Magdala Herkunft und ihre Besessenheit von Dämonen erwähnt werden (Lk 8,2), vorgenommen worden ist.11 Die Befreiung Marias von Magdala von „sieben böse[n] Geister[n]“ wurde so als eine „Befreiung von Leidenschaft und Sünde“12 interpretiert. Interessant ist hier, dass eine Gleichsetzung von Besessenheit und sexueller Sünde in biblischen Darstellungen männlicher Besessener nicht vorgenommen wird. In diesen Fällen wird die Besessenheit als schwere körperliche oder geistige Krankheit interpretiert.13 Die nicht spezifizierte Bezeichnung der namenlosen Frau als „Sünderin“ hat zu verschiedenartigen literarischen Verarbeitungen des Magdalenenstoffs geführt. So wird Maria Magdalena mitunter als Verführte, als Ehebrecherin oder als Prostituierte konzipiert. In der Dichtung des Mittelalters etwa erscheint sie im Allgemeinen als „gewöhnliche Dirne“.14 Dass die Identifikation Marias von Magdala mit der namenlosen Sünderin das Bild Maria Magdalenas als reuige Sünderin stark geprägt hat, zeigt die häufige Darstellung der Figur zu Füßen Jesu sowie die ikonographische Verwendung des Salbgefäßes als Attribut der Heiligen Maria Magdalena in bildender Kunst und Literatur. Der Aspekt der Reue, der durch die namenlose Sünderin im Bild der Mischgestalt Maria Magdalena repräsentiert ist, spiegelt sich auch in der Benennung der seit dem 13. Jahrhundert in Deutschland gegründeten „Maria Magdalena-Orden“ für „büßende und bekehrte Frauen“ bzw. den „Magdalen asylums“ und „Magdalen-houses“ in Großbritannien wider.15 11 12 13 14 15

Hans Hansel: Die Maria-Magdalena-Legende, S. 41. Ebd. Zur Kritik an der Engführung von Sünde und Sexualität, die auf die Figur der Maria Magdalena projiziert wurde, vgl. Elisabeth Moltmann-Wendel: „Maria Magdalena. Tradition“, S. 402. Vgl. Susan Haskins: Mary Magdalen, S. 14: „There is, after all, no implication in the story of the man possessed by devils that his ‚unclean spirit‘ is sexual.“ (Hervorhebung im Original). Hans Hansel: Die Maria-Magdalena-Legende, S. 25. Vgl. Marga Anstett-Janssen: „Maria Magdalena“, in: Lexikon der christlichen Ikonographie. Bd. 7. Ikonographie der Heiligen. Innozenz bis Melchisedech. Hrsg. v. Wolfgang Braunfels. Rom, Freiburg i.B., Basel, Wien 1974, Sp. 516–541, hier Sp. 518. Zu den Magdalen-houses vgl. Haskins: Mary Magdalen, S. 309–315. Zu den Magdalenenhäusern in Frankreich und Großbritannien vgl.

Maria von Bethanien

35

3.3 Maria von Bethanien In Joh 12,3 wird die Salbung der Füße Jesu durch Maria von Bethanien im Hause ihres Bruders Lazarus beschrieben. Der Kritik Judas’ an ihrem verschwenderischem Umgang mit dem kostbaren Salböl begegnet Jesus mit den Worten: „Lass sie in Ruhe! Es soll gelten für den Tag meines Begräbnisses.“16 In den korrespondierenden Bibelstellen Mt 26,6–13 und Mt 14,3–9 findet sich ebenfalls dieser Verweis auf die nahende Passion Jesu, im Unterschied zu Joh 12,3 werden hier statt der Füße der Kopf Jesu gesalbt und der Name der Salbenden bleibt ungenannt. Ein weiterer wesentlicher Unterschied findet sich in dem Hinweis auf die heilsgeschichtliche Bedeutung der Frau („Wahrlich, ich sage Euch: Wo dies Evangelium gepredigt wird in der ganzen Welt, da wird man auch sagen zu ihrem Gedächtnis, was sie getan hat.“).17 Dieser Verweis auf die heilsgeschichtliche Bedeutung der Salbenden sowie die inhaltliche Nähe und die Parallelen in der szenischen Anlage, die die drei erwähnten Bibelstellen zur Salbungsszene im Hause Simons aufweisen, erklären die Gleichsetzung der salbenden Frauen, also Maria von Bethanien und die namentlich nicht genannten Frauenfiguren aus Mt 26,6–13 und Mk 14,3–9, mit der namenlosen Sünderin des Lukas-Evangeliums und Maria von Magdala. Die in den zitierten Textstellen der Evangelien zum Ausdruck kommende bedeutende Rolle der Maria von Bethanien für die christliche Lehre korrespondiert mit dem besonderen Status Marias von Magdala als Zeugin der Auferstehung und erster Verkünderin des Evangeliums. Die gelegentlich in Kunst und Literatur zu findende Darstellung Maria Magdalenas als Verkörperung der vita contemplativa erklärt sich aus der Übertragung von Eigenschaften Marias von Bethanien auf diese Mischgestalt, wie sie ihr im so genannten Maria- und Marta-Idyll (Lk 10,38–42) zugeschrieben werden. Marta, die dem Gast Jesus aufwartet, beschwert sich bei diesem über das Verhalten ihrer Schwester Maria, die, anstatt Marta zu helfen, zu Füßen Jesu seiner Lehre lauscht: „Herr, fragst du nicht danach, daß mich meine Schwester lässt alleine dienen? Sage ihr doch, dass sie mir helfen soll!“18 Jesus verteidigt hierauf die kontemplative Haltung

16 17 18

auch Simone Schimpf: Profanierung einer Heiligen, S. 140. Der körperliche, mitunter auch sexuelle Missbrauch in den sogenannten Magdalen Laundries in Irland wurde in den 1990er Jahren aufgedeckt, die öffentliche Diskussion hat einige künstlerische Verarbeitungen angeregt, u.a. Joni Mitchells Song The Magdalene Laundries (1994) und Peter Mullans Film The Magdalene Sisters (2002). Die Lyrikerin Rachel Dilworth thematisiert die Lebenswelt der Insassinnen der irischen Magdalenenheime in ihrem Gedichtband The Wild Rose Asylum. Poems of the Magdalen Laundries in Ireland (2010), wobei ihr z.T. Dokumente und Lebensläufe aus den Einrichtungen als Prätexte dienen. LB, Joh 12,7, S.127. Ebd., Mt 26,13, S. 37. Vgl. auch ebd., Mk 14,9, S. 63. Ebd., Lk 10,40, S. 87.

Frauenfiguren aus Neuem Testament und Legende

36

Marias, die als „fromme Zuhörerin Christi“19 erscheint: „Der Herr aber antwortete und sprach zu ihr: ‚Marta, Marta, du hast viel Sorge und Mühe. Eins aber ist not. Maria hat das gute Teil erwählt, das soll nicht von ihr genommen werden.‘“20 Marias Verhalten steht hier also symbolisch für die vita contemplativa, während ihre Schwester Marta die vita activa versinnbildlicht.21

3.4 Maria Aegyptica Auch die Übertragung von Aspekten der Vita der Heiligen Maria Aegyptica auf die Figur der Maria Magdalena lässt sich u.a. durch das Moment der christlichen Kontemplation erklären, welche ein wichtiges Element der beiden Frauenfiguren darstellt. Maria Aegyptica soll der Legende nach für ihre sündige Vergangenheit durch 47 Jahre lange Einsiedelei in der Wüste östlich des Jordans Buße getan haben.22 Das Moment der Kontemplation kommt hier also durch die absolute Weltabkehr, die das Wüstenleben der Maria Aegyptica darstellt, zum Ausdruck. Die Parallelisierung der legendären Viten der beiden Heiligen Maria Aegyptica und Maria Magdalena, die im 10. Jahrhundert in Italien einsetzt,23 erklärt sich aus der Ähnlichkeit des Vorlebens der beiden Frauenfiguren (sündige Vergangenheit) sowie, wie auch im Falle Marias von Bethanien, durch die Namensgleichheit. In der bildenden Kunst zeigt sich die Identifikation der beiden Heiligen u.a. in der Übertragung der darstellerisch wohl interessantesten Eigenschaft der Anachoretin Maria Aegyptica auf Maria Magdalena, nämlich ihr ‚Bekleidetsein‘ mit dem eigenen langen Haar. Der Einfluss, den die Übertragung von Aspekten der Vita der Maria Aegyptica auf die Konstruktion der Mischgestalt Maria Magdalena hatte, wird besonders anhand eines der wichtigsten Aspekte dieser Figur deutlich, nämlich ihrer Rolle als Büßerin. Laut Hansel tritt das Buß-Motiv, das besonders in der Kunst des Barock zum beliebten Bildthema bei der Darstellung Maria Magdalenas wird, erst mit der Identifikation Maria Aegypticas mit Maria Magdalena als ein wichtiges Element dieser Frauenfigur hinzu. So schreibt Hansel mit Bezug auf die Wandlung der „Buhlerin“ Maria Magdalena zur „Büßerin“:

19 20 21

22 23

Elisabeth Frenzel: Stoffe der Weltliteratur: Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. 10., überarb. und erw. Aufl. Stuttgart 2005, S. 577. LB, Lk 1,41–42, S. 87. Der Einfluss dieser Lesart des Maria- und Marta-Idylls auf bildende Kunst und Literatur zeigt sich an der Darstellung Maria Magdalenas als kontemplativ Lesende und an der Beigabe eines Buches als ein weiteres ihrer Attribute (siehe unten, S. 42). Zur Darstellung Maria Magdalenas als Lesende vgl. Simone Schimpf: Profanierung einer Heiligen, S. 131–135. Mitunter erscheint Maria Aegyptica als ehemalige Prostituierte in Alexandrien (vgl. Magda Motté: Esthers Tränen, Judiths Tapferkeit, S. 233). Vgl. Hans Hansel: Die Maria-Magdalena-Legende, S. 128.

Maria Aegyptica

37

Während das Neue Testament wohl die Reue der Sünderin und die Treue und den Eifer der Jüngerin bekundet, kommt erst in der Legende die Vorstellung von der Büßerin auf, indem die Geschichte eines dreißigjährigen Büßerlebens aus der Legende der Maria Aegyptiaca entlehnt wird.24

Auch Haskins geht auf die Übertragung des Büßerlebens der Maria Aegyptica auf die Vita Maria Magdalenas ein, wenn sie die im 9. Jahrhundert noch vorherrschende Vorstellung von der Anachoretin Maria Magdalena als (mit mehr als ihrem eigenen Haar bekleidet) in einer Höhle lebend beschreibt, deren Motive für das einsiedlerische Leben nicht so sehr „penitence“, sondern vielmehr „sorrow, contemplation and love“ gewesen seien: „It was no doubt the similarity of their names, and their early life of sin which led hagiographers to assume that the expiation of their dissoluteness would also be analogous.“25

24 25

Ebd., S. 53 (Hervorhebung durch Sperrung im Original). Susan Haskins: Mary Magdalen, S. 111.

4

Exkurs: Darstellungen Maria Magdalenas in der bildenden Kunst

Da sich literarische Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur im Allgemeinen durch eine deutliche intermediale Bezugnahme auf die Darstellung der Heiligen in der bildenden Kunst auszeichnen, möchte ich im Folgenden zunächst einen kurzen Exkurs zu dieser bildkünstlerischen Tradition geben, bevor ich auf die literarischen Verarbeitungen des Magdalenenstoffs eingehe. Hierbei werde ich mich auf Kunstwerke vom Mittelalter bis zur Jahrhundertwende um 1900 konzentrieren.

4.1 Maria Magdalena in der bildenden Kunst des Mittelalters Da Maria Magdalena zu dem engen Personenkreis um Jesus zählt, findet sich diese Figur in zahlreichen Darstellungen der christlichen Kunst. Beispiele hierfür sind etwa Kreuzigungsszenen oder die Darstellung Maria Magdalenas als eine der Myrrhophoren, die am Ostermorgen das Grab Jesu aufsuchen. Seit dem 12. Jahrhundert finden sich auch Einzeldarstellungen Maria Magdalenas, welche aus dem Kontext der Vita Jesu herausgelöst sind1 und die in zwei Grundtypen unterschieden werden können. Dies sind zum Einen die „Gewandfigur der biblisch exegetischen Vita“ Maria Magdalenas und zum Anderen die „Büßerin und Eremitin der Legende“.2 Eine interessante Kombination beider Typen stellt die Magdalenentafel eines italienischen Meisters aus dem 13. Jahrhundert dar (Abb. 1). Hier wird die Darstellung Maria Magdalenas als haarummantelte Büßerin, die sich entlang der vertikalen Bildachse erstreckt, von acht Szenen ihrer Vita, die aus den biblischen Texten und der Legende konstruiert wird, umrahmt. So werden die Fußsalbung im Hause Simons, die Auferweckung des Lazarus, die „Noli-me-tangere“-Szene, Maria Magdalenas Verkündigung der Auferstehung, die elevatio der Ekstatikerin, die himmlische Speisung der Büßerin durch einen Engel, das Empfangen der letzten Kommunion und die Grablegung Maria Magdalenas dargestellt.3 1 2 3

Vgl. Marga Anstett-Janssen: „Maria Magdalena“, Sp. 517. Ebd., Sp. 518. Zu den genannten Elementen der Maria Magdalena-Legende vgl. Simone Schimpf: Profanierung einer Heiligen, S. 33 und 233.

Maria Magdalena in der bildenden Kunst des Mittelalters

39

Die Bußinschrift „NE DESPERETIS VOS QUI PECCARE SOLETIS. EXEMPLO QUE MEO. VOS REPARATE DEO“, die sich auf der Schriftrolle, die die Heilige in ihrer linken Hand hält, findet, verweist zudem auf ihre Funktion als Sünderheilige und Vorbild für den Betenden, der auf die Gnade Gottes hofft.

Abb. 1: Meister der Magdalena: „Maria Magdalena mit acht Szenen aus ihrer Vita“

Die im Lukasevangelium geschilderte Begegnung zwischen Jesus und der Salbenden wird häufig in der bildenden Kunst des Mittelalters dargestellt, so etwa in einer Szene des Magdalenenaltars von Lukas Moser aus dem Jahr 1431. Maria Magdalena wird hier als blonde Frau in einem roten Gewand zu Füßen Jesu dargestellt. Während Maria Magdalena sich in der Mitte des unteren Bildrandes befindet, ist am rechten Bildrand eine weitere Frauenfigur dargestellt, die den am Tisch sitzenden Männern, von denen Jesus am linken Bildrand zu sehen ist, aufwartet. Hans H. Hofstätter identifiziert diese

40

Exkurs: Darstellungen Maria Magdalenas in der bildenden Kunst

Frau als die „tätige Marta“.4 Moser verbindet also die Salbungsszene aus dem LukasEvangelium mit dem sogenannten Maria- und Marta-Idyll. Für die Verarbeitung des Letzteren in der bildenden Kunst gilt, dass die „Christus Nähere [...] stets als Maria Magdalena zu identifizieren“5 ist. Dies trifft auf Mosers Altarbild zu, da Maria Magdalena sich hier direkt zu Füßen Jesu befindet, während Marta durch ihre Position am rechten Bildrand als diesem entgegengesetzt dargestellt ist. Durch die Zusammenziehung der beiden Szenen der Vita Maria Magdalenas gelingt es Moser somit, in der salbenden Frau sowohl die Reue und Demut der namenlosen Sünderin aus dem LukasEvangelium als auch die vita contemplativa Marias von Bethanien, die in Kontrast zur vita activa Martas steht, zu versinnbildlichen. Der zweite Typus der bildlichen Darstellung Maria Magdalenas als „Haartrachtbüßerin“6 findet sich seit dem 13. Jahrhundert in der christlichen Kunst und geht auf die Identifikation Maria Magdalenas mit Maria Aegyptica zurück, deren nackter Körper ebenfalls nur von ihrem eigenen Haar bedeckt ist. Als Variation dieses Typus gilt die Darstellung Maria Magdalenas als mit Tierfellen oder Leinen bekleidet, die an die Darstellung anderer christlicher Einsiedler angelehnt ist.7 Im 15. Jahrhundert lässt sich in der deutschen Kunst eine Betonung des Körpers der Heiligen feststellen, so etwa in Tilman Riemenschneiders Darstellung der Erhebung der heiligen Magdalena durch Engel (um 1490). Hier ist Maria Magdalenas Körper nicht mehr durch ihr Haupthaar verhüllt, sondern ihr Körper selbst, mit Ausnahme der Knie und Brüste, ist behaart. Die im späten 15. Jahrhundert einsetzende Darstellung des unverhüllten Körpers Maria Magdalenas zeitigt „die entscheidende Veränderung des Typus“8 und bereitet ihre Darstellung als nackte oder halbnackte Büßerin vor, wie sie sich v.a. in der Kunst des Barock findet. Ist die Nacktheit der Anachoretin Maria Magdalena laut Haskins zwar als Form der nuditas naturalis und somit als Zeichen der wiedererlangten Unschuld durch Buße und als Versinnbildlichung ihres asketischen Lebens interpretierbar,9 so wecke die Darstellung der nackten Maria Magdalena wie auch Maria Aegypticas aufgrund der sündigen Vergangenheit der beiden Frauen Assoziationen der „nuditas criminalis, the sin of lust“.10 Haskins’ Einschätzung wird noch durch die Tatsache 4

5 6 7 8

9 10

Hans H. Hofstätter: „Darstellungen der Maria Magdalena in der Bildenden Kunst“, in: Maria Magdalena – Zu einem Bild der Frau in der christlichen Verkündigung. Hrsg. v. Dietmar Bader. München, Zürich 1990, S. 72–84, hier S. 74. Marga Anstett-Janssen: „Maria Magdalena“, Sp. 534. Ebd., Sp. 521. Vgl. Susan Haskins: Mary Magdalen, S. 229f. Marga Anstett-Janssen: „Maria Magdalena“, Sp. 520. Vgl. zur „Neuformulierung des Bildes der nackten Sünderin“ als Büßende in der Kunst der italienischen Renaissance, bei der die Ikonografie der Heiligen an die bildkünstlerische Darstellung von Kurtisanen angeglichen wird, Monika Ingenhoff-Danhäuser: Maria Magdalena. Heilige und Sünderin in der italienischen Renaissance. Studien zur Ikonographie der Heiligen von Leonardo bis Tizian. Tübingen 1984, S. 39. Vgl. Susan Haskins: Mary Magdalen, S. 230f. Ebd., S. 232 (Hervorhebung im Original).

Maria Magdalena in der bildenden Kunst des 16. und 17. Jahrhunderts

41

bekräftigt, dass Maria Magdalena und Maria Aegyptica die beiden einzigen weiblichen Heiligen sind, die in der bildenden Kunst des Mittelalters unbekleidet dargestellt werden.11

4.2 Maria Magdalena in der bildenden Kunst des 16. und 17. Jahrhunderts In der bildenden Kunst der italienischen Renaissance finden sich einige inhaltliche Neuerungen des Magdalenenstoffs, die auch für die spätere literarische Darstellung der Heiligen von Bedeutung sind. Neben der Annäherung der Magdalenendarstellung an den Typus der Kurtisane,12 der sich auf die traditionelle Vorstellung von Maria Magdalena als Prostituierte und Sünderin zurückführen lässt, ist hier v.a. die Darstellung der Heiligen als „Maenad under the Cross“ zu nennen.13 Edgar Wind und Frederic Antal weisen unter Bezugnahme auf Aby Warburgs Konzept der Pathosformeln nach, dass die Künstler der Renaissance bei Darstellungen von Maria Magdalena als Klagender unter dem Kreuz auf „spätantike[ ], hellenistische[ ] und römische[ ] Darstellungen ekstatisch tanzender Frauen aus dem Gefolge des Dionysos oder Bacchus“14 zurückgreifen. Jürgen Zänker charakterisiert Winds und Antals Befund wie folgt: Die antike Ausdruckgebärde wurde demnach übernommen und auf den neuen Inhalt übertragen, unter Beibehaltung des gänzlich unterschiedlichen Affekts. Aus einer exaltiert tanzenden Bacchantin wurde eine von tiefer Trauer bewegte Klagefigur.15

Diese Aktualisierung der antiken Pathosformeln bei der Darstellung der christlichen Heiligen verweist auf die synkretistische Konstruktion der Mischgestalt Maria Magdalenas und ist insofern im Rahmen der vorliegenden Untersuchung interessant, als sich gerade in Kunst und Literatur der Jahrhundertwende wieder Bezüge zur ekstatischen Liebe der Mänade bei Verarbeitungen des Magdalenenstoffs nachweisen lassen (vgl. hierzu etwa die Ausführungen zu Trakls und Schlafs Verarbeitungen des Magdalenenstoffs, Kap. 6.2.4 und 6.3.6). Von intermedialen Bezugnahmen auf die Kunst der Antike in der Malerei der Renaissance zeugt auch die Annäherung der

11 12 13

14 15

Vgl. ebd., S. 231. Vgl. hierzu Monika Ingenhoff-Danhäuser: Maria Magdalena. Edgar Wind/Frederic Antal: „The Maenad under the Cross. Some Examples of the Role of the Maenad in Florentine Art of the Later Fifteenth and Early Sixteenth Centuries”, in: Journal of the Warburg Institute 1, 1937–38, S. 70–73. Jürgen Zänker: Crucifixae. Frauen am Kreuz. Berlin 1998, S. 13. Ebd., S. 14.

42

Exkurs: Darstellungen Maria Magdalenas in der bildenden Kunst

Ikonografie Maria Magdalenas an Darstellungen der Liebesgöttin Venus,16 die aufgrund der für beide Frauenfiguren typischen Motivkopplung von irdischer und himmlischer Liebe vorgenommen wird (vgl. hierzu auch die Ausführungen zu Tizians Magdalena, siehe unten, S. 43f.). In bildender Kunst und Literatur des 17. Jahrhunderts wird die Heilige Maria Magdalena, deren Weltleben als Kurtisane in der Kunst des Mittelalters und der Renaissance breit ausgeschmückt wird, durch die Fokussierung auf die mit ihrer Rolle als Büßerin verbundenen Motive der Weltabkehr und des kontemplativen Versenkens in ihre Liebe zu Jesus über dessen Tod hinaus zu einem vanitas-Symbol. Die Konzentration auf die Vergänglichkeit und Nichtigkeit des irdischen Lebens, welche das Leben der Anachoretin Maria Magdalena in ihrer Abkehr von der ‚sündigen‘ Liebe hin zur ‚wahren‘ Liebe zu Gott prototypisch darstellt, findet ihren Niederschlag in der barocken Bildsprache. So treten zum Salbgefäß als Hauptattribut der Heiligen die beiden weiteren Attribute des Totenschädels als Symbol der Vergänglichkeit und des Kruzifix’, welches die Liebe zu Jesus und das Versenken in sein Leid symbolisiert.17 Der Wandel des Magdalenenbildes lässt sich auch daran ablesen, dass bereits seit dem 16. Jahrhundert die Darstellung Maria Magdalenas als Büßende in ihrer legendären Grotte oder Höhle oder als Lesende in einer Landschaft liegend populär wird, wobei das Buch als Symbol für die Kontemplation fungiert,18 während im Mittelalter noch die Darstellung der Heiligen als reuige Sünderin in der Salbungsszene des LukasEvangeliums vorherrscht. Aus der Fürbitterin und Repräsentantin der sündigen Menschheit, als die Maria Magdalena im Mittelalter verehrt wird, wird so in Kunst und Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts die schöne Sünderin, die besonders aufgrund ihrer Sinnlichkeit und Erotik interessant wird.19 Rita Burrichter geht auf diesen Wandel in der Ikonografie der Heiligen ein, der bis in die Moderne nachwirkt. In Bezug auf die „individualisierende Darstellungsweise des Hoch- und Spätmittelalters“ schreibt sie: Verstärkt zeigt sich nun ein Interesse an der Ausgestaltung der Ambivalenz der Figur der Maria Magdalena. Narrativ breit wird ihr Weltleben ausgemalt, wobei ihre Umkehr oft nur mehr als anekdotische Zugabe erscheint […]. Größte Wirksamkeit aber erlangen die barocken Bild16

17 18

19

Monika Ingenhoff-Danhäuser geht in ihrer Studie zur Ikonografie Maria Magdalenas in der italienischen Renaissance auf die „typologische Wesensverwandtschaft Magdalena – Venus“ ein, die sie auf die Bedeutung des Liebesmotivs als „Band, das Irdisches und Himmlisches unauflöslich miteinander verbindet“, zurückführt (Monika Ingenhoff-Danhäuser: Maria Magdalena, S. 37). Vgl. Ingrid Maisch: Maria Magdalena, S. 80. Vgl. Susan Haskins: Mary Magdalen, S. 229. Als Prototyp der Darstellung Maria Magdalenas in einer liegenden oder ruhenden Pose gilt Correggios Gemälde der Heiligen aus dem Jahr 1522 (vgl. hierzu Susan Haskins: Mary Magdalen, S. 297–298, 304–308). Maria Magdalena ist hier liegend im Bildvordergrund dargestellt. Ihr Kopf ist auf ihre Arme gestützt, so dass ihre nackten Brüste das vor ihr liegende Buch berühren. Am linken Bildrand ist ihr Hauptattribut, das Salbgefäß, zu sehen. Die Rolle Maria Magdalenas als Sünderheilige findet sich vereinzelt bis ins 18. Jahrhundert, aber ihre Darstellung als „verführerisch schöne Sünderin“ wird vorherrschend, vgl. Ingrid Maisch: Maria Magdalena, S. 72.

Maria Magdalena in der bildenden Kunst des 16. und 17. Jahrhunderts

43

erfindungen des 16. und 17. J[ahr]h[underts]. In ihnen wandelt sich die asketische Büßerin des Spätmittelalters zur reuigen Büßerin, die den Anlass ihrer Sünde, ihren Leib vorführt […], und schließlich zur ekstatischen Büßerin, die selbst schon wieder verführerisch wirkt […]. Das Motiv der Sünde und zwar der sündhaften Sexualität gehörte ja schon mit dem Verschmelzen der biblischen Frauengestalten zur Figur der Maria Magdalena dazu, nun aber, in Barock und Gegenreformation, gewinnt das ambivalente Bild der Büßerin an besonderer Prägekraft. […] Der Typus der barocken Magdalena als verführerische Büßerin wird darüber hinaus geradezu zur Quelle profaner neuzeitlicher und moderner visueller Manifestationen und Imaginationen des Weiblichen – auch da, wo es sich um Gegenaussagen und Gegenentwürfe zu diesem Typus handelt. 20

Auch die Autoren der Korpustexte adaptieren bei ihrer Aktualisierung des Magdalenenstoffs und der Darstellung der Heiligen als sexueller Erlöserin vor dem Hintergrund weltanschaulicher Wissenselemente der Jahrhundertwende dieses wirkmächtige barocke Bild der „liebend-büßende[n] Sünderin“, wobei sie mit ihrem lebensmystischmonistischen Magdalenenbild eine „Gegenaussage“ zur barocken Büßerin liefern (vgl. in diesem Zusammenhang besonders die Ausführungen zu Hartlebens Gedicht „Der Magdalenenwein“ in Kap. 6.3.2). Im Rahmen der barocken Konzeption Maria Magdalenas als Büßerin, die sich in das Leiden Jesu versenkt, erscheint die Heilige häufig als Weinende. Als Inspiration für die zahlreichen Darstellungen der weinenden Maria Magdalena und ihren himmelnden Blick gilt Tizians Gemälde La Maddalena (ca. 1531–35) (Abb. 2).21 Die Heilige ist hier als Halbfigur dargestellt, die mit der linken Hand eine Strähne ihres langen Haares um ihren Körper drapiert, während ihre rechte Hand auf ihrer Brust ruht. Diese Handhaltung liefert ein Beispiel für die seit dem 16. Jahrhundert nachweisbare Beeinflussung von Magdalena-Gemälden durch bildkünstlerische Venusdarstellungen, wobei besonders die für den Typus der Venus Pudica charakteristische Geste der die weibliche Brust und Scham bedeckenden Hand übernommen wird.22 Das lange, blonde Haar der Heiligen, das um ihren Oberkörper gehüllt ist, gibt lediglich den Blick auf ihre Unterarme und Brüste frei. Die geröteten Augen Maria Magdalenas, in denen deutlich erkennbar Tränen stehen, blicken zum rechten oberen Bildrand. Diese diagonale Bildrichtung wird in der Position des rechten Unterarms wieder aufgenommen und deutet auf die Hinwendung zum Himmel und, durch den biblischen und legendären Kontext ergänzbar, zu Gott hin. Der himmelwärts gerichtete Blick der Büßerin sowie die auf ihrem Herzen ruhende Hand veranschaulichen in Tizians Gemälde die 20

21 22

Rita Burrichter: „Erkenntnis und Hingabe“, S. 179 (Hervorhebungen im Original). Zu diesem Wandel in der Ikonografie Maria Magdalenas vgl. folgende Einschätzung Maischs: „Auch die mittelalterliche Magdalena war eine (ehemalige) Sünderin, aber dieser Aspekt ihrer Legende war nur insoweit bedeutsam, als der sündige Mensch durch sie zum Heil geführt wurde. Sie wurde verehrt, weil sie die Sünde überwunden hatte. Jetzt aber [im Barock] wird sie gerade als die reizende, die verführerisch schöne Sünderin interessant. Nicht mehr die Patronin und Fürbitterin ist gefragt, sondern die liebend-büßende Sünderin.“ (Ingrid Maisch: Maria Magdalena, S. 72). Zu Tizians Magdalenagemälde vgl. Susan Haskins: Mary Magdalen, S. 239–245. Vgl. hierzu Monika Ingenhoff-Danhäuser: Maria Magdalena, S. 50.

44

Exkurs: Darstellungen Maria Magdalenas in der bildenden Kunst

Konversion der ehemaligen Sünderin. In der linken unteren Ecke des Bildes befindet sich das Salbgefäß als Attribut der Heiligen. Gilt die Darstellung Maria Magdalenas als nackte oder halbnackte Frau als Symbolisierung ihrer Hinwendung zu Gott,23 so wird in Tizians Gemälde die darüber hinausgehende Betonung ihrer Sinnlichkeit augenfällig. So nimmt die Halbfigur beinahe den gesamten Bildbereich ein und die sinnlichen Formen des Körpers werden durch das wallende Haar, das den Körper umfließt, betont.

Abb. 2: Tizian: La Maddalena

23

Vgl. Susan Haskins: Mary Magdalen, S. 229.

Maria Magdalena in der bildenden Kunst des 16. und 17. Jahrhunderts

45

Eine Darstellung der Heiligen, die der Magdalena Tizians ähnelt, findet sich in Peter Paul Rubens Gemälde „Christus und die reuigen Sünder“ (um 1616). Maria Magdalena, die neben Dismas, König David und Petrus der Gruppe der reuigen Sünder angehört, wird in ihrer Verbeugung vor Jesus dargestellt. Ihr flatterndes Gewand, das den Blick auf ihre Schultern und ihren rechten Oberschenkel freigibt, wird von Maria Magdalena durch die vor der Brust verschränkten Arme festgehalten, die gleichzeitig ihre Brüste verdecken. Hierbei sind allerdings Mittel- und Zeigefinger der linken Hand gespreizt, so dass die rechte Brustwarze der Heiligen sichtbar wird. Durch dieses Detail sowie durch die langen, blonden, flutenden Haare und das üppige Gewand betont Rubens wiederum Körperlichkeit und Erotik der Heiligen und weckt beim Betrachter Assoziationen an die Vergangenheit der ehemaligen Sünderin. Maria Magdalena erscheint hier also, wie auch bei Tizian, als „betörend schöne, halbnackte Frau“.24 Während die drei männlichen Personen im Hintergrund des Bildes kaum beleuchtet sind, fällt das Licht auf die am linken, unteren Bildrand positionierte Maria Magdalena und Jesus, der am rechten Bildrand abgebildet ist. Durch die Helligkeit der beiden Figuren wird somit die besondere Verbundenheit zwischen Maria Magdalena und Jesus betont. Während bei Tizian der zum Himmel gerichtete Blick der büßenden Maria Magdalena auf der die Bildkomposition bestimmenden Diagonale von links unten nach rechts oben liegt und auf die Hinwendung zu Gott verweist, findet sich diese Diagonale bei Rubens in der Verbindung der sich verbeugenden Maria Magdalena und dem stehenden Jesus. Der Endpunkt der Diagonalen ist das nimbierte Haupt Jesu, das im Gemälde dessen Göttlichkeit versinnbildlicht. Neben der im Barock beliebten Darstellung Maria Magdalenas in einer Gruppe reuiger Sünder und der Darstellung der Heiligen in ihrer Buße tritt als ein weiteres Bildthema die Bekehrung der ehemaligen Sünderin hinzu.25 So wird Maria Magdalena in Caravaggios Gemälde „Die Bekehrung der Magdalena“ (um 1600) gemeinsam mit ihrer Schwester Marta, welche als Mahnerin fungiert, dargestellt. Maria Magdalena, die sich Marta gegenüber auf der rechten Bildseite befindet und diese ansieht, hält in der rechten Hand vor ihrer Brust eine Blüte, während die Finger ihrer linken Hand auf eine Lichtreflexion des Spiegels zeigen, auf dem ihr Arm ruht. Auf dem Tisch im Bildvordergrund befinden sich eine Puderdose mit einem Schwamm sowie ein beschädigter Kamm. Diese Gegenstände fungieren als Sinnbilder der vanitas und verweisen zugleich auf die der schönen Sünderin Maria Magdalena traditionell zugeschriebene Eitelkeit.26 Der Spiegel, der sich häufig in bildlichen Darstellungen der Heiligen in der Kunst des Barock findet, steht ebenfalls für die Eitelkeit, ist aber auch Symbol der Wahrheit.27 Dass der Spiegel in Caravaggios Gemälde als Letzteres interpretierbar ist, wird durch das Zeigen Maria Magdalenas auf die Lichtreflexion 24 25 26 27

Marga Anstett-Janssen: „Maria Magdalena“, Sp. 526. Vgl. hierzu Susan Haskins: Mary Magdalen, S. 257. Vgl. ebd., S. 258. Vgl. ebd.

46

Exkurs: Darstellungen Maria Magdalenas in der bildenden Kunst

plausibel, das hier den Moment ihrer Bekehrung versinnbildlicht.28 Hierfür spricht auch Caravaggios Lichtführung, die Maria Magdalena durch Helligkeit hervorhebt, während das Gesicht und der Körper Martas beinahe vollständig in Schatten gesetzt sind. Die Blüte, die Maria Magdalena in ihrer rechten Hand hält, kann in der Ikonografie der Heiligen als Zeichen der „Vanitas oder himmlischer Auszeichnung“29 fungieren. In Caravaggios Gemälde scheint sie beide Aspekte zu versinnbildlichen. Dass Maria Magdalena ihre Hand zu ihrem Herzen führt, symbolisiert ebenso wie ihr Deuten auf den Lichtpunkt in dem neben ihr stehenden Spiegel den Moment ihrer Bekehrung.30 Ein weiteres in der Kunst des Barock beliebtes Bild der Heiligen ist die Darstellung Maria Magdalenas als sich selbst kasteiende Büßerin.31 Exemplarisch sei hier auf ein Gemälde Elisabetta Siranis von 1663 verwiesen, das die schöne und sinnliche Heilige in ihrer legendären Höhle zeigt (Abb. 3). Das üppige rote Gewand der büßenden Sünderin gibt hier den Blick auf ihren nackten Oberkörper frei, ihre Haare fallen über ihre Schultern. In der rechten Hand hält die Heilige ein Marterwerkzeug, während ihre linke Hand auf dem in ihrem Schoß liegenden Totenschädel ruht. Als weitere traditionelle Attribute der Heiligen befinden sich am linken Bildrand im Hintergrund ein Kruzifix sowie ein aufgeschlagenes Buch. Siranis Gemälde scheint den Bildinhalt, also die Selbstkasteiung Maria Magdalenas, die traditionell als Versuch, ihr sexuelles Verlangen abzutöten gilt,32 durch die erotische Darstellung der Heiligen zu konterkarieren. So betonen die geschlossenen Augen und der halbgeöffnete Mund der Heiligen sowie der halbentblößte Körper Maria Magdalenas ihre Sinnlichkeit. Dem entspricht auch die Einschätzung Haskins’, die in der Darstellung der Büßerin in Siranis Gemälde „the masochistic expression of pleasure in pain“33 gestaltet sieht. Diese Darstellungsweise sowie der Umstand, dass der Totenschädel in Maria Magdalenas Schoß liegt,34 wecken beim Betrachter deutlich sexuelle Assoziationen und lassen die Büßerin in der Höhle eher in ihrer Rolle als Verführerin erscheinen. 28 29 30 31 32 33 34

Zur bildkünstlerischen Darstellung des Augenblicks der Konversion Maria Magdalenas vgl. Monika Ingenhoff-Danhäuser: Maria Magdalena, S. 38. Marga Anstett-Janssen: „Maria Magdalena“, Sp. 524. Vgl. Susan Haskins: Mary Magdalen, S. 258. Zur bildlichen Nähe der sich selbst körperlich züchtigenden Maria Magdalena zur Personifikation der Buße vgl. ebd., S. 264. Vgl. hierzu die Ausführungen zur Darstellung Maria Magdalenas in der Literatur des Mittelalters, Kap. 5.1. Susan Haskins: Mary Magdalen, S. 264. Zur „ikonographische[n] Verbindung des Versprechens sinnlicher Verführung mit der VanitasThematik“ im Bildtypus der verführerischen Büßerin Maria Magdalena vgl. auch Nikolaus Largiers Beschreibung von Guido Sagnaccis Gemälde Maddalena svenuta (1663), dessen Bildsprache stark an Siranis Verarbeitung des Magdalenenstoffs erinnert: „[...] [A]uf dem Bild Cagnaccis ist die untere Leibeshälfte der sonst nackten Magdalena von Stoff bedeckt, über dem die Hände der Heiligen als Zeichen der Vergänglichkeit und des Memento mori alles Irdischen einen Totenkopf halten, der auf ihrem verhüllten Geschlecht zu liegen kommt, den suggestiven Faltenwurf des Tuches akzentuiert und gleichzeitig die ekstatische Hingabe der Heiligen mit der

Maria Magdalena in der bildenden Kunst des 16. und 17. Jahrhunderts

47

Abb. 3: Elisabetti Sirani: La Maddalena che si frusta

Penitenz, dem Tod und der Auferstehung verbindet.“ (Nikolaus Largier: „Die Erfindung der Pornographie: Sasha Grey, Pietro Aretino und das Spiel der Erregung“, in: Figurationen der Moderne. Mode, Sport, Pornographie. Hrsg. v. Birgit Nübel und Anne Fleig. München 2011, S. 199–217, hier S. 201). In den meisten Darstellungen der kontemplativen Büßerin des Barock liegt der Totenschädel entweder auf einem Tisch vor Maria Magdalena oder, häufig bei der Darstellung der Heiligen in liegender und ruhender Pose, auf dem Boden vor oder neben ihr.

48

Exkurs: Darstellungen Maria Magdalenas in der bildenden Kunst

4.3 Maria Magdalena in der bildenden Kunst des 18. und 19. Jahrhunderts Da die Darstellungen der Heiligen in der bildenden Kunst des 18. Jahrhunderts sich größtenteils an der im 17. Jahrhundert entwickelten Bildsprache orientieren, werde ich auf Gemälde dieser Zeit nicht detailliert eingehen. Im Kontext der sich im späten 17. und 18. Jahrhundert immer schneller vollziehenden Profanierung des Maria Magdalena-Bildes ist allerdings zu erwähnen, dass es in aristokratischen Kreisen Mode wird, Portraits à la Madeleine anfertigen zu lassen. So werden beispielsweise Mätressen und Fürstinnen nach dem Vorbild der Gemälde Guido Renis, Annibale Carracis und Orazio Gentileschis, deren Werke wiederum an den Prototypen Correggios und Tizians orientiert sind, in den Posen Maria Magdalenas dargestellt.35 Die Profanierung des Maria Magdalena-Bildes, die in der Kunst der Renaissance aus der Annäherung der Heiligendarstellung an den Typus der Kurtisane zum Ausdruck kommt, wird hier also durch die Darstellung ‚weltlicher‘ Frauen in der Rolle der Heiligen sinnfällig. In der bildenden Kunst des 19. Jahrhunderts finden sich zahlreiche neuartige Darstellungen Maria Magdalenas. So verbindet etwa Dante Gabriel Rossetti in seiner Zeichnung Mary Magdalen at the door of Simon the Pharisee von 1858 (Abb. 4) die Darstellung der Heiligen als Braut des Hohelieds mit ihrer Rolle als Sünderin aus dem Lukas-Evangelium. Maria Magdalena, die sich aus einer Gruppe Feiernder gelöst hat, steht auf den Stufen zum Hause Simons. Aus ihrem langen Haar löst sie Rosen, während ihr Liebhaber sie an ihrem linken Fuß festhält und eine weitere Frau ihr offenbar den Weg versperrt. Am rechten Bildrand wird für den Betrachter durch ein Fenster im Inneren des Hauses das Haupt Jesu sichtbar, welches von einem Lichtkranz umgeben ist. Die Identifikation der dargestellten Frau als Braut des Hohelieds36 wird durch die zweite Strophe eines auf das Bild Bezug nehmenden Gedichts Rossettis deutlich, in dessen erstem Vers Maria Magdalena Jesus als ihren Bräutigam bezeichnet, nach welchem sie sich sehnt („See’st thou not my Bridegroom’s face/That draws me to him?“).37 Das Gedicht endet mit Maria Magdalenas Worten „He needs me, calls me, loves me: let me go!“ Das Herausragende an Rossettis Konzeption der Figur der Maria Magdalena liegt im Vergleich zu den bisher genannten bildkünstlerischen Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in ihrer Rolle als aktiv handelnde Frau. Im Gegensatz zur passiven Demut der Sünderin und der Weltflucht der Büßerin ist es Maria Magdalenas 35 36

37

Vgl. Susan Haskins: Mary Magdalen, S. 297. Ein weiterer Verweis auf das Hohelied Salomos stellt das am rechten, unteren Bildrand abgebildete Wild dar, das an einem Weinstock frisst und zu dessen Hufen sich ein vergittertes Fenster befindet. Dieses wiederum liegt unterhalb des Fensters, an dem Jesus sichtbar wird. Durch die Bildkomposition wird also eine Parallelisierung zwischen dem jungen Hirsch und Jesus angestrebt. Vgl. hierzu LB, Hld 2,9, S. 658: „Mein Freund gleicht einer Gazelle oder einem jungen Hirsch. Siehe, er steht hinter unserer Wand und sieht durchs Fenster und blickt durchs Gitter.“ Dante Gabriel Rossetti: Poems. A New Edition. London 1881, S. 267.

Maria Magdalena in der bildenden Kunst des 18. und 19. Jahrhunderts

49

Willensstärke, mit der sie sich von der Gruppe der Feiernden löst, die Rossetti in seiner Darstellung der Heiligen betont. Dem steht die ungewöhnlich passive Darstellung Jesu gegenüber.38 So wird in Rossettis Adaption des Magdalenenstoffs die demütige Sünderin zu Füßen Jesu zur „dynamic, strikingly beautiful woman“.39

Abb. 4: Dante Gabriel Rossetti: Mary Magdalen at the door of Simon the Pharisee

38

39

In der Bildkomposition wird diese Passivität u.a. durch den gewählten ‚Bildausschnitt‘ des Fensters deutlich, durch welches lediglich der Kopf Jesu sichtbar wird, und dem die Darstellung des gesamten Körpers Maria Magdalenas in der Bildmitte gegenübersteht. Susan Haskins: Mary Magdalen, S. 394. Rossettis Darstellung der Heiligen ist umso erstaunlicher, als gerade den Präraffaeliten, wie auch den Literaten des Viktorianismus, Maria Magdalena als Prototyp der gefallenen Frau gilt (vgl. Annabel Zettel: Das Rätsel der Verstrickten. Die Illustrationen der Präraffaeliten zu Alfred Tennysons „The Lady of Shalott“. Berlin 2011, S. 144). Vgl. hierzu auch Bronfens Charakterisierung literarischer Weiblichkeitsentwürfe des 19. Jahrhunderts (siehe unten, S. 217, Anm. 25).

50

Exkurs: Darstellungen Maria Magdalenas in der bildenden Kunst

Anklänge an die Darstellung Maria Magdalenas in liegender Pose in einer Landschaft, wie sie für die bildende Kunst des Barock typisch ist, finden sich in Jules Joseph Léfèbvres Gemälde Marie-Madeleine dans la grotte von 1876 (Abb. 5). Maria Magdalena wird hier als rothaarige Frau dargestellt, deren Oberkörper an einen Felsen gelehnt ist. Mit den erhobenen, angewinkelten Armen verbirgt sie ihr Gesicht, lediglich die Augenpartie ist erkennbar. Der nackte Körper ist für den Betrachter mit Ausnahme der Scham, die durch das angewinkelte linke Bein Maria Magdalenas verdeckt wird, sichtbar. Die Betonung der Erotik Maria Magdalenas wird neben der den weiblichen Körper präsentierenden Pose in Léfèbvres Gemälde v.a. durch das Fehlen der traditionellen Attribute der Heiligen deutlich.40 So ist die dargestellte Frau lediglich durch den Titel des Bildes als Maria Magdalena zu identifizieren. Dass es sich hier um eine der im 19. Jahrhundert häufig zu findenden erotisierenden Darstellungen der Heiligen41 handelt, wird auch durch die Bezeichnung des Gemäldes als „la séduisante Madeleine“ durch Alexandre Dumas (Sohn) deutlich, der das Gemälde erwarb.42

Abb. 5: Jules Joseph Léfèbvre: Marie-Madeleine dans la grotte 40

41

42

Einzig die Rosenzweige im Bildvordergrund könnten als Attribute der Heiligen gedeutet werden (siehe oben, S. 46). Diesen Aspekt vernachlässigt Schimpf in ihren Ausführungen zu Léfèbvres Gemälde, wenn sie die Rosen lediglich als „Zeichen der galanten Liebe“ deutet: „Um ihre Füße schlängeln sich die dornigen Zweige einer Wildrose; im Vordergrund liegt auffällig platziert eine zartrosafarbene Blüte. Die traditionellen Attribute fehlen; nur der Titel schafft Klarheit.“ (Simone Schimpf: Profanierung einer Heiligen, S. 281). So schreibt Haskins in Bezug auf ein Léfèbvres Magdalenendarstellung ähnliches Gemälde Marius Vasselons, das eine unbekleidet in einer Landschaft liegende Frau darstellt und mit „Die Büßende Magdalena“ betitelt ist: „With scarcely any pretence at religious imagery, the picture is nothing more than another example of the pornographic studies of women posing as art which were a regular feature of the Salons.“ (Susan Haskins: Mary Magdalen, S. 345 f.). Ebd., S. 345.

Maria Magdalena in der bildenden Kunst des 18. und 19. Jahrhunderts

51 43

Diese erotisierende Tendenz, die besonders die französische Salonmalerei prägt, lässt Maria Magdalena in der bildenden Kunst mitunter in die Nähe der femme fatale geraten.44 Félicien Rops, das „Enfant terrible des Pariser Künstlermilieus“,45 stilisiert Maria Magdalena etwa zur Verkörperung perverser weiblicher Sexualität, wenn er sie als vor einem gekreuzigten Phallus Masturbierende darstellt (Sainte Marie Madeleine). Die Tendenz zum Frivolen und Anzüglichen in der bildkünstlerischen Verarbeitung des Magdalenenstoffs lässt sich auch in William Ettys Study of a Magdalen (ca. 1845) nachweisen, das eine nackte, dunkelhaarige Frau in entspannter sitzender Pose darstellt, deren Blick auf einem Kruzifix ruht. Ihre langen goldenen Ohrringe verweisen auf die Maria Magdalena traditionell zugeschriebene Eitelkeit. Bei Ettys Gemälde handelt es sich allerdings nicht um eine Darstellung der Heiligen Maria Magdalena.46 Dafür spricht zum einen der Titel des Gemäldes, da der Name der Heiligen im Viktorianischen England als Euphemismus für ‚Prostituierte‘ gebraucht wurde.47 „A Magdalen“ ist hier somit als „eine Prostituierte“ zu übersetzen. Zum anderen weist die dargestellte Frauenfigur mit Ausnahme ihres Unbekleidetseins keine Parallelen zur traditionellen Darstellung Maria Magdalenas als sinnliche, meist blonde oder rothaarige Frau, auf. Etty gebraucht, ähnlich wie Léfèbvre, den Namen der Heiligen also nur noch also Legitimation für die Darstellung eines weiblichen Akts. Eine weitere Besonderheit der Darstellung Maria Magdalenas in der bildenden Kunst des 19. Jahrhunderts stellen die um die Jahrhundertwende entstehenden „erotischen Kreuzigungen“48 bzw. Kreuzabnahmen dar, bei denen die „entblößte Magdalena den toten Jesus am Kreuz körperlich in Besitz nimmt.“49 So zeigt etwa Lovis Corinths „Kreuzabnahme“ aus dem Jahr 1895 Maria Magdalena in Umarmung des Leichnams Jesu (Abb. 6). Mit dem rechten Arm umfasst sie seinen Oberkörper, während ihre linke Hand ihre Augen bedeckt. Zwischen den Fingern sind einzelne Tränen sichtbar. Maria Magdalena erscheint bei Corinth wieder als sinnliche Frau mit langem, rotem Haar.

43 44

45 46 47 48 49

Zwischen 1830 und 1860 ist Maria Magdalena die meist ausgestellte Heilige im Salon, vgl. Simone Schimpf: Profanierung einer Heiligen, S. 9. Zur Darstellung Maria Magdalenas als femme fatale in der bildenden Kunst vgl. ebd., S. 208–214. Schimpf weist darauf hin, dass die „literaturwissenschaftliche und kunstwissenschaftliche Forschung [...] Maria Magdalena nicht in die Reihe der biblischen femme fatales ein[bezieht], obwohl es gerade in der bildenden Kunst genügend Beispiele einer solchen Auslegung gibt und ihr profanierter Mythos alle Facetten einer destruktiven Liebesbeziehung aufweist.“ (ebd., S. 208). Zu Schimpfs m.E. unzutreffenden Klassifizierung Maria Magdalena als femme fatale siehe unten, S. 216. Simone Schimpf: Profanierung einer Heiligen, S. 222. Bezeichnend hierfür ist auch die Bezeichnung des Gemäldes als „Nude female contemplating a crucifix and a skull“ in einigen Kunstkatalogen. Vgl. Susan Haskins: Mary Magdalen, S. 318. Ebd., S. 358: „[...] erotic crucifixions [...]“. Simone Schimpf: Profanierung einer Heiligen, S. 210.

52

Exkurs: Darstellungen Maria Magdalenas in der bildenden Kunst

Abb. 6: Lovis Corinth: Kreuzabnahme

Ihr Oberkörper wird von ihrem roten Gewand, dass sie in der rechten Hand hält und mit dem sie den Gekreuzigten umfängt, kaum verhüllt, so dass ihre entblößte rechte Brust sichtbar ist. Maria Magdalena ist in Corinths Gemälde deutlich von den übrigen dargestellten Personen, die den Leichnam Jesu in einem Leinentuch halten, abgehoben, da sie sich im Gegensatz zu diesen im Bildvordergrund befindet und Jesus durch ihre Umarmung körperlich am nächsten ist. Die Figuren Maria Magdalenas und Jesu sind beide vor dem weißen Hintergrund des Leinentuchs abgebildet, wodurch sie als Paar hervorgehoben werden. Ein weiteres Beispiel für eine erotische Kreuzigungsszene stellt die Marmor-Plastik „Christe et la Madeleine“ (ca. 1892) von Auguste Rodin dar (Abb. 7).50 Die unbekleidete Maria Magdalena umarmt hier den Gekreuzigten und stützt dessen zur Seite geneigten Kopf mit ihrem linken Arm, während ihr Oberkörper den Torso Jesu umfängt. Rainer Maria Rilke hat zu dieser Plastik Rodins um 1905 eine Beschreibung 50

Zu Rodins Plastik vgl. ebd., S. 196–202; zur nicht vom Künstler intendierten, durch Rilke tradierten Titelwahl ebd. S. 197f. Rodin nannte die Plastik auch Prométhée et une Océanide und Le génie et la pitié.

Maria Magdalena in der bildenden Kunst des 18. und 19. Jahrhunderts

53

verfasst, die das Mitleid und die große Liebe Maria Magdalenas, die u.a. als sinnlos und hoffnungslos charakterisiert wird, zum Thema hat. So beschreibt Rilke etwa die Umarmung des Gekreuzigten durch Maria Magdalena, die „nach rechts abgebogen, wie eine vom Winde gequälte Flamme, das unsägliche Leiden dieses so geliebten Körpers in ihrer zerbrochenen Liebe einzubetten und zu verbergen“51 versuche. In einer anderen Formulierung heißt es, dass die Heilige „mit der späten und sinnlosen Zärtlichkeit ihres Körpers diesen verlassenen blutlosen Körper“52 umarme. Auffällig ist die Betonung der Körperlichkeit Jesu und Maria Magdalenas in der Beschreibung von Rodins Plastik.53 Rilke konzipiert die Heilige als Begehrende, so dass auch der sich wiederholende Verweis auf die Sinnlosigkeit ihrer Liebe und die Hoffnungslosigkeit der Umarmung des toten Körpers durch Maria Magdalena auf den nicht mehr vollziehbaren Liebesakt bezogen werden kann. So schildert Rilke die „unermeßliche Traurigkeit“,54 die von der Umarmung des Gekreuzigten durch die Heilige ausgehe und die ihren Ausdruck in dem durch die unterschiedliche, bildhauerische Bearbeitung des Marmors erzeugten „Gegensatz der beiden Körper“55 finde. Das Motiv der vergeblichen Liebe der Heiligen, deren körperliches Verlangen nach Jesus nach dessen Tod nicht mehr gestillt werden kann, hat Rilke bei der Gestaltung seiner Maria Magdalena-Figur in „Pietà“ (1906) wieder aufgenommen (siehe unten, Kap. 6.3.5).56

51 52 53

54 55 56

Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. Bd. 5: Worpswede. Rodin. Aufsätze. Hrsg. vom Rilke-Archiv in Verb. mit Ruth Sieber-Rilke. Besorgt durch Ernst Zinn. Frankfurt/M. 1965, S. 255. Ebd. Vgl. hierzu auch Jürgen Zänkers Beschreibung der Skulptur: „Christus erscheint mit ausgebreiteten Armen, halb hängend, halb herabgesunken, an einem sich in dem Steinblock nur indirekt abzeichnenden Kreuz, mit dem er ebenso unlösbar verbunden ist wie das Kreuz mit dem Stein. Sein bärtiges Haupt mit im Tode geschlossenen Augen ist – jäh abgeknickt – auf seine Schulter gesunken. In stürmisch andrängender Bewegung umarmt die beinahe athletische, nackte Magdalena seinen Leib, ihre Haare fallen über ihr Haupt gegen Christi Hüfte, in kontrapostischer Bewegung zu seinem Kopf. Ihre Körper sind fast wie die zweier Ringkämpfer miteinander verstrickt und zu einer bewegten Masse verschmolzen. Rodins Magdalena ist Christus in höchst irdischem, erotischen Begehren zugetan und geradezu verfallen, bereit und vergeblich bemüht, den Liebesakt mit ihm zu vollziehen. Magdalena erscheint dabei keineswegs sündhaft, sondern unmittelbar menschlich bewegt von ihrer leidenschaftlichen Liebe, die sich sowohl körpersprachlich als auch in der plastischen Behandlung der Massen und ihrer Oberflächen ausdrückt.“ (Jürgen Zänker: Crucifixae, S. 22). Ebd., S. 256. Ebd., S. 256f. Rodins Plastik gilt als ein mögliches Vorbild für Rilkes Gedicht „Pietà“. Vgl. hierzu Rainer Maria Rilke: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Bd. 1: Gedichte 1895 bis 1910. Hrsg. v. Manfred Engel und Ulrich Fülleborn. Frankfurt/M. 1996, S. 928.

54

Exkurs: Darstellungen Maria Magdalenas in der bildenden Kunst

Abb. 7: Auguste Rodin: „Christe et la Madeleine“

5

Darstellung Maria Magdalenas in der deutschsprachigen Literatur bis 1900

Im Folgenden möchte ich einen kurzen Überblick über die Darstellung der Figur der Maria Magdalena in der Literatur vom Mittelalter bis zur Jahrhundertwende geben, anhand dessen die Verwendung traditioneller Elemente des literarischen Magdalenenbildes in den Texten des Korpus aufgezeigt werden kann. Hierbei werde ich exemplarisch vorgehen und nur auf für die jeweilige Epoche charakteristische Verarbeitungen des Magdalenenstoffs eingehen.

5.1 Maria Magdalena in der Literatur des Mittelalters Betrachtet man die Rolle, die Maria Magdalena in der Literatur des Mittelalters zukommt, so fallen einige Besonderheiten im Vergleich zur literarischen Verarbeitung dieser Figur in späteren Epochen auf. Die Grenzen zwischen liturgischen Texten, wie z.B. Hymnen, und geistlicher Dichtung sind im Mittelalter fließend. So ist die Maria Magdalena des geistlichen Spiels oder der Lyrik immer auch die Heilige Maria Magdalena der christlichen Kirche. Hinzu kommt, dass unter dem Einfluss der Magdalenenhomilien Gregors I. im Mittelalter fast ausschließlich die Konzeption der Maria Magdalena als der Einheitsgestalt aus Maria von Magdala, Maria von Bethanien und der namenlosen Sünderin aus dem Lukas-Evangelium zu finden ist. Die Figur der Maria Magdalena wird im Mittelalter nicht als individueller Charakter, sondern als religiöser Typus verstanden. Dem entspricht die Einschätzung Wiltrud aus der Füntens, dass die Bedeutung dieser Figur in der Lyrik des Mittelalters nicht in ihrer Darstellung als Individuum, sondern im „Wesen Christi, das sich an ihr zeigt“,1 liege. FriedrichOtto Knoll verweist in seiner Untersuchung der Figur der Maria Magdalena im geistlichen Spiel des Mittelalters darauf, dass „als Typus“ „ihre Sündhaftigkeit gesteigert“2 werde. Dies grenzt die mittelalterliche Darstellung Maria Magdalenas von 1 2

Wiltrud aus der Fünten: Maria Magdalena in der Lyrik des Mittelalters. Düsseldorf 1966, S. 69. Friedrich-Otto Knoll: Die Rolle der Maria Magdalena im geistlichen Spiel des Mittelalters. Ein Beitrag zur Kultur- und Theatergeschichte Deutschlands. Berlin u.a. 1934, S. 47.

56

Darstellung Maria Magdalenas in der deutschsprachigen Literatur bis 1900

der späterer Epochen ab, in der mehr und mehr die Psyche dieser Frauenfigur und somit ihre Individualität interessant werden. In ihrer Untersuchung zur Figur der Maria Magdalena in der Lyrik des Mittelalters stellt aus der Fünten die Veränderung ihrer Rolle in Bezug auf die zeitliche Entwicklung des geistlichen Spiels dar. Im 10. Jahrhundert entstehen das mittelalterliche Osterspiel, in dem Maria Magdalena zunächst als eine der Myrrhophoren, die Jesu Grab aufsuchen (vgl. Mk 16,1–8), erscheint, sowie die ersten Magdalenengedichte, in denen sie in der Rolle der Auferstehungszeugin gezeigt wird. Die Bezeichnung Maria Magdalenas als testis, also als „Zeugin des Todes und der Auferstehung Christi”,3 findet sich zuerst in einer Magdalenensequenz Gottschalks von Limburg aus dem 11. Jahrhundert. In der Exegese des frühen Mittelalters wird Maria Magdalena darüber hinaus oft in typologisierender Weise mit der Braut des Hohelieds in Beziehung gesetzt. So wird Maria Magdalena, die am frühen Ostermorgen nach Jesus sucht, mit der sponsa des Hohelieds, die ihren sponsus in der nächtlichen Stadt sucht, identifiziert. Hieraus erklärt sich auch die allegorische Lesart, der zufolge Maria Magdalena die ecclesia, also die noch junge christliche Kirchengemeinde, die von ihrem Herrn verlassen wird, verkörpert. Die Identifikation Maria Magdalenas mit der Braut des Hohelieds ist für die weitere literarische Verarbeitung des Magdalenenstoffs überaus wirkungsmächtig gewesen. Diese reicht von der Beschreibung der herausragenden Stellung Maria Magdalenas im Gefolge Jesu bis hin zur Darstellung Maria Magdalenas als der Braut oder Geliebten Jesu. In der weiteren Entwicklung des Osterspiels im 11. und 12. Jahrhundert tritt die szenische Darstellung der Begegnung Maria Magdalenas mit dem Auferstandenen hinzu. In der Lyrik dieser Zeit gewinnt die Figur der Maria Magdalena neben ihrer Rolle als „Zeugin für die Möglichkeit der Erlösung”4 in ihrer Funktion als Verkünderin des Evangeliums an Bedeutung. Sie erscheint hier als „nuntia, d.h. bevorzugte, gewürdigte und in ihrem Verhalten betrachtenswerte Botin”.5 In dieser Formulierung aus der Füntens klingt bereits die Rolle Maria Magdalenas als exemplum in der Lyrik des Spätmittelalters an. Mit der Entwicklung des Passionsspiels im 13. Jahrhundert tritt in der Lyrik der Zeit der Aspekt der compassio bei der Konzeption Maria Magdalenas hervor. So wird sie nicht nur wegen ihrer beispielhaften „Überwindung der menschlichen Sündhaftigkeit”,6 sondern auch in Bezug auf ihr Mitleid mit Jesus als vorbildlich dargestellt. In der Exegese, etwa im Sermo de Maria Magdalena des Odo von Cluny aus dem 12. Jahrhundert, wird Maria Magdalena zur „neuen Eva” stilisiert: Während jene den Tod über die Menschheit gebracht hat, ist es Maria Magdalena, die als „Botin des Lebens”7 den Gläubigen Hoffnung auf Erlösung bringt. Hierin liegt auch 3 4 5 6 7

Hans Hansel: Die Maria-Magdalena-Legende, S. 42. Wiltrud aus der Fünten: Maria Magdalena in der Lyrik des Mittelalters, S. 217. Ebd., S. 123. Ebd., S. 218. Ingrid Maisch: Maria Magdalena, S. 42.

Maria Magdalena in der Literatur des Mittelalters

57

die besondere Bedeutung Maria Magdalenas für den Rezipienten des Mittelalters: Da der Mensch sich selbst als sündenverfallen ansieht, dient die Heilige Maria Magdalena, der trotz ihrer großen Sündhaftigkeit göttliche Gnade widerfährt, als Beispiel und Hoffungsträgerin. Maria Magdalena wird so zu „einer Repräsentantin der sündenbewussten Menschheit“.8 Dem entspricht auch Ingrid Maischs Einschätzung, dass mit der Darstellung Maria Magdalenas in der mittelalterlichen Dichtung „nicht eine bestimmte Frau abgewertet, sondern die Sorge aller um ihr Seelenheil entlastet wird“.9 Die Steigerung der Sündhaftigkeit dieser Frauenfigur, die mit der ihr widerfahrenen großen Gnade kontrastiert wird, zeigt sich in der geistlichen Dichtung etwa in der Darstellung ihrer Selbstkasteiung zum Zwecke der Überwindung ihres sexuellen Verlangens und in der Weltlebensszene des Passionsspiels.10 Hier wird Maria Magdalena u.a. gemeinsam mit einem Liebhaber gezeigt, worauf ein Bekehrungsversuch, etwa durch die Schwester Marta oder durch einen Engel, erfolgt. In der anschließenden Reueszene wendet sich Maria Magdalena häufig direkt an den Zuschauer und ruft diesen zu einem tugendhaften Leben auf. Als Beispiel sei hier die Reue der Maria Magdalena aus dem Künzelsauer Fronleichnamsspiel von 1479 genannt: Ir frawen und ir man,/Sehent mich, magdalena, an/Wy ich ein große sunderin bin gewesen,/Als man hörtt in dem ewangelio lesen,/Und bin in großen sunden gelegen,/Dy tewffel mein haben gepflegen./Nu hat mich got selber ernerrt,/Das ich mich von solchen großen sunden hab bekert/Mit großer rew, laidt und smertzen,/Dar Umb ich hab von gantzem meinem hertzen./Also sol einiglicher sunder than/Und von seinen sunden lan./So wil jm got ach geben/Das himelreich und das ewig leben.11

Die Hervorhebung der Aspekte der großen Sündhaftigkeit und der korrespondierenden großen Gnade, die Maria Magdalena in Form der Sündenvergebung durch Jesus erfährt, erklärt auch die Beliebtheit der Darstellung der Salbungsszene in der geistlichen Dichtung des Mittelalters, da es hier zur unmittelbaren Zusammenkunft von Sünderin und Heiland kommt und die dargestellte Sündenvergebung dem Gläubigen Hoffnung auf Erlösung gibt. Die Heilige Maria Magdalena wird so im Mittelalter zum Beistand 8

9 10 11

Wiltrud aus der Fünten: Maria Magdalena in der Lyrik des Mittelalters, S. 50. Maria Magdalenas Rolle als exemplum findet ihren Niederschlag auch in der bildenden Kunst des Mittelalters. So weist Hofstätter in seinem Aufsatz zu bildlichen Darstellungen Maria Magdalenas darauf hin, dass die Heilige in Kreuzigungsszenen seit dem 13. Jahrhundert im Gegensatz zu anderen dargestellten Personen häufig als vom Betrachter abgewandt und dem Gekreuzigten zugewandt erscheint. Dies macht sie laut Hofstätter zu einer „Gestalt, die den Betrachter mit in das Bild hineinzieht, d.h. sie vertritt den Betrachter als sündiges Individuum im Bild [...]“ (Hans H. Hofstätter: „Darstellungen der Maria Magdalena in der Bildenden Kunst“, S. 75f. (Hervorhebung, A.G.-T.). Ingrid Maisch: Maria Magdalena, S. 53 (Hervorhebung im Original). Vgl. Friedrich-Otto Knoll: Die Rolle der Maria Magdalena im geistlichen Spiel des Mittelalters, S. 47. Zitiert nach Friedrich-Otto Knoll: Die Rolle der Maria Magdalena im geistlichen Spiel des Mittelalters, S. 70.

58

Darstellung Maria Magdalenas in der deutschsprachigen Literatur bis 1900

und zur Fürbitterin der sich selbst als zutiefst sündenverfallen verstehenden Christen. Sie soll Jesus für den Betenden um eine ebenso große Gnade bitten, wie er sie ihr gegenüber gezeigt hat.12 Es ist also festzuhalten, dass die Darstellung Maria Magdalenas als Sünderin in der geistlichen Dichtung des Mittelalters weniger auf ein erotisches Interesse an der sündigen Vergangenheit der ‚Gefallenen‘ als vielmehr auf die sich in ihr verkörpernde, als allgemein menschlich angenommene Schlechtigkeit zurückzuführen ist, der die besondere göttliche Gnade, die ihr durch die Vergebung ihrer Sündenschuld und in ihrer Rolle als Erstzeugin der Auferstehung zukommt, entgegengestellt wird. Dass sich allerdings bereits im Mittelalter ein Interesse an der Schönheit und Erotik Maria Magdalenas nachweisen lässt, betont Knoll in seiner Untersuchung zur Rolle Maria Magdalenas im geistlichen Spiel, wenn er Einflüsse des Minneideals auf die Darstellung der Heiligen nachweist.13 Die Beliebtheit der Heiligen Maria Magdalena im Mittelalter führt aus der Fünten auf ihr „doppeltes Zeugnis“ zurück: „Sie [Maria Magdalena] ist nicht nur die Garantin der Auferstehung, sondern zugleich die Verkörperung der dadurch ermöglichten und geschenkten neuen Beziehung zu Gott.“14 Das Bild Maria Magdalenas, wie es sich in der Dichtung des Mittelalters gezeigt hat, findet sich in einem auf 1500 datierten Kirchenlied mit dem Titel Von der heyligen Maria Magdalena ayn lobgesangk gleichsam zusammengefasst: Edle Maria, schöne Magdalena,/frey dich der eeren, das du byst ayn sponsa/Gottes und prynnest allso klar in lyebe,/Der sünder spyegel./[…]/Jhesus, deyn haylant, nam dich in seyn gmaynschaft,/du byst erwelte seyner urstendt potschafft,/Wann du vor andern suechest in zesehen und seyn zepflegen./Nwn noch im orden Seraphyn dich freyest,/so dich deyn prewtkam unentrenlich halset:/Mach in genädig uber unser sunden,/das wir dye püessen.15

5.2 Maria Magdalena in der Literatur des 17. Jahrhunderts Auf die im Barock beliebte Darstellung Maria Magdalenas als schöne, weinende Büßerin und Verkörperung der vanitas wurde bereits im entsprechenden Abschnitt zur bildkünstlerischen Verarbeitung des Magdalenenstoffs eingegangen (siehe oben, Kap. 4.2). Der Wandel des Maria Magdalena-Bildes im 17. Jahrhundert ist nicht allein durch die Bedeutung der Heiligen als vanitas-Symbol („Memento mori“), sondern zugleich durch das Interesse des Rezipienten an dem ihr zugeschriebenen bewegten 12 13 14 15

Vgl. ebd., S. 53. Vgl. ebd., S. 73. Wiltrud aus der Fünten: Maria Magdalena in der Lyrik des Mittelalters, S. 50. Philipp Wackernagel: Das deutsche Kirchenlied. Von der ältesten Zeit bis zum Anfang des XVII. Jahrhunderts. Mit Berücksichtigung der deutschen kirchlichen Liederdichtung im weiteren Sinne und der lateinischen von Hilarius bis Georg Fabricius und Wolfgang Ammonius. Bd. 2. Reprograf. Nachdr. der Ausg. Leipzig 1867. Hildesheim 1964, S. 890.

Maria Magdalena in der Literatur des 17. Jahrhunderts

59

Weltleben, das als eine Form des Lebensgenusses („Carpe diem“) aufgefasst werden kann, und aufgrund ihrer legendären Schönheit zu erklären. Auch auf spätere bildkünstlerische und literarische Darstellungen Maria Magdalenas, die das im Barock entworfene Bild adaptieren, trifft Maischs Einschätzung zu, dass die „reizende Büßerin [...] als solche nur interessant ist, weil sie die Sünderin zur Voraussetzung hat.“16 Dieses Interesse an der Erotik Maria Magdalenas wird im Barock anhand der zahlreichen bildlichen Darstellungen der Heiligen deutlich, die sie als „junge, schöne, oft betörende Frau, deren körperliche Reize von Haaren und Tüchern mehr betont als verhüllt werden“,17 zeigen. Wie sehr die Schönheit der Heiligen auch die literarische Verarbeitung des Magdalenenstoffs prägt, verdeutlicht ein Zitat Joseph Gibaldis: „Perhaps foremost among Baroque Magdalene lyrics is the universal insistence upon the saint’s physical beauty.“18 Diesen Wandel in der literarischen Darstellung der Heiligen führt Franz M. Eybl in seinem Aufsatz zu Lohensteins Gedicht „Trähnen der Maria Magdalena zu den Füssen unsers Erlösers“ auf die Aufnahme petrarkistischer Topoi der Darstellung weiblicher Schönheit in den Kontext der religiösen Lyrik des Barock zurück. So erscheint die Heilige auch in dem oben genannten Text, der erstmals 1680 zusammen mit zwei weiteren Gedichten unter dem Titel „Thränen“ veröffentlicht wurde, als die schöne Sünderin. In diesem Rollengedicht schildert Maria Magdalena zunächst in petrarkistischer Manier ihre körperliche Schönheit, die in zeittypischer Antithetik mit ihrer Sündhaftigkeit in Bezug gesetzt wird („Die Haut ist mir schneeweiß/die Sünden sind Bluttroth; Mein Leib ist eine Perl/die Seele stinckend Koth;“, V. 2–3).19 Nachdem sie den Entschluss zur Buße gefasst hat („Weg Zauber-Gift der Seele Gall’ und Tod/Der Andachts-Zucker sol die Lippen mir besüssen“, V. 7–8), kann Maria Magdalena in den letzten Zeilen des Gedichts den Wunsch äußern, ihr Herz möge zum Tempel Gottes werden: Dein Tempel sey mein Hertz/mein gläubig Säufz- und Sähnen/Das Feuer/deine Füß’ O Jesus mein Altar/Zum Opfer bringt die Hand dir Salb’ und Balsam dar/Das Haupt der Haare Gold/die Augen Silber-Thränen.

Die Weltabkehr Maria Magdalenas und ihre Hinwendung zu Gott ermöglichen die Umdeutung ihrer körperlichen Schönheit, die in den ersten Zeilen des Gedichts mit dem Laster identifiziert wird, zum Zeichen ihrer Läuterung. So schreibt Eybl: „Die Schönheit der äußeren Erscheinung korrespondiert mit innerer Makellosigkeit, so daß Gott

16 17 18

19

Ingrid Maisch: Maria Magdalena, S. 86 Marga Anstett-Janssen: „Maria Magdalena“, Sp. 520. Zitiert nach: Franz M. Eybl: „Problematische Harmonie: Lohensteins Trähnen der Maria Magdalena zu den Füssen unsers Erlösers“, in: Studien zum Werk Daniel Caspers von Lohenstein. Anläßlich der 300. Wiederkehr des Todesjahres hrsg. v. Gerald Gillespie und Gerhard Spellerberg. Amsterdam 1983, S. 23–46, hier S. 29. Hier und im Folgenden zitiert nach Franz M. Eybl: „Problematische Harmonie“, S. 25–26.

60

Darstellung Maria Magdalenas in der deutschsprachigen Literatur bis 1900

selbst in Magdalena wohnt.“20 Neben ihrer Rolle als schöne Sünderin erscheint Maria Magdalena in „Trähnen der Maria Magdalena zu den Füssen unsers Erlösers“ durch ihre Abkehr von der Sünde und die Hinwendung zu Gott21 und der damit verbundenen Hoffnung des Gläubigen auf jenseitiges Heil also auch in ihrer Rolle als vanitas-Figur. Eine weitere Veränderung des Magdalenenbildes in der Literatur des Barock, die mit dem Wandel von der Sünderheiligen des Mittelalters zur schönen Büßerin in Beziehung steht, liegt in der Betonung ihrer Rolle als sponsa Jesu.22 Obwohl sich intertextuelle Verweise auf das Hohelied Salomos bereits in früheren Darstellungen der Heiligen finden, wird in der religiösen Lyrik des Barock das Leid und die Trauer der Liebenden Maria Magdalena in Form petrarkistischer Topoi von Liebesleid und Sehnsucht besonders ausschweifend beschrieben. So wird die Heilige etwa in Friedrich Spees Gedicht „Spiegel der Liebe, in Maria Magdalena, da sie nach dem Judischen Osterfest am grossen Sabbath morgens früh jhren Jesum in dem Grab gesucht“,23 das sich in seiner Trutznachtigall (1649) findet, in der Tradition des Hohelieds als die verlassene Geliebte Jesu („gesponß Jesu”) dargestellt. Dass die Grenze zwischen religiösem Lied und Liebeslyrik in Spees Gedicht nahezu aufgehoben ist,24 wird neben der Verwendung typisch barocker Topoi bei der Beschreibung der Liebesqualen, wie etwa dem Getroffensein von dem Pfeil der Begierde (Strophe 3) oder der Antithetik bei der Beschreibung der durch die Liebe ausgelösten Emotionen („Von kühlem fewr/vnd flammen/Von bitter-süßer glut/Von lieb vnd leyd zusammen/Mir schmeltzet hertz vnd mut“, Strophe 27), besonders anhand des intertextuellen Verweises auf den „best erwehlte[n] theil“ deutlich, der hier nicht mehr wie in Lk 10,38–42 allegorisch als die christliche Lehre, sondern als Jesus selbst dargestellt wird („Ist weg/wen ich erwöhlet/Der best/vnd eintzel theil“, Strophe 29). Das 59 Strophen à je acht Zeilen umfassende Gedicht beschreibt die Suche Maria Magdalenas nach dem Leichnam Jesu und ihre Begegnung mit dem Auferstandenen in Anlehnung an Joh 20 in immer neuer Variation ihrer Liebesqualen. Jesus wird hier eindeutig als Geliebter Maria Magdalenas identifiziert; so findet sich etwa in Bezug auf das leere Grab die Formulierung „den liebsten sie nit findet” (Strophe 6). Auch die Zeilen „Nur JESVM sie den einen/Vnd einen sucht allein:/Wil sonst vnd liebet keinen;/Ohn jhn sie nit kan sein” in der siebten 20 21

22 23 24

Franz M. Eybl: „Problematische Harmonie“, S. 31. Vgl. hierzu folgende Einschätzung Eybls: „Die Tradition der Magdalenenlyrik hat in vielfältigen Variationen den Affekt der Liebe zur Durchgangsstelle von weltlicher Leidenschaft zu gottergebener Lebensführung gemacht, indem die Buße als Vergeistigung der Liebe dargestellt wird.“ (ebd., S. 40). Siehe oben, S. 56. Friedrich Spee: Trutznachtigall. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1649. Hrsg. und eingel. v. G. Richard Dimler. Washington D.C. 1981, S. 53–73. Dem entspricht auch Günther Müllers Charakterisierung Spees als „Schöpfer des neuen deutschen geistlichen Liebesliedes“, der „die Motive der weltlichen Liebeslyrik ins Geistliche gewendet“ habe (Günther Müller: Geschichte des deutschen Liedes. Vom Zeitalter des Barock bis zur Gegenwart. Darmstadt 1959, S. 43).

Maria Magdalena in der Literatur des 17. Jahrhunderts

61

Strophe und die Charakterisierung Jesu als „schöne[r] man” in Strophe 44 machen deutlich, dass es sich hier um eine Liebesklage der Maria Magdalena handelt. So erscheint die Heilige nicht mehr als „reuig-weinende Büßerin, die ihre Sünden beklagt, sondern als Frau, die um ihren Geliebten weint.“25 In Spees Gedicht findet sich neben der Konzeption als sponsa Jesu ein weiterer zeittypischer Aspekt der Darstellung Maria Magdalenas, nämlich ihre Rolle als nahezu larmoyante Liebende bzw. Trauernde oder „tränenselige Büßerin“.26 Bereits in der ersten Strophe wird Maria Magdalena als „Die weinend Magdalen“ eingeführt, in der dritten Strophe wird sie als „Das weib von lieb verwund/In lauter zähr zerlassen/Zerfloß in thränen rund“ charakterisiert und in der neunzehnten Strophe heißt es von der Heiligen: „Sie seufftzet/achtzet/weinet/Klagt/heulet immerdar“. Ähnliche Formulierungen finden sich auch an vielen weiteren Stellen des Gedichts. Die Darstellung Maria Magdalenas als hemmungslos Weinende dient der Verdeutlichung der besonderen Intensität ihrer klagenden Liebesqual. Wie einflussreich das Bild Maria Magdalenas als „tränenselige Büßerin“ im 17. Jahrhundert ist, lässt sich neben unzähligen literarischen Darstellungen Maria Magdalenas als Weinende u.a. auch an der Etymologie des englischen Wortes „maudlin“ nachweisen, das sich laut Haskins vom französischen „Madeleine“ herleitet und in Anlehnung an die Darstellung Maria Magdalenas durch die englischen Lyriker des 17. Jahrhunderts in der Bedeutung von „lachrymose, mawkishly emotional or tearfully sentimental“27 verwendet wird. Betrachtet man die Darstellung Maria Magdalenas in der Literatur des 17. Jahrhunderts im Vergleich zur Literatur des Mittelalters, so fällt auf, dass ihre Rolle als Zeugin der Auferstehung und als vorbildliche Sünderheilige zurücktritt. So lässt etwa Spee sein Magdalenengedicht nicht mit dem Verkündigungsauftrag enden, sondern mit der Schilderung der Freude Maria Magdalenas über das Wiedersehen mit dem Auferstandenen, die nur derjenige nachvollziehen könne, dem „je die lieb durchrissen [ /] Leib/Seel/vnd marck/vnd bein“.28 Die Szene der Begegnung Maria Magdalenas mit dem Auferstandenen am Ostermorgen ist offenbar weniger aufgrund der Bedeutung der 25 26 27 28

Ingrid Maisch: Maria Magdalena, S. 92. Ebd., S. 83. Susan Haskins: Mary Magdalen, S. 275. Die Rolle der Heiligen als Verkünderin der Auferstehung, die v.a. im Mittelalter hervorgehoben wird, verliert im Verlauf der Stoffgeschichte immer mehr an Bedeutung. Zurückzuführen ist dies auf die Betonung der Rolle Maria Magdalenas als Sünderin bzw. als liebende Büßerin. Zur Kritik der Feministischen Theologie an der dieser Rolle zugrundeliegenden Identifikation Marias von Magdala mit der anonymen Sünderin aus dem Lukasevangelium und dem Bedeutungsverlust des Verkündigungsauftrags Maria Magdalenas, auf den die Kritikerinnen und Kritiker sich im Kontext der Frauenpredigt berufen, vgl. Elisabeth Moltmann-Wendel: „Maria Magdalena. Tradition“, S. 402f.; Judith Hartenstein: „Die geliebte Jüngerin und die beauftragte Apostelin. Warum Maria Magdalena so interessant ist“, in: Zeitschrift für Gottesdienst & Predigt 21 (2003), S. 14f.; Anne Jensen: „Maria von Magdala in den frühkirchlichen und ostkirchlichen Traditionen“, in: Bibel und Kirche 55, 2 (2000), S. 192–199.

62

Darstellung Maria Magdalenas in der deutschsprachigen Literatur bis 1900

Heiligen für den christlichen Glauben gewählt als vielmehr aufgrund der Möglichkeit, die Liebe und Sehnsucht Maria Magdalenas besonders effektvoll darstellen zu können. Der Verkündigungsauftrag bzw. die Vorbildlichkeit der Heiligen in der Überwindung ihrer Sünden wird also von der Darstellung Maria Magdalenas als in ihrer Liebe zu Jesus vergehender Geliebter abgelöst. Hier ist die allegorische Lesart der sponsa als Christen-Seele oder Verkörperung der ecclesia kaum mehr von Bedeutung. Die verschiedenen Aspekte der Darstellung Maria Magdalenas, die sich in der Literatur des 17. Jahrhunderts finden, lassen sich anhand einer „Poetischen Grabschrift“ Christian Hoffmann von Hoffmannswaldaus auf die Heilige exemplarisch nachvollziehen. Neben der Beschreibung weiblicher Schönheit und einem Verweis auf die Tränen, die Maria Magdalena aus Mitleid mit und Liebe zu Jesus vergießt, erscheint die Heilige hier durch ihre Abkehr von der Sünde und ihre Aufnahme in das Himmelreich erneut in ihrer Rolle als vanitas-Figur: Hier ruht das schöne Haupt/hie ruht die schöne Schoß/Auß der die Liebligkeit mit reichen Strömen floß./Nach dem diß zarte Weib verließ den Huren-Orden/So sind die Engel selbst derselben Buler worden.29

5.3 Maria Magdalena in der Literatur des 18. Jahrhunderts Betrachtet man das Bild der Maria Magdalena in der Literatur des 18. Jahrhunderts im Vergleich zur literarischen Gestaltung dieser Frauenfigur im Mittelalter und im 17. Jahrhundert, so finden sich neben der Darstellung als Sünderheilige und als schöne und mitunter verführerische Büßerin kaum neue Züge. Unter dem Einfluss des Pietismus vollzieht sich allerdings ein Wandel in der Darstellung Maria Magdalenas in der religiösen Dichtung zur Zeit der Empfindsamkeit. So verweist etwa Maisch darauf, dass das Bild Maria Magdalenas als der biblischen Mischgestalt seit Beginn des 18. Jahrhunderts in Auflösung begriffen ist.30 Des Weiteren betonen religiöse Texte, die vom Pietismus beeinflusst sind, das persönliche Verhältnis des Menschen zu Gott, wodurch die Funktion der Heiligen als Mittlerin zwischen Betendem und Gott an Bedeutung verliert.31 So wird Maria Magdalena etwa in Friedrich Gottlieb Klopstocks Der Messias (1748–1773) weder mit Maria von Bethanien noch mit der namenlosen Sünderin aus dem Lukas-Evangelium identifiziert. Maria Magdalena erscheint in Klopstocks Versepos als die „begnadete Sünderin“,32 deren Rolle als Verkünderin der Auferstehung Jesu besonders hervorgehoben wird. Dass der Aspekt der Gnade, die 29 30 31 32

Zitiert nach Franz M. Eybl: „Problematische Harmonie“, S. 41. Vgl. Ingrid Maisch: Maria Magdalena, S. 147. Vgl. ebd. Ebd.

Maria Magdalena in der Literatur des 18. Jahrhunderts

63

Maria Magdalena widerfährt, hier gegenüber ihrer Sündhaftigkeit an Bedeutung gewinnt, wird neben dem Verzicht auf die Gleichsetzung mit der namenlosen Sünderin aus Lk 7,37–50 u.a. daran deutlich, dass die Sünde der Maria Magdalena nicht expliziert wird. Ähnlich wie in der literarischen Verarbeitung des 17. Jahrhunderts betont Klopstock bei der Darstellung Maria Magdalenas nicht mehr die Reue der Sünderin, sondern vielmehr ihre Liebe zu Jesus und ihre Demut.33 So kann das Benetzen der Füße Jesu mit Tränen und das Trocknen derselben mit dem eigenen Haar, das als Geste der Reue fester Bestandteil des traditionellen Maria Magdalena-Bildes ist, auf den Lieblingsjünger Johannes als Geste der Demut und als „Ausdruck der innigsten Liebe“34 übertragen werden: „Da Johannes sich naht’, und auf den glänzenden Kelch sah,/Warf er zu Jesus’ Füßen sich nieder, küßte sie weinend,/Trocknete dann die Thränen mit seiner fallenden Locke.“35 Auch Petrus’ Vergleich mit Maria Magdalena in Bezug auf die Frage, ob der Auferstandene auch ihm erscheinen werde, verdeutlicht ihren besonderen Status wie auch die positive Wertung dieser Frauenfigur: „Herr, ach, solltest Du mir, der Dich verleugnet’, erscheinen? [...] Aber auch Magdale hat gesündigt! Wenn hat sie gesündigt?/Eh sie ihn kannte. Und hab’ ich geliebt, wie Magdale liebte?“36 Durch den intertextuellen Verweis auf die Vergebung der Schuld der Sünderin aus dem Lukas-Evangelium durch Jesus wird Maria Magdalena hier also zum Vorbild großer Liebesfähigkeit stilisiert. In dieser positiven Bewertung der Fähigkeit zu großen Emotionen liegt die Spezifik der Darstellung der Heiligen zur Zeit der Empfindsamkeit. So schreibt Maisch in Bezug auf die Darstellung der Heiligen in Der Messias: „Maria Magdalena ist der vorbildliche Mensch, der – von tiefen Empfindungen sicher geleitet – seinen Weg geht, unbeirrt und unbeirrbar.“37 Diese positive Bewertung Maria Magdalenas, die, erfüllt von großer Liebe, am Ostermorgen ihren Herrn in seinem Grab sucht, klingt auch in der zweiten Strophe eines Gelegenheitsgedichts Nikolaus Ludwig von Zinzendorfs an, in der die Emotionalität Maria Magdalenas in ihrer Begegnung mit Jesus den „Vernunfts-Bedenken“ entgegengestellt wird: Die Welt-bekante Sünderin,/Maria Magdalene,/Wirft sich zu Jesu Füssen hin,/Und thut Ihm allzuschöne./Ein Lehrer läßt bey diesem Schein/Vernunfts-Bedenken walten;/Der Heiland reißt ihm alles ein,/Die Magd muß recht behalten.38 33 34 35 36 37 38

Vgl. ebd., S. 97. Ebd., S. 98. Friedrich Gottlieb Klopstock: Der Messias. Bd. I: Text. Hrsg. v. Elisabeth Höpker-Herberg. Berlin, New York 1974, S. 95. Maria Magdalena wird bei Klopstock u.a. als „Magdale“ bezeichnet. Ebd. Ingrid Maisch: Maria Magdalena, S. 99 (Hervorhebung im Original). Nikolaus Ludwig von Zinzendorf: „110. Die Hoffnung der geringen Leute über Hiob 5, 16. Offenb. 12,10 zur Gedächtnis-Predigt seiner Frau Schwieger-Mutter, Frauen Erdmuth Benignen Reußin, gebornen Gräfin zu Solms“, in: Nikolaus Ludwig von Zinzendorf: Ergänzungsbände zu den Hauptschriften. Bd. II. Teutsche Gedichte. XII. Anhang und Zugaben I–IV zum Herrnhuter Gesangbuch. Hrsg. v. Erich Beyreuther und Gerhard Meyer. Hildesheim 1964, S. 310–313, hier S. 310.

64

Darstellung Maria Magdalenas in der deutschsprachigen Literatur bis 1900

Maria Magdalena wird also in der Dichtung der Empfindsamkeit durch ihre große Liebe zu Gott zur vorbildlichen Gläubigen. Diese Konzeption der Heiligen spiegelt pietistisches Gedankengut wider, demzufolge „die Religion [...] aus Dogma und ritueller Erstarrung zu einer tieferen Innerlichkeit befreit werden soll“.39 Unter dem Einfluss der sich vollziehenden Säkularisierung verliert das religiöse Moment der literarischen Figur Maria Magdalena im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts an Bedeutung. Im Zuge dieser Herauslösung des Magdalenenbildes aus dem genuin christlichen Kontext nähert sich die Darstellung der Heiligen der des „Typ[s] der bekehrten Kurtisane“40 bzw. der courtisane rachetée an (siehe unten, Kap. 7.1.6). Dieser Wandel im Maria Magdalena-Bild lässt sich durch die Motive der Schönheit, der sündigen Vergangenheit sowie der Läuterung, die durch ihre Fähigkeit zu ‚reiner‘ Liebe ermöglicht wird, erklären, da diese Eigenschaften auch der Figur der bekehrten Kurtisane zugeschrieben werden. Im Kontext der Annäherung Maria Magdalenas an den Typus der bekehrten Kurtisane spricht Hansel von der „doppelten Richtung“ des Magdalenenmotivs als „Bußmotiv und als Liebesmotiv“, die besonders wichtig ist für die adäquate Analyse moderner, aktualisierender Darstellungen der Heiligen (siehe unten, Kap 6.1).41 Tritt die Läuterung der Gefallenen in den bisher vorgestellten Verarbeitungen des Maria Magdalena-Stoffes noch durch christliche Reue bzw. Bußhandlungen ein,42 so ist es im Fall der Kurtisane „die Liebe als sittliche Kraft“, die zur Läuterung der Gefallenen führt.43 Diese Läuterung wird im Falle des Typus der bekehrten Kurtisane meist durch die Liebe zu einem Mann ausgelöst, welche die Frau „zur Erkenntnis der eigenen Unwürdigkeit und zur Entsagung befähigt“.44 Die Übertragung von Elementen des Maria Magdalena-Bildes auf die literarische Gestaltung des Typs der bekehrten Kurtisane lässt sich am Beispiel von Goethes Ballade „Der Gott und die Bajadere“ von 1797 nachvollziehen. Goethe gestaltet hier in Anlehnung an die indische Legende die Begegnung des Gottes Mahadöh mit einer 39 40

41 42

43 44

Ingrid Maisch: Maria Magdalena, S. 94. Ebd., S. 86. Wie eng der Typus der Kurtisane mit der Darstellung der Heiligen Maria Magdalena in der Literatur verknüpft ist, zeigt ein Beispiel aus der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts, auf das Hansel in seiner Untersuchung des Magdalenenmotivs verweist. So werden in La dame aux Camélias der sterbenden Marguerite die an Lk 7,36–50 angelehnten Worte: „Dir werden viele Sünden vergeben, weil Du viel geliebt hast!“ zugerufen (zitiert nach Hans Hansel: Die MariaMagdalena-Legende, S. 80). Ebd., S. 79. Wie bereits erwähnt, findet sich eine Tendenz zur Hervorhebung der Liebe Maria Magdalenas mit gleichzeitigem Zurücktreten des Motivs der genuin christlichen Reue bereits in früheren Texten (vgl. etwa Spees Spiegel der Liebe). Neu ist bei der Annäherung der Figur der Maria Magdalena an den Typus der bekehrten Kurtisane allerdings das Herauslösen der Reue aus jeglichem religiösen Kontext. Hans Hansel: Die Maria-Magdalena-Legende, S. 43 (Sperrung im Original). Elisabeth Frenzel: Motive der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. 6., überarb. und ergänzte Aufl. Stuttgart 2008, S. 445. Die „eigene Unwürdigkeit“ scheint sich hier auf die Prostitution des eigenen Körpers zu beziehen.

Maria Magdalena in der Literatur des 18. Jahrhunderts

65

Bajadere, die Züge einer Prostituierten trägt. So antwortet sie etwa auf die Frage des sich ihr in menschlicher Gestalt zeigenden Mahadöh, wer sie sei, mit den Worten: „Bajadere,/Und dies ist der Liebe Haus“45 und lädt den Gast zu sich ein („Schöner Fremdling, lampenhelle/Soll sogleich die Hütte sein./Bist du müd, ich will dich laben,/Lindern deiner Füße Schmerz./Was du willst, das sollst du haben,/Ruhe, Freuden oder Scherz“).46 Im Zuge der „Sklavendienste“, die die Bajadere dem Gott leistet, verliebt sie sich in ihn. Der innere Wandel der Prostituierten wird durch die veränderte Qualität der Beziehung zu ihrem Freier deutlich: „Und des Mädchens frühe Künste/werden nach und nach Natur“ (Strophe 4).47 Die Läuterung der ‚Gefallenen‘ besteht hier also in ihrer Abkehr vom profitgeleiteten Interesse am Mann hin zu selbstloser Liebe, die sich in der späteren Selbstopferung der Bajadere äußert. In der Beschreibung der äußeren Anzeichen der „Liebe Qual“ finden sich im Niedersinken zu Füßen des Mannes erste Analogien zur Liebe Maria Magdalenas zu Jesus: „Und das Mädchen steht gefangen,/Und sie weint zum erstenmal;/Sinkt zu seinen Füßen nieder,/Nicht um Wollust noch Gewinst“.48 Es tritt hier also die Läuterung der ‚Gefallenen‘ durch die Kraft der ‚reinen‘ Liebe zum Geliebten ein, die frei von Profitstreben und sexuellem Verlangen ist, wobei die Analogie zum Magdalenenstoff durch die Göttlichkeit des Geliebten noch gesteigert ist. Die Parallelen der Figurenkonstellationen Bajadere – Mahadöh und Maria Magdalena – Jesus werden anhand des folgenden Zitats Georg Wilhelm Friedrich Hegels besonders deutlich: Wir finden hier [in „Der Gott und die Bajadere“] die christliche Geschichte der büßenden Magdalena in indische Vorstellungsweisen eingekleidet: die Bajadere zeigt dieselbe Demut, die gleiche Stärke des Liebens und Glaubens, der Gott stellt sie auf die Probe, die sie vollständig besteht, so daß es nun zur Erhebung und Versöhnung kommt.49

Nach einer gemeinsamen Liebesnacht erwacht die Bajadere am Morgen neben ihrem toten Liebhaber. Als der Leichnam zur Feuerbestattung getragen wird, äußert sich die Trauer der Kurtisane in „Geschrei“: „Meinen Gatten will ich wieder!/Und ich such ihn in der Gruft.“50 Der intertextuelle Verweis auf die trauernde Maria Magdalena, die am Ostermorgen nach ihrem sponsus sucht, ist hier besonders auffällig, da im Vorherigen 45 46 47

48 49

50

Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. I. Abt, Bd. 2: Gedichte 1800–1832. Hrsg. v. Karl Eibl. Frankfurt/M. 1988, S. 150–153, hier S. 150. Ebd., S. 151. Dem hier verwendeten Begriff der Natur liegt Goethes Ideal einer „natürlichen, unkorrumpierten Entfaltung“ des „geistig, emotional und sinnlichen erfüllten Dasein[s]“ zugrunde. Vgl. Rainer Hillenbrand: „Die Reue der Bajadere: Sklavendienste und klassische Humanität in Goethes indischer Legende“, in: Michigan Germanic Studies 18, 2 (1992), S. 126–133, hier S. 128. Johann Wolfgang Goethe: Gedichte 1800–1832, S. 151. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Bd. I.: Vorlesungen über die Ästhetik. Auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu ed. Ausg. Redaktion Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. Frankfurt/M.1986, S. 504. Vgl. hierzu die der Legende entstammende Vorstellung von der elevatio Maria Magdalenas zu den sieben Gebetsstunden. Johann Wolfgang Goethe: Gedichte 1800–1832, S. 152.

66

Darstellung Maria Magdalenas in der deutschsprachigen Literatur bis 1900

in Bezug auf den Ort der Feuerbestattung lediglich von einer „Flammengrube“, die man nur schwerlich als „Gruft“ bezeichnen kann, die Rede ist. Goethe hebt hier also die Parallele zwischen seiner Frauenfigur und Maria Magdalena besonders hervor. Nachdem die Bajadere sich trotz der Ermahnung der Priester, dass nur die Witwe „Pflicht und Recht habe“, sich mit dem Gatten verbrennen zu lassen, zu ihrem Geliebten ins Feuer stürzt, fährt dieser, die Bajadere auf seinen Armen tragend, zum Himmel auf. Die Schlussverse der Ballade („Es freut sich die Gottheit der reuigen Sünder;/Unsterbliche heben verlorene Kinder/Mit feurigen Armen zum Himmel empor.“)51 erinnern an verschiedene Jesusworte, in denen die besondere Liebe Gottes zu Sündern und Unterprivilegierten thematisiert wird (vgl. etwa Mt 21,31:„ Wahrlich, ich sage euch: Die Zöllner und Huren kommen eher ins Reich Gottes als ihr“).52 Die Reue der Bajadere, die den Typus der selbstlosen Kurtisane verkörpert, zeigt sich hier in ihrem Wandel von der Prostituierten, die ihren Körper verkauft, hin zur bedingungslos Liebenden, die ihr eigenes Leben für den Geliebten opfert und steht im Gegensatz zur genuin christlichen Buße Maria Magdalenas, die Weltabkehr und Askese wählt. Dass das Fehlverhalten der Frau hier nicht in ihrer Sexualität oder Sinnenfreude begründet ist, kommt in der Ballade dadurch zum Ausdruck, dass der Gott der Bajadere in „des Lagers vergnüglicher Feier“ beiwohnt. Zu dieser Aufwertung der Sinnlichkeit des Kurtisanentypus im Vergleich zur Buße der Maria Magdalena schreibt Rainer Hillenbrand: Im Gott wird ein Gegen-Christus, in der Bajadere eine Gegen-Magdalena gestaltet. Der Gott erlöst die Sünderin von ihrer Unnatur, aber nicht von ihrer Sinnlichkeit; die Bajadere verfällt in ihrer Reue nicht, wie bei Konvertiten häufig, ins entgegengesetzte Extrem der Askese, sondern verlangt das Gattenrecht. Sie findet zu ihrer natürlichen Menschlichkeit.53

Eine solche natürliche Menschlichkeit, die die positive Bewertung der Sexualität einschließt, zeichnet auch die Darstellungen Maria Magdalenas in der literarischen Lebensreform aus.

5.4 Maria Magdalena in der Literatur des 19. Jahrhunderts In der Literatur des 19. Jahrhunderts bleibt die Vorstellung von Maria Magdalena als schöner Kurtisane weiterhin vorherrschend. So erscheint sie etwa in Clemens Brentanos Lehrjahre Jesu (1838) als schöne Frau, die aus wohlhabender Familie stammt. Ihre 51 52 53

Ebd., S. 153. LB, Mt 21,31, S. 31. Rainer Hillenbrand: „Die Reue der Bajadere“, S. 130. Dem entspricht auch die Einschätzung Hansels, der in Bezug auf die Ballade schreibt: „Nicht Reue, die zur Buße und Sühne führt, sondern Liebe und Demut, Treue und Opferbereitschaft machen die Verlorene des himmlischen Lohnes würdig.“ (Hans Hansel: Die Maria-Magdalena-Legende, S. 78).

Maria Magdalena in der Literatur des 19. Jahrhunderts

67

dämonische Besessenheit, die bei Brentano durch ihr prunkvolles Äußeres versinnbildlicht wird,54 führt allerdings zu ihrem gesellschaftlichen Abstieg und mündet in Prostitution. Durch die Begegnung mit Jesus setzt die Läuterung Maria Magdalenas ein und sie wird zur Anhängerin der christlichen Lehre (vgl. hierzu auch die Ausführungen zu Paul Heyses Verarbeitung des Magdalenenstoffs in Kap. 6.2.1). Seit Mitte des 19. Jahrhunderts lässt sich neben der Darstellung Maria Magdalenas als Kurtisane bzw. Prostituierte ein weiterer Aspekt in literarischen Verarbeitungen des Magdalenenstoffs nachweisen, nämlich die Verwendung des Namens der Heiligen als Synonym für den Typus der ‚Gefallenen‘. So kann etwa der Titel von Friedrich Hebbels Trauerspiel Maria Magdalene von 1844 als Verweis auf das im Drama thematisierte „Fehlverhalten im Bereich der Sexualität“55 der weiblichen Hauptfigur gedeutet werden. Dass Maria Magdalena durch die Assoziation von Sexualität und Sünde hier „nur noch die gefallene Sünderin“56 repräsentiert, wird noch dadurch hervorgehoben, dass das Stück keine Verarbeitung des traditionellen Magdalenenstoffs darstellt, da sich in Maria Magdalene, das nicht vom Leben der „Mischgestalt aus Bibel und Legende”, sondern vom Schicksal der verführten Klara handelt, weder das Buß- noch das Liebesmotiv findet (siehe oben, S. 64). Die Heilige wird aufgrund ihrer Rolle als Sünderin vielmehr zur „düstere[n] Namenspatronin für gefallene Frauen“.57 In ihrer Rolle als Fürbitterin für die gefallene Frau erscheint Maria Magdalena bereits im zweiten Teil von Goethes Faust (1832), wo sie als „Magna peccatrix“ des LukasEvangeliums neben der Samariterin aus dem Johannes-Evangelium und Maria Aegyptica als eine der „großen Sünderinnen“, die für die Verführte Gretchen um Gnade bitten, dargestellt wird.58 Ein wesentlicher Unterschied zwischen der Verwendung des Namens der Heiligen als Synonym für eine gefallene Frau und der Gestaltung der literarischen Figur der Maria Magdalena findet sich im Hinblick auf den Aspekt der Reue. Setzt mit der Reue bzw. der Buße der Maria Magdalena in den bisher betrachteten literarischen Verarbeitungen des Magdalenenstoffs der Wandel von einem sündigen hin zu einem gotterfüllten Leben bzw. zu einer reinen, selbstlosen Liebe ein, so zeichnet sich die Gefallene in Hebbels Stück durch ihre Passivität aus. So schreibt etwa Maisch in Bezug auf die Figur der Klara: Aus der Bibel wird die Gestalt einer moralisch anfechtbaren und von der Gesellschaft geächteten Frau übernommen; der Charakter dieser Frau, wie er sich in der Tradition herausgebildet hat, wird jedoch verändert: es handelt sich nicht mehr um die aktiv 54 55 56 57

58

Vgl. Ingrid Maisch: Maria Magdalena, S. 106 ff. Ebd., S. 127. Ebd., S. 141. Ebd., S. 126. Der Titel von Hebbels Trauerspiel ist auf die traditionsreiche Darstellung Maria Magdalenas als Patronin der „reuigen Büßerinnen“ und „Verführten“ zurückzuführen (Marga Anstett-Janssen: „Maria Magdalena“, Sp. 518). Der Gebrauch des Namens der Heiligen als Synonym für eine aus der Gesellschaft ausgestoßene Frau und die damit verbundene Sozialkritik findet sich auch in Ludwig Thomas Drama Magdalena von 1912, vgl. Kap. 6.2. Vgl. Hans Hansel: Die Maria-Magdalena-Legende, S. 75.

68

Darstellung Maria Magdalenas in der deutschsprachigen Literatur bis 1900 Verführende (die Sünderin, die magna peccatrix), die schließlich aus eigenem Antrieb ihre Situation zu verändern sucht, sondern um eine passiv Verführte, über die das Schicksal unerbittlich hinwegrollt.59

Somit ist Hansel in seiner Einschätzung, dass es sich bei Hebbels Stück nicht um eine Verarbeitung des Magdalenenmotivs bzw. -stoffs handelt, zuzustimmen.60 Dass Hebbels Trauerspiel keine typische Verarbeitung des Magdalenenstoffs darstellt, erklärt auch die Irritation des zeitgenössischen Publikums, auf die Maisch hinweist. Statt der naturalistischen Darstellung eines Frauenschicksals hätten die Leser des 19. Jahrhunderts laut Maisch Maria Magdalena in der „Rolle der schönen Sünderin und reuigen Büßerin“ erwartet, wie sie aus der bildenden Kunst und Trivialliteratur des 19. Jahrhunderts bekannt gewesen sei.61 Neben der Figur der Klara aus Hebbels Trauerspiel finden sich in der Literatur des 19. Jahrhunderts noch viele weitere „Magdalenen“,62 wobei der Name der Heiligen hier wiederum als Synonym für den Typus der ‚Gefallenen‘ zu verstehen ist. Als Beispiele führt Maisch u.a. Marie aus Woyzeck, Anna Karenina oder Effi Briest aus den gleichnamigen Romanen an, wobei in den jeweiligen Werken zum Teil auch direkte Bezüge zur Heiligen Maria Magdalena hergestellt werden. So wünscht sich etwa Büchners Marie, büßen zu können wie ihre Namenspatronin, auf die sie sich mit dem intertextuellen Verweis auf das Lukas-Evangelium bezieht: Und trat hinein zu seinen Füßen und weinete, und fing an, seine Füße zu netzen mit Tränen und mit den Haaren ihres Hauptes zu trocknen und küssete seine Füße und salbete sie mit Salben. Schlägt sich auf die Brust: Alles tot! Heiland! Heiland! Ich möchte dir die Füße salben.63

59 60 61

62

63

Ebd., S. 125. Vgl. hierzu auch die Darstellung Maria Magdalenas als situationsmächtige Verführerin in der literarischen Lebensreform. Vgl. Hans Hansel: Die Maria-Magdalena-Legende, S. 54. Vgl. Ingrid Maisch: Maria Magdalena, S. 126f. Als ein Beispiel für die Adaption des Magdalenenstoffs in der Trivialliteratur des frühen 19. Jahrhunderts nennt Maisch die Erzählung Der Fastnachtsball von Carl Heun (1824). Hier wird ein schönes, junges Mädchen mit einem Gemälde der Heiligen Maria Magdalena verglichen, welches Teil des Interieurs eines Herrenschlafzimmers ist (vgl. ebd., S. 126). Hierin besteht eine Parallele zu der Tendenz zum Frivolen und Pornographischen, die sich für bildliche Darstellungen Maria Magdalenas in der Kunst des 19. Jahrhunderts nachweisen lässt (siehe Kap 4.3.). Vgl. Theodor Fontanes Brief an Colmar Grünhagen vom 10. Oktober 1895. Fontane spricht hier in Bezug auf seine Frauengestalten, die „alle einen Knax weghaben“ und in die er sich „nicht um ihrer Tugenden, sondern um ihrer Menschlichkeiten d.h. um ihrer Schwächen und Sünden willen“ verliebe, von seiner Wertschätzung der „Ehrlichkeit, der man bei den Magdalenen mehr begegnet, als bei den Genoveven“ (Theodor Fontane: Werke, Schriften und Briefe. Bd.4: 1890–1898. Hrsg. v. Otto Drude und Helmuth Nürnberger. Darmstadt 1982, S. 487f.). Georg Büchner: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente. Bd.1. Hrsg. v. Henri Poschmann. Frankfurt/M. 1992, S. 167. Vgl. hierzu Ingrid Maisch: Maria Magdalena, S. 128.

Zusammenfassung

69

5.5 Zusammenfassung Den Überblick über die literarische Verarbeitung des Magdalenenstoffs zusammenfassend, ist festzuhalten, dass Maria Magdalena in der Literatur des Mittelalters v.a. als Erstzeugin und Verkünderin der Auferstehung erscheint, die in ihrer Rolle als Sünderheilige dem gläubigen Menschen als Exempel der göttlichen Gnade gilt. Im 17. Jahrhundert wird Maria Magdalena zur schönen Büßerin, die in ihrer Rolle als die den Tod ihres Herrn beweinende Liebende dargestellt wird. Die Literatur des 18. Jahrhunderts nähert das Bild der Heiligen dem Typus der schönen, edlen Kurtisane an. Im 19. Jahrhundert schließlich tritt neben die Darstellung der Heiligen als Kurtisane, die weiterhin bestehen bleibt, der „säkularisierte Magdalenentypus“,64 wie er sich u.a. bei Hebbel findet. Dieser Typus zeichnet sich dadurch aus, dass nicht mehr die traditionelle Mischgestalt Maria Magdalena dargestellt bzw. der Magdalenenstoff umfassend adaptiert wird, sondern dass der Name der Heiligen zum Synonym für die ‚Gefallene‘ wird. Festzuhalten ist, dass es sich bei diesem Typus um keine Verarbeitung des eigentlichen Magdalenenstoffs handelt, da hier die für den Magdalenenstoff typischen Motive von Buße und Liebe fehlen.65 Um 1900 zeichnet sich in der Literatur wieder eine verstärkte Tendenz zur Darstellung Maria Magdalenas als der biblisch-legendären Gestalt ab, die häufig in der Rolle der edlen Kurtisane und mitunter, dem zeitgenössischen Geschmack entsprechend, als Tänzerin erscheint, deren Schönheit und Sinnlichkeit betont werden (vgl. hierzu Kap. 6.2.4 und 6.3.6).66

64 65

66

Volker Röhr: Der Magdalena-Typus im Wiener Volksstück Kaiserischer Prägung. Phil. Diss. masch. München 1994, S. 60. Der sozialen Ausgrenzung der „Magdalenen“, die häufig zum Tod der jeweiligen Frauenfiguren führt, steht die überwiegend positive Wertung der „bekehrten Sünderin“ Maria Magdalena in der Literatur gegenüber. Zum Zusammenhang von Nietzsches Kategorie des Dionysischen und der Tanzbegeisterung um 1900, auf die in einigen aktualisierenden Verarbeitungen des Magdalenenstoffs um 1900 intertextuell Bezug genommen wird, vgl. exemplarisch Leona van Vaerenbergh: „Der dionysische Tanz und das ‚Lebenspathos‘ der Jahrhundertwende: Eine Interpretation lyrischer Texte“, in: Neophilologus 69 (1985), S. 579–589.

6

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

6.1 Vorbemerkung Bevor die Texte des Korpus analysiert werden, gilt es, einige theoretische Voraussetzungen festzuhalten, die für die Untersuchung literarischer Verarbeitungen des Magdalenenstoffs zu beachten sind. Nach wie vor grundlegend für die literaturwissenschaftliche Untersuchung der Figur der Maria Magdalena ist Hansels These von der „doppelten Richtung“ des Magdalenenmotivs (siehe oben, S. 64).1 Hansel untergliedert, wie bereits erwähnt, das Magdalenenmotiv in Buß- und Liebesmotiv. Während das Bußmotiv laut Hansel auf neutestamentliche Quellen zurückzuführen sei, heißt es vom Motiv der hier idealisierten „reinigende[n]“ Liebe: Dagegen tritt das Liebesmotiv nicht seit einer bestimmten Quelle hervor. Die Urkraft reinigender Liebe liegt im menschlichen Geschlechte von Anbeginn an [...]. Damit wird das Magdalenenmotiv zu [...] einem Menschheitsmotiv schlechthin.2

Die Unterscheidung von Buß- und Liebesmotiv erlaubt es, moderne Verarbeitungen des Magdalenenstoffs zu untersuchen, in denen nicht notwendigerweise die traditionelle Maria Magdalena-Figur, sondern Frauenfiguren dargestellt werden, die als Postfigurationen der Mischgestalt gelten können. Es verwundert nicht, dass das Bußmotiv in modernen Magdalenentexten um 1900 unter dem Einfluss einer neuen Religiosität an Bedeutung verliert, während das Liebesmotiv auf innovative, aktualisierende Weise verarbeitet wird. Eine neben Hansels Aufspaltung des Magdalenenmotivs weitere, für die Untersuchung der Korpustexte wichtige analytische Vorannahme stellt Magda Mottés Unterschei1

2

Abweichend von Hansel verwende ich statt „Magdalenenmotiv“ den Begriff ‚Magdalenenstoff‘. Dies scheint mit Verweis auf Frenzel gerechtfertigt, die den Terminus ‚Stoff‘ wie folgt definiert: „[...] eine durch Handlungskomponenten verknüpfte, schon außerhalb der Dichtung vorgeprägte Fabel, ein ‚Plot‘, der als [...] Überlieferung durch Mythos und Religion oder als historische Begebenheit an den Dichter herangetragen wird und ihm einen Anreiz zu künstlerischer Gestaltung liefert.“ (Elisabeth Frenzel: Stoffe der Weltliteratur, S. VII) (Hervorhebung A.G.-T.). Hans Hansel: Die Maria-Magdalena-Legende, S. 79.

Vorbemerkung

71

dung zwischen der Historisierung biblischer Stoffe und deren Aktualisierung dar. Letztere definiert sie wie folgt: Entfernt sich die Paraphrasierung spürbar vom Urmuster und ist der Bezug zur jeweiligen Gegenwart des Autors vorherrschend, so ist der Begriff der Aktualisierung angezeigt. [...] Die Aktualisierung im engeren Sinne geht insofern über die Paraphrasierung hinaus, als sie die biblische Vorlage völlig in die Gegenwart des jeweiligen Autors transformiert. Vielfach sind die Namen geändert, die Requisiten der Zeit angepasst, biblische Motive mit Zeitgeschehen verknüpft. Mehr als die historisierende Darstellung spiegelt die aktualisierende die Auseinandersetzung eines auf sich selbst zurückgeworfenen zeitgebundenen Ichs mit der Bibel.3

Die Verknüpfung biblischer Motive mit dem Zeitgeschehen kommt in den Korpustexten in der Amalgamierung des Magdalenenstoffs mit zeitgenössischen Wissensbeständen der Jahrhundertwende zum Ausdruck. Im Zusammenhang mit der aktualisierenden Darstellung Maria Magdalenas in der literarischen Lebensreform sei auch Uwe Kärchers Begriff der „Jesustransfiguration“ erwähnt. Kärcher stuft die Transfiguration als einen Spezialfall der Postfiguration ein. Mit Verweis auf Theodore Ziolkowski definiert Kächler den Terminus wie folgt: Was er [Ziolkowski] als Transfiguration bezeichnet, ist ein Spezialfall des postfigurativen Verfahrens. Hier handelt es sich nicht bloß um eine literarische Gestalt, die einzelne Züge Jesu trägt, sondern um eine umfassendere Verwandlung des geschichtlichen Jesus in eine moderne Gestalt.4

Kächler wertet solche modernen Jesus-Figuren als einen „Versuch, die Gestalt einer vergangenen Epoche, deren Lebenswelt fremd und deren Weltanschauung nicht mehr unmittelbar nachvollziehbar ist, für die Gegenwart zu retten“.5 Genau diese Einschätzung trifft auf die Verarbeitungen des Magdalenenstoffs im Korpus dieser Arbeit zu. Hier wird nicht die biblisch-legendarische Maria Magdalena-Figur, wie sie aus der literarischen Tradition bekannt ist, dargestellt, sondern es wird entweder eine ‚moderne Magdalena‘ konzipiert oder, wie im Fall von Johannes Schlafs biblischer Erzählung, die traditionelle Mischgestalt in ein historisches Setting versetzt, das deutlich durch zeitgenössische Wissenselemente der Jahrhundertwende geprägt ist. Wie bereits erwähnt, liegt ein Schwerpunkt der Textanalysen auf der Herausarbeitung intertextueller Bezüge zu biblischen, literarischen sowie weltanschaulichen oder philosophischen Texten. Im Folgenden werden daher Pfisters Kriterien für die „Intensität intertextueller Verweise“ kurz skizziert. Auf die Unterscheidung zwischen System- und Einzeltextreferenz (siehe Kap. 2.4) soll hier nicht noch einmal eingegangen werden. Pfister unterscheidet zunächst zwischen quantitativen und qualitativen Kriterien, wobei er bei den quantitativen Kriterien differenziert zwischen der

3 4 5

Magda Motté: Esthers Tränen, Judiths Tapferkeit, S. 16 (Hervorhebung A.G.-T.). Uwe Kächler: Die Jesusgestalt in der Erzählprosa des deutschen Naturalismus. Frankfurt/M. 1993, S. 68. Ebd., S. 178.

72

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

„Dichte und Häufigkeit der intertextuellen Bezüge“ und der „Zahl und Streubreite der ins Spiel gebrachten Prätexte“.6 Von sechs qualitativen Kriterien nennt Pfister zunächst das der Referentialität. Pfister geht davon aus, dass die Intensität des intertextuellen Bezugs in dem Maße zunimmt, in dem ein Prätext im Folgetext thematisiert wird. Pfister erläutert den Begriff der Referentialität am Beispiel des Zitats. Ein Zitat z.B., dessen Funktion sich in der Übernahme einer fremden und sich dem eigenen Zusammenhang nahtlos einfügenden Wendung erschöpft, bedient sich dieser Wendung und des Textes, dem sie entnommen ist, und ist damit von geringerer intertextueller Intensität, während andererseits in dem Maße, in dem der Zitatcharakter hervorgehoben und bloßgelegt und damit auf das Zitat und auf seinen ursprünglichen Kontext verwiesen wird, die Intensität des intertextuellen Bezugs zunimmt.7

Dieser Erläuterung entsprechend weisen viele der Korpustexte einen hohen Grad an Intertextualität auf, wenn etwa bei der Darstellung erotischer Szenen auf bekannte Bibelworte angespielt bzw. diese wörtlich zitiert werden. Als zweites Kriterium nennt Pfister das der Kommunikativität. Hier geht es um die Frage, wie bewusst sich sowohl Rezipienten als auch Autoren der intertextuellen Bezüge innerhalb eines Texts sind.8

6 7 8

Manfred Pfister: „Konzepte der Intertextualität“, S. 30. Ebd., S. 26. Vgl. hierzu auch die Möglichkeit ‚unbewusster‘ Intertextualität, die u.a. im rezeptionsästhetisch ausgerichteten Intertextualitätsmodell von Ernest W.B. Hess-Lüttich integriert wird. Hess-Lüttich negiert im Gegensatz zu Pfister die „Notwendigkeit ‚intentionaler Explizität‘“ (Irina O. Rajewksy: Intermedialität, S. 50): „Es gibt unfreiwillige Verweise, verheimlichte Rückgriffe, unbewußte Rekurse auf abgesunkenes Wissen: der Bezug muss sich freilich analytisch belegen oder zumindest plausibel machen lassen.“ (Ernest W.B. Hess-Lüttich: „Intertextualität und Medienvergleich“, in: Text Transfers. Probleme intermedialer Übersetzung. Hrsg. v. Ernest W.B. Hess-Lüttich. Münster 1987, S. 9–20, hier S. 10). Solche schwer nachweisbaren Formen nichtintentionaler Intertextualität, so es sie denn gibt, und Formen unmarkierter intertextueller Bezüge sind analytisch kaum trennbar. Vgl. hierzu auch die Einschätzung Pfisters, dass ein Autor in seinem Text möglicherweise keine Markierung vornimmt, wenn dieser „auf Texte verweist, die einem breiteren Leserpublikum bekannt sind.“ (Manfred Pfister: „Konzepte der Intertextualität“, S. 32). Als Beispiel nennt Pfister hier u.a. Verweise auf die Bibel, die sich, ebenfalls in unmarkierter Form, in der Mehrzahl der Korpustexte nachweisen lassen. Vgl. hierzu auch die Einschätzung Helbigs, dass ein „A[utor] eine Markierung für überflüssig [halten kann], weil er [eine] R[eferenz] als allgemein bekannt voraussetzt“ (Jörg Helbig: Intertextualität und Markierung, S. 73). Helbig verallgemeinert diesen möglichen Zusammenhang von hohem Bekanntheitsgrad eines Prätexts und fehlender Markierung des intertextuellen Bezugs im Folgetext an anderer Stelle: „Zu vermuten ist somit eine generelle Korrelation zwischen dem Bekanntheitsgrad eines jeweiligen Referenztextes in einem spezifischen historischen Kontext und der Bereitschaft zur Signalisierung einer Bezugnahme auf diesen.“ (ebd., S. 159). Dies gilt im Besonderen für die zeitgenössischen weltanschaulichen Konzepte, auf die die Autoren der Korpustexte intertextuell Bezug nehmen. Dass unmarkierte intertextuelle Bezüge, v.a. auf wenig bekannte Prätexte, einen Autor leicht dem Verdacht des Plagiierens aussetzen können, zeigte 2010 die öffentliche Debatte um Helene Hegemanns Roman Axolotl Roadkill.

Vorbemerkung

73

Laut Pfister ist in diesem Fall das Maximum an Intensität des intertextuellen Bezugs dann erreicht, wenn sich der Autor des intertextuellen Bezugs bewußt ist, er davon ausgeht, daß der Prätext auch dem Rezipienten geläufig ist und er durch eine bewusste Markierung im Text deutlich und eindeutig darauf verweist. Als Prätexte kommen dann vor allem die kanonisierten Texte der Weltliteratur in Frage bzw. gerade aktuelle und breit rezipierte und diskutierte Texte; [...].9

Beispiele für die letztgenannten, in einer Epoche sehr populären Schriften sind im Falle der Jahrhundertwende u.a. Ernst Haeckels Welträthsel (1899) und Friedrich Nietzsches Also sprach Zarathustra (1883–1886), auf die in den Korpustexten angespielt wird. Das dritte Kriterium Pfisters, nämlich das der Autoreflexivität, geht über einen hohen Grad an Referentialität und Kommunikativität noch insofern hinaus, als hier der Autor die intertextuelle Bedingtheit und Bezogenheit eines Textes in diesem selbst reflektiert, d.h. die Intertextualität nicht nur markiert, sondern sie thematisiert, ihre Voraussetzungen und Leistungen rechtfertigt oder problematisiert.10

Dieser Fall der expliziten Thematisierung der eigenen intertextuellen Bezüge lässt sich in den Korpustexten nicht nachweisen; ein Beispiel für Autoreflexivität liefert allerdings folgende metatextuelle Passage aus Dehmels offenem Brief „[a]n das Königliche Amtsgericht II, Berlin“, in dem er seine in „Venus Consolatrix“ gestaltete Zusammenziehung aus Muttergottes und Maria Magdalena mit Verweis auf die biblischen Vorlagen rechtfertigt: Schließlich erlaube ich mir noch die naheliegende Bemerkung, daß durch die Herausreißung gewisser Stellen aus ihrem geistigen Zusammenhang die Schriften aller Dichter, vom Altertum bis in die Neuzeit, ja selbst die Biblischen Schriften, benutzt werden könnten, um höchst unsittliche Machwerke daraus zusammenzustellen. Das dürfte aber keinen Schatten auf den ehrwürdigen Charakter dieser Schriften werfen, sondern nur auf die Gesinnung dessen, der sie aus Bosheit oder Unverstand in schlechten Ruf bringen möchte.11

Mit dem vierten Kriterium der Strukturalität geht es Pfister um die „syntagmatische Integration der Prätexte in den Text“.12 Hier kann beispielsweise unterschieden werden zwischen dem bloßen Anzitieren eines Prätexts und dessen Instrumentalisierung zur „strukturellen Folie eines ganzen Textes“.13 Beispiele für den letztgenannten Fall finden wir in Hollaenders Roman, in dem der Autor mit seiner Figurenkonstellation auf Goethes Wahlverwandtschaften verweist (siehe unten Kap. 6.3.7), und in einem kurzen Prosatext 9 10 11 12 13

Manfred Pfister: „Konzepte der Intertextualität“, S. 27. Ebd., S. 27. Richard Dehmel: Dichtungen, Briefe, Dokumente. Hrsg. v. Paul Johannes Schindler. Hamburg 1963, S. 127. Manfred Pfister: „Konzepte der Intertextualität“, S. 28. Ebd.

74

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

Dehmels, der sich als Kapitel eines apokryphen Evangeliums ‚ausgibt‘.14 Anhand des fünften Kriteriums für die Intensität intertextueller Verweise, der Selektivität, soll entschieden werden können, „wie pointiert ein bestimmtes Element aus einem Prätext als Bezugsfolie ausgewählt wird und hervorgehoben wird und wie exklusiv oder inklusiv der Prätext gefaßt ist, d.h. auf welchem Abstraktionsniveau er sich konstituiert“.15 In Hinblick auf dieses Kriterium weist z.B. Johannes Schlafs biblische Erzählung „Jesus und Mirjam“, die sich an den im Neuen Testament geschilderten Begegnungen Jesu mit Maria von Magdala orientiert, einen höheren Grad an Intertextualität auf als Otto Erich Hartlebens Gedicht „Der Magdalenenwein“, in dem der weiblichen Hauptfigur in Anspielung auf das christliche Ritual der Eucharistie Wein vom ‚Gegenerlöser‘ Dionysos gereicht wird. Bei der Konzeption des sechsten Kriteriums im Rahmen seiner „typologischen Differenzierung unterschiedlicher intertextueller Bezüge“ knüpft Pfister an Bachtins Konzept der Dialogizität an, das auch den Ausgangspunkt für Kristevas Definition von Intertextualität bildet. Was mit Bachtins Begriff der „Dialogizität“ gemeint ist, verdeutlicht ein Zitat aus dessen Ästhetik des Wortes: Der Prosaschriftsteller erhebt diese den Gegenstand umgebende soziale Vielfalt der Rede zu einem vollendeten Bild, das von einer Fülle dialogischer Widerklänge, künstlerisch intendierter Resonanzen auf alle wesentlichen Stimmen und Töne dieser sozialen Vielfalt durchdrungen ist. Aber jedes außerkünstlerische – alltägliche, rhetorische, wissenschaftliche – Prosawort muß sich, wie gesagt, unbedingt auch am „bereits Gesagten“, „Bekannten“, an der „allgemeinen Meinung“ orientieren. Die dialogische Orientierung ist jedem Wort eigentümlich. Sie ist die natürliche Einstellung jedes lebendigen Wortes. Auf allen seinen Wegen zum Gegenstand, in allen Richtungen trifft das Wort auf ein fremdes Wort und muß unweigerlich mit ihm in eine lebendige, intensive Wechselbeziehung eintreten.16

Bachtins Komplementärbegriff zur Dialogizität ist der der Monologizität, mit dem „die Dominanz nur einer Stimme“17 bezeichnet wird. Pfister weist darauf hin, dass Bachtin hier nicht nur von einem rein ästhetischen Gegensatzpaar ausgeht, sondern sein dichotomes Prinzip auch auf den Bereich des Sozialen anwendet: Eine autoritäre und hierarchisch strukturierte Gesellschaft wird die monologischen Affirmationen eines fixen Konsensus, einer stillgelegten Wahrheit durchzusetzen versuchen, während das dialogische Prinzip im Bereich von Politik und Gesellschaft den zentralisierten Machtund Wahrheitsanspruch subversiv herausfordert und unterminiert.18

Dementsprechend geht Pfister in Bezug auf sein Kriterium der Dialogizität davon aus, dass Texte „von umso höherer intertextueller Intensität sind, je stärker der ursprüngliche und der neue Zusammenhang in semantischer und ideologischer Spannung 14 15 16 17

18

Siehe unten, S. 138, Anm. 256. Ebd. Michail M. Bachtin: Die Ästhetik des Wortes. Hrsg. v. Rainer Grübel. Frankfurt/M. 1979, S. 171f. Laurenz Volkmann: „Dialogizität“, in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Hrsg. von Ansgar Nünning. 4., aktualis. und erw. Aufl. Weimar 2008, S. 127f., hier S. 128. Manfred Pfister: „Konzepte der Intertextualität“, S. 2.

Vorbemerkung

75 19

zueinander stehen“. So könne beispielsweise ein Folgetext seinen Prätext „ironisch relativier[en] und seine ideologischen Voraussetzungen unterminier[en].“20 Es ist genau diese Funktion, der die häufigste Form intertextueller Bezugnahme in den Korpustexten, die wörtliche Übernahme von Bibelzitaten, dient. Einen hohen Grad an ideologischer Spannung zwischen Prätext und Folgetext weist v.a. Hollaenders Roman Magdalene Dornis auf, in dem karikierend auf die Ehebruchthematik in Goethes Wahlverwandtschaften Bezug genommen wird. Ulrich Broich betont in Bezug auf seine Typologie verschiedener Formen der Markierung von Intertextualität,21 dass die Erkennbarkeit solcher „Intertextualitätssignale“22 sowohl vom Wissensstand als auch vom „zeitlichen Abstand“23 des Rezipienten zum Text abhänge. Hier sei im Kontext des literarhistorischen Ansatzes der vorliegenden Arbeit erneut auf Titzmann verwiesen, der auf die entscheidende Rolle, die die Kenntnis einer interpretatorisch relevanten Wissensmenge für eine angemessene Interpretation spielt, hinweist: Welches Wissen faktisch oder potentiell relevant ist, kann zwar anhand der Textstruktur entschieden werden: Aber erst und nur dann, wenn wir dieses Wissen schon kennen, das heißt wenn es entweder Teil unseres Wissens oder unseres Wissens über das Wissen anderer ist oder wird (indem wir es rekonstruieren).24

Die Rekonstruktion solchen „Wissen[s] anderer“ wird im siebten Kapitel der vorliegenden Arbeit vorgenommen, wenn es darum geht, die Gemeinsamkeiten der untersuchten Korpustexte in Hinblick auf die nachgewiesenen intertextuellen Verweise auf relevante Elemente des kulturellen Wissens der Jahrhundertwende aufzuzeigen. Als Beispiele für Intertextualitätssignale bzw. „Markierungen von in einem Text präsenten Prätexten“25 nennt Broich u.a. das Auftreten von literarischen Figuren aus einem fremden Werk26 bzw. die Verwendung von Figurennamen eines Prätexts im Folgetext27 und die Wiederholung bestimmter inhaltlicher und struktureller Elemente28 einer 19 20 21 22

23

24 25 26 27 28

Ebd., S. 29. Ebd. Zur Unterscheidung von unmarkierter und markierter Intertextualität vgl. Jörg Helbig: Intertextualität und Markierung, v.a. Kap. 4 und 5. Ulrich Broich nutzt diesen Terminus in Anlehnung an den Begriff des Ironiesignals. Vgl. Ulrich Broich: „Formen der Markierung von Intertextualität“, in: Ulrich Broich/Manfred Pfister: Intertextualität, S. 31–47, hier S. 31. „Andererseits liegt die ‚Signalschwelle‘ mit wachsendem zeitlichen Abstand zum Text bzw. Prätext bei vielen späteren Rezipienten wieder höher, wenn der zeitgenössische Kontext nicht mehr unmittelbar präsent ist.“ (ebd., S. 33). Michael Titzmann: „Propositionale Analyse – kulturelles Wissen – Interpretation“, S. 90. Ulrich Broich: „Formen der Markierung von Intertextualität“, S. 35. Vgl. ebd., S. 40. Vgl. ebd., S. 41. Vgl. ebd., S. 43. Weitere Beispiele für Intertextualitätssignale sind laut Broich die typographische Markierung von übernommenen Wörtern oder ganzen Textpassagen und die Markierung intertex-

76

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

literarischen Vorlage. Als Vorlage für eine solche Wiederholung können laut Broich etwa Gleichnisse aus der Bibel dienen. Diese implizite Markierung29 von Intertextualität wird im Großteil der Korpustexte im Rahmen der Figurenkonstellation Maria Magdalena – Jesus (bzw. weibliche Figur in der Rolle Maria Magdalenas – männliche Figur in der Rolle Jesu) vorgenommen. Der Untersuchung der Korpustexte wird im Folgenden zunächst ein Überblick über weitere Maria Magdalena-Texte in der Literatur der Jahrhundertwende vorangestellt. Vor diesem Hintergrund tritt die Spezifik aktualisierender Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in den Texten von Autoren, die der literarischen Lebensreform zuzurechnen sind, noch deutlicher hervor.

6.2 Maria Magdalena in der Literatur um 1900 Auch in der Literatur um 1900 wird, wie bereits bei Hebbel, der Name der Heiligen Maria Magdalena weiterhin als Anspielung auf das Schicksal einer ‚Gefallenen‘ genutzt. So adaptiert etwa Ludwig Thoma in seinem Volksstück Magdalena (1912) den traditionellen Magdalenenstoff nur in Hinblick auf die Vorstellung von Maria Magdalena als Prostituierter. Die Protagonistin Leni, die durch ihre Rückkehr aus der Stadt in ihr Heimatdorf als ‚Gefallene‘ Schande über ihre Familie bringt, zeichnet sich zudem durch ihre Faulheit und Arbeitsscheu aus – beide Eigenschaften sind typisch für literarische Darstellungen Maria Magdalenas als Kurtisane (vgl. hierzu auch die Charakterisierung der Titelfigur aus Hollaenders Roman). Eine ‚missratene‘ Tochter ist auch Hermann Sudermanns Magda, die Hauptfigur seines Dramas Heimat (1893), die als gefeierte Schauspielerin Maddalena dall’Orto in ihre Heimatstadt zurückkehrt. Ihr Vater, ein Offizier a.D., will sie zwingen, den Vater ihres Kindes zu heiraten. Magda weigert sich, woraufhin ihr Vater beim Versuch, seine Tochter zu erschießen, einem Schlaganfall erliegt. Neben der Vorstellung von Maria Magdalena als schöner und eitler Frau ist es hier wieder die Vorstellung von der ‚Gefallenen‘ – Magda lebt allein, geht dem ‚unsittlichen‘ Beruf der Schauspielerin nach und hat ein uneheliches Kind –, die mit Maria Magdalena assoziiert wird. Darüber hinaus adaptiert Sudermann in der Gegenüberstellung von Magdalena und ihrer Schwester Marie, die als die klassische „Haustochter“ erscheint,30 das Maria- und

29 30

tueller Relationen im Nebentext. Vgl. zur letztgenannten Form der Markierung Genettes Kategorie der Paratextualität (Gérard Genette Palimpseste, S. 11f.). Vgl. ebd. Offensichtlich trug die Figur der Marie ursprünglich sogar den Namen Marta, vgl. hierzu Werner Sulzgruber: Hermann Sudermann „Heimat“. Betrachtungen und Analysen zu einem vergessenen Schauspiel. Wien 1997, S. 17.

Maria Magdalena in der Literatur um 1900

77

Marta-Idyll. Interessant ist, dass Magda bei Sudermann als emanzipierte, sexuell selbstbestimmte Frau konzipiert ist. Hierzu sei folgender Monolog Magdas zitiert: Ja, wär‘ ich eine Haustochter geblieben wie Marie, die nichts ist und nichts kann ohne das Schutzdach irgendeiner Heimat, die aus den Händen des Vaters schlankweg in die des Mannes übergeht – die von der Familie alles empfängt: Brot, Ideen, Charakter und was weiß ich? ... Ja, dann hättest du recht. In der verdirbt durch den kleinsten Fehltritt alles – Gewissen, Ehrgefühl, Selbstachtung ... Aber ich? ... Sieh mich doch an. Ich war eine freie Katze ... Ich gehörte längst zu jener Kategorie von Geschöpfen, die sich schutzlos wie nur ein Mann und auf ihrer Hände Arbeit angewiesen in der Welt herumstoßen ... Wenn ihr uns aber das Recht aufs Hungern gebt – und ich habe gehungert –, warum versagt ihr uns das Recht auf Liebe, wie wir sie haben können, und das Recht auf Glück, wie wir es verstehn?31

Sudermann orientiert sich bei der Darstellung seiner Protagonistin, die das Recht auf Liebe und Selbstverwirklichung außerhalb der bürgerlichen Schranken einfordert, offensichtlich an der Vorstellung von Maria Magdalena als schöner, sexuell aktiver Frau. Eine positive Wertung der Figur der Magda verhindert allerdings das Ende des Dramas, in dem ihr eindeutig die Schuld für den Tod ihres Vaters zugeschrieben wird. Neben der Darstellung als Emanzipierte lässt Sudermann seine Protagonistin auch einige zeitgenössische weltanschauliche Positionen, etwa die Nietzsches, wiedergeben. Trotzdem kann sein Drama, nicht zuletzt wegen der eher punktuellen Bezugnahme auf den Magdalenenstoff und der Schuldzuweisung am Ende, m.E. nicht als moderne Verarbeitung des Magdalenenstoffs im Sinne der vorliegenden Arbeit gelten.32 Es ist erstaunlich, dass trotz des Namens der Hauptfigur Magda, die darüber hinaus den sprechenden Künstlernamen Maddalena dall’Orto wählt, und den Parallelen in der Figurenkonstellation zum Maria- und Marta-Idyll, die Bezugnahmen auf den traditionellen Magdalenenstoff weder in zeitgenössischen noch in späteren Rezensionen und Untersuchungen erwähnt werden.33 31 32

33

Hermann Sudermann: Heimat. 13. Aufl. Stuttgart 1893, S. 16. Vgl. hierzu auch die Einschätzung Peter Sprengels, dass der „als Pseudo-Naturalist bei der [zeitgenössischen] tonangebenden literarischen Kritik längst in Ungnade gefallene Erfolgsdramatiker“ Sudermann nur in „scheinbare[r] Nähe zur literarischen Moderne“ stehe, was ihm auch von Zeitgenossen „als Mimikry angekreidet“ worden sei (Peter Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870–1900. Von der Reichsgründung bis zur Jahrhundertwende. München 1998, S. 526; S. 372). Sprengel bezeichnet demgemäß Heimat als eines von Sudermanns „halbnaturalistischen Erfolgsstücken“ (ebd., S. 428). Zum zeitgenössischen Vorwurf, Sudermann pflege einen „bühnengemäße[n] Naturalismus“, vgl. auch die von Sprengel erwähnte „abschließende Einordnung des Dramatikers Sudermann“ durch die Zeitgenossen „als Fortsetzer einer gründerzeitlichen Gesellschaftsdramatik, die ihrerseits französischen Mustern folgte, von den zahllosen anderen Bühnenschriftstellern, die damals für den Tagesgebrauch schrieben, nur durch die demonstrative Nähe zu naturalistischen Themen und Motiven und ein unüberhörbares liberales Engagement geschieden.“ (ebd., S. 488; S. 490). Vgl. hierzu exemplarisch Ernst Troeltsch: „Sudermanns Heimat“, in: Ders.: Kritische Gesamtausgabe. Bd. 1: Schriften zur Theologie und Religionsphilosophie (1888–1902). Hrsg. v. Christian Albrecht in Zusammenarbeit mit Björn Biester, Lars Emersleben und Dirk Schmid. Berlin, New York 2009, S. 341–357 und Werner Sulzgruber: Hermann Sudermann „Heimat“.

78

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

Neben dem Gebrauch des Namens der Heiligen Maria Magdalena als Synonym, welches auf das Schicksal einer ‚gefallenen‘ Frau hinweist, finden sich um 1900 wieder zahlreiche literarische Darstellungen der Figur der Maria Magdalena, die sich an den bekannten Szenen des Neuen Testaments orientieren und auch Elemente der Legende aufnehmen. Hierbei wird meist auf die seit dem 18. Jahrhundert populäre Darstellung Maria Magdalenas als Kurtisane zurückgegriffen. Um diese Verarbeitungen des Magdalenenstoffs im engeren Sinne soll es im Folgenden gehen.

6.2.1 Paul Heyse: „Maria von Magdala“ (1899) Die heute wohl nicht zuletzt aufgrund des mit ihr verbundenen Zensurprozesses bekannteste Verarbeitung des Magdalenenstoffs in der Literatur der Jahrhundertwende ist Paul Heyses Drama „Maria von Magdala“ (1899).34 Hier wird die schöne und vornehme Kurtisane Maria, die durch die Begegnung mit Jesus und ihre Liebe zu ihm, die „rein ist wie das Sonnenlicht und nichts begehrt als ewig zu ihm aufzublicken und ihm zu danken, daß er das irrende, verirrte Weib begnadet hat mit seiner Himmelshuld“,35 geläutert. Maria, die im Drama als die Geliebte des Judas erscheint,36 wird als schöne, prunkvoll gekleidete Frau „mit moralischen und nationalen Grundsätzen“37 dargestellt. So weigert sie sich etwa, sich einem Römer hinzugeben und wählt als ihren Liebhaber denjenigen Mann aus, den sie liebt.38 Diese beiden Aspekte des ‚Nationalstolzes‘ und der nicht profitgeleiteten Wahl ihrer Liebhaber lassen sie als edle Kurtisane erscheinen. Auch Marias Weigerung, Jesus zu verführen um ihn als „Falschmessias“39 zu enttarnen und ihr Ablehnen des Angebots, den zum Tode verurteilten Jesus durch eine mit dem Römer Aulus Flavius verbrachte Liebesnacht freizukaufen, prägen dieses Bild. Es ist dieses Angebot bzw. der „‚Gedanke an eine Abhängigkeit des Erlösungswerkes von den Entschließungen anderer, namentlich denen der früheren Sünderin Maria [Magdalena]“, an denen die zeitgenössischen Zensoren Anstoß nahmen.40

34 35

36 37 38 39 40

Vgl. hierzu Andreas Pöllinger: Der Zensurprozeß um Paul Heyses Drama „Maria von Magdala“ (1901–1903). Ein Beispiel für die Theaterzensur im wilhelminischen Preußen. Frankfurt/M. 1989. Paul Heyse: „Maria von Magdala“. In: Ders.: Gesammelte Werke. Reihe 1, Bd. 5: Moralische Novellen: Einakter. Die Weisheit Salomos. Maria von Magdala. Stuttgart, Berlin 1924, S. 597–669, hier S. 648. Zur Darstellung Maria Magdalenas als Geliebte des Judas vgl. Hans Hansel: Die MariaMagdalena-Legende, S. 32. Ingrid Maisch: Maria Magdalena, S. 130. Ebd. Ebd., S. 132. Vgl. hierzu Andreas Pöllinger: Der Zensurprozeß um Paul Heyses Drama „Maria von Magdala“, S. 68.

Maria Magdalena in der Literatur um 1900

79

In der vierten Szene des ersten Aktes erfährt der Leser durch einen Bericht Marias von ihrer Vergangenheit. Nachdem sie als junges Mädchen von ihren Eltern mit einem wesentlich älteren Mann verheiratet worden ist, verlässt sie diesen nach dreijähriger Ehe. Maria Magdalena erscheint somit im Drama als Ehebrecherin;41 Heyse identifiziert sie also nicht nur mit der Sünderin aus dem Lukas-Evangelium, sondern auch mit der in Joh 8,3–11 erwähnten Ehebrecherin, die Jesus vor der Steinigung durch das Volk bewahrt. So sind auch die Begegnungen Marias mit Jesus, von denen im zweiten und dritten Akt des Dramas berichtet wird, den beiden genannten Bibelstellen nachempfunden.42 Nach der Kreuzigung Jesu, die im Drama auf die traditionelle Schilderung der Passion folgt, will Maria ihr Leben in der Abgeschiedenheit der Wüste verbringen. Nachdem sie von der bevorstehenden Auferstehung Jesu erfährt, ruft sie das Volk dazu auf, „an[zu]beten und [zu] danken“43 und erscheint somit in ihrer Rolle als Verkünderin seiner Lehre. Heyse stellt seine Maria Magdalena-Figur in nahezu allen ihr traditionell zugeschriebenen Rollen dar, etwa als reuige Sünderin, als schöne und edle Kurtisane, als Anachoretin44 und als Frau in der Gefolgschaft Jesu, die seine Lehre verkündigt. Auffallend ist allerdings, dass die Vorstellung von Maria Magdalena als Geliebte Jesu in Heyses Konzeption der Heiligen ausgespart bleibt. Heyse, in dessen Drama die sinnliche Liebe negativ konnotiert ist,45 kontrastiert hier die geistige Liebe Marias zu Jesus, „die rein ist wie das Sonnenlicht“, mit ihrer ‚sündigen‘ Vergangenheit als Prostituierte, um sie so „als edle Kurtisane zu verherrlichen“.46

6.2.2 Agnes Miegel: „Magdalena“ (1901) Die Abwertung der Sexualität der ehemaligen Sünderin prägt auch das Gedicht „Magdalena“47 der um 1900 beliebten Balladendichterin und wegen ihrer Heimatverbundenheit als „Mutter Ostpreußens“ bekannten Agnes Miegel, die heute v.a. wegen 41

42 43 44

45 46 47

Die „Vorstellung, daß Maria Magdalena sich der Ehe oder Verlobung mit einem ungeliebten Juden entzieht“, ist durch die talmudische Überlieferung des Magdalenenstoffs inspiriert, vgl. Hans Hansel: Die Maria-Magdalena-Legende, S. 89. Vgl. Ingrid Maisch: Maria Magdalena, S. 131. Paul Heyse: Maria von Magdala, S. 669. Im Drama äußert Maria lediglich ihre Absicht, sich in die Wüste zu begeben; ihr Dasein als Anachoretin ist also nicht Teil der Bühnenhandlung; vgl. ebd.: „In die Wüste will ich mich bergen, dort mich in den Gedanken an meinen Herrn und Heiland versenken [...]“ (Paul Heyse: Maria von Magdala, S. 669). Vgl. hierzu Andreas Pöllinger: Der Zensurprozeß um Paul Heyses Drama „Maria von Magdala“, S. 80. Ingrid Maisch: Maria Magdalena, S. 129. Zu dieser „Umwandlung Marias“ bzw. zur Verlagerung der „Lust“ auf die „geistige Ebene“ vgl. ebd., S. 86. Agnes Miegel: Gedichte. Stuttgart 1901, S. 104f.

80

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

ihres umstrittenen schriftstellerischen Engagements für den Nationalsozialismus noch bekannt ist.48 In der ersten Strophe von „Magdalena“ wird das Ablegen von Symbolen der Schönheit und des Wohlstands von der Protagonistin gefordert („Von den rosigen Zehen/streife die goldenen Ringe ab“, V. 2), das in Zusammenhang mit der zu vollziehenden Buße steht („Büße, büße,/Rothaarige Sünderin, –“49, V. 5–6). In der zweiten Strophe wird der religiöse Kontext, der in der ersten Strophe durch den Aufruf zur Buße hergestellt wird, in der Kontrastierung von „Linnengewändern“ und „Büßerhemde“ und „dem weißen Hause“ bzw. „Jehovahs geheiligter Stadt“ mit „des Elends Reiche“ noch deutlicher. „Des Elends Reiche“ steht hier im Kontrast zu den „Betten der Großen“, die zu Beginn der dritten Strophe erwähnt werden. Da Magdalena diese verlassen hat, um Buße zu tun, liegt eine Parallelisierung der Heiligen mit dem in V. 16 erwähnten „Aussatz“ nahe („Weiche, weiche,/Fern von Jehovahs geheiligter Stadt,/In des Elends Reiche,/Wo der Aussatz sein Lager hat.“; V. 14–16). In dieser Identifikation der büßenden Sünderin mit dem „Aussatz“ nimmt Miegel eine stark negative Wertung der Protagonistin des Gedichts vor. In der dritten Strophe wird dem sündigen Vorleben der Magdalena erneut die weltabgewandte Buße gegenübergestellt. Als neues Element der vorgeschlagenen Bußübungen tritt die körperliche Selbstkasteiung hinzu: „Schlage, schlage/Deine heißen Brüste dir wund“ (V. 21–22), wobei die Wendung „heiße Brüste“ sowie die vorgeschlagene ‚Züchtigung‘ derselben einen weiteren Hinweis auf Magdalenas sexuelles Verlangen darstellen.50 Auffällig ist bei Miegel die Identifikation der Sexualität bzw. der „Sünde“ mit dem Triebhaft-Animalischen, wie sie etwa in der Verwendung des attributiv gebrauchten Adjektivs „zuckend“ in V. 18 („Wälzt du der zuckenden Glieder Pracht“) und des adverbial gebrauchten „brünstig“ in V. 24 („Brünstig der Sünde brennender Mund“) zum Ausdruck kommt.51 In der vierten Strophe wird eine weitere körperliche Züchtigung Magdalenas angemahnt, nämlich das Raufen ihrer „brandroten Haare/Drin die fiebernde Gier gewühlt“, welche Magdalenas sexuelles Begehren versinnbildlichen und ein Merkmal ihrer körperlichen Schönheit 48 49

50 51

Vgl. hierzu Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. 2. Aufl. Frankfurt/M. 2007, S. 411. Vgl. Susan Haskins: Mary Magdalen, S. 248. Haskins verweist hier darauf, dass seit dem 14. Jahrhundert in Kunst und Literatur die Darstellung Maria Magdalenas als blonde oder rothaarige Frau besonders beliebt ist. Im vorliegenden Kontext des Gedichts, in dem die sexuelle ‚Sünde‘ der Büßerin dämonisiert wird, scheint die Darstellung Magdalenas als Rothaarige darüber hinaus auch der Annäherung an den Typus der Hexe geschuldet zu sein. Vgl. hierzu auch die Ausführungen zur Darstellung Maria Magdalenas als sich selbstkasteiende Büßerin in der Literatur des Mittelalters in Kap. 5.1. Vgl. etwa die Wortbedeutung von ‚Brunst‘, wie sie sich in einem zeitgenössischen Wörterbuch findet: „Brunst [...]: großes verzehrendes Feuer; innere Glut, Hitze im Menschen; Heftigkeit des Geschlechtstriebes.“ (Friedrich Ludwig Karl Weigand: Deutsches Wörterbuch. Bd. 1 A–K. Hrsg. v. Hermann Hirt. 5. Aufl. Gießen 1909, Sp. 296) (Hervorhebung A. G.-T.).

Maria Magdalena in der Literatur um 1900

81

52

darstellen. Die enge Verbindung von Magdalenas Schönheit und ihrer als sündig charakterisierten Sexualität prägt das gesamte Gedicht.53 In der fünften Strophe wird die Verspottung Magdalenas durch ihre ehemaligen Buhlen beschrieben, die sie als Teil der Buße über sich ergehen lassen solle: „Senke, senke,/Deine Stirne bei ihrem Spott,/Jenes Tages gedenke/Da sich deiner erbarmte dein Gott“ (V. 37–40). Die sechste Strophe weicht nur in V. 46 und 48 von der ersten Strophe des Gedichts ab. Die Protagonistin, die bisher nur als „Rothaarige Sünderin“ angeredet wurde, wird in V. 46 eindeutig als „Maria von Magdala“ identifiziert. Die Formulierung „Deine verwöhnten Füße/schreiten zu deinem Golgatha“ (V. 47–48) stellt einen intertextuellen Verweis auf die Passion Jesu und seinen Gang zum Kalvarienberg dar. Durch diesen Verweis wird dem Rezipienten verdeutlicht, dass Magdalena sich im Vollzug ihrer Buße auf den Spuren Jesu befindet und dass der schwerste Teil der Buße noch vor ihr liegt. Miegels Darstellung der Heiligen erinnert an Maria Magdalenas traditionelle Rolle als Büßerin in der Einöde („In des Elends Reiche“, V. 15), und als „begnadete Sünderin“ (V. 40). Auffällig ist hierbei Miegels Rückgriff auf traditionelle Elemente der Magdalenen-Darstellung des 17. Jahrhunderts („rosige Zehen“, „Purpursandalen“, „Rothaarige Sünderin“ usf.). Die Zerstörung körperlicher Schönheit und die vom artikulierten Ich geforderte Weltabkehr erinnern stark an Maria Magdalenas Rolle als vanitas-Figur in Literatur und Kunst des 17. Jahrhunderts.54 In dieser Tradition steht auch die Darstellung der Heiligen als sich selbst kasteiende Büßende, die Miegel in „Magdalena“ aufgreift (vgl. hierzu etwa Elisabetta Siranis Gemälde). Betrachtet man Miegels Gedicht vor dem Hintergrund der in der Literatur um 1900 vorherrschenden Vorstellung von Maria Magdalena als „edler Kurtisane“ bzw. als der „reizvollen Sünderin“, die mit Verweis auf ihre Läuterung durch die Fähigkeit zu aufrichtiger und ‚reiner‘ Liebe und aufgrund ihrer Rolle als schöne, sinnliche und sinnenfreudige Frau meist positiv gedeutet wird, fällt in „Magdalena“ die stark negative Charakterisierung der Titelfigur auf. Diese kommt u.a. in der unkritisch dargestellten Selbstkasteiung als Mittel zur Erlangung der Entsühnung zum Ausdruck. In Bezug auf die ausführliche Schilderung dieser körperlichen Bußübungen Magdalenas, der im Gedicht keine positive Bewertung der ehemaligen Sünderin entgegengesetzt wird, spricht Motté so auch von „nahezu wollüstige[r] Peinigung“ und „sadistischer Übersteigerung“.55 Zur negativen Bewertung der Protagonistin trägt die misogyne Identifi52 53

54

55

Vgl. hierzu auch die Ausführungen zur zeitgenössischen Haarerotik in Hollaenders Roman, siehe unten, S. 185f. Zur Gleichsetzung von Maria Magdalenas Sündhaftigkeit mit ihrer Schönheit vgl. Susan Haskins Mary Magdalen, S. 340. Vgl. hierzu auch ebd., S. 153: „If, to the homilists, fornication was the typical female crime, the weapon with which the female lured the male was her beauty.“ (Hervorhebung A.G.-T.). Vgl. hierzu auch die Einschätzung Mottés, die in Bezug auf Miegels Gedicht von der Verwendung von „Attributen einer barock-bildkünstlerischen Dekoration“ (Magda Motté: Esthers Tränen, Judiths Tapferkeit, S. 239) spricht. Ebd.

82

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

kation der weiblichen Sexualität mit der Sünde, wie sie in der dritten Strophe anklingt, sowie die demütigende, aber als gerechtfertigt dargestellte Verspottung Magdalenas durch ihre ehemaligen Liebhaber bei.56 Ähnlich wie Heyses Magdalenafigur wird auch Miegels Protagonistin in den ersten drei Strophen zwar als schöne Kurtisane charakterisiert, die positive Bewertung ihrer Läuterung, die den Typus der „edlen Kurtisane“ auszeichnet, bleibt allerdings aus. So verdeutlicht etwa die Wiederholung der leicht modifizierten ersten Strophe am Ende des Gedichts, dass die Entsühnung Magdalenas noch nicht erreicht ist, da der Protagonistin ‚ihr‘ Golgatha noch bevorstehe. In dieser letzten Strophe wird deutlich, dass trotz des Ablegens von Schmuck und ambraduftenden Gewändern und der weltabgewandten Buße, die von Gebet, Selbstkasteiung und Selbsterniedrigung begleitet wird, keine Läuterung der Büßenden stattgefunden hat, da hier die Charakterisierung der Protagonistin aus der ersten Strophe wiederholt wird („verwöhnten Füße“, V. 47). In Miegels Gedicht ist der Schauplatz des Geschehens, ähnlich wie in der „historisierend auf die biblische Sünderin“57 zurückgreifenden Darstellung Heyses, in den orientalischen Raum verlegt. Im Gegensatz dazu werden in den aktualisierenden Verarbeitungen des Magdalenenstoffs im Umkreis der literarischen Lebensreform die Maria Magdalena-Figuren eher in einem zeitgenössischen Setting dargestellt.58 Auch Miegels explizit misogyne und sinnenfeindliche Prägung ihrer Maria Magdalena-Figur steht in deutlichem Kontrast zu den Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der literarischen Lebensreform, in denen die schöne Sünderin aufgrund ihrer Sinnlichkeit und Sexualität glorifiziert wird.

56

57 58

Vergleicht man die Fassung des Gedichts von 1901 mit der Version von „Magdalena“, wie sie sich in späteren Ausgaben von Miegels Gedichten und Anthologien findet, so lässt sich eine deutliche Abmilderung der negativen Charakterisierung der Protagonistin feststellen. So ist es in der Ausgabe von Miegels Frühe Gesichte von 1939 nicht mehr der „Aussatz“, sondern der „Jammer“, mit dem die Sünderin identifiziert wird. Auch ist das Attribut „zuckend“ in der Beschreibung des weiblichen Körpers durch die Erwähnung der „zärtlichen Glieder“ Magdalenas ersetzt. Die Sünde lockt die Protagonistin, welche nicht mehr als „Rothaarige“, sondern als „Goldhaarige Sünderin“ erscheint, nicht mehr „brünstig“, sondern „wie eine Flöte.“ Die wohl wichtigste Veränderung des Gedichts stellt der Verzicht auf die sechste Strophe der Fassung von 1901 dar, die Miegel durch zwei längere Strophen ersetzt, in denen Magdalenas Weg durch die Wüste beschrieben wird. Am Ende dieser „klagenden, büßenden Wanderung“ steht das Erreichen einer „schirmende[n] Grotte“ (Agnes Miegel: Frühe Gesichte. Stuttgart 1939, S. 78f.). Das Erreichen dieses Bußzieles kann als Indiz für die Läuterung Maria Magdalenas gedeutet werden, die eine positive Wertung der Büßerin erlaubt. Ingrid Maisch: Maria Magdalena, S. 129. Eine Ausnahme hierzu bildet Johannes Schlafs „biblische Erzählung“ Jesus und Mirjam. Weshalb dieser Text dennoch als aktualisierende Verarbeitung des Magdalenenstoffs im Sinne von Mottés Definition gelten kann, wird im Analyseteil der vorliegenden Studie gezeigt.

Maria Magdalena in der Literatur um 1900

83

6.2.3 Marie Madeleine: „Meinem Dämon“ (1900) Eine wichtige Stellvertreterin der literarischen Décadence um 1900 ist Marie Madeleine von Puttkamer, die aufgrund ihrer expliziten sexuellen Schilderungen unter Zeitgenossen als „weiblicher Wedekind“59 verrufen war. Das bis heute kaum erforschte Werk von Puttkamers, die ihren sprechenden Vornamen als Synonym für ihre schriftstellerische Tätigkeit nutzte, zeichnet sich durch die Thematisierung weiblichen sexuellen Begehrens aus, häufig werden masochistische und sadomasochistische Phantasien dargestellt. Es überrascht wenig, dass im Wilhelminischen Deutschland solche Lyrik aus der Feder einer Frau als skandalös galt. Als Beispiel für die Rezeption der Lyrik Marie Madeleines sei hier stellvertretend eine stark wertende Passage aus Albert Soergels Dichtung und Dichter der Zeit genannt, in der er auch die ebenfalls für ihre erotischen Gedichte berüchtigte Maria Eichhorn (d.i. Dolorosa) erwähnt. Unter der Annahme einer wesenhaft schamhaften „Weibsnatur“ diffamiert Soergel die Lyrik der beiden Autorinnen, die sich in den für die literarische Décadence typischen Themen und Motiven nicht von der männlicher Kollegen unterscheidet, als krankhaftübersexualisiert („perverse[ ] Verse“; „geile, wüste, überhöhte Pubertätserotik“). Verbunden damit ist die um 1900 verbreitete Vorstellung von der dem weiblichen Geschlecht fehlenden Schaffenskraft60 und der Dilettantismusvorwurf („böse, männlichen Zynikern abgeguckte Manier“, „Pubertätserotik, die sich gern als mänadenhafte Glut geben möchte“): die schamlose Lyrik der perversen Verse der Marie Madeleine und ihrer Gefolgschaft, wie der Dolorosa und anderer Mädchen und Frauen. Als wenn echte Scham nur leider ein angezüchtetes, nicht ursprüngliches Gefühl der Weibsnatur wäre, so erzählt ihre geile, wüste, überhöhte Pubertätserotik, die sich gern als mänadenhafte Glut geben möchte, von erträumten oder erlebten sadistischen oder masochistischen Gelüsten oder Genüssen. Diese Gesänge von Halbjungfrauen sind geradezu eine Parodie auf weibliches Empfinden: denn was ist diese sogenannte ‚weibliche‘ Lyrik anderes als eine böse, männlichen Zynikern abgeguckte Manier. Und kann man sich eine ärgere Selbstverhöhnung, Preisgabe des Geschlechts denken, als wenn entblößte Mädchen sich mit zynischen Männeraugen betrachten!61

Zu den vermeintlich perversen Versen Marie Madeleines zählt ihr erfolgreicher Gedichtband Auf Kypros, der einen mit der ‚Widmung‘ „Meinem Dämon“ betitelten, neun Gedichte umfassenden Zyklus enthält. Dargestellt wird hier ein weibliches

59

60 61

Michaela Giesing: „Theater als verweigerter Raum. Dramatikerinnen der Jahrhundertwende in deutschsprachigen Ländern“, in: Frauen, Literatur, Geschichte. Schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hrsg. v. Hiltrud Gnüg und Renate Möhrmann. Frankfurt/M. 1989, S. 240– 259, hier S. 258. Vgl. hierzu auch Dehmels Einschätzung der Übersetzungen Hedwig Lachmanns, siehe unten, S. 194, Anm. 409. Albert Soergel: Dichtung und Dichter der Zeit. Eine Schilderung der deutschen Literatur der letzten Jahrzehnte. 7., unveränd. Abdruck. Leipzig 1911, S. 300f.

84

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

Sprecher-Ich, das in der Rolle Maria Magdalenas62 erscheint und ihren ehemaligen Geliebten, der Züge Jesu trägt („Wandergesell!“), für das Abweisen ihrer Liebe anklagt. Diese Abweisung motiviert den im siebten Gedicht angekündigten Selbstmord der Frau („Der hoffnungslosen Sehnsucht Macht/wirst du vielleicht erschauernd fühlen,/wenn meinen toten Körper sacht/die Wellen an das Ufer spülen.“).63 Bereits im Titel des Zyklus wird auf Maria Magdalenas Besessenheit von Dämonen angespielt, die traditionell mit ihrer Sexualität in Verbindung gebracht wird. So finden sich auch in den einzelnen Gedichten mehrere Hinweise darauf, dass es sich bei der dargestellten weiblichen Figur um eine sinnenfreudige Frau64 handelt, die auch den im Gedicht angesprochenen Mann zur Teilhabe an der erotischen Liebe aufruft. Ein solcher Aufruf findet sich im dritten Gedicht, das den Titel „Komm mit!“ trägt: „Wandergesell! Gieb’ mir die stille Hand/und komm mit mir in das weite Land,/wo das Herzeleid und die Sehnsucht wohnen“.65 Dass die sexuelle Lust hier auch mit Leid assoziiert wird, wird anhand der Charakterisierung der in diesem „weite[n] Land“ Wandelnden im sechsten Vers des Gedichts als „auf müden Häuptern die Dornenkronen“ tragend deutlich. Diese Charakterisierung weist eine Überlagerung der Bildbereiche von Religion und Erotik auf, die auch für die Korpustexte der vorliegenden Arbeit typisch ist, zeugt aber im Gegensatz zu diesen von der für die literarische Décadence typischen „Epochenmüdigkeit“66 bzw. Endzeitstimmung des fin de siècle. Die Besessenheit von Teufeln oder bösen Geister äußert sich in Marie Madeleines Gedichtzyklus in der Fixierung der weiblichen Figur auf den angesprochenen Mann. Die Charakterisierung der männlichen Figur als „Dämon“ findet sich nicht nur im Titel des Zyklus, sondern auch in dem Gedicht „Abschied“, in dem die Autorin auf die Askese Jesu anspielt: „Und du, mein Dämon, wirst verlassen bleiben./Allein, allein in deiner Einsamkeit.“67 Im siebten Gedicht des Zyklus, welches den bezeichnenden Titel „Von Kypros nach Golgatha“ trägt, wird der ‚Fall‘ der Frau in das „Sündenthal“ geschildert. Und dass der Höhe ich so fern,/mein Liebster, wär’ es denn gekommen,/wenn nicht mein Stern, mein einz’ger Stern/in blassem Nebel wär’ verglommen,/wenn deine Liebe nicht erstarb/wie eines Irrlichts fahles Leuchten!68

62

63 64

65 66 67 68

Dass es sich bei dem artikulierten Ich in Marie Madeleines Gedichtzyklus nicht um die biblische Mischgestalt Maria Magdalena handelt, geht aus der Erwähnung von Zügen und einer Lokomotive, die im sechsten Gedicht des Zyklus mit sexueller Erregung assoziiert werden, hervor. Marie Madeleine [d.i. Marie Madeleine von Puttkamer]: Auf Kypros. 6. Aufl.. Berlin o.J. [1907], S. 120. So heißt es etwa im achten Gedicht des Zyklus im Kontext des Selbstmords der Protagonistin: „wenn mir der Tod den Durst gestillt,/der meines Lebens Inhalt war“ (ebd., S. 121). Hier wird also das sexuelle Verlangen der weiblichen Figur zu deren Lebensinhalt stilisiert. Ebd., S. 107. Walter Fähnders: Avantgarde und Moderne. 1890–1933. Stuttgart 1998, S. 95. Ebd., S. 112. Ebd., S. 119.

Maria Magdalena in der Literatur um 1900

85

Die in diesem Gedicht gestaltete Konzeption der weiblichen Figur, die sich nach der Abweisung durch die Jesus-Figur sexuellen Ausschweifungen hingibt, weist Ähnlichkeit zur talmudischen Überlieferung des Magdalenenstoffs auf.69 In den letzten beiden Gedichten von „Meinem Dämon“ findet sich die Vorstellung von einer den Tod überdauernden Liebe, wobei es hier nicht der Tod ihres Herrn ist, den Maria Magdalenas Liebe in traditionellen Darstellungen überdauert, sondern ihr eigenes physisches Ende, welches ihr sexuelles Begehren nicht zu zerstören vermag: Meine Sehnsucht, die du nie erfüllt,/wird heissen Atems noch dich küssen,/wenn mir der Tod den Durst gestillt,/der meines Lebens Inhalt war.70

Marie Madeleine adaptiert hier die traditionelle Vorstellung von Maria Magdalena als Exempel großer Liebesfähigkeit, die sie, wie auch die Autoren der literarischen Lebensreform, in den Bereich des Sexuellen verlagert. In den letzten Zeilen des neunten Gedichts von „Meinem Dämon“, in denen zum ersten Mal der Name der Heiligen genannt wird, findet sich nun die Darstellung einer ‚Pietà‘, bei der es der Leichnam der weiblichen Figur ist, der auf dem Schoß des Mannes ruht („Das müde Haupt Maria Magdalenens/Auf deinen Knie’n! – – –“).71 Die Darstellung der weiblichen Figur in der Pose des Gekreuzigten, dessen Tod in der Tradition des Vesperbilds von seiner Mutter beklagt wird, verweist hier auf die Identifikation Maria Magdalenas mit Christus, wie sie sich u.a. auch in Richard Dehmels Gedicht „Venus Consolatrix“ findet. Die Gestaltung der weiblichen Figur in „Meinem Dämon“ ist, wie auch Trakls Maria Magdalena-Figur, deutlich durch das um 1900 populäre Konzept des Dionysischen geprägt (vgl. hierzu Kap. 7).72 So findet sich etwa in der Beschreibung der sexuellen Erregung der Protagonistin in „Von Kypros nach Golgatha“ das Motiv des Weins in Kombination mit dem Tanzmotiv („Ich ward wie voll des jungen Weins;/Vor meinen Augen tanzten Funken“).73 Auch die Erwähnung des „wilde[n] Hauf[ens]“ bzw. der „jungen Leiber Pracht“ erinnert an ein auf Entgrenzung bzw. auf das „Aufgehen des 69

70 71 72 73

Vgl. hierzu Hans Hansel: Die Maria-Magdalena-Legende, S. 89. In Marie Madeleines Zyklus findet sich auch eine weitere, für den traditionellen Magdalenenstoff wenig einflussreiche Konzeption Marias von Magdala. So scheint mit den in „Von Kypros nach Golgatha“ erwähnten „Schlösser[n]“ („All’ meine Schlösser wurden Scherben!“) auf die der christlichen Patristik entstammende Vorstellung, dass Maria Magdalena von „hoher Geburt“ sei, angespielt zu werden. Vgl. ebd., S. 105: „Der Name Magdalena wird vom Ort Magdala (migdal ‚Turm‘) abgeleitet [...]. Aus dieser Vorstellung heraus wird über Odo von Cluny in der lateinischen Legende und von da in den Magdalenenszenen namentlich französischer Passionsspiele der Ort Magdala zum Schloß und Magdalena zur S c h l o ß h e r r i n , die durch Schönheit und Reichtum zu Fall kommt.“ (Sperrung im Original) Marie Madeleine: Auf Kypros, S. 121. Ebd., S. 122. Vgl. hierzu auch Otto Erich Hartlebens „Der Magdalenenwein“ und Dehmels „Venus Consolatrix“. Ebd., S. 118. Vgl. hierzu auch die in Aus Goldenem Kelch gestaltete Maria Magdalena-Figur Georg Trakls, die in der Rolle der Mänade erscheint.

86

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

Einzelnen in der rituellen Gruppenekstase“74 abzielendes Bacchanal, dessen ästhetische Gestaltung häufig in der Literatur um 1900 zu finden ist.75 Auch nimmt Marie Madeleine hier das Motiv des Tales („tiefe Thal der Sünde“) bzw. des Berges auf, das Teil des Dionysos-Stoffs ist.76 Hervorzuheben ist, dass dieser Berg im vorliegenden Gedicht als „Venushügel“ bezeichnet wird. Neben der erotischen Anspielung auf die weibliche Anatomie findet sich hier die enge Verknüpfung der Figur der Maria Magdalena mit der Göttin Venus, die auch in den Korpustexten Schlafs, Hollaenders, Benzmanns und Dehmels nachgewiesen werden kann.

6.2.4 Georg Trakl: „Aus goldenem Kelch. Maria Magdalena. Ein Dialog“ (1906) Wie bei Heyse erscheint auch in Georg Trakls Prosastück „Aus goldenem Kelch“ Maria Magdalena als schöne Kurtisane und Tänzerin, die nach einer Begegnung mit Jesus diesem nachfolgt, um ihm zu dienen, „wie Ihm die Männer dienten, die um Ihn waren“.77 Maria Magdalena wird hier also in ihrer Rolle als Jüngerin Jesu gezeigt. In der Schilderung ihres Tanzes durch Marcellus, einen der Dialogpartner, wird besonders Maria Magdalenas Genuss an ihren sinnlichen Bewegungen hervorgehoben. So heißt es von der Tanzenden: Mir war, als spiele dieses Weib im Tanz mit unsichtbaren, köstlichen, geheimen Dingen, als umarmte sie göttergleiche Wesen, die niemand sah, als küßte sie rote Lippen, die sich verlangend den ihren neigten; ihre Bewegungen waren die höchster Lust; es schien als würde sie von Liebkosungen überschüttet.78

Dieser Aspekt des Selbstgenusses prägt auch die Darstellung Maria Magdalenas als Kurtisane: „Sie war die herrlichste Hetäre. Ihr Leib war ein köstliches Gefäß der Freude, wie es die Welt nicht schöner sah. Ihr Leben gehörte der Freude allein“.79 Trakl spielt hier durch die Identifizierung des Frauenkörpers mit einem Gefäß auf das Hauptattribut der Heiligen, das Salbgefäß, an. Ein weiterer Verweis auf die traditionellen Darstellungen Maria Magdalenas findet sich in der Beschreibung des Zusammen74 75

76 77

78 79

Albert Henrichs: „Der rasende Gott: Zur Psychologie des Dionysos und des Dionysischen in Mythos und Literatur“, in: Antike und Abendland 40 (1994), S. 31–58, hier S. 31. Als Beispiele nennt Karl Pestalozzi u.a. die Gedichte Bacchische Epiphanie von Rudolf Borchardt und Leben von Hugo von Hoffmannsthal (vgl. Karl Pestalozzi: „‚Aus des Dionysos, der Venus Sippe‘. Reflexe von Nietzsches Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik in der deutschen Literatur der Jahrhundertwende“, in: London German Studies (1998), S. 223–250). Vgl. Albert Henrichs: „Der rasende Gott“, S. 44. Georg Trakl: Dichtungen und Briefe. Bd. 1: Gedichte. Sebastian im Traum. Veröffentlichungen im Brenner 1914/15. Sonstige Veröffentlichungen zu Lebzeiten. Nachlass. Briefe. Hrsg. v. Walther Killy und Hans Szenklar. 2., erg. Aufl. Salzburg 1987, S. 195–198, hier S. 197. Ebd., S. 196. Ebd.

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

87

brechens der Tanzenden („Und sank dann hüllenlos, nur von ihren Haaren überflutet, zu unseren Füßen nieder“).80 Neben der Anspielung auf die Rolle Maria Magdalenas als lediglich mit ihrem eigenen Haar bekleideter Anachoretin greift Trakl hier durch die Anspielung auf die Proskynese vor Jesus auch auf die Darstellung der Heiligen als Sünderin aus dem Lukas-Evangelium zurück. Die Erotik Maria Magdalenas wird bei Trakl außer durch die Beschreibung ihres ekstatischen Tanzes auch durch die Schilderung ihres Umarmens einer Statue des Dionysos, also des „Gott[es] des Weins, der Fruchtbarkeit und der Ekstase”81 („sah sie den kalten Marmor umarmen, wie sie ihren Geliebten umarmt“),82 verdeutlicht, wodurch sie hier in der Rolle der Mänade erscheint. Diese synkretistische Engführung der der christlichen Vorstellungswelt entstammenden Heiligen Maria Magdalena mit der Figur des Dionysos bzw. mit dem Dionysischen finden wir in den untersuchten Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der literarischen Lebensreform wieder. Während Maria Magdalena und ihr Lebenswandel nach der Begegnung mit Jesus in Trakls Jugenderzählung lediglich als Beispiel dienen für die um 1900 viel beschworene Rätselhaftigkeit des schönen Weibes,83 entsteht in den Korpustexten der vorliegenden Arbeit durch die Amalgamierung des traditionellen Magdalenenstoffs mit unterschiedlichen wissenschaftlichen und weltanschaulichen Wissenselementen der Jahrhundertwende eine ‚moderne‘ Heilige.

6.3 Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform 6.3.1 Begriffsbestimmung: Die literarische Lebensreform In Bezug auf die Literatur der Jahrhundertwende entwickelt Björn Spiekermann in seiner Studie zum Frühwerk Richard Dehmels den treffenden Begriff ‚literarische Lebensreform‘, den er als – bislang in der Forschung vernachlässigtes – Gegengewicht zur literarischen Décadence verstanden wissen will.84 Die Bedeutung seiner Begriffs80 81 82 83 84

Ebd. Eric M. Moormann und Wilfried Uitterhoeve: Lexikon der antiken Gestalten. Mit ihrem Fortleben in Kunst, Dichtung und Musik. Stuttgart 1995, S. 240. Georg Trakl: Dichtungen und Briefe, S. 196. „Die Schönheit des Weibes ist ein Rätsel. Man durchschaut sie nicht. Man weiß nie, was ein schönes Weib sein kann, was sie zu tun gezwungen ist.“ (ebd.). Vgl. hierzu folgendes Zitat aus einem Aufsatz des Herausgebers der Jugend, Fritz von Ostini, mit dem vielsagenden Titel „Anti-Fin de siècle“, in dem er zum ‚Feldzug‘ gegen dekadente „Fin de siècle-Philister und die Fin de siècle-Gecken“ aufruft, und der von Lebenspathos und Zukunftsoptimismus der Zeit zeugt: „Unsere Zeit ist nicht alt, nicht müde! Wir leben nicht unter den letzten Athemzügen einer ersterbenden Epoche, wir stehen am Morgen einer kerngesunden Zeit, es ist eine Lust zu leben!“ (Fritz von Ostini: „Anti-Fin de siècle“, in: Jugend. Münchner illustrierte Wochenschrift 1 (1898), S. 2).

88

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

schöpfung, die sich auf die vom kulturoptimistischen Denken geprägte Literatur der Jahrhundertwende bezieht, expliziert Spiekermann wie folgt: Unter den jungen Modernen der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts entfaltete diese wissenschaftliche Weltanschauung – die nicht mit Wissenschaft zu verwechseln ist! – ein bedeutendes gesellschaftskritisches und -reformerisches Potential. In dem Maße, wie das Mißverhältnis von biologischer bzw. philosophischer Anthropologie und wilhelminischer Gesellschaftsordnung hervortrat, konkretisierten sich in Künstler- und Intellektuellenkreisen Überlegungen zu einer Neugestaltung der Ethik und der darauf gegründeten bürgerlichen Lebenspraxis, die hier unter dem Stichwort ‚Lebensreform‘ zusammengefaßt werden.85

Der Begriff ‚lebensreformerisch‘ bedarf an dieser Stelle der Explikation. So soll er zunächst nicht auf die sozialgeschichtliche Lebensreformbewegung im engeren Sinne86 bezogen werden, die Spiekermann definiert als „eine Vielzahl von Bewegungen [...], die im 19. Jahrhundert mit der Forderung nach naturgemäßer Lebensweise auf die politischen, sozialen und weltanschaulichen Umwälzungen des Modernisierungsprozesses reagierten“.87 Obwohl zwischen sozialgeschichtlicher und literarischer Lebensreform natürlich Austauschbeziehungen bestanden, dient der von Spiekermann geprägte Terminus zur Charakterisierung einer grundsätzlich lebensbejahenden, zukunfts- und fortschrittsoptimistischen Geisteshaltung, die zahlreichen Intellektuellen um 1900 zugeschrieben werden kann. Spiekermann geht es darum, die „optimistisch-lebensreformerische Strömungen“88 in der Literatur der Jahrhundertwende gegen den zeitgenössischen Ästhetizismus „als Verweigerung jeglicher außerkünstlerischen Wirkungsabsicht“ und gegen die „sozialpolitischen Zielsetzungen des europäischen Naturalismus“89 abzugrenzen. Laut Spiekermann zielen sowohl die literarische als auch die sozialgeschichtliche Lebensreform auf „Veränderung der individuellen Lebensführung“, die in einer Veränderung der Gesellschaft kulminieren soll,90 das Ideal der literarischen Lebensreform spezifiziert er wie folgt: 85 86

87 88 89 90

Björn Spiekermann: Literarische Lebensreform um 1900, S.12. Vgl. hierzu auch Wolfgang R. Krabbes Definition der Lebensreformbewegung als „Kollektivakteur, der auf soziokulturelle Umwandlungsprozesse damit reagierte, daß er sie durch gesellschaftliche Veränderungen aufzufangen und zu korrigieren versuchte“ (Wolfgang R. Krabbe: „Lebensreform/Selbstreform“, in: Handbuch der deutschen Reformbewegungen: 1880–1933. Hrsg. v. Diethart Kerbs und Jürgen Reulecke. Wuppertal 1998, S. 73–75, hier S. 73). Björn Spiekermann: Literarische Lebensreform um 1900, S. 79. Ebd., S. 13. Ebd., S. 12. Vgl. hierzu folgende Einschätzung Wolfgang R. Krabbes: „Die Lebensreform als säkularisierte Heilslehre erwartete die Erlösung jedoch nicht im Jenseits. Sie strebte eine Veränderung der Gesellschaft an, die Optimierung der menschlichen Lebensverhältnisse. Wie viele der sozialen Bewegungen kulturorientierter Art versprach sie sich den gesellschaftlichen Wandel nicht aus dem Wirken der Politik, schon gar nicht aus einer revolutionären Erhebung. Sie bevorzugte den umgekehrten Weg und strebte nach religiösem Vorbild die Änderung des einzelnen an, um durch Multiplikation schließlich die Gesellschaft insgesamt nach ihren Vorstellungen umgeformt zu haben. Mit einem Synonym wurde die Lebensreform deshalb auch von vielen ihrer Anhänger als –

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

89

Sie [die literarische Lebensreform] orientiert sich an der Maßgabe, die Kluft zwischen Natur (oder ‚Leben‘, wie man damals emphatisch sagte) und Zivilisation zu schließen. Kristallisationspunkt dieser Überlegungen war das Verhältnis der Geschlechter. Im Zuge einer Aufwertung des Erotischen durch biologische Anthropologie und ‚dionysisch‘ gestimmte Lebensphilosophie wurde die geschlechtliche Liebe zur Projektionsfläche sentimentalischer Sehnsüchte, die das ganze affektive Potential einer ‚vagierenden‘ Religiosität [...] in sich aufnahmen.91

Es ist genau diese durch lebensphilosophische und naturwissenschaftliche Wissenselemente geprägte Sakralisierung des Sexuellen, die sich für die Figur der Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform nachweisen lässt. Die literarhistorische Angemessenheit von Spiekermanns Begriff der literarischen Lebensreform mit den von ihm genannten Charakteristika dieser literarischen Strömung, wie Lebensbejahung und Lebenspathos, (Zukunfts-)Optimismus, Forderung nach einer modernen Neugestaltung der Lebensverhältnisse im Einklang mit der Natur, religiöse Sehnsucht, Sakralisierung des Sexuellen und nicht zuletzt die Oppositionshaltung zur „wilhelminische[n] Gesellschaftsordnung“, wird besonders in Hinblick auf eine der literarischen Gruppierungen der Jahrhundertwende deutlich, in der diese Eigenschaften besonders intensiv amalgamiert werden, nämlich den Friedrichshagener Dichterkreis, der in den 1890er Jahren zu einem wichtigen literarischen Treffpunkt der Berliner Moderne avanciert und dessen Mitglieder „der literarisch-künstlerischen Moderne zum Durchbruch in Deutschland“92 verhalfen. Der Friedrichshagener Dichterkreis rekrutierte sich v.a. aus „spätnaturalistische[n] Schriftstellern“,93 die eine dezidiert antibürgerliche Attitüde pflegten. In ihren literarischen Werke lassen sich neben der Rezeption sozialistischer und anarchistischer Positionen v.a. eine auf die Naturphilosophie des 19. Jahrhunderts zurückgehende Naturreligiosität, Bezugnahmen auf den von Darwins Evolutionslehre geprägten Haeckelschen Monismus und eine hierdurch geprägte Emphatisierung des Lebensbegriffs nachweisen. Alle Korpusautoren der vorliegenden Arbeit gehörten dem Friedrichshagener Dichterkreis als Mitglieder an oder standen im Austausch mit den hier ansässigen Literaten um Julius und Heinrich Hart, Wilhelm Bölsche und Bruno Wille.94 Einer von ihnen ist Otto Erich Hartleben, auf dessen „Anknüpfen an die

91 92

93 94

transzendent verstandene – ‚Selbstreform‘ bezeichnet.“ (Wolfgang R. Krabbe: „Lebensreform/ Selbstreform“, S. 74.) Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen zum Konzept der Selbsterlösung in der Literatur der Jahrhundertwende in Kap 7.1.3. Björn Spiekermann: Literarische Lebensreform um 1900, S. 13. Gertrude Cepl-Kaufmann/Rolf Kauffeldt: „Friedrichshagener Dichterkreis“, in: Handbuch literarisch-kultureller Vereine, Gruppen und Bünde. Hrsg. v. Wulf Wülfing, Karin Bruns und R. Parr. Stuttgart 1998, S. 112–126, hier S. 114. Rolf Kauffeldt/Gertrude Cepl-Kaufmann: Berlin-Friedrichshagen. Literaturhauptstadt um die Jahrhundertwende. Der Friedrichshagener Dichterkreis. München 1994, S. 10. Vgl. hierzu auch die Zugehörigkeit einiger der Korpusautoren zum Verein „Durch!“ und zum „Ethischen Klub“, in denen ähnliche Themen wie im Friedrichshagener Dichterkreis diskutiert wurden, und deren Mitglieder zum Teil auch in literarischen Zirkeln der Friedrichshagener ver-

90

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

anakreontische Tradition“ Spiekermann im Kontext der „Wiederentdeckung des Erotischen um 1900“95 eingeht. Diese Bezugnahme lässt sich in Hartlebens Verarbeitung des Magdalenenstoffs nachweisen, in der Dionysos die Heilige zu Lebensfeier und Weingenuss animiert.

6.3.2 Otto Erich Hartleben: „Der Magdalenenwein“ (1895) Im Jahr 1895 erscheint Hartlebens Gedicht „Der Magdalenenwein“ in der Literaturund Kunstzeitschrift PAN, die er selbst mit herausgab.96 Es besteht aus acht Strophen, die jeweils vier Verse umfassen. Diese jambischen Vierheber97 weisen männliche Kadenzen auf und sind durch Kreuzreim miteinander verbunden. Das erzählte Geschehen des Gedichts ist nullfokalisiert und das artikulierte Ich erscheint als heterodiegetischer Erzähler. In der ersten Strophe wird die „heilige Magdalena“ (V.1) als in einer Höhle ruhend dargestellt. Das Motiv der Höhle, die ruhende Pose der Heiligen sowie die adverbiale Bestimmung „tief versteckt“ (V. 2), die Vorstellungen von Abgeschiedenheit evoziert, lassen auf die Adaption des barocken Maria Magdalena-Bildes im vorliegenden Gedicht schließen. So kann auch das in den letzten beiden Versen der ersten Strophe geschilderte Beflecktsein des Körpers der Heiligen mit Blut als Folge ihrer Selbstkasteiung gedeutet werden („sie hat mit rothem Büßerblut/den wonniglichen Leib befleckt.“; V. 3–4). Die Verwendung des Verbs „beflecken“ dient hier der negativen Wertung der körperlichen Selbstzüchtigung Maria Magdalenas und lässt die Bußübung als sündig erscheinen. In der zweiten Strophe des Gedichts wird das Schwinden von Maria Magdalenas Lebenslust beschrieben („Aus ihren Gliedern wich die Lust/des holden Lebens ganz und gar“ V. 5–6), die durch die Selbstkasteiung, auf die Hartleben in der ersten Strophe von „Der Magdalenenwein“ anspielt, zu erklären ist. Die „Lust des holden Lebens“ kann im Kontext des Gedichts als sexuelles Verlangen Maria Magdalenas gedeutet werden. Für eine solche Lesart spricht etwa die stilistische Hervorhebung der „Lust“, die durch das

95 96

97

kehrten (vgl. hierzu Karin Bruns: „Ethischer Klub [Berlin]“, in: Handbuch literarisch-kultureller Vereine, S. 91–95 und Peter Wruck: „Durch! [Berlin]“, in: Handbuch literarisch-kultureller Vereine, S. 83–87). Björn Spiekermann: Literarische Lebensreform um 1900, S. 248. Otto Erich Hartleben: „Der Magdalenenwein“, in: PAN 3 (1895), S. 143f. Hartleben war u.a. auch Mitherausgeber des Magazins für Litteratur (vgl. Rolf Kauffeldt/Gertrude Cepl-Kaufmann: BerlinFriedrichshagen, S. 395). Heute ist Hartleben v.a. noch für seine Mitgliedschaft in diversen literarischen Vereinen und Künstlerstammtischen, wie z.B. dem „Ethischen Klub“, dem auch Richard Dehmel, Felix Hollaender und Johannes Schlaf angehörten, dem Verein „Durch!“ oder der von ihm 1903 begründeten „Halkyonischen Akademie für unangewandte Wissenschaften zu Salò“, bekannt. Kauffeldt und Cepl-Kaufmann zählen Hartleben neben Hollaender zu „den wichtigsten Friedrichshagenern, die nicht im Ort gewohnt haben“ (Rolf Kauffeldt/Gertrude Cepl-Kaufmann: Berlin-Friedrichshagen, S. 398). Eine Ausnahme hierzu stellt der letzte Vers der siebten Strophe dar, der sechs Hebungen aufweist.

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

91

Enjambement in V. 5 und 6 von dem Genitivattribut „des holden Lebens“ abgetrennt wird. Das Weichen der Lust „aus ihren Gliedern“ verweist auf die körperliche Selbstzüchtigung der Anachoretin Maria Magdalena, die traditionell als deren Versuch, ihr sexuelles Verlangen abzutöten, gedeutet wird (siehe unten, Kap. 5.1). Diese Lesart wird durch die Betonung der körperlichen Schönheit Maria Magdalenas unterstützt, die traditionell mit ihrer Sündhaftigkeit in Verbindung gebracht wird. So werden „die junge Brust“ (V. 7) sowie das „flutende[ ], reiche[ ] Haar“ (V. 8) der Heiligen erwähnt. Diese Charakterisierung des weiblichen Körpers ist wiederum stark durch Werke der bildenden Kunst des 17. Jahrhunderts beeinflusst, in denen Maria Magdalena häufig mit wallendem Haar und entblößten Brüsten dargestellt wird. In der dritten Strophe kommt es mit dem Erscheinen des „Jüngling[s] von der Felsenwand“ zur inhaltlichen Wende des Gedichts. Diese wird formal durch die Verwendung des Temporaladverbs „da“ zu Beginn der Strophe markiert. Das Auftreten der männlichen Figur gewinnt durch die Präpositionalergänzung „im Glanz des Sonnenscheins“ den Charakter einer Epiphanie. Hierdurch wird bereits auf die Göttlichkeit des Jünglings angespielt, die in V. 13 explizit thematisiert wird. In den beiden letzten Versen der dritten Strophe wird der „Jüngling“ als eine „Schale dunklen Weins“ in „seiner weichen Hand“ haltend näher charakterisiert. Mit der Erwähnung des dunklen Weins wird implizit auf das in V. 3 erwähnte „rothe[ ] Büßerblut“ Magdalenas verwiesen. Diese Verbindung zwischen Blut und Wein expliziert Hartleben in V. 25 und 26 („Das rothe Blut auf deiner Haut/ist röther nicht, als dieser Wein –“). Die ungewöhnliche Formulierung „weichen Hand“ verweist in „Der Magdalenenwein“ auf die Jugendlichkeit der männlichen Hauptfigur. Darüber hinaus lässt sich hier ein Bezug zu V. 17 herstellen, in dem das Kruzifix, das Maria Magdalena in den Händen hält, als „dürre[s] Holz“98 charakterisiert wird. Diese Formulierung weckt Assoziationen von Trockenheit und Sprödheit und steht somit im Kontrast zur „weichen Hand“ des Jünglings. Zusätzlich sind die beiden Verse durch die Wiederaufnahme des HandMotivs in V. 17 („Das dürre Holz in deiner Hand“) und das identische Reimwort inhaltlich und formal miteinander verbunden. In der vierten Strophe beginnt die Figurenrede des „von der Felsenwand“ steigenden Jünglings, die sich über V. 13–28 erstreckt. Im Zuge dieser Selbstcharakterisierung wird die männliche Hauptfigur des Gedichts als Dionysos identifiziert („Und sprach: Ich bin Dionysos“, V. 4). In Bezug auf dessen nackten, gebräunten Körper findet sich mit der Erwähnung des griechischen Sonnengotts Helios ein weiterer Verweis auf die griechische Mythologie („vom frohsten Strahl des Helios/sieh meinen nackten Leib gebräunt.“, V. 15 und 16).99 Wie bereits bei der Gestaltung seiner Maria Magdalena-Figur orientiert sich 98

99

Hartleben spielt hier auf Lk 23,26–31 an, wo Jesu Weg nach Golgatha beschrieben wird. Eigentlich bezeichnet das dürre Holz hier die Stadt Jerusalem im Gegensatz zum „grüne[n] Holz“ Jesus („Denn wenn man das tut am grünen Holz, was wird am dürren werden?“(LB, Lk 23,31, S. 107)). Die Verknüpfung von Dionysos und Sonne, die Hartleben in V. 15 und 16 vornimmt, findet sich bereits in V. 9 in der Beschreibung des erscheinenden Jünglings.

92

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

Hartleben auch bei der Darstellung des Dionysos an bildkünstlerischen Darstellungen; der Gott der ekstatischen Entgrenzung wird v.a. in antiken Skulpturen häufig als nackter Jüngling, der eine Weinschale in einer Hand hält, dargestellt. Die Selbstcharakterisierung des griechischen Gottes in „Der Magdalenenwein“ ist geprägt von Motiven der Lebensfülle und -freude. So bezeichnet sich der Gott des Rausches etwa als „alles Lebens reichster Freund“. Durch die rhetorische Figur der Enallage, deren Hartleben sich in diesem Vers bedient, werden Vorstellungen vom Reichtum des Lebens evoziert, durch die Personifikation des Sonnenstrahls („vom frohsten Strahl des Helios“, V. 15) wird das Abstraktum ‚Lebensfreude‘ mit den Bildbereichen der Sonne und des Lichts verknüpft. Neben der lebensreformerischen Idealisierung des nackten menschlichen Körpers findet sich in „Der Magdalenenwein“ somit auch eine Anspielung auf die zeittypische Verkultung der Sonne, die in monistischen Strömungen der Jahrhundertwende als das Zentrum eines beseelten Kosmos konzipiert wird.100 In der fünften Strophe findet ein Wechsel des Blicks vom Körper des Dionysos hin zu dem Kruzifix in Maria Magdalenas Händen statt, das durch den griechischen Gott als ein „dürre[s] Holz“ (V. 17) und „hässlich Bild, verzerrt, verrenkt“ (V. 20) charakterisiert wird. Dieser Verzicht auf die direkte Benennung des Attributs der Büßerin als Kruzifix dient in Hartlebens Gedicht der Abwertung bzw. Entwertung dieses christlichen Symbols.101 Die flexionslosen Attribute „verzerrt“ und „verrenkt“, die sich auf den vom Schmerz entstellten Körper des Gekreuzigten beziehen und darüber hinaus Vorstellungen von Unnatürlichkeit und Krankheit evozieren, werden stilistisch durch die Inversion in V. 20 besonders betont. Die negative Bewertung des Kruzifix’ wird auch anhand der Assoziationen von Nichtigkeit und Illusionärem weckenden Formulierung „Spuk und Tand“ deutlich, die in V. 19 zur Charakterisierung des christlichen Symbols gebraucht wird.102 Der griechische Gott übt in Hartlebens Gedicht Kritik an Maria Magdalenas kontemplativem Versenken in das Leiden Jesu, das durch das Attribut der Büßerin symbolisiert wird. Dies wird durch die Charakterisierung ihres Blicks, der auf das Kruzifix in ihren Händen gerichtet ist, als „krank“ deutlich („Das dürre Holz in deiner Hand,/drauf du den kranken Blick gesenkt“). Die Verwendung der Begriffe „dürr“, „krank“, „hässlich“, „verzerrt“, „verrenkt“, die den Bedeutungsfeldern Krankheit 100

Das wohl berühmteste Beispiel für den Lichtkult in der Kunst um 1900 ist Fidus’ Grafik Der Sonnenjüngling aus dem Jahr 1905. 101 Interessant ist in diesem Kontext, dass das „dürre Holz“ anscheinend mithilfe des zeitgenössischen Wissens der Leser als Kruzifix identifiziert werden konnte. Dies spricht dafür, dass das Maria Magdalena-Bild des 17. Jahrhunderts den Rezipienten der Jahrhundertwende vertraut war. Vgl. hierzu folgenden Aufsatz Gertrud von Rüdigers, in dem sie als Beispiele für bildkünstlerische Darstellungen Maria Magdalenas Gemälde von Battoni, Correggio, Tizian, Rubens und van Dyk nennt (Gertrud von Rüdiger: „Magdalenenliteratur vom Mittelalter bis zur Gegenwart“, in: Die Frau. Monatsschrift für das gesamte Frauenleben unserer Zeit. Mai 1911, S. 464–471). 102 Möglicherweise spielt Hartleben mit der Kritik des griechischen Gottes am Kruzifix in den Händen der Heiligen Maria Magdalena implizit auf 1. Kor 1,23 an: „[...] wir aber predigen den gekreuzigten Christus, den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit“ (LB, 1. Kor 1,23, S. 197).

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

93

und Schwäche zuzurechnen sind und die die Beschreibung des Kruzifix’ in der fünften Strophe dominieren, stehen in deutlichem Kontrast zur Charakterisierung des jugendlichen und vitalen Körpers des Dionysos als „alles Lebens reichster Freund“ in den beiden vorangegangenen Strophen. In Hartlebens Gedicht wird dem Kruzifix in Maria Magdalenas Händen der schöne, sonnengebräunte nackte Leib des jugendlichen Gottes gegenübergestellt. Die beiden Körper stehen im Gedicht für zwei verschiedene Weltanschauungen, wobei der Leib des Gekreuzigten nicht explizit thematisiert wird. Das Kruzifix steht für den christlichen Glauben und die Versenkung in das Leid Jesu, während Dionysos im Text als Propagator des nicht näher spezifizierten Lebens erscheint. Die ästhetische Aufwertung des Dionysos im Vergleich zum Kruzifix wird im Gedicht verbunden mit dem Aufruf an Magdalena, den Blick von diesem christlichen Symbol abzuwenden und auf den Leib des Dionysos zu richten, der gleichzeitig ein Aufruf zur Teilhabe am großen ‚Leben‘ ist. Die christliche Konzeption der Auferstehung erscheint sowohl hier als auch in der am Ende des Gedichts gestalteten ‚Bekehrung‘ Magdalenas insofern als verkürzt, als die Dimension der Auferstehung als Schritt in das ewige Leben hier lebensreformerisch umgedeutet ist als Teilhabe an einer monistischimmanenten Lebenskonzeption. Die Gegenüberstellung der Kontemplation der büßenden Anachoretin Maria Magdalena mit der Lebenskonzeption des Dionysos finden wir in der sechsten Strophe. In den ersten beiden Versen wird Maria Magdalenas Versenken in das Leid Jesu abgelehnt („Ein Menschenglück in seinem Lauf/hemmt Tod und fremdes Elend nicht – “, V. 21– 22). In den letzten beiden Versen der Strophe, die von der vorherigen durch die Verwendung des Gedankenstrichs in V. 22 deutlich abgehoben sind, ruft Dionysos Maria Magdalena dazu auf, zu seines „Lebens Freud und Licht“ (V. 24) aufzublicken („o heb die tiefen Augen auf“, V. 23). Die „tiefen Augen“ stehen hierbei in Bezug zum „kranken Blick“ Maria Magdalenas, während die Formulierung „meines Lebens Freud und Licht“ auf die Selbstcharakterisierung des griechischen Gotts in Strophe 4 zurückverweist („bin alles Lebens reichster Freund,/vom frohsten Strahl des Helios/sieh meinen nackten Leib gebräunt.“).103 Der inhaltlichen Zweiteilung des Gedichts in die Beschreibung der Kontemplation Maria Magdalenas und den Aufruf zur Weltteilhabe durch Dionysos wird auch in den Illustrationen zu „Der Magdalenenwein“ in der Zeitschrift PAN Rechnung getragen.

103

Jutta Thamer geht in ihrer Untersuchung zur bildkünstlerischen Gestaltung der Zeitschrift PAN in den 1890er Jahren auf Hartlebens Gedicht ein, in dem „der antike[ ] Gott Dionysos [und] d[ie] christliche[ ] Märtyrerin Magdalena zusammentreffen“ und bezeichnet Maria Magdalenas ‚Bekehrung‘ dieser Lesart entsprechend als „Zeichen für den Sieg des Lebens über den Tod“ (Jutta Thamer: Zwischen Historismus und Jugendstil. Zur Ausstattung der Zeitschrift „Pan“ (1895– 1900). Frankfurt/M. 1980, S. 110).

94

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

Die Illustrationen zu „Der Magdalenenwein“ von Otto Eckmann und Hans Thoma Hartlebens Gedicht wurde im PAN auf zwei Seiten abgedruckt (siehe Anhang). Auf der ersten Seite sind die Strophen 1–3 wiedergegeben, auf der zweiten Strophe 4–8. Mit dieser Aufteilung ergibt sich eine inhaltliche Trennung, so dass wir auf der ersten Seite die Charakterisierung Maria Magdalenas und den Abstieg des Dionysos von der Felsenwand finden, während auf der zweiten Seite der Monolog des Gottes und die ‚Bekehrung‘ Maria Magdalenas dargestellt werden. Der inhaltlichen Diskrepanz wurde bei der Illustration des Texts Rechnung getragen. So ist die erste Seite von dem „führende[n] deutsche[n] Schrift- und Buchkünstler des Jugendstils“104 Otto Eckmann gestaltet, die zweite von dem Maler Hans Thoma, der u.a. auch an der Illustration von Dehmels Gedichtband Aber die Liebe beteiligt gewesen ist.105 Eckmann schmückt Hartlebens Verse am linken Bildrand mit einer Rose, deren Duftschwaden in typischer Jugendstilornamentik die Illustration sowohl horizontal als auch vertikal überziehen. Im Hintergrund ist die Fensterfront einer gotischen Kathedrale angedeutet. Eckmann unterstreicht somit auf der bildkünstlerischen Ebene den schwülen Katholizismus, der Hartlebens barocke Magdalenafigur umgibt. Thomas aufwändige Vignette, die auch den Einleitungstext zur ersten Nummer des PAN ziert und dort als Illustration der „organischen Kunstauffassung“ der Herausgeber gelten kann,106 hat das Ideal dionysischer Lebensfeier zum Thema. Die Darstellung tanzender Frauen in griechischen Gewändern, denen Pan mit seiner Flöte zum Tanz aufspielt, wird am oberen Rand umrahmt von einem Putto mit riesenhaften Flügeln. Unterhalb der Reigendarstellung finden sich am rechten und linken Bildrand zwei Drachen. In der Mitte sind zwei Schlangen dargestellt, die sich selbst in den Schwanz beißen. Thomas Vignette eignet sich zur Illustration von Hartlebens Text, in dem es zur Vereinigung der christlichen Heiligen Maria Magdalena mit dem griechischen Gott Dionysos kommt, aufgrund der synkretistischen Zusammenstellung von Elementen der christlichen Kunst und der griechischen Mythologie. In dem Motiv des Reigens, der von Pan begleitet wird, und der sich in den Schwanz beißenden Schlangen, die auf den Uroboros als Symbol der „Einheit aller Mächte und Vorgänge im Kosmos“107 verweisen, kommt auch in Thomas Illustration die im Gedicht propagierte Teilhabe an der All-Einheit alles Seienden bzw. an des Dionysos „Lebens Freud und Licht“ zum Ausdruck.

104

Ebd., S. 200. Vgl. Björn Spiekermann: Literarische Lebensreform um 1900, S. 24. 106 Vgl. zu diesem Zusammenhang und zu den Pan-Vignetten in dieser Jugendstil-Zeitschrift im Allgemeinen: Donatella Germanese: Pan (1910–1915). Schriftsteller im Kontext einer Zeitschrift. Würzburg 2000, S. 17f. 107 Lutz Käppel: „Uroboros“, in: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Band 12/I: Tam–Vel. Hrsg. v. Hubert Cancik und Helmuth Schneider. Stuttgart 2002, Sp. 1053. 105

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

95

Maria Magdalenas ‚Bekehrung‘ Das Motiv des emporgerichteten Blicks („o heb die tiefen Augen auf“, V. 23), der auf ein göttliches Licht gerichtet ist („zu meines Lebens Freud und Licht.“, V. 24), erinnert an traditionelle Darstellungen der Bekehrung Maria Magdalenas in der bildenden Kunst (siehe oben, Kap. 4). Hartleben gestaltet in der sechsten Strophe seines Gedichts die einsetzende Konversion der „bekehrten Sünderin“ Maria Magdalena durch den griechischen Gott Dionysos, der das „unzerstörbare[ ] Leben[ ]“108 und rauschhafte Entgrenzung verkörpert. In den chiastisch konstruierten Versen109 der siebten Strophe („Das rothe Blut auf deiner Haut“ – „dieser Wein“; „der Himmel, der dir draußen blaut“ – „deiner nassen Augen Schein“) werden körperliche Attribute Maria Magdalenas mit Elementen der Natur parallelisiert. Diese Gleichsetzung des Blutes und der Augen der Büßerin mit Wein und Himmel, die durch die parallel konstruierten Syntagmen „ist röther nicht“ (V. 26) bzw. „ist blauer nicht“ (V. 28) erzielt wird, verweist auf das zeittypische lebensmystische Ideal vom Aufgehen des Individuums in einer nicht spezifizierten All-Einheit. Durch die Parallelisierung des Himmels mit den Augen der Anachoretin Maria Magdalena („deiner nassen Augen Schein“) wird im Kontext des vorliegenden Gedichts zugleich eine eschatologische Deutung des Himmels als Ort jenseitiger Erlösung ausgeschlossen. Eine solche Lesart steht in Einklang mit der für lebensphilosophische und -reformerische Postionen der Jahrhundertwende typischen „immanente[n] Rechtfertigung der Welt“.110 Durch die Vielzahl von deiktischen Ausdrücken („deiner“, „dieser“, „dir“, „draussen“, „deiner“), die Hartleben in dieser Strophe gebraucht, werden die zentralen Elemente des Gedichts, also das Blut und der „wonnigliche[ ] Leib“ Maria Magdalenas („Das rothe Blut auf deiner Haut“) sowie der Wein des Dionysos („dieser Wein“), hervorgehoben. Zudem wird indirekt nochmals auf die Höhle der Büßerin als Ort des Gedichts („der dir draußen blaut“) verwiesen und als weiteres, körperliches Attribut der Heiligen deren tränengefüllte, blaue Augen genannt (V. 28). Deren Erwähnung lässt erneut auf die Adaption des barocken Bilds von Maria Magdalena als „tränenselige[r] Büßerin“ in „Der Magdalenenwein“ schließen (vgl. die Ausführungen zu Tizians Magdalenengemälde, siehe oben, Kap. 4.2). Auffällig ist in dieser Strophe der Übergang in der Präsentation des Erzählten vom dramatischen zum narrativen Modus, der durch den Tempuswechsel vom Präsens zum Perfekt markiert wird und hier der Apostrophierung des Abschlusses

108

Christoph Auffarth: „Dionysos/Bacchus“, in: RGG, Bd. 2, Sp. 863f., hier Sp. 864. Die Mittelachse dieser Kreuzfigur wird durch den Gedankenstrich am Ende von V. 26 markiert. 110 Ferdinand Fellmann: „Die erotische Rechtfertigung der Welt. Aspekte der Lebensphilosophie um 1900“, in: Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden. II: Um 1900, S. 31–47, hier 32.Vgl. hierzu auch Krabbes Einschätzung der sozialgeschichtlichen Lebensreformbewegung als „säkularisierte Heilslehre“ (siehe oben, S. 88f., Anm. 90). 109

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

96 111

des Erzählten dient. Auch die elliptischen Konstruktionen in V. 29 („Drauf112 hat er ihr den Wein gereicht“) und V. 31 markieren das Erreichen der Schlussstrophe des Gedichts. Im letzten Vers dieser Strophe wird die erotische Beziehung, die durch das Sinken an die Brust des Gottes angedeutet wird, durch Inversion und Alliteration stilistisch besonders hervorgehoben („sie selig an die Brust ihm sank.“). In dieser Bewegung der Anachoretin kommt die von ihr erlangte Erlösung zum Ausdruck. Dies wird in V. 30 bereits durch das Stillen ihres Durstes, der als Maria Magdalenas sexuelles Verlangen interpretiert werden kann, („den sie mit langen Züge trank“, V. 30) angedeutet.113 Als eine weitere Anspielung auf den christlichen Bedeutungsbereich in „Der Magdalenenwein“ kann somit neben der in der sechsten Strophe dargestellten ‚Bekehrung‘ Maria Magdalenas das Reichen dieses Weins durch den Gott Dionysos in der letzten Strophe gelten, das an das christliche Ritual der Eucharistie erinnert.114 Bei Hartleben wird das Blut Jesu allerdings durch den Wein als „Symbol der Lebensfreude, des göttlichen Rausches, des Kreislaufes und der Zusammengehörigkeit“115 ersetzt, dem Leib Jesu steht der sonnengebräunte, nackte Körper des griechischen Gottes gegenüber. Insofern trifft auf Hartlebens Gedicht zu, was Riedel für Gerhart Hauptmanns Erzählung Ketzer von Soana116 konstatiert, dass nämlich hier „die von Nietzsche verkündete große, weltgeschichtliche Revision des Christentums, Zarathustras ‚Zurück zu Leib und Leben‘, im kleinen, individuellen Maßstab, als Geschichte einer umgekehrten Bekehrung“117 dargestellt werde.118 Auch 111

Die achte Strophe wird durch die Verwendung des Gedankenstrichs in der letzten Zeile der siebten Strophe, der auch das Ende der Figurenrede des Dionysos markiert, vom vorhergehenden Erzählten deutlich abgehoben. 112 Die Synkope in diesem Vers verstärkt den Effekt der Verknappung, dem die Verwendung der Ellipsen in dieser Strophe dient. 113 Vgl. hierzu im Kontext von Hartlebens Gedicht, das sich an der Darstellung Maria Magdalenas in der bildenden Kunst des Barock orientiert, Norbert Lennartz’ Hinweis auf die sexuelle Konnotierung des eucharistischen Weins bzw. Bluts und die damit verbundene Oralerotik in der Literatur des 17. Jahrhunderts (Norbert Lennartz: „My unwasht Muse“. (De-)Konstruktionen der Erotik in der englischen Literatur des 17. Jahrhunderts. Tübingen 2009, S. 103). 114 Zu der der südfranzösischen Maria Magdalena-Legende entstammenden Vorstellung vom Erhalt der letzten Kommunion der Büßerin durch den heiligen Maximin vgl. Ingrid Maisch: Maria Magdalena, S. 59. 115 Jochen Hörisch: „Wein“, in: Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hrsg. von Günter Butzer und Joachim Jacob. Stuttgart, S. 419f., hier S. 419. 116 Hier wird die Bekehrung eines katholischen Priesters durch die Heidin Agata dargestellt, die zur „Wende von Christus zu ‚Dionysos‘, vom Jenseitsgott der Theologie zu einer mit der monistischen Gott-Natur überblendeten ‚heidnischen‘ Naturvergötterung, und hier zum ältesten aller Götter, ‚Eros‘“ führt. (Wolfgang Riedel: „Homo natura“, S. 264). 117 Ebd. Eine solche „umgekehrte[ ] Bekehrung“ finden wir auch in Hollaenders Roman, in dem der Priester Arnold von Magdalene zur erotischen Weltteilhabe und zu weltanschaulicher Reflexion gebracht wird. 118 Auf die Bekehrung der Anachoretin Maria Magdalena zur Weltteilhabe, die den emphatisch überhöhten Lebensbegriff der Jahrhundertwende („meines Lebens Freud und Licht“) zur

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

97

für Hartlebens Gedicht lässt sich der Einfluss Nietzsches nicht nur inhaltlich, sondern auch in Hinblick auf die Wahl der Motive nachweisen. Erlösung einer Erlösten So bedient sich Hartleben etwa zahlreicher intertextueller Verweise auf Nietzsches Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen (1883–1885).119 Beispiele sind hier der Ort des Gedichts, also Höhle und Felsenwand (V. 2, 10), die der Einsiedlerhöhle Zarathustras entsprechen, die Parallelisierung des männlichen Protagonisten mit der Sonne (V. 15–16, 24) und das Zusammentreffen mit einer Einsiedlerin bzw. einem Einsiedler (bei Nietzsche ist es ein alter Heiliger). Der Parallelisierung von Zarathustra und Jesus entspricht bei Hartleben die Gleichsetzung von Dionysos und Jesus.120 Weitere Beispiele für intertextuelle Bezüge zu Also sprach Zarathustra sind der leitmotivische Einsatz von Begriffen aus dem Bedeutungsfeld ‚Körper‘, wie z.B. das Blutmotiv, aber auch die Betonung der Schönheit und Jugend der (halb)nackten Körper Voraussetzung hat, wird bereits im Titel des Gedichts verwiesen. Hier wird in Form des Determinativ-Kompositums „Magdalenenwein“ die Heilige Maria Magdalena, die im Gedicht in ihrer Rolle als vanitas-Figur erscheint, mit dem Attribut des Dionysos in enge Verbindung gebracht. 119 Diesem „ehemals zündenden und irritierenden Weltanschauungsbuch“ (Karl Pestalozzi: „Vorwort“, in: Nietzsches ‚Also sprach Zarathustra‘. Im Auftrag der Stiftung Nietzsche-Haus hrsg. v. Peter Villwock. Basel 2001, S. VII–IX, hier S. IX) kommt nicht nur für Nietzsche selbst ein zentraler Stellenwert in seinem Werk zu. Vgl. hierzu etwa Peter Villwocks Hinweis in Bezug auf das Verfassen nachträglicher Vorreden für die vor dem Zarathustra erschienenen Bücher Nietzsches: „Also sprach Zarathustra sollte als Sonne im Zentrum des Werk-Systems installiert oder sichtbar gemacht werden: als der Text, zu dem alle anderen die (teilweise schon im voraus geschriebenen) Kommentare bilden.“ (Peter Villwock: „Zarathustra. Anfang und Ende einer Werk-Gestalt Nietzsches“, in: Nietzsches ‚Also sprach Zarathustra‘. Im Auftrag der Stiftung Nietzsche-Haus hrsg. v. Peter Villwock, S. 1–34, hier S. 28). Zur Rezeption von Also sprach Zarathustra, von dem Nietzsche ‚prophezeit‘ hat, es werde wie die Bibel gelesen werden, vgl. auch folgende Einschätzung Uwe Spörls: „Eine Eigenheit nicht nur, aber gerade der frühen Rezeption von Person und Werk Nietzsches im deutschsprachigen Raum besteht darin, daß man zu Nietzsches Lebzeiten, also bis ins Jahr 1900, und in den darauf folgenden Jahren vor allem an der Person des Schöpfers des Zarathustra interessiert war: Dessen Leben und Werk faßte man immer als radikal und immer als modernetypisch auf und konnte es dementsprechend, je nach eigenem Standpunkt, feiern oder verdammen“ (Uwe Spörl: „Sprachskepsis und Poesie als Modi der Weltanschauungskritik in der Nachfolge von Nietzsches frühem Essay ‚Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne‘“, S. 1–16, hier S. 6 (abrufbar unter: www.erlangerliste.de/ede/skepsis.pdf (letzter Aufruf: 13.10. 2012). Anhand der Figurenkonstellation von „Der Magdalenenwein“ lässt sich eine weitere intertextuelle Bezugnahme auf das Werk Nietzsches nachweisen, nämlich auf seine Klage der Ariadne aus den „Dionysos-Dithyramben“. Hier erscheint die Protagonistin, die als Geliebte des Dionysos konzipiert ist, als „[h]ingestreckt, schaudernd,/Halbtodtem gleich“ (zitiert nach: Wolfram Groddeck: Friedrich Nietzsche: Die „Dionysos-Dithyramben“. Bedeutung und Entstehung von Nietzsches letztem Werk. Berlin 1991, S. 183). Wie Maria Magdalena in Hartlebens Gedicht wird auch Nietzsches Ariadne Zeugin einer „Epiphanie des Dionysos“ (ebd., S. 182). 120 Zur Identifikation der Erlöserfiguren Jesus und Dionysos in der Literatur um 1900 vgl. Kap. 7.2.3.

98

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

Magdalenas und Dionysos’, die an Nietzsches Aufwertung des menschlichen Körpers bzw. seine Kritik an christlicher Leibfeindlichkeit erinnert.121 So lässt sich etwa anhand des Blutmotivs ein Bezug zwischen der Selbstkasteiung der Büßerin, die den „wonniglichen Leib“ mit „rothem Büßerblut [...] befleckt“, und dem Kapitel „Von den Hinterweltlern“ in Also sprach Zarathustra herstellen. Hier heißt es in Anspielung auf christliche Jenseitsvorstellungen: Kranke und Absterbende waren es, die verachteten Leib und Erde und erfanden das Himmlische und die erlösenden Blutstropfen: aber auch noch diese süßen und düstern Gifte nahmen sie von Leib und Erde!122

Aus der Perspektive Zarathustras kann Hartlebens Maria Magdalena-Figur, die ihren Leib mit „rothem Büßerblut“ befleckt, somit als ‚Verächterin des Leibes‘ gelten. In seiner Figurenrede in der siebten Strophe des Gedichts nimmt Dionysos eine Parallelisierung des Himmels mit den Augen Maria Magdalenas vor, die an den reinen, nicht religiös zu deutenden Himmel im folgenden Zitat aus dem Kapitel „Von den Priestern“ erinnert, in dem sich erneut ein Bezug zum „kranken Blick“ der Büßerin und dem Ort ihrer Buße herstellen lässt: Wahrlich, lieber sehe ich noch den Schamlosen, als die verrenkten Augen ihrer Scham und Andacht! Wer schuf sich solche Höhlen und Buß-Treppen? Waren es nicht solche, die sich verbergen wollten und sich vor dem reinen Himmel schämten?123

Im Kontext der zahlreichen intertextuellen Bezugnahmen auf Also sprach Zarathustra kann Hartlebens Darstellung der Konversion der christlichen Heiligen Maria Magdalena, mit Nietzsche gesprochen, als ‚Erlösung einer Erlösten‘124 gelten; die von Hartleben vorgenommene Ersetzung des Erlösers Jesus durch den griechischen Gott der

121

Das Motiv des Nacktseins kehrt in Also sprach Zarathustra wiederholt im Kontext von Nietzsches Konzeption des Übermenschen auf, vgl. hierzu besonders die Kapitel „Von den Priestern“, „Von der Klugheit der Menschen“ und „Von der Wissenschaft“. 122 Friedrich Nietzsche: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Sechste Abteilung, Bd. 1: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen (1883– 1885). Berlin 1968, S. 33. Das Motiv der Krankheit nutzt auch Hartleben in der Beschreibung der frommen Kontemplation Maria Magdalenas („Das dürre Holz in deiner Hand,/drauf du den kranken Blick gesenkt“; V. 17–18). Vgl. hierzu auch folgende Einschätzung Philip Ajouris: „Um den Zustand des Lebens unter den Bedingungen der christlichen Moderne zu veranschaulichen, zog Nietzsche die Bildbereiche des Kranken, Gefangenen, Eiskalten, der Erstarrung, der Greisenhaftigkeit und der Unfruchtbarkeit“ heran [...]“ (Philip Ajouri: Literatur um 1900. Naturalismus – Fin de siècle – Expressionismus. Berlin 2009, S. 79). 123 Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra, S. 114 (Hervorhebung A.G.-T.). 124 Vgl. ebd., S. 113: „Der, welchen sie Erlöser nennen, schlug sie in Banden:– In Banden falscher Werthe und Wahn-Worte! Ach dass Einer sie noch von ihrem Erlöser erlöste!“

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

99

Ekstase entspricht dem Textende von Nietzsches Ecce homo: „– Hat man mich verstanden? – Dionysos gegen den Gekreuzigten….“125 Fazit Betrachtet man „Der Magdalenenwein“ in Hinblick auf die Verarbeitung des traditionellen Magdalenenstoffs, so ist zunächst festzuhalten, dass Hartleben sich im vorliegenden Gedicht der barocken bildkünstlerischen Konzeption Maria Magdalenas als der verführerisch schönen Sünderin bedient, die im 17. Jahrhundert aufgrund ihrer Weltflucht und ihres kontemplativen Versenkens in das Leiden Jesu als Symbol der vanitas gilt. Als typische Elemente dieses Maria Magdalena-Bildes finden sich in „Der Magdalenenwein“ die Büßerhöhle (V. 2) in einer Felsenlandschaft (V. 10), die ruhende Pose der Heiligen (V. 1), ihre Selbstkasteiung (V. 3 und 4), ihre Askese, die in „Der Magdalenenwein“ durch das Schwinden der „Lust des holden Lebens“ aus ihrem Körper angedeutet wird (V. 5–6), das Kruzifix als eines ihrer Attribute sowie die für die Darstellung der körperlichen Schönheit Maria Magdalenas typischen Topoi des 17. Jahrhunderts („wonniglichen Leib“, „die junge Brust“, „flutenden, reichen Haar“, „deiner nassen Augen Schein“). Hartleben bedient sich in „Der Magdalenenwein“ des barocken Maria MagdalenaBildes aufgrund der Rolle der Heiligen als „betörend schöne[r], halbnackte[r] Frau“, deren „sündige Vergangenheit“, also ihre sexuelle Aktivität, diese Frauenfigur für die ‚Konversion‘ zur dionysischen Lebensfeier besonders geeignet erscheinen lässt.126 So wird in den letzten beiden Versen des Gedichts in dem seligen Sinken Maria Magdalenas an die Brust des Dionysos eine sexuelle Beziehung zwischen den beiden Figuren des Gedichts angedeutet. Die barocke Konzeption der Heiligen Maria Magdalena, die Askese und Weltabkehr der Büßerin betont, dient Hartleben in „Der Magdalenenwein“ als Folie für die ‚Propagierung‘ dionysischer Lebensfeier. Diese weltanschauliche Ausprägung des Gedichts wird besonders anhand des leitmotivischen Gebrauchs des emphatischen Lebensbegriffs (V. 6, 14, 24) deutlich, der, wie auch in Dehmels „Venus Consolatrix“, mit Begriffen aus dem Bedeutungsfeld ‚Körper‘ verknüpft wird. Hierbei ist die Dominanz des Blut-Motivs in beiden Gedichten besonders hervorzuheben.127 Statt Jesus ist es bei Hartleben Dionysos, der Maria Magdalena bekehrt, ihr den Wein reicht und Erlösung gewährt. Maria Magdalena erscheint hier nicht als Verführerin, sondern 125

Friedrich Nietzsche: Werke. Sechste Abt., Bd. 3: Der Fall Wagner. Götzen-Dämmerung. Nachgelassene Schriften (August 1888 – Anfang Januar 1889). Der Antichrist. Ecce homo. DionysosDithyramben. Nietzsche contra Wagner, S. 372 (Sperrung im Original). 126 Vgl. hierzu auch Maischs Einschätzung, dass die „reizende Büßerin” im Barock „nur interessant ist, weil sie die Sünderin zur Voraussetzung hat.” (Ingrid Maisch: Maria Magdalena, S. 86). 127 In „Der Magdalenenwein“ tritt noch die Betonung der Jugendlichkeit der Protagonisten hinzu („Die junge Brust“, V. 7; „ein Jüngling“ V. 10), die mit der für die lebensphilosophische Weltanschauung zentralen Konzeption der Vitalität in Verbindung gebracht werden kann.

100

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

als Verführte. Diese in Hinblick auf den traditionellen Magdalenenstoff ungewöhnliche Darstellungsweise wird noch dadurch gesteigert, dass die Heilige – im Gegensatz zu den übrigen Texten des Korpus – als schweigend dargestellt wird, während die Figurenrede des griechischen Gotts vier der insgesamt acht Strophen des Gedichts umfasst.128 Die von Nietzsche inspirierte Umdeutung christlicher Konzepte bzw. Rituale unter den Vorzeichen des zeitgenössischen Lebenspathos wird in der ‚Kommunion‘, die Maria Magdalena in Hartlebens Gedicht durch Dionysos129 gereicht wird und durch die sie Erlösung erlangt („sie selig an die Brust ihm sank“), sinnfällig. In „Der Magdalenenwein“ wird darüber hinaus in der Figurenrede des Dionysos explizite Kritik an der Weltflucht Maria Magdalenas geübt, die im Gedicht durch das ‚Festhalten‘ am Kruzifix versinnbildlicht wird. Die Kritik, die Dionysos an dem Holzkreuz übt, wie auch die ersten beiden Verse der sechsten Strophe („Ein Menschenglück in seinem Lauf/hemmt Tod und fremdes Elend nicht –“) sind deutlich von „Nietzsches Kult der Stärke und seine[r] Ablehnung der christlichen Mitleidsethik“130 geprägt. Verbunden wird damit im Gedicht die emphatische Überhöhung des Lebensbegriffs. Zusammenfassend lässt sich für Hartlebens Gedicht „Der Magdalenenwein“ festhalten, dass hier der passiven, christlichen Erlösungskonzeption, die von der vanitas-Figur Maria Magdalena verkörpert wird, die affirmative, lebensmystische Lebenskonzeption entgegengestellt wird, die durch den Gott des Weins und der Ekstase symbolisiert wird. Wie Hartleben orientiert sich auch Hans Benzmann bei seiner modernen Verarbeitung des Magdalenenstoffs am barocken Bild von Maria Magdalena als reuiger Büßerin.

128

Auffällig ist die formal konventionelle Gestaltung der Epiphanie des neuen, antichristlichen Erlösers in „Der Magdalenenwein“, die in Kontrast zu der innovativen inhaltlichen Verknüpfung von Dionysos mit der barocken Maria Magdalena-Figur steht. Diese Diskrepanz wird auch im Rahmen eines Aufsatzes zur Zeitschrift PAN zum Thema gemacht, die 1896 in Die Grenzboten erschienen ist und in der Hartleben mit Rückgriff auf das Ideal der klassischen Literatur gleichzeitig als moderner ‚Dichter in Anführungszeichen‘ diffamiert wird: „‚Magdalenenwein‘ hat Hartleben acht Bänkelsängerverse ohne jede Stimmung betitelt. Vielleicht soll der Wert in der Erfindung liegen: Dionysos reicht der Magdalena eine Schale Weins, um sich dann bei ihr nieder zu lassen. Wir sind nicht Feinschmecker genug, das zu schätzen; wohl aber fällt uns Schillers kostbares ‚Trink ihn aus den Trank der Labe‘, nicht zum Vorteil für den modernen ‚Dichter‘ ein“ (Anonym: „Der geheilte Pan“, in: Die Grenzboten. Zeitschrift für Politik, Literatur und Kunst 55 (1896), S. 323–334, hier S. 327) (Hervorhebung A.G.-T.). 129 Vgl. hierzu auch die Vorstellung von Dionysos als dem „Gott des älteren Abendmahls“, die die „pagane Religiosität des 19. Jahrhunderts“ entwickelt (Christoph Auffahrt: „Dionysos/Bacchus“, Sp. 863). 130 Manfred Engel: „Das Frühwerk. Einleitung“, in: Rainer Maria Rilke: Gedichte 1895 bis 1910, S. 612–630, hier S. 612. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Betonung der compassio Maria Magdalenas in der Literatur des Mittelalters.

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

101

6.3.3 Hans Benzmann: „Die heilige Magdalene“ (1894) Hans Benzmann, heute weniger als Lyriker, sondern v.a. als Herausgeber der literaturgeschichtlich bedeutsamen Lyrikanthologie Moderne deutsche Lyrik bekannt, war, wie auch Johannes Schlaf und Felix Hollaender, Mitglied der im Frühjahr 1900 gegründeten „Neuen Gemeinschaft“, die sich „als Fortsetzung bzw. Weiterentwicklung des Friedrichshagener Dichterkreises und des Vereins Durch!“131 verstand. 1894 veröffentlicht Benzmann seinen ersten Gedichtband, Im Frühlingssturm! Erlebtes und Erträumtes. Rilke schreibt eine begeisterte Rezension zu diesem Buch, dem er mit Verweis auf die Vorstellung von Lyrik als der subjektivsten Gattung eine „streng ausgeprägte[ ] Eigenart“ attestiert. Er begründet seine Kaufempfehlung mit der Feststellung, es handele sich bei Im Frühlingssturm! um ein „immer neu tönendes Orakel der Schönheit“, „das man nicht einmal gelesen beiseite legt“.132 Benzmanns Gedichte bezeichnet Rilke als „tonsatte[ ] Bilder“, „Bilder im eigentlichen Sinne des Wortes“. Eines dieser ‚Bilder‘ trägt den Titel „Die heilige Magdalene“ und gehört dem zweiten Zyklus von Benzmanns Lyrikband an, in dem das Erlebnis erster, meist unter freiem Himmel stattfindender erotischer Erfahrungen aus männlicher Perspektive thematisiert wird.133 Charakteristisch ist dabei die Verknüpfung von Dämonisierung und Sakralisierung des Erotischen. Auf das Erlebnis der Defloration reagiert in der Mehrzahl der Gedichte des Zyklus die jeweilige weibliche Figur mit Reue und Wut auf den Mann, während dieser aufgrund seines „[s]atanischen Seelenbrandes“134 von Schuldgefühlen gequält wird. Auf diese Negativwertung des sexuellen Erlebnisses folgt eine „Offenbarung der Liebe“,135 die zur Revision der ursprünglichen moralischen Bewertung der sexuellen Vereinigung als „Sünde“ und zur Vergebung für den Mann führt. Stellvertretend für den gesamten Zyklus kommt diese Gedankenfigur in Der Teufel zum Ausdruck; hier wird das männliche Sprecher-Ich zunächst als „Teu131

Karin Bruns: „Die neue Gemeinschaft [Berlin-Schlachtensee]“, in: Handbuch literarisch-kultureller Vereine, S. 358–371, hier S. 358. 132 Rainer Maria Rilke: „Hans Benzmann, Im Frühlingssturm; Albrecht Mendelsohn Bartholdy und Carl von Arnswaldt, Schmetterlinge; Franz Josef Zlatnik, Träume des Lebens“, in: Ders.: Sämtliche Werke. Fünfter Bd.: Worpswede. Rodin. Aufsätze, S. 301–304, hier S. 302. 133 Vgl. hierzu auch die Einschätzung Ernst Lemkes, dass dieser Zyklus, der der Liebe gewidmet sei, „stark realistische Töne den oft romantischen des vorigen Teils entgegen“ stelle, sowie seine Begründung hierfür: „Die Liebe ist eben das erste starke Wirklichkeitsgefühl im Herzen des Jünglings, und das darzustellen, verlangt realistische Mittel“ (Ernst Lemke: Hans Benzmann. Eine Einführung in sein Leben und sein Werk. Stettin 1919, S. 24). Charakteristischerweise sind diesem Zyklus als Mottos drei Zitate vorangestellt, nämlich das Pauluswort vom tönenden Erz, ein Auszug aus Otto Julius Bierbaums Gedicht „Vampyr“ und die ersten Zeilen von Dehmels „Hieroglyphe“: „In allen Tiefen/mußt du dich prüfen,/zu Deinen Zielen/ dich klarzufühlen . . .“ (zitiert nach Hans Benzmann: Im Frühlingssturm! Erlebtes und Erträumtes. Großenhain, Leipzig 1894, S. 45). 134 Hans Benzmann: „Die heilige Magdalene“, in: Ebd., S. 61–65, hier S. 62. 135 Ders.: „Der Teufel“, in: Ebd., S. 59–60, hier S. 60 (Sperrung im Original).

102

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

fel[...],/Lüstern nach Seelen“ eingeführt, der seine Krallen in die „flatternde Kinderseele“136 der jungen Frau geschlagen hat. In den letzten Versen des Gedichts findet sich eine paradoxe Formulierung, in der Dämonisierung und Sakralisierung der körperlichen Liebe zusammenlaufen, wobei der ‚Seelenmord‘ der Frau, also ihre Entjungferung, zur Voraussetzung für die Erlösungserfahrung137 stilisiert wird: „Ein Teufel war ich – /Ein Engel bin ich geworden –/Durch die Sünde der Liebe,/Ein Engel durch deine Seele!“.138 Die hier zum Ausdruck kommende Sakralisierung des Erotischen ist besonders eindrücklich gestaltet im letzten Gedicht des Zyklus, Venus Urania, in dem die Liebe mit intermedialem Verweis auf die Venus Anadyomene als kosmische Urkraft erscheint, die das Leben erschafft: „Zusammen im Sturm die Stoffe streben,/Und aus dem Wirbel, dem gärenden Schaum/Entsteigt die Liebe und lächelt Leben/Und leuchtet: Frieden dem ewigen Raum!“139 Den „Frevler[n] [...], die mit lüsternem Spiel/die züchtigen Schleier des Schooßes entfalten,/Verspottend der Liebe Ziel“, die also nur der Venus Pandemos und nicht der Venus Urania huldigen und das heilige „göttliche[ ] Walten“ der Liebe nicht erkennen, wird in Venus Urania die im „Hohelied/ der Ewigen Liebe im Weltallsraum“ zum Ausdruck kommende Heiligkeit der „hehren Gefühle“ bzw. „das süße Geheimnis der Liebesnacht“ gegenübergestellt und eine ehrfürchtige religiöse Anbetung der Liebe gefordert („Ein Priester, betend in Tempelschwüle,/So beuge die Seele sich ihrer Macht!“). Trotz dieser demütigen Haltung der Liebe gegenüber kommt es im Gedicht zur Apotheose des Menschen, die sich durch seine Teilhabe an der kosmischen Urkraft erklärt: „So nahe dich ihr, geweiht zur Stunde,/So nahe der Liebe heiligem Leib:/Die Schauer des Ew’gen weh’n im Bunde,/Unsterbliche Götter sin d M an n u nd W ei b!“140 Alle genannten inhaltlichen Aspekte, die den zweiten Zyklus von Benzmanns Gedichtband auszeichnen, lassen sich in Benzmanns lyrischer Verarbeitung des Magdalenenstoffs in „Die heilige Magdalene“ nachweisen, das eines der längsten 136

Ebd., S. 59. Vgl. hierzu folgende Verse des Gedichts, die sich auf das Paar nach der „Offenbarung der L i e b e “ beziehen und in denen die Liebeserfahrung zur elevatio stilisiert wird: „Und es sah der Tag,/Der lächelnd keusche Tag/Zwei Engel schweben/[...]/Hand in Hand, in den Himmel der Liebe. . . –“ (ebd., S. 60). 138 Ebd. 139 Ebd., S. 74–80, hier S. 78 (Sperrung im Original). Benzmann verweist mit Venus Urania offensichtlich auf Schillers Gedicht Das Eleusische Fest, wobei er die Fruchtbarkeitsgöttin Ceres durch die personifizierte Liebe ersetzt, vgl. hierzu folgende Parallelstellen: „Windet zum Kranze die goldenen Aehren,/Flechtet auch blaue Cyanen hinein!/Freude soll jedes Auge verklären,/Denn die Königin ziehet ein,/Die Bezähmerin wilder Sitten,/Die den Menschen zum Menschen gesellt,/Und in friedliche, feste Hütten/Wandelte das bewegliche Zelt.“ (Friedrich Schiller: Werke und Briefe. Hrsg. v. Georg Kurscheidt und Otto Dann. Bd.1. Gedichte. Frankfurt/M. 1992, S. 48); „Die Liebe baut die freundliche Hütte,/Sie schafft die Schönheit in ihrer Wahl,/Sie kränzt die Kraft mit milder Sitte, Sie lacht in Freude, sie weint in Qual“ (Hans Benzmann: Im Frühlingssturm!, S. 78). 140 Hans Benzmann: Im Frühlingssturm!, S. 79 (Sperrung im Original). 137

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

103

Gedichte des Zyklus ist (siehe Anhang). Die 155 Verse in freien Rhythmen sind unterteilt in zwei lange Abschnitte (V. 1–83 und V. 84–140) und drei kürzere (V. 141– 143, 144–153 und V. 154–155). Geschildert wird zunächst die Reue der Frau nach der in der Natur begangenen „Sünde“ („Und da lagst du/Auf der schwarzen Erde des Waldes,/Auf dem meergrünen Teppich des Mooses,/Eine büßende Magdalene. –“; V. 1–4). Der Gedankenstrich, mit dem der vierte Vers abschließt, hebt den bildhaften Charakter der einleitenden Verse hervor. Durch die Verwendung des unbestimmten Artikels wird hier deutlich, dass die angesprochene Frauenfigur, dem Titel des Gedichts widersprechend, zunächst nur mit Maria Magdalena verglichen wird und nicht als Heilige selbst im Gedicht dargestellt ist („Eine büßende Magdalene“). Neben der ruhenden Pose lässt auch die weitere Charakterisierung der Frau auf die Adaption des barocken Magdalenenbildes in Benzmanns Gedicht schließen, besonders der zum Himmel gewendete, Gnade suchende Blick141 ist hier hervorzuheben, wobei der Vergleich der Augen mit „verirrten Tauben“ zum Einen auf die Verfehlung der Liebenden, die sie um ihr Seelenheil gebracht hat, zum Anderen auf die erhoffte himmlische Gnade verweist.142 Deine weißen Seelenblüthen/Waren verdorrt von der Glut der Sünde,/Deine Augen flatterten/Wie verirrte Tauben/In die Höhe,/Suchend die blauen, milden/Gnadenblicke des Himmels. (V. 5–11)

Der Verlust der Jungfräulichkeit, der hier im Bild der verdorrten „Seelenblüthen“ angedeutet wird, erscheint in Benzmanns Gedicht buchstäblich als Verlust kindlicher Unschuld („Aus deiner Seele schrie,/[...]/Das schmerzlich jähe Erwachen/Aus Kinderträumen“; V. 12, 14–15), wobei die Erfahrung der erotischen Liebe ambivalente Gefühle auslöst („Das zitternde Staunen/Über das neue ungeheure,/Seltsame Wunderwerk der Liebe,/Das Himmel und Hölle dir erschlossen . . . . .“; V. 16–19). Der weibliche Körper wird zum Tempel der Unschuld stilisiert, den das männliche Sprecher-Ich „[m]it der qualmigen Fackel/Satanischen Seelenbrandes“ (V. 31–32) zerstört hat.143 Auch der Mann, der sich selbst als „Tiger, träge vom Fraß“ (V. 21) bezeichnet, fühlt Reue für seine Tat, die ihn außerhalb von menschlicher und göttlicher Ordnung stellt. Da stand ich,/Baar alles Göttlichen,/Alles Menschlichen baar,/Ein Titan wollüstiger Grausamkeit,/Und sann meinem Werke nach/Sann meinem Wesen nach/Und sah, wie der uner-

141

Die Enallage „blaue[ ], milde[ ]/Gnadenblicke des Himmels“ verweist auf die blauen Augen der Büßerin, wie wir sie etwa bei Tizian dargestellt finden. 142 Vgl. hierzu die Doppelbedeutung der Taube als „Sinnbild erotischer Unschuld“ und als „Symbol des Heiligen Geistes“ (Adam Lengiewicz: „Taube“, in: Metzler Lexikon literarischer Symbole, S. 382–383, hier S. 382). 143 Vgl. V. 24–32: „Und stierte mit stumpfem Blick/Auf die Trümmer des Tempels,/In dem ein Engel/Verklärten Blickes betend,/Gelegen hatte am weißen Altar der Liebe,/Auf den Tempel,/Den ich zerstört/Mit der qualmigen Fackel/Satanischen Seelenbrandes . . . . . .“

104

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

sättliche Wurm der Sünde/Zerfressen hatte/Die letzte menschliche Faser/In meiner Brust,/Wie die Stätte in mir/Leer war wie eine versengte Haide . . . . . (V. 33–44)144

Naturreligion und christliche Verdammung In dem Vergleich des Herzens mit einer „versengte[n] Haide“ klingt bereits die Überblendung von Naturbeschreibung und moralischer Wertung an, die den überwiegenden Teil des Gedichts ausmacht (V. 52–110). Hierbei bedient sich Benzmann zahlreicher Begriffe aus dem religiösen, v.a. christlichen Wortfeld. So steht etwa die „gläubige[ ] Menge“ synekdochisch für die christliche Gemeinschaft, aus der sich das Sprecher-Ich ausgestoßen fühlt. Der Donner des aufziehenden Gewitters wird mit dem von einem Priester ausgesprochenen „furchtbaren Fluch/Der Verdammung“, das Abendrot mit „rauchendem Opferblut“, die Sonnenstrahlen mit „gelbseidenen Kirchenfahnen“ und die umgebenden Blumen mit „tausend höhnende[n]/Kleine[n] bunte[n]/Heiligenbilder[n] aus Mosaik“ und „tausend/Haßgiftige[n] Menschenaugen“ verglichen. Die akustischen Eindrücke von Vogelgezwitscher und Waldesrauschen erscheinen dem Sprecher-Ich wie „Knabengesang“, „Orgelklang/Und Singen der gläubigen Menge“ (V. 57–76). Später wird das Sprecher-Ich sich auf der gemeinsamen Flucht vor dem Gewitter vorkommen „[w]ie ein Verfluchter“, eine Wurzel erscheint ihm „[w]ie eine Schlange der Hölle“ (V. 98–100). Das Sprecher-Ich fühlt sich also offenbar, gemessen an christlich geprägten Vorstellungen von der Sexualität als Sünde, als Verdammter und Ausgestoßener. Die religiöse Aufladung der Naturszenerie, die stilistisch durch zahlreiche Vergleiche erreicht wird, gipfelt in V. 80 in der metaphorischen Bezeichnung des Kiefernwaldes, in dem Mann und Frau ‚sündigen‘, als „Dom der Natur“. Aus diesem Dom bzw. aus den „friedlichen Hütten der Menschen“ fühlt sich das Paar vertrieben in die „ewige Nacht der Qualen“, die im Kontext des Gedichts auf christliche Hölle-Konzeptionen verweist. Der Topos von der Vertreibung aus dem Paradies, der in den genannten Versen anklingt, wird aufgenommen im zweiten Abschnitt des Gedichts. Hier werden die Blitze am Himmel metaphorisch umschrieben als Engel mit einem Flammenschwert. Benzmann verweist damit auf die in 1. Mose 3,24 erwähnten „Cherubim mit dem 144

Für „Die heilige Magdalene“ ist eine auffällige Häufung von Punkten am Versende zu konstatieren, zwei Zeilen des Gedichts bestehen sogar ausschließlich aus Punkten. M.E. trifft hier das zu, was Uwe Spörl für den Gedichtband Triumph des Lebens von Benzmanns Friedrichshagener Dichterkollegen Julius Hart konstatiert, dass nämlich diese „übertrieben wirkende Interpunktion“ die Funktion erfüllt, „die einzelnen Impressionen des Prosagedichts voneinander zu trennen und so Platz für differenzierende und weiterführende Assoziationen und Vorstellungen beim Leser zu schaffen“ (Uwe Spörl: Gottlose Mystik in der deutschen Literatur um die Jahrhundertwende. Paderborn 1997, S. 110). Im Fall von Benzmanns Gedicht scheint dies besonders in V. 109 und 110 der Fall zu sein, in denen durch die Häufung der Punkte und die damit einhergehenden semantische Leere, ähnlich wie etwa in Schnitzlers Reigen, der vollzogene Liebesakt angedeutet wird.

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

105

145

flammenden, blitzenden Schwert“, die nach dem Sündenfall den Garten Eden bzw. den „Baum des Lebens“ bewachen. Das Liebespaar wird in „Die heilige Magdalene“ also mit Adam und Eva parallelisiert, worauf auch die Erwähnung der mit einer Schlange verglichenen Wurzel in V. 100 hinweist, die das männliche Sprecher-Ich buchstäblich zu Fall bringt.146 Die sexuelle Vereinigung erscheint somit im ersten Teil des Gedichts als Sündenfall. Der Ich-Erzähler des Gedichts wird nicht nur mit Adam, sondern auch mit Jesus parallelisiert, wenn Benzmann in den folgenden Versen, die einen Übergang darstellen zur erneuten Thematisierung der weiblichen Reue, auf die in Lk 22,44 beschriebene Nacht in Gethsemane anspielt. Hier wird im Kontext des Ringens mit seiner göttlichen Bestimmung der Schweiß Jesu erwähnt, der „wie Blutstropfen“ zu Boden fällt.147 In Benzmanns Gedicht entspricht dem die Parallelisierung von Blut, Tränen und Schweiß. Da rannen wie blutige Tropfen/Thränen aus meinen Augen,/Und mein heißer Schweiß/Floß über dein bleiches Gesicht,/Das die Reue zerfraß, – (V. 102–106)

Der über das Gesicht der Frau laufende Schweiß des Mannes deutet hier voraus auf die erneute sexuelle Vereinigung des Paars, die in den folgenden Versen im Bild des petite mort angedeutet wird, besonders aufschlussreich ist hier die Häufung der „Stimmungspunkte“148 in V.109 und 110 („Und ich legte mich still/Und müde nieder,/Mit dir zu sterben . . . . ./. . . . . . . . . . . . . . . . .“; V. 107–110). Allbeseelung und der ‚heilige Geist‘ der körperlichen Liebe Im Anschluss an den Geschlechtsakt kommt es zur Verklärung des nächtlichen Himmels zum „Tempel des Friedens“ und zur Parallelisierung von Himmelszelt und der sich über den Mann beugenden weiblichen Figur, deren Körper in V. 25–28 zum Tempel der Unschuld stilisiert worden ist.149 Die leuchtenden Augen der Frau finden 145

LB, 1. Mose 3,24, S. 6. „In der Höhe erschien/Leuchtend ein Engel/Mit göttlich kalten Jehovahaugen./Sein Flammenschwert/Zuckte wieder und wieder/Auf uns herab . . . . ./Und ich raffte mich auf,/Ich riß dich empor/Und floh mit dir/Durch das Dickicht des Waldes/Wilder und wilder,/Weiter und Weiter/Wie ein Verfluchter . . . . . –/Eine Wurzel umklammerte mich/Wie eine Schlange der Hölle,/Und ich stürzte nieder.“ (V. 86–101). 147 LB, Lk 22,44 S. 105. Auch in Benzmanns Gedicht „Die Versuchung“, das sich ebenfalls im zweiten Zyklus von Im Frühlingssturm! findet, wird auf Lk 22,44 im Kontext des Liebeskampfs angespielt: „Meine Hand zerriß dein Gewand/Und ich rang mit dir . . . . ./[...]/Blutstropfen, wie glühende Eisensplitter,/Jagten durch mein Gehirn/Und quollen zerrinnend in Schweiß/Über die Stirne mir . . . – –“ (Hans Benzmann: Im Frühlingssturm!, S. 55). 148 Dieser Terminus zur Bezeichnung von Auslassungspunkten stammt von Richard Dehmel, vgl. hierzu Simone Winko: Kodierte Gefühle. Zu einer Poetik der Emotionen in lyrischen und poetologischen Texten um 1900. Berlin 2003, S. 134. Zu Benzmanns Verwendung von Stimmungspunkten siehe oben, S. 104, Anm. 144. 149 Im ersten Abschnitt des Gedichts findet die zunächst als Sünde charakterisierte sexuelle Vereinigung während des als bedrohlich empfundenen Gewitters statt. Dass das Unwetter hier 146

106

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

ihre Entsprechung in den „blühenden Sternen“ am nächtlichen Himmel.150 Die Idealisierung der Frau, deren Naturhaftigkeit hier hervorgehoben wird, gipfelt in ihrer Stilisierung zur Lebensspenderin und in der Anrufung als „[h]eilige Magdalena“, der sich das männliche Sprecher-Ich in Proskynese nähert: „Und dein warmer Mund/ Hauchte mir Leben ein./„Heilige Magdalena,/Bete für mich!“ –/Und ich schlang meine Arme/Um deine Kniee . . . .“ (V. 117–122).151 In dem Gebet der Frau, die hier mit der Heiligen Maria Magdalena identifiziert wird, finden wir die für den zweiten Zyklus von Benzmanns Im Frühlingssturm! charakteristische Argumentationsfigur, in der auf die Reue der Frau nach der Defloration und der Wut auf den männlichen Verführer die Sakralisierung der körperlichen Liebe („Gesündigt habe ich/Wider den heiligen Geist der Liebe!“) folgt. Hinzu kommt hier noch die Idealisierung des Mannes zum „Herr[n] und Gott“ der Frau, der wiederum mit Jesus parallelisiert wird und den sie um Vergebung für ihre „[m]enschliche Schwäche“, also ihre Reue nach der Entjungferung, bittet und von dem sie „Erleuchtung“ erlangt.152 Dass die Maria Magdalena-Figur sich von den gesellschaftlichen Konventionen gelöst hat, an denen sich das männliche Sprecher-Ich in seiner Charakterisierung des Paars als Verdammte offenbar orientiert (V. 52–101), wird im Folgenden durch den intertextuellen Verweis auf Nietzsches mit „Vorspiel einer Philosophie der Zukunft“ untertitelte Schrift Jenseits von Gut und Böse (1886) und das ‚Erhabensein‘ über Himmel und Hölle deutlich. Aus dem „weißen Altar der Liebe“, an dem die Jungfrau gebetet hatte, wird in der Figurenrede der Frau der „opferrauchende[ ]

nicht nur literarischer Tradition entsprechend den Geschlechtsakt symbolisiert, sondern dass die Natur die innere Einstellung des Sprecher-Ichs spiegelt, wird in der Verklärung des Sternenhimmels im zweiten Abschnitt deutlich, in dem sich das Paar durch die erneute sexuelle Vereinigung auf dem Weg zur „Offenbarung der Liebe“ befindet, die wiederum durch die Vermählung der nächtlichen Natur mit dem „Heiland der Liebe“ bzw. die Ineinssetzung der Venus und des Sterns von Bethlehem zum Ausdruck kommt. Vgl. hierzu auch die Einschätzung Lemkes, dass die Liebesszenen des zweiten Zyklus von Im Frühlingssturm! in „eine seelisch mitschwingende Naturszenerie“ eingebettet sind (Ernst Lemke: Hans Benzmann, S. 25). 150 „Über uns stand die Nacht/Mir ihren blühenden Sternen,/Ein Tempel des Friedens./Ruhe, weite Ruhe./Du beugtest dich über mich/Leuchtenden Auges/[...]“ (V. 111–116). 151 Vgl. hierzu Riedels Erläuterung zu Bachofens Matriarchatstheorie und dessen Bedeutung für Weiblichkeitsentwürfe in der Literatur um 1900: „Diese Konstruktion von Weiblichkeit als Verkörperung moralischer Idealität [in Schillers Würde der Frauen] fällt zusammen, sobald die Biologisierung des Naturbegriffs greift, sprich das natura sive sexus gilt. Das weibliche Geschlecht, bei Schiller qua Natur das im eminenten Sinne sittliche und sittigende, wird nun – qua Natur! – zum im eminenten Sinne sexuellen. Diese Verschiebung – und damit die Begründung eines geschlechtertheoretischen Topos, ja Mythos der Moderne – vollzieht sich bei Bachofen.“ (Wolfgang Riedel: „Homo natura“, S. 181) (Hervorhebung im Original). Vgl. hierzu auch Kap. 7. 152 Diese Konzeption erinnert an den Typus der courtisane rachetée, also der ‚gefallenen‘ Frau, die vom Mann ‚erhoben‘ wird, siehe unten, Kap. 7.1.6.

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

107

153

Altar der Liebe“, an dem die Magdalenafigur gemeinsam mit ihrem Verführer der körperlichen Liebe huldigt. Wie konnt’ ich verzagen,/Wie konnt’ ich hadern mit dir,/Dem meine Seele gehört,/Der du mein Herr und Gott bist!/Gesündigt habe ich/wider den heiligen Geist der Liebe!/Gieb du Vergebung meiner/Menschlichen Schwäche,/Erleuchtung fließe von dir zu mir!/Beten will ich mit dir/Am opferrauchenden Altar der Liebe/Und fliegen mit dir/Über Himmel und Hölle/ Jenseits von Gut und Böse! (V. 127–140)

Wie bei Hartleben werden hier christliche Vorstellungen umgewertet; so wird mit der Formulierung „heiliger Geist“ auf die sexuelle Liebe Bezug genommen, als sündig erscheint es, dieser bislang nicht gehuldigt zu haben. Bei Hartleben wird in ähnlicher Weise die Selbstkasteiung Maria Magdalenas als sündige Handlung charakterisiert. Statt Jesus wird hier der Liebhaber der Maria Magdalena-Figur zu deren „Herr[n] und Gott“, den sie um „Vergebung“ bittet. Im gemeinsamen Liebesakt erhebt sich das Paar darüber hinaus über christliche Jenseitsvorstellungen („[...]/Und fliegen mit dir/Über Himmel und Hölle/[...]“). Weitere Bezugnahmen auf den christlichen Sprachgebrauch finden sich auch in den folgenden Versen des Gedichts. So fühlt sich das Sprecher-Ich im Anschluss an das Gebet der Magdalenafigur von Jesus selig gesprochen, wobei Benzmann hier intertextuell auf die Bergpredigt verweist („Da zog der Heiland durch meine Seele,/Der Pred’ger vom Berge,/Und sprach ein dreimal Selig . . . .“; V. 141– 143). Die subjektiv empfundene Verbannung aus dem „Dom der Natur“ bzw. den „friedlichen Hütten der Menschen“, die im ersten Teil des Gedichts u.a. durch die Gleichsetzung der Liebenden mit Adam und Eva verdeutlicht wird, erscheint hier aufgehoben. Die ‚Entsühnung‘, die das Paar erfährt, wird besonders in den letzten Abschnitten des Gedichts mit der Parallelisierung des Mannes mit Jesus bzw. der Anrufung der Frau, die zu Beginn des Gedichts lediglich optisch als „eine büßende Magdalene“ erscheint, als heilige Maria Magdalena deutlich. Nach der Offenbarung des „heiligen Geists der Liebe“ werden die Protagonisten unter den Vorzeichen des zeitgenössischen Lebenspathos und durch eine spezifische Umdeutung christlicher Konzeptionen im Rahmen der Heiligung der Geschlechtsliebe zu zweitem Adam und neuer Eva stilisiert, die „der Liebe Ziel“ erkannt haben.154 Im vorletzten Abschnitt des Gedichts gipfelt die Sakralisierung menschlicher Sexualität, die bereits im Gebet der Magdalenafigur zum Ausdruck gekommen ist, in der Vermählung von Natur und dem „Heiland der Liebe“ bzw. in einer Synthese von christlicher Frömmigkeit und sinnlicher Liebe, die in der Gleichsetzung der Venus mit dem Stern von Bethlehem zum Ausdruck kommt: „In ihrer ewigen Weisheit/Thronte die Nacht,/Stand die Natur/[...]/Und lächelte mild/Ihrer Vermählung/Mit dem Heiland 153

Vgl. hierzu folgende Parallelstelle in „Der Teufel“: „Da überkam mich/Die große Offenbarung der L i e b e ./Wunder sah ich gescheh’n/Und Opfer rauchen . . . . .“ (Hans Benzmann: Im Frühlingssturm!, S. 60) (Sperrung im Original). 154 Zur Stilisierung Maria Magdalenas zur zweiten Eva siehe oben, S. 56.

108

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

der Liebe./Über uns glänzte der Venusstern,/Der eins war mit dem von Bethlehem . . . “ (V. 144–146, 149–153) In der letzten Strophe wird ein Element vom Anfang des Gedichts aufgenommen, nämlich der optische Eindruck der Magdalenafigur, deren Kopf hier von einem Heiligenschein155 umflort ist, welcher sich auf die Venus als Lichtquelle zurückführen lässt („Es strahlte ein Heiligenschein/Von deinem Haupte . . . .“; V. 154–155). Durch die sexuelle Vereinigung mit der Magdalenafigur gelangt das männliche Sprecher-Ich zur Erlösung, die im Text durch die Erlangung der Seligkeit bzw. durch die Teilhabe am „Hohelied/der Ewigen Liebe im Weltallsraum“ zum Ausdruck kommt. Benzmanns Jesus Aufgrund des im ersten Abschnitt des Gedichts thematisierten Ausgestoßenseins aus der christlichen Gemeinschaft mag die Jesusmotivik, die am Ende von „Die heilige Magdalene“ im Kontext des versöhnten Weltbezugs gebraucht wird („Pred’ger vom Berge“, „Heiland der Liebe“, „Bethlehem“), zunächst verwundern. Zu Benzmanns „persönliche[r] Christusauffassung“ finden sich einige aufschlussreiche Ausführungen im Nachwort zu seiner Evangelienharmonie (1909). Benzmann bezeichnet Jesus hier „als das gesundeste, als ein ursprüngliches und als das gute, als das lebensbejahende Element unseres Wesens, – wie er einst wahrhaftig in menschlicher Gestalt auf Erden gewandelt ist“.156 Auf das Moment der Lebensbejahung, das in „Die heilige Magdalene“ in Form der Heiligsprechung der Sexualität zum Ausdruck kommt, geht Benzmann auch an anderer Stelle ein; hier kommt seine Orientierung am Jesus der Bergpredigt und das Bemühen um die Aktualisierung dieser Figur und der mit ihr verbundenen Werte für die Zeit um 1900 zum Ausdruck. Ich versuchte es aber weiter und vor allem, diesen ewigen Menschen und seinen lebensbejahenden Idealismus – für mein Teil – unserer Zeit neu zu gewinnen und seine Persönlichkeit und die Werte, die sie unmittelbar durch ihr Leben und Handeln und mittelbar durch die Formeln und Symbole ihrer Aussprüche – wie z.B. in der ‚Bergpredigt‘ – kund tat, für unsere Zeit zu deuten.157

Dass mit der Aktualisierung der Jesusgestalt bei Benzmann auch eine moderne Verarbeitung des Magdalenenstoffs einhergeht, lässt sich nicht nur anhand von „Der Magdalenenwein“, sondern auch am Beispiel des Gedichts „Christus und die beiden Frauen“ nachweisen, das in seinem Gedichtband Evangelienharmonie erschienen ist. Die szenische Anlage des Texts stellt eine Adaption des Maria- und Marta-Idylls dar. Die Figur der Maria, die dem traditionellen Magdalenenstoff entsprechend als Maria 155

Bereits im zweiten Abschnitt des Gedichts wird der Heiligenschein erwähnt, durch das Stilmittel des Vergleichs wird hier die Heiligkeit der Frauenfigur jedoch noch abgeschwächt („Und wie ein Heiligenschein/Umfloß es dein Haupt:/[...]; V. 125–126). 156 Hans Benzmann: Eine Evangelienharmonie. Mit Holzschnitten von Albrecht Dürer, Lucas Cranach d. ä., Altdorfer und Burgkmair. Leipzig 1909, S. 237. 157 Ebd., S. 239 (Hervorhebung A.G.-T.).

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

109 158

Magdalena gedeutet werden kann, erscheint hier als Geliebte Jesu, die Züge einer sexuellen Erlöserin trägt. So heißt es im Monolog der Jesus-Figur von der Schwester Martas: Allein – Maria hält in ihrer Hand mein Herz/und fragt es nach geheimstem Glück und Schmerz,/fragt wie ein Kind nur mit dem bangen Blick/und weiß doch und gestaltet mein Geschick,/hebt meiner Seele Krone aus der Nacht,/hilft mir zu Mir empor – zur Eigenmacht . . ! [...]159

Bei der nächtlichen Wanderung Jesu mit seinem Lieblingsjünger Johannes durch das „tauigfeuchte[ ] Gedüft der tausend Kelche“ wird dieser vom Erlebnis der Allbeseelung überwältigt, das in den letzten Zeilen von „Christus und die beiden Frauen“ geschildert wird. Hier wird erneut die Erlöserinnen-Funktion der Maria Magdalena-Figur deutlich, die auch für „Die heilige Magdalene“ nachgewiesen werden konnte. „O Herr!“ rief er [Johannes] da plötzlich, „wie ein Meer/zieht mich dies Flammen und Blühn in sich hinein/und füllt mich wie ein süßer Labewein!/Sag’, welch ein Leben ist in dieser Nacht/in mir und um mich übergroß erwacht?/Mir ist’s, als strebe aus jedem Baum und Rohr/Zum Sternenlicht ein eigener Geist empor!/als sei beseelt ein jedes eigener Art –“/„Du fühlst Marias erlösende Gegenwart!“/spricht Jesus hochgemut . . . Und wie zwei Flammen/fließen auch sie mit allem Leben zusammen . . .160

Ein solches, durch die Begegnung mit einer Maria Magdalena-Figur ausgelöstes AllEinheits-Erlebnis lässt sich auch für die in der vorliegenden Arbeit untersuchten Verarbeitungen des Magdalenenstoffs von Dehmel, Schlaf und Hollaender nachweisen. Fazit Die Frauenfigur erscheint in „Die heilige Magdalene“ als Lebensspenderin und sexuelle Erlöserin („‚Und dein warmer Mund/Hauchte mir Leben ein./„Heilige Magdalena,/Bete für mich!‘“ –), obwohl sie zu Beginn des Texts zunächst als reuige ‚Gefallene‘ dargestellt wird. Wie in Hartlebens Gedicht ist die Maria Magdalena-Figur hier nicht Verführerin, sondern Verführte, die sich bei Benzmann zur Anhängerin der leiblichen Liebe wandelt. Eine weitere Parallele zu Hartlebens Text liegt in der ‚irreführenden‘ Titelgebung; geht es in „Der Magdalenenwein“ eher um die weltanschaulichen 158

Vgl. hierzu etwa die Charakterisierung der Schwester Martas durch Johannes: „Wie engelhaft dies Wesen war und bräutlich zart.“ Im Kontext der Fußwaschung werden die zärtlichen Gesten Jesu und Marias erwähnt, die auf eine intime Paarbeziehung hinweisen „[...] und legt auf ihres Scheitels flimmernden Stern/zärtlich die Hand, indes sie tief beglückt/mit ihrem seidnen Haar, zärtlich gebückt,/dem Herrn die Füße trocknet . . .“ (ebd., S. 176). 159 Ebd., S. 177. 160 Ebd., S. 178 (Hervorhebung A.G.-T.). Auch in „Die heilige Magdalene“ ist das Motiv der Erlöserin, die dem Mann Leben einhaucht, eng an das des ‚blühenden‘ Sternenhimmels gebunden („Über uns stand die Nacht/Mit ihren blühenden Sternen,/[...]/Du beugtest dich über mich/Leuchtenden Auges/Und dein warmer Mund/Hauchte mir Leben ein“). Vgl. hierzu auch die Charakterisierung des Scheitels der knieenden Maria Magdalena-Figur in „Christus und die beiden Frauen“ als „flimmernde[r] Stern“ (Hans Benzmann: Eine Evangelienharmonie, S. 176).

110

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

Ausführungen des Gegen-Erlösers Dionysos, so ist es bei Benzmann die jesusähnliche männliche Figur, deren Wandel vom Leiden an der eigenen Sündhaftigkeit hin zur imaginierten ‚Seligsprechung‘ seiner Seele durch den „Pred’ger vom Berge“ im Zentrum steht. Benzmann adaptiert in seinem Gedicht die beiden wesentlichen Aspekte der barocken Maria Magdalena-Konzeption, nämlich die Vorstellung von der reuigen, verzweifelten Sünderin und der schönen Büßerin. Wie Hartleben orientiert auch er sich dabei an bildkünstlerischen Darstellungen der Heiligen, was zu Beginn des Texts anhand der liegenden Pose der Heiligen und ihrem zum Himmel gewendeten Blick deutlich wird. Die Sünderin bittet wie im traditionellen Magdalenenstoff um Vergebung, allerdings nicht um Vergebung für ihre im ersten Teil des Gedicht als sündhaft empfundene Sexualität, sondern gerade dafür, das sie bislang „[w]ider den heiligen Geist der Liebe“ gesündigt habe. Adressat ist hier nicht mehr Jesus, sondern das Sprecher-Ich, das in der Rolle ihres „Herr[n] und Gott[s]“ erscheint. Die Umdeutung christlicher Werte dient bei Benzmann der Sakralisierung des Erotischen. In ähnlicher Weise nimmt Richard Dehmel Bezug auf den traditionellen Magdalenenstoff, wenn er in seinem skandalträchtigen Gedicht „Venus Consolatrix“ Zitate aus dem Neuen Testament unter den Vorzeichen von Lebenspathos und Lebensmystik der Jahrhundertwende umdeutet.

6.3.4 Richard Dehmel: „Venus consolatrix“ (1896) Keine eigentliche Maria Magdalena-Figur ist es, die Dehmel in seinem Gedicht „Venus Consolatrix“ gestaltet, sondern eine Zusammenziehung aus Maria Magdalena, Muttergottes und der römischen Göttin der Schönheit, des Lebens und der Sexualität. „Venus Consolatrix“ erschien erstmals 1896 in Dehmels Gedichtband Weib und Welt.161 Dieses Buch nahm der um 1900 in konservativen Kreisen populäre und u.a. mit Agnes Miegel eng befreundete Balladendichter Börries von Münchhausen zum Anlass, Anzeige gegen Dehmel zu erstatten. Der darauf folgende Prozess fand im Sommer 1897 statt. Dehmel wurde dazu verurteilt, „die ‚Venus Consolatrix‘ aus ‚Weib und Welt‘ zu tilgen, da sie einen Verstoß gegen die §§ 166 (Gotteslästerung) und 184 (Unzucht) des Strafgesetzbuches darstellte“.162 Es wurde verfügt, dass das Gedicht aus der Restauflage und späteren Neuauflagen zu entfernen sei.163 Noch in Dehmels Verwandlungen der Venus (1907) erscheint das Gedicht mit einem werbewirksamen Hinweis auf den Inhalt der gestrichenen Passage, in der die Frauenfigur sich vor dem männlichen Sprecher-Ich entkleidet. 161

Richard Dehmel: „Venus Consolatrix“, in: Ders.: Weib und Welt. Gedichte. Nachdruck der Ausgabe von 1896. Hrsg. von Heike Menges. Eschborn 1998, S. 119–121. 162 Lars Kaschke: „Aus dem Alltag des wilhelminischen Kulturbetriebs: Börries von Münchhausens Angriffe auf Richard Dehmel“, in: Text und Kontext 20 1 (1997), S. 35–57, hier S. 41. 163 Vgl. Björn Spiekermann: Literarische Lebensreform um 1900, S. 33.

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

111

„Venus Consolatrix“ umfasst 57 jambische, fünfhebige Verse. Diese sind nicht strophisch gegliedert, werden aber durch verschiedene Reimschemata miteinander zu Abschnitten verbunden. Bei den Versen handelt es sich überwiegend um Zehn- und Elfsilber; eine Ausnahme hierzu bildet die letzte Zeile des Gedichts, die nur acht Silben umfasst und somit metrisch und optisch besonders hervorgehoben wird. Das Erzählte ist in „Venus Consolatrix“ intern fokalisiert, das artikulierte Ich fungiert als homodiegetischer Erzähler. Durch diese Perspektivierung und die Teilhabe des artikulierten Ichs an der erzählten Welt, die zur Identifikation des Lesers mit dem Erzähler einladen, wirkt das Erzählte in Dehmels Gedicht besonders lebendig und unmittelbar. Hierzu trägt auch die Verwendung der nebenordnenden Konjunktion „dann“ zu Beginn des Gedichts bei („Dann kam Stern Lucifer; und meine Nacht“), da diese einen vorhergehenden Satz impliziert und dem Leser somit suggeriert wird, das Erzählte setze innerhalb eines Geschehens ein. Auch die Vielzahl deiktischer Ausdrücke in „Venus Consolatrix“ (z.B. „da nickte sie und sagte zu mir: Du –“, V. 20; „dann sprach sie weiter: Sieh! dies Fleisch und Blut“, V. 31; „Da sprach sie wieder und trat her zu mir:“, V. 47) verstärken diesen Eindruck der Unmittelbarkeit. Im ersten Abschnitt des Gedichts, der die Verse 1–6 umfasst, beschreibt das artikulierte Ich, wie der Morgenstern („Stern Lucifer“)164 sein Zimmer und eine sich darin befindende Konsole bescheint. In den vier kreuzgereimten Versen des zweiten Abschnitts (V. 7–10) wird die Erscheinung einer Frauengestalt, die sich aus der Konsole erhebt, thematisiert, deren Äußeres in V. 11–16 beschrieben wird. Diese Verse bilden den dritten Abschnitt von „Venus Consolatrix“ und sind durch die Strophenform der sechszeiligen Stanze miteinander verbunden. Den vierten Abschnitt bilden die Verse 17–24. Hier sind jeweils vier Zeilen durch umarmenden Reim miteinander verbunden, wobei die jeweils erste Zeile mit einer männlichen Kadenz, die zweite und dritte Zeile dagegen mit weiblicher Kadenz enden. In diesem Abschnitt wendet sich die Frauengestalt an das artikulierte Ich und ruft es zum ‚Frommsein‘ auf. Im fünften Abschnitt (V. 25–30), der wiederum als Strophenform die sechszeilige Stanze aufweist, werden das Öffnen des Kleides und das Präsentieren ihrer Brüste durch die weibliche Figur geschildert. Dass es sich hier um ein wirkliches Präsentieren handelt, verdeutlichen die Verse 28–30: „und zeigte mir mit ihren Fingerspitzen,/die zart das blanke 164

‚Lucifer‘ bezeichnet in der römischen Mythologie den Morgenstern, der als Sohn der Aurora gilt. Durch die Analogie zu dem im Alten Testament erwähnten „gestürzten Engel“, der dort „Sohn der Morgenröte“ genannt wird, wurde Lucifer mit dem christlichen Satan identifiziert, der ebenfalls vom Himmel fällt (vgl. Brockhaus – Die Enzyklopädie. In 24 Bänden. 20. Aufl. Band 23: Vall– Welh. Leipzig 1999, S. 81–83). In „Venus Consolatrix“ klingt auch diese zweite Wortbedeutung in den als blasphemisch und anti-konfessionell einzustufenden Passagen an, in denen die Frauengestalt in einer Jesus ähnlichen Rolle erscheint. Auch wird die weibliche Hauptfigur durch ihre Bezeichnung als Venus, also als „Göttin der Liebe, Schönheit und Fruchtbarkeit“ (Eric M. Moormann/Wilfried Uitterhoeve: Lexikon der antiken Gestalten, S. 82), aufgrund der Polysemie dieses Lexems, das auch den als Morgenstern bezeichneten Planeten meint, indirekt mit Lucifer identifiziert.

112

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

Licht des Sternes küßte,/die braunen Warzen ihrer bleichen Brüste“. Dehmel spielt durch diese Handhaltung seiner Mischgestalt aus Venus, Maria Magdalena und Jungfrau Maria, die mit ihren Fingerspitzen auf ihre Brustwarzen zeigt, auf die bildkünstlerische Tradition der Venus Pudica an (siehe oben, S. 43). Im sechsten Abschnitt des Gedichts (V. 31–40) sind jeweils vier Verse durch umarmenden Reim miteinander verbunden, während die letzten beiden Zeilen paargereimt sind. In diesem Abschnitt findet sich der Monolog der weiblichen Figur, in dem sie sich selbst einerseits als Mutter Jesu („Maria ich, die Nazarenerin“, V. 34), andererseits als Maria von Magdala („Maria ich, die Magdalenerin“, V. 38) charakterisiert und das artikulierte Ich dazu aufruft, zu lernen, sich selbst zu „erlösen und [zu] gesunden“ (V. 40). Im siebten Abschnitt wird das vollständige Entkleiden der Frauengestalt beschrieben und es werden als besonderes Merkmal ihres nackten Körpers die Schwangerschaftsstreifen auf ihrem Bauch hervorgehoben („wie heilige Runen glänzten auf der prallen/Bauchhaut die Narben ihrer Mutterschaft“, V. 43–44). Im letzten Abschnitt von „Venus Consolatrix“ (V. 47–57) verwendet Dehmel erneut die sechszeilige Stanze, welche hier zudem durch die Wiederholung des Reimes der letzten drei Verse dieser verkürzten Stanze (V. 53–55), der durch die Hinzufügung der Zeilen 56 und 57 zu einem umarmenden Reim ausgebaut wird (V. 53–57), erweitert wird. In diesem Abschnitt wird die sexuelle Vereinigung mit der Frauengestalt beschrieben, die in den ekstatischen Worten des Sprecher-Ichs „o auf –auf – auferstehn! –“ (V. 57) gipfelt. Das Erscheinen des „Stern[s] Lucifer“ wird im ersten Vers des Gedichts durch die Zäsur, die auf der syntaktischen Ebene durch das Semikolon markiert wird, besonders hervorgehoben. Dem Licht des Morgensterns wird die „scheu“ erblassende Nacht gegenübergestellt, die Dehmel durch die Verwendung des Personalpronomens „meine“ in enge Verbindung mit dem artikulierten Ich bringt. So wird durch die Personifikation der Nacht die inferiore, ängstliche Haltung des Sprecher-Ichs, die auch an weiteren Stellen des Gedichts anklingt, gegenüber dem ebenfalls anthropomorphisierten ‚Lichtbringer‘ Lucifer deutlich.165 „Meine Nacht“ lässt sich im Kontext des Gedichts metaphorisch deuten als das bisherige, ‚unerleuchtete‘ Leben des artikulierten Ichs, in das Lucifer und die aus der Konsole aufsteigende Frauengestalt treten. Für diese Lesart spricht auch das Eindringen des Sternenlichts in den privaten und intimen Wohnraum („Er schien auf meine dunkle Zimmerwand“, V. 3). Das Licht des Morgensterns erhellt und verlebendigt die Konsole, die für das artikulierte Ich bis zu diesem Zeitpunkt einen geringen Stellenwert („die schwarz, seit lange leer im Winkel stand“, V. 6) gehabt hat. Die Anthropomorphisierung der Konsole 165

Zur Popularität der Figur Lucifers im kulturellen und ästhetischen Diskurs der Jahrhundertwende vgl.: Justus H. Ulbricht: „Lichtgeburten. Neuheidnische und ‚neugermanische‘ Tendenzen innerhalb der Lebensreform“, in: Die Lebensreform, Bd. 2, S. 133–138, hier S. 133: „Ursprünglich Symbol des intellektuellen Freigeistes wurde diese – in christlichen Kontexten eher teuflische Figur – zum Heros antikirchlicher und antichristlicher sowie lebensreformerischer Bestrebungen.“

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

113

wird im ersten Abschnitt durch ihr Durchflossensein von „Silberadern“, die als Lichtstrahlen des Morgensterns gedeutet werden können, zum Ausdruck gebracht. Dass diese Lichtstrahlen als Adern bezeichnet werden, verdeutlicht zum einen das Belebtsein der Konsole, verweist aber auch auf den Motivbereich des Lebens, der neben Begriffen aus dem christlichen Sprachgebrauch das gesamte Gedicht prägt. Der Vergleich „wie aus unerschöpflicher Phiole“ verweist hier auf die Maßlosigkeit und Üppigkeit der Erscheinung und deutet bereits voraus auf die in „Venus Consolatrix“ verwendete Wasser- bzw. Meeresmetaphorik, die wiederum im Einklang steht mit dem zeitgenössischen Lebenspathos der Jahrhundertwende.166 Im folgenden Abschnitt des Gedichts (V. 7–10) wird die epiphanieartige Erscheinung der weiblichen Gestalt beschrieben („und eine Frau erhob sich aus dem Glanz“, V. 8). In den Versen 9 und 10 wird das Äußere dieser Frau näher charakterisiert. So erfährt der Leser, dass sie in ihrem schwarzen Haar einen Kranz „von gelben Rosen zwischen grünen Reben“ 167 (V. 10) trägt. Durch das Enjambement in diesen Zeilen und durch die Alliteration im letzten Vers des zweiten Abschnitts („gelben Rosen“, „grünen Reben“) wird die Beschaffenheit dieses Kranzes stilistisch besonders hervorgehoben. Das Motiv des blühenden Kranzes findet sich auch in einem weiteren Gedicht aus Weib und Welt, nämlich in „Mit heiligem Geist“, wo ihn der auferstandene Jesus in Händen hält. [...]/in seinen Fingern, voll Sonnenglanz,/hing ein blutiger Dornenkranz./Der begann sich mit grünen Spieren/und raschen Blüten zu verzieren;/und umringt von den seligen Leuten,/die sich an dem Wunder freuten,/suchte mir Er die Blumen aus/zu einem leuchtenden Osterstrauß.168

Eine solche Ostermotivik lässt sich auch für „Venus Consolatrix“ nachweisen, nämlich in dem als Auferstehung konzipierten Orgasmus des Sprecher-Ichs am Ende des Gedichts. Die ‚Venus‘, die die ‚Stigmata‘ der Mutterschaft trägt, erscheint dabei als lebensbejahendes Äquivalent Jesu, so dass ihr Kopfschmuck mit Verweis auf die Parallelstelle in Mit heiligem Geist als blühender Dornenkranz gedeutet werden kann.

166

Laut Rasch dient das Meeresmotiv in der Literatur der Jahrhundertwende, das sich auch in Schriften der zeitgenössischen Lebensphilosophie nachweisen lässt, als Symbol des um 1900 emphatisch beschworenen Lebens (vgl. Wolfdietrich Rasch: „Aspekte der deutschen Literatur um 1900“, S. 25f.). Zur Funktion des Meeresmotivs in der literarischen Lebensreform siehe unten, S. 230f. 167 Das Motiv des aus Rosenblüten gebundenen Kranzes findet sich auch in dem Kapitel „Vom höheren Menschen“ in Nietzsches Also sprach Zarathustra: „Diese Krone des Lachenden, diese Rosenkranz-Krone: ich selber setzte mir diese Krone auf, ich selber sprach heilig mein Gelächter.“ (Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra, S. 362) (Hervorhebung A.G.-T.). Zu beachten ist hier auch die inhaltliche Parallele der ‚Selbst-Inthronisierung‘ Zarathustras zu der in „Venus Consolatrix“ thematisierten Möglichkeit des Menschen, sich im Medium des Erotischen selbst zu erlösen (vgl. V. 40). Die Rosenblüten verweisen im Kontext des Gedichts auch auf Venus als Göttin der Liebe, die u.a. „das Aufblühen der Natur im Frühling“ symbolisiert (Eric M. Moormann/Wilfried Uitterhoeve: Lexikon der antiken Gestalten, S. 82). 168 Richard Dehmel: Weib und Welt, S. 110.

114

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

Im dritten Abschnitt von „Venus Consolatrix“ wird die Frauengestalt als einerseits vertraut, andererseits als exotisch und fremd charakterisiert. Diese Dichotomie wird mit der Kontrastierung der Farben Weiß und Rot in den syntaktisch parallel konstruierten Versen 12 und 14 („so sanft wie meine Heimatflur im Schnee“, „so blutrot wie die Blüte Aloë“) verknüpft. Die Frau trägt ein schneeweißes „Morgenkleid“, welches das artikulierte Ich an seine „Heimatflur“ erinnert. Die Rüsche dieses Kleides ist allerdings „blutrot“ und wird mit der „Blüte Aloë“, also einer exotischen Pflanze,169 assoziiert. Die Kontrastierung der beiden Farben170 dient der Gegenüberstellung von Reinheit und Unschuld, die durch das weiße Kleid symbolisiert werden, und der erotischen Liebe, der im Gedicht die Farbe Rot entspricht, wobei die Charakterisierung der Rüsche des Kleides als „blutrot“ bereits auf den Monolog der weiblichen Figur im sechsten Abschnitt verweist, in dem ihr Blut mit ihrer erotischen Macht assoziiert wird („oh sieh, es ist desselben Fleisches Blut,/für das der große Heiland sich erregte“, V. 35, 36). Die Inkorporation der gegensätzlichen Konzepte von Bekanntem und Fremdem sowie weiblicher Unschuld und Erotik in der Frauenfigur, die Dehmel mit der Beschreibung des Kleids der ‚Venus‘ verdeutlicht, weist voraus auf die Überblendung der beiden biblischen Frauengestalten der Muttergottes und Maria Magdalenas in der Titelfigur von „Venus Consolatrix“ im sechsten Abschnitt des Gedichts.171 Im Reimpaarschluss des dritten Abschnitts findet sich ein weiterer Hinweis auf die Exotik der dargestellten Frauenfigur, in deren braunen Augen das artikulierte Ich eine „Sehnsucht nach dem Südmeer“ zu sehen vermeint. Die Enallage „und ihre Augen träumten braun ins Tiefe“ dient der zusätzlichen Mystifikation der epiphanieartig erscheinenden ‚Venus‘. Stilistisch sind die beiden Zeilen besonders durch die Assonanz („Augen“ – „braun“) in V. 15 und die Alliteration in V. 16 („Sehnsucht“ – „Südmeer“) betont. Diese Akzentuierung dient hier der Hervorhebung des thematischen Übergangs von der Beschreibung der Kleidung hin zum Gesicht der weiblichen Gestalt bzw. zu ihren Augen. Die zur Charakterisierung der Frauengestalt verwendeten Bildbereiche der Sehnsucht, der Tiefe und des Meeres finden sich am Ende von „Venus Consolatrix“ wieder („Und eine Sehnsucht: du mußt untergehn,/ließ mich umarmt durch tiefe Meere schweben,/mich selig tiefer, immer tiefer streben“, V. 50–52). Hier werden diese Elemente allerdings nicht mehr zur Beschreibung der Frauengestalt gebraucht, sondern dienen der Beschreibung des Liebesaktes aus der Perspektive des artikulierten Ichs. Im vierten Abschnitt des Gedichts wendet sich die Frauengestalt mit ausgebreiteten Armen dem artikulierten Ich zu, wobei diesem besonders der Pulsschlag der weiblichen 169

Vgl. Friedrich Weigand: Deutsches Wörterbuch, Sp. 44: „Aloe, [...] Name mehrerer ausländischer Pflanzen [...]“. 170 Zur Funktionalsierung des Kontrasts von Weiß und Rot zur Charakterisierung von ‚unschuldiger‘ und ‚sündiger‘ Frau vgl. die Ausführungen zu Hollaenders Roman (siehe unten, S. 189). 171 Vgl. hierzu auch die Einschätzung Spiekermanns, dass die „Antithese von Sünde und Reinheit, Venus und Madonna, [...] zu Dehmels literarischem Frauenbild gehört“ (Björn Spiekermann: Literarische Lebensreform um 1900, S. 220).

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

115

Figur auffällt („ich sah erstaunt an ihren Handgelenken/die starken Pulse springen und sich senken“, V. 18 und 19). Die Besonderheit dieses Details wird formal noch durch das in den zitierten Versen zu findende Enjambement sowie durch die Alliteration in V. 19 hervorgehoben. Im darauffolgenden Vers wird das artikulierte Ich von der Frauengestalt angesprochen („Da nickte sie und sagte zu mir: Du –“, V. 20). Der Gedankenstrich am Ende dieser Zeile markiert den Übergang zur Ansprache des Sprecher-Ichs in den folgenden Versen. Diese Apostrophe enthält zwei intertextuelle Verweise auf das Neue Testament. So nutzt Dehmel in V. 21 die Formulierung „mühselig und beladen“ aus den berühmten Jesus-Worten in Mt 11,28 („Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken“),172 während sich in V. 22 („wer viel geliebt, dem wird auch viel verziehen“) ein impliziter Verweis auf die Charakterisierung der namenlosen Sünderin im Lukas-Evangelium, und damit auf den traditionellen Magdalenenstoff, findet. Durch die erotische Umdeutung der Jesusworte, die in beiden Fällen direkt aus dem Neuen Testament zitiert werden und mit ihrem blasphemischen Impetus der Unterminierung der „ideologischen Voraussetzungen“ des Christentums dienen, weist Dehmels Gedicht, gemessen an Pfisters Kriterium der Referentialität und der Dialogizität, einen besonders hohen Grad an Intertextualität auf. Wie diese beiden Verse, so wirkt auch die Aufforderung an das artikulierte Ich, „das große Leben nicht zu fliehen“, beruhigend und tröstend. Hier lässt sich ein Bezug zum Titel des Gedichtes herstellen, der eine Kontraktion aus spezifizierenden Bezeichnungen der Göttin Venus (z.B. Venus vulgaris, Venus Coelestis) und einer der NothelferinAnrufungen der Mutter Jesu darstellt. Maria wird von Betenden u.a. als consolatrix afflictorum, also als Trösterin der Betrübten, angerufen.173 Auf die Rolle der dargestellten Frauenfigur als Trösterin geht Dehmel in einem offenem Brief an das Berliner Amtsgericht von 1897 ein, in dem es heißt, „Venus Consolatrix“ stelle „sinnbildlich die Trostgefühle dar, durch die das Weib dem Mann mit Leib und Seele als willige Wollustbringerin, Genossin wie Fortpflanzerin, den Schmerz des Lebens wie das Grauen des Todes zu überwinden hilft“.174 Die „dem Weib“175 zugeschriebene Rolle als tröstende „willige Wollustbringerin“ in „Venus 172

LB, Mt 11,28, S. 16. Da Dehmel hier nur die Wendung „mühselig und beladen“ zitiert, ist davon auszugehen, dass das für die in „Venus Consolatrix“ entworfene Erlösungskonzeption wichtige Moment der Erquickung aus dem zeitgenössischen Wissen ergänzt werden konnte. Dieser ‚Labung‘ entspricht in „Venus Consolatrix“ das Erlebnis sexueller Lust. 173 In Bezug auf den Titel des Gedichts ist auch auf die Figura etymologica hinzuweisen, die Dehmel in seinem Gedicht gestaltet. So steigt die Venus consolatrix aus der „im Winkel“ stehenden „Console“ auf. Beide Wörter gehen auf das lateinische „consolari“ (trösten, erträglich machen) zurück (vgl. Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearb. von Elmar Seebold. 24., durchges. und erw. Aufl. Berlin [u.a.] 2002, S. 522). 174 Richard Dehmel: Dichtungen, Briefe, Dokumente, S. 127. 175 Nike Wagner geht auf die unterschiedlichen Konnotationen der Begriffe „Frau“ und „Weib“ in der Zeit um 1900 ein und weist darauf hin, dass letzterer den „gattungsmäßigen, geschlechts-

116

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

Consolatrix“ erklärt, weshalb der ‚Trost‘, den die Titelfigur spendet, durch die sexuelle Vereinigung mit ihr erlangt werden kann. So ist auch der den Monolog der ‚Venus‘ abschließende Aufruf zur Frömmigkeit zu werten als Aufforderung, sich von ihr verführen zu lassen. Diese Apostrophe wird stilistisch durch den Binnenreim in der letzten Zeile dieses Abschnitts hervorgehoben („Du brauchst das große Leben nicht zu fliehen,/durch das dein kleines lebt./O komm, sei fromm!“; V. 23–24). In der darauf folgenden Beschreibung der entblößten Brüste der Frauenfigur nimmt Dehmel zwei der Farbwerte wieder auf, die er bereits im dritten Abschnitt von „Venus Consolatrix“ zur Charakterisierung der Frauengestalt nutzt. So stehen die „braunen Warzen“ in Zusammenhang mit den Augen der ‚Venus‘, die „braun ins Tiefe träumen (V. 15), während die „bleichen Brüste“ (V. 30) mit dem „weißen Sammet“ (V. 11) des Morgenkleides in Bezug zu setzen sind. Der sechste Abschnitt des Gedichtes umfasst die längste Monolog-Passage der weiblichen Figur, in der diese sich selbst charakterisiert. Die direkte Rede wird hierbei in V. 31 durch den mit der nebenordnenden Konjunktion „dann“ beginnenden Teilsatz („dann sprach sie weiter: [...]“) eingeleitet. Diese Ankündigung der Figurenrede steht in Kontrast zu dem im vorhergehenden Abschnitt geschilderten wortlosen Öffnen des Kleides („Und schweigend lüpfte sie die rote Rüsche“, V. 25). Die Markierung des Wechsels von stillem Entkleiden zur Anrede des artikulierten Ichs durch die weibliche Figur findet sich in „Venus Consolatrix“ nochmals in V. 41 („Und lächelnd ließ sie alle Kleider fallen“), die syntaktisch parallel zu V. 25 („Und schweigend lüpfte sie die rote Rüsche“) konstruiert ist, und V. 47 („Da sprach sie wieder und trat her zu mir“).176 In ihrem Monolog stellt die weibliche Figur sich mit Verweis auf ihre entblößten Brüste („[...]: Sieh! dies Fleisch und Blut“, V. 31) als Mischgestalt aus Maria, der Mutter Jesu, und Maria von Magdala dar. Ihre Rolle als Muttergottes verdeutlicht Dehmel in „Venus Consolatrix“ durch den Verweis auf das Stillen ihres Kindes durch „die Nazarenerin“ (V. 34), das in den V. 31 und 32 umschrieben wird: „[...]: Sieh! dies Fleisch und Blut,/ das einst den kleinen Heiland selig machte“). Die formelhafte Wendung „Fleisch und Blut“, die Dehmel hier verwendet, evoziert im Kontext des vorliegenden Gedichts Vorstellungen vom Leib Christi.177 Diese Wendung wird im Kontext der Selbstcharakterisierung der weiblichen Figur in ihrer Rolle als Maria von Magdala bezeichnenderweise umformuliert („o sieh, es ist desselben Fleisches Blut,/für das der große Heiland sich erregte“, V. 34–36) und so mit der Betonung der Leiblichkeit der Verführerin auf Leib und Blut Jesu bzw. auf deren Transsubstantiation im Kontext der Abendmahlsfeier angespielt. Hier wendet sich Dehmel, ähnlich wie Hartleben in „Der gebundenen, naturhaft-mythischen Aspekt der Frau“ betone (Nike Wagner: Geist und Geschlecht. Karl Kraus und die Erotik der Wiener Moderne. Frankfurt/M. 1982, S. 132). 176 Die Einleitung der Figurenrede der ‚Venus‘ wird im vorliegenden Gedicht auch durch die Setzung eines Doppelpunktes vor den Passagen in direkter Rede verdeutlicht, vgl. V. 20, 31, 47. 177 Vgl. z.B. LB, Joh 6,55, S. 119: „Denn mein Fleisch ist die wahre Speise, und mein Blut ist der wahre Trank.“

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

117

Magdalenenwein“, gegen christliche Leib- bzw. Sexualfeindlichkeit. Die Bedeutungsverschiebung, bei der das Blut der Frauengestalt apostrophiert wird, verweist hier einmal mehr auf den Bildbereich des Lebens (siehe unten, Kap. 7.2). Einen weiteren Bezug zu biblischen Quellen stellt in „Venus Consolatrix“ der implizite, intertextuelle Verweis auf die im Johannesevangelium beschriebene Anwesenheit der Mutter Jesu bei dessen Kreuzigung in V. 33 dar („bevor ich an sein großes Kreuz ihn brachte“). Parallel hierzu findet sich auch in der Charakterisierung der weiblichen Hauptfigur von „Venus Consolatrix“ als Maria von Magdala eine Anspielung auf deren Anwesenheit bei der Grablegung Jesu, wie sie in Mt 27,57–61 beschrieben wird („bevor ich in sein kleines Grab ihn legte“, V. 37).178 Die Zusammenziehung der beiden Marien, die Dehmel in „Venus Consolatrix“ vornimmt, wird stilistisch durch den Parallelismus in V. 34 und 38 besonders hervorgehoben. So variieren diese Zeilen lediglich in der jeweiligen Apposition, die die geographische Herkunft der Frauen konkretisiert („die Nazarenerin“; „die Magdalenerin“). Die Kontraktion der beiden weiblichen Figuren, die Dehmel in „Venus Consolatrix“ vornimmt, ist im Hinblick auf die traditionelle Verarbeitung des Magdalenenstoffs besonders ungewöhnlich. So weist etwa Haskins darauf hin, dass seit dem Mittelalter die sexuelle Aktivität Maria Magdalenas, die v.a. in der ihr zugeschriebenen Vergangenheit als Prostituierte zum Ausdruck kommt, mit der Virginität bzw. Asexualität der Muttergottes kontrastiert wird.179 Tradition hat hingegen die Zusammenziehung von Venus und Muttergottes, wie sie Dehmel in seinem Text vornimmt.180 Maria und Magdalena in Dehmels Lyrik Dehmel spielt in seinem lyrischen Werk wiederholt mit der partiellen Namensgleichheit der großen Sünderin und der Mutter Jesu. Ein Beispiel hierfür liefern die jeweils letzten Verse der beiden Strophen eines Gedichts mit dem vielsagenden Titel Jesus bettelt, in dem eine Maria Magdalena-Figur, die als „öffentliches Freudenmädchen“181 konzipiert ist, von Jesus erotisch angerufen wird („jeden Abend will ich ahnen,/wem du dich im

178

In „Venus Consolatrix“ werden die Schilderungen des Verhältnisses der beiden Marien zu Jesus durch die chiastische Struktur („kleinen Heiland“, „großes Kreuz“ – „große Heiland“, „kleines Grab“) eng miteinander verbunden. 179 Vgl. Susan Haskins: Mary Magdalen, S. 141. 180 Vgl. hierzu Barbara Becker-Cantarinos Hinweis in ihrem Aufsatz zu Eichendorffs „Marmorbild“, „daß in der bis zu den Kirchenvätern zurückreichenden religionsgeschichtlichen Überlieferung und in der ikonographischen Tradition des Mittelalters die Bilderwelt der antiken Liebesgöttin Venus und der christlichen Himmelskönigin sich durch einen komplizierten Platz- und Attributentausch wechselseitig beerbt haben“ (Barbara Becker-Cantarino: „‚Der schöne Leib wird Stein‘. Zur Funktion der poetischen Bilder als Geschlechterdiskurs in Eichendorffs ‚Marmorbild‘“, in: Das Sprach-Bild als textuelle Interaktion. Hrsg. v. Gerd Labroisse und Dick van Stekelenburg. Amsterdam 1999, S. 123–134, hier S. 128). 181 Richard Dehmel: Dichtungen, Briefe, Dokumente, S. 126.

118

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900 182

Bade rüstest –/o Maria!“; „willst du nicht auf meinen Scheitel/auch dein Herz, dein Herz noch legen/Magdalena?“).183 In Dehmels Künstlergedicht „Das Gesicht“ wird in der Reflexion des Sprecher-Ichs über seine nach einem Brandunfall entstellte Muse die Jungfrau Maria seines Kinderglaubens der „fühlenden Sünderin“ gegenübergestellt. Er stierte zu Boden./Wenn sie doch gestorben wäre,/ja, gestorben,/nicht blos für Ihn./Dann würd’ er zu ihr beten können,/sein ganzes Leben lang,/ruhig,/traurig,/wie als Kind zur Jungfrau Maria./Nein, Maria Magdalena/hatte er immer gemeint,/[...]/Magdalena,/die fühlende Sünderin.184

Wie in „Venus Consolatrix“ werden auch in Dehmels Gedicht „Gethsemane“, das in Weib und Welt seinem Skandalgedicht vorangestellt ist, Maria und Magdalena zur Personifikation der mütterlichen und der erotischen Liebe der Frau stilisiert. Hier heißt es mit intermedialem Verweis auf die Darstellung Marias als Mater Dolorosa und auf die den Tod Jesu beweinende Maria Magdalena: „Schwerter stieß ich in die weichsten Herzen:/Allen wollt’ich liebend glühn,/aber meiner Mutter mach’ich Schmerzen/und mit sehnsuchtwundem Herzen/weint um mich die Magdalenerin.“185 In Dehmels „Venus Religio“ finden wir, wie bereits erwähnt, eine stark erotisierende Verarbeitung des Magdalenenstoffs mit einem intertextuellen Verweis auf Marias von Magdala Rolle als Auferstehungszeugin („Und sehnen deine Brüste sich/dem Auferstehungsmorgen zu,/wie’s Magdalenen innerlich/nicht ließ in Ruh,/bis sie zum offnen Grabe schlich?“),186 während die Mutter Jesu in Dehmels Gedicht „Mit heiligem Geist“, welches der Autor wie „Venus Consolatrix“ und „Jesus bettelt“ in seinem offenen Brief gegen den Vorwurf der Gotteslästerung und Unsittlichkeit verteidigt, als Beispiel für den durch ‚wahre‘ Liebe gerechtfertigten Ehebruch dient.187 In „Mit heiligem Geist“ finden wir auch die Überblendung von religiöser und erotischer weiblicher Sehnsucht, die ein typisches Beispiel für die zeitgenössische, nicht nur von Dehmel vorgenommene „Heiligung des Sexus“188 ist. Bezeichnend ist hier die Stilisierung des „rechten Vater[s] für ihr Kind“ zum Heiland.

182

In Benzmanns Gedicht „Der Streit um die Seele“ aus seiner Evangelienharmonie wird in ähnlicher Weise auf die Selbstbefriedigung Jesu und seine sexuellen Phantasien bezüglich Maria Magdalena angespielt. So entgegnet Satan einem Engel, der von der Reinheit und Keuschheit Jesu überzeugt ist: „Du irrst, ich sah den Heiligen allzu oft/allein mit sich: das war ein wildes Sehnen!/Und eines Tages kam ich unverhofft –/ich schweig: er dachte heiß an Magdalenen . . .“ (Hans Benzmann: Eine Evangelienharmonie, S. 27). 183 Richard Dehmel: Weib und Welt, S. 5 (Hervorhebung A.G.-T.). 184 Richard Dehmel: Aber die Liebe. Ein Ehemanns- und Menschenbuch. Nachdruck der Ausg. von 1893. Eschborn 1993, S. 61. 185 Richard Dehmel: Weib und Welt, S. 116 (Hervorhebung im Original). 186 Richard Dehmel: Die Verwandlungen der Venus, S. 58. Siehe oben, S. 14. 187 Vgl. hierzu die Verklärung des Ehebruchs zur „sittlichen Tat“ durch die Priester-Figur in Hollaenders Roman Magdalene Dornis. 188 Wolfgang Riedel: „Homo natura“, S. 264.

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

119

Und bis einst jedes Weib gewinnt/den rechten Vater für ihr Kind,/soll jede Irrende die Treue/dem falschen brechen ohne Reue,/soll ihre Sehnsucht nicht verfluchen,/ihren Qualen den Heiland suchen/und seinen liebenden Gewalten/so Leib wie Seele offen halten./Wenn Das mit heiligem Geist geschehn,/wird sie selig auferstehn,/wie meine [Jesu] Mutter auferstand/mit Mir einst im Gelobten Land.189

Wie bei Benzmann wird auch hier das christliche Konzept des heiligen Geistes auf die körperliche Liebe übertragen, deren Höhepunkt zur Auferstehung stilisiert wird. Diese innerweltliche Erlösungskonzeption erinnert an „Venus Consolatrix“; hier ruft die Frauengestalt das artikulierte Ich dazu auf, sich zu erheben, ihre „Wunden“ zu betrachten und zu lernen, sich zu „erlösen und [zu] gesunden“ („komm, stehe auf, und sieh auch Meine Wunden, und lerne dich erlösen und gesunden!“; V. 38–39). Auffällig ist auf der graphematischen Ebene die Verwendung der Majuskel bei der Schreibung des Personalpronomens. Dehmel verweist hier auf die Großschreibung von nomina sacra und stellt damit einen intertextuellen Verweis auf den religiösen Sprachgebrauch her. Pfisters Intertextualitätsmodell entsprechend ist dies ein Fall von Systemreferenz. Im Kontext des vorliegenden Gedichts ist es somit zulässig, die Wunden der Frauengestalt mit den Stigmata Jesu zu vergleichen. Die ‚Venus Consolatrix‘ in Dehmels Text erscheint somit, wie Benzmanns Maria Magdalena-Figuren, als sexuelle Erlöserin. Im Folgenden soll das von Dehmel in seinem Gedicht entworfene Erlösungserlebnis mit Bezug auf seine weltanschaulichen Erlösungsvorstellungen kurz skizziert werden. Dehmels Erlösungsmodell Der in V. 40 artikulierte Aufruf der Frauengestalt, zu lernen, wie man sich selbst „erlösen und gesunden“ könne, erinnert an die zeittypische Forderung nach Selbsterlösung, die sich in zahlreichen literarischen und weltanschaulichen Texten der Jahrhundertwende nachweisen lässt.190 Dehmel selbst entwickelt laut Spiekermann ein „evolutionistisches Erlösungsmodell“,191 das durch den Übergang von der „Erkenntnis 189

Richard Dehmel: Weib und Welt, S. 111 (Hervorhebung A.G.-T.). Zu dem von Nietzsche inspirierten Konzept der „Selbsterlösung des Menschen ohne die Hilfe Gottes“ (Philip Ajouri: Literatur um 1900, S. 77) in der Literatur der Jahrhundertwende vgl. exemplarisch Thomas Nipperdey: Arbeitswelt und Bürgergeist, S. 429, Björn Spiekermann: Literarische Lebensreform um 1900, S. 95f., Ernst Lemke: Hans Benzmann, S. 76 und Klaus Bohnen: „Determinationslösung als Ansatzpunkt moderner Literatur. Ein unveröffentlichter Brief Richard Dehmels und sein ästhetischer Problemzusammenhang“, in: Text und Kontext 5, 2 (1977), S. 89– 105.Vgl. hierzu auch Kap. 7. 191 Der Kunst kommt in Dehmels in den 1890er Jahren entwickeltem Erlösungsmodell eine wichtige Rolle zu. Vgl. hierzu die folgende Einschätzung Spiekermanns: „Die Kunst bzw. Literatur wirkt am ethischen Fortschritt der Menschheit mit. Sie wird zum Organ eines innerweltlichen Erlösungsmodells, das auf zeittypische weltanschauliche Entwürfe zurückgreift. Hier vollzieht sich im Laufe eine knappen Jahrzehntes die Verschiebung vom darwinistischen Evolutionismus zu einem monistisch-lebensphilosophischen Einheitsdenken.“ (Björn Spiekermann: Literarische Lebensreform um 1900, S. 130). Zum zentralen Stellenwert des (lebensmystisch umgedeuteten) Konzepts 190

120

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

des dialektischen Zusammenhangs von ‚Kraft‘ und ‚Ordnung‘ zu ihrer bewußten Lenkung durch den Menschen über ihre psychischen Pendants der ‚Lüste‘ und ‚Pflichten‘“192 geprägt sei. Im Rahmen dieses Modells bemühe sich Dehmel, „die beiden Grundforderungen der darwinistischen Ethik – Entwicklung und Triebakzeptanz – miteinander zu verbinden, indem er den Trieb [...] zum Motor der – auch kulturellen – Höherentwicklung machte“.193 Die geforderte Harmonisierung von Trieb und Geist kommt in nuce in folgendem Gedicht zum Ausdruck, das, integriert in ein „Sinnbild“, dem Gedichtband Weib und Welt vorangestellt ist: „Erst wenn der Geist von jedem Zweck genesen/und nichts mehr wissen will als seine Triebe,/dann offenbart sich ihm das weise Wesen/verliebter Thorheit und der großen Liebe.“194 Um den Stellenwert der geforderten Triebakzeptanz für Dehmels lyrisches Werk nachvollziehen zu können, sind zwei Elemente seiner Weltanschauung zu beachten: Zum Einen die Argumentationsfigur, dass der Sexualtrieb erst mit dem Ausgelebtwerden erlösche, welche sich bei Dehmel wiederholt findet,195 zum Anderen sein Bemühen, durch die literarische Darstellung des inneren Konflikts zwischen Triebhaftigkeit und Vernunft die „Bewußtheit seiner Leser für das Wirken der inneren Triebkräfte zu schärfen“.196 Dahinter steht Dehmels Überzeugung, dass das Wissen um die eigene Triebhaftigkeit notwendig sei, um diese beherrschen zu können. Diese Überzeugung kommt u.a. in einer poetologischen Äußerung Dehmels zu Weib und Welt in seinem offenen Brief zum Ausdruck, wobei mit dem „sittenpredigende[n] Denunzianten“ auf Börries von Münchhausen angespielt wird.197 Es kann freilich nicht Aufgabe des Künstlers sein, die verführerischen Reize, die naturgemäß in jeder Leidenschaft liegen, zu bemänteln und zu verhehlen; aber ich meine, daß jeder, der dem menschlichen Geist die Augen über seine tierischen Triebe öffnen hilft, der wahren Sittlichkeit besser dient als mancher sittenpredigende Denunziant.198

der Erlösung in Dehmels Werk vgl. auch den Titel seines ersten Gedichtbands Erlösungen. Eine Seelenwandlung in Gedichten und Sprüchen (1891). Laut Erich Ruprecht veranschaulichen Dehmels Erlösungen dessen „Nietzsche-Erlebnis unmittelbar: Befreiung der Individualität, Feier des ‚Lebens‘ und Glanz der Sprache erscheinen hier auf die Ebene der ekstatischen Verkündigung rauschhaft sinnlichen Lebens transponiert.“ (Erich Ruprecht: „Einführung“, in: Literarische Manifeste der Jahrhundertwende 1890–1910. Hrsg. v. Erich Ruprecht und Dieter Bänsch. Stuttgart 1970, S. XVII–XLII, hier S. XXI.) 192 Björn Spiekermann: Literarische Lebensreform um 1900, S. 200. 193 Ebd., S. 201. 194 Richard Dehmel: Weib und Welt, S. 5. 195 Vgl. Björn Spiekermann: Literarische Lebensreform um 1900, S. 77. 196 Ebd., S. 133. 197 Vgl. hierzu Lars Kaschke: „Aus dem Alltag des wilhelminischen Kulturbetriebs“, S. 41. 198 Richard Dehmel: Dichtungen, Briefe, Dokumente, S. 126 (Hervorhebung A.G.-T.).

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

121

Die Relevanz der menschlichen Triebnatur für Dehmels Werk betont auch Benzmann, der Dehmels Lyrik als den Höhepunkt „moderne[r] Weltanschauungspoesie“199 bezeichnet. In seinem Überblick zur „Entwicklung der modernen deutschen Lyrik“, die er seiner Anthologie Moderne deutsche Lyrik voranstellt, geht er auf das Durchleben der Triebhaftigkeit als Voraussetzung zur ethischen Höherentwicklung ein. Neben der Betonung individueller Selbsterkenntnis,200 die einen Hinweis auf die in der Literatur um 1900 verbreitete Forderung nach einer modernen „Persönlichkeitskunst, Ideen-, Weltanschauungskunst, ind ivid uelle[ r] Stilkunst“201 liefert, finden sich auch der um 1900 allgegenwärtige Einfluss Nietzsches und die Vorstellung einer „freiere[n]“ Ethik. Zitiert sei hier eine längere Passage, die aufgrund der Glorifizierung des Trieblebens, der Bezugnahme auf Nietzsche und der erwähnten synkretistischen „Vereinigung christlicher und hellenischer, metaphysischer und naturphilosophischer Ideen“ zur Charakterisierung aller Korpustexte der vorliegenden Arbeit herangezogen werden kann. Dehmel ist ein Dichter, dem universales und individuelles Fühlen in gleichem Maße eigen sind, er ist eine dichterische Persönlichkeit mit wirklich eigenem kosmischen und ethischen Empfinden, das sich auch in einem durchaus individuellen und charakteristischen Stile äußert. Er wollte vor allem sich selbst ganz erkennen lernen, sich ausleben im Sinne Nietzsches. So stieg er hinab zu den tiefsten Wurzeln des Trieblebens und bekannte mit ehrlichster Offenheit alles das, was er in den unheimlichen trüben Tiefen erlebte. Ebenso wie das tiefste Erkennen entspringt aber auch wahrhaft schöpferische Phantasie, d.h. originelle Kunst (origineller Stil), dem innersten geheimnisvollen Wesen der Sinne und der Seele (ich sagte vorhin in diesem Sinne: Kunst ist Triebleben!). Dies wird ganz besonders an Dehmels Kunst offenbar: sie wirkt sowohl in ihrem Ausdruck wie Triebleben und deshalb so suggestiv, als auch offenbart sie inhaltlich die Phasen eines besonderen seelischen Trieblebens. Aus so tiefem Durchfühlen und Erkennen alles Menschlichen wächst ein höheres Bewußtsein und Selbstbewußtsein, eine freiere Ethik empor, die nach einer Vereinigung christlicher und hellenischer, metaphysischer und naturphilosophischer Ideen strebt: die Individualität wird zur Menschheitsseele, zum „Kulturgewissen“, wie es Dehmel ausdrückt.202

Benzmann nimmt hier Bezug auf die in Dehmels Werk dominante Thematisierung des Erotischen. Laut Spiekermann ist „der moraldidaktische Hintersinn einer solchen Stoffwahl vielen Zeitgenossen verborgen geblieben“, was aus der Inkriminierung einiger seiner Texte hervorgehe.203 In einem Brief an seinen Mentor Georg Ebers expliziert

199

Hans Benzmann: „Die Entwicklung der modernen deutschen Lyrik“, in: Moderne deutsche Lyrik. Mit einer literargeschichtlichen Einleitung und biographischen Notizen hrsg. v. Hans Benzmann. Leipzig 1904, S. 15–76, hier S. 35. 200 Zum Aspekt des „Selbstgefühls“ im Rahmen von Dehmels Selbsterlösungskonzeption vgl. Klaus Bohnen: „Determinationslösung als Ansatzpunkt moderner Literatur“, S. 96. 201 Hans Benzmann: „Die Entwicklung der modernen deutschen Lyrik“, S. 18 (Sperrung im Original). 202 Ebd., S. 39. 203 Björn Spiekermann: Literarische Lebensreform um 1900, S. 134f.

122

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

Dehmel sein Selbsterlösungskonzept, das hier mit der monistischen Konzeption einer Teilhabe des Individuums an der All-Einheit204 gleichgesetzt wird. Zum Tröster zwar fühle ich mich nicht berufen – [...]. Das widerspricht meiner ganzen Glücksauffassung, die darin gipfelt, daß nur der Einzelne selber – [...] – sich seine seelischen Erlösungen gestalten kann. Aber Andere auf einen höhern Gesichtspunkt erheben – [...] – so daß ihr Trieb zur Selbsterlösung, zur Hingabe ans ewig Allgemeine kräftiger und heftiger wird: ja, Das, Das ist die Sehnsucht meines Lebens, ist der innerste Same aller meiner eigenen Erlösungen, soviele hinter mir liegen und soviele noch kommen werden.205

Dass die „Hingabe ans ewig Allgemeine“ in Dehmels weltanschaulichem Selbsterlösungskonzept im Medium des Sexuellen bzw. durch das Erlebnis des sexuellen Höhepunkts zu erreichen ist, ist in der Rede von den „eigenen Erlösungen, soviele hinter mir liegen und soviele noch kommen werden“ angedeutet. Diese Konzeption lässt sich auf „Venus Consolatrix“ beziehen:206 hier ruft die Frauenfigur das artikulierte Ich zur Selbsterlösung auf, die in einer gänzlich unchristlichen Auferstehung des Fleisches mündet. Insofern ist Spiekermanns Einschätzung, dass der „Natur- und Gattungswillen [bzw.] dessen Erfüllung in der Realisierung des ‚ganzen Menschen‘ für Dehmel an die Stelle des christlichen Erlösungsbegriffs getreten ist“, zuzustimmen.207 Im Gegensatz zur christlichen Konzeption der Erlösung wird diese in der sechsten Strophe von „Venus Consolatrix“ als im Diesseits erreichbare und nicht von einem Gott abhängige, sondern vom Menschen durch das Ausleben seiner Triebe selbst zu erlangende Befreiung („und lerne dich erlösen und gesunden!“) konzipiert. Die Verwendung des Verbs „gesunden“ lässt hier Schlüsse auf die Prägung dieses Erlösungskonzeptes durch zeitgenössische lebensmystische Positionen zu (vgl. Kap. 7.2.). 204

Die monistische Prägung von Dehmels All-Einheitskonzeption wird besonders in seinem Vortrag Kunst und Persönlichkeit (1899) deutlich, wenn er das „Unpersönlichkeitsbedürfnis“ expliziert, welches er als anthropologische Konstante annimmt. Dehmel definiert es als ein Bedürfnis, „das uns unwillkürlich hinter der fremden Besonderheit etwas uns allen Teilhaftiges vermuten läßt, jenes Allgemeingefühl, das uns mit jeder Kreatur, mit jedem Tier und Baum und Stein verbindet, das uns an jedem irdischen wie überirdischen Ding nach immer neuen Eigenschaften, d.h. Beziehungen zu uns selber suchen läßt, das eigentlich Schöpferische, Unerschöpfliche, ob wir’s nun Leben oder Natur, Gott oder Weltgeist, Allseele oder Seele der Menschheit, Ur-Ich oder sonstwie nennen mögen – [...]“ (zitiert nach Björn Spiekermann: Literarische Lebensreform um 1900, S. 128). Vgl. hierzu auch Riedels Ausführungen zu Freuds Einschätzung des All-EinheitsGefühls, das Freud das „ozeanische Gefühl“ nennt und „als falschen Trost“ ablehnt (Wolfgang Riedel: „Homo natura“, S. 101–103). 205 Zitiert nach Björn Spiekermann: Literarische Lebensreform um 1900, S. 95f. (Hervorhebung A.G.T.). 206 Trotz Spiekermanns Warnung davor, „einzelne Gedichte Dehmels für absolute, sei es poetologische, sei es weltanschauliche, Standpunkte zu nehmen“ (ebd., S. 149), lässt sich Dehmels Weltanschauungskonzept im Falle von „Venus Consolatrix“ wegen der überdeutlichen inhaltlichen Parallelen auf den lyrischen Text beziehen. 207 Ebd., S. 30f.

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

123

Nackte Kraft Auch im siebten Abschnitt des Gedichts, in dem das vollständige Entkleiden der Frauengestalt und ihre so sichtbar werdenden Schwangerschaftsstreifen beschrieben werden, finden sich zahlreiche Begriffe, die Vorstellungen von körperlicher Gesundheit und Lebensfülle evozieren („dehnte“, V. 42; „nackte[ ] Kraft“, V. 42; „pralle[ ] Bauchhaut“, V. 43, 44; „Mutterschaft“, V. 44). Der Vergleich der Schwangerschaftsstreifen mit „heilige[n] Runen“ dient der Sakralisierung der in „Venus Consolatrix“ dargestellten Frauenfigur in ihrer Mutterrolle.208 Gleichzeitig wird mit der Anspielung auf die germanischen Schriftzeichen die synkretistische Frauenfigur, die als Zusammenziehung aus Maria Magdalena, Muttergottes und der griechischen Göttin der Liebe erscheint, noch durch den Aspekt des Heidnischen angereichert. Die Verwendung des durativen Verbs „verlaufen“ (V. 45), das der Charakterisierung der Schwangerschaftsstreifen dient, lenkt den Blick des Lesers auf die Scham der Frauenfigur („[...] die Narben ihrer Mutterschaft,/in Linien, die verliefen wundersam/bis tief ins schwarze Schleierhaar der Scham“, V. 44–46). Diese vertikale Richtung dominiert die Beschreibung des Äußeren der ‚Venus‘, die sich über die Abschnitte 2–7 erstreckt. Im zweiten und dritten Abschnitt werden zunächst das Haar, die Kleidung und die Augen der Frauengestalt beschrieben. Im vierten und fünften Abschnitt wird der Blick des Lesers auf ihre auffällig springenden Pulse und ihre entblößten Brüste gelenkt, denen in der Selbstcharakterisierung der ‚Venus‘ im sechsten Abschnitt eine zentrale Rolle zukommt. Im siebten Abschnitt endet die Blickbewegung schließlich, nach der Beschreibung des Bauches der ‚Venus‘, durch die Erwähnung des „schwarzen Schleierhaar[s] der Scham“. Der weibliche Schoß wird hier stilistisch durch die Alliteration in V. 46 besonders hervorgehoben. Die Darstellung des nackten Körpers209 der Mischgestalt aus Venus, Jungfrau Maria und Maria Magdalena, die die Abschnitte fünf bis sieben von „Venus Consolatrix“ umfasst, und die Stilisierung dieser Figur zu einer antichristlichen Verführerin und Erlöserin210 erklären, weshalb gerade diese Passage der Zensur zum Opfer gefallen ist. 208

Vgl. hierzu auch Dehmels Bemerkung in seiner Verteidigung von „Venus Consolatrix“ gegen den Vorwurf der Unsittlichkeit, dass es für ihn „nichts Reineres als die von einer Mutter für ihr Kind erlittenen Schmerzen, und nichts Verehrenswerteres als die sichtbaren Zeichen dieser Schmerzen“ gebe (Richard Dehmel: Dichtungen, Briefe, Dokumente, S. 127). 209 In der Urteilsbegründung wird besonders die Darstellung des nackten Unterleibs kritisiert, vgl. hierzu Heinrich Hubert Houben: Verbotene Literatur von der klassischen Zeit bis zur Gegenwart. Ein kritisch-historisches Lexikon über verbotene Bücher, Zeitschriften und Theaterstücke, Schriftsteller und Verleger. Bd. 1. Hildesheim 1965, S. 116. 210 Dehmels Versuch, die in „Venus Consolatrix“ dargestellte Frauen-Figur zu einer Art ‚GegenChristus‘ zu stilisieren, wird auch anhand der engen Verbindung der ‚Venus‘ mit „Stern Lucifer“ deutlich (vgl. etwa V. 28 und 29), da traditionell Jesus mit dem Morgenstern identifiziert wird (vgl. Manfred Lurker: Wörterbuch biblischer Bilder und Symbole. München 1973, S. 212 und LB, Offb 22,16, S. 306: „Ich, Jesus, habe meinen Engel gesandt, euch dies zu bezeugen für die Gemeinden. Ich bin die Wurzel und das Geschlecht Davids, der helle Morgenstern.“). Zur Vermählung der

124

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

Die Auslassung der Verse 25–46 wird in der zensierten Version des Gedichts durch die Setzung von Gedankenstrichen markiert und zusätzlich durch die folgende Erklärung kommentiert: Der Mittelsatz dieser Phantasie, der die sagenhaften Tugenden der Magdalenischen und der Nazarenischen Maria in dem hier dargestellten weiblichen Wesen vereinigt zeigt, ist durch Urteil des Berliner Landgerichtes vom 30. August 1897 für unsittlich erklärt worden und darf daher öffentlich nicht mitgeteilt werden.211

Im achten und letzten Abschnitt des Gedichts wird durch die Frage der sich dem artikulierten Ich nähernden Frauengestalt der Blick vom Schoß der ‚Venus‘ zurück auf deren Augen gerichtet („willst du mir nicht auch in die Augen sehn?“, V. 50). In der Synekdoche „und meine Blicke badeten in ihr“ nimmt Dehmel die Meeresmotivik wieder auf, die er bereits im dritten Abschnitt zur Charakterisierung der Blicke der ‚Venus‘ verwendet. Diese erscheint hier in der Rolle der Venus Anadyomene. Das Verb „baden“, das sich in diesem Vers auf die personifizierten Blicke des artikulierten Ichs bezieht, evoziert Vorstellungen von Genuss und Entspannung. Hierdurch wird bereits auf die sexuelle Vereinigung des artikulierten Ichs mit der ‚Venus‘ (V. 50–57) verwiesen. Die Beschreibung dieses Liebesakts setzt in V. 50 mit dem Wunsch des artikulierten Ichs nach dem eigenen Untergehen ein („Und eine Sehnsucht: du mußt untergehn“). Auffällig ist hier die ungewöhnliche Selbstanrede des artikulierten Ichs in direkter Rede, die das Interesse des Lesers von der Beschreibung der ‚Venus‘ hin zur Schilderung des Inneren des artikulierten Ichs lenkt. In Dehmels Gedicht erfährt die männliche Selbstaufgabe im Bereich des Sexuellen eine positive Wertung. Deutlich zum Ausdruck kommt dies im Kontext der Beschreibung des Liebesakts, der aus der männlichen Perspektive als ein durch die Sehnsucht nach dem eigenen Untergehen geleitetes Schweben durch „tiefe Meere“ beschrieben wird.212 Die von Angstlust zeugende paradoxe Formulierung „Und eine Sehnsucht: du mußt untergehn“213 steht Venus mit dem Stern von Bethlehem, die die Synthese von sinnlicher Liebe und christlicher Religiosität versinnbildlicht, vgl. Benzmanns Gedicht (siehe unten, Kap. 6.3.3). 211 Richard Dehmel: Die Verwandlungen der Venus, S. 124. 212 In einem Brief Dehmels an Johannes Schlaf findet sich eine interessante autobiographische Bemerkung, die sich durch die Anspielung auf das sexuelle Motiv des Schaukelns auf das ersehnte Untergehen des Sprecher-Ichs in „Venus Consolatrix“ beziehen lässt. Dehmel geht hier auf das Ende von Schlafs Erzählung Sommertod ein: „[...] Endlich der Schluß. ‚– ein Schrei‘ geht absolut nicht. Man schreit nicht in den letzten Augenblicken des Ertrinkens. [...]. Man kann da blos noch röcheln. Ich bin einmal in der Weichsel ertrunken, d.h., ich bin erst gerettet worden, nachdem ich das Bewußtsein im Wasser verloren hatte. Wie gesagt, zuletzt, infolge des Wasserschluckens, kann man blos noch röcheln. Und es ist tatsächlich ein seliges Röcheln; man hat ein wunderbar banges Gefühl der Auflösung, etwa wie beim Schaukeln.“ (Brief vom 21.1.1895, Stadtarchiv Halle Hauptamt Nr. 1, S 15 SCHL N 61 Nr. 9 (Unterstreichung im Original). 213 Vgl. hierzu auch folgende Zeilen aus den „Venus Consolatrix“ in Die Verwandlungen der Venus angehängten Strophen: „Auf! In solcher Tiefe kann/ruhig nur die Urkraft strudeln./Furchtsam fühl ich reifer Mann/wieder Kindheit in mir sprudeln./Aber diese Furcht ist herrlich kühn,/i s t d i e

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

125

dabei im Gegensatz zu der Angst des Mannes vor Kontrollverlust durch das Ausleben seiner Sexualität, die in der Forschung als ein wichtiges Moment für die Entstehung des literarischen Typus der femme fatale angenommen wird (vgl. hierzu Kap. 7.1). In der Beschreibung der sexuellen Vereinigung in „Venus Consolatrix“ finden sich nur zwei Hinweise auf die verführerische ‚Venus‘, deren Körperlichkeit und Erotik in den ersten sieben Abschnitten des Gedichts stark betont werden. So verweisen lediglich das Attribut „umarmt“ in V. 51 und die Erwähnung ihres Kranzes („und ihren Kranz von Rosen und von Reben/umklammernd, während wir verbeben“ V. 54–55), auf die Anwesenheit der Frauen-Figur, so dass das Erleben der männlichen Figur fokussiert wird. Die zunehmende sexuelle Erregung des artikulierten Ichs wird durch das Abwärtsstreben, das wiederum auf die Sehnsucht nach dem Versinken verweist, versinnbildlicht („mich selig tiefer, immer tiefer streben“; V. 52). Auffällig ist in diesem Vers die Wiederaufnahme des hier attributiv gebrauchten Adjektivs „selig“, das aus dem religiösen Sprachgebrauch entlehnt ist und das sich in „Venus Consolatrix“ bereits im sechsten Abschnitt findet, wo es adverbial gebraucht der Charakterisierung der Emotionen des „kleinen Heiland[s]“ bezüglich der Mutterbrust dient („[...] Sieh! dies Fleisch und Blut,/das einst den kleinen Heiland selig machte“; V. 31–32). Dehmel weist hier voraus auf die Parallelisierung des artikulierten Ichs mit Jesus, die im letzten Abschnitt des Gedichts in dem Ausruf „o auf – auf – auferstehn! –“ gipfelt. In V. 53 wird als Ende der vertikalen Abwärtsbewegung der „Grund der Welt“ bestimmt, den das artikulierte Ich zu sehen vermeint („ich glaube auf den Grund der Welt zu sehn“). Diese Formulierung erinnert an den zentralen Stellenwert der Erotik als „Ursprung und Urbild des Lebens“214 in lebensphilosophischen Konzeptionen. Der vom artikulierten Ich als ein Versinken im Meer empfundene Geschlechtsakt verweist auf die Bedeutung des Meeres als Ursprung allen Lebens und als Sinnbild der All-Einheit in der Literatur um 1900. Durch den in diesem Vers vorgenommenen Wechsel vom narrativen zum dramatischen Modus („ich glaube“) wird dem Rezipienten des Gedichts unmittelbare Nähe zu dem in den folgenden Zeilen geschilderten Geschehen suggeriert. In den letzten vier Versen von „Venus Consolatrix“ stellt Dehmel den gemeinsamen Orgasmus von artikuliertem Ich und der ‚Venus‘ („während wir verbeben“, V. 56) dar. Dieser wird vom artikulierten Ich als ein „nie erlebtes Leben“ empfunden. Durch diese Figura etymologica wird der besondere Status dieses ‚neuen Lebens‘ stilistisch hervorgehoben. Die körperlichen Vorgänge, die den sexuellen Höhepunkt begleiten, beschreibt Dehmel mithilfe der Verben „schütteln“ und „verbeben“, die Vorstellungen von einem eruptiven Prozess evozieren. Das Überwältigtsein des artikulierten Ichs von seinen Emotionen und der damit einhergehende Kontrollverlust werden durch das Umklammern des „Kranz[es] von Rosen und von E h r f u r c h t v o r d e m Ü b e r m ä c h t i g e n .“ (Richard Dehmel: Die Verwandlungen der Venus, S. 125) (Sperrung im Original). 214 Ferdinand Fellmann: „Die erotische Rechtfertigung der Welt“, S. 35.

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

126 215

Reben“ verdeutlicht. Im letzten Vers des Gedichts wird das Erreichen des sexuellen Höhepunkts auch auf der Ebene der Figurenrede markiert. So findet sich hier der elliptische Ausruf des artikulierten Ichs „[...]: o auf, – auf – auferstehn – !“. Die Verwendung des Verbs „stammeln“, das in der betreffenden Zeile zusätzlich durch Elision markiert wird („stamml’ ich“), verweist bereits auf die mangelnde artikulatorische Potenz des artikulierten Ichs, die im letzten Vers auch graphematisch markiert wird. So ist der elliptisch strukturierte Ausruf zusätzlich durch Gedankenstriche unterbrochen, um so den stockenden Sprachfluss zu verdeutlichen. Auf der phonetischen Ebene wird darüber hinaus ein Stöhnen angedeutet.216 Der Gedankenstrich, der den rhythmisierten Ausruf des artikulierten Ichs abschließt, markiert das Abbrechen der direkten Rede. Die besondere Emotionalität der Figurenrede wird zu deren Beginn durch die Verwendung der Interjektion „o“ sowie den Abschluss der Exclamatio durch das Ausrufezeichen signalisiert. Der genuin christliche Begriff der Auferstehung wird hier in Bezug auf das Erreichen des sexuellen Höhepunkts gebraucht. Der Versuch, in der Liebesvereinigung zur Erlösung zu gelangen, wird in „Venus Consolatrix“ somit als geglückt dargestellt. Die intertextuelle Bezugnahme auf den christlichen Sprachgebrauch dient hier, wie bereits bei Benzmann und Hartleben, der Sakralisierung des Erotischen. Mit seiner Zusammenziehung von Muttergottes und Maria Magdalena liefert Dehmel eine Synthese der um 1900 vorherrschenden Weiblichkeitsstereotype von Heiliger und Hure. Gleichzeitig nimmt er mit seiner ‚Venus‘ und der im Gedicht dominanten Wassermotivik implizit Bezug auf einen berühmten Prätext der Romantik, nämlich Joseph von Eichendorffs Novelle Das Marmorbild (1818), die eine Bearbeitung des mittelalterlichen Tannhäuser-Stoffs darstellt. „Das Marmorbild“ als Prätext für „Venus Consolatrix“ In Eichendorffs Novelle wird die Verführungskraft der im Frühling zum Leben erwachenden Venusstatue, die der Protagonist Florio zum ersten Mal in ihrer Gestalt als Standbild am Weiher sieht,217 durch die Anrufung des christlichen Gottes erfolgreich 215

Dieser Kontrollverlust wird durch das Enjambement in V. 55 und 56, welches das Zusammentreffen des Partizips „umklammernd“ mit dem Verb „verbeben“ in einer Zeile ermöglicht, besonders hervorgehoben. 216 Vgl. hierzu Kempers Einschätzung, dass das Gedichtende „imitatorisch den befriedigenden Höhepunkt gestaltet“ (Hans-Georg Kemper: Komische Lyrik – Lyrische Komik, S. 88). 217 Vgl. hierzu folgende Passage aus Eichendorffs Marmorbild, die deutliche Parallelen zum ersten Abschnitt von „Venus Consolatrix“ aufweist: „Der Mond, der eben über die Wipfel trat, beleuchtete scharf ein marmornes Venusbild, das dort dicht am Ufer auf einem Steine stand, als wäre die Göttin soeben erst aus den Wellen aufgetaucht und betrachte nun, selber verzaubert, das Bild der eigenen Schönheit, das der trunkene Wasserspiegel zwischen den leise aus dem Grunde aufblühenden Sternen widerstrahlte.“ (Joseph von Eichendorff: „Das Marmorbild. Eine Novelle“, in: Ders.: Werke in fünf Bänden. Bd. 2: Ahnung und Gegenwart. Erzählungen. Hrsg. v. Wolfgang Frühwald, Brigitte Schilbach und Hartwig Schulz. Frankfurt/M. 1985, S. 383–428, hier S. 397. Die Bannung einer heidnischen Figur durch das Christentum gestaltet Eichendorff auch in Ahnung und

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

127 218

gebannt („Herr Gott, laß mich nicht verloren gehen in der Welt!“). Das Textende gestaltet die Rückkehr Florios in die christliche Welt, die durch seine Verbindung mit der asexuellen Bianca, die Züge einer Madonna trägt, vollendet ist. Bei Dehmel hingegen wird das Verlorengehen-in-der-Welt bzw. der im sexuellen Erlebnis erfahrene Ich-Verlust positiv bewertet („Und eine Sehnsucht: du mußt untergehn“). Während Florio beim Anblick des auflebenden Marmorbilds ein „nie gefühltes Grausen“219 überkommt, verspürt das artikulierte Ich in Dehmels Gedicht in der sexuellen Vereinigung mit der ‚Venus‘ ein „nie erlebtes Leben“. Geht man davon aus, dass Dehmel in seinem Text nicht nur einen punktuellen intertextuellen Bezug auf Das Marmorbild, sondern darüber hinaus auch einen systemischen Bezug zum Tannhäuserstoff herstellt, kann der Blütenkranz der ‚Venus‘, der als Äquivalent der Dornenkrone Jesu gedeutet werden kann und dionysische Lebens- und Sinnenfreude symbolisiert, auf das sogenannte Stabwunder bezogen werden. Dem der Venus verfallenen Tannhäuser, der als Pilger in Rom um Vergebung für seine Verfehlung bittet, soll erst vergeben werden, wenn der Priesterstab des Papsts zu grünen beginnt.220 Nachdem Tannhäuser daraufhin resigniert in den Venusberg zurückkehrt, beginnt der Stab nach drei Tagen zu grünen, was als „Signum der Entsühnung“221 für den Büßer zu deuten ist. Bezieht man das Stabwunder der Tannhäusersage auf Dehmels Darstellungen des blühenden Dornenkranzes in „Venus Consolatrix“ und dem als Bezugstext heranzuziehenden Mit heiligem Geist, so kann der Kopfschmuck der ‚Venus‘ als Sinnbild dafür gelten, dass jenen, die viel geliebt haben, auch viel verziehen wird. Dies steht im Einklang mit der Deutung des Gedichts als Aufruf zu frei ausgelebter Sexualität als Form der Lebensbejahung und als Mittel der ersehnten Erlösung. Insofern kann Dehmels Gedicht, in dem der männliche Protagonist in der Vereinigung mit der ‚Venus‘ durch „tiefe Meere“ des „nie erlebte[n] Lebens“ schwebt, als Parodie auf Eichendorffs berühmten christlich geprägten Prätext gelten, in dem der Tempel der Venus durch ein christliches Gebet zum Einsturz gebracht wird und die madonnengleiche Bianca über die verführerische antike Göttin triumphiert. Gegenwart (1812). Laut Zänker wird hier „eine antike Bacchantin, die angesichts eines Kreuzes plötzlich wie versteinert erstarrt, wie das Bild einer ‚Magdalena unterm Kreuz‘ beschrieben [...]“ (Jürgen Zänker: Crucifixae, S. 14). 218 Joseph von Eichendorff: „Das Marmorbild“, S. 419. Vgl. in diesem Zusammenhang Fritz’ Einschätzung, dass es zu einem „Wiederaufleben antiker Venusbilder“ in den „Gestaltungen des Eros und der erotischen Beziehungen“ der bildenden Kunst um 1900 komme (Horst Fritz: „Zur Dämonisierung des Erotischen in der Literatur des Fin de Siècle“, in: Fin de Siècle. Zu Literatur und Kunst um die Jahrhundertwende. Hrsg. v. Roger Bauer et al. Frankfurt/M. 1977, S. 442–464, hier S. 442). 219 Joseph von Eichendorff: Das Marmorbild, S. 397. 220 So heißt es etwa in Wagners Tannhäuser und der Sängerkrieg auf der Wartburg: „Wie dieser Stab in meiner Hand/nie mehr sich schmückt mit frischem Grün,/kann aus der Hölle heißem Brand/Erlösung nimmer dir erblühn.“ (Richard Wagner: Rienzi. Fliegende Holländer. Tannhäuser. Lohengrin. Tristan. Meistersinger. Leipzig 1926, S. 57). 221 Elisabeth Frenzel: Stoffe der Weltliteratur, S. 893.

128

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

Fazit Betrachtet man „Venus Consolatrix“ in Hinblick auf Elemente des traditionellen Magdalenenstoffs, so ist zunächst festzuhalten, dass die Hauptfigur des Gedichts keine reine Maria Magdalena-Figur ist, sondern eine Synthese aus Venus, Jungfrau Maria und Maria von Magdala darstellt. In der Charakterisierung dieser Hauptfigur findet sich in V. 35–36 die Maria Magdalena zugeschriebene Rolle als Geliebte Jesu („oh sieh, es ist desselben Fleisches Blut,/für das der große Heiland sich erregte“). Diese Lesart wird bestätigt durch Dehmels offenen Brief, in dem es in Bezug auf die Kontraktion von Muttergottes und Maria Magdalena in „Venus Consolatrix“ heißt: Um diese beiden wesentlichsten Lust- und Liebeskräfte des weiblichen Geschlechtes, die mütterliche und die bräutliche Hingebungsfähigkeit, in ihrer sinnlich reinsten und selbstlosesten Verschwisterung zu zeigen, habe ich die hierfür typischen Frauengestalten der christlichen Überlieferung – die Maria aus Nazareth und die Maria aus Magdala – zu Einer Gestalt verschmolzen.222

Dehmel bezieht sich also in seinem Gedicht explizit auf die traditionelle Darstellung Maria Magdalenas als Braut Jesu bzw. als Typus der „bräutliche[n] Hingebungsfähigkeit“. Mit der Fokussierung des Bluts der synkretistischen Frauenfigur wird deren Körperlichkeit bzw. ihre erotische Anziehungskraft betont, wodurch eine allegorische Lesart der Rolle Maria Magdalenas als sponsa Jesu für „Venus Consolatrix“ ausgeschlossen wird. Auch ein Verweis auf Marias von Magdala Gang zum Grab und ihre Anwesenheit bei der Grablegung Jesu findet sich in Dehmels Gedicht. Hierbei wird allerdings nicht Maria Magdalenas traditionelle Rolle als Erstzeugin und Verkünderin der Auferstehung apostrophiert, sondern ebenfalls auf ihre erotische Macht angespielt (vgl. V. 35–38). Ein weiteres Element der traditionellen Darstellung Maria Magdalenas in der Literatur stellt das biblische Zitat aus der Salbungsszene des Lukas-Evangeliums in V. 22 dar. Im Kontext des vorliegenden Gedichts dient die Formulierung „wer viel geliebt, dem wird auch viel verziehen“ der Idealisierung der körperlichen Liebe, zu der die ‚Venus‘ das artikulierte Ich aufruft. Das Bußmotiv lässt sich in Dehmels Aktualisierung des Magdalenenstoffs in „Venus Consolatrix“ nicht nachweisen. Von der Zusammenziehung der Jungfrau Maria und der großen Sünderin Maria Magdalena, mit der Dehmel die beiden dominanten Weiblichkeitsentwürfe der Jahrhundertwende – die femme fragile und die femme fatale – miteinander vereint, fühlte die zeitgenössische Zensur sich besonders provoziert.223 Aufschlussreich ist hier eine Passage aus der Urteilsbegründung, der die traditionelle Vorstellung von der 222 223

Richard Dehmel: Dichtungen, Briefe, Dokumente, S. 127 (Hervorhebung A.G.-T.). Vgl. hierzu auch die folgende Einschätzung Kempers: „Den Höhepunkt blasphemischer Tabuverletzung hatte sich bereits Richard Dehmel in seinem Gedicht ‚Venus consolatrix‘ 1897 geleistet, in dem er die Mutter Jesu und Maria Magdalena in einer Figur vereinigte; von dieser Figur ließ sich dann das lyrische Ich sexuell verführen.“ (Hans-Georg Kemper: „Georg Trakl und der Expressionismus“, in: Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden. Bd. II, S. 141–169, hier S. 150).

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

129

Asexualität der Jungfrau Maria zugrunde liegt. Dehmel wird hier offensichtlich mit dem Sprecher-Ich aus „Venus Consolatrix“ identifiziert. Mit der Frau, die dem Dichter erschienen ist und sich vor ihm entblößt, ist Maria, die Mutter Christi, und wie der Verfasser angibt, gleichzeitig Maria aus Magdala, die er mit der ersteren zu einer Person verschmolzen hat, gemeint. Der Glaube an Maria, die Mutter Christi, ist eine Lehre der katholischen Kirche und der Marienkultus eine Einrichtung dieser. Danach steht dem Katholiken die Person der Maria, der Mutter Gottes, so hoch, daß eine Darstellung von ihr, wie sie in dem Dehmelschen Gedichte gegeben ist, eine Beschimpfung derselben enthält. Daß diese Maria sich entblößt in der dargestellten Weise und ihre Geschlechtsteile erkennen läßt, enthält den Ausdruck der Verachtung ihrer heiligen, angebeteten Person. Die unzüchtige Beschreibung derselben soll ihre edle Höhe herabsetzen und ihre Verehrung beeinträchtigen.224

Im Kontext der Bezugnahme auf die katholische Kirche wird der Maria MagdalenaAnteil der synkretistischen Venus-Figur nicht thematisiert, die erotische Darstellung dieser Heiligen wurde also offenbar nicht als anstößig bewertet. Erklärbar ist dies durch die Vertrautheit mit dem erotisierten Magdalenenstoff, die seit dem 16. Jahrhundert nachweisbar ist (vgl. Kap. 4 und 5). Dehmel geht in seinem offenen Brief auf den Vorwurf ein, das Entkleiden der Frau in „Venus Consolatrix“ diene lediglich dem Zweck, „vollständige Vorstellungen in dem Leser wachzurufen“,225 und verteidigt seine Darstellung mit Verweis auf das in der literarischen Lebensreform unter dem Einfluss der Darwin- bzw. Haeckel-Rezeption gehegte Ideal der Natürlichkeit.226 Wenn ich dabei [bei der Zusammenziehung von Magdalenerin und Nazarenerin] den nackten Mutterkörper, um eben dem gemeinen Wollustreiz der bloßen Leibesschönheit vorzubeugen, in seiner wahren durch die Wehen der Geburt gestempelten Erscheinung darstellen mußte, so kann wohl nur ein Auge daran Anstoß nehmen, das keine Ehrfurcht hat vor der lebendigen Natur !227

Der blasphemische Charakter, der dem Gedicht zuerkannt wurde, lässt sich nicht nur auf die Darstellung einer unbekleideten Figur, die Anteile Marias trägt, zurückführen, 224

Zitiert nach Heinrich Hubert Houben: Verbotene Literatur von der klassischen Zeit bis zur Gegenwart, S. 116. 225 Ebd. 226 Zum Begriff der Natürlichkeit vgl. Björn Spiekermann: Literarische Lebensreform um 1900, S. 77: „Wichtiger für die Begründung einer neuen ‚wahren‘ Moral war ein dem Christentum äquivalenter weltanschaulicher Untergrund. Das war für die progressiven deutschen Intellektuellen der um 1890 popularisierte Darwinismus. Das Schlagwort, das immer wieder gegen die geltende Tugendlehre ausgespielt wurde, war der Begriff der ‚Natürlichkeit‘. Die einheitliche Welt- und Naturerklärung, wie sie vor allem von Haeckel propagiert wurde, hatte in diesen Kreisen so große Überzeugungskraft gewonnen, daß jede beliebige Forderung durch Nachweis ihrer Natürlichkeit vollständig legitimiert war.“ Vgl. hierzu auch Spiekermanns Hinweis auf den Begriff der dem „monistisch-lebensphilosophische[m] Weltverständnis [...] entsprechenden ‚natürlichen‘ Moral“ (ebd., S. 231). 227 Richard Dehmel: Dichtungen, Briefe, Dokumente, S. 127.

130

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

sondern auch auf Dehmels Stilisierung der weiblichen Mischgestalt zur sexuellen Erlöserin und zum Gegen-Christus. Das blasphemische Potenzial liegt hier in der lebensmystischen Umdeutung von Jesus-Worten und der Gleichsetzung der Schwangerschaftsstreifen mit den Stigmata Jesu. Der Blumenkranz, den die ‚Venus‘ in ihrem schwarzen Haar trägt, fungiert auf ähnliche Weise als ein Äquivalent zur Dornenkrone Jesu, die Leiden und Tod symbolisiert. Das Motiv des Reben-Kranzes spielt in „Venus Consolatrix“ auch auf Dionysos, den Bruder der Aphrodite bzw. Venus, und somit auf heidnische Lebens- und Sinnenfreude, die durch die Frauenfigur verkörpert werden, an (vgl. hierzu Kap. 7). Betrachtet man „Venus Consolatrix“ in Hinblick auf die in der Literatur um 1900 dominanten Weiblichkeitstypen, so fällt die Idealisierung der dargestellten Figur als Verführerin auf, die im Gegensatz zur Dämonisierung weiblicher Sexualität im Falle der femme fatale und zur Asexualität der femme fragile steht. Bei der Gestaltung dieser Rolle nimmt Dehmel, wie auch Hartleben und Benzmann, eine Umdeutung christlicher Begriffe und Inhalte vor, die sexuell aufgeladen werden. So ruft die ‚Venus‘ das artikulierte Ich mehrmals dazu auf, „fromm“ zu sein und in der sexuellen Vereinigung sich selbst zu erlösen. Dehmel wendet sich mit der Darstellung seiner synkretistischen Frauenfigur gegen christliche Sinnenfeindlichkeit, der er sein vom Lebenspathos der Jahrhundertwende geprägtes Erlösungskonzept entgegenstellt. Das antikonfessionelle Moment wird neben der Umdeutung von Bibel-Zitaten zum Zwecke der Verführung und der Zusammenziehung von Jungfrau Maria und Maria von Magdala besonders durch die Stilisierung der in „Venus Consolatrix“ gestalteten Frauenfigur zur sexuellen Erlöserin, die Züge Jesu trägt, deutlich. In starkem Kontrast zur Lebensfeier der ‚Venus‘ in Dehmels Gedicht steht die Klage der trauernden Maria Magdalena-Figur in Rilkes „Pietà“, die den gekreuzigten Leichnam Jesu für ihre nicht vollzogene Liebe anklagt.

6.3.5 Rainer Maria Rilke: „Pietà“ (1907) Auch Rilke, dessen literarische Anfänge wie die Dehmels im Gegensatz zu den übrigen Korpusautoren nicht im Naturalismus228 zu suchen sind, kann aufgrund seines monistischen Weltbilds und der „Bejahung und ‚Rühmung‘ [...] [der] Geschlechtlichkeit“229 in seinem Werk der literarischen Lebensreform zugerechnet werden.230 In 228

Vgl. hierzu Björn Spiekermann: Literarische Lebensreform um 1900, S. 102, 283. Wolfgang Riedel: „Homo natura“, S. 275. Vgl. auch ebd., S. 276f.: „Dieser lyrische Ozeanismus, mit dem der junge Rilke teilhatte am lebensmystischen Kontext der nachnaturalistischen neunziger Jahre, ging bruchlos auf in der Sakralisierung des Sexus im späten Werk.“ 230 Vgl. hierzu nochmals Spiekermanns Definition der literarischen Lebensreform: „Diejenige diskursive Formation, die auf die Modernisierung mit Zustimmung und optimistischen Verkündigungen reagierte und die das monistisch-lebensphilosophische Ganzheitsdenken der zweiten Jahrhunderthälfte zunächst imaginativ, dann auch realiter in lebenspraktische Modelle umzusetzen versuchte.“

229

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

131

seiner 1906 entstandenen und im folgenden Jahr in Neue Gedichte erschienener Elegie „Pietà“231 wird die Beweinung des gekreuzigten Jesus durch Maria Magdalena dargestellt. Das Gedicht umfasst vier Strophen, die mit Ausnahme der ersten, fünf Verse umfassenden Strophe aus vier jambischen Fünfhebern aufgebaut sind. Jede der Strophen weist ein eigenes Reimschema auf. So sind die vier letzten Verse der ersten Strophe durch Kreuzreim miteinander verbunden, während das Korn in V.1 mit dem ersten und dritten Vers der zweiten Strophe reimt. Auch die Verse dieser Strophe sind kreuzgereimt. Die dritte Strophe weist als Reimschema den Paarreim auf, während die Verse der vierten Strophe durch umarmenden Reim miteinander verbunden sind. Das artikulierte Ich fungiert in „Pietà“ als homodiegetischer Erzähler und das Erzählte ist intern fokalisiert. Als Sprecher-Ich des vorliegenden Gedichts kann Maria Magdalena identifiziert werden, obwohl diese in „Pietà“ nicht namentlich genannt wird. So findet sich etwa in der ersten Strophe im Bericht vom Waschen der Füße Jesu („die damals eines Jünglings Füße waren,/da ich sie bang entkleidete und wusch“; V. 2–3) ein intertextueller Verweis auf die Salbungsszene des Lukas-Evangeliums. Darüber hinaus wird durch die Anrede Jesu als „Geliebter“ (V. 11) auf die Rolle der Heiligen als sponsa des Hohelieds angespielt. Die Bestimmung des artikulierten Ichs als Maria Magdalena steht in Kontrast zum Titel des Gedichts, der als die Jesus ansprechende Figur dessen Mutter vermuten ließe,232 lässt aber Rückschlüsse auf die im Gedicht gestaltete Situation zu: Rilkes Maria Magdalena-Figur klagt in „Pietà“ Jesus für die nicht vollzogene Liebe zwischen ihnen an, während sein vom Kreuz abgenommener Leichnam auf ihrem Schoß ruht.233 Auf die Ersetzung Marias durch Magdalena geht Zu Rilkes Kontakten zum Friedrichshagener Dichterkreis bzw. zur Neuen Gemeinschaft vgl. Rolf Kauffeldt/Gertrude Cepl-Kaufmann: Berlin-Friedrichshagen, S. 409. 231 Rainer Maria Rilke: Gedichte 1895 bis 1910, S. 460. 232 Vgl. hierzu die Definition einer Pietà als „eine Darstellung der G[ottes] M[utter], die ihren vom Kreuz abgenommenen Sohn auf dem Schoß hält bzw. umarmt und betrachtet“ (Martin Schawe: „Pietà“, in: Marienlexikon. Bd. 5: Orante–Scherer. Hrsg. v. Remigius Bäumer und Leo Scheffczyk. St. Ottilien 1993, S. 218–222, hier S. 218). Hans Berendt weist auf zwei Werke der bildenden Kunst hin, auf die Rilke mit dem Titel seines Gedichts verweisen könnte: zum Einen die „Predella des Kreuzigungsbildes von Grünewalds Isenheimer Altar“, zum Anderen die „‚Beweinung Christi‘ des von Rilke so geliebten Botticelli“ (Hans Berendt: Rainer Maria Rilkes Neue Gedichte. Versuch einer Deutung. Bonn 1957, S. 93). Vgl. hierzu auch die Ausführungen zu Rodins Christe et la Madeleine als mögliches Vorbild für Rilkes Gedicht (siehe oben, S. 53, Anm. 56). Zu Rilkes intermedialer Bezugnahme auf Werke der bildenden Kunst bei der literarischen Gestaltung des Magdalenenstoffs vgl. auch seine Fragmente zu ‚Die Pieta' von Arnold Böcklin. 233 Diese Lesart steht in Kontrast zu Haskins’ Interpretation des Gedichts, der zufolge Maria Magdalena am Fuße des Kreuzes dargestellt ist (vgl. Susan Haskins: Mary Magdalen, S. 363). Indikatoren dafür, dass Maria Magdalena in der Tradition des Vesperbildes den vom Kreuz abgenommenen Christus beweint, stellen demgegenüber neben dem Titel des Gedichts auch die Formulierung „Wir legten uns noch nie zusammen nieder,/und nun wird nur bewundert und gewacht“ (V. 8 und 9) dar. Die Verwendung des Modaladverbs „noch“ impliziert im vorliegenden Kontext, dass Maria Magdalena sich in „dieser Liebesnacht“ gemeinsam mit dem Leichnam Jesu niederlegen wird. Da eine körperliche Vereinigung nach Jesu Tod nicht mehr möglich ist, „wird

132

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

Riedel im Kontext der „Umkehrung und Umwertung traditioneller christlicher Motive und ethischer Wertsetzungen“ im Werk Rilkes ein: Ein markantes Stück ist die ‚Pieta‘ [sic!] der ‚Neuen Gedichte‘, die nicht die Gottesmutter, sondern Maria Magdalena um den toten Christus trauern läßt, und zwar nicht um den Erlöser, sondern um den begehrten Mann und seine ‚niegeliebten Glieder‘ – eine Klage um versäumte Liebe und versäumtes Leben: [...].234

Zoltán Szendi sieht das blasphemische Moment in diesem an den Gekreuzigten gerichteten „andachtslose[n] Klagelied“ Maria Magdalenas darin, dass Rilke „den allerheiligsten Augenblick in der vollendeten Opfertat Jesu und die unsäglichen Schmerzen der Mutter in eine sinnliche Liebeserklärung der Sünderin umkehrt“.235 In der ersten Strophe von „Pietà“ berichtet Maria Magdalena von der Fußwaschung Jesu. Dieser Bericht wird hier durch das Wiedersehen der Füße Jesu motiviert („So seh ich, Jesus, deine Füße wieder“, V. 2), wobei das im Gedicht angesprochene Du durch die Apposition in diesem Vers als Jesus identifiziert wird. Der Wechsel der Zeitstufen von der Gegenwart, in der Maria Magdalena den toten Körper Jesu betrachtet, hin zu in der Vergangenheit liegenden Ereignissen, die mit den in den einzelnen Strophen genannten körperlichen Attributen Jesu assoziiert werden, prägt den Aufbau des gesamten Gedichts. Die Wiederaufnahme des Fußmotivs im zweiten Vers des Gedichts wird durch die Verwendung des vorangestellten Genitivs („eines Jünglings Füße“) stilistisch besonders hervorgehoben. Der Gebrauch des unbestimmten Artikels sowie des Lexems „Jüngling“ steht in Kontrast zur Verwendung des Personalpronomens „deine“ im vorherigen Vers. Rilke markiert somit auf der grammatischen Ebene die Diskrepanz zwischen dem unbelebten Leib des Gekreuzigten und dem von Maria Magdalena geliebten Mann Jesus. Im dritten Vers von „Pietà“ wird auf die Fußwaschung im Hause Simons angespielt, die fester Bestandteil des traditionellen Magdalenenstoffs ist („da ich sie bang entkleidete und wusch“). Die Charakterisierung der Handlungen Maria Magdalenas durch das adverbial gebrauchte Adjektiv „bang“ bringt die Ehrfurcht der Sünderin nur bewundert und gewacht.“ Für Haskins’ Lesart scheint zu sprechen, dass die Blickrichtung des Gedichts von den Füßen Jesu über dessen „niegeliebte Glieder“ hin zu seinen Händen und seinem Mund führt, wodurch die Annahme, dass Maria Magdalena sich unterhalb des Kreuzes befindet, plausibilisiert wird. Diese Anordnung der körperlichen Attribute Jesu, von denen in jeder Strophe eines genannt wird, scheint mir allerdings eher der Darstellung des chronologischen Verlaufs des Verhältnisses zwischen Maria Magdalena und Jesus geschuldet sein. So könnte der Verweis auf die Fußwaschung den Beginn dieser Relation markieren, während die „niegeliebten Glieder“ für die nicht erfüllte Liebe Maria Magdalenas zu Jesus stehen. Die in der dritten Strophe erwähnten zerrissenen Hände und das offen stehende Herz Jesu symbolisieren in dieser Deutung die Kreuzigung Jesu, während dessen „müde[r] Mund“ seinen Tod versinnbildlicht. 234 Wolfgang Riedel: „Homo natura“, S. 272. 235 Zoltán Szendi: „Der Geist der Verneinung. Zu den biblischen Motiven in der Lyrik Rilkes“, in: Ders.: Durchbrüche zur Modernität. Studien zur österreichischen Literatur. Wien 2000, S. 101– 115, hier S. 107.

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

133

gegenüber Jesus zum Ausdruck. Maria Magdalena entkleidet in Rilkes Gedicht die Füße Jesu, während sich in der Salbungsszene des Lukas-Evangeliums kein Hinweis auf einen solchen Vorgang findet. Dieses Entkleiden dient im vorliegenden Gedicht der Akzentuierung des erotischen Moments in der Liebe Maria Magdalenas zu ihrem sponsus. In den letzten beiden Versen der ersten Strophe werden die Füße Jesu durch Maria Magdalena näher charakterisiert („wie standen sie verwirrt in meinen Haaren/und wie ein weißes Wild im Dornenbusch“, V. 4 und 5). Beide Verse werden nicht nur durch die Wiederholung der Konjunktion „wie“, sondern auch durch Alliteration eng miteinander verbunden. Zusätzlich werden sie durch die Verwendung des Semikolons in V. 3 deutlich von den ersten drei Zeilen dieser Strophe abgegrenzt. Durch die Verwendung der Synekdoche wird hier auch auf das Innere des angeredeten Jesus verwiesen. So stehen die sich „verwirrt“ in den Haaren Maria Magdalenas befindenden Füße als Teil für das Ganze, nämlich die Person Jesu. Die hier zum Ausdruck kommende Irritation Jesu lässt sich auf das unangemessene Verhalten der Sünderin, nämlich das Entkleiden seiner Füße, zurückführen. Rilke bedient sich hier der Polysemie des Lexems „verwirrt“, das im vorliegenden Kontext sowohl adverbial als auch als Partizip Perfekt verwendet sein könnte. Bereits im dritten Vers von „Pietà“ wird auf das ‚Verwobensein‘ der Füße Jesu angespielt, die „wie ein weißes Wild im Dornenbusch“ von Maria Magdalenas Haar umschlungen sind.236 Rilke verweist an dieser Stelle auf den als Präfiguration Jesu geltenden von Abraham geopferten Widder, der sich im Dornenbusch verfängt. Im Kontext des vorliegenden Gedichts, in dem der gekreuzigte Jesus nicht aufersteht, sondern gemeinsam mit Maria Magdalena „wunderlich zugrund“ geht, ist es interessant, dass das Motiv des Dornbuschs im Neuen Testament mit der Auferstehung Jesu in Verbindung gebracht wird.237 Zu Beginn der zweiten Strophe wird die Wortgruppe „So seh ich“, mit der auch der erste Vers von „Pietà“ beginnt, wiederholt. Durch die Verwendung dieser Anapher und des Kornreims, der V. 1 und V. 6 formal verbindet, sowie durch die inhaltliche Entsprechung der beiden Anfangsverse, in denen jeweils ein körperliches Attribut Jesu apostrophiert wird, werden die beiden Strophen eng miteinander verknüpft. Durch die attributive Verwendung des Neologismus „niegeliebten“, der im vorliegenden Gedicht der Charakterisierung der Gliedmaßen Jesu dient, wird in V. 6 auf die sexuelle Enthaltsamkeit Jesu angespielt. Die Verwendung der Temporaladverbien „zum erstenmal“ und „nie“ im siebten und achten Vers unterstützt eine solche Lesart und verweist auf die nicht vollzogene körperliche Beziehung zwischen Maria Magdalena und Jesus. Durch die Verwendung der Figura etymologica in den Versen 6 und 7 („niegeliebten“ – 236

Das in dieser Strophe von Rilke gestaltete sprachliche Bild weist mit dem in V. 5 gestalteten HellDunkel-Kontrast, der sich aus der Gegenüberstellung des „weißen Wild[s]“ mit dem „Dornenbusch“ ergibt, deutliche Parallelen zur bildenden Kunst des Jugendstils auf. 237 Vgl. etwa LB, Lk 20,37, S. 102: „Daß aber die Toten auferstehen, darauf hat auch Mose gedeutet beim Dornbusch, wo er den Herrn nennt Gott Abrahams und Gott Isaaks und Gott Jakobs (2. Mose 3,6).“

134

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

„Liebesnacht“) wird erneut ein paradoxer Effekt erzielt, da der Begriff „Liebesnacht“ Vorstellungen von einer erotischen Begegnung evoziert, die zwischen Maria Magdalena und Jesus nach dessen Tod nicht mehr möglich ist. Durch die lokale Deixis im siebten Vers („dieser Liebesnacht“) wird das in „Pietà“ geschilderte Betrachten des Leichnams Jesu durch Maria Magdalena und ihre Klage über dessen Tod zeitlich situiert. Im achten und neunten Vers wird der Begriff der Liebesnacht für den Kontext des Gedichts expliziert. So weist Maria Magdalena darauf hin, dass Jesus und sie noch keine solche miteinander verbracht haben („wir legten uns noch nie zusammen nieder“) und dass es in der in „Pietà“ gestalteten „Liebesnacht“ nicht zur sexuellen Vereinigung der beiden Protagonisten kommen wird, sondern dass Maria Magdalena stattdessen den Leichnam Jesu „nur bewundert“. Durch die Verwendung des Verbs „bewundern“, das Vorstellungen von Wertschätzung und Verehrung evoziert, wird in diesem Vers auf Maria Magdalenas Rolle als Jüngerin Jesu angespielt. Rilke verweist hier auch auf die ‚Totenwache‘ der Heiligen für Jesus („gewacht“), die bereits im siebten Vers erwähnt wird („in dieser Liebesnacht“). Rilke hebt den neunten Vers von „Pietà“, in dem die Enttäuschung Maria Magdalenas über ihre „zerbrochene[ ] Liebe“238 zu Jesus durch die Verwendung der Gradpartikel „nur“ angedeutet wird, stilistisch durch die rhetorische Figur der Paronomasie („nun“, „nur“) besonders hervor. Auf der phonetischen Ebene ist die Häufung des dunklen Vokals „u“ in diesem Vers besonders auffällig („und nun wird nur bewundert und gewacht“). Die Dominanz dieses Vokals finden wir auch im letzten Vers von „Pietà“, in dem Maria Magdalena das gemeinsame Untergehen der beiden Protagonisten thematisiert („Wie gehn wir beide wunderlich zugrund“). Durch diese Klangstruktur werden Trauer und Enttäuschung der klagenden Maria Magdalena verdeutlicht. Der neunte Vers, der die zweite Strophe abschließt, weist einige Parallelen zum letzten Vers der vorhergehenden Strophe auf. So findet sich in beiden die Alliteration der mit „w“ anlautenden Wörter („und wie ein weißes Wild im Dornenbusch“, V. 5; „und nun wird nur bewundert und gewacht.“, V. 9).239 Der formalen Zusammengehörigkeit der ersten beiden Strophen, die zusätzlich durch die Anapher in den genannten Versen betont wird, entspricht auch ein thematischer Zusammenhang. So wird die Apostrophierung der scheinbar unversehrten unteren Extremitäten Jesu, die sich in den beiden ersten Strophen von „Pietà“ findet, mit der Betrachtung der Stigmata Jesu in der dritten Strophe kontrastiert. Diese Kontrastierung wird durch die Verwendung der adversativen Konjunktion „doch“ zu Beginn von V. 10 betont („Doch, siehe, deine Hände sind zerrissen“). Die Hervorhebung des Imperativs „siehe“ durch Apposition dient der Akzentuierung des Sehens,240 wie sie sich bereits in der Anapher 238

Siehe oben, S. 53. Auch V. 4 sowie die letzten beiden Verse des Gedichts weisen diese Alliteration auf. Die Verwendung dieser Klangstruktur dient somit in „Pietà“ der Betonung der Strophenabschlüsse. 240 Zur Bedeutung des „Schauens“ in den Neuen Gedichten vgl. Wolfgang G. Müller: „Die Neuen Gedichte/Der Neuen Gedichte anderer Teil“, in: Rilke-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Hrsg. v. Manfred Engel. Darmstadt 2004, S. 313f.

239

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

135

241

zu Beginn der ersten beiden Strophen findet. Diese Betonung des Blickes auf den toten Körper Jesu begünstigt in „Pietà“ die Evokation der sprachlich gestalteten Bilder auf Seiten des Rezipienten. Auffällig ist in V. 10 die Charakterisierung der von den Kreuznägeln durchbohrten Hände Jesu als „zerrissen“. Diese Darstellungsweise verdeutlicht die Gewalt, die Jesus angetan wurde, und dient der stilistischen Hervorhebung seiner Verletzungen.242 Auch ist dieses Attribut durch den Paarreim mit den im folgenden Vers erwähnten, nicht ausgeführten „Bissen“ Maria Magdalenas verbunden. Durch die Apostrophe „Geliebter“243 in diesem Vers wird erneut auf die gewünschte erotische Beziehung Maria Magdalenas zu Jesus bzw. auf ihre Sexualität angespielt, die durch die Erwähnung der Bisse als sadistisch konnotiert erscheint und an die Konzeption einer pervertierten Sexualität erinnert, die typisch für dekadente Strömungen in der Literatur um 1900 ist. Die Liebesklage Maria Magdalenas, die sie in „Pietà“ an den toten Jesus richtet, weckt darüber hinaus Assoziationen von Nekrophilie.244 Interessant sind in diesem Zusammenhang die Parallelen zwischen der in „Pietà“ gestalteten Liebes- und Todesklage Maria Magdalenas und Oscar Wildes Salome (1893). So findet sich in beiden Texten die Klage einer biblischen Frauenfigur über die unerfüllt gebliebene Liebe zu einem ‚Propheten‘, der das erotische Begehren der Frau aufgrund religiös motivierter Askese nicht erwidert. Während die femme fatale Salome aus Rache für die Abweisung durch Jochanaan diesen töten lässt, wird in „Pietà“ die Loyalität Maria Magdalenas zu Jesus deutlich mit der Verantwortung für dessen Tod kontrastiert („Doch, siehe, deine Hände sind zerrissen –:/Geliebter, nicht von mir, von meinen Bissen.“, V. 10–11). Auffällig ist die Verwendung des Biss-Motivs in Rilkes Gedicht, welches sich ebenfalls in Salome findet. Hier kommt die pervertierte Sexualität der Titelheldin durch das Hineinbeißen in die Lippen des geköpften Jochanaan zum Ausdruck. Als weitere Parallele zwischen den beiden Texten ist die Kontrastierung des religiös motivierten Weltverzichts der männlichen Figuren mit der durch die Erotik der biblischen Frauengestalten verkörperten Weltteilhabe zu nennen. Auch die Konzeption einer den Tod des Geliebten überdauernden Liebe, die deutlich erotische Züge trägt, findet sich sowohl in Wildes Salome als auch in Rilkes „Pietà“.245 In den letzten beiden Versen der dritten Strophe wird der Menschenliebe Gottes, für die Rilke die Metapher des offen stehenden Herzens gebraucht, der unerfüllt gebliebene 241

Eine weitere formale Parallele zwischen V. 1 und V. 10 stellt die Zäsur nach der zweiten Senkung dar. 242 Vgl. hierzu auch die für die bildliche Darstellung der Pietà typische „Drastik in der Darstellung von Leid und Schmerz“ (Martin Schawe: „Pietà“, S. 220). 243 Maria Magdalenas Anrede ihres „Geliebte[n]“ wird durch die Verwendung des Gedankenstriches und des Doppelpunkts am Ende des vorherigen Verses besonders hervorgehoben. 244 Vgl. hierzu: Jens Malte Fischer: Fin de siècle. Kommentar zu einer Epoche. München 1978, S. 56: „Dekadente Sexualität [...] manifestiert sich in der Darstellung von sogenannten Perversionen (Sadismus, Masochismus, Nekrophilie, Flagellantismus usw.) [...].“ 245 Vgl. hierzu auch die Ausführungen zu Marie Madeleines Gedichtzyklus „Meinem Dämon“ (Kap. 6.2.3).

136

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

Wunsch Maria Magdalenas nach einer Paarbeziehung zu Jesus gegenübergestellt („Dein Herz steht offen und man kann hinein:/das hätte dürfen nur mein Eingang sein“). Im vorliegenden Kontext eines literarisch gestalteten Vesperbildes scheint allerdings auch die Deutung des offenen Herzens im Wortsinne zulässig. So spielt Rilke hier auf die Speerwunde Jesu an, deren Betonung typisch für den Bildgegenstand der Pietà ist.246 Der Kontrast zwischen der allgemeinen Menschenliebe Jesu und der nicht vollzogenen erotischen Liebe zu Maria Magdalena247 wird auf der syntaktischen Ebene des Gedichts durch die Gegenüberstellung des in V. 12 gebrauchten Indefinitpronomens („man“) mit dem Personalpronomen „mein“ im folgenden Vers verdeutlicht, welches im vorliegenden Kontext auf die Exklusivität des von Maria Magdalena gewünschten emotionalen Zugangs zu Jesus verweist. Der Anspruch auf alleinigen ‚Zugang‘ zum Herzen Jesu wird formal besonders durch die Verwendung der Gradpartikel „nur“, den Hebungsprall bzw. dreifachen Binnenreim und die Inversion in diesem Vers betont („das hätte dürfen nur mein Eingang sein“; V. 13). Im Kontext von Rilkes erotischer Magdalenenklage, in der die Heilige gleichsam in der traditionell dem Mann zugeschriebenen Rolle des den Körper der Geliebten „in der ersten Liebesnacht“ Betrachtenden erscheint, ist die Deutung der Seitenwunde Jesu als Vagina248 in der geistlichen Lyrik des Barock besonders interessant. Maria Magdalenas nachträglich geäußerte Forderung, „das hätte dürfen nur mein Eingang sein“, kann dieser Lesart entsprechend als Wunsch nach Penetration gedeutet werden; dies steht im Einklang mit der Umkehrung der Geschlechterrollen in Rilkes Gedicht, in dem Maria Magdalena zur sexuell Fordernden gegenüber dem geliebten Leichnam Jesu wird. Die Einleitung der letzten Strophe von „Pietà“ durch das Temporaladverb „nun“ markiert den Wechsel der Zeitebenen bzw. den Übergang von der Meditation Maria Magdalenas über ihre in der Vergangenheit liegende Beziehung zu Jesus hin zur Betrachtung von dessen Mund („Nun bist du müde, und dein müder Mund“). Auffällig ist hier die Verwendung des Euphemismus „müder Mund“, welcher der Beschreibung der Lippen eines Leichnams dient. Durch die Figura etymologica, die Rilke in diesem Vers verwendet, wird der Aspekt der ‚Müdigkeit‘ Jesu zusätzlich hervorgehoben. Die verharmlosende Umschreibung, die Christus als noch lebend erscheinen lässt, erlaubt in dieser Strophe die Zuschreibung von mangelndem erotischen Interesse durch Maria Magdalena („Nun bist du müde, und dein müder Mund/hat keine Lust zu meinem wehen Munde –.“, V. 14 und 15). Durch das Enjambement und die rhetorische Figur des Polyptotons in diesen Zeilen wird Jesu mangelnde sexuelle Lust zusätzlich hervorgehoben. In der Wiederholung des Mundmotivs in den aufeinander folgenden Versen 246

Martin Schawe: „Pietà“, S. 220: „[...] die Wunden Christi, besonders die Seitenwunde, sind betont.“ 247 Zur Dichotomie zwischen allgemeiner göttlicher Liebe und der auf eine einzelne Person gerichteten, liebenden Beziehung vgl. auch die Ausführungen zu Dehmels Gedicht Gethsemane (siehe oben, S. 118). 248 Vgl. hierzu Norbert Lennartz: „My unwasht Muse“, S. 90.

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

137

findet sich eine Parallele zu den ersten beiden Versen von „Pietà“, in denen die Füße Jesu apostrophiert werden („So seh ich, Jesus, deine Füße wieder,/die damals eines Jünglings Füße waren“). Im zweiten Vers der letzten Strophe dient die Wiederaufnahme des Mundmotivs in Form des Polyptotons nun allerdings der Charakterisierung Maria Magdalenas. Durch die Verwendung des attributiv gebrauchten Adjektivs „wehe“ werden der seelische Schmerz Maria Magdalenas und ihre Trauer betont. Die Apostrophe in V. 16 wird durch die Verwendung des Gedankenstriches am Ende des vorherigen Verses besonders hervorgehoben. Die Einleitung dieser Anrede Jesu durch die Interjektion „o“ sowie die Geminatio verdeutlichen in diesem Vers die Emotionalität der klagenden Maria Magdalena („O Jesus, Jesus, wann war unsre Stunde?“; V. 16). Die Frage der Heiligen verdeutlicht nochmals die Hoffnungslosigkeit und Vergeblichkeit ihrer Liebe. Zugleich stellt die Formulierung „unsre Stunde“ einen indirekten intertextuellen Verweis auf Jesu letzte Nacht vor seiner Gefangennahme dar, die er gemeinsam mit seinen Jüngern im Garten Gethsemane verbringt.249 Die in „Pietà“ gestaltete Totenwache Maria Magdalenas („Wir legten uns noch nie zusammen nieder,/und nun wird nur bewundert und gewacht.“, V. 8–9) wird mit der in Mt 26,40 zum Ausdruck kommenden Verlassenheit Jesu durch seine Jünger kontrastiert. Diese Loyalität der Heiligen wird auch durch Maria Magdalenas Ausruf im letzten Vers des Gedichts verdeutlicht („Wie gehn wir beide wunderlich zugrund.“). Mit dem ‚Untergang‘ der beiden Protagonisten wird nochmals auf Maria Magdalenas Rolle als sponsa Jesu, die an der Liebe zu ihrem Herrn über dessen Tod hinaus festhält, angespielt.250 Durch das adverbial gebrauchte Adjektiv „wunderlich“, das Vorstellungen von Erstaunen oder Befremdetsein der Liebenden über den Tod Jesu und das Scheitern der Liebesbeziehung zu ihm evoziert, kommt noch einmal Maria Magdalenas Verzweiflung über ihre „zerbrochene[ ] Liebe“ zum Ausdruck. Maria Magdalena als große Liebende Die in „Pietà“ gestaltete unbedingte und unerfüllte Liebe Maria Magdalenas rückt die Heilige in die Nähe von Rilkes Ideal der „großen Liebenden“. Für diese weiblichen Figuren ist laut Manfred Engel der „Verlust des Geliebten [...] Voraussetzung für die Entstehung der intransitiven Liebe, in der sich das aufs äußerte gesteigerte Gefühl nicht mehr auf eine bestimmte Person, sondern auf das ganze Leben [...] richtet.“251

249

Vgl. LB, Mt 26,38: „Da sprach Jesus zu ihnen [seinen Jüngern]: Meine Seele ist betrübt bis an den Tod; bleibt hier und wacht mit mir!“ und Mt 26,40: „Und er kam zu den Jüngern und fand sie schlafend und sprach zu Petrus: Könnt ihr denn nicht eine Stunde mit mir wachen?“ 250 Schon in der Verwendung der Vorstellungen von Schwäche und Leid evozierenden Attribute „müde“ und „weh“ zur Charakterisierung der Münder Jesu und Maria Magdalenas klingt dieses gemeinsame Verderben an. 251 Manfred Engel: „Nachwort“, in: Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Hrsg. und kommentiert von Manfred Engel. Stuttgart 1997, S. 319–350, S. 337.

138

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

Die Konzeption einer solchen All-Liebe wird von Rilke in einem Brief an Sidonie Nádherný von Borutin aus dem Jahr 1908 näher charakterisiert: [...] denn fassen, nehmen, in sich halten kann ja keiner solche Liebe; sie ist vollends zum Weitergeben bestimmt über jeden hinaus; sie braucht den Geliebten nur, damit er ihr den äußersten Schwung gäbe für ihren weiteren Kreislauf zwischen den Sternen.252

Hier wird der intransitive Charakter dieser Liebe deutlich, die die Unerreichbarkeit des Geliebten zur Voraussetzung hat. Die Ausrichtung der Liebe auf „das ganze Leben“, die im obigen Zitat durch die verwendete Weltall-Motivik zum Ausdruck kommt, steht in Einklang mit „Rilkes monistischem Weltbild“.253 Während in „Pietà“ die Klage Maria Magdalenas über den Tod ihres ‚Geliebten‘ und der gemeinsame Untergang thematisiert werden, hat die Maria Magdalena-Figur aus Rilkes Gedicht „Der Auferstandene“ 254 aus Der Neuen Gedichte anderer Teil aufgrund der Überwindung ihrer Trauer um Jesus zum Ende des Gedichts den Status einer „großen Liebenden“ gänzlich erreicht.255 Der Titel dieses Gedichts ist ähnlich irreführend wie der der von Rilke gestalteten Liebesklage Maria Magdalenas, geht es doch weniger um den auferstandenen Jesus als vielmehr um die liebende Jüngerin, die in ihrer Rolle als Myrrhophore und Auferstehungszeugin dargestellt wird („Aber da sie dann, um ihn zu salben,/an das Grab kam, Tränen im Gesicht,/war er auferstanden ihrethalben,/daß er seliger ihr sage: Nicht –“; V. 7–10). Hier erscheint die Auferstehung Jesu motiviert durch seinen Versuch, Maria Magdalena von ihrer werbenden Liebe abzubringen. Es ist, nicht zuletzt in Hinblick auf die Zensurprozesse um Heyses Maria MagdalenaDrama und Dehmels „Venus Consolatrix“, erstaunlich, dass sowohl diese Konzeption der Auferstehung Jesu als auch die erotische Klage Maria Magdalenas um den Leichnam des Gekreuzigten in „Pietà“ von Zeitgenossen offenbar nicht als blasphemisch eingestuft wurden. Die in den zitierten Versen zum Ausdruck kommende Situationsmächtigkeit der Maria Magdalena-Figur, die auf ihre ungestüme Liebe zurückzuführen ist,256 klingt 252

Rainer Maria Rilke: Briefe an Sidonie Nádherný von Borutin. Hrsg. v. Bernhard Blume. Frankfurt/M. 1973, S. 79. 253 Manfred Engel: „Nachwort“, in: Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, S. 335. 254 Rainer Maria Rilke: Gedichte 1895 bis 1910, S. 534. 255 Vgl. hierzu die Einschätzung Brigitte L. Bradleys, dass Rilke in „Der Auferstandene“ „den Evangelienstoff [nutze], um den im Malte-Roman entwickelten Begriff der ‚Liebenden‘ unterzubringen“ (Brigitte L. Bradley: Rainer Maria Rilkes „Der neuen Gedichte anderer Teil“. Entwicklungsstufen seiner Pariser Lyrik. Bern 1976, S. 83). Hermann Kunisch nennt Maria Magdalena ohne Einschränkung auf einen spezifischen Text als Beispiel für die Figurenkonzeption der großen Liebenden im Werk Rilkes (vgl. Hermann Kunisch: Rainer Maria Rilke. Dasein und Dichtung. 2., neu gefasste und stark erw. Aufl. Berlin 1975, S. 498). 256 Eine ganz ähnliche Konzeption finden wir in einem kurzen Prosatext Dehmels, der als Teil eines fiktionalen apokryphen Texts konzipiert ist (Richard Dehmel: „Aus einem apokryphen Evangelium. Kapitel 32. Zweite Offenbarung vor Maria Magdalena“, in: Die Gesellschaft 13, 4

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

139

bereits in den ersten Zeilen von „Der Auferstandene“ an: „Er vermochte niemals bis zuletzt/ihr zu weigern oder abzuneinen,/daß sie ihrer Liebe sich berühme“ (V. 1–3). In dieser Ohnmacht Jesu der Liebenden Maria Magdalena gegenüber finden wir das für moderne Verarbeitungen des Magdalenenstoffs typische Übermächtigungsmotiv, das auch für die weiblichen Figuren in Dehmels und Benzmanns Gedichten nachgewiesen werden konnte.257 In den folgenden Versen wird die Trauer Maria Magdalenas ähnlich wie in „Pietà“ gestaltet. So heißt es von der Heiligen: „und sie sank ans Kreuz in dem Kostüme/eines Schmerzes, welches ganz besetzt/war mit ihrer Liebe größten Steinen.“ (V. 3–6). Mit dem ‚Kostüm‘ Maria Magdalenas verweist Rilke auf die aus der bildenden Kunst bekannte Darstellung der Heiligen als Leidende und Verzweifelte, die den Tod Jesu am Fuße des Kreuzes beweint. Aus dem traditionellen Magdalenenstoff übernommen ist hier das Motiv der Tränen, welches sich in diesen Versen in Form der Periphrase „ihrer Liebe größten Steinen“ findet und in der folgenden Strophe des Gedichts aufgenommen wird (V. 7–8), in der Rilke die Begegnung der Heiligen mit dem Auferstandenen in Anlehnung an den im Neuen Testament geschilderten Gang zum Grab und die „Noli-me-tangere“-Szene258 gestaltet. In den letzten beiden Strophen von „Der Auferstandene“ wird nun der innere Wandel Maria Magdalenas, die hier in ihrer Rolle als Einsiedlerin in der Büßerhöhle erscheint, beschrieben. Ausgelöst wird er durch das Verbot der werbenden Liebe, das im Kontext des vorliegenden Gedichts auf das „Noli me tangere“ zu beziehen ist: Sie begriff es erst in ihrer Höhle,/wie er ihr, gestärkt durch seinen Tod,/endlich das Erleichternde der Öle/und des Rührens Vorgefühl verbot,/um aus ihr die Liebende zu for-

(1897), S. 175). Hier kommt es mit Verweis auf die „Noli-me-tangere“-Szene zur „[z]weiten Offenbarung Jesu vor Maria Magdalena“, in der der Auferstandene das „Rühre mich nicht an!“ zwei weitere Male wiederholt, um die Liebende von ihrem Versuch, Jesus zu berühren („Und sie entsetzte sich vor Freude und griff nach ihm“), abzuhalten. Zum Ende des Texts wird Maria Magdalena einsichtig im Wortsinne, nachdem die Lippen Jesu sie berühren und die wundersam aufbrechende Speerwunde seinen Status als Gekreuzigten verdeutlicht („Und küßte ihre Augen, daß sie sehend wurden, und zeigte auf das Wundmal seines Leibes, und sein Kleid war voll Blutflecken. Da trat sie von ihm, und er blutete nicht mehr.“). Interessant ist, dass die Situation der Epiphanie hier durch Maria Magdalena aufgelöst wird (für diesen Hinweis danke ich Prof. Dr. Reinhard Hoeps). Wie in den beiden Gedichten Rilkes ist es somit auch in diesem kurzen Text Dehmels Maria Magdalena, die aufgrund ihrer großen Liebesfähigkeit als Situationsmächtige konzipiert wird. 257 Hiermit bezeichnet Hilmes die „Situation der Übermächtigung eines Mannes durch weibliche Sinnlichkeit“ (Carola Hilmes: Die Femme fatale, S. XIII). Vgl. hierzu Kap. 7.1.2 der vorliegenden Studie. 258 Hervorzuheben ist hier, dass Rilke auf diese Szene lediglich durch den elliptischen Ausruf „Nicht –“ im letzten Vers der zweiten Strophe Bezug nimmt („war er auferstanden ihrethalben,/daß er seliger ihr sage: Nicht –“, V. 9 und 10). Der inhaltliche Bezug zur „Noli-me-tangere“-Szene konnte durch die Ellipse als Intertextualitätssignal offenbar durch die zeitgenössischen Rezipienten hergestellt werden.

140

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

men/die sich nicht mehr zum Geliebten neigt,/weil sie, hingerissen von enormen/Stürmen,259 seine Stimme übersteigt. (V.15–18)

Anhand der Charakterisierung Maria Magdalenas als Liebende, „die sich nicht mehr zum Geliebten neigt“, wird deutlich, dass die Heilige des Objekts ihrer Liebe nicht mehr bedarf. Durch die erlangte Fähigkeit zur intransitiven Liebe wird Maria Magdalena in „Der Auferstandene“ somit zur großen Liebenden stilisiert. Fazit Rilke adaptiert in seinen beiden lyrischen Verarbeitungen des Magdalenenstoffs das Bild der Heiligen als Klagende und Weinende am Kreuz Jesu, wie es aus Darstellungen der bildenden Kunst seit dem 17. Jahrhundert bekannt ist (vgl. hier v.a. „Pietà“, in dem diese intermediale Bezugnahme bereits im Titel markiert wird). Als Elemente des traditionellen Magdalenenbildes finden sich in „Pietà“ die Rolle der Heiligen als der Sünderin aus der Salbungsszene (Strophe 1) sowie die Liebe zu ihrem sponsus, die hier als erotische Liebe konzipiert ist. In „Der Auferstandene“ wird diese den Tod des Geliebten überdauernde Liebe zum Motiv für die Auferstehung Jesu stilisiert, in „Pietà“ findet sich die Anklage Jesu und Maria Magdalenas Verzweiflung über ihre unerwiderte Liebe, die bis zur Nekrophilie gesteigert ist. Darüber hinaus konnten in „Pietà“ auch Bezüge zur religiösen oder heilsgeschichtlichen Bedeutung der Heiligen nachgewiesen werden. So erinnert die Distanzierung Maria Magdalenas von der Verantwortung für den Kreuzestod Jesu an ihre Rolle als „neue Eva“ (siehe oben S. 56). Auch weist die einsame nächtliche Totenwache der Protagonistin, in der Maria Magdalena und Jesus alleine sind, Parallelen zum frühmorgendlichen Gang Marias von Magdala zum Grab ihres geliebten Herrn auf und verweist somit auf die Konzeption der Heiligen als apostola apostolorum. Für Rilkes Verarbeitungen des Magdalenenstoffs lässt sich, wie auch für Dehmels Maria Magdalena-Figuren, nur das Liebesmotiv, nicht aber das Bußmotiv nachweisen. Bei Dehmel lässt sich dieser Verzicht auf die Positivwertung der „fühlenden Sünderin“ und die Betonung ihres erotischen Reizes zurückführen. Auffällig ist bei Rilkes Maria Magdalena-Figuren der Verzicht auf eine detaillierte äußere Charakterisierung. Dies dient der inhaltlichen Fokussierung auf ihre Liebe zu Jesus, die in beiden Texten inhaltlich dominiert und in ihrer Intensität fast pathologische Züge trägt. Während in „Der Auferstandene“ der Tod Jesu zur Voraussetzung für Maria Magdalenas Einsicht in die Sinnlosigkeit ihrer auf Jesus ausgerichteten Liebe wird, verkennt die in „Pietà“ gestaltete Maria Magdalena-Figur in ihrem Begehren die Bedeutung des Kreuzestodes Jesu als Bedingung für die Erlösung der Menschheit („Wie gehn wir beide wunderlich zugrund.“). In ähnlicher Weise wie die beiden untersuchten Maria Magdalena-Figuren

259

Vgl. hierzu Rilkes Beschreibung von Rodins Plastik „Christe et la Madeleine“, in der Maria Magdalena mit einer „vom Winde gequälte[n] Flamme verglichen wird“, siehe oben, S. 53.

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

141

Rilkes erkennt auch die Protagonistin in Schlafs Erzählung „Jesus und Mirjam“ in ihrem sexuellen Verlangen nicht die göttliche Bestimmung Jesu.

6.3.6 Johannes Schlaf: „Jesus und Mirjam. Eine biblische Erzählung“ (1901) Auch Johannes Schlaf, der zusammen mit Arno Holz als Initiator des sogenannten Konsequenten Naturalismus gilt, verarbeitet in einem seiner nachnaturalistischen, naturmystischen Werke den traditionellen Magdalenenstoff.260 Wie Paul Heyses Drama Maria von Magdala handelt auch Schlafs biblische Erzählung „Jesus und Mirjam“261 von der Bekehrung der „Tänzerin und Sünderin“ durch Jesus. Mirjam erscheint hier, dem traditionellen Magdalenenstoff entsprechend, als Kurtisane, die in Bezug auf das Verhältnis zu ihren Liebhabern als „geniale[ ] Hetäre“ bezeichnet (JM, 34), und mit Aphrodite, Sulamith und den „berühmten Hetären von Hellas“ (JM, 37) verglichen wird. Mirjams prunkvolle sinnliche und exotische Schönheit262 und ihr erotischer Reiz werden von Schlaf in seiner Beschreibung der Tänzerin263 voll ausgekostet. So wird sie im Kontext ihres Auftritts in der Schenke des Selathiel in Kapernaum wie folgt charakterisiert: Etwas abseits von ihnen aber stand Mirjam, still, fast regungslos, in der Pracht ihrer dunklen Schönheit gegen die weiße Mauer gelehnt. Sie war von hohem Wuchs und schlank, wenig über ihr zwanzigstes Lebensjahr hinaus. Sie trug ein leichtes Gewand aus gelber phönizischer Seide, in dessen Saum goldene Lotusknospen eingewebt waren. Es ließ ihre olivenfarbenen Brüste und die runden, schlanken Arme frei, um die sich goldene Schlangenbänder wanden. Dicht unter den Brüsten hin war ein Shawl aus buntgewirkter Seide gezogen, der ihr das Gewand eng an den Körper preßte: ein anderer wand sich über die Schamgegend hin, so daß ihr das Kleid straff an den Unterleib anschloß. [...] Ihr Haupt zierte eine niedrige kegelförmige Kappe aus lichtblauer Seide, mit kleinen Goldplättchen lose besetzt. Unter ihr hervor ging das dichte blauschwarze Haar, von Gold260

Zur Problematisierung des Begriffs Naturalismus als Epochenbezeichnung und zur Hinwendung von Autoren, „die sich in den achtziger Jahren Naturalisten nannten“, zur Naturreligiosität in den 1890er Jahren vgl. Wolfgang Riedel: „Homo natura“, S. 103–107. Riedel bezeichnet Schlafs Frühling (1894), in dem Dehmel das „‚Hohelied‘ [...] für unsere Zeit“ sieht, als „poetische[n] Programmtext für die Wende vom Naturalismus zur Naturphilosophie“ (ebd., S. 120). 261 Johannes Schlaf: „Jesus und Mirjam. Eine biblische Erzählung“, in: Ders.: Jesus und Mirjam. Der Tod des Antichrist. Minden i.W. 1901, S. 3–82 (im Folgenden unter Verwendung der Sigle „JM“ zitiert). 262 Schlaf thematisiert auch die Maria Magdalena traditionell zugeschriebene Eitelkeit und nutzt dabei das Spiegelmotiv: „Und wie sie nun, in der erneuten Frische ihrer Jugend dem Bad entstieg und das wunderbare Ebenmaß ihres Leibes, die leuchtende Schönheit ihres Gesichts in den kostbaren ionischen Metallspiegeln wahrnahm, [...] da schwoll ihr Herz in einem stolzen Selbstbewusstsein.“ (JM, 37). 263 Durch zeitdeckendes Erzählen erstreckt sich die Beschreibung des Tanzes über mehrere Seiten (vgl. JM, 8–14).

142

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

fäden durchzogen, bis zur herrlichen Biegung ihrer runden Hüften hernieder. In der Ohren trug sie dreieckige Gehänge aus feinem Goldfiligran, von denen je drei große Perlen herniederhingen, und um den schlanken Hals bis auf die Brüste hinab einen Schmuck aus lose aneinandergereihten Goldplättchen, mit edlem Gestein besetzt; Gehänge und Brustschmuck, Meisterleistungen eines ephesischen Goldschmiedes, waren Geschenke des jungen Roscius [...].264 (JM, 8–9)

Die in dieser Textstelle auffällige Häufung des Goldmotivs, das auf die dem traditionellen Magdalenenstoff entstammende Vorstellung von der reichen, luxuriösen und eitlen Kurtisane Maria Magdalena anspielt und zugleich den Warencharakter Mirjams als Objekt männlicher Begierde265 betont, findet ihr Pendant in der einem Angriff ähnelnden Vereinnahmung von Mirjams Körper durch ihr männliches Publikum. Nur die Wut des entfesselten Beifalls dröhnte durch den Saal. Man sprang in die Höhe, eilte auf die Tänzerin zu, Goldstücke in den Händen, die man mit Speichel befeuchtete und ihr, ein Zeichen höchsten Beifalls, auf Stirn und Brüste drückte. (JM, 14)

Dem traditionellen Magdalenenstoff entsprechend, führt bei Mirjam die Begegnung mit Jesus, die Schlaf als Zusammenziehung des Streitgesprächs Jesu mit den Pharisäern über Ehe und Ehescheidung in Mt 19,1–12 („Darum wird ein Mann Vater und Mutter verlassen und an seinem Weibe hangen, und die beiden werden sein ein Fleisch; [...]“)266 und der Fußwaschung in Lk 7, 36–50267 inszeniert, zur Absage an ihre sündige Vergangenheit, in der sie sich mit ihren Liebhabern orgiastischen „heißen Liebeskämpfen“ (JM, 19) hingegeben hatte. Nach ihrer Bekehrung, bei der auf die im Neuen Testament erwähnte Austreibung der Teufel Marias von Magdala angespielt wird, begibt sie sich unter die anderen Frauen in der Gefolgschaft Jesu, um dort nach dessen Kreuzigung „die Liebe, die über Zeit und Tod sich nach Gott recket“, zu erkennen (JM, 82).

264

Roscius, ein Römer, „der als Sohn eines ehemaligen Staatspächters ein flottes Leben führte“ (JM, 9), ist „der augenblickliche Liebhaber der Mirjam“ (JM, 7). Zur Vorstellung von Maria Magdalena als Geliebte eines Römers vgl. Hans Hansel: Die Maria-Magdalena-Legende, S. 89. 265 Vgl. hierzu auch Shoshana Felmans Interpretation des Goldmotivs in Balzacs Erzählung La fille aux yeux d’or: „Paradoxerweise ist das Gold als Metapher des höchsten Wertes gleichzeitig Bild von Besitz und Aneignung, durch das die ideale Frau abermals auf ein Objekt reduziert wird, dessen einzige Funktion darin besteht, vom Manne in Besitz genommen und besessen zu werden.“ (Shoshana Felman: „Weiblichkeit wiederlesen“, in: Dekonstruktiver Feminismus. Literaturwissenschaft in Amerika. Hrsg. v. Barbara Vinken. Frankfurt/M. 1992, S. 33–61, hier S. 39). 266 JM, 42 (Sperrung im Original). 267 Schlaf bezieht sich bei der Gestaltung dieser Begegnung von Jesus und Mirjam auch auf die in Joh 12,7 erwähnte Salbung der Füße Jesu durch Maria von Bethanien. So entgegnet etwa Jesus bei Schlaf auf Judas’ Einwand, dass das Geld für die Narde, mit der Mirjam die Füße des „Rabbi“ benetzt, besser den Armen hätte gespendet werden sollen: „‚Sie that dies aus Liebe.  Viel hat sie geliebet; ihr sind viele Sünden vergeben. Und wahrlich, dies sage ich euch!‘ [...]: ‚Wo mein Wort verkündet wird in aller Welt, da wird man von nun an auch dies sagen zu ihrem Gedächtnis, was sie jetzt an mir getan!‘“ (JM, 45).

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

143

Während bei Heyse die Liebe der Magdalenafigur zu Jesus „rein ist wie das Sonnenlicht“, bleiben bei Schlaf keine Zweifel an Mirjams zunächst eindeutig sexuellem Interesse an „dem Mann“, den sie in Jesus sieht  auch wenn dieses Begehren am Ende des Texts mit der Bekehrung Mirjams in die Erkenntnis der göttlichen Liebe gewandelt wird.268 So geht Mirjam etwa auf in dem „heiße[n] Gefühl einer mächtigen begehrenden Sehnsucht zu ihm hin“, sie spürt „den tiefen, wunderbaren Bann seiner Mannheit“ (JM, 32) und träumt von der sexuellen Vereinigung mit Jesus. Und ihn besitzen, dem die Völker Judäas und Galiläas zujubelten; dessen Ruf bis nach Syrien und Phönizien drang; den neuen Elia und Messias! Ihn umfangen in der Stille einsamer Stunden; sein Bestes, Reichstes, Wunderthätigstes besitzen in solchen Stunden; mit ihm den Kampf der Kämpfe ringen ! . . . (JM, 36)

In Anspielung auf den in der Literatur der Jahrhundertwende allgegenwärtigen Kampf der Geschlechter269 klingt hier bereits Mirjams Unvermögen an, ihre Beziehung zu Jesus, der „von der Sekte der Essener“ ist und deshalb ihre Liebe „nimmer erhör[en]“ (JM, 72) wird, angemessen einzuschätzen. Besonders deutlich wird dies, wenn Schlaf sich an anderer Stelle der Apposition „Tänzerin und Sünderin“ bedient, wenn es um die potenziell erotische Wirkung ihrer Schönheit auf Jesus geht. Dem traditionellen Magdalenenstoff entsprechend würde diese Formulierung eher eine anschließende Bekundung ihrer Unwürdigkeit Jesus gegenüber vermuten lassen. Schön war sie wie Aspasia und Lais und die berühmten Hetären von Hellas, denen Staatslenker und die weisesten Männer fast göttliche Ehren erwiesen [...]; sie, die Tänzerin und Sünderin . . . Und dies alles, alles hatte sie ihm zu bieten! . . . (JM, 37f.)

Bereits zu Beginn der Erzählung deutet sich die starke Anziehungskraft an, die Jesus auf Mirjam ausübt. Schlaf stellt hier in der Schilderung der Heilung eines Gichtkranken das Charisma Jesu und dessen Wirkung auf die Menschenmenge heraus. Auf Mirjam wirkt diese Ausstrahlung in besonderem Maße.

268

Vgl. hierzu den lakonischen Kommentar Ingolf Schnittkas zu Jesus und Mirjam, der im Wesentlichen die Handlung der Erzählung zusammenfasst: „Sie ahnt zwar in ihm den großen Geist, will aber nur den Mann. Jesus widersteht der Fleischeslust und schenkt Mirjam das Glück himmlischer Liebe.“ (Ingolf Schnittka: Der Nachlaß Johannes Schlafs. Biographie, Bibliographie und Kommentar. Phil. Diss. masch. Halle 1989, S. 51). 269 Vgl. hierzu folgende Einschätzung Monika Ficks, in der sie auch auf das schöpferische Moment der Geschlechterpolarität und den Typus der femme fatale eingeht: „Das Körperliche und ein Transzendentes werden schließlich in unmittelbaren Zusammenhang miteinander gebracht in der zeitgenössischen Auffassung der physischen Liebe und des Gegensatzes der Geschlechter. Denn man wollte nicht lediglich Geschlechterpsychologie oder sexuelle Aufklärung betreiben: Zu den Ursprüngen des Seins wollte man vordringen. Im Gegensatz des Männlichen und Weiblichen sah man die Essenz des ‚Lebens‘, Zeugung und Kampf, gleichsam in ewigen Formen und doch körperhaft verdichtet. Die Dämonisierung der Frau zur femme fatale, eine Leitmotiv der Zeit, gehört in diesen Zusammenhang.“ (Monika Fick: Sinnenwelt und Weltseele. Der psychophysische Monismus in der Literatur der Jahrhundertwende. Tübingen 1993, S. 8f.).

144

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

Und sie selbst: wieder fühlte sie des Rabbi Gewalt. Ihre Brust wogte, ein wundersames Beben überlief ihre Glieder; und in einem seltsamen Taumel, der wie eine Bezauberung war, der sie beseligte und ängstigte, fühlte sie sich versucht, durch die Menge zu ihm hinzudrängen und zu seinen Füßen zu stürzen. Jede seiner leisesten Bewegungen war wie ein mächtiger Bann und wie ein Wort zu ihr hin, wie ein wonniges zwingendes Gebot. (JM, 27)

Dass es sich bei dem „wonnige[n] zwingende[n] Gebot“ um sexuelle Anziehungskraft handelt, wird im siebten Abschnitt der Erzählung deutlich, in dem Jesus über geistige und irdische Liebe räsoniert, nachdem er von Mirjam im Gebirge, an den „Lieblingsplätzen seiner Gedankeneinsamkeiten“ (JM, 46), gestört worden ist. Diese Begegnung von Jesus und Mirjam ist es, die Schlafs Erzählung für den Kontext der vorliegenden Arbeit besonders interessant macht, da sich hier direkte Bezüge zu Wissensbeständen, die im Umkreis der literarischen Lebensreform rezipiert wurden, nachweisen lassen. Die Versuchung im Gebirge oder: Jesus als Monist In Schlafs Erzählung verlässt Jesus Kapernaum an einem Nachmittag, nachdem er in der Synagoge gelehrt hat, und begibt sich in das angrenzende Gebirge. Schlafs Schilderung dieses Aufstiegs und des damit verbundenen Wechsels der Vegetation ist offensichtlich angelehnt an das achte Kapitel („Jesus zu Kapernaum“) aus Ernest Renans für die deutsche historische Jesusforschung der Jahrhundertwende einflussreicher Schrift Das Leben Jesu (1863), dessen Konzeption von Maria Magdalena als „sehr überspannte Person“270 Schlaf übernimmt. Die gesamte Erzählung zeugt von Schlafs Bemühung um den Realitätseffekt, wenn er orientalisches Lokalkolorit wiederzugeben versucht.271 Dehmel geht in einem Brief an Schlaf vom 6. Juni 1901 hierauf ein, wenn er, offenbar in Hinblick auf die aktualisierende Verarbeitung des Jesus- und Magdalenenstoffs, Kritik an dem in „Jesus und Mirjam“ gestalteten historisch-orientalischen Setting anbringt. Ein wenig störte mich der Wechsel zwischen descriptivem und legendärem Stil, obwohl ich gern zugebe, daß Du nur so die wundervolle Farbigkeit des Hintergrundes herstellen konntest. Aber ist für diesen Stoff ein solcher Hintergrund vonnöten? – Ich bin da nicht ganz 270

Ernest Renan: Geschichte der Anfänge des Christenthums. Bd. 1: Das Leben Jesu. 4. Aufl. Berlin 1864, S. 179. In seiner Schrift Christus und Sophie verweist Schlaf explizit auf die zeitgenössische Leben-Jesu-Forschung, zu deren prominenten Vertretern neben Renan auch David Friedrich Strauß zählt, wenn er im Zusammenhang mit der Bibelexegese auf die „wissenschaftliche Quellenkritik der neueren Theologie“ eingeht (Johannes Schlaf: Christus und Sophie. Wien, Leipzig 1906, S. 125 (im Folgenden unter Verwendung der Sigle „CS“ zitiert). Zum Einfluss der zeitgenössischen Leben-Jesu-Forschung auf die Literatur der Jahrhundertwende vgl. auch die Ausführungen zu Hollaenders Magdalene Dornis. 271 So nennt Schlaf u.a. zahlreiche geografische Details und einheimische Pflanzen, schildert die fremde Architektur und Bekleidung und verwendet im Kontext der Beschreibung des Tanzes u.a. die Begriffe ‚Pundike‘ und ‚Kinnor‘ statt ‚Schenke‘ und ‚Zither‘, erläutert diese allerdings in Fußnoten oder Angaben in Klammern.

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

145

unbefangen, weil ich mich selber mit einer Darstellung Jesu trage, die durchweg im biblischen Stil angelegt ist.272

Jesus philosophiert im Gebirge zunächst über „die Messias-Hoffnungen seines Volkes“, mit denen er sich, wie der Leser erfährt, bereits in seinen vierzig Tagen in der Wüste befasst hat. Diese Anspielung auf Lk 4,1–13, Mk 1,13 und Mt 4,1–11 weist bereits voraus auf die gedankliche Auseinandersetzung Jesu mit „dem Weib“ in Reaktion auf die Begegnung mit der fordernden Mirjam. In der Auseinandersetzung mit seinem Messiastum gelangt Jesus zur „tiefe[n] mystische[n] Einsicht seiner Gotteskindschaft“ bzw. seiner „gottgeeinten Persönlichkeit“ (JM, 52), die ein erstes unio-Erlebnis bei ihm auslöst. Und in Ekstasen verloren, vernahm er aus den heimlichen Stimmen dieser abendlichen Bergöde, aus diesem blitzenden Gestein, aus dem gebreiteten Gelände der Fruchtthäler, aus Blumen und Bäumen, aus Quellgeriesel und Windeswehen die Stimme des Einen und gewahrte seine unendliche und einige Gestalt. Und dies alles war die Stimme und die Gedanken seiner, des Sohnes, Seele; und diese Stimme und diese Gedanken seine und des Einen Zwiesprache mit sich selbst, sein großes, heiliges Denken und das Wirken seiner ewigen Schicksale . . . Einheit! Einheit! Einheit! . . . (JM, 55f.)

Im Anschluss an seine pantheistische Naturerfahrung nimmt Jesus Mirjam wahr, die „zwischen Geröll und Stein den rauhen Gang“ zu ihm herauf steigt: Verwundert hob der Rabbi seine Blicke, zu erkennen, wer in seine Einsamkeiten dränge; und er erkannte Mirjam, die ihm die Füße gesalbet beim Mahl des Pharisäers und sie mit ihrem Haar getrocknet . . . (JM, 56)

Der invasive Charakter dieses Auftritts der Sünderin, der in der Formulierung „in seine Einsamkeiten dränge“ zum Ausdruck kommt, weist bereits voraus auf die späteren Verführungsversuche Mirjams. Noch bevor Mirjam aber ihr Begehren explizit artikuliert, erkennt Jesus im „stumme[n] Bekenntnis“ ihrer Seele „das Weib“, die Apostrophe „Rabbuni!“ verweist hier auf die Begegnung Marias von Magdala mit dem auferstandenen Jesus. Ihre Seele aber strömte über beim Klange seiner Stimme, und schluchzend stürzte sie zu seinen Füßen. „Rabbuni!“ Ein Zucken ging über des Rabbi Gesicht. Seine Seele hatte sie verstanden aus der sehnenden und verzagten Tiefe dieses einen Wortes; und sein kluger Sinn fühlte und erkannte das  Weib. (JM, 57)

Jesu Verunsicherung durch die fordernde Frau Mirjam, die sich hier in der unbewussten physischen Reaktion des Zuckens273 äußert, wird auch an anderer Stelle im Text 272 273

Richard Dehmel: Dichtungen, Briefe, Dokumente, S. 378 (Hervorhebung A.G.-T.). Das Zucken wird von Schlaf leitmotivisch eingesetzt, und verweist im Rahmen des Texts auf den Bereich des Sexuellen. Beispiele sind hier u.a. die Schilderung der Entrückung Mirjams bei ihrem Tanz oder ihre körperliche Reaktion bei den verschiedenen Begegnungen mit Jesus. Gleichzeitig

146

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

deutlich. Hier erinnert die Darstellung Mirjams in Proskynese, ähnlich wie die Anrede Jesu als „Rabbuni“ in der eben zitierte Passage, an die „Noli-me-tangere“-Szene. „Erhebe dich, Mirjam!“ sagte der junge Rabbi leise. „Ich weiß, daß du mich liebst!“ „Meister, du weißt es!“ flüsterte sie heiß mit leuchtenden Augen, die Arme gegen ihn gereckt. Aber sinnend und schier verwundert hafteten seine Blicke an der Gestalt des knieenden Weibes, und seine Seele erbebte von dem wundersamen Schauer dieses Mysteriums der Gnade, daß eine Sünderin Jungfrau sei durch die reine Liebe,274 und siehe! lieblich tönte in seinem Ohr ihr Wort und Bekenntnis. Wie war dies nur? Auch das Weib hatte einst sein gewaltiges Denken gestreift, da er die vierzig Tage in der Wüste gerungen, und die Liebe wohl sein junges Herz gerührt; noch nie aber war ihm die Gewalt ihres mächtigen Rätsels so nahe getreten! . . . (JM, 58)

In dieser Passage finden wir zwei wesentliche Elemente des traditionellen Magdalenenstoffs, zum Einen die Vorstellung von Magdalena als Exempel übergroßer Liebesfähigkeit, zum Anderen das Motiv der Läuterung einer Gefallenen durch ‚reine Liebe‘, die hier in der von Jesus empfundenen wiedererlangten Jungfräulichkeit der Sünderin und Tänzerin zum Ausdruck kommt. Somit trägt Mirjam Züge der courtisane rachetée, also der durch einen Mann ‚erlösten‘ Gefallenen. Ein eindrucksvolles Beispiel für diesen Typus in der Literatur um 1900 finden wir in der Charakterisierung der Ehefrau des sozialistischen Dichters Hermann Honrader in Otto Julius Bierbaums Zeitroman Prinz Kuckuck: Frau Christine Honrader war eine der sehr seltenen echten Magdalenennaturen, die in überströmender Jugendkraft Liebe wahllos nehmen und geben, aber imstande sind, eines Tages alle ihre Liebesfähigkeit einem einzigen zu weihen, dessen reineres und höheres Wesen alles Vergangene für sie auslöscht, indem es ihnen als Verkörperung edler Männlichkeit entgegentritt.275

An diesem Beispiel wird besonders deutlich, dass es weniger der Wandel der jeweiligen Frau an sich ist als vielmehr die ‚Reinheit‘ des jesusähnlichen Mannes, von dem die Läuterung der ‚Gefallenen‘ abhängig ist. Als „Verkörperung edler Männlichkeit“ erscheint auch Schlafs asketische Jesus-Figur, die allerdings an einer Stelle der Erzählung durch die Maria Magdalena-Figur in Versuchung gerät. Dass bei Schlaf Jesus selbst in der Begegnung mit Mirjam zum Liebenden wird, kommt in der oben genannten Textstelle bereits durch seine Verwunderung, den lieblichen Klang der Worte Mirjams in seinen Ohren und die Nähe der im Weib Mirjam personifizierten kann das Zucken auch als Anspielung auf den traditionellen Magdalenenstoff bzw. auf die Besessenheit Maria Magdalenas interpretiert werden. 274 Vgl. hierzu auch folgenden Ausruf der prototypischen courtisane rachetée Marion Delorme in Victor Hugos gleichnamigen Drama: „Et ton amour m’a fait une virginité!“ (zitiert nach Hans Hansel: Die Maria-Magdalena-Legende, S. 80). 275 Otto Julius Bierbaum: Prinz Kuckuck. Leben, Taten, Meinungen und Höllenfahrt eines Wollüstlings. München 1917, S. 426 (Hervorhebungen A.G.-T.). Zum Typus der courtisane rachetée bzw. zur selbstlosen Kurtisane vgl. Elisabeth Frenzel: Motive der Weltliteratur, S. 426–442.

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

147

„Gewalt [des] mächtigen Rätsels [der Liebe]“ zum Ausdruck. In der folgenden Passage wird die Liebe zwischen Jesus und Mirjam explizit thematisiert und auch Jesu Verwandlung dieser Emotion in Mitleid geschildert, die sein göttlicher Auftrag von ihm verlangt. Und er verstand, wie nur er versteht, eins mit ihm, verstand sie sich in ihm. Sein mächtiger Wille aber und sein tieferes Wissen, das seine Sendung kannte, wandelte dies Verstehen und diese Liebe in Mitleid, und mit einem dunklen Lächeln sprach er dies Wort wissender Liebe zu ihr und zu sich selbst: „Mirjam, ich habe nichts mit dem Weibe!“ (JM, 58f.) ( Hervorhebung A.G.-T.).

Schlaf lässt seine Jesus-Figur diese Worte noch drei weitere Male im Text wiederholen, um Mirjams Annäherungsversuche abzuwehren, und verweist hiermit intertextuell auf die im Neuen Testament beschriebenen Versuchungen Jesu.276 Die Versuchung durch die Tänzerin äußert sich in Schlafs Text in unterschiedlicher Deutlichkeit. So fordert Mirjam Jesus etwa dazu auf, sie erkennen zu lassen, „was das Himmelreich sei“ (JM, 60), fragt, ob Jesus nicht gekommen sei, „beide zu erlösen, Mann und Weib“ (ebd.), oder bietet sich ihm direkt an. Rabbuni, du bist herrlicher denn alle Männer! Ich weiß, daß du über allen Menschen bist; ich weiß, daß du Wunder thust und der König Meschicha bist!  Herr, o komm zu deiner Magd und beglücke sie! (JM, 62)

Zum Ende des sechsten Abschnitts der Erzählung fordert Jesus Mirjam auf, ihn zu verlassen und sich einen anderen Mann zu suchen, um sich von diesem einen Sohn zeugen zu lassen  „auf daß du gerechtfertigt seist vor den Menschen“ (JM, 62). Nachdem daraufhin Mirjam das Gebirge verlässt, werden im Text noch einmal Jesu Beunruhigung und Verwirrung, die durch die Begegnung mit der Sünderin ausgelöst worden sind, thematisiert. Verloren saß er und schier verwundert, lauschend dieser Unruhe, die das Weib, das da eben von ihm gegangen, in seine Seele gesenkt; diese Unruhe, die wie ein dunkles Raunen war und ein Wort, das ihm der Vater noch enthüllen wollte. (JM, 65)

Dieses Gotteswort enthüllt sich Jesus im Rahmen eines zweiten All-EinheitsErlebnisses, das durch den Klang des Hohelied Salomos („Wechselgesang zweier Liebenden; eines jungen Hirten wohl und eines Mägdleins, das von der Stadt her zu dem Geliebten hinaufstieg“; JM 65) und den Gedanken an die „Nähe des Weibes“ ausgelöst wird, die Jesus im Moment der Liebeserklärung intensiv empfunden hat.277 276

Diese Dreizahl stellt einen weiteren Verweis auf die vierzig Tage in der Wüste dar. In Lk 4,13 und Mt 4,1–11 wehrt Jesus jeweils drei Versuchungen des Teufels ab. 277 Schlaf übernimmt hier die dem traditionellen Magdalenenstoff entstammende Konzeption von Jesus und Magdalena als Paar des Hohelieds. Den Vergleich der Protagonisten seiner Erzählung mit den beiden Liebenden finden wir bereits im vierten Abschnitt: „Schön war sie [Mirjam] wie Aphrodite, schön wie Sulamith; die Geliebte des königlichen Sängers ihres Volkes, aus dessen Blut und Stamm, wie sie sagten, der Rabbi von Nazareth entsprungen; schön wie die liebliche Sulamith, die unsterbliche Lieder ihres Volkes verherrlichten, von der die Liebenden abends in den Rosen-

148

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

Lieblich däuchte den jungen Meister dieser Gesang, und gern lauschte er ihm, doch nicht ohne ein frommes Sinnen, das einem Staunen glich. Noch nie hatte er so die Nähe des Weibes gespürt, wie in dem Augenblick, da Mirjam ihm gesagt, daß sie ihn liebe . . . Und siehe! Alles, was ihn in dieser weiten, sternklaren Nachtstunde umgab, ward dieser Gesang: und er war die Seele seiner Erscheinungen nah und fern und die sich enthüllende Mystik seines tiefsten, innersten Sinnes. […] (JM, 66)

Dass dieses zweite unio-Erlebnis nachts stattfindet, ermöglicht Schlaf zum Einen, eine All-Motivik zu nutzen, wie sie für die vom Monismus der Jahrhundertwende geprägten Texte typisch ist („das heilige Licht der Gestirne“, ebd.), zum Anderen verweist er mit diesem Setting indirekt auf die im Markus- und Matthäus-Evangelium erwähnte Nacht vor der Gefangennahme, die Jesus betend in Gethsemane verbringt. Der in diesen biblischen Schilderungen zum Ausdruck kommende Zweifel an der göttlichen Bestimmung Jesu278 findet sich auch bei Schlaf: Welches war mehr? Einen zu erlösen oder die Völker des Erdkreises? Und was bedeutete dies: den Erdkreis zu erlösen in sich selbst und in Einem?!. . . Und welches war tiefster und letzter Sinn und tiefstes und letztes Gebot der Liebe? . . . (JM, 67f.) Und siehe! verwunderlich zauderte er in der Verwirrung eines holden Zweifels: welches war das Gebot der Gebote, und welches das Eine, Einzigste und Höchste? (JM, 68)

Der „holde[ ] Zweifel“ Jesu und die in Betracht gezogene Möglichkeit, „einen zu erlösen“, lassen sich im Kontext der Erzählung auf die mögliche Liebesvereinigung mit Mirjam beziehen.279 In der neutestamentlichen Darstellung der Nacht in Gethsemane findet sich neben den Zweifeln Jesu auch das in Bezug auf die Verführbarkeit des Menschen geäußerte, vielzitierte Jesus-Wort: „Der Geist ist willig; aber das Fleisch ist schwach“,280 das, im Kontext der Lobpreisung des Sexus, in Schlafs vom Monismus geprägten Text in charakteristischer Weise variiert wird: Denn dies war nicht allein eine Geburt des Fleisches, sondern es war nicht minder eine Geburt des Geistes; dies war Sein langes Werden, des Sohnes und geistigen Adams, der aus jenem gezeugt und dem Weibe, dennoch war, ehe denn selbst Adam war, im Vater und im ewig wirkenden Geist, mit ihm gleich und identisch. Nicht vermochte er dies Beides voneinander zu scheiden, Fleisch und Geist. Er gewahrte ihre innerste und notwendigste Einheit und Verbundenheit. (JM, 69)

gärten und Weinbergen alte Wechselgesänge sangen, zum Klange des Saitenspiels.“(JM, 37). Auch lassen sich zwischen den beiden Texten entsprechende Parallelen in der Figurenkonstellation nachweisen, so entspricht etwa dem „von der Stadt her zu dem Geliebten“ heraufsteigenden „Mägdlein“ Mirjams Gang ins Gebirge. Mirjam bezeichnet sich selbst Jesus gegenüber wiederholt als dessen Magd (JM, 59–62). 278 Vgl. etwa LB, Mt 26,39, S. 38: „[...]: Mein Vater, ist‘s möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber; doch nicht wie ich will, sondern wie du willst!“ 279 Vgl. hierzu Mirjams Frage, ob Jesus nicht gekommen sei, „beide zu erlösen, Mann und Weib.“ (JM, 60). 280 LB, Mt 26,41, S. 39.

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

149

Dieser Offenbarung von der überzeitlichen Identität alles Seienden, die mit der Identifikation von Fleisch und Geist in deutlichem Kontrast zum christlichen LeibSeele-Dualismus steht, liegt, wie auch dem ersten in „Jesus und Mirjam“ gestalteten unio-Erlebnis, ein pantheistisches Weltverständnis zugrunde. Dies alles war der Vater, und dieses Lied in diesem Augenblicke sein tiefster Wille und seine offenbarende Stimme zu ihm herauf, dem Sohne, ihm offenbarend den ewig wirkenden Thatund Schöpfergrund Seines, des Einen, mystischen Zwiespalts. (JM, 66f.)

Intertextuelle Bezüge zu Schlafs monistischem Weltanschauungsentwurf In einer Rezension Schlafs zu Ernst Haeckels Welträthseln findet sich eine interessante Parallelstelle zu dieser ‚Offenbarung‘. Hier heißt es in Bezug auf Haeckels Kritik an der christlichen Lehre von der Dreieinigkeit, die laut Schlaf „so consequent monistisch als nur denkbar ist“:281 Sagen wir nun für Gott das All und Eine und sagen wir für Christus den ‚Sohn‘, das Individuum, so ist dieses Individuum nichts anderes, gerade im Geiste der Wissenschaft, als das All und Eine; dessen ein begrenzter Theil, in seinem Wesen doch aber Substanz, Accidenz der Substanz, dennoch aber in seinem Wesen nichts als Substanz und mit dieser identisch.282

Neben der postulierten Substanzeneinheit lässt sich ein weiteres zentrales Element von Schlafs Weltanschauung in „Jesus und Mirjam“ nachweisen, nämlich seine Polaritätsphilosophie, die uns im Text in Form des „mystischen Zwiespalts“283 begegnet. Der Geschlechterpolarität kommt in seinem Weltbild ein zentraler Stellenwert zu. Ähnlich wie Otto Weininger mit seiner Konzeption von den Prinzipien „M“ und „W“ nimmt Schlaf an, dass jedes Individuum sowohl männliche als auch weibliche Anteile in sich trägt. Aufschlussreich ist hier ein Zitat aus einem offenen Brief Schlafs an den Physiologen Max Verworn mit dem Titel „Psychomonismus, Polariät und Individualität“ (1908),284 auf den Gaston Scheidweiler in seiner Studie zu Schlafs Romanwerk hinweist. In diesem Text lässt sich neben Schlafs idiosynkratischer Monismus-

281

Vgl. Johannes Schlaf: „Ernst Häckels [sic!] ‚Welträthsel‘“, in: Wiener Rundschau 3, 1898/99, S. 618–622, hier S. 620: „[...] die Sache liegt noch viel wunderlicher, da nicht nur Drei Eins sind, sondern sogar Milliarden und Abermilliarden; die ganze unermessliche Mannigfaltigkeit des organischen Wesens zum Beispiel [...].“ 282 Ebd. 283 Dass hiermit die Polarität der Geschlechter gemeint ist, wird an anderer Stelle der Erzählung besonders deutlich, wenn die menschliche Reproduktionsfähigkeit thematisiert wird: „Und er, der Sohn, blickte durch dies Lied in den Abgrund der Zeugungen und erblickte die ungeheure Entfaltung der Geburten und Schicksale aus den Tiefen der ewig geeinten schöpferischen Zweiheit.“ (JM, 67) 284 Johannes Schlaf: Psychomonismus, Polarität und Individualität. Ein offener Brief an Herrn Professor Max Verworn. Leipzig 1908 (im Folgenden unter Verwendung der Sigle „PPI“ zitiert).

150

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

Konzeption auch die für „Jesus und Mirjam“ charakteristische Adam und Eva-Topik285 nachweisen. Mit ‚Adam‘ und ‚Eva‘ haben wir wieder auf etwas wichtiges hingedeutet. Nämlich auf den unverbrüchlichen Umstand, daß dieses [Elite-]Individuum, wie Individuum überhaupt, eine Paarheit ist. Und zwar muß es eine Paarheit sein, weil es ja grundidentisch ist mit dem absoluten makrokosmischen Individuum, das die Paarheit einer zwiefachen Polarität ist. Es ist nun aber eine Paarheit erstlich in dem Sinne, dass ihm als männlich geprägtem Individuum ein weiblich geprägtes innig und polar unablöslich verbunden zugehört und beide zusammen erst die ganze Individualität und das ganze Individuum sind; zweitens aber ist es auch im männlichen wie im weiblichen Einzelfalle Paarheit, insofern jedes dieser Sonderindividuen lediglich als grundpolar möglich ist und in sich also sowohl männliche als zugleich auch weibliche Eigenschaften besitzt, nur in unterschiedlicher qualitativer und quantitativer Verteilung. (PPI, 16)286

Scheidweiler zeichnet das Konzept vom absoluten motorischen Individuum nach, wie es in Schlafs Weltanschauungsschrift Das absolute Individuum und die Vollendung der Religion (1910) entworfen wird. Das absolute Individuum, also die Gottheit, inkarniert sich immer wieder in seinem „EliteIndividuum“ und seiner Elite, um die Evolution der Welt voranzutreiben (daher die Bezeichnung „motorisch“). Dieses Individuum ist persönlich unsterblich, es wird immer wieder neu geboren, obwohl es immer wieder in den Tod gegangen ist. Es war das motorische Atom des Uräthers, das erste Kristallgebilde, das erste „Protoplasma-Individuum“, es ist schließlich identisch mit dem menschlichen Urpaar, mit Jesus Christus – und mit jenem großen Individuum, das die übermenschliche Art begründen wird. [...]287 285

Vgl. in diesem Zusammenhang auch Schlafs Bezugnahme auf das Paar des Hohelieds, das wie auch Adam und Eva traditionell als Präfiguration des ‚Paars‘ Jesus und Maria Magdalena gedeutet wird. 286 Zu Schlafs nicht anders als nebulös zu bezeichnender Konzeption vom „absoluten makrokosmischen Individuum“, das im Rahmen seiner Weltanschauung letztlich identisch ist mit dem „Urzustand des neutralen Einpols“, vgl. insbesondere das emphatisch „Die Zukunft der Menschheit“ betitelte Schlusswort von Das absolute Individuum und die Vollendung der Religion. Scheidweiler weist in seiner Studie in Bezug auf die Polaritätsphilosophie auf die Fragwürdigkeit der Schlafschen Theorieentwürfe hin: „Dem Leser werden die geradezu atemberaubenden Gedankensprünge dieser dilettantisch anmutenden, pseudowissenschaftlichen Weltentstehungslehre nicht entgangen sein – das gesamte theoretische Werk des Autors wimmelt von ähnlichen fehlerhaften Deduktionen.“ (Gaston Scheidweiler: Gestaltung und Überwindung der Dekadenz bei Johannes Schlaf. Eine Interpretation seines Romanwerks. Frankfurt/M. 1990, S. 41.) Vgl. hierzu auch die Einschätzung Horst Thomés im Rahmen seiner Kategorisierung der Weltanschauungsschrift als eines spezifischen Texttyps, dass diese sich auszeichne durch eine Kombination von „breite[n] Darlegungen wissenschaftlicher Ergebnisse mit waghalsigen Hypothesen, metaphysischen Theoriefragmenten, autobiographischen Mitteilungen, persönlichen Glaubensbekenntnissen, ethischen Handlungsanweisungen, zeitpolitischen Diagnosen und gesellschaftlichen Ordnungsmodellen.“ (Horst Thomé: „Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp“, in: Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert. Hrsg. v. Lutz Danneberg und Friedrich Vollhardt in Zusammenarbeit mit Hartmut Böhme und Jörg Schönert. Tübingen 2002, S. 338–380, hier S. 338). 287 Gaston Scheidweiler: Gestaltung und Überwindung der Dekadenz bei Johannes Schlaf, S. 38.

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

151

Interessant ist hier der Hinweis auf Schlafs Adaption von Darwins Evolutionstheorie, die sich auch für andere Autoren der literarischen Lebensreform nachweisen lässt (vgl. etwa die Ausführungen zu Dehmels Erlösungsmodell). Auf den Zusammenhang zwischen Schlafs Polaritätskonzeption und Darwins Lehre288 geht Scheidweiler auch an anderer Stelle seiner Studie ein. „Polaritätsphilosophie“ nennt es Joh. Schlaf deshalb, weil zwei Pole in der Welt wirksam sind, ohne die jedwedes Geschehen unmöglich wäre, ja ohne die eine Welt gar nicht erst zustande gekommen wäre. Die Gespaltenheit des Lebewesens in ein männliches und ein weibliches Prinzip ist eine Ausprägung der universalen Bipolarität, welche die treibende Kraft der Evolution darstellt.289

Schlafs Polaritätskonzept lässt sich auch anhand der Raumsemantik in „Jesus und Mirjam“ nachweisen; so ist, wie besonders im siebten Kapitel der Erzählung deutlich wird, Jesus das unwirtliche Gebirge, Mirjam das fruchtbare Tal zugeordnet. Bereits zu Beginn des Texts finden wir diese Zuordnung, hier verbunden mit einem expliziten intertextuellen Verweis auf Maria von Magdala: Nach einer Wegstunde erreichten sie [Jesus und seine Jünger] die Thermen der Stadt und bald darauf durchschritten sie deren Straßen, um in das Gebiet des Berglandes zu gelangen, das 288

Im Gegensatz zu Darwin und Haeckel vertritt Schlaf ein teleologisches Evolutionsmodell (vgl. hierzu Katharina Grätz: „Wissenschaft als Weltanschauung. Ernst Haeckels gelöste Welträtsel und ihr Text“, in: Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert, S. 240–255, hier S. 245). So sieht er im „Prinzip Christus“ „einen menschheitlichen Artvollendungsprozeß“ und will „die ganze Evolution“ unter diesem verstanden wissen (PPI, 24). Den Abschluss der Artvollendung bildet in Schlafs Evolutionsmodell ein christlicher Übermensch. Zum rassistischen Einschlag dieser ÜbermenschKonzeption vgl. Scheidweiler: Gestaltung und Überwindung der Dekadenz bei Johannes Schlaf, S. 52f. In diesem Zusammenhang sei auch auf Schlafs Begeisterung für den Nationalsozialismus hingewiesen, auf die Dieter Kafitz in Bezug auf Schlafs „Denk-, Gefühls- und Erlebnisstrukturen“ eingeht: „Ihren Ausgangspunkt haben sie in einem Welt- und Menschenbild, das sich bereits in der Gymnasial- und Universitätszeit unter dem Einfluss biologistisch-naturalistischer Erkenntnisse, lebensreformerischer Ideen und kulturkonservativer Strömungen der Wilhelminischen Ära herausbildete und später nur noch zu einem geschlossenen Weltanschauungssystem erweitert wurde. Diese nachweisbare Kontinuität läßt die Zustimmung zum Nationalsozialismus nicht als Verirrung, sondern als Schlußpunkt einer konsequenten Entfaltung erscheinen.“ (Dieter Kafitz: Johannes Schlaf – weltanschauliche Totalität und Wirklichkeitsblindheit. Ein Beitrag zur Neubestimmung des Naturalismus-Begriffs und zur Herleitung totalitärer Denkformen. Tübingen 1992). Zu Schlafs Haltung zum Nationalsozialismus vgl. Ulrich Erdmann: Vom Naturalismus zum Nationalsozialismus? Zeitgeschichtlich-biographische Studien zu Max Halbe, Gerhart Hauptmann, Johannes Schlaf und Hermann Stehr. Frankfurt/M. 1997. 289 Gaston Scheidweiler: Gestaltung und Überwindung der Dekadenz bei Johannes Schlaf, S. 27. Scheidweiler scheint sich bei seinen Äußerungen auf Schlafs Das absolute Individuum und die Vollendung der Religion zu beziehen, auch wenn er an dieser Stelle keine Textbelege liefert. Zur Polarität der Geschlechter als Motor der Evolution vgl. auch Spiekermanns Erläuterung zum Zusammenhang von Sexualität und ‚Leben‘ (Björn Spiekermann: Literarische Lebensreform um 1900, S. 225) und seine Einschätzung von Haeckels Idealisierung der Sexualität (ebd., S. 143), auf die in Kap. 7 ausführlicher eingegangen wird.

152

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

sich mit rauhem Geklüft bis dicht an den See herandrängte. Nachdem sie eine von Oleanderund Nebekbuschwerk überwucherte Hochebene überschritten, um wieder in wilderes Bergland zu geraten, führte sie der Weg in eine fruchtbare, lachende Ebene hernieder, bogenförmig vom Kreidegebirge eingeschlossen, und sie gelangten nach Magdala.“ (JM, 4)290 (Hervorhebung A.G.-T.)

Die in „Jesus und Mirjam“ durch den Klang des Hohelieds ausgelöste Offenbarung „des Einen mystischen Zwiespalts“ als „treibende Kraft der Evolution“ kommt letztlich einer Rehabilitierung menschlicher Sexualität unter christlichen Vorzeichen gleich, wie wir sie u.a. von Schlafs Zeitgenossen Wilhelm Bölsche kennen.291 Für eine solche Lesart spricht auch die folgende Textstelle aus „Jesus und Mirjam“, in der sich Jesus im Hohelied der Liebe die Gottheit offenbart: Pniel: Das Angesicht Gottes! Enthüllt in diesen beiden Liebenden und in ihrem Lied! . . . Und er, der Sohn, blickte durch dies Lied in den Abgrund der Zeugungen und erblickte die ungeheure Entfaltung der Geburten und Schicksale aus den Tiefen der ewig geeinten schöpferischen Zweiheit. (JM, 67)

Im Anschluss an sein zweites unio-Erlebnis richten sich Jesu Gedanken erneut auf Mirjam und er „gewahrt[ ] ihre Schönheit, […] das tiefe Leuchten ihres sehnenden, leidumschatteten Auges, […] ihre süße Not und das Rätsel des Weibes …“ (JM, 67). Durch den Gedanken an „das Weib“ wird Jesus in seiner göttlichen Bestimmung erschüttert („welches war das Gebot der Gebote, und welches das Eine, Einzigste und Höchste?“), nachdem er, vermittelt durch das Hohelied, „die Macht eines notwendigen Urgebotes“, nämlich der geschlechtlichen Liebe,292 erfahren hat. Erneut wird hier der Bezug zur Maria Magdalena-Figur Mirjam hergestellt. Wohl kannte er seine Sendung, und der Wille des Vaters stand enthüllt und klar vor seiner Seele: aber auch in diesem Lied der Liebenden da unten in den Thaltiefen war die Macht eines notwendigen Urgebotes, und noch näher hatte es an sein Herz gerührt mit der zarten Sehnsucht jenes jungen Weibes, das ihn vorhin verlassen. Und er erkannte und fühlte die tiefste, heilige Würde dieses Gebots. (JM, 68)

290

Vgl. auch JM, 5: „Noch eine Stunde schritten sie zu, noch einmal durch rauheres Gebiet, bis sie am Nachmittage von einem fruchtbaren Hügelgelände in die Ebene von Kapernaum herniederstiegen . . .“ (Hervorhebung A.G.-T.). 291 Vgl. etwa folgendes Zitat aus Bölsches Liebesleben in der Natur: „Der ganze kolossale wilde Unterbau der Geschlechtsliebe/vom Tier herauf, vom Fisch, von der Eintagsfliege/war nötig, um die große Menschenschöpfung der Menschheitsliebe organisch werden zu lassen. Ohne Fortpflanzung und an Fortpflanzung angeschlossene Entwickelung wäre ja überhaupt kein Mensch.“ (Wilhelm Bölsche: Das Liebesleben in der Natur. Eine Entwicklungsgeschichte der Liebe. Bd. 1. 36.–39. Tausend. Stark vermehrte und umgearb. Ausgabe. Jena 1909, S. 31). 292 Das im Hohelied zum Ausdruck kommende Urgebot wird spezifiziert als das von Gott an Adam erlassene „Gebot, daß er die Geschlechter der Menschen erzeuge mit Eva“ (JM, 68). Vgl. hierzu auch Jesu Aufforderung an Mirjam: „Gehe hin, ändere deinen Wandel und suche dir einen Mann, daß er dir einen Sohn zeuge, auf daß du gerechtfertigt seist vor den Menschen.“

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

153

Wieder kommt hier, wie bereits in der Feststellung Jesu, dass in dem an Adam ergangenen Zeugungs-Gebot nicht nur eine „Geburt des Fleisches“, sondern auch eine „Geburt des Geistes“ zu erkennen sei, die Sakralisierung menschlicher Sexualität zum Ausdruck. Schlaf geht es in seinem Text also nicht um die Verdammung der sexuellen Liebe, auch wenn seine Jesus-Figur den „Zwiespalt“ als die durch Adam und Eva in die Welt gekommene Sünde bezeichnet.293 Aufschlussreich ist hier Lothar Jegensdorfs Explikation des Begriffs der Sünde in Schlafs naturmystisch-monistisch geprägtem Werk. So bezeichne Schlaf die „Trennung und Vereinzelung des Ichs als (nicht moralisch zu qualifizierende) ‚Sünde‘, alle auf Vereinigung hinzielende[n] Bewußtseinsvorgänge jedoch als ‚Erlösung‘.“294 Der Widerspruch zwischen der positiven Bewertung sexueller Liebe im sechsten und siebten Kapitel der Erzählung295 und der negativen Bewertung der durch das erste Menschenpaar verursachten Erbsünde bzw. des „Zwiespalt[s]“ lässt sich für Schlafs Text nicht befriedigend auflösen. Er scheint der Beibehaltung der christlich geprägten Erlösungskonzeption – Jesus ist bei Schlaf „der Sünde Adams teilhaftig“ und wird mit seinem Tod zum „Sühnopfer“ und „Erlöser“ (JM, 70) – vor der Folie des von Schlafs eigener monistischer Weltanschauung geprägten Texts geschuldet zu sein. Jesus selbst versteht sich als „erwählter sühnender Einiger“ des Zwiespalts, so dass es nicht überrascht, wenn das siebte Kapitel von Schlafs Erzählung mit der Absage des „geistige[n] Adam[s]“ (JM, 69) Jesus an die geschlechtliche Liebe endet. Und er breitete seine Arme in Verzückung, erschauernd in heiligen Todeswonnen, schauend mit geistigen Augen das letzte Ende und die letzte Erfüllung des Vaterwillens . . . Das Ende! Das vollendete Reich der Himmel und der letzten Einheit! Nein! Er hatte nichts mit dem Weibe! (JM, 70)

Über die Gründe für die Enthaltsamkeit Jesu und seine mögliche „weibliche[ ] Ergänzung“ spekuliert Schlaf in seiner weltanschaulichen Schrift Religion und Kosmos (1911). Im Folgenden soll eine längere Passage hieraus zitiert werden, in der Schlaf auch auf seine evolutionistische Konzeption des „Prinzip[s] Christus“ eingeht und in der seine an die christliche Vorstellungswelt angelehnte monistische Konzeption von Jesus, dem „motorische[n] Individuum (der ‚Sohn‘)“, als „die organische Erscheinung des absoluten Individuums (der ‚Vater‘)“ zum Ausdruck kommt:

293

„Die Sünde! Die Sünde! . . . Zwiespalt im Einen! Zwiespalt der Einheit! . . .“ (JM, 69); „Durch jenen [Adam] aber und das Weib, das Gott ihm zugefüget, kam die Sünde in die Welt und der Zwiespalt, und der Zorn des Vaters senkte sich auf die Menschen.“ (JM, 78) 294 Lothar Jegensdorf: Die spekulative Deutung und poetische Darstellung der Natur im Werk von Johannes Schlaf. Phil. Diss. masch. Bochum 1969, S. 203. 295 Vgl. hierzu auch den intertextuellen Verweis auf die im Lukasevangelium geschilderte Salbungsszene im Kontext der Begegnung von Mirjam und Jesus im Gebirge: „Wie bist du eine Sünderin Mirjam, da du mich liebst? Siehe wahrlich! Deine Sünden sind von dir genommen, denn du – liebst. – Entschlage dich dieser Vorwürfe.“ (JM, 59)

154

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

Wir werden, da ja das motorische Individuum Paar-Individuum ist, nach der weiblichen Ergänzung Jesu fragen? Aber es kann gar kein Zweifel bestehen, daß diese vorhanden gewesen ist! Wenn sie aber nicht als sein Weib, d.h. als seine g a t t l i c h zeugerische und gebärende Ergänzung296 vorhanden war, so kann das seinen Grund einzig darin haben, daß das motorische Individuum, wenn es eine organische Form, die ihre äußerste Entwicklungsmöglichkeit erreicht hat, zunächst als solche a b s c h l i e ß t , nicht seine Funktion als patriarchalischer Erzeuger einer neuen Gattung übt! – Aber es ist gesagt worden, daß der Christus wiederkommen wird, zu richten die Lebendigen und die Toten. Da das aber nur heißen kann, daß das motorische Individuum, Gott selbst als organisches Individuum, wiederkommen wird, und da es ferner nur heißen kann, daß, da menschliche Gattung alsdann durch das fortwirkende Prinzip Christus wirklich vollkommen fertig geworden ist, eine n e u e organische Form erzeugt wird, so wird der „Christus“, d.h. das motorische Individuum, wenn es einst persönlich wieder da sein wird, durchaus seine patriarchalische zeugerische Funktion üben.297

Die Vorstellung von der weiblichen Ergänzung Jesu, von der Schlaf hier annimmt, dass es sie gegeben habe, lässt sich beziehen auf seine Konzeption von Mona Lisa als der Leonardo „korrespondierende weibliche Typ“,298 die er in Christus und Sophie entwickelt. Für korrespondierende weibliche und männliche Typen nimmt Schlaf neben einer Ähnlichkeit in der psychischen Disposition auch eine physiognomische Ähnlichkeit an. Diese lässt sich in Schlafs Erzählung für Jesus und Mirjam an mehreren Stellen nachweisen. So etwa in der Beschreibung Mirjams vor ihrem Tanz und der Beschreibung Jesu im Anschluss an die Heilung des Gichtbrüchigen.299 Zwei große graue Augen träumten mit der Tiefe gehaltener Unrast in einem starren, dunklen Gesicht unter halbgesenkten Lidern. Die Lippen hielt sie fast ernst geschlossen. Hin und wieder umspielte sie ein leises, unbewußtes Zucken [...]. (JM, 10) Der Rabbi aber stand, die Augen halb geschlossen, starr und unbeweglich vor sich niederblickend, mit festgeschlossenen, fast schmerzlichen Lippen; sein Gesicht war fahl, tief lagen seine Augen. (JM, 32)300 296

Vgl. hierzu Dehmels Charakterisierung des Weibes als „willige Wollustbringerin, Genossin wie Fortpflanzerin“ des Mannes (siehe oben, S. 115). 297 Johannes Schlaf: Religion und Kosmos. Berlin 1911, S. 75 (Sperrung im Original). Wir finden den Vergleich von Adam und Jesus, ebenfalls in Bezug auf die Frage nach der „zeugerischen Betätigung“ des letzteren, auch in „Psychomonismus, Polariät und Individualität“: „Hätte er [Jesus] die eigentlichste Funktion des ‚Adam‘-Individuums geübt, so würde er sicherlich nichts mehr gelehrt und sich um die Vollendung des Menschen nicht mehr bekümmert haben, sondern würde bereits eine psychophysisch fruchtbare Ab- und Neuart bedeutet haben, die sich individuell innerhalb einer ihr zugehörigen Elite mit organisch neufunktioneller Sicherheit vorbildlich und bestätigend betätigt, zeugerisch betätigt haben würde. Das hat der Christus aber, wie wir wissen, noch nicht getan, sondern er hat nur vorerst die andere vorbereitende ‚Adam‘-Funktion geübt: er hat zunächst den Anstoß zu einer Evolution gegeben, welche die Menschheit zur reinsten und geschlossensten Vollendung ihrer Gattung führt.“ (PPI, 25). 298 Vgl. CS, 298f. 299 Vgl. hierzu Mk 2,1–12. 300 Auch die beiden Wirkungsstätten der Tänzerin und des Rabbis, die Schenke des Selathiels und das Haus Simons, weisen eine starke architektonische Ähnlichkeit auf (vgl. JM 6 und 24). Dass diese

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

155

Wendet man Schlafs These von der Ähnlichkeit der korrespondierenden geschlechtlichen Typen in Verbindung mit seiner Vorstellung vom Paar-Individuum auf „Jesus und Mirjam“ an, so kann die Maria Magdalena-Figur Mirjam als „weibliche Ergänzung Jesu“ interpretiert werden – wenn auch nicht als „seine gattlich zeugerische und gebärende Ergänzung“. Den Zusammenhang zwischen Jesu grundsätzlicher Wertschätzung der Sexualität und seiner Askese, den wir in „Jesus und Mirjam“ dargestellt finden, stellt Schlaf auch in seiner Rezension der Welträthsel her. Schlaf geht hier auf Haeckels Kritik an der vermeintlichen Geringschätzung der Frau und der Familie durch Jesus ein, die er auf die Orientierung des Gottessohns auf das jenseitige Himmelreich zurückführt. So heißt es bei Haeckel etwa: „Die Geschlechtsliebe, die doch die erste Grundlage der Familienbildung ist, erschien Jesus eher als ein nothwendiges Übel.“301 Schlaf kritisiert diese Einschätzung als oberflächlich und erläutert seine Einschätzung der Haltung Jesu zu Familie und Ehe: Christus schätzte die Familie durchaus nicht gering. Niemand hatte strengere Begriffe von der Heiligkeit der Ehe. Dass er und die Seinen sich nicht verheirateten und keinen Umgang mit dem anderen Geschlecht hatten, sagt dagegen gar nichts; das war eine Nothwendigkeit für Männer, die nur dieser ihrer geistigen Aufgabe lebten und sich auf sie zu concentrieren hatten. Wenn Christus aber die Geschlechtsliebe hin und wieder als ein ‚nothwendiges Übel‘ erschien, so ist dies so tief und bedeutsam wie möglich, denn wie aller Lust und alles Hohen Urheberin, ist sie nicht minder die Wurzel alles Leides, aller Schmerzen und socialen Zwiespalte; uralt sind die Klagen, daß „das Weib bitter sei“.302

Auch Schlaf identifiziert hier, ähnlich wie der von ihm bewunderte Haeckel in seinen Welträthseln (siehe unten, S. 234), das Weibliche mit dem Sexuellen und reproduziert mit intertextuellem Verweis auf die Bibel die damit verbundene „uralte“ Negativwertung der Frau, die „bitterer als der Tod“ ist.303 Ähnlich misogyne Züge trägt auch Schlafs Konzeption der Maria Magdalena-Figur Mirjam als femme fatale. Entsprechung nicht im Widerspruch zur oben formulierten These von der Abbildung der Geschlechterpolarität in der Raumsemantik der Erzählung steht, wird in Rückgriff auf Schlafs Weltanschauung deutlich, zeichnet sich doch für ihn jedes Individuum, aber auch das Menschenpaar – bei ihm meist am Beispiel von Adam und Eva expliziert – durch die Eigenschaften der Polarität und der Einheit aus. 301 Ernst Haeckel: Die Welträthsel. Gemeinverständliche Studien über Monistische Philosophie. Volks-Ausg. 78.–97. Tausend. Bonn 1903, S. 143. Haeckel wirft der christlichen Moral in pauschalisierender Vereinfachung „die Verachtung [...] gegen das eigene Individuum, gegen den Leib, die Natur, die Kultur, die Familie und die Frau“ vor (ebd., S. 141). 302 Johannes Schlaf: „Ernst Häckels ‚Welträtsel‘“, S. 620. 303 Vgl. LB, Pred 7, 26, S. 654: „Und ich fand, bitterer als der Tod sei eine Frau, die ein Fangnetz ist und Stricke ihr Herz und Fesseln ihre Hände. Wer Gott gefällt, der wird ihr entrinnen; aber der Sünder wird durch sie gefangen.“ Auch Nietzsche verweist in Also sprach Zarathustra implizit auf diese Bibelstelle, nämlich in dem Kapitel „Von alten und jungen Weiblein“: „Zweierlei will der ächte Mann: Gefahr und Spiel. Desshalb will er das Weib, als das gefährlichste Spielzeug. Der Mann soll zum Kriege erzogen werden und das Weib zur Erholung des Kriegers: alles Andre ist

156

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

Die Tänzerin als femme fatale Im vierten Kapitel von Schlafs Erzählung findet sich die zeittypische Vorstellung von der Tänzerin als femme fatale, wie sie paradigmatisch von den zahlreichen SaloméFiguren der Jahrhundertwende verkörpert wird.304 Mirjam sinniert hier im Anschluss an die Heilung des Gichtbrüchigen über ihre Liebe zu Jesus und vergleicht diese mit der Beziehung zu ihren bisherigen Liebhabern. Während sie ihrem „Herrn und Stiller“ gegenüber eine deutlich passive Haltung einnimmt, lässt sie das Verhalten ihren Buhlen gegenüber als prototypische dämonische Verführerin erscheinen. Sie gedachte all jener, die sie umarmt, in deren Umarmung die heißen, suchenden Triebe ihres Blutes sie getrieben; die je über ihren Leib Herrschaft gewonnen, und über deren Seelen dieser Leib Herrschaft gewonnen, die sie mit dem wilden Übermut der genialen Hetäre zu ihren Sklaven gemacht, deren Mannheit sie in die tiefste Erniedrigung sinnlicher Lüste niedergebeugt; sie, die reich, vornehm, edel genannt wurden, die mit Rang, Stand, Geburt, Reichtum vor den Menschen glänzten, und über die sie in der stillen Verschwiegenheit dieser üppigen Kammer Gewalt gewonnen; die vor ihr gewesen waren wie winselnde Hunde, den Winken ihrer verwegensten Launen unterthan; die Reichtum, Gesundheit und Ehre um die Reize ihres Leibes vergeudet. (JM, 34)

Neben dem Vergleich der Liebhaber mit winselnden Hunden und Sklaven ist es v.a. das Motiv des Untergangs der Männer („deren Mannheit sie in die tiefste Erniedrigung sinnlicher Lüste niedergebeugt“),305 der Mirjam hier als femme fatale erscheinen lässt. Ausgelöst wird der Untergang der Liebhaber dadurch, dass sie dem schönen Frauenleib verfallen sind. Interessant ist in Schlafs Text die Motivation, die Mirjam für ihr Verhalten als dämonische Verführerin angibt. So kritisiert sie, dass ihre Liebhaber ausschließlich an ihrem Körper interessiert gewesen seien: „Aber blöde, tote Larven waren sie alle, deren Berührung beschmutzte und fraß wie Krankheit; von nichts beseelt als von der Begier nach ihrem Leibe.“ (JM, 35)306 Die von ihr ausgeübte Erniedrigung der Liebhaber wird entsprechend als Rache für die eigene körperliche und seelische Erniedrigung durch die Männer konzipiert („[...] der wedelnde Hund von Sklave, dessen unreine Brunst ihren Leib befleckte307 und ihre Seele verwüstete, den sie knechtete und mit dem rächenden Übermut ihrer Launen geißelte“; JM, 35).308 Schlafs Thorheit. Allzusüsse Früchte – die mag der Krieger nicht. Darum mag er das Weib; bitter ist auch noch das süsseste Weib.“ (Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra, S. 81). 304 Vgl. hierzu auch die Einschätzung Kächlers, Schlafs Mirjam sei „eine weitere Schwester der Salome“ (Uwe Kächler: Die Jesusgestalt in der Erzählprosa des deutschen Naturalismus, S. 154). 305 Vgl. hierzu auch JM, 37: „ [...], diese Schönheit, um die ihre [Mirjams] Verehrer Vermögen verschwendeten, Verstand und Manneswürde hingaben [...].“ 306 Vgl. hierzu auch Magdalenes Kritik am begehrenden Blick der Männer in Hollaenders Roman, siehe unten, S. 174. 307 Vgl. hierzu auch die „Frevler[...], die mit lüsternem Spiel/die züchtigen Schleier des Schooßes entfalten,/Verspottend der Liebe Ziel“ in Benzmanns Venus Urania (siehe oben, S. 102). 308 Im Kontext der Heilung des Gichtbrüchigen gibt es eine interessante Parallelstelle zu dieser Charakterisierung der Liebhaber Mirjams, wie sie sich in diesem und dem vorherigen Zitat findet.

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

157

Mirjam liefert somit ein Beispiel für die femme fatale als „Rachetypus einer zur Minderwertigkeit deformierten Weiblichkeit“.309 Den als unterwürfig charakterisierten Liebhabern stellt Mirjam Jesus, den sie zum „Mann und Herrn, vor dem ihre wilden Sinne weich wurden“ (JM, 35) stilisiert, gegenüber. Die von ihr als positiv gewertete (sexuelle) Dominanz des Mannes gegenüber der Frau wird mehrfach im Text artikuliert. So erscheint Jesus u.a. als „mächtige[r] Bändiger ihres suchenden Geschlechts, [...] Sieger im ewigen, wüsten Kampf ringender Triebe, ihr[ ] Herr und Stiller“ (JM, 35). Auch hier findet sich der um 1900 topische ‚Kampf der Geschlechter‘ wieder. Sich an die Äußerungen Jesu zur Ehescheidung erinnernd bzw. daran, „wie fest und hart seine Lehre und sein Gebot das Weib dem Manne einte und dem Weibe den Mann“ (JM, 44), und aufgrund der starken Anziehungskraft, die Jesus auf sie ausübt, zieht Mirjam falsche Schlüsse über die Art seines Verhältnisses zu ihr: Und sie fühlte, daß dieser der Mann sei und seines Weibes Herr; und erbebte in einer holdverzagten Furcht. Also band er das Weib, und also würde er sich dem Weibe binden! Wer konnte vor ihm bestehen . . . (JM, 44)

Trotz der mehrfachen Abweisung durch Jesus lässt Schlaf seine Maria MagdalenaFigur Mirjam erst im neunten Kapitel der Erzählung erkennen, dass Jesus „nichts mit dem Weibe“ hat. Dieses ihrer Triebhaftigkeit geschuldete Unvermögen, die Beziehung zu Jesus richtig einzuschätzen, bzw. die vorherige ‚Verblendung‘ der Sünderin kann auf das sie dominierende sexuelle Verlangen zurückgeführt werden, das an mehreren Stellen des Texts unter Verwendung des Blutmotivs thematisiert wird.310 Diese biologistische Konzeption der ihren Trieben unterworfenen Frau, die zeitgenössischen Bestimmungen des Weiblichen in Kunst und Wissenschaft entspricht (vgl. Kap. 7.1), wird besonders anhand einer Textstelle deutlich, in der die geniale Hetäre Mirjam in Jesus „den Mann“ erkennt. Den all ihre innersten Triebe, den alle Instinkte, alles Genie ihrer starken, reifen Weiblichkeit je und je gesucht und ersehnt: zum ersten Mal fühlte sie sich in seinem allmächtigen Bann; So heißt es in Bezug auf die Menschenmenge, die zu dem erschöpften „Messias“ Jesus strebt: „Mit einem bangen Staunen und einem wunderlichen Mitleid hing Mirjam an seinem Anblick; [...] mitten unter dieser Menschenmenge, deren Anblick ihr widerwärtig, die sie, die ihn, der unter ihnen stand gleich einem König, mit ihren Berührungen, mit dem rauhen, mißtönigen Lärm ihrer Stimmen und üblen Dünste bedrängte; diese Elenden, deren dumpfer Egoismus an den Kräften seines Leibes und seiner Seele fraß.“ (JM, 32) (Hervorhebung A.G.-T.) Besonders hervorzuheben ist hier die Parallelisierung von Mirjam und Jesus in dem Relativsatz: „die sie, die ihn, [...] bedrängte.“ Auch hier lässt sich wieder ein Bezug herstellen zu Schlafs Konzeption der „weibliche[n] Ergänzung Jesu“, siehe oben, S. 153. 309 Carola Hilmes: Die Femme fatale, S. 44. 310 Vgl. etwa JM, 34: „Sie gedachte all jener, die sie umarmt, in deren Umarmung die heißen, suchenden Triebe ihres Blutes sie getrieben [...]“; JM, 35: „Es [„das hagere Antlitz des jungen Rabbi“] brannte mit zuckenden Sehnsuchtsschauern in ihrem Blut, zum erstenmal weckte es ihr das Bewusstsein und die wilde Not ihrer Schmach.“

158

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

zum ersten Mal hatte sie den – den M a n n gesehen, von Angesicht zu Angesicht! – (JM, 33f.) (Sperrung im Original)

Trotz der starken Triebhaftigkeit der Maria Magdalena-Figur und ihres Gebanntseins durch ihn als vermeintlichen Idealtypus des Männlichen gelingt es dem reinen Mann Jesus, Mirjam zur Liebe Gottes zu bekehren. Bei der Darstellung dieser Konversion bedient sich Schlaf erneut zahlreicher intertextueller Verweise auf das Neue Testament. Mirjams Bekehrung: Die „Tänzerin und Sünderin“ als Büßerin Nach der Abweisung durch Jesus fahren die Teufel in Mirjam bzw. verfällt sie einer „Krankheit, denn ihr Sinn konnte sich des Rabbis nicht entschlagen“ (JM, 71).311 Ähnlich wie bei Marie Madeleine wird also auch bei Schlaf das sexuelle Verlangen der Maria Magdalena-Figur eindeutig mit ihrer Besessenheit identifiziert.312 In der Erzählung klagt Mirjam Jesus für das Nichterwidern ihrer Liebe heftig an und führt ihre Besessenheit auf ihn zurück. Der du dich den Sohn Gottes nennst, gekommen, den Menschen das Himmelreich zu künden, verflucht seist du vor allen Männern! Denn nicht Gottes bist du, sondern des Teufels und ein arger Zauberer, der du diese Krankheit über mich verhängt und diese bösen Geister heißest, daß sie in mich führen und mich peinigten! (JM, 74)

Nach der Austreibung der Teufel ist es nun Jesus, der sich erneut von der irdischen Liebe versucht fühlt. [...], denn er erbarmte sich ihrer, wie wohl ein Mann sich eines Weibes erbarmt, und er sah, daß sie schön war und die irdische Liebe rührte zu dieser Stunde an sein Herz, das, von Menschen geboren, alles Menschliche fühlte und verstand. Und er erkannte, daß ihre Liebe groß sei und rein, also wie sie vordem nie einen Mann geliebet.  Und sie leidete ihn. Doch in derselbigen Stunde sah er in das Dunkel ihres Begehrens, und es lichtete sich vor seinen Augen, und er gewahrte ihre Sehnsucht nach dem Himmelreich, die sie selbst noch nicht kannte [...] (JM, 75f.)

Schlaf gestaltet hier zum zweiten Mal in seinem Text eine Uminterpretation der Emotionen des Gottessohns: Wie Jesus bei der Begegnung im Gebirge seine Liebe zur Sünderin in Mitleid gewandelt hat, so deutet er hier Mirjams sexuelles Begehren als die 311

Schlaf bezieht sich hier auf die in Lk 8,2 erwähnten sieben Teufel, die von Maria von Magdala Besitz ergriffen haben. Interessant ist, dass Schlaf, ähnlich wie Renan, Maria Magdalena als Nervenkranke versteht und sie zu den Ekstatikern zählt, deren „höhere, elastischere Sensibilität des Nervensystems“ er als eine Form der Hysterie versteht (CS 237f.). Zur Darstellung Maria Magdalenas als Hysterikerin vgl. die Ausführungen zu Hollaenders Roman Magdalene Dornis, siehe unten, S. 183–187. 312 Eine weitere Parallele zu „Meinem Dämon“ liegt in der Vorstellung, dass Maria Magdalena sich nach der Abweisung durch Jesus sexuellen Ausschweifungen hingibt, die dem traditionellen Magdalenenstoff entstammt (siehe oben, S. 85). Vgl. JM, 70: „Und von da ab geschah es, daß die Teufel in sie fuhren und wirrten ihren Sinn, daß sie von dieser Zeit ärger lebte denn zuvor“; JM, 72: „Und es begab sich, daß sie eines Nachts [...] tanzte vor den Männern und des Rabbis vergaß in ihren Umarmungen.“

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

159

ihr selbst noch nicht bewusste „Sehnsucht nach dem Himmelreich“. Dieser Umwandlung entsprechend finden wir nun eine im Vergleich zur positiven Bewertung des „notwendigen Urgebotes“ im sechsten und siebten Kapitel der Erzählung deutlich veränderte Bewertung der von Mirjam in ihrem bisherigen Leben präferierten irdischen Liebe durch Jesus. Meine Tochter ist klug und weise vor ihren Jahren, denn Gott hat sie die irdische Liebe erkennen lassen. Wahrlich, ich sage dir, und du weißt es selbst, daß sie nicht Gottes, sondern des Teufels ist; denn sie begehret nicht, was göttlich, sondern was irdisch ist; sie begehret und recket sich mit trüber Brunst nach dem, was eitel ist, und vergehet gleich einem Rauch und hinterlässet Zwiespalt313 und Bitternis. Und siehe, fälschlich heißet man sie Liebe, denn sie ist nicht Gottes; alle Liebe aber ist von Gott, und Gott ist die Liebe. Möge meine Tochter von der irdischen Liebe in Frieden ruhen! (JM, 76f.)

Mirjam fragt darauf hin, ob „Gott es nicht so gesetzt, daß das Weib am Manne und der Mann am Weibe hange“.314 Jesus verweist erneut auf den Unterschied zwischen seiner Bestimmung und der Adams und erklärt Mirjam, dass im Himmelreich „nicht irdische Liebe regieret, sondern allein der endliche Wille des Vaters“ (JM, 79) und dass es bis zum Anbrechen dieses Reiches gelte, nicht „nach irdischer Liebe zu trachten, sondern allein der geistigen Liebe zu leben, mit der Gott die Menschen erlösen will“. Nachdem Jesus sich Mirjam als Gottes Sohn offenbart hat und sie erkennt, „daß er nicht teilhabe an irdischer Liebe“ (JM, 78), gestaltet Schlaf in biblischem Ton die Bekehrung der ehemaligen „Tänzerin und Sünderin“: Und sie sahe sein Angesicht leuchten als eines Engels Angesicht, und ihr Herz ward beklommen, und wieder erkannte sie den Herrn, und sein Friede begann sich auf sie zu senken und seine Entsagung, mit der auch Er entsaget, da er die vierzig Tage in der Wüste lebte, und die Teufel wichen von da an von ihr. (JM, 80)315

Im abschließenden zehnten Abschnitt der Erzählung finden wir Mirjam, die Schlaf hier explizit als „Jüngerin“ bezeichnet, dem Magdalenenstoff entsprechend als eine der Myrrhophoren und Zeugin der Kreuzigung. Auch ihre Rolle als apostola apostolorum findet sich bei Schlaf: 313

Schlafs Verwendung des Begriffs des Zwiespalts in „Jesus und Mirjam“ ist ambivalent: Während „des Einen mystische[r] Zwiespalt“, also die die All-Einheit prägende Polarität, positiv konnotiert ist, scheint hier der „sociale Zwiespalt“ gemeint zu sein. 314 Vgl. hierzu auch das von Schlaf im Text gestaltete Streitgespräch zur Ehescheidung zwischen Jesus und den Pharisäern (JM 44). 315 Auf den inneren Wandel Mirjams, der mit ihrer Heilung durch Jesus abschließt, deutet schon die Veränderung ihres Äußeren zu Beginn des Texts hin: so wechselt sie etwa, nachdem sie Jesus zum ersten Mal gesehen hat, nach einer Nacht in der Schenke des Selathiel ihre Kleider („vertauschte sie ihr Prunkkleid und ihren Tanzschmuck mit einem schlichten Gewande“; JM 20), bindet ihr Haar zusammen und verhüllt sich mit einem Schleier. In Christus und Sophie spezifiziert Schlaf die Heilungen, die Jesus vollbracht hat (CS, 239). Schlaf weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass „das reine christliche Prinzip“ ein „neues Rasse-, ja überhaupt Artproblem war“ und nennt als erstes Beispiel für die Heilung Maria Magdalena.

160

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

Und da sie also täglich bei ihm war, und sie mit ihm hinaufwanderte durch Galiläa und Samaria gen Jerusalem, lehrte er sie den Vater kennen und das Himmelreich; denn er liebte sie vor allen diesen Weibern um ihrer Klugheit willen. (JM, 81)

Die Bekehrung der Sünderin, die der irdischen Liebe entsagt und somit den Übergang von der „Hetäre zum ‚christlichen Weib‘“316 vollzieht, scheint in Schlafs Erzählung nicht nur dem Nachzeichnen des traditionellen Magdalenenstoffs geschuldet, sondern lässt sich auch auf das Evolutionsmodell des Autors beziehen. Schlaf geht davon aus, dass der Ausbildung einer neuen Elite, wie sie von Jesus als Elite-Individuum eingeleitet worden sei, notwendig eine Dekadenzphase vorausgehe.317 Solche Dekadenzphasen sind laut Schlaf u.a. durch eine abnorme Sexualität charakterisiert. Was Schlaf darunter versteht, wird in Scheidweilers Studie erläutert. Der Maßstab für sexuelle Normalität und für die Harmonie zwischen den Geschlechtern ist die Religiosität, wovon Sympathie und Liebe Aspekte sind. Dekadenzzeiten sind durch einen Mangel an Liebe, an Religiosität charakterisiert. So kennt z.B. die Jahrhundertwende einen unsinnigen Männlichkeitswahn, und der Sexualakt wird nach dem Lustgefühl gewertet. Sobald sich jedoch ein Phänomen aus der Harmonie des Ganzen herauslöst, ist die ‚religio‘, die Bindung an die All-Einheit, geschwächt. Das ist Abfall, das ist Dekadenz!318

Wendet man diese Konzeption, die Schlaf in Das absolute Individuum und die Vollendung der Religion entwickelt, auf Schlafs biblische Erzählung an, so kann Mirjam nicht nur ihres hedonistischen und luxuriösen Lebenswandels wegen als Vertreterin der Dekadenz gelten, sondern darüber hinaus wegen ihrer oben beschriebenen abnormen Sexualität und ihrer Fixierung auf Jesu Männlichkeit – sieht sie doch zunächst fälschlicherweise in Jesus „den Mann und Herrn, [...] den mächtige[n] Bändiger ihres suchenden Geschlechts“, der zum Objekt ihres „rasenden Begehrens“ wird. Demnach lässt sich die Bekehrung Mirjams als Überwindung der Dekadenz und der femme fatale und als Sieg des im Text von Jesus vertretenen Monismus und der „geistigen Liebe[...], mit der Gott die Menschen erlösen will“, interpretieren. Fazit Schlaf übernimmt in seiner biblischen Erzählung zahlreiche Elemente des traditionellen Magdalenenstoffs, wie z.B. die Vorstellung von Maria Magdalena als schöner und eitler Tänzerin und Kurtisane bzw. Hetäre, die Mitleid für Jesus empfindet, als Geliebter eines Römers und als Myrrhophore und apostola apostolorum. Auch die Besessenheit Magdalenas, die im Text als sexuelles Begehren konzipiert wird, und die Bekehrung von weltlicher zu geistiger Liebe stellt er dar. Wie in den bereits untersuch316

Uwe Kächler: Die Jesusgestalt in der Erzählprosa des deutschen Naturalismus, S. 156. Zum Zusammenhang von Dekadenzphasen und der Ausbildung einer neuen Elite in Schlafs Weltbild, vgl. Gaston Scheidweiler: Gestaltung und Überwindung der Dekadenz bei Johannes Schlaf, S. 42. 318 Ebd., S. 50 (Hervorhebung A.G.-T.). 317

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

161

ten Korpustexten lassen sich auch für „Jesus und Mirjam“, zahlreiche intermediale Bezugnahmen auf die bildende Kunst nachweisen, wenn etwa Mirjam in Anspielung auf die klassischen ikonografischen Merkmale der Heiligen Maria Magdalena als händeringende Weinende dargestellt wird, die sich Jesus in Proskynese unterwirft. 319 Auf bildkünstlerische Traditionen wird auch angespielt, wenn die Maria MagdalenaFigur, wie bei Benzmann, Dehmel und Hollaender, mit Venus bzw. Aphrodite verglichen bzw. in Bezug gesetzt wird. Schlaf übernimmt in seiner Erzählung eine Vielzahl an wörtlichen Zitaten aus dem Neuen Testament. Besonders deutlich wird dies im Kontext des Streitgesprächs über die Ehe und der Salbung Jesu im Hause Simons. Hier wird der biblische Prätext in großen Teilen wörtlich zitiert. In „Jesus und Mirjam“ finden sich auch intratextuelle Verweise auf das Streitgespräch, die Pfisters sechstem qualitativem Kriterium für die Intensität intertextueller Bezüge, nämlich dem der Dialogizität, zugeordnet werden können. Im neunten Kapitel der Erzählung, in dem die Bekehrung Mirjams thematisiert wird, bittet die von den Teufeln besessene, d.h. noch in ihrer Sündhaftigkeit befangene Mirjam Jesus darum, ihr zu zeigen, was die Liebe sei (JM, 77). Hier wird ein Bezug hergestellt zur Begegnung Jesu und Mirjams im Gebirge, in der die Maria MagdalenaFigur mehrmals versucht, Jesus zu verführen, und ihn auffordert, sie das Himmelreich erkennen zu lassen. Jesus erläutert Mirjam im neunten Kapitel, dass die Liebe darin bestehe, „dass wir entsagen und dulden um des Nächsten Willen, und dies ist die Seligkeit und das Himmelreich.“ Direkt auf das Streitgespräch im Hause Simons Bezug nehmend, erwidert Mirjam nun: „Meister, hat Gott es nicht also gesetzet, daß das Weib am Manne und der Mann am Weibe hange, und hast du nicht selbst dieses gesagt?“ (JM, 77). Mirjam bezieht sich hier also auf ein Zitat Jesu, das von weltlicher Liebe handelt, an der Jesus, wie im Rahmen der Begegnung im Gebirge deutlich geworden ist, als geistiger Adam keinen Anteil hat. Die Funktion der durch Mirjam zitierten Jesus-Worte liegt hier in der „dialogischen Relativierung“ dieser Worte und „de[r] ihnen zugrundeliegenden Normensysteme[ ]“,320 die im Fall der Begegnung im Gebirge die gedankliche Auseinandersetzung Jesu mit dem „notwendigen Urgebot[ ]“ der weltlichen Liebe ausgelöst haben. Mirjams Bezugnahme auf die Worte Jesu weist einen hohen Grad an Intertextualität auf, da der ursprüngliche und der neue Kontext, nämlich Mirjams Versuch, den Heiland zu verführen, in starker semantischer und ideologischer Spannung zueinander stehen.321 In Bezug auf Pfisters Kriterium der Strukturalität sind für „Jesus und Mirjam“ v.a. die Parallelen des Texts zur Figurenkonstellation des Hohelieds zu nennen, die die Konzeption von Mirjam und Jesus als Paar impliziert. Hierdurch wird wiederum meine These gestützt, dass die Maria Magdalena-Figur Mirjam als „weibliche Ergänzung“ 319

Vgl. hierzu auch die Ausführungen zu Maria Magdalena als „Maenad under the Cross“ in der bildenden Kunst (siehe oben S. 41). 320 Manfred Pfister: Intertextualität, S. 30. 321 Vgl. ebd., S. 29.

162

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

Jesu interpretiert werden kann. Schlaf bedient sich auch der expliziten typographischen Markierung von Intertextualität, wenn er die Jesus betreffenden Personalpronomina mit Majuskeln versieht, wie es im Falle der Erwähnung von nomina sacra in religiösen Texten gebräuchlich ist.322 Hier liegt also mit der Bezugnahme auf die Normen religiösen Sprachgebrauchs ein Fall von Systemreferenz vor, der den Charakter der biblischen Erzählung unterstreicht. In „Jesus und Mirjam“ kann das Übermächtigungsmotiv nachgewiesen werden, das ich in seiner positiven Variante – die Überwältigung durch weibliche Sinnlichkeit führt nicht zum Untergang des Mannes – als konstitutiv für die Maria Magdalena-Figur in der literarischen Lebensreform ansehe. Deutlich wird die Übermächtigung Jesu, wenn im Anschluss an seine Begegnung mit Mirjam im Gebirge seine Verunsicherung und potenzielle Verführbarkeit durch „das Weib“ Mirjam thematisiert werden und er im Rahmen seines zweiten unio-Erlebnisses das „notwendige[ ] Urgebot[ ]“ der geschlechtlichen Liebe erkennt. Die negative Variante des Übermächtigungsmotivs, das konstitutiv für den Typus der femme fatale ist, kommt in Mirjams Schilderung der sich ihr sklavisch unterwerfenden Liebhaber zum Ausdruck, die sie demütigt und deren finanziellen und gesundheitlichen Ruin sie verursacht. Im Gegensatz zu den bisher untersuchten Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der literarischen Lebensreform wird bei Schlaf die Maria Magdalena-Figur, zumindest solange sie noch als triebgeleitete Sünderin erscheint, durch die Darstellung als femme fatale negativ gewertet. Geläutert wird die „Tänzerin und Sünderin“ dem courtisane rachetée-Stoff entsprechend durch ihre Liebe zum ‚reinen Mann‘ Jesus. Die Bekehrung Mirjams gipfelt in der Absage an ihr sexuelles Verlangen („[...] und sein Frieden begann sich auf sie zu senken und seine Entsagung, mit der auch Er entsaget, [...]“); am Ende des Texts wird sie zur apostola apostolorum stilisiert. Somit stellt die Maria Magdalena-Figur Mirjam, ähnlich wie Dehmels ‚Venus‘, eine Synthese aus femme fatale und femme fragile bzw. aus ‚Hure‘ und ‚Heiliger‘ dar. In Schlafs Erzählung findet sich wie auch in den übrigen untersuchten Korpustexten die stark erotisierende Darstellung der Sünderin, die im Kontext der Sakralisierung des Sexus in der literarischen Lebensreform zu sehen ist. So gleicht etwa die Entrückung Mirjams beim Tanz einem Orgasmus, wobei die Emotionen der Tänzerin sich in der Musik widergespiegelt finden. Da zog sich ihr Oberleib mit einem plötzlichen Ruck nach hinten, während ihr Mund leicht geöffnet blieb und ihre Augen mit einem ekstatisch vergessenen Ausdruck entrückten Wonnetaumels mit dunklen Gluten sich ins Leere weiteten, ihre braunen Brüste sich blähten und ihr Brustkorb und der Unterleib in kurzen, stoßenden Bewegungen zu arbeiten begannen. Und wilder und wilder, vergessener ward die Musik, und mit ihr die Leidenschaft ihres Tanzes; und steigerte sich bis zur Raserei äußerster Wollust. [...] Nun aber verebbte die Musik allmählich, ab und zu sich wieder ein wenig belebend, noch einmal aufjauchzend; müde wurden Mirjams Bewegungen mit dem Rhythmus der Musik, 322

Vgl. hierzu auch die Ausführungen zu Dehmels „Venus Consolatrix“ in Kap. 6.3.4.

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

163

weicher die Biegungen ihrer Brust und ihres Leibes, und erstarben in linder Ohnmacht, während sie langsam gegen die Wand zu rhythmisch zurücktaumelte. (JM, 12f.)

Im Anschluss an die Heilung des Gichtbrüchigen stellt Schlaf in ähnlicher Weise die Autoerotik der Tänzerin dar, welche sich in ihrem „spezereienduftende[n] Gemach“ nach Jesus verzehrt, wobei das Motiv der Bisse hier auf die pervertierte Sexualität Mirjams hinweist.323 Im Fieber der Sehnsucht wühlte sie sich in die Polster. Ihr Blut raste nach ihm. Sie stöhnte, das glühende Gesicht in die Polster gedrückt; sie ächzte, weinte, breitete die Arme; wilde Küsse preßte sie auf ihren nackten Arm und biß mit den Zähnen in sein Fleisch. Und dann wieder lag sie, mit süßen Gliedern, holden Träumen hingegeben. (JM, 33)

Obwohl es sich bei Schlafs „biblische[r] Erzählung“ mit der Wahl des orientalischen Settings eigentlich um die historisierende Darstellung einer Maria Magdalena-Figur handelt, kann der Text insofern als aktualisierende Verarbeitung des Magdalenenstoffs gelten, als in ihm moderne weltanschauliche Entwürfe mit dem biblischen Stoff verknüpft werden. So ist es v.a. Schlafs eigene, durch seine Darwin- und Haeckel-lektüre324 beeinflusste Monismuskonzeption, die den Text prägt und die in seinen späteren weltanschaulichen Texten wiederholt aufgenommen wird.325 Besonders deutlich wird dies im Kontext der beiden unio-Erlebnisse Jesu. Auch Schlafs idiosynkratische Adam und Eva-Topik bzw. seine weltanschauliche Konzeption vom „Prinzip Christus“, in dem der Gekreuzigte zugleich als Vorbereitung wie auch als Vollendung des um 1900 ersehnten ‚neuen Menschen‘ fungiert, konnte für „Jesus und Mirjam“ anhand der Rolle Jesu als „geistiger Adam“ nachgewiesen werden. Wie gezeigt werden konnte, lassen sich als weitere zeittypische Wissensbestände im Text das für das Lebenspathos der Jahrhundertwende typische Blutmotiv sowie die biologistische und misogyne Konzeption der Frau als Verkörperung von Sinnlichkeit und Sünde nachweisen. Trotz der Darstellung Mirjams als aktiv Verführender, für deren Reize Jesus durchaus empfänglich ist, kann dieser Magdalenafigur nicht der Status einer erlösungsgewährenden Verführerin zugesprochen werden. Schlafs Übernahme der christlichen Konzeption von Jesus als Sühneopfer für die „Sünde Adams“ bzw. seine Rolle als Erlöser der Menschheit schließt die erfolgreiche Verführung Jesu durch „das Weib“ Mirjam aus. Dennoch erlaubt der Text eine Alternative zu der dem Magdalenenstoff entsprechenden Lesart, der zufolge Mirjam am Ende ‚vollkommen‘ bekehrt ist: Die starke Verunsicherung Jesu 323

Zum Motiv der Bisse vgl. die Ausführungen zu Rilkes „Pietà“ und Hollaenders Magdalene Dornis. Schlaf war bereits seit seiner Schulzeit mit den Schriften Darwins und Haeckels vertraut, u.a. durch seine Zugehörigkeit zum „Magdeburger Schülerklub ‚Bund der Lebendigen‘“, vgl. Dieter Kafitz: Johannes Schlaf, S. 8. 325 Vgl. hierzu die Einschätzung Schnittkas zu weltanschaulichen Gehalten in Schlafs schriftstellerischem Werk: „Auffallend ist, wie Schlaf bereits im [1896 erschienenen] ‚Frühling‘ grundsätzliche weltanschauliche Positionen auch lyrisch expliziert, die er erst viel später philosophisch, erkenntnistheoretisch ausarbeitet und zu begründen versucht.“ (Ingolf Schnittka: Der Nachlaß Johannes Schlaf, S. 31). 324

164

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

durch die Begegnung mit Mirjam, die die Umdeutung seiner Liebe zu Mitleid und des sexuellen Verlangens Mirjams in „Sehnsucht nach dem Himmelreich“ bewirkt, können als Wunsch Jesu nach einer modifizierten Paarbeziehung zu Mirjam interpretiert werden. Für diese Lesart spricht auch die Erwähnung der Rolle Mirjams als Lieblingsjüngerin, die auf die Erwähnung Marias von Magdala als „besonders geliebte Jüngerin“ im apokryphen Philippusevangelium zurückgeht („denn er liebte sie vor allen diesen Weibern um ihrer Klugheit willen“, JM 81).326 Darüber hinaus macht das Ende des Texts deutlich, dass die Liebe der Bekehrten immer noch auf Jesus fixiert ist und dass Mirjam, anders als die Maria Magdalena-Figur in Rilkes „Der Auferstandene“, sich noch immer „zum Geliebten neigt“: Und sie wußte, daß ihn der Tod ihn nicht behalten, und bereitete sich auf das Reich der Wiederkehr und das Ende der menschlichen Dinge mit der neuen Gemeinschaft zu Jerusalem; und glaubte und erkannte die Liebe, die über Zeit und Tod sich nach Gott recket und – Ihm; und wartete der letzten Dinge und Erfüllungen. . . .“ (JM, 82)327

Betrachtet man diese letzten Zeilen von Schlafs biblischer Erzählung vor dem Hintergrund seiner weltanschaulichen Entwürfe, so lässt sich die „neue[ ] Gemeinde zu Jerusalem“ hier nicht im anagogischen Sinne als Himmelreich deuten, sondern als Zustand, in dem die „menschliche Gattung alsdann durch das fortwirkende Prinzip Christus wirklich vollkommen fertig geworden ist“ bzw. in dem „der ‚Christus‘, d.h. das motorische Individuum, wenn es einst persönlich wieder da sein wird, durchaus seine patriarchalische zeugerische Funktion üben“ wird. Das Warten der „weibliche[n] Entsprechung Jesu“ auf die „letzten Dinge und Erfüllungen“ kann dieser Lesart entsprechend als sexuell motiviertes Warten Mirjams darauf, dass Jesus ihr zeige, „was das Himmelreich sei“, gedeutet werden. Eine, im Gegensatz zu Schlafs biblischer Erzählung, eindeutig als aktualisierend erkennbare Verarbeitung des Magdalenenstoffs stellt Felix Hollaenders Roman Magdalene Dornis dar. Auch hier wird auf den für die Literatur um 1900 dominanten Weiblichkeitstyp der femme fatale Bezug genommen, allerdings in einer im Vergleich zu Schlaf wesentlich differenzierteren Weise.

326

In Christus und Sophie mutmaßt Schlaf über das Verhältnis zwischen Maria Magdalena und Jesus und deutet dabei eine sexuelle Beziehung an: „Aber auch einige aus dem externen Kreis vermochten ihn [Jesus] zu verstehen und ‚wußten‘. Unter ihnen zum Beispiel Maria Magdalena; in einer Weise, daß man sich mit großer Sicherheit zu schließen getraut, er habe zu ihr in einem ganz besonders engen Verhältnis und Verkehr gestanden.“ (CS, 242) 327 Auffällig ist hier die Wiederholung des Lexems „recket“, das wir bereits in der Charakterisierung der irdischen Liebe durch Jesus finden („[...] sie begehret und recket sich mit trüber Brunst nach dem, was eitel ist, [...]“; JM 76f.).

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

165

6.3.7 Felix Hollaender: Magdalene Dornis. Ein moderner Roman (1896) Felix Hollaenders mehr als dreihundert Seiten umfassender Roman Magdalene Dornis stellt die wohl ungewöhnlichste Verarbeitung des Magdalenenstoffs in der Literatur um 1900 dar. Der Text entstand 1891 in Hollaenders Sommerfrische in Belzig, wo der Autor das „Milieu eines protestantischen Pfarrhauses kennenlernte“, und wurde von Zeitgenossen v.a. aufgrund der psychologisch überzeugend gestalteten Titelfigur gelobt.328 Ola Hansson bezeichnet Magdalene Dornis in einer Rezension aus dem Erscheinungsjahr als Beispiel für „eruptives Lebensgefühl, Vitalitätskraft [und] Jugend“, „die den jungen deutschen Dichtern im Gegensatz zu ihren Kollegen in Skandinavien und Frankreich gemeinsam“ seien.329 Die hier anklingende Zeittypik des Texts deutet sich bereits im Untertitel an, mit dem auch Hollaenders erster Roman, Jesus und Judas, versehen ist. Im Folgenden sei die Handlung von Magdalene Dornis in groben Zügen skizziert. Magdalene Dornis, Tochter einer ehemaligen „kleinen Sängerin“ und eines Postmeisters, zieht nach dem Tod ihrer Eltern von der Provinz nach Berlin. Hier versucht sie ihren Lebensunterhalt als Kinder- und Hausmädchen zu verdienen. Aufgrund ihres „angeborenen Trägheitssinn[s]“330 und wegen einer sich anbahnenden Affäre mit dem Sohn des Hauses scheitert dieser Plan allerdings. Bei einem nächtlichen Streifzug durch die Straßen Berlins beschließt Magdalene, getrieben von Hunger und Verzweiflung und dem Erfrieren nah, sich zu prostituieren, nachdem sie nicht den Mut gefunden hat, Selbstmord zu begehen. Sie fühlte sich zum Umsinken matt und merkte, wie die Kräfte sie verließen. Wenn jetzt einer käme und sie an sich riße – sie würde nicht mehr die Besinnung haben, ihm zu widerstehen – ihre Willenlosigkeit würde sie zur Dirne machen. (MD, 52)

Dass Magdalene keine gewöhnliche Prostituierte ist, erkennt auch ihr erster und einziger ‚Freier‘, der Offizier Gerhart von Renck, der eigentlich „seiner ganzen Naturanlage und aus den Gesetzen seines Ichs heraus Künstler“331 ist. Er nimmt die schöne junge Frau zwar mit zu sich, verzichtet aber, nachdem Magdalene ihm die Entstehung ihrer Notlage geschildert hat, auf den Beischlaf und lässt Magdalene bei sich wohnen, ohne Forderungen an sie zu stellen. Nach kurzer Zeit des Zusammenlebens gesteht

328

Rudolf R. Novak: „Felix Hollaender – vergessen und neu entdeckt“, in: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 19 (1978), S. 238–253, hier S. 245. 329 Ola Hansson: „Neue Bücher. I. Magdalena [sic!] Dornis von Felix Holländer [sic!]“, in: Freie Bühne 2 (1891), S. 1083–1086, hier S. 1084. 330 Felix Hollaender: Magdalene Dornis. Ein moderner Roman. 3. Aufl. Berlin 1896, S. 312 (im Folgenden unter Verwendung der Sigle „MD“ zitiert). 331 MD, 5.

166

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

Gerhart Magdalene seine Liebe und hält um ihre Hand an. Obwohl Magdalene Gerharts Gefühle nicht erwidert, nimmt sie seinen Antrag, nicht zuletzt aus Eitelkeit, an.332 So war sie seine Braut geworden: wußte im Grunde ihrer Seele selbst nicht wie. Unruhig pochte ihr Herz, und sie suchte sich darüber klar zu werden, ob sie fähig sei, seine heiße Liebe zu erwidern. Eins wußte sie; daß sie in warmer Neigung sich zu ihm hingezogen fühlte; und voll aufrichtiger Dankbarkeit dachte sie an all das Liebe, das er ihr seit jener schlimmen Nacht erwiesen, [...], ohne jemals Rechte geltend gemacht zu haben. Auch ihre Eitelkeit war angeregt: „Frau von Renck“ – wie vornehm das klang. (MD, 58)

Da Gerhart im Rahmen einer Expedition ein Jahr in Afrika verbringen muss, quartiert er seine Verlobte bei der Familie seines Bruders Arnold ein, der infolge seiner kirchenkritischen Schrift „Leocadie“ als Geistlicher in die Provinz versetzt worden ist. Diese Entscheidung Gerharts erweist sich bald als Fehler: Magdalene und Arnold beginnen eine Affäre. Nach mehreren Monaten beichtet Arnold seiner Frau Johanna den Ehebruch und Magdalene offenbart ihr, dass sie ein Kind von Arnold erwartet. Im Rahmen des Epilogs erfährt der Leser, dass der früher als erwartet zurückgekehrte Gerhart seinen Bruder und Magdalene, „gerade als sie davon schleichen wollten, bei Nacht und Nebel“ (MD, 315), ermordet hat und seither im Irrenhaus lebt. Nicht nur dort, sondern auch in der Berliner Kunstszene, ist er seitdem als „Pfaffen-Raphael“ bekannt. Er hat nur Pfaffen und immer nur Pfaffen gemalt – der Ärmste, Pfaffen mit Weibern buhlend. Und die Pfaffen und die Weiber trugen ewig und immer dieselbe Larve: die des Bruders und der Braut. Ein merkwürdiger Fall – übrigens – im Irrenhaus ist er zum Maler geworden. Genie und Wahnsinn! (MD, 316)333

Magdalenes Interesse an Arnold wird bereits zu Beginn des Romans deutlich, wenn sie dessen Fotographie betrachtet, die sie in Gerharts Wohnung findet. „Das ist ein Gesicht, das man nicht vergessen kann, wenn man es einmal gesehen, ein herrlicher Kopf – ja die Stirn haben Sie [Gerhart] auch – aber sonst ist er anders, ganz anders als Sie.“ […] „So etwas Adeliges, so etwas Männliches, Festes liegt auf seinen Zügen, man meint, der könnte nie und nimmer lügen.“ Und wieder sah sie mit einem eigenartigen Blick auf das Bild. (MD, 40)

Die körperliche Attraktivität Arnolds, der nicht nur seinem Bruder als „Ideal männlicher Kraft“ (MD, 7) gilt, wird im Kontext der ersten Begegnung mit seiner zukünftigen Schwägerin beschrieben, wobei seine Sinnlichkeit (lebhafte Lippen und

332

Die Maria Magdalena traditionell zugeschriebene Eitelkeit ist ein wichtiges Merkmal Magdalenes, vgl. hierzu MD, 54, 58, 130, 210. 333 Die Anspielung auf Lombrosos berühmte Schrift ist eines der vielen Beispiele für die intertextuelle Bezugnahmen auf zeitgenössische Wissenselemente in Magdalene Dornis.

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

167

334

Nasenflügel) und seine „muskulöse, kraftstrotzende Gestalt“ im Widerspruch zu seinem Priesteramt stehen. Und mit seinen großen, grauen und durchdringenden Augen, die unter einer schneeweißen, gleichmäßig gewölbten Stirn hervorstrahlten, blickte er sie [Magdalene] prüfend an. Diese in der Mitte bedeutsam hervortretende Stirn gehörte ihrer ganzen Form nach zu denjenigen, deren Träger selbständige Gedanken hervorzubringen pflegen. Wenn nicht ein leiser, frommer Zug um seine starken, roten und lebhaften Lippen sich geschmiegt hätte, man würde schwerlich seinen Stand erraten haben. Er hatte eine muskulöse kraftstrotzende Gestalt mit starken Hüften und breiten Schultern. […] Seine jäh vorspringende Adlernase, die fein gebogen war, und deren Flügel sich beständig zu bewegen schienen, seine großen, energisch geformten Ohrmuscheln und der wellige, dunkle Bart, der sein sonnengebräuntes Gesicht umrahmte, verliehen ihm das Aussehen eines gereiften, selbständigen Mannes, der sich seiner Würde, seiner Persönlichkeit bewußt ist. Aber nichts Hochfahrendes lag in seiner Erscheinung, ja aus seinen grauen, hellen Augen sprach unendliche Reinheit und unerschöpfliche Seelengüte. (MD, 79)

In dieser äußeren Charakterisierung Arnolds kommt seine Jesusähnlichkeit335 zum Ausdruck, die mehrmals im Roman thematisiert wird. Der Virilität Arnolds wird Gerharts „überschwängliche[s], in’s Krankhafte gesteigerte Empfinden“ (MD, 8) gegenübergestellt. So heißt es von dem jungen Offizier, der von seinen Kameraden nur „Hans der Träumer“336 genannt wird, dass er „wie ein Verzweifelter nach den Wurzeln seines Selbst“ (MD, 7) suche und in seinem künstlerischen Bestreben im „Kampfe zwischen Wollen und Können“ (MD, 6) aufgerieben werde. In Hollaenders Roman wird die Künstlerfigur Gerhart eindeutig weiblich konnotiert. So etwa in folgender Passage, in der Gerharts „wehmütige Stimmung“ im Hinblick auf seine nahende Abreise aus Deutschland mit weiblicher Sentimentalität verglichen wird. [...] Er war leicht einer Art von wehmütiger Stimmung zugänglich, jenem Gefühle, das bei sentimentalen Frauen heftige Leidenschaftsäußerungen hervorruft, bei empfindsamen Männern hingegen, zumal bei Künstlernaturen, stumme, unsichtbare Thränen erzeugt, die sie über das Gemeine und irdisch Niedrige hinwegtragen, in ihnen etwas Reineres, eine höhere Sinnlichkeit wecken. (MD, 14)

Die negative Bewertung des Weiblichen, dem hier die Fähigkeit zur Sublimierung der Wehmut abgesprochen wird, prägt den gesamten Roman. Gerhart selbst kommentiert

334

Vgl. zu diesem Zusammenhang und allgemein zur Bedeutung der Physiognomie in der Literatur des 19. Jahrhunderts Ralf Schneider: Grundriß zur kognitiven Theorie der Figurenkonzeption, S. 181f. 335 Vgl. hierzu neben der Beschreibung seiner äußeren Erscheinung, die eine gewisse Ähnlichkeit zu Schlafs Jesus-Figur aufweist (Adlernase, sonnengebräunte Haut, dunkler Bart), auch Gerharts Idealisierung des Bruders: „Sein phantastischer Sinn hatte des Bruders Gestalt über alles Irdische, Körperliche und Gemeine emporgehoben; für ihn war er ein lebendiges Ideal, dem er anhing in schwärmerischer Liebe. [...]“ (MD, 13). 336 Hollaender verweist hier auf die Selbstcharakterisierung des Protagonisten in Shakespeares Hamlet.

168

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

seine als unangemessen empfundene, ‚weibische‘ Emotionalität im ersten Brief an Magdalene, den er ihr von seiner Überfahrt nach Afrika sendet. Ich dachte an mein großes Glück, ich dachte an Dich, Magdalene, an das, was ich dir schulde. Sieh, ich werde weich, und ein bebendes Gefühl beherrscht mich, in dem meine Männlichkeit sich löst. Ich weiß, dem Manne steht das schlecht, mich aber drängt und treibt es, Geliebte, gerade jetzt, wo ich einer dunklen Zukunft entgegensteure, noch einmal meine ganze, grenzenlose Leidenschaft und Liebe zu gestehen. [...] (MD, 119) (Hervorhebung A.G.-T.)

Einen Hinweis auf seine Effeminiertheit finden wir auch in der äußeren Charakterisierung Gerharts, dessen Gesichtszüge „in ihren weichen, fast frauenhaften Linien einen merkwürdigen Eindruck hervorriefen“ (MD, 2), und in seinem Verhalten Magdalene gegenüber, für die er u.a. „halb unterwürfig, halb schamhaft“ „kleine[ ] Zofendienste“ (MD, 78) verrichtet. Der Vergleich mit seiner Mutter im Kontext der Schilderung des Verhältnisses des jungen Offiziers zu Frauen liefert einen weiteren Hinweis auf seine passive, weiblich konnotierte Haltung dem anderen Geschlecht gegenüber. Gerhart gehörte auch nicht zu jenen Naturen, die man sinnlich nennt; etwas Zurückhaltendes, Sprödes lag in seinem Wesen, das im Umgange mit den Frauen viel ungeschliffener und gröber zum Ausdruck kam, als im Verkehr mit den Kameraden. Sein Vater – das hatte er später erfahren – hatte noch als Ehemann den Schwerenöter gespielt, tolle Streiche gemacht, über die seine stolze Frau mit unnahbarerer Würde hinweggegangen war. Er aber schien in geschlechtlicher Hinsicht das Erbe der Mutter angetreten zu haben. (MD, 23f.)

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Magdalene im Roman über das Motiv des Zungenschnalzens, das dem Vater Gerharts und Arnolds „eigentümlich gewesen [sei] und das ihn nie verließ“ (MD, 28), mit diesem und seiner „Lebensfreudigkeit“ (MD, 27) parallelisiert wird.337 Hier deutet sich bereits die Umkehrung der Geschlechterrollen in Bezug auf Sinnlichkeit und Erotik an, die im Roman v.a. anhand der Figuren Gerhart und Magdalene deutlich wird. Auch Arnold spürt die durch Magdalene hervorgerufene ‚Auflösung‘ seiner Männlichkeit, genießt aber die Hingabe an seine Geliebte, die ihm auch in ihrer mütterlichen Rolle erscheint. Gleichzeitig erinnert in der folgenden Passage das Motiv der mit Tränen benetzten Hand Arnolds an die Salbungsszene im Hause Simons, bei der im traditionellen Magdalenenstoff die reuige Sünderin sich ihrem Heiland voller Scham nähert. 337

Das Zungenschnalzen wird von anderen Figuren als unangemessen empfunden. So heißt es etwa in Bezug auf das Empfangen des letzten Abendmahls auf dem Sterbebett vom Vater: „[...] – mitten in der heiligen Handlung hatte er plötzlich inne gehalten, mit verzweifelter Anstrengung die Zunge an den Gaumen gedrückt und zum starren Erstaunen und Entsetzen aller zu schnalzen begonnen.“ (MD, 28). Im Kontext des rein ästhetischen Interesses Magdalenes am Kirchgang heißt es: „[...] Aber ein ‚Ave Maria‘, sie schnalzte vor Behagen mit der Zunge, daß Gerhart zusammenfuhr, ein ‚Ave Maria‘ musst du hören, wie sie’s am Rheine singen“ (MD, 76) (Hervorhebung im Original).

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

169

Eine dunkle Röte schoß über ihr Antlitz, während sie ihm in leisen und zitternden Bewegungen kosend durch sein Haar fuhr und seine Hand mit ihren Thränen netzte. Er fühlte in diesem Augenblicke ihre ganze Macht, fühlte wie unter den Berührungen ihrer weichen Hände alles Männliche und Willensstarke sich in ihm löste, wie er im Innersten mit einer gewissen, prickelnden Scham sich auflehnte, ihr zum Spielzeug zu dienen, wie ihre mütterliche Art, mit der sie ihn zum Kinde stempelte, in seinem Selbstbewußtsein ihn herabdrückte, und er vermochte doch nicht diesem Entschluß sich zu entziehen, der auf der anderen Seite eine nie gekannte Wohligkeit in seinem Körper erzeugte. (MD, 301) (Hervorhebung A.G.-T.)

Bei aller Verschiedenheit haben die ungleichen Brüder Arnold und Gerhart eine Gemeinsamkeit: Beide bewundern Magdalenes Schönheit und sind fasziniert von ihrer Widersprüchlichkeit. So heißt es im Roman von der Wirkung Magdalenes auf Gerhart: Etwas Eigenartiges, Absonderliches lag in ihrer Erscheinung. Sie hatte merkwürdig fein geschwungene Augenbrauen und lange, zarte Wimpern, wie er [Gerhart] solche nie vorher gesehen zu haben meinte. Dabei schimmerte in ihren Augen ein seltsamer Glanz, der ihr etwas fieberhaft Erregtes gab. Ihre feinen Nasenflügel zitterten, und um den festgeschlossenen, etwas breiten Mund zuckte es verräterisch. In ihrem ärmlichen, grauen, fast verschlissenen Jäckchen, dessen Nähte hervorlugten, und der fast vornehmen Pelzmütze,338 die von ihrer ganzen Kleidung sonderbar abstach und etwas schief und unternehmend auf ihrem Kopfe ruhte, lag soviel Widerspruchsvolles, daß es ihm im Augenblick unmöglich schien, die Lösung dieses Rätsels zu finden. (MD, 19)

Das verräterische Zucken und die Pelzmütze, die „etwas schief und unternehmend auf ihrem Kopfe ruhte“, verweisen hier bereits auf Magdalenes aufflackernde Leidenschaft für den Pfarrherrn. Im Kontext von dessen erster Begegnung mit Magdalene wird betont, wie rätselhaft ihm die Braut seines Bruders erscheint. In dem Manne aber, der in ländlicher Einsamkeit in psychologischen Grübeleien schwelgte, war plötzlich ein Interesse an diesem Mädchen erwacht. Ihr Gebahren schien ihm widerspruchsvoller und eigenartiger als das derjenigen Frauen, denen er bisher in seinem Leben begegnet war. (MD, 84)

Das Rätselhafte der Maria Magdalena-Figur wird noch an zahlreichen weiteren Stellen des Romans betont. Besonders eindrücklich ist hier Gerharts Vergleich von Magdalene und Arnolds Frau Johanna, der zugleich als poetologischer Metakommentar verstanden werden kann. Und da fand er vor allem den grundlegenden Unterschied, daß Magdalene bis in die einzelnen Fäden ihres Seelengewebes verknüpfter was [sic!] als Johanna, die in ihrer etwas beschränkten Gutmütigkeit, ihrer haushälterischen Tüchtigkeit und ihren streberischen Lüsten, wie ein aufgeschlagenes Buch vor ihm lag. Ja – das gerade ist es, schloß er, was mich an sie fesselt – was mich treibt und schürt, daß sie widerspruchsvoll und entwickelungsreich, jeden und jeden Tag anders und anders ist. (MD, 117) (Hervorhebung A.G.-T.)

338

Die Pelzmütze ist hier im Kontext der Verknüpfung des Weiblichen mit dem Animalischen zu interpretieren. Vgl. hierzu S. 178, Anm. 366.

170

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

Johanna, die als Pfarrersfrau den Typus der braven Ehefrau und Mutter verkörpert, wird hier Magdalene als komplexer Charakter voller Widersprüche gegenübergestellt, der eine eindeutige Klassifikation dieser Frauenfigur in Bezug auf die dominanten Weiblichkeitsentwürfe in der Literatur um 1900, die femme fatale und die femme fragile, erschwert. „[...] sie zu malen als das Meer in der Zarte ihrer Gliedmaßen“339 Magdalenes Widersprüchlichkeit und ihr verführerisches Wesen werden im Roman eng an das Meeres- bzw. das Wassermotiv gekoppelt, so etwa in folgender Passage, in der Magdalenes Funktion als Muse Gerharts deutlich wird. Sie dünkte ihn wie das Meer so unerschöpflich und unergründlich, er konnte stundenlang stillschweigend malen, ein heimliches Entzücken in seiner Brust, wenn er sie in seiner Nähe wußte. Und jeden und jeden Tag erschien sie ihm neu – anders – ungeahnt: bald still und wellenlos, bald zitternd, bald aufschäumend und stürmisch bewegt. (MD, 55)

Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang Gerharts Vergleich der schlafenden Magdalene mit einem „Meerweib“, der mit einem intermedialen Verweis auf Arnold Böcklin verbunden wird.340 O wie herrlich sie dalag mit ihrem schlanken Körper, der von der Fülle ihres wallenden Haares umflossen war. Und ihre Züge mit den feinen Linien, dem leise geöffneten Mund! Wie ein Meerweib das aus der Tiefe emporgestiegen, wie ein in der Sonderart seiner Farben lebendig gewordenes Bild Meister Böcklins erschien sie dem Knieenden. Zarter Morgenröte gleich, durchsichtig und schimmernd ihre Haut, die so eigenartig von ihrem roten Haar sich abhob. (MD, 32)341

Der Vergleich mit dem Meer wird nicht nur von Gerhart geführt, der in einem seiner Briefe an Magdalene von deren „schillernden Meeraugen, so rätselhaft, so unaussprechlich, daß mich großen Gesellen ein Beben ergreift“, (MD, 184) schreibt. Auch im 339

MD, 56. Hollaender bezieht sich hier auf Böcklins Gemälde Meeresstille (1887). Diese Ansicht vertritt auch Heide Eilert, in deren Beschreibung des Gemäldes sich typische Elemente der femme fatale finden, wie sie auch Magdalene aufweist: „Böcklin hat die Stille des Meers auf diesem Gemälde in der Gestalt einer soeben vom Schlaf erwachten Nereide personifiziert. Diese liegt lässig neben drei Seemöwen hingestreckt auf einer aus dem Meer emporragenden Felsklippe. Ihr langes rotgelocktes Haar hebt sich effektvoll von dem blendenden Weiß ihres mächtigen Leibes ab, der in einen silberglänzenden Fischschwanz übergeht. Stumpf und ungerührt blickt die Seenymphe über ein im Wasser versinkendes, grünbleiches männliches Meerwesen hinweg, dessen Untertauchen nur von einer der drei Möwen entdeckt wird.“ (Heide Eilert: Das Kunstzitat in der erzählenden Dichtung. Studien zur Literatur um 1900. Stuttgart 1991, S. 51). Eilert, die Magdalene als eine „Art ‚Femme fatale‘ auf dem Lande“ bezeichnet, übersieht allerdings, dass es nicht der Pfarrherr Arnold, sondern Gerhart ist, der die schlafende Magdalene mit Böcklins Gemälde vergleicht (vgl. ebd., S. 52). 341 Magdalenes Rolle als Muse der Künstlerfigur Gerhart und ihre Idealisierung als „lebendig gewordenes Bild Meister Böcklins“ sind auch im Hinblick auf die Kunstreligion der Epoche und die Mortifizierung des Weiblichen im Kunstwerk zu sehen (vgl. Kap. 7.1.1). 340

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

171

Kontext der widersprüchlichen Emotionen Magdalenes ihrem Verlobten gegenüber findet sich das Meeresmotiv („in ihr wogte ein Meer von Empfindungen, die einander widerstritten und sich kreuzten“; MD, 93). Neben dem Meer ist es der Rhein, mit dem Magdalene, von der der Leser erfährt, dass ihr Heimatort nur zwei Stunden von Koblenz entfernt liegt, mehrfach in Verbindung gebracht wird. So berichtet sie Gerhart von einem naturreligiösen Erlebnis ihres Vaters, der wie Arnold den Typus des reinen Mannes verkörpert, in einer Grotte342 am Rhein. „[...] Und auf einmal liest mein Vater [...] die Worte: Gesegnet sei der Rhein. Und da drangen ihm plötzlich Tränen in die Augen, und während er mich zärtlich anblickte, sagte er leise: Gesegnet ist der Rhein. – Gerhart, das werd ich nie vergessen,“ schloß sie, „wie der Anblick einer großen Natur auf diesen Menschen, der so gut wie ein Engel und so weich wie ein Kind war, wirkte. (MD, 74)

Hier klingt die Identifikation Magdalenes mit dem Natürlichen, Elementaren und Ursprünglichen an, die im Roman von allen männlichen Figuren vorgenommen wird.343 Magdalene wird nicht nur das Element Wasser zugeordnet, sondern auch das Feuer, wenn der mit den Pfarrersleuten befreundete Kreisphysikus Lürsen seinen Wunsch äußert, Magdalene in „[d]ie Flamme“ umzubenennen (MD, 160). Gerhart redet sie in seinen Briefen als „meine Sonne, mein Frühling“ an (MD, 184) und auch Arnold nennt sie nicht nur„Seele“ und „Mutter“, sondern ebenso „Sonne“ und „Frühling“ (MD, 194). In Bezug auf Magdalenes Herkunft wird auch ein impliziter intertextueller Bezug zum Loreley-Stoff 344 hergestellt, indem im Rahmen einer der zahlreichen Beschreibungen von Magdalenes Haar wieder das Wassermotiv mit Magdalenes Rätselhaftigkeit in Bezug gesetzt wird.

342

Die Grotte lässt sich in Magdalene Dornis nicht nur als ein Element des Magdalenenstoffs deuten, sondern verweist hier in ihrer Funktion als Rückzugsort für Liebende auch auf ein inzestuöses Verhältnis zwischen Magdalene und ihrem Vater, das auch an weiteren Stellen des Romans angedeutet wird. Vgl. etwa MD, 43: „Mit einem Stolze, der beinahe einen feinen Beigeschmack von Liebhaber in sich trug, betrachtete er sein schönes Kind.“ Nach dem frühen Tod von Magdalenes Mutter heißt es von ihrem Witwer: „[...] sein Glück war von der Stunde an gebrochen, er hatte sein Weib und Magdalene wie ein einziges Ganzes vergöttert und geliebt; die beiden waren gleichsam für ihn ein Körper, den er nicht zu trennen wußte.“ (MD, 45). 343 Vgl. hierzu auch den intermedialen Verweis auf Richard Wagners Ring des Nibelungen, wenn Gerhart in einem seiner Briefe Magdalene als „Rheintöchterlein“ (MD, 120) anredet. 344 Zu Parallelen zwischen bildkünstlerischen Darstellungen Maria Magdalenas und der Loreley vgl. Rita Müllejans-Dickmanns Erläuterungen zu Carl Joseph Begas Gemälde Die Lureley (1835): „Der goldene Kamm, das kostbare Salbgefäß aus gefasstem Bernstein, der Handspiegel und die Perlenkette lassen sowohl Verbindungen zur ‚Luxuria‘, der Allegorie der Unkeuschheit und Wollust, als auch zur biblischen Symbolgestalt der Maria Magdalena erkennen.“ (Rita Müllejans-Dickmann: „‚und kämmt ihr goldenes Haar‘. Anatomie eines Frauenbildes“, in: Die Loreley. Ein Fels im Rhein. Ein deutscher Traum. Hrsg. v. Mario Kramp und Matthias Schmandt. Mainz a.R. 2004, S. 82–91, hier S. 83).

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

172 345

Dieses rotgoldene Haar übte auf seine [Gerharts] Sinne einen eigentümlichen Reiz aus und erzeugte in ihm jedesmal ein zitterndes Lustgefühl. Ja, sie ist ein Kind des Rheins, dachte er, und hat seine unergründliche Schöne und seine zauberische Macht. Und da schien ihm vieles an ihr klarer, und er glaubte das Seltsame, Lockende ihres Wesens besser zu verstehen. (MD, 77)

Magdalenes Ursprünglichkeit und Rätselhaftigkeit, die im Roman mit dem Meeresbzw. Wassermotiv verknüpft sind, wie auch ihre erotische Anziehungskraft lassen sie als Verkörperung des um 1900 allerorten beschworenen Lebens erscheinen.346 Besonders deutlich wird dies im Roman, wenn der Lebensdurst Magdalenes mit dem Bechermotiv347 verbunden wird. Leben – einmal leben nach Herzenslust – genießen – frei sein – aller Sorgen ledig – ohne Kümmernis um den kommenden Tag sich in den Strudel stürzen – und den Durst, den unauslöschlich [sic!] stillen – kühlen ihr junges Blut, trinken aus dem Becher der Lebensfreude . . . . sie fühlte sich rein und wusste, daß sie ihre heißen Sinne beherrschte, gleich einem Rosselenker, der mit starker Hand die feurigen Hengste zähmt. (MD, 48)

Der Vergleich von Magdalenes „heißen Sinne[n]“ mit „feurigen Hengste[n]“ weist an dieser Stelle bereits voraus auf das als männlich konnotierte Begehren, das sie im Laufe des Romans entwickelt.348 Magdalenes Funktion als Personifikation des Lebens und der Liebe wird im Roman besonders durch den als ihr Lebensmotto zu verstehenden Satz deutlich, den sie unter Arnolds Memoiren setzt, die dieser für seinen Sohn verfasst, und der zugleich die Programmatik des erotischen Monismus in der literarischen Lebensreform zum Ausdruck bringt: „Leben heißt lieben.“ (MD, 291). Aufgrund der Dominanz des das ‚Leben‘ symbolisierenden Wassermotivs in Magdalene Dornis ist es wenig verwunderlich, dass sich Magdalenes ‚wahres‘ Wesen an einem Ort mit dem sprechenden Namen Bornhof entwickeln wird, in Arnolds Pfarrhaus.349 Dass Magdalene jenen Typus der Frau verkörpert, „die nichts als Sexualwesen ist“350 und die zugleich bedrohlich wirkt, wird besonders deutlich, wenn der Kreisphysikus Lürsen als der einzige Außenstehende, der das Verhältnis zwischen Arnold und Magda345

Vgl. hierzu auch die Ausführungen zur Haarerotik in Magdalene Dornis, S. 185f. Zum Meer als Symbol des in der Literatur der Jahrhundertwende emphatisch beschworenen Lebens siehe unten, S. 230f. 347 Hollaender spielt hier offenbar indirekt auf Maria Magdalenas Salbgefäß an. 348 Hinzuweisen ist in diesem Kontext auch auf den Vergleich Magdalenes mit der Faundarstellung in Gerharts Wohnung, siehe unten, S. 174. 349 Vgl. zu Bornhof als schicksalhaftem Ort auch die analeptische Bezugnahme auf die erste Begegnung Magdalenes und Arnolds im zwölften Kapitel des Romans: „Und dann war sie in das Pfarrhaus gekommen, und hatte es schon in dem Augenblicke, wo sie Arnold am Bahnperron gesehen, mit grauenhafter Bestimmtheit gewußt, daß in seinem Hause ihr Verhängnis sich erfüllen würde.“ (MD, 204) 350 Willi Flemming: „Felix Hollaender und sein Werk“, in: Felix Hollaender: Gesammelte Werke. Bd. 6. Die autobiographischen Romane: Das letzte Glück. Traum und Tag. Unser Haus. Rostock 1926, S. 543–584, hier S. 563. 346

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

173

lene richtig einzuschätzen vermag, Magdalene vor den Konsequenzen ihrer Beziehung zu Arnold warnen will. [...] – – es gibt Frauen, die jedem, mit dem sie in Berührung kommen, gefährlich werden – und es sind das Weiber – das lässt sich schwer definieren, [...] Weiber, die im eigentlichen Sinne ihr Geschlecht verkörpern – sozusagen den Extrakt, die Potenz in sich bergen – die Anderen sind im Grunde degeneriert. (MD, 279) (Hervorhebung A.G.-T.)

Das naturwissenschaftliche Vokabular, mit dem Magdalene hier zum Extrakt des ‚Weibes‘ stilisiert wird351, liefert ein eindrucksvolles Beispiel für den biologistischen Blick auf die Frau in der Literatur der Jahrhundertwende. Hollaender schildert in seinem Roman die Entwicklung seiner Protagonistin, die sich noch als Jungfrau aus Verzweiflung prostituieren will, bis zu dem Zeitpunkt, in dem in ihr „das Weib erwachte“ (MD, 166). Diese Entwicklung Magdalenes, bei der ihr sowohl Eigenschaften der femme fragile als auch der femme fatale zuerkannt werden, soll im Folgenden nachgezeichnet werden. „Magdalene Dornis, jene[r] Zwitter von naiver Verdorbenheit und Jungfräulichkeit“352 Die Maria Magdalena-Figur Magdalene vollzieht im Roman, im Gegensatz zu Schlafs Erzählung, einen Wandel vom Typus der femme fragile hin zum Typus des absoluten Weibes, d.h. der wesenhaft sexuellen und instinktgeleiteten ‚natürlichen‘ Frau, die bei Hollaender zugleich einzelne Züge der femme fatale trägt. Bei ihrer ersten Begegnung mit Gerhart weist Magdalene die typischen äußeren Merkmale der ätherischen femme fragile auf. So wird sie etwa als „zitternd vor Kälte“ und „bleich vor Hunger“ (MD, 19) beschrieben, ihr abgemagerter Körper wirkt zerbrechlich. Es dünkte ihn [Gerhart] aber, als ob er mühelos mit seinen Händen ihre überschlanke Gestalt umfassen könnte. Nun reichte er ihr vorsichtig den Arm, als fürchtete er, ihr wehe zu thun und führte sie zu dem schwarzledernen Sofa. (MD, 20)

Auch das für die femme fragile konstitutive Moment der Jungfräulichkeit bzw. Asexualität lässt sich zu Beginn des Romans für die Figur der Magdalene nachweisen.353 Bei Hollaender äußert sich diese in Form der Angst vor dem Sexuellen. So erscheint Magdalene gegenüber ihren potenziellen Freiern in der Rolle des Opfers, wenn analeptisch auf die Nacht, in der sie Gerhart begegnet ist, Bezug genommen wird: 351

Bereits zu Beginn des Romans wird Magdalene ein „sexueller Magnetismus“ (MD, 53) ‚attestiert‘. Von ihr geht also eine naturgesetzlich wirkende Anziehungskraft aus, derer sich die Männer nicht erwehren können. 352 So wird Magdalene in einer Rezension zu Hollaenders Roman in der Tageszeitung Berliner Neueste Nachrichten bezeichnet. Ein Auszug aus der nicht datierten Rezension findet sich in den unpaginierten Pressestimmen zu Hollaenders Romanen, die der Ausgabe seines Magdalenenromans von 1896 angehängt sind. 353 Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass auch Gerhart sexuell unerfahren ist. So kann er nicht mitreden, wenn seine Kameraden von ihren sexuellen Erfahrungen und der darauf basierenden Erkenntnis sprechen, dass „das vom Anstande und der Gesittung der Weiber [...] eine längst überwundene Fabel“ sei (MD, 24).

174

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

„Und bald kam sie sich wie ein gehetztes Wild vor, und wußte nicht wohin vor ihren Treibern, die alle dieselbe Larve trugen, denselben, niedrigen Blick.“ (MD, 51).354 Magdalenes Aversion gegen diesen männlichen Blick kommt in einem Gespräch mit Gerhart zum Ausdruck, das die ungewöhnliche Kombination zweier Kunstwerke in seiner Wohnung zum Anlass hat, nämlich einen „Faun, der mit einem niederträchtig lüsternen Gesichtsausdrucke auf die Venus von Milo hinschielte“ (MD, 26). Dem begehrenden Blick des Fauns wird hier das Porträt des reinen Mannes Arnold gegenüber gestellt. „Wissen Sie“, sagte sie [Magdalene] nach einer kleinen Pause, „daß ich diesen Blick kenne, und daß ich ihn“, fuhr sie schaudernd fort, „nicht einmal – nein hundertmal gesehen habe?“ [...] „[...] – Es ist derselbe Blick, vielleicht nicht ganz so, aber sprechend ähnlich, mit dem die Männer“ sie blickte ihm fest ins Gesicht – „einen anstarren, ich möchte beinahe sagen ...abschätzen.“ Sie stockte. Dann bebend: „Dieser niederträchtige gemeine Blick, der einen als Waare [sic!] behandelt – der – Herr Gott – das lässt sich gar nicht ausdrücken – das ist so –“ sie brach plötzlich ab und kreuzte blaß und verlegen die Hände und schielte mit gespannter Miene nach dem Rahmen auf dem Divan. „Und wer ist das?“, fragte sie leise und reichte ihm das Bild. [...] „Es ist mein Bruder – mein einziger Bruder.“ (MD, 39f.)

Die Parallelisierung des Fauns mit Magdalene über das Motiv des Schielens deutet hier schon voraus auf die Wandlung der Protagonistin zu einem elementar sexuellen Wesen und ihr späteres Verhalten Arnold gegenüber. Sie selbst eignet sich im Verlaufe des Romans im Zuge ihres Wandels zum Vollweib den ‚männlich‘ begehrenden Blick an, den sie Gerhart gegenüber kritisiert (siehe unten, S. 179f.). Schon in Lürsens Zuordnung Magdalenes zu jenen „Frauen, die jedem, mit dem sie in Berührung kommen, gefährlich werden“ deutet sich ihre Rolle als femme fatale an, die sie zum Ende des Romans mehr und mehr erfüllt. Die Gefahr, die von der schönen Frau Magdalene auszugehen scheint, kommt bereits in ihrem sprechenden Nachnamen zum Ausdruck, der auf ihre Herkunft aus Dorn, einem Ort in der Nähe von Koblenz, hinweisen könnte und somit einen weiteren Verweis auf den Loreley-Stoff darstellen würde (siehe oben, S. 171f.). Möglicherweise stellt Hollaender mit Vor- und Nachnamen seiner Protagonistin auch einen intertextuellen Verweis auf Richard Voß‘ Trauerspiel Magda (1879) her.355 Hier beklagt der Maler Richard, dessen Liebe von der 354

Vgl. hierzu auch die Charakterisierung der Liebhaber Mirjams bei Schlaf: „Aber blöde, tote Larven waren sie alle, deren Berührung beschmutzte und fraß wie Krankheit; von nichts beseelt als von der Begier nach ihrem Leibe.“ (JM, 35). 355 Interessant im Hinblick auf diesen möglichen intertextuellen Verweis ist Sprengels Charakterisierung Voß‘ „als Vorläufer der Naturalisten wie auch als abschreckendes Beispiel für Exaltiertheit und Stilunsicherheit gründerzeitlicher Literatur“ (Peter Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870–1900, S. 448). Trotz des Titels stellt Voß‘ Drama keine Verarbeitung des Magdalenenstoffs dar. Magda fungiert hier als reine Jungfrau, deren Liebe dem Sünder Eduard als

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

175

weiblichen Titelfigur nicht erwidert wird, den vermeintlichen Konnex von weiblicher Schönheit mit dem von der Frau verursachten Schmerz in Hinblick auf Magdas Haarschmuck: „Und wenn du’s begreifen willst, alte Mutter, dann pflücke dir eine von Magda‘s Rosen und sieh‘ sie dir an – Blüthen und Dornen“.356 In Hinblick auf Hollaenders Roman sei in Bezug auf die Gefahr, die von Magdalenes Sinnlichkeit ausgeht, auch an Lürsens Wunsch erinnert, sie in „die Flamme“ umzubenennen (MD, 160). Die Feuermotivik wird an anderer Stelle im Kontext von Lürsens Warnung zur Vorausdeutung auf den tödlichen Ausgang der Affäre für Magdalene genutzt: „Wissen Sie auch, Magdalene, daß sie wie ein Kind mit dem Feuer gespielt haben, und daß das Feuer Sie verbrennen wird. [...]“ (MD, 276). Gleichzeitig wird hier auf den Brandunfall von Arnolds Sohn Erich angespielt, dessen starke und von ihm nicht zu begründende Antipathie Magdalene gegenüber mehrfach erwähnt wird. Der kleine Junge zieht sich bei dem Versuch, die Lampe im Schlafzimmer seiner Eltern zu löschen, lebensbedrohliche Verbrennungen zu (MD, 224–231). Zu einem früheren Zeitpunkt der Handlung wird, kurz bevor Arnold das Ehebett verlässt, um sich im Schutze der Nacht mit Magdalene zu treffen, eine Kerze im Schlafzimmer von Erichs Eltern anhand der blauen und der roten Komponente der Flamme mit Magdalene (blaue Augen, rotes Haar) parallelisiert und somit erneut auf die von Magdalene ausgehende Gefahr angespielt: Er [Arnold] blickte in die brennende Kerze, die er auf den Waschtisch gestellt hatte. Aufmerksam betrachtete er die Flamme, die in zwei Teile ihm zerschnitten schien: nach der Spitze zu von kupferrotem Ton, nach unten von matter bläulicher Färbung. „Magdalene!“, flüsterte er traumverloren. (MD, 191f.)357

Besonders Gerhart gegenüber erscheint Magdalene im Roman als gefährliches, potenziell übermächtiges und grausames Weib. So sinniert sie, nachdem sie die Affäre mit Arnold begonnen hat, über die Konsequenzen, die eine Ehe mit Gerhart gehabt hätte. Mittel zur Entsühnung dienen soll. So stellt sie auch der Maler Richard, dessen Modell und Muse sie ist, u.a. als Tannhäusers Elisabeth dar. 356 Richard Voß: Magda. Zürich 1879, S. 47. Voß stellt in seinem Drama einen expliziten intertextuellen Bezug zu Viktor von Scheffels Versepos Der Trompeter von Säckingen (1853) her, aus dem Richard folgende Zeilen zitiert: „Das ist im Leben häßlich eingerichtet, Daß bei den Rosen gleich die Dornen stehn, Und was das arme Herz auch sehnt und dichtet, Zum Schlusse kommt das Voneinandergehn.“ (ebd.). Vgl. im Kontext von Hollaenders Verarbeitung des Magdalenenstoffs hier auch die Anspielung auf die Dornenkrone Jesu. 357 Interessant ist, dass Magdalene hier an die Stelle Jesu tritt, der im christlichen Glauben durch die brennende Kerze symbolisiert wird. Vgl. hierzu auch MD, 298: „Und da stand Magdalenes Bild vor ihm. Er hatte seinen Gott zertrümmert, er hatte selber sein Haus sich unterwühlt und gleichsam aus den Fugen gehoben. Nun wohl, er hatte seinen neuen Gott gefunden – er mußte sich ein neues Haus bauen. An Magdalenes Schicksal war das seine gekettet – nimmer konnte er von ihr lassen.“ Im Hinblick auf die Apotheose Magdalenes, die in Arnolds Kerzen-Vergleich zum Ausdruck kommt, ist Lennartz‘ Hinweis auf die theologische Farbsymbolik im Kontext seiner Bildbeschreibung eines Maria Magdalena-Gemäldes von El Greco aufschlussreich, dem zufolge „rot für die Liebesglut und blau für die Transzendenz“ stehe (Norbert Lennartz: „My unwasht Muse“, S. 114).

176

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

In der Ehe mit ihm würde ihre ganze Herrschsucht, ihre wilde, begehrende Natur zu üppiger Entfaltung gelangt sein, und je unbefriedigter sie sich gefühlt hätte, umsomehr würde sie ihn gequält und zerrieben haben. [...] Und dann, in gewissem Sinne wiederum erregte es ihr Wollust, und sie vermochte dieses Vorstellungsnetz Masche für Masche gleichsam sich aufzuknüpfen, wie sie sich an Gerhart für ihr unglückseliges Leben gerächt haben würde. [...] Wie sie ihn tagaus – tagein mit tausend Nadelstichen gepeinigt und bis zur Verzweiflung gefoltert haben würde. Er hätte die Rolle eines Sklaven gespielt, den sie mit Fußtritten erniedrigt hätte, und der trotz alledem, von seiner Leidenschaft verzehrt, nicht von ihrer Seite gewichen wäre. (MD, 206)358

Wir finden hier, ähnlich wie in „Jesus und Mirjam“, die für den Typus der femme fatale konstitutiven Elemente der Lust an Qual und Erniedrigung des Mannes, die Vorstellung von der Frau als Rächerin und das Unvermögen des mit einem Sklaven gleichgesetzten Mannes, sich trotz der Grausamkeit der Frau von dieser zu lösen. Wie bei Schlaf ist auch in Hollaenders Roman die Rolle der Frau als femme fatale an einen bestimmten korrespondierenden Typ von Männlichkeit gebunden, nämlich jenen, dessen Liebe sie nicht erwidert und der ihr nicht den „Herrn und Stiller“ (JM, 35) bieten kann.359 In beiden Texten gilt die echte Liebe der Frauenfiguren, die Züge der femme fatale tragen, dem Typus des reinen Mannes, der zugleich körperlich attraktiv ist. Damit verbunden ist eine ins Transzendente übersteigerte Stilisierung des Partners, die ihn in der Position des der Frau überlegenen Mannes erscheinen lässt. So überrascht es auch wenig, dass Arnold, wie bereits erwähnt, in Magdalene Dornis Züge Jesu trägt.360 Wie in „Jesus und Mirjam“ ist auch bei Hollaenders Maria Magdalena-Figur das Interesse an dem „priesterlichen Manne“ primär sexuell motiviert. Zitiert sei hier eine Passage, in der in Form der inneren transponierten Rede Magdalenes Gedanken zu Arnolds Ausführungen über „schonungslose Selbstkritik“ und den „sittlichen Menschen“ wiedergegeben werden – der Ehebruch hat hier noch nicht stattgefunden. Mit ihrem feinen Ohre glaubte sie aus dem Tone, in welchem er sprach, eine sinnliche Färbung heraus zu hören, die ihr, dem Weibe galt, während der Inhalt seiner Rede sie abstieß. Sie fühlte, daß er an eine eherne Moral gefesselt war, die ihn über das Irdische gewissermaßen emporhob und eine unübersteigliche Kluft zog zwischen dem begehrenden Weibe und dem priesterlichen Manne, der an so ernste, strenge Grundsätze gebunden war. (MD, 142)

358

Dass die Grausamkeit gegenüber dem schwachen Manne nicht nur imaginiert ist, wird an mehreren Stellen des Texts deutlich, so etwa zu Beginn des Romans, wenn Gerhart als Vertreter des (körperlich) starken Geschlechts Magdalene als „das Weib, das ihn in allen Fasern beherrschte“ gegenübergestellt wird: „Dieser hochgewachsene Bursche, strotzend von gesunder Kraft, empfand in diesem Augenblicke Furcht und Angst vor der schlanken Mädchengestalt, die an den Thürpfosten lehnte, und in deren Mienen plötzlich ein beinahe harter Ausdruck sich prägte – ein Ausdruck des Triumphes, den sie – das Weib, errungen; aber auch ein Ausdruck der Verachtung über die Schwäche des Mannes.“ (MD, 65f.) 359 Vgl. ebd. 206: „Denn sie wußte, daß sie die Frau war, fähig, das ganze Leben eines ungeliebten Mannes in grausamem Triebe zu vernichten.“ 360 Siehe oben, S. 167.

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

177

Dass sich zwischen Magdalene und Arnold trotz der vermeintlich „unübersteigliche[n] Kluft“ ein Liebesverhältnis entwickelt, ist nicht zuletzt dem Verlust von Arnolds Frömmigkeit geschuldet, der durch die Begegnung mit Magdalene ausgelöst wird. Deutlich wird dies, wenn der Pfarrherr seine frühere Selbsttäuschung thematisiert. Sieh, mein ganzer Stolz und meine selbstsichere Tugend ist zerbrochen. Ich hatte Halt und Stütze an der Lüge, und nun, wo ich in mich selbst geblickt, bin ich entwurzelt, wie aus den Fugen gehoben. Meine ganze Ehrbarkeit, meine ganze Welt- und Sittenanschauung, in vielen Jahren errungen, zerstieb wie Spreu in dem Augenblick, da ich Dich, Magdalene, sah, [...]361 (MD, 199) (Hervorhebung A.G.-T.)

Magdalenes sittenzerstörendes Potenzial362 wird im Roman von Arnold positiv bewertet.363 Dies steht in deutlichem Kontrast zur negativen Wertung der femme fatale, die den Mann aus seiner „bürgerliche[n] Saturiertheit“ löst.364 Besonders fasziniert ist Arnold von der Vermischung von Geistigem und Körperlichem, die er in seiner Geliebten und ‚Erweckerin‘ sieht. Diese Konzeption der Maria Magdalena-Figur steht im Gegensatz zum christlichen Leib-Seele-Dualismus und erinnert

361

Vgl. auch MD, 204: „Denn er selber hatte es ihr ja gestanden, daß er wie in einer Nacht hingewandelt war, und daß sie ihn erst geweckt und zum Bewußtsein dessen, was Leben und Glück bedeutete, geführt hatte.“ 362 Vgl. hierzu Soergels Einschätzung zu Hollaenders „naturalistische[m] Liebesroman“, den er charakterisiert als „das Porträt einer Frau, die nur Geschlechtswesen ist, die in ein Pfarrhaus die sinnliche Leidenschaft bringt, vor der auch alle Selbstzucht nicht bewahrt; stärker als alle Gewissensangst bringt sie alle Stimmen der Pflicht, der Ehre und Treue zum Schweigen und macht den sanften friedlichen Pfarrer zum Ehebrecher.” (Albert Soergel: Dichtung und Dichter der Zeit, S. 237) (Hervorhebung A.G.-T.). Soergel vernachlässigt hier die positive Wertung der Maria Magdalena-Figur, die den Pfarrherrn aus seinem ‚alten Glauben‘ löst. Im Kontext der Konzeption Magdalenes als Zerstörerin von Arnolds christlicher Weltanschauung und Moral sind ihr Unvermögen zu beten bzw. ihre mangelnde Gläubigkeit (MD, 76; 99f.; 173) sowie ihre Aversion gegen Jesus-Darstellungen im Pfarrhaus (MD, 111) zu erwähnen. Aufschlussreich ist hier auch ihre Freude darüber, dass Arnold in seinem Grübeln über die verführerische Braut seines Bruders die täglich abgehaltene Abendandacht vergisst (MD, 161). 363 Vgl. hierzu folgende Einschätzung Karin Tebbens zur Beziehung zwischen Magdalene und Arnold, „der die geordnete Welt des Gottesmannes umfassend zum Opfer fällt, seine Familie, seine Werte, sein Glaube. Indessen: nicht er selbst. In dem Maße, wie die Leidenschaft seine Verankerung in der äußeren Lebenswelt zerstört, stärkt sie das Individuum. Um den Preis der Vernichtung (die allerdings durch Gerharts Eifersuchtsmord herbeigeführt wird) findet eine Entwicklung des Individuums statt, die über den engen Rahmen gottesfürchtiger und gesellschaftskonformer Denkweise hinausgeht.“ (Karin Tebben: Von der Unsterblichkeit des Eros und den Wirklichkeiten der Liebe. Geschlechterbeziehungen – Realismus– Erzählkunst. Heidelberg 2011, S. 240f.). 364 „Die Hoffnung auf Glück, das dieser Figur stets anhaftende utopische Moment, erscheint jedoch aufs engste verbunden mit der Angst vor (männlicher) Selbstaufgabe, einem Verzicht auf bürgerliche Saturiertheit und eine Identität, deren Zwänge auch Halt und Stütze sein können. Die Femme fatale markiert das Andere der Vernunft und bleibt doch dem patriarchalischen Diskurs verhaftet.“ (Carola Hilmes: Die Femme fatale, S. XIII).

178

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

an Schlafs Bezugnahme auf seine eigene, von Haeckel geprägte Monismuskonzeption in „Jesus und Mirjam“: Ein Seelisches und Sinnliches glaubte er in ihrem Wesen, ohne daß er das Eine von dem Anderen zu trennen wußte. Denn gerade in ihrem Vermögen, das Körperliche mit dem Geistigen und das Geistige mit dem Körperlichen zu durchsetzen, sah er ihre Wunderkraft. (MD, 298).

Neben dieser Wunderkraft ist es v.a. der Magdalene zugeschriebene weibliche Instinkt, der wiederholt im Roman thematisiert wird und ihre Darstellung als sittenzerstörendes Elementarweib erklärt. So heißt es etwa in Bezug auf den Ehebruch und das Verhältnis zwischen Arnolds Ehefrau und Magdalene, dass diese mit „Frau Johanna [...] nicht aus irgend welch bewußter Absicht, sondern aus dem Instinkte ihrer Frauennatur heraus ein so niederträchtiges Spiel trieb [...]“ (MD, 134).365 Die biologistische und deterministische Konzeption der Frau als eines instinkt- und triebgeleiteten Wesens wird in Magdalene Dornis mit der Identifikation von Weiblichkeit und Animalität366 verbunden. So beobachtet Johanna, wie Magdalene sich auf Bornhof den Schnabel des Kanarienvogels in den Mund steckt und an ihren Zähnen wetzt oder ihren Umgang mit drei Kätzchen, „die Magdalene in ihrem Schoße barg und abwechselnd eines nach dem anderen koste und küßte, daß ihr, der Frau Pfarrerin, ganz widerlich dabei zu Mute wurde“ (MD, 171). Die Identifikation von weiblicher Sexualität und Animalität, die im letzten Beispiel durch die Nähe der Tiere zum Schoß der Frau367 überdeutlich wird, wird im Roman mit dem Typus der femme fatale in Bezug gesetzt. Aufschlussreich ist hier eine Passage, in der Magdalene das Spiel einer Katze mit einer halbtoten Maus beobachtet und dabei ihren inneren Wandel zu verstehen beginnt. Denn in diesem Kampfe glaubte sie sich selbst zu sehen und unversehens all ihres rätselhaften Thuns Lösung gefunden zu haben. Ja, auch in ihr wohnte eine tolle Grausamkeit, auch ihr war es Lebensbedürfnis, da wo sie schrankenlos liebte, dieses Spiel zu treiben, das ihre Wut steigerte und gerade in diesem erregten Auf und Nieder ihrer Liebe einen Stachel gab, das sie bis in’s Ungemessene reizte und für all die Leiden entschädigte, die sie in den letzten Wochen durchgemacht hatte. (MD, 174)

Es nimmt somit auch nicht Wunder, dass Magdalene im Kampf der Geschlechter, trotz ihrer ‚wahren‘ Liebe zu Arnold, aufgrund ihres „raubtierartige[n] Verlangen[s]“ (MD, 204) auch ihm gegenüber einzelne Züge der femme fatale trägt. Deutlich wird dies in 365

Magdalenes weiblicher Instinkt wird an zahlreichen Stellen des Texts explizit thematisiert. So erkennt Magdalene etwa „instinktiv Gerharts Hörigkeit unter ihre Reize“ (MD, 57) und misstraut Lürsen „instinktmäßig“ (MD, 167). 366 Vgl. hierzu auch Magdalenes schief sitzende Pelzmütze, die zu Beginn des Romans erwähnt wird. Zur Identifikation der Frau mit grausamer Animalität in der Literatur der Jahrhundertwende über das Motiv des Pelzes vgl. exemplarisch Leopold von Sacher-Masochs Venus im Pelz. 367 Magdalene trägt die Katzen später in ihrer Schürze aus dem Zimmer (MD, 171). Zur Frauenschürze als „[b]erühmtes Symbol für die verdeckte V[agina]“ vgl. Stephanie Catani: „Vagina“, in: Metzler Lexikon literarischer Symbole, S. 400–401, hier S. 400.

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

179

einer Szene, in der Arnold zum ersten Mal Magdalenes Begehren erkennt. Neben Elementen des Magdalenenstoffs (Mitleid, Tränen) finden wir hier wieder das Blutmotiv, das Magdalene als Verkörperung des ‚Lebens‘ erscheinen lässt und zugleich die Ambiguität der Figur illustriert, die zwischen femme fragile und femme fatale changiert.368 Das Blutmotiv erscheint zum Einen in Form der Schamesröte im Text, zum Anderen fungiert es als Indikator ihrer sexuellen Erregung. Nun suchte sie ihren Blick, mit denen [sic!] sie all die Tage ihn umwoben und umworben, in ihn hineinzubohren. […] „D…d…d…w…w… was thust Du?“ stotterte er fassungslos. Sie wurde blutrot, als sie seine hilflose Haltung sah, und ein unsägliches Mitleid, das ihr fast die Thränen in die Augen trieb, und eine grausame Lust, in der sie fühlte, wie das Blut ihr wogte, ihr junges, lebendiges Blut, packten sie. (MD, 153) (Hervorhebung A.G.-T.)

Die Komplexität der Maria Magdalena-Figur, die hier als Überblendung von schamhaftem Mädchen und grausamer Liebender erscheint, wird in Hollaenders Roman noch durch einen weiteren Aspekt gesteigert, nämlich ihre Darstellung als courtisane rachetée, die sich trotz ihrer Sündhaftigkeit durch die Liebe zum reinen Mann, dem Pfarrherrn Arnold, geläutert fühlt. Dass diese Läuterung Magdalenes aber nur scheinbar eingetreten ist, wird durch die karikierende Darstellung ihrer vermeintlichen Frömmigkeit deutlich. Bereits im Kontext der ersten Abendandacht, der Magdalene im Pfarrhaus beiwohnt, wird beschrieben, wie die Religiosität Arnolds auf die Braut seines Bruders wirkt, die sich von der „Betszene“ zum Lachen gereizt fühlt. Erneut finden wir hier einen Hinweis darauf, dass Arnolds Rede nur sinnlich und nicht geistig auf Magdalene wirkt (siehe oben, S.176). Sie hörte keines seiner Worte. Sie lauschte nur mit einer unbestimmten Wollust dem Klange seiner sonoren Stimme [...]. Und während alle mit gesenkten Augen dasaßen, und der Pfarrer in gläubigem Tone das Vater Unser sprach, betrachtete sie ungestört seine Züge. Und wie sie den fast verklärten Ausdruck auf den Zügen des Mannes entdeckte, dessen Frömmigkeit von einer reinen Gesinnung durchdrungen war, packte sie ein Gefühl weicher Rührung, und sie dünkte sich selber in dieser Sekunde fromm und Gott ergeben. [...] (MD, 96)

Das Beobachten des Pfarrherrn, dessen Frömmigkeit und Reinheit hier apostrophiert werden, wird im Anschluss an diese Passage mit dem zudringlichen Blick des Knechtes Fritze Krüger369 parallelisiert, der auf Magdalene gerichtet ist.

368

Zu Hollaenders Spiel mit den dominanten literarischen Weiblichkeitstypen seiner Zeit vgl. auch folgende Reflexion Gerharts über Magdalene zu Beginn des Romans: „Eine Madonna war sie nicht – [...] – aber eine Dirne? Nein – nein – nein! Das – das konnte sie nicht sein – auf keinen Fall.“ (MD, 30). 369 Von Fritze Krüger als „amateur en tout cas“ heißt es im neunten Kapitel: „[...] – kein Mädchen ist vor dem Burschen sicher – jeder Schürze läuft er nach.“ (MD, 126).

180

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

Dieser unverschämte Schlingel hatte in dieser ganzen Zeit an alles Andere, nur nicht an das Beten gedacht und sich die allgemeine Frömmigkeit in der unverfrorensten Weise damit zu nutze gemacht, daß er auf das Dreisteste Magdalene angestarrt hatte. (MD, 96f.)

So wie Magdalene Arnold ungestört betrachtet, „während alle mit gesenkten Augen dasaßen“, nutzt Fritze Krüger die „allgemeine Frömmigkeit“, um den schönen Gast des Hauses – offensichtlich nicht ohne Hintergedanken – beobachten zu können. Magdalene wird hier also, wie bereits zu Beginn des Romans durch den Vergleich mit dem Faun, indirekt ein männlich-begehrender Blick zugesprochen und zugleich ihr „Gefühl weicher Rührung“ bzw. ihre Gottergebenheit konterkariert. Als vermeintliche courtisane rachetée erscheint Magdalene auch in einer weiteren Szene, in der die zentrale Funktion der Fotografie Arnolds als Auslöser ihrer sexuellen ‚Besessenheit‘ thematisiert wird. Bei einem heimlichen nächtlichen Spaziergang artikuliert sie ihre Gefühle Arnold gegenüber. „Arnold, Arnold, hab mich lieb“, sagte sie jammernd und dann sich zusammenraffend: „Dein war ich schon damals, als ich zum ersten Male Dein Bild sah, und Dein Leben will ich Dir...ach Arnold, das läßt sich gar nicht sagen, was ich litt, ...Herr Gott, wenn ich ein schlechtes und niedriges Geschöpf bin, in meiner Liebe zu Dir fühle ich mich rein und fromm und gut.[“] Und da sie mit fliegendem Atem die letzten Worte hervorstammelte, nahmen ihre von der Leidenschaft zerrütteten Züge einen eigenartigen Glanz an. (MD, 199f.)

Dass die hier von Magdalene empfundene ‚Frömmigkeit‘ wieder nur von kurzer Dauer ist, wird deutlich, wenn sie im Anschluss an den Spaziergang Arnold kurz vor der ersten gemeinsamen Liebesnacht im Pfarrhaus „mit brennendem Verlangen“ ansieht und dieser „ihre Allgewalt“ spürt: „Und alle Demut war aus ihren Zügen geschwunden, die vom Fieber der Leidenschaft in allen Muskeln straff gespannt war.“ (MD, 201). Die misogyne Konzeption der Frau als von ihrer Triebhaftigkeit gelenktes „liebetolles Weib“ ist in Magdalene Dornis eng gekoppelt an den um 1900 topischen Kampf der Geschlechter. Wie rücksichtlos dieser von der Maria Magdalena-Figur geführt wird, wird an zahlreichen Stellen des Romans deutlich, etwa in folgendem Erzählerkommentar, der sich auf Arnolds fehlerhafte Selbsteinschätzung als „gereifte[r] Mann“, der „das unerfahrene Ding“ Magdalene „gewissenlos bethört“ habe, bezieht. In seiner maßlosen Leidenschaft, die zur Stunde alle seine Sinne knebelte, empfand er es nicht heraus, daß dieses Geschöpf mit allen Mitteln ihrer Frauennatur ihn umworben hatte, daß sie diesen Kampf, in dem er, der glaubensstarke Mann gefallen war, mit der ganzen ihrem Geschlechte eigenthümlichen List und Waghalsigkeit geführt hatte, mit jener überlegenen Rücksichtslosigkeit, deren nur ein liebetolles Weib fähig ist. (MD, 191)

Die hier anklingende Konzeption von Falschheit und Verstellung als genuin weiblichen Eigenschaften370 findet sich wiederholt im Roman, so etwa in Bezug auf Magdalenes 370

Hier ist auch Magdalenes Verhalten Johanna gegenüber, der sie „als Weib überlegen ist“ (MD, 98), zu nennen. Vgl. zum Motiv der weiblichen Verstellung in der Literatur um 1900: Urte Helduser:

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

181

371

Entwicklung zur begehrenden Frau oder auf die vermeintliche Demut, mit der sie Arnolds philosophischen und weltanschaulichen Ausführungen lauscht.372 Zitiert sei hier eine längere Passage, in der wiederum Bezüge zum zeitgenössischen Topos des Geschlechterkampfs und Arnolds Opferrolle hergestellt werden. Er ging aber bei allen diesen Erwägungen von der geistigen und körperlichen Überlegenheit des Mannes aus und ahnte nicht, wie er selbst unter dem treibenden Einfluss eines Weibes stand, das, so sehr es fähig war, dem mit aller Leidenschaft geliebten Manne sich anzupassen, im letzten Grunde in dem Maße von ihrer natürlichen Herrschsucht erfüllt war, daß es nur bis zu einer bestimmten Grenze folgte, so lange nämlich Eitelkeit und Gattungstrieb ihr Handeln bestimmten. Daß sie ihn zum Teil in ihre Bahnen lockte, fühlte er in seiner ungestümen Liebe nicht heraus, auch war er eine viel zu offenherzige Natur, um hinter ihre feinen Schliche und leisen Ränke zu kommen, mit denen sie ihn zu umgarnen wußte. Er hatte viel zu wenig Frauen kennen gelernt, um auch nur im entferntesten zu ahnen, daß diese Art von Demut im letzten Grunde eine Maske gefährlichster Art ist, mit der die Frauen über ihr eigentliches Temperament in raffinierter Form hinwegzutäuschen wissen. (MD, 212)

Magdalenes Entwicklung zum Weib bzw. das Erwachen ihres „eigentliche[n] Temperaments“ wird begleitet von Scham und Entsetzen über ihr sexuelles Begehren. Ein Beispiel hierfür liefert folgender Bewusstseinsbericht Magdalenes, in dem sie über ihr Verhältnis zu den beiden Brüdern reflektiert, bevor sie die Affäre mit Arnold begonnen hat. Was eigentlich in ihr vorging, und wie es über sie gekommen und Besitz von ihr genommen, wußte sie nicht zu ergründen. [...] Es war ein Wahnsinn, der sie jählings zu Grunde richten mußte, der sie bis zur Verzweiflung aufrieb, ihr ganzes Nervensystem in Aufruhr brachte. Eines empfand sie deutlich, daß das Gefühl, das sie Gerhart entgegengebracht, eine Mischung von Mitleid und Dankbarkeit – Not und Eitelkeit gewesen war. Und dann – das sie für den Andern etwas empfand, das zu denken Sünde – das auszusprechen Verbrechen war. [...] Sie, die in spröder Scheu jede leiseste Berührung mit den Männern gemieden hatte, in ihrer kleinen Stadt um dessentwillen gehöhnt – [...] – sie empfand plötzlich jenen intimen, siedenden Drang, der in ihrem ganzen Körper Verheerungen und Zerstörungen anrichtete, in ihrem

„‚Maskerade‘ als ‚weibliche Natur‘. Literatur und Geschlechterdiskurs um 1900“, in: Der Deutschunterricht 56, 2 (2000), S. 15–26. 371 Vgl. hierzu MD, 202: „Und wenn sie ihn vorher instinktiv zu sich herangelockt hatte, führte sie jetzt bewußt, mit der ganzen Durchtriebenheit ihres Geschlechtes den Kampf.“ (Hervorhebung A.G.-T.). 372 Anhand der Rolle Magdalenes als Zuhörerin Arnolds lässt sich für Magdalene Dornis ein weiterer Bezug zum Magdalenenstoff herstellen, wenn wir an die Darstellung Maria Magdalenas als die das bessere Teil erwählt habende Frau aus dem Maria- und Marta-Idyll denken. Die „grundbrav[e] und gescheit[e]“ „rundliche Frau Pastor“ Johanna erscheint mit ihrer „Hausfraueneitelkeit“ hier als Kontrastfigur zu Magdalene. Vgl. hierzu auch die Ausführungen zu Arnolds Bemühungen um die Erziehung der Frau, S. 193f.

182

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

Gemütsleben Stimmungen erzeugte, die ihr Denken und Empfinden in Aufruhr und Empörung brachten. (MD, 130)373

Im Anschluss wird in Form eines Erzählerkommentars die sich entwickelnde Sexualität Magdalenes mit dem „Erwachen ihrer tiefinnersten Persönlichkeit gleichgesetzt“ und erneut ihr Unverständnis den eigenen Emotionen gegenüber thematisiert. Die mitleiderweckende Charakterisierung Magdalenes als „armes Menschenherz“, das sich der eigenen Leidenschaft nicht erwehren kann, macht deutlich, dass aufgrund der dem Roman zugrundeliegenden deterministisch-biologistischen Konzeption weiblicher Sexualität der Protagonistin keine Schuld an der durch den Ehebruch ausgelösten Katastrophe zugesprochen werden kann. Wenn es wahr ist, daß gerade auf spröde Naturen die Gewalt der Liebe körperlich und geistig eine Wirkung ausübt, die sie erst zum Bewußtsein schlummernder Keime bringt, und wenn es wahr ist, daß dieses Erwachen ihrer tiefinnersten Persönlichkeit, die auf jeden Fall sich durchzusetzen bestrebt ist, ein ungeahntes Glücksempfinden bringt, so lässt sich ermessen, von welch unendlichem Leid und Weh ein solches armes Menschenherz gepackt wird, das in sich eine Leidenschaft emporwachsen sieht, die es nicht niederzukämpfen vermag. (MD, 130f.)

Das deterministische Moment von Magdalenes Sexualität („tiefinnerste[ ] Persönlichkeit, die auf jeden Fall sich durchzusetzen bestrebt ist“) klingt hier auch in dem der Biologie entlehnten Vokabular der Pflanzenhaftigkeit an, mit dem Magdalenes Begehren beschrieben wird (schlummernde Keime der Liebe, emporwachsende Leidenschaft). In diesem Zusammenhang ist auch die Gleichsetzung von Lust und Gift im Roman zu erwähnen, wobei der Prozess der Entfaltung dieses Giftes als unabänderbar dargestellt ist.374 Der biologistische, auf zeitgenössische wissenschaftliche Positionen zur weiblichen Sexualität verweisende Blick auf Magdalene lässt sich auch in der Darstellung der jungen Frau als Hysterikerin nachweisen.

373

Im Zusammenhang mit dem Changieren Magdalenes zwischen femme fatale und femme fragile bedient sich Hollaender eines weiteren intertextuellen Verweises auf Shakespeares Hamlet (siehe oben, S. 167, Anm. 336): „Sie glich in ihrem Liebeswahnsinn jenem Typus von Frauen, der in der Ophelia seinen dichterisch größten Ausdruck gefunden hat. Ihr keusches, jungfräuliches Empfinden sah sie plötzlich von sinnelüsternen Gedanken zerfetzt.“ (MD, 131). Der Vergleich mit Ophelia lässt sich auch insofern als Vorausdeutung auf Magdalenes Schicksal deuten, als ihr die eigene Lebenslust und Sinnlichkeit, die im Roman mit dem Wassermotiv verknüpft sind, zum Verhängnis werden. Zu Parallelen bildkünstlerischer Darstellungen Maria Magdalenas und Ophelias vgl. Simone Kindler: Ophelia. Der Wandel von Frauenbild und Bildmotiv. Berlin 2004, S. 190–200. 374 Zur Gleichsetzung von Magdalene mit Lust und Gift vgl. die folgende Reflexion Johannas, nachdem Arnold ihr den Ehebruch gebeichtet hat: „Und was war es denn eigentlich, was in jener steckte, daß sie ihren geliebten, einzigen Mann, dessen reine Gesinnung niemand anzutasten gewagt hatte, bis in die Eingeweide hatte vergiften können – – und wie hatte sie es denn nur angestellt?“ (MD, 307). Zum Giftmotiv vgl. auch MD, 130f., 142.

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

183

Die Besessenheit der Hysterikerin Bei der Beschreibung der erwachenden Sexualität Magdalenes bedient sich Hollaender eines zentralen Elements des Magdalenenstoffs, nämlich der der Sünderin traditionell zugeschriebenen Besessenheit. Im Roman äußert sich diese v.a. in Form von Lach- und Krampfanfällen, sündigen Gedanken und weiteren dämonischen Merkmalen.375 Interessant ist, dass Hollaender sich bei der äußeren Charakterisierung Magdalenes als Besessener einer Bildsprache bedient, die an um 1900 vorherrschende Vorstellungen von der typischen Hysterikerin erinnert.376 In einem zeitgenössischen Konversationslexikon377 werden als Symptome der Hysterie u.a. Lach- und Weinkrämpfe, Atemnot, „Konvulsionen des ganzen Körpers“ und ein „oft überraschend schneller, meist unmotivierter Wechsel der Stimmung“ genannt.378 Im Roman finden wir alle diese

375

So heißt es etwa von Magdalenes rotem Haar, dass es ihr „etwas Dämonisches“ verleihe (MD, 27). Auch wird ihr „koboldartige[s] Lachen“ erwähnt (ebd., 37). Im Kontext der ‚Besessenheit‘ Magdalenes sei auf eine weitere Maria Magdalena-Figur im Werk Hollaenders hingewiesen, die wie Magdalene als Hysterikerin dargestellt wird, nämlich auf Katharina, die Ehefrau des Protagonisten aus dem Weltanschauungsroman Der Weg des Thomas Truck (1902). Hier ist es der Alkoholismus, der die Besessenheit der Frau ausmacht (Felix Hollaender: Gesammelte Werke. Bd. 3: Der Weltanschauungsroman: Der Weg des Thomas Truck. Rostock 1926, S. 562f.). 376 Zur Übertragung der Weiblichkeitsimagination der hysterischen Frau auf Maria Magdalena in der französischen Kunst des 19. Jahrhunderts vgl. Simone Schimpf: Profanierung einer Heiligen, S. 233–285. Zur umfangreichen literaturwissenschaftlichen Forschung zur Hysterie um 1900 vgl. exemplarisch Franziska Lamott: Die vermessene Frau. Hysterien um 1900. München 2001 und Elisabeth Bronfen: Das verknotete Subjekt. Hysterie in der Moderne. Berlin 1998. Sehr aufschlussreich ist im Kontext der Darstellung Magdalenes als Hysterikerin auch der Vergleich mit den in Jean-Martin Charcots Hysterieabteilung angefertigten Fotografien seiner Patientinnen, von denen einige wiederum an die Ikonografie Maria Magdalenas erinnern, vgl. hierzu etwa Désiré Magloire Bourneville/Paul Marie Léon Regnard: Publications du progrès médical: Iconographie photographique de la Salpêtrière (Service de M. Charcot). T. 1: Hystéro-Épilepsie: Description des attaques; les possédées de Londun du crucifiement. Paris 1876/1877. In Charcots Umfeld wurde der Begriff der Ikonografie auf die fotografische Dokumentation der hysterischen Anfälle seiner Patientinnen angewandt (vgl. Liliane Weissberg: „Entkleidungen: Die ‚Mode‘ der Hysterikerin“, in: Figurationen der Moderne, S. 47–67, hier S. 56. Zur motivischen Nähe dieser Bilder zu pornografischen Darstellungen der Zeit vgl. ebd., S. 59. 377 Brockhaus’ Konversations-Lexikon. Vierzehnte vollst. neubearb. Aufl. in sechzehn Bänden. Neunter Bd.: Heldburg–Juxta. Leipzig, Berlin und Wien 1894, S. 495–496. 378 Ebd., S. 495. Weiterhin wird angenommen, dass die Hysterie nicht nur bei „Witwen und alten Jungfrauen“, sondern auch „häufig bei kinderlosen, unglücklich verheirateten Frauen“ auftritt. Hier lässt sich ein Bezug zum Verhältnis zwischen Magdalene und Gerhart herstellen, das von Magdalene als reine Versorgungsgemeinschaft mit einem ungeliebten Mann angesehen wird. Der Brockhausartikel von 1894 verzeichnet auch, dass eine angeborene Disposition zur Hysterie „durch falsche Erziehung gesteigert“ werden könne. Eine geistige und körperliche Abhärtung des Kindes dagegen könne das Ausbrechen der Krankheit verhindern (vgl. ebd.). Vgl. hierzu die Informationen zu Magdalenes Eltern, die ihre Tochter wie ein „Prinzeßchen“ aufwachsen lassen und ihren Hang zur Trägheit „systematisch aus[bilden]“ (MD, 44).

184

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

Symptome in der Beschreibung der ersten Nacht, die Magdalene im Pfarrhaus verbringt. Johanna, die die zukünftige Schwägerin auf ihr Zimmer begleitet hat, erkundigt sich neugierig nach dem Verhältnis zwischen Gerhart und Magdalene. In Magdalenes Reaktion auf das vertrauensselige Verhalten der Pfarrersfrau kommen ihr abrupter Stimmungswechsel und die Widersprüchlichkeit in ihrem Verhalten Johanna gegenüber zum Ausdruck. Erneut wird hier Magdalenes Unverständnis des eigenen instinktgeleiteten und unbewussten Verhaltens deutlich. Magdalene, deren frauenhaftes Empfinden ungemein geschärft war, und die andererseits zur Vertrauensseligkeit nicht die geringste Neigung besaß, befand sich in einer peinlichen Lage. Sie fühlte sich dieser Frau als Weib überlegen und hatte gleichzeitig das Bedürfnis, diese Überlegenheit in mädchenhafte Scheu zu hüllen. Sie war sich über all das ganz und gar nicht völlig klar und ward von dem, was sie bewegte, verwirrt und beklommen, so dass es sie däuchte, als ob sie innerliche Thränen weinte, die ihr das Herz noch schwerer machten. Und plötzlich – Frau Pastor schrak in die Höhe – brach sie in Schluchzen aus und umklammerte in überströmender Herzlichkeit Frau Johanna. (MD, 98)

Johanna erklärt sich Magdalenes Ausbruch damit, dass diese sich wohl in jener Zeit befinde, die „im Grunde die glücklichste einer jeden Frau ist, die Zeit, wo der Körper und die Seele hangen und bangen“ (MD, 99). Dies deckt sich mit der Ansicht der medizinischen Forschung um 1900, dass die Hysterie „fast nur bei Frauen, und zwar in der Zeit der Geschlechtsreife“379 vorkomme. Das erotische Potenzial, welches die Beschreibung einer Hysterikerin bietet,380 schöpft Hollaender in der folgenden Nachtszene voll aus. Nachdem Johanna das Schlafzimmer Magdalenes verlassen hat, reißt diese zunächst in Atemnot „ihre Taille auf“. Später erfährt der Leser, dass sie zusätzlich vor dem geöffneten Fenster ihr Mieder öffnet, um „begierig die Frühlingsluft“ einzusaugen, und schließlich „ganz entkleidet, nur noch mit den schwarzseidenen Strümpfen angethan [ist], die ihr bis über das Knie reichten und in denen mit hellgelber381 Seide ihr Namenszug eingestickt war“ 379

Brockhaus’ Konversations-Lexikon, S. 495. Vgl. hierzu Patrick Werkners Einschätzung zur wechselseitigen Beeinflussung von Literatur und Medizin bei der Darstellung der Hysterikerin: „Die Macht der Ekstase, die Schönheit hysterischer Somnambulismen und Konvulsionen: Philologie und Medizin wirken zusammen in der Begründung einer Körperästhetik, die bald auch das Theater befruchtete.“ (Patrick Werkner: „Frauenbilder der Wiener Moderne und ihre Rezeption heute“, in: Expressionismus in Österreich. Hrsg. v. Klaus Amann. Wien 1994, S. 138–148, hier S. 147) und Liliane Weissbergs Anmerkung zu den erotisierenden Fotografien der Hysterie-Patientinnen Charcots: „Die Hysterikerin war nicht nur Kranke, sondern auch – und dessen war sich etwa Josef Breuer hinsichtlich des Falles von Anna O. bewusst, deren Behandlung er frühzeitig abbrach – Verführerin.“ (Liliane Weissberg: „Entkleidungen: Die ‚Mode‘ der Hysterikerin“, S. 59). 381 Die Farbe der Stickerei in dem fetischisierten Kleidungsstück verweist hier auf das in Magdalene Dornis dominante Goldmotiv. Vgl. hierzu neben der auf den Loreley-Stoff anspielenden Charakterisierung Magdalenes als „Kind des Rheins“, in der ihr „rotgoldenes Haar“ erwähnt wird, auch

380

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

185

(MD, 101). Aufschlussreich ist hier Weissbergs Hinweis darauf, dass das Mieder aufgrund seiner dem weiblichen Körper Halt gebenden Funktion einerseits als „Mittel gegen hysterische Anfälle“ galt, andererseits das zu enge Schnüren eines Korsetts Symptome der Hysterie hervorrufen konnte.382 Der voyeuristische Blick auf die „Verzweifelte“, der an Charcots Fotographien erinnert, wird in der folgenden Szene beibehalten, in der erneut das Schielen Magdalenes, das im Roman für ihren männlich-begehrenden Blick steht, thematisiert wird und mit Hilfe jugendstilhafter Motivik Magdalenes körperliche Schönheit383 beschrieben wird. Sie schielte nach dem Bette hin, schob ihren Kopf verneinend zur Seite und trippelte zu dem Sofa, auf dem sie ihre Glieder streckte und dehnte. Ihre vollen, saftigen Arme schlang sie über dem Kopf zusammen, daß sie wie ein lilienweißer Kranz ihr glänzendes und funkelndes Haar umrahmten. Und mit halbgeschlossenen Augenlidern, müde und abgespannt und unfähig, noch länger sündhaften Phantasien kräftigen Widerstand zu leisten, ließ sie Personen und Ereignisse an sich vorübergleiten. (MD, 101)

Die hier zum Ausdruck kommende, sowohl allgemein für Frauenfiguren in der Literatur um 1900 als auch für den Magdalenenstoff typische Haarerotik finden wir auch an anderer Stelle in der Beschreibung von Magdalenes erster Nacht im Pfarrhaus. Der Vergleich des Haars mit einem Kleidungsstück verweist dabei auf die Ikonografie Maria Magdalenas, nämlich auf die Darstellung der nur mit ihrem Haar bekleideten Anachoretin. Nun nahm sie ihr langes Haar, zweiteilte es und schlang es in einem Knoten über ihren zarten Nacken, derart, daß es wie ein roter Spitzenshal [sic!] über ihren schlanken Leib bis zu den Knieknöcheln herunterwallte und ihr Hemd wie mit einer Franse umschloß. (MD, 102)

Die Beschreibung der Erotik von Magdalenes Haar findet sich an zahlreichen Stellen des Romans. Als ein weiteres Beispiel sei hier folgende Passage zitiert, in der das den impliziten intermedialen Verweis auf die Hüterinnen des Rheingolds in Wagners Ring des Nibelungen durch die Bezeichnung Magdalenes als „Rheintöchterlein“ (MD, 120). Auch in der Beschreibung der Kopfbedeckung, die Magdalene während der Reise zu Arnold trägt, finden wir das Goldmotiv wieder: „[...] einen weichen schwarzen Filzhut mit breiter Krempe, der nur mit schwarzem Tüll garniert war. Der feingearbeitete Schleier war mit unzählig kleinen Goldpünktchen durchwirkt und ließ leise ihre Züge hervorschimmern.“ (MD, 69). Der golddurchwirkte Schleier wird wiederum mit Magdalenes Herkunft in Bezug gesetzt: „Sie hatte den Schleier über den Hut gezogen, unter dessen breiter Krempe ihr rotes Haar hervorblinzte. Die untergehende Sonne tanzte gerade neckisch auf diesen feinen Strähnen und erzeugte ein schimmerndes Gold, das in eigenartigem Glanze leuchtete. Und da fiel ihm [Gerhart] auf einmal wieder ihre Erzählung ein von jenem Spaziergange an den Ufern des Rheins.“ (MD, 77). Das Goldmotiv unterstreicht zum einen die Schönheit Magdalenes und ihren Status als Elementarwesen, zum anderen verweist es auf ihre Eitelkeit bzw. „Putzsucht“ und ihre Liebe zum Luxus. Vgl. zu diesem Aspekt auch die Erwähnung eines goldumrahmten Spiegels in Magdalenes Zimmer. 382 Vgl. Liliane Weissberg: „Entkleidungen: Die ‚Mode‘ der Hysterikerin“, S. 47. 383 Vgl. hier den Kontrast zur äußeren Charakterisierung Magdalenes als femme fragile zu Beginn des Romans, siehe oben, S. 173.

186

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

Eindringen Magdalenes bzw. ihrer Sinnlichkeit in jeden Bereich von Arnolds bürgerlichem Leben zum Ausdruck kommt und gleichzeitig im Bild des von Arnolds Haut aufgenommenen Dufts des Frauenhaars die körperliche Einheit der Liebenden anklingt: [...] er trug stunden- und tagelang jenen betäubenden Duft mit sich herum, der, wie er glaubte von ihren roten, glänzenden Haaren zu ihm herüberströmte, diesen prickelnden, süßen Duft, den er mit allen seinen Poren getrunken haben mußte, und der ihn nicht verließ, wo er nur ging, und wo er nur stand...bei der Arbeit...in der Kirche...in seinem Ehegemach! (MD, 174f.)

Das rote Haar Magdalenes wird auch mit der Bedrohlichkeit der femme fatale in Verbindung gebracht, so etwa in einer Szene, in der Magdalene Arnold mit ihrem Haar umschlingt, kurz bevor sie ihm vor Lust in die Wange beißt: „Und dann mit einem Ruck, löste sie ihr rotes Haar, theilte es in zwei Hälften, warf es ihm um den Hals und schlang seine beiden Enden fest um ihn, als wollte sie ihn solchermaßen fesseln und nimmer von sich lassen.“ (MD, 198).384 In der Nachtszene gibt es neben der Atemnot Magdalenes, die sie zwingt, sich zu entkleiden, weitere Hinweise auf ihre Besessenheit. Dazu gehören neben Lach- und Weinkrämpfen („lachte wild auf“, „weinte in sich hinein, brennende, heiße Thränen“), Konvulsionen des ganzen Körpers („wand und krümmte sich“) auch das zur ‚Ikonografie‘ der Hysterikerin gehörige charakteristische Händeringen („rang die Hände“; MD, 100), sowie Magdalenes unchristliches Verhalten. So ist sie trotz einer „fromme[n] Wehmut“, die sie überkommt, unfähig zu beten (MD, 98) und erträgt den Anblick des Kruzifix’ über ihrem Bett nicht, so dass sie es umdreht („kehrte das Antlitz des Erlösers der Wand zu, daß die verklebte Rückseite ihr entgegenglotzte“; MD, 100).385 Hollaender verweist hier mit dem Umdrehen des Kruzifix’ bereits auf die spätere ‚Konversion‘ der Priesterfigur Arnold386 durch seine Maria Magdalena-Figur, die Leben und Liebe personifiziert und Arnold aus „seiner asketisch christelnden Entwickelung“ (MD, 299) herauslöst. Gleichzeitig scheint das Unkenntlichmachen des christlichen Symbols auf Magdalenes eigene Wandlung von der auf Konventionen bedachten jungen Frau hin zur bedingungslos Liebenden hinzuweisen, die keine moralischen Grundsätze gelten lässt, wenn es um das Ausleben ihrer Beziehung zu Arnold geht. Unterstützt wird eine solche Lesart zum Einen dadurch, dass Magdalene sich nach ihrer unchristlichen Tat im Spiegel, dem typischen Symbol der Bekehrung, betrachtet („trat schier bewusstlos vor den Spiegel, dessen Goldrahmen verblichen und 384

Eine Parallelstelle hierzu finden wir in Der Weg des Thomas Truck. Hier reagiert die femme fatale Josefa Gerving, die am Ende des Romans sich selbst und ihren Geliebten, den weltanschaulich und philosophisch gebildeten Arbeiter Fründel, mit Gift zu töten versucht, folgendermaßen auf dessen misogyne Aussage „Du bist ein Weibsbild; lange Haare und kurzer Verstand“: „[...] Mit meinen langen Haaren will ich dich umschlingen und festhalten. Ich lasse dich nicht. Hörst du? Ich lasse dich nicht. Und alle diese elenden Bücher verbrenne ich. Ich verbrenne sie. [...]“ (Felix Hollaender: Der Weg des Thomas Truck, S. 143). 385 Zu Magdalenes Aversion gegen Christus-Darstellungen, siehe oben, S. 177, Anm. 362. 386 Arnold selbst zertrümmert im elften Kapitel des Romans das Kruzifix in seinem Arbeitszimmer (vgl. MD, 178).

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

187 387

an verschiedenen Stellen bereits schadhaft war“ (ebd.)). Zum Anderen wird im Zuge der Vorgänge in ihrem Schlafzimmer das Aufkeimen von „etwas Verbrecherische[m] [...] etwas Schlechtem, ja Niederträchtigem, ein Drang, der lange heimlich in ihr gewuchert und nun mit Gewalt sich loslöste“ (MD, 102), in Magdalene geschildert.388 Die biologistische Darstellung der Protagonistin erlaubt hier die Gleichsetzung dieser Schlechtigkeit mit der sich entwickelnden Sexualität des jungen Mädchens. Die Unfähigkeit der Hysterikerin Magdalene, ein christliches Gebet zu sprechen, steht in Zusammenhang mit dieser erwachenden Schlechtigkeit, und wird mit ihrer ‚Anbetung‘ des Sofas kontrastiert, bei der die ‚Besessene‘ gleichsam in fremden Zungen spricht: Sie erhob sich, kniete vor dem Sofa wie vor einem Altar nieder und stammelte, während ihre Miene sich glättete, mit kaum hörbarer Stimme wirre Laute. (MD, 103)

Der Vergleich des Sofas mit dem Altar der ‚Besessenen‘ verweist hier zum Einen auf die Maria Magdalena traditionell zugeschriebene Liebe zum Luxus,389 zum Anderen wird die Sinnlichkeit Magdalenes betont, die sich zuvor bewusst für das Sofa als ‚Schauplatz‘ ihrer autoerotischen Handlungen entschieden hatte. Hollaender beschließt die Schilderung der ersten Nacht auf Bornhof, in der Magdalenes Leidenschaft sich in Form von typischen Symptomen der Hysterikerin Bahn bricht, mit einem der an zentralen Stellen des Romans eingesetzten Erzählerkommentaren, in denen auf den Vollzug ihres Verhängnisses vorausgedeutet wird. Die Augen wurden ihr schwerer, die Lider senkten sich herab – alles verschwamm in unbestimmtem Wirrwarr – und der Schlaf senkte sich über ein Menschenherz, das in Aufruhr und Empörung, seiner selbst noch unbewußt, einer irren Zukunft entgegenträumte (MD, 103)

387

Vgl. zur Funktion dieses Spiegels als Projektionsfläche für das Changieren Magdalenes zwischen femme fragile und femme fatale auch die Erwähnung eines Risses im Glas zum Ende des Romans: „Und plötzlich trat sie vor den kleinen Spiegel, dessen verblichenes Glas gerade in der Mitte durch einen schräg laufenden Strich gezweiteilt war. Sie erschrak vor sich selbst und brach in ein wildes, verzweifeltes Lachen aus.“ (MD, 294). Zur Rolle des Spiegels in der Ikonografie der Heiligen Maria Magdalena siehe oben, Kap. 4.2. 388 Zur Hysterie als „moralische[r] Krankheit“ vgl. Franziska Lamott: Die vermessene Frau; S. 94– 107. Vgl. hierzu auch Magdalenes Loslösen von jeglichen ethischen Bedenken wegen des Ehebruchs, auf das bereits das schwindende Mitleid mit Johanna und Gerhart (MD, 167) vorausdeutet und das mit dem für Texte der literarischen Lebensreform typischen Primat des Auslebens des Individuums verknüpft wird. So erwidert Magdalene auf Lürsens Vorwurf, dass sie mit ihrer Affäre das Glück einer ganzen Familie zerstört habe: „Ich habe ihn zum Glück geweckt und mir selbst mein Glück erkämpft, und nicht an die Anderen, nur an mich und an ihn habe ich gedacht!“ (MD, 275). 389 Vgl. in diesem Kontext auch Magdalenes Faulheit und ihr Interesse an den „Putz- und Modebazaren“ Berlins (MD, 49). Zu Magdalenes mehrmals thematisierter Eitelkeit vgl. auch Johannas Kritik an dem unangemessenen „Toilettenaufwand“ des jungen Mädchens (MD, 105).

188

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

„Einen tiefen Zusammenhang mit sich und der stillen Natur“ – Magdalene als Auslöser des gemeinsamen All-Einheits-Erlebnisses von ‚Sünderin‘ und Pfarrherr In Hollaenders Roman wird trotz ihrer Unterschiedlichkeit sowohl beim effeminierten Künstler Gerhart als auch bei seinem virilen und vitalen Bruder Arnold durch die Nähe zur Maria Magdalena-Figur ein All-Einheits-Erlebnis ausgelöst, wobei es bezeichnend ist, dass Gerharts Einheitserlebnis von Magdalene, die nicht fähig ist, ihren unmännlichen Verlobten zu lieben, nicht geteilt wird. Die zweite im Roman gestaltete AllEinheitserfahrung hingegen wird von Magdalene und dem geliebten Mann Arnold gemeinsam erlebt. Bei einem Stelldichein in der „Liebesecke“ des Pfarrgartens fühlt Gerhart die Einheit mit seiner Verlobten; dieses Erlebnis zeugt von der für die Literatur um 1900 typischen Konzeption der Ich-Auflösung. Erneut bedient sich Hollaender hier eines naturwissenschaftlichen Vokabulars. Und während er sich enger an sie schmiegte, war es ihm, als ob ihre Herzen ineinander schlügen. Es wurde ihm plötzlich so eigen zu Mute, eine Stimmung, die ihn aufzulösen drohte, jedes Atom von Willenskraft zerstörte und mit einer heißen Wärme ihn durchstrahlte, bemächtigte sich seiner. (MD, 109)

Gerharts All-Einheits-Erlebnis vollzieht sich unter dem Eindruck des beginnenden Frühlings. So werden neben dem „zarten Knospenschmuck“ der Bäume das Quaken der Frösche und „jene feine[n] Ausdünstungen, die die Natur zumal in Übergangsperioden von sich giebt“, erwähnt. Über die olfaktorische Wahrnehmung des Frühlings wird ein Bezug hergestellt zu Magdalene, deren charakteristischer Duft auch im Kontext von Arnolds All-Einheits-Erlebnis erwähnt wird. Diese Parallelisierung wie auch die erwähnte Identifikation Magdalenes mit Sonne und Frühling und das ihr zugeschriebene Wassermotiv lassen Magdalene als „unbändiges Naturkind“ (MD, 115) erscheinen. Bei einem gemeinsamen Spaziergang, bei dem Arnold nachsehen will, „wie es mit seinem Korn steht“,390 ergreift Magdalene unter dem Eindruck einer „eigenartige[n] Stimmung“, die in der sie umgebenden Natur herrscht, plötzlich und ungewollt Arnolds Hand. Verantwortlich für dieses unbewusste Verhalten der Protagonistin ist der betäubende, weiblich konnotierte Frühlingsduft.

390

Das Kornfeld symbolisiert in Magdalene Dornis die Liebe zwischen Arnold und Magdalene. Vgl. hierzu folgende Äußerung Arnolds, der auf der Fahrt nach Bornhof die Braut seines Bruders bittet die Augen zu schließen, weil die Gegend zu diesem Zeitpunkt der Romanhandlung noch „dürr und traurig“ (MD, 81) sei: „In sechs Wochen siehts schon besser aus“, [...], „Sie sollen einmal sehen, hier läßt sichs leben, wenn erst der Weizen und der Roggen besser stehen und der Hederich lustig wuchert. [...]“ (MD, 82). Gleichzeitig sind die Felder jenseits des Dorfes der Ort, an dem die Liebenden sich ungestört treffen und ihre Liebe ‚frei‘ ausleben können: „Die Dorfstraße lag hinter ihnen, und sie befanden sich auf freiem Boden. Stumm schritten sie ohne Weg und Ziel an den wogenden Kornfeldern vorüber.“ (MD, 196) (Hervorhebung A.G.-T.).

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

189

Und in der ganzen Natur bereits jener üppige, frauenhafte Zug, der sich betäubend auf die Nerven legt. Sie wußte nicht, was sie that, aber von ungefähr ergriff sie seine Hand und blickte ihn mit ihren glänzenden Augen an, halb in frommer Demut, halb in sinnlicher Erregung. (MD, 139)

In der Mischung aus Demut und Erregung klingt erneut die Widersprüchlichkeit Magdalenes an, die an Maria Magdalenas Doppelwertigkeit als Heilige und Hure angelehnt ist und die bereits kurz vor Magdalenes Annäherung an Arnold in Anspielung auf die „traditionellen Bilder des Weiblichen, das der guten/weißen Frau und das der bösen/roten Frau“391 zum Ausdruck kommt.392 Magdalene berührt auf dem Spaziergang Arnold ein zweites Mal, so dass dieser „[d]urch die Wärme, die von ihrem Körper ausging“ und „die weiche Berührung ihrer Hand“ in „eine schwüle Stimmung“ versetzt wird (MD, 140). In dieser Stimmung vollzieht sich das gemeinsame unio-Erlebnis Magdalenes und Arnolds, das durch den Anblick einer von ihrem Nest auffliegenden Lerche ausgelöst wird. Da empfanden sie beide einen tiefen Zusammenhang mit sich und der stillen Natur und erschauerten – und keiner wagte Wort noch Blick. Dieses kleine Lerchennest wob zwischen beiden ein Empfindungsnetz, dessen Fäden sich bereits zu engen Maschen verknüpften. Der Pfarrherr fühlte etwas in sich regen, das ihm so fremd, so völlig neu war. (MD, 140)393

Auf die Funktion des Lerchennests, das als Bestandteil der „stillen Natur“ die Liebe zwischen Magdalene und Arnold symbolisiert, wird im vierzehnten Kapitel des Romans erneut angespielt, in dem es von der Protagonistin heißt, dass sie „ihre Liebe mit dem funkelnden Auge einer für ihre Jungen besorgten Mutter hüte“ (MD, 212). Dass es Hollaender hier v.a. um die unio-Erfahrung des Mannes geht, wird in der zitierten Passage durch die abschließende Fokalisierung auf Arnold deutlich.394 Eine mögliche Deutung der All-Einheitserfahrung des Pfarrherrn als christlich-mystisches unio-Erlebnis wird durch die anschließende auktorial erzählte Passage, in der Arnolds Fehlinterpretation der eigenen Emotionen thematisiert wird, verhindert. Aber in seiner naiven Denkweise meinte er, das der soeben wahrgenommene Werdeprozeß, der Magdalene so tief gerührt hatte, und die weite, blühende Gottesnatur, eine unberührte Seite habe in ihm erklingen lassen, durch die seinem religiösen Wesen eine neue Weihe sich mitteilte.395 (MD, 141) 391

Carola Hilmes: Die Femme fatale, S. 70. „Auf einer Rasenstrecke lag zum Trocknen gebleichte Wäsche ausgebreitet [...]./Sie sah auf die weiße Fläche, und ein Beben ergriff sie./Nun blickte sie starren Auges in den blutroten Sonnenball, dessen eine Hälfte von einer schwebenden Wolke umhüllt war.“ (MD, 138) 393 Vgl. in diesem Zusammenhang auch das naturreligiöse Erlebnis von Magdalenes Vater in der Rhein-Grotte (MD, 74). 394 Vgl. hierzu auch die Darstellung des Geschlechtsakts in Dehmels „Venus Consolatrix“. 395 Vgl. in diesem Zusammenhang die Mehrdeutigkeit der Lerche als Symbol „des Neuanfangs und des Frühlings“, aber auch „der Erhebung in den Himmel bzw. zu Gott“ (Günter Butzer/Joachim Jacob: „Lerche“, in: Metzler Lexikon literarischer Symbole, S. 204–205, hier S. 204).

392

190

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

Auch in einem stark wertenden Erzählerkommentar, der den durch seine Liebe zu Magdalene ausgelösten „Konflikt“ des Gottesmannes thematisiert, wird die Naivität Arnolds396 deutlich: „Dieses große Kind, das am Scheidewege seines Lebens stand, ahnte in diesem Augenblicke noch nicht im entferntesten den Konflikt, der sich in seine Brust gesenkt und Wurzeln zu schlagen begonnen hatte.“ (MD, 141). Der ‚neue Glaube‘ des Pfarrherrn Teil dieses Konflikts ist Arnolds Auseinandersetzung mit modernen Weltanschauungsbeständen. Neben den bereits genannten Bezügen zur medizinischen Erforschung der Hysterie um 1900 finden sich in Magdalene Dornis zahlreiche weitere Verweise auf zeitgenössische Wissenselemente, welche die Pfarrerfigur Arnold sich aneignet. Das Interesse an modernen wissenschaftlichen und weltanschaulichen Positionen wird in Arnold geweckt, nachdem Magdalene ihn aus seiner „asketisch christelnden Entwickelung“ herausgelöst hat. Mit intertextuellem Verweis auf D. F. Strauß’ populäre Schrift Der alte und der neue Glaube (1872),397 schildert Hollaender, wie der Pfarrherr sich eine neue Weltanschauung bzw. einen „neuen Glauben“ (MD, 208) aneignet: Stückweise riß er sich seinen alten Glauben aus dem Herzen, und mit dem Feuereifer des Abtrünnigen stürzte er sich in die Worte der Wundermänner, die die neue Lehre verkündeten. (MD, 207)

Zu diesen „Wundermännern“ zählen u.a. Darwin und Haeckel, wie im Kontext von Arnolds Abwendung von den „Mythen der Schöpfungsgeschichte“ deutlich wird. Dass Hollaender sich hier explizit auf die Haeckelsche Version der Darwin’schen Lehre bezieht, wird nicht nur durch den expliziten intertextuellen Verweis auf die Welträthsel – ein Abschnitt innerhalb des fünften Kapitels trägt den Titel „Mythische Schöpfungsgeschichte“,398 der Haeckels „Natürliche Schöpfungsgeschichte“399 gegenübergestellt 396

Zur Naivität des Pfarrherrn in Bezug auf Magdalenes Verführung vgl. auch MD, 152: „Er aber war zu schlicht und in Dingen der Liebe zu unerfahren, um das, was in ihm vorging, zu begreifen. Er ahnte nicht einmal, daß dieses Weib, das neben ihm schritt, einen tollen Kampf gegen ihn führte, ihn mit ihren Blicken lockte und liebkoste.“ 397 Vgl. hierzu Kap. 7. Aufschlussreich ist in Hinblick auf Arnolds neuen Glauben Strauß‘ DarwinRezeption, vgl. hierzu Eberhard Zwink: David Friedrich Strauss, 1808 bis 1874: Zerstörer unhaltbarer Lösungen und Prophet einer kommenden Wissenschaft (Albert Schweitzer). Stuttgart 2008, S. 42f. 398 Unter den Begriff „mythische Schöpfungsgeschichte“ zählt Haeckel „[a]lle ernstlichen Versuche, welche bis zum Beginne des 19. Jahrhunderts zur Beantwortung des Problems von der Entstehung der Organismen unternommen wurden [...]“ (Ernst Haeckel: Die Welträthsel, S. 33). Im Kontext von Hollaenders Roman lässt sich die Wendung auf die christliche Schöpfungsgeschichte beziehen, die Teil von Arnolds alter „theologischer Weltanschauung“ (MD, 208) ist. 399 Vgl. Ernst Haeckel: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Gemeinverständliche wissenschaftliche Vorträge über die Entwickelungslehre im Allgemeinen und diejenige von Darwin, Goethe und Lamarck im Besonderen, über die Anwendung derselben auf den Ursprung des Menschen und andere damit zusammenhängende Grundfragen der Naturwissenschaft. Berlin 1868.

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

191

wird –, sondern auch durch die Bezugnahme auf Haeckels biogenetisches Grundgesetz400 deutlich: Er [Arnold] ging in den Beweisen auf, die ihm darlegten, daß die einzelnen Ringe der Entwickelungskette, die der Mensch zu durchlaufen hatte, ehe er von der einfachen Eizelle zu seinem durchbildetsten Zustande gelangte, in erweitertem Maße bei seinen tierischen Vorfahren, die denselben Organismus besaßen, nachzuweisen wären, und daß diese seine Vorfahren von der urältesten Vergangenheit auf die Gegenwart sich in gleichem Maße, wie er selbst entwickelt hatten. (MD, 208)

Neben Haeckel lässt Hollaender seine Priesterfigur erstaunlicherweise auch kulturpessimistische und sexualitätsfeindliche Positionen der Jahrhundertwende adaptieren, wie aus seinen „seltsame[n] Reden“ an Erichs Krankenlager deutlich wird. Angesichts des Todeskampfs seines Sohnes bezeichnet Arnold sich selbst als „Betrüger [...], weil ich ihm das Dasein gab“ (MD, 256) und spricht von der „Zeit, wo der Mensch erkennen wird, daß dieses ganze Leben eine einzige Lüge ist [...]“ und dass „seine letzte und große That die sein wird, sich des Rechtes zu begeben – Menschen zu zeugen“ (MD, 256). Hollaender bezieht sich hier offensichtlich auf Schopenhauer, der in Die Welt als Wille und Vorstellung das Leben bezeichnet als einen „fortgesetzte[n] Betrug, im Kleinen, wie im Großen“401 und verweist mit seiner Priesterfigur auf den Protagonisten aus Tolstois Kreutzersonate. Dieser bezeichnet den Geschlechtstrieb als „ganz und gar unnatürlich“402 und bezieht sich bei der Erläuterung des Aussterbens der Menschheit als notwendige Folge der Enthaltsamkeit neben Eduard von Hartmann auch auf Schopenhauer: „Wozu soll man leben? Wenn man gar kein Ziel vor Augen hat, wenn das Leben Selbstzweck ist, so braucht man gar nicht zu leben. Wenn es sich so verhält, so sind Schopenhauer, Hartmann und alle Buddhisten im Recht“.403 Die absolute Enthaltsamkeit wird in Hollaenders Roman von Arnold Magdalene gegenüber noch weiter illustriert; hier findet sich der Verweis auf Schopenhauers blinden Willen zum Leben: Wie solltest du dir auch den Grad von Verzweiflung vorstellen, wo Mann und Weib wie erloschene Vulkane begehrungslos, verzichtleistend neben einander stehen und bis im Innersten der Seele tot, wunschlos ihre Tage hinbringen. Wo der einzige Trieb, der unserem Leben eine gewisse Giltigkeit [sic!] verleiht: Sich selbst zu erneuern – aufhört?“ (MD, 256)404 400

„D i e O n t o g e n e s i s i s t e i n e k u r z e u n d s c h n e l l e R e k a p i t u a l i t i o n d e r P h y l o g e n e s i s , bedingt durch die physiologischen Funktionen der Vererbung (Fortpflanzung) und Anpassung (Ernährung).“ (Ernst Haeckel: Die Welträthsel, S. 36) (Sperrung im Original). 401 Arthur Schopenhauer: Sämtliche Werke. Dritter Bd. Die Welt als Wille und Vorstellung II. Nach der ersten, von Julius Frauenstädt besorgten Gesamtausg. Neu bearb. und hrsg. von Arthur Hübscher. 4. Aufl., durchges. von Angelika Hübscher. Mannheim 1988, S. 657. 402 Leo N. Tolstoi: „Die Kreutzersonate“. In: Die Kreuzersonate. Der Teufel. Reinbek 1961, S. 7–96, hier S. 30. 403 Ebd. 404 Zu intertextuellen Verweisen auf Schopenhauers Pessimismus in Magdalene Dornis vgl. Karin Tebben: Von der Unsterblichkeit des Eros und den Wirklichkeiten der Liebe, S. 244.

192

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

Das ‚absolute Weib‘ Magdalene ist von diesen Ausführungen Arnolds nicht wenig beunruhigt und verteidigt das gemeinsame unbekümmerte Streben des Paars nach individuellem diesseitigem Glück. Magdalenes Blicke irrten unstät und ruhelos umher. [...] „Was das alles für Gedanken sind,“ sagte sie scheu; „wie kann man nur mit solchen unsinnigen Gedanken sich herumtragen ... Man sollte mit dem Grübeln aufhören,“ fuhr sie fort, „man sollte nie über den nächsten Tag hinausdenken, man sollte einfach den Mut zu seinem Glücke haben und für sein Glück mit jedem Atemzug kämpfen und sein Glück bis zum letzten Tropfen schlürfen.“ (MD, 256)

Erneut erscheint Magdalene hier als Verkörperung des ‚Lebens‘, die bedingungslos ihren Durst am „Becher des Lebens“ stillen will. Hollaender illustriert anhand seiner Pfarrerfigur auch die für die Zeit um 1900 typische Zukunftsgläubigkeit, die im Gegensatz zum zeitgenössischen Kulturpessimismus steht. Infolge seiner Auseinandersetzung mit solchen pessimistischen Schriften kommt der Pfarrherr zunächst zu dem Schluss, dass der „Glaube an Glück und Erlösung – des Christentums tiefinnerste Quelle, [...] kläglich versiegen und vertrocknen“ werde, da es keine Wahrheit gebe und die Welt „eine Dreckgeburt aus Lug und Trug sei“ (MD, 282). Durch Magdalene bzw. durch ihre Leidenschaft wird Arnold nun veranlasst, seine pessimistischen Grübeleien aufzugeben und sich „zukunftsfrohen Träumen“ von einem goldenen Zeitalter hinzugeben. Hierzu sei eine längere Passage zitiert, in der in Form der heraufbeschworenen goldenen Zeit Arnolds Begeisterung für die Darwin’sche Lehre erneut anklingt. Die ebenfalls propagierte Wiedergeburt durch sich selbst erinnert an die für die Jahrhundertwende typische Forderung nach Selbsterlösung (vgl. Kap. 7.1.3). Neben der zeittypischen Zukunftsgläubigkeit und der Apotheose des „Schöpfer[s] seines eigenen Ichs“, der „nach seinem Ebenbilde Menschen“ zeugt, finden wir hier auch das u.a. innerhalb der sogenannten radikalen Frauenbewegung propagierte und auch von anderen lebensreformerischen Bewegungen aufgenommene Konzept der Freien Ehe405 thematisiert. Und die heiße Glut ihrer Leidenschaft, die jedes grüblerischen Zuges entbehrte, übertrug sich auf ihn. Und von der glücklosen Weltanschauung seiner kranken Philosophen wandte er sich zukunftsfrohen Träumen zu. Und nun suchte er in gegensätzlichem Überschwang sich eindringlich zu überreden, daß das, was die Menschen ersehnten, die große, goldne Zeit erst 405

Annegret Stopczyk erläutert den Begriff wie folgt: „Mit ‚Freie Ehe‘ ist nicht dasselbe gemeint wie mit ‚Freie Liebe‘, obwohl diese Begriffe bisweilen synonym verwendet wurden. Ähnlich wie Helene Stöcker, die ebenfalls für die ‚Freie Ehe‘ plädiert, gibt auch Ruth Bré die ‚Freie Ehe‘ als mindestens so verbindlich an wie eine gesetzliche Ehe, nur dass nicht das Gesetz verbindet, sondern die Liebe. Das Liebesideal von Bré und Stöcker bezieht sich auf die Liebesphilosophie der Frühromantikerinnen und -romantiker und will eine Revolution im Inneren der Menschen verursachen, eine Selbstreform. Die Liebesfähigkeit soll bei Männern und Frauen derartig kultiviert und gesteigert werden, daß sie ‚natürlich‘ zusammenhalten und dadurch gegenseitigen Respekt voraussetzen können.“ (Annegret Stopczyk: „Ehe und freie Liebe. Zur Frauenbewegung um 1900“, in: Die Lebensreform. Bd. 1, S. 127–130, hier S. 128).

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

193

mit der klaren Erkenntnis der Dinge und der menschlich-tierischen Natur beginnen könnte. Daran lag’s – – das geistige Rückgrat war verkrümmt, und sich selbst wieder schaffen, an sich selbst erbarmungslos arbeiten, war die Losung der Zeit und der Zukunft. Und nur so, wenn man sich gewissermaßen wiedergeboren hatte, der Schöpfer seines eigenen Ichs geworden war, hatte man das Recht, nach seinem Ebenbilde Menschen zu zeugen. Und alles Heil der Zukunft lag in der Ehe, in diesem denkbar feinsten Zusammenhang körperlichen und geistigen Empfindens zwischen Mann und Weib, wo sie in ihrem Denken so verwoben und ineinander aufgegangen waren, daß ein einziges Ganzes sich gebildet hatte, dessen Teile sich harmonisch zusammenfügten. (MD, 282f.)

Neben dem Verweis auf das Konzept der Freien Ehe finden wir im Roman einen weiteren Hinweis auf die zeitgenössische Emanzipationsbewegung bzw. auf die lebensreformerische Forderung nach einer am Vorbild des Mannes geschulten Bildung der Frau,406 wenn Arnold über seine Beziehung zu Magdalene und Johanna reflektiert. Arnold, der „zum Bildner seines Weibes“ stilisiert wird, nimmt hier Bezug auf das „geistige Wachstum“ Magdalenes unter seiner ‚Erziehung‘. Er fragte sich, ob Johanna in gleicher Weise sich entwickelt hätte, wenn er sich Zeit und Mühe genommen haben würde, auf sie einzuwirken. Aber das war es ja – er war teilnahmslos an ihrer Seite geschritten, hatte sie für Haus und Küche sorgen lassen und sie gewissermaßen als ein niedrigeres Geschöpf betrachtet, im Grunde als die treue Magd des Hauses, als deren Herr er sich christlicher Anschauung gemäß gezeigt hatte. (MD, 210)

Hollaender bezieht sich hier erneut auf den traditionellen Magdalenenstoff, genauer auf das Maria und Marta-Idyll, um die beiden Frauenfiguren miteinander zu kontrastieren (siehe oben, S. 181). Magdalene erscheint in der Rolle Maria Magdalenas, die im Gegensatz zur hausbackenen Pfarrersfrau Johanna ‚das bessere Teil‘ erwählt hat. Arnold selbst wird hier mit Jesus gleichgesetzt, der, wie bereits in Bezug auf das in Magdalene Dornis verarbeitete courtisane rachetée-Motiv erläutert, das Weib zu sich „emporheb[t]“. Im Folgenden demonstriert Hollaender an Arnolds Ausführungen zur Rolle des Mannes als „seines Weibes Bildner“ den misogynen und chauvinistischen Grundzug der Vorstellung des Pfarrherrn vom modernen Geschlechterverhältnis, das der gleichberechtigten Ergänzung von Mann und Frau in der Freien Ehe widerspricht. 406

Kai Buchholz und Annegret Wagner gehen in ihrem Aufsatz zu „Sexualreform und neue[m] Geschlechterverhältnis“ in der Jahrhundertwende auf die lebensreformerische Forderung nach einer Gleichberechtigung von Mann und Frau ein: „Die neue Sicht auf das Verhältnis zwischen den Geschlechtern bestand in erster Linie darin, die Frau aus der Rolle der Untergebenen des Mannes zu befreien und Mann und Frau als gleichberechtigte Partner anzusehen. Damit und mit dem [...] biologischen Verständnis sexueller Anziehungskraft ging der Wunsch einher, das Konzept der Ehe einer fundamentalen Neuordnung zu unterziehen. Im Mittelpunkt dieser Bestrebung stand die Zielsetzung, die Auflösung unglücklicher Ehen zu erleichtern.“ (Kai Buchholz/Annette Wagner: „Sexualreform und neues Geschlechterverhältnis“, in: Die Lebensreform Bd. 2, S. 441–443, hier S. 441.). Der Hinweis auf die erleichterte Auflösung unglücklicher Ehen ist aufschlussreich in Hinblick auf Arnolds Bestreben, sich von Johanna zu trennen und sein Ideal einer ‚natürlichen‘ Ehe mit Magdalene zu leben.

194

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

Er hatte in nicht geringerem Maße wie all die Übrigen zu jenen Barbaren des zur Neige gehenden Jahrhunderts gehört, die ihre Frauen erniedrigten, indem sie ihnen nur den Überschuß von körperlicher und tierischer Kraft gaben. Aber daß es die höchste Aufgabe des Mannes war, das durch falsche Erziehung verkümmerte Weib zu sich emporzuheben, ihr eine freiere, höhere Anschauung über Welt und Dinge einzuflößen, mit der Mutter seiner Kinder nicht nur in einem körperlichen Zusammenhang zu leben, das leuchtete ihm jetzt erst ein. Denn das war das große und erhebende Wunderwerk der Ehe, daß der Mann, der erst im eigentlichen Sinne die Frau aus ihrer Hülle löste, sie zum Bewußtsein ihrer höchsten Aufgabe führte, auf sie, die vor ihm lag, bleich und blaß, seine Kraft und Stärke unter Qual und Schauer anerkennend, einen Einfluß gewann, macht dessen er sie erheben und sich ebenbürtig machen konnte. Und in der Ehe begann erst die Erziehung der Frau, die nur ihrer Würde, ihres Wertes sich bewußt ward. Wehe dem Manne, der es verabsäumt hatte, seines Weibes Bildner zu werden. Aber seines Weibes Bildner konnte der allein werden, der nach diesem seinem Weibe mit allen Kräften seiner Sinne und Seele geahndet hatte . . . (MD, 210f.)

Arnolds Haltung zur zeitgenössischen Frauenfrage bzw. zur geistigen Abhängigkeit der Frau vom Mann erinnert hier an die Position Laura Marholms, die wie ihr Ehemann Ola Hansson und Hollaender407 zum Friedrichshagener Dichterkreis gehörte und u.a. als Übersetzerin Strindbergs tätig war. In ihrer in der Freien Bühne erschienenen Aufsatzreihe „Die Frauen in der skandinavischen Dichtung“408 heißt es etwa in Bezug auf die skandinavische Frauenbewegung, die laut Marholm „nicht von den Frauen ausgegangen [sei], so wenig wie jemals eine erste Initiative“: „Sie ist aus Suggestionen entsprungen, die einige Männerköpfe den Frauen gegeben haben, denn das Weib im Ganzen formt sich immer nach den Intentionen des Mannes und empfängt alle seine Impulse vom Mann.“409 Aufschlussreich in Bezug auf Arnolds Bemühung, seiner Geliebten „eine 407

Auf die heute fast vergessene Bedeutung Hollaenders für den Friedrichshagener Dichterkreis gehen Kauffeldt und Cepl-Kaufmann in ihrer Studie zu dieser Dichterkolonie ein: „Hollaender ist überall da, wo Friedrichshagener aktiv wurden, und zählte damit, neben Hartleben, zu den wichtigsten Friedrichshagenern, die nicht im Ort gewohnt haben, und zwar für den gesamten Zeitraum, der als Hauptphase der Friedrichshagener Dichterkolonie bezeichnet werden kann. Noch in der Neuen Gemeinschaft gehörte er zur Kerngruppe, verfaßte Programmschriften und gestaltete das Leben der Gemeinschaft mit.“ (Rolf Kauffeldt/Gertrude Cepl-Kaufmann: Berlin-Friedrichshagen, S. 398). 408 Marholms Aufsatzreihe löste in der Freien Bühne eine Debatte zur Frauenfrage aus, an der sich neben Paul Ernst und Hermann Bahr auch Josepha Krzyzanoska beteiligte, die neben Laura Marholm als Vorbild für die Figur der Studentin Anna Mahr in Hauptmanns Drama Einsame Menschen gilt. 409 Laura Marholm: „Die Frauen in der skandinavischen Dichtung. Strindberg’s Lauratypus“, in: Freie Bühne für modernes Leben 1 (1890), S. 364–368, hier S. 368. Auch Dehmel propagiert in einem Beitrag zu Die Gesellschaft die geistige Ausrichtung der Frau am Mann. In Bezug auf Hedwig Lachmanns Übersetzung ausgewählter Gedichte von Edgar Allan Poe heißt es hier: „Ich liebe das Weib, das den Mann liebt, das vom Manne empfängt, was es zur Welt bringt.“ (Richard Dehmel: „Ein weibliches Vorbild“, in: Die Gesellschaft 8 (1892), S. 1469–1472, hier S. 1469). Weiter heißt es von Schriftstellerinnen, die sich auch als Übersetzerinnen betätigen: „Unsre dichtenden Damen (es sind echte Künstlerinnen darunter) könnten ihre weibliche Eigentümlichkeit wahrhaftig nicht

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

195

freiere, höhere Anschauung über Welt und Dinge einzuflößen“, ist auch folgendes ebenso berühmtes wie in seinem Biologismus misogynes Zitat von Marholm aus ihrem Buch der Frauen (1894) zum Weib, das „die unwandelbare Natur bestimmt hat, ein Gefäß zu sein“: Das Weib – ja das Weib ist, seelisch und physiologisch eine Kapsel über einer Leere, die erst der Mann kommen muß zu füllen. Es weiß nichts von sich, es weiß nichts vom Manne, es weiß nichts von der großen Unabänderlichkeit des Lebens. Nichts wird ihm offenbar in seinen Tiefen, außer durch das Erlebnis mit dem Manne.410

Interessant sind in der oben zitierten Romanpassage, in der die vermeintliche geistige Überlegenheit des Mannes über die Frau thematisiert wird, die sexuellen Implikationen in Bezug auf die Unerfahrenheit der Frau („sie, die vor ihm lag, bleich und blaß, seine Kraft und Stärke unter Qual und Schauer anerkennend“). Hollaender karikiert hier im Bild der passiv aufnehmenden Frau erneut Arnolds Überzeugung von der sowohl geistigen als auch körperlichen Überlegenheit des Mannes über die Frau. In seiner Naivität und Unerfahrenheit verkennt der Pfarrherr, dass in Wahrheit er es ist, der unter dem „treibenden Einfluss eines Weibes“ steht. Arnold rezipiert nicht nur die „Werke der Naturforscher“ und andere weltanschauliche Schriften, sondern auch „die Poesie seiner Zeit, die auf den Errungenschaften und erworbenen Gesetzen der Gelehrten und Forscher sich aufbauten“ (MD, 208). Johanna schreibt den Wandel ihres Mannes, der sich infolge des Ehebruchs immer mehr von ihr distanziert, nicht ganz zu Unrecht diesen Büchern zu, „auf deren Titelblättern jene Namen prangten, bei deren bloßer Erwähnung alles in ihrem Elternhause auszuspucken pflegte“ (MD, 218). Arnold selbst kritisiert zu Beginn des Romans diese modernen Schriften,411 die Gerhart ihm regelmäßig zuschickt, als „Dichtung der Unsittlichkeit“. besser und dankenswerter bethätigen, als durch Ausbildung dieser intimen Anpassungskraft; es thäte endlich not, die großen Poeten des Auslands wesenstreuer und formlebendiger bei uns einzubürgern, als das leider heutzutage so nebenher verbrochen wird.“ (ebd.) (Hervorhebung A.G.T.). 410 Laura Marholm: Das Buch der Frauen. Zeitpsychologische Porträts. Mit 6 Autotypien nach Photographien. 4. Auflage. Paris, Leipzig, München 1896, S. 4. Auffällig sind die inhaltlichen Parallelen zwischen Hollaenders Roman und Marholms Schrift, wie etwa der verwendete Frau-alsGefäß-Topos, den Hollaender mit dem traditionellen Magdalenenstoff verbindet, und die nahezu identische, auf die Defloration anspielende Wortwahl (die Frau, die vom Mann aus ihrer Hülle gelöst wird bzw. die Frau als „Kapsel, über einer Leere, die erst der Mann kommen muß zu füllen“). Es ist zu vermuten, dass Hollaender bereits vor der Veröffentlichung von Das Buch der Frauen mit dessen Inhalt vertraut war. 411 Mit der Figur des Pfarrherrn Arnold verweist Hollaender intertextuell auf den konservativen Pastor Manders aus Ibsens Drama Gespenster. Gemeinsam ist den beiden Priesterfiguren neben ihrer Aversion gegen moderne Schriften, die sich im Falle Arnolds nach der Begegnung mit Magdalene in eine Begeisterung für die in ihnen enthaltenen weltanschaulichen Entwürfe umwandelt, ihre Naivität. Beide Gottesmänner werden als „großes Kind“ bezeichnet. Zu Hollaenders IbsenRezeption vgl. Rudolf R. Novak: „Felix Hollaender – vergessen und neu entdeckt“, S. 240, 244. Dass Arnold als Freigeist gelten kann, bei dem das neue weltanschauliche Wissen der Jahrhun-

196

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

„Dieser dürre Rationalismus, diese aufdringliche Brutalität, diese ewigen naturwissenschaftlichen Phrasen, dieses Herumwerfen mit Schlagwörtern stößt mich derartig ab, daß ich an dem offenbaren Talente, das in diesen Dichtern steckt, keine Freude habe. Von diesen Leuten, die mir doch in ihrem Alter ziemlich nahstehen, fühle ich mich durch Generationen getrennt, für mich ist das nicht Fortschritt“, fuhr er erregt fort, „sondern Rückschritt, eine Dichtung der Unsittlichkeit, die ungeheuerlichen Schaden anrichtet.“ (MD, 83)

Hollaender spielt hier auf den sogenannten Schmutznaturalismus an („aufdringliche Brutalität“, „ewigen naturwissenschaftlichen Phrasen“), den er selbst als Vertreter eines „‚gemäßigten‘ Naturalismus“412 ablehnt. Im Hinblick auf Arnolds spätere begeisterte Rezeption der neuen Lehre der „Wundermänner“ und seine ausgelebte ‚sündige‘ Liebe zu Magdalene ist insbesondere seine harsche Ablehnung der von Gerhart geschätzten „Dichtung eines individuellen Naturalismus“ interessant, die – hier zeigt sich erneut die Nietzsche-Begeisterung der Jahrhundertwende – davon ausgehe, „daß der Mensch im Grunde Persönlichkeit und nicht Herdentier“ sei und „das Recht habe, sich auszuleben“: „Geh mir mit deinem Individualismus,“ wehrte Arnold ab, „man kennt diese ewigen Phrasen, erst individualisch,, dann, so heißt’s wohl, genialisch und schließlich – und damit soll das höchste Ziel erreicht sein – bestialisch.“ (MD, 83)

Die Kritik am Individualismus kommt am Ende des Romans im Scheitern von Arnolds und Magdalenes Liebe bzw. ihrer Ermordung durch Gerhart zum Ausdruck. Doch bereits zu einem früheren Zeitpunkt der Romanhandlung wird deutlich, dass das ungleiche Paar die Illusion der freien, keinerlei Konventionen unterworfenen Liebe nur aufrecht erhalten kann, indem das Reden über die Betrogenen – Johanna, Erich und Gerhart – tabuisiert wird. Und so sehr sie seelisch und körperlich ineinander wuchsen, so mieden sie es dennoch in bitterer Scham, über Gerhart – Johanna und Erich Gedanken auszutauschen. Hier fühlten sie eine Kluft. (MD, 207)

Die Scham der Liebenden fungiert hier als Indikator dafür, wie sehr Arnold und Magdalene den bürgerlichen Moralvorstellungen, gegen die sie aufbegehren, noch verhaftet sind. Neben den bereits genannten intertextuellen Bezugnahmen auf um 1900 aktuelle Wissensbestände zeigt sich die Zeittypik von Hollaenders Roman auch in seinen

dertwende auf fruchtbaren Boden fällt, wird bereits durch seine Strafversetzung auf die Landpfarre angedeutet. Dieses Schicksal teilt ein weiterer ‚abtrünniger‘ Pfarrer der JahrhundertwendeLiteratur, Oskar Moser, der Protagonist aus Erdmann Gottreich Christallers satirischem Roman mit dem bei Nietzsche entlehnten Titel Prostitution des Geistes (1901). 412 Rudolf R. Novak: „Felix Hollaender – vergessen und neu entdeckt“, S. 241. Vgl. hierzu auch die Diskussion um die „Abgrenzung des Realismus gegen den Naturalismus“ im Verein „Durch!“, dessen Mitglied Hollaender war. Votiert wurde hier laut Novak für eine „realistische[ ] Literatur, die der geforderten Wahrheitstreue genügte, aber nicht in Übertreibungen verfiel“ (ebd.).

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

197 413

karikierenden Anspielungen auf den Goethe-Kult der Jahrhundertwende. So erläutert etwa Erich, der kurz vor seinem Unfall die Anfangszeilen des Reinecke Fuchs zitiert, seinen Wunsch, Goethe werden zu wollen, wie folgt: Vater hat mir den Reinecke Fuchs erzählt und gesagt, daß keiner so schön gedichtet hat. Mutter, ich will auch berühmt werden und auch lauter dicke Bücher mit schönen Einbänden drucken lassen, ja, Mutter, das will ich. (MD, 223)

Kritik an der bruchstückhaften Klassikerrezeption äußert der Kreisphysikus Lürsen in seinem Gespräch mit Magdalene, in dem er sie mit den Konsequenzen ihres ehebrecherischen Verhaltens konfrontiert. Anlass hierfür ist das aus dem Zusammenhang gerissene Zitat aus Goethes Singspiel Lila, das Magdalene zur Rechtfertigung ihres Festhaltens an Arnold funktionalisiert. „Mich – mich kann niemand wankend machen ... das gerade ist für mich ein herrlicher Gedanke, daß er und ich alles ... alles ... der Welt zum Trotz ... preisgegeben ... denn es giebt für uns kein Rückwärts mehr ... selbst wenn ... da fällt mir,“ sagte sie plötzlich weich lächelnd, „ein Wort Goethes ein – ich lese nämlich jetzt viel Goethe, auf Arnolds Rat: Allen Gewalten zum Trutz sich erhalten! Nimmer sich beugen und rüstig sich zeigen – Rufet die Arme der Götter herbei!“ „Sehr schön deklamiert“, antwortete er [Lürsen] sarkastisch, „ich weiß zwar nicht, ob Sie den Mann verstehen und einigermaßen kennen, denn sonst würden sie dieser herausgerissenen Tendenz [sic!] so und so viel andere – ah bah – die Dichter sind doch gute Menschen, zumal für Frauenzimmer....“ (MD, 277f.)

Hollaender scheint mit Lürsens Hinweis auf Magdalenes unzureichende Kenntnis von Goethes Lila auf die Wahnvorstellungen der Protagonistin des Stücks anzuspielen, die sich im Kontext des Romans zu Magdalenes und Arnolds Versuch, „das Fundament der Ehe aus seinen Fugen zu heben“, in Bezug setzen lassen. „[A]n diesem Grundpfeiler all und jeder Kultur rütteln zu wollen“ hält Lürsen für „ein [...] vermessenes Unterfangen und ein „Wahngebilde“ (MD, 277). Diese Auffassung rückt Lürsen scheinbar in die Nähe der Figur Mittlers, der in Goethes Die Wahlverwandtschaften (1809) die Institution der Ehe als „Grund aller sittlichen Gesellschaft“ und als den „Anfang und [...] Gipfel aller Cultur“414 vehement verteidigt. Eine weitere Gemeinsamkeit der beiden Figuren liegt darin, dass sie nur mit ihren sprechenden Nachnamen415 in die jeweilige 413

Vgl. hierzu Rolf Kauffeldt/Gertrude Cepl-Kaufmann: Berlin-Friedrichshagen, S. 331 und Björn Spiekermann: Literarische Lebensreform um 1900, S. 22. 414 Johann Wolfgang Goethe: „Die Wahlverwandtschaften“, in Ders.: Sämtliche Werke. I. Abt, Bd. 8: Die Leiden des jungen Werthers. Die Wahlverwandtschaften. Kleine Prosa. Epen. In Zusammenarbeit mit Christoph Brecht hrsg. v. Waltraud Wiethölter. Frankfurt/M. 1994, S. 269– 529, hier S. 338. 415 „Lürsen“ lässt sich onomasiologisch auf den Namen „Luther“ zurückführen, der wiederum unter „dem Einfluss von griech. Eleutherius“ gebildet worden ist (Duden Familiennamen. Herkunft und Bedeutung. Bearb. von Rosa und Volker Kohlheim. Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich 2005, S. 439). Lürsen erscheint im Roman insofern als der Freie, als er der einzige Mann ist, der

198

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

Romanhandlung eingeführt werden. Während der ehemalige Geistliche Mittler sich das Schlichten und Helfen zur Aufgabe gemacht hat, zeichnet sich der Mediziner Lürsen allerdings durch seine spitzfindigen und zynischen Kommentare aus. Magdalenes Aversion gegen Lürsen liegt darin begründet, dass er sie seit dem ersten Abend im Pfarrhaus durchschaut und sie somit fürchten muss, dass der Freund der Familie ihr Geheimnis lüften wird.416 Lürsen, der sich wie alle anderen männlichen Figuren des Romans in Magdalene verliebt,417 hat es seiner Intuition zu verdanken, dass er dem durch Magdalene verursachten Verhängnis entgeht: „Dann kam es ihm in den Sinn, wie er in unbewußter Ahnung der ihm drohenden Gefahr kurzer Hand seinen Verkehr im Pfarrhaus abgebrochen hatte.“ (MD, 238). Lürsens Leidenschaft für Magdalene und seine Eifersucht auf Arnold418 lassen nun seine oben zitierten Äußerungen zur Institution der Ehe weniger als Versuch, die Pfarrersfamilie vor dem drohenden Unglück zu bewahren, sondern vielmehr als ‚Abwerben‘ Magdalenes aus den Armen Arnolds erscheinen. Neben der Anspielung auf die Figur Mittlers bedient sich Hollaender in seinem Roman zahlreicher weiterer intertextueller Bezugnahmen auf Die Wahlverwandtschaften. Besonders deutlich wird dies anhand der Gestaltung der Liebesbeziehung zwischen Arnold und Magdalene. „Die Wahlverwandtschaften“ als Prätext für „Magdalene Dornis“ Ein eindrucksvolles Beispiel für den Goethe-Kult der Jahrhundertwende liefert Ernst Haeckel, auf dessen Schriften, wie gezeigt, mehrfach intertextuell in Magdalene Dornis verwiesen wird. Der ‚Große Heide‘ Goethe wird u.a. aufgrund seiner morphologischen Studien von Haeckel im Rahmen seiner spinozistisch-pantheistischen Naturvorstellung

Magdalene nicht ‚zum Opfer fällt‘, obwohl auch er sich ihres „sexuellen Magnetismus“ nicht erwehren kann. Vgl. in diesem Zusammenhang auch den Familiennamen von Arnold, Gerhart, Johanna und Erich, von Renck, der auf „Reinhard“, den Reinherzigen, zurückgeht (ebd., S. 538) und somit die Reinheit bzw. Unschuld der Familie betont. Demgegenüber steht Magdalenes Nachname, der auf ihre Herkunft aus Dorn, einem Ort in der Nähe von Koblenz hinweisen könnte und auf die von der schönen Frau ausgehende Gefahr hinweist (siehe oben, S. 174). 416 „Wie er eigentlich darauf gekommen war...Herr Gott...das wußte er nicht. Vielleicht, weil er aus dem gezwungenen Benehmen des Mädchens sofort geschlossen hatte, daß in ihrem Verhältnis zu Gerhart etwas nicht in Ordnung, sozusagen brüchig war. Und dann hatte er einen ihrer Seitenblicke eingefangen, die sie heimlich auf Arnold geworfen hatte.“ (MD, 235). Hier findet sich erneut das Motiv des Schielens, das Magdalenes männlich-begehrenden Blick verdeutlicht (siehe oben, S. 174, 179f.). 417 Vgl. MD, 236. Hollaender karikiert in der Figur des Kreisphysikus offenbar das dem alten Goethe zugeschriebene Interesse an jungen Frauen wie Minna Herzlieb, die als Vorbild für die Figur der Ottilie in den Wahlverwandtschaften gedient hat. Vgl. hierzu folgendes Selbstgespräch Lürsens: „Du Hanswurst, du, willst auf deine alten Tage noch zum Gelächter werden, bist denn verrückt geworden, Kerl du, der Hundsfott soll dich holen .... solche Jugendeseleien!....“ (MD, 236). 418 Vgl. MD, 238.

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

199

419

zum Propheten des Monismus stilisiert und als Beispiel für den „höchst entwickelten Vernunft-Menschen“ genannt.420 Im Hinblick auf Hollaenders Verarbeitung des Magdalenenstoffs ist besonders Haeckels intertextueller Verweis auf Goethes Ehebruchroman in Bezug auf die „principielle Einheit der Wahlverwandtschaften in der ganzen Natur, vom einfachsten chemischen Proceß bis zu dem verwickeltsten Liebesroman hinauf“,421 interessant. In der folgenden Passage beschreibt Haeckel die „unwiderstehliche Leidenschaft“ zwischen Eduard und Ottilie, die an die biologistischdeterministische ‚Wirkweise‘ von Magdalenes „sexuelle[m] Magnetismus“ erinnert. G o e t h e hat bekanntlich in seinem klassischen Roman „D i e W a h l v e r w a n d t s c h a f t e n “ die Verhältnisse der Liebes-Paare in eine Reihe gestellt mit der gleichnamigen Erscheinung bei Bildung chemischer Verbindungen. Die unwiderstehliche Leidenschaft, welche Eduard zu der sympathischen Ottilie, Paris zu Helena hinzieht und alle Hindernisse der Vernunft und Moral überwindet, ist dieselbe mächtige ‚unbewußte‘ Attraktions-Kraft, welche bei der Befruchtung der Thier- und Pflanzen-Eier den lebendigen Samenfaden zum Eindringen in die Eizelle [...] antreibt; dieselbe heftige Bewegung, durch welche zwei Atome Wasserstoff und ein Atom Sauerstoff sich zur Bildung von einem Molekel Wasser vereinigen.422

Die Parallelen zur Figurenkonstellation der Wahlverwandtschaften werden in Magdalene Dornis v.a. anhand der sich ähnelnden Handschriften Magdalenes und Arnolds deutlich, die hier wie dort auf den schicksalhaften Zusammenhang zwischen den Liebenden hinweisen. Während bei Goethe Eduard die Liebe Ottilies aufgrund ihrer perfekten Imitation seiner Handschrift erkennt, bemerkt Magdalene die Ähnlichkeit der Schriften, bevor die Affäre mit Arnold beginnt – ironischerweise anhand des schriftlichen Glückwunschs, den Arnold seinem Bruder zur Verlobung geschickt hatte. Und als ihr eines Tages durch Zufall jenes Schreiben in die Hände kam, wo Arnold zur Verlobung seinen Glückwunsch ihr geschrieben hatte, da geriet sie außer sich vor Freude, und eine solche Wonne durchzog sie, daß ihr die Tränen über die Wangen liefen. Und nun studierte sie jedes seiner Schriftzeichen, [...]. Sie lächelte ... nein ... nein ... sie täuschte sich nicht ... und ganz gewiß war es ... ihre Schrift ähnelte ... der seinen. (MD, 172)

419

„Das unsterbliche Verdienst, diesen höchsten philosophischen Begriff [den der Entwicklung, A.G.T.] empirisch begründet und zu umfassender Geltung gebracht zu haben, gebührt dem großen englischen Naturforscher C h a r l e s D a r w i n ; er lieferte uns 1859 den festen Grund für jene Abstammungslehre, welche der geniale französische Naturphilosoph J e a n L a m a r c k schon 1809 in ihren Hauptzügen erkannt, und deren Grundgedanken unser größter deutscher Dichter und Denker, W o l f g a n g G o e t h e , schon 1799 prophetisch erfaßt hatte.“ (Ernst Haeckel: Die Welträthsel, S. 8) (Sperrung im Original) 420 Ebd., S. 75. 421 Ebd., S. 91. 422 Ebd. (Sperrrung im Original).

200

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

Sowohl Magdalene als auch Ottilie, die bei Goethe nicht nur Züge der Jungfrau Hestia, sondern auch der Meerschaumgeborenen Aphrodite423 trägt, werden dem Element Wasser zugeordnet, wobei Magdalene, wie gezeigt, zusätzlich mit dem Element Feuer identifiziert wird. Auch auf den doppelten Ehebruch in den Wahlverwandtschaften – Charlotte imaginiert während der Zeugung des Kindes Otto den Hauptmann und Eduard Ottilie – wird angespielt, wenn Magdalene ihre Leidenschaft für Arnold auf ihren Verlobten Gerhart projiziert, dessen „heiße Liebe“ sie anders nicht zu erwidern weiß. So wie beiden der ungewohnt leidenschaftliche Kuss sündhaft vorkommt, erscheint Eduard die Nacht, in der Otto gezeugt wird, wie „ein Verbrechen“.424 Und dann auf einmal, als sie an den Anderen dachte, und die Schamröte sie überzog, beugte sie sich tief zu ihm herab und grub ihre kirschroten Lippen in seinen Mund, bis sie ihm auf die Zähne drang. Die Zweige knatterten und knisterten, und die beiden fuhren empor schreckgelähmt, als hätten sie Sündhaftes begangen. (MD, 109)

Trotz dieser Parallelen kann Magdalene als Kontrafaktur Ottilies gelten. Deutlich wird dies im unterschiedlichen Umgang mit ihren außerehelichen Beziehungen. Das „reine Kind“ Ottilie, die in Goethes Roman mehrfach zur Madonna stilisiert wird,425 entsagt nach dem Ertrinken Ottos trotz Charlottes Einwilligung in die Scheidung ihrem Geliebten Eduard, da sie das Unglück als Strafe Gottes für ihre sündige Liebe interpretiert.426 Bei Hollaender hingegen spekuliert die triebgeleitete Magdalene, die noch nichts von ihrer Schwangerschaft weiß, geradezu auf den Tod von Arnolds und Johannas Kind.

423

Vgl. hierzu Stefan Keppler-Tasaki: „Die Heiligung der ‚sündigen Liebe‘: Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘ und der Tristanstoff“, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 152 (2000), S. 64–91, hier S. 82 und Judith Reusch: Zeitstrukturen in Goethes Wahlverwandtschaften. Würzburg 2004, S. 66f. 424 „Eduard hielt nur Ottilien in seinen Armen; Charlotte schwebte der Hauptmann näher oder ferner vor der Seele, und so verwebten, wundersam genug, sich Abwesendes und Gegenwärtiges reizend und wonnevoll durcheinander. [...] Aber als Eduard des andern Morgens an dem Busen seiner Frau erwachte, schien ihm der Tag ahndungsvoll hereinzublicken, die Sonne schien ihm ein Verbrechen zu beleuchten; [...]“ (Johann Wolfgang Goethe: „Die Wahlverwandtschaften“, S. 353). 425 Vgl. zu diesem Aspekt Elizabeth Boa: „Die Geschichte der O oder die (Ohn-)Macht der Frauen: ‚Die Wahlverwandtschaften‘ im Kontext des Geschlechterdiskurses um 1800“, in: Goethe-Jahrbuch 118 (2002), S. 217–233, hier S. 230. Zur Verklärung der Jungfrau Ottilie zur Heiligen vgl. auch ihre Ähnlichkeit mit Hestia, auf die Reusch ausführlich eingeht (Judith Reusch: Zeitstrukturen in Goethes Wahlverwandtschaften, S. 61–72). Auf die Rätselhaftigkeit und Ambivalenz Ottilies, die in der Forschung immer wieder betont worden ist, soll hier nicht näher eingegangen werden. 426 „Eduardens werd ich nie! Auf eine schreckliche Weise hat Gott mir die Augen geöffnet, in welchem Verbrechen ich befangen bin. Ich will es büßen; und Niemand gedenke mich von meinem Vorsatz abzubringen!“ (Johann Wolfgang Goethe: „Die Wahlverwandtschaften“, S. 500).

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

201

Ja, wenn er [Erich] stürbe – – dann ... war das letzte Band gelöst, das Arnold und Johanna noch zusammen hielt ... denn ... nur ... der Knabe war es gewesen, der ihren Wünschen noch im Wege gestanden hatte. Sie blickte aufmerksam auf ihre weiße Hand. Sie schämte sich ihres Gedankenganges und kam doch immer wieder auf ihn zurück. Sie glaubte Arnolds Schmerz mitzuempfinden, aber sie spürte, daß dicht neben diesem Mitempfinden ein Anderes, ein Fremdes lag, das stärker war. (MD, 253)

Während Ottilie mit ihrem Entsagen und dem späteren Hungertod427 Buße für ihr ehebrecherisches Verhalten übt, hält Magdalene rücksichtslos an ihrer Leidenschaft für Arnold fest.428 Diese Rücksichtslosigkeit wird nun neu motiviert durch den ihr zugeschriebenen mütterlichen Instinkt („ein Anderes, ein Fremdes [...], das stärker war“), der insofern Teil der biologistischen und misogynen Konzeption der Maria MagdalenaFigur ist, als hier erneut Magdalenes Determination durch ihre Körperlichkeit zum Ausdruck kommt, die im Roman als Sitte und Moral unterwandernd konzipiert ist. Hollaenders kontrafaktische Bezugnahme auf Goethes Ottlilie wird auch in Hinblick auf deren Häuslichkeit deutlich, die Magdalene völlig abgesprochen wird. In Magdalene Dornis finden wir neben der Erwähnung ihrer Faulheit auch eine Passage, in der Magdalene sich Gerhart gegenüber von der Rolle der Hausfrau distanziert und Johanna zugleich als deren Karikatur erscheint. „[...] und Deiner Schwägerin magst Du das gleich sagen... für die Wirtschaft laß ich mich nicht anlernen – hörst Du? „Aber, Magdalene, als wenn ich je daran gedacht hätte, daß Du am russigen Kochherde mit Deinen weißen Händen Dich abrackern solltest, um mich bei Tisch umständlich zu belehren, daß der Hammelbraten [...] vorzüglich geraten, und sein Rezept so und so beschaffen sei; nein...nein!“ Nun lachten sie beide aus voller Kehle. (MD, 73)

Magdalenes Eitelkeit, ihre Leidenschaftlichkeit und ihre Lebenslust erinnern vielmehr an Charlottes leibliche Tochter Luciane, die als „brennender Kometenschweif“ die Kontrastfigur zu Ottilie darstellt. Auch auf Charlotte selbst, die in den Wahlverwandtschaften in der Rolle der Demeter429 erscheint, nimmt Hollaender bei der Konzeption seiner Maria MagdalenaFigur Bezug. So findet sich die Kombination von Grünpflanzen, Kunstblumen und Getreide, mit denen Charlotte bei Goethe die Mooshütte dekoriert („künstliche[ ] Blumen, und Wintergrün, doch darunter so schöne Büschel natürlichen Weizens und anderer Feld- und Baumfrüchte“) ,430 in der Beschreibung des Spaziergangs zu Arnolds 427

Vgl. hierzu auch Magdalenes Entwicklung von der halb verhungerten Jungfrau zum „liebetollen Weib“. 428 Vgl. hierzu die Einschätzung Boas, dass Ottilie die „andere neue Welt der befreiten Lust schließlich ablehnt“ (Elizabeth Boa: „Die Geschichte der O oder die (Ohn-)Macht der Frauen“, S. 227). Genau das tut Magdalene, trotz ihres inneren Kampfes, nicht. 429 Vgl. hierzu Judith Reusch: Zeitstrukturen in Goethes Wahlverwandtschaften, S. 80. 430 Johann Wolfgang Goethe: „Die Wahlverwandtschaften“, S. 288.

202

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

Feldern wieder, bei dem Magdalene einen „breiten Sommerhut, der mit Farrenkraut und ein paar müden Rosen garniert war, die im Entblätterungsprozess begriffen, ein naturähnliches Aussehen hatten“ trägt (MD, 137). Magdalene erscheint hier durch die Identifikation mit dem Element Luft erneut als „unbändiges Naturkind“. „Das Getreide steht gut“, sagte er [Arnold] mit schwerer Zunge. Und nachdem noch einmal sein zerfahrener Blick über den Acker geflogen war: „Komm – lass uns nach Hause gehen.“ Nun wartete er eine Weile ihrer Antwort – sie aber schwieg beharrlich. Sie hatte den Hut vom Haar gelöst und ließ ihn in der Luft flattern. (MD, 139)

Neben Merkmalen der Fruchtbarkeitsgöttin Demeter trägt Charlotte auch die der Ehegöttin Hera.431 Laut Reusch kommt ihr somit in den Wahlverwandtschaften nicht nur „die Aufgabe der Ehestiftungen, sondern auch die der Sittlichkeit“432 zu. Bei Hollaender finden wir diese Aufgaben Charlottes bei Johanna wieder, die ein starkes Interesse am Glück von Gerhart und Magdalene zeigt und sich empört über Fritze Krügers ‚Verschleiß‘ an ständig neu zu suchenden Mägden zeigt (MD, 124–127). Das neunte Kapitel des Romans beginnt mit Johannas Beschimpfung der aktuellen Magd, die sich mit dem liebeshungrigen Knecht eingelassen hat. Hollaender erzielt hier einen Überraschungseffekt, da der Leser aufgrund der bereits im Text vergebenen Informationen über Magdalenes Interesse an Arnold mit ihr als Angesprochener rechnet. Und daß ich Dich hinauswerfe bei dem geringsten Anlaß, – darauf kannst Du Dich verlassen – Du gemeine Person, schämst Du Dich denn garnicht, unter meinem Dach – Du sittenloses Geschöpf Du! (MD, 124)

Trotz der genannten Gemeinsamkeiten erscheint Johanna wegen ihrer Unbeholfenheit und Hausbackenheit als Karikatur von Charlotte.433 Besonders deutlich wird dies im Kontext des Ehebruchs. Während Charlotte bereits zu Beginn von Goethes Roman eine Vorahnung in Bezug auf die „Dazwischenkunft eines Dritten hat“ und mehrmals versucht, Ottilie aus dem Schloss zu entfernen, fehlt Johanna die weibliche Intuition, mit der Magdalene bereits bei der ersten Begegnung mit Arnold das „Verhängnis“ erahnt, und sie erscheint an mehreren Stellen des Romans sogar in der Rolle der Kupplerin für ihren Ehemann und die Braut ihres Schwagers, so etwa, wenn sie das Verlassen des Dorfes durch Magdalene und Arnold begrüßt.434 431

Vgl. Judith Reusch: Zeitstrukturen in Goethes Wahlverwandtschaften, S. 73–80. Ebd., S. 70. 433 Zur Gegensätzlichkeit der beiden Frauenfiguren vgl. auch Charlottes Forderung an Ottilie, „sie solle in Kleidern reicher und mehr ausgesucht erscheinen“ (Johann Wolfgang Goethe: „Die Wahlverwandtschaften“, S. 313), die an ihre Nähe zu Hera erinnert, welche „‚für den Putz und den Schmuck des Frauenzimmers besonders Sorge trägt‘“ (Judith Reusch: Zeitstrukturen in Goethes Wahlverwandtschaften, S. 77). In Kontrast dazu steht Johanna, die der Meinung, ist, dass Magdalene „als armes Mädchen [...] doch bescheidener in ihrem Äußeren auftreten“ sollte (MD, 105). 434 Vgl. auch MD, 169. Vgl. hierzu auch die Ausführungen Paul Kahls zu den „kompositorischen Ähnlichkeiten“ zwischen den Wahlverwandtschaften und Fontanes Unwiederbringlich; in beiden 432

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

203

„Wohin so eilig?“ fragte diese [Johanna]. „Mit Arnold auf das Feld!“ „Recht so!“ meinte Frau Pastor. (MD, 137)

Auch für die Brüder Gerhart und Arnold lassen sich parodierende Bezugnahmen zur Figurenkonstellation der Wahlverwandtschaften nachweisen. Während Eduard beim Spaziergang zur Mühle Ottilie offenbar wegen der gefürchteten Konkurrenz bittet, das Bild ihres Vaters abzulegen, deutet Magdalenes Faszination für das Porträtbild Arnolds bereits zu Beginn von Hollaenders Roman darauf hin, dass er die einzige männliche Figur sein wird, die die Stelle ihres Vaters, dem zuliebe Magdalene frühere Hochzeitsinteressenten abgelehnt hatte, einnehmen kann.435 Der Pfarrherr Arnold, dessen mangelnde Erfahrung mit Frauen bei Hollaender hervorgehoben wird, erscheint als Kontrafaktur des „Frauenliebling[s]“436 Eduard. Arnolds Bruder wiederum kann als Parodie von Eduards Freund Otto, der bei Goethe zunächst nur über seinen militärischen Rang und nicht namentlich in die Romanhandlung eingeführt wird, gelten, da der als effeminiert dargestellte Gerhart nur auf Anraten seines Bruders und mit Rücksicht auf die Familientradition eine militärische Laufbahn einschlägt, sich eigentlich aber zum Künstlerdasein berufen fühlt. Auf die Rolle von Goethes Hauptmann Otto als „mythologische[r] Entsprechung von Zeus’ Bruder Poseidon“ bzw. als „Herrscher über das Wasser“437 wird im Falle der korrespondierenden Figur Gerhart parodierend Bezug genommen, dokumentieren seine Briefe von der Schiffsreise nach Afrika doch, wie sehr er dem Element Wasser emotional ausgeliefert und dem „Meerweib“ Magdalene erlegen ist.438 Wie gezeigt, orientiert sich Hollaender bei der Gestaltung seiner Romangestalten an der gesamten Figurenkonstellation der Wahlverwandtschaften. Es konnte auch nachgewiesen werden, dass Magdalene Züge aller weiblichen Figuren trägt, die zur Lebenswelt des Schlosses in den Wahlverwandtschaften gehören. Die Bezüge zur Paarbeziehung zwischen Eduard und Ottilie sind in Hollaenders Roman allerdings am deutlichsten herausgearbeitet. Diese Konstellation wird bei Hollaender umgekehrt: Während der Frauenschwarm Eduard sich leidenschaftlich in die ‚heilige‘ Jungfrau Ottilie verliebt, diese aber die Erfüllung der gemeinsamen Liebe verweigert, ist es bei Romanen habe „jeweils die Ehefrau eine Vorahnung von der Gefährdung der Ehe und dem Ende“ (Paul Kahl: „Theodor Fontanes Unwiederbringlich in der Romantradition der Wahlverwandtschaften“, in: Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft 52 (2008), S. 374–391, hier S. 381). 435 Vgl. hierzu MD, 45. Hier heißt es in Bezug auf das Interesse zweier junger Männer, die sich um die achtzehnjährige Magdalene „bewarben“: „Der Postmeister blickte wie ein erschrecktes Kind in Magdalenes Antlitz. Aber das Mädchen lächelte eigentümlich, und der Sekretär wie Provisor erhielten ihre Körbe.“ Bereits ein Jahr zuvor hat Magdalene einen „Freier [...] rundweg abgewiesen“ (MD, 44). 436 Judith Reusch: Zeitstrukturen in Goethes Wahlverwandtschaften, S. 54. 437 Ebd., S. 57. 438 Eine Gemeinsamkeit der beiden Figuren in Bezug auf die Struktur des jeweiligen Romans liegt in der langen Abwesenheit des Hauptmanns und Gerharts während der erzählten Zeit.

204

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

Hollaender die Jungfrau Magdalene, die den „priesterlichen Mann“ Arnold erfolgreich verführt. Wie auch die karikierenden Bezugnahmen auf Charlotte, die Hollaender in seiner Figur der Johanna vornimmt, erfüllen diese Umkehrung des Geschlechterverhältnisses und die Konzeption Magdalenes als Kontrastfigur zu Ottilie die Funktion, die idealisierenden Weiblichkeitsentwürfe der Wahlverwandtschaften zu parodieren. Verbunden damit ist die negative Bewertung weiblicher Sexualität am Beispiel Magdalenes, die im Gegensatz zur Betonung von Häuslichkeit und Sittsamkeit der Frauenfiguren in den Wahlverwandtschaften steht. Wie subtil Hollaenders Bezugnahmen auf Goethes berühmten Ehebruchroman sind, wird besonders anhand einer Szene auf der Fahrt vom Bahnhof zum Pfarrhaus deutlich, in der Arnold der Braut seines Bruders die Dorfkirche zeigt. Sie [Magdalene] warf einen flüchtigen Blick auf das schmucklose Gotteshaus, das aus Stein ausgeführt, noch aus dem 15. Jahrhundert herrührte, und an allen Ecken und Enden geflickt und ausgebessert war. An der einen Stelle war die Mauer kreuzartig durchrissen. Das einzig Bemerkenswerte waren zwei grüne Glasfenster, die in ihrem Dunkel beinahe geheimnisvoll hinauslugten. „Herr Gott!“ klatschte sie in die Hände, „eine Windmühle, mitten auf dem kleinen Berge.“ „Das ist der Mühlberg,“ schaltete der Pfarrherr ein und sah sie verdutzt an, sie, die in diesem Augenblick zärtlich sich an Gerhart schmiegte. (MD, 84)

Mit dem „schmucklosen Gotteshaus“ spielt Hollaender offensichtlich auf die gotische Kirche an, die in den Wahlverwandtschaften unter Charlottes Anleitung restauriert wird. In deren Kapelle wird neben Eduard und dem Kind Otto auch Ottilie bestattet. In Magdalene Dornis wird der Bezug zu den Wahlverwandtschaften über die Personifikation der grünen Fenster deutlich, wird doch Ottilie bei Goethe als „wahrer Augentrost“ der Männer bezeichnet und die Wirkung ihrer Schönheit mit der Heilkraft des Smaragds verglichen: Dadurch war sie [Ottilie] den Männern, wie von Anfang so immer mehr, daß wir es nur mit rechtem Namen nennen, ein wahrer Augentrost. Denn wenn der Smaragd durch seine herrliche Farbe dem Gesicht wohl thut, ja sogar einige Heilkraft an diesem edlen Sinne ausübt; so wirkt die menschliche Schönheit noch mit weit größerer Gewalt auf den äußern und inneren Sinn. Wer sie erblickt, den kann nichts übles anwehen; er fühlt sich mit sich selbst und mit der Welt in Übereinstimmung.439

Die geheimnisvoll hervorlugenden Kirchenfenster erinnern in Magdalene Dornis an den Opfertod der reinen Jungfrau Ottilie, während die von der Titelfigur ausgehende Gefahr im Gegensatz zur heilsamen und harmonisierenden Wirkung der Schönheit in der zitierten Passage aus Goethes Roman steht. Dass Magdalene kein Interesse an der unscheinbaren Kirche zeigt, sondern sich eher für die pittoresk auf einem Hügel gelegene Windmühle begeistert, kann zum Einen auf ihre Großstadtmüdigkeit und die Begeisterung für die ländliche Idylle gewertet werden. Zum Anderen lässt sich hier ein 439

Johann Wolfgang Goethe: „Die Wahlverwandtschaften“, S. 313. Vgl. in diesem Kontext auch Goethes Bezugnahme auf die Legende der heiligen Ottilie, der Schutzpatronin der Augenkranken.

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

205

Bezug zu Goethes Roman herstellen, da die Mühle der Ort ist, an dem sich die Liebesbeziehung zwischen Ottilie und Eduard zum ersten Mal andeutet.440 Insofern kann die Szene auf dem Weg nach Bornhof, die ohne das Wissen über die intertextuellen Bezüge zu den Wahlverwandtschaften rätselhaft bleibt, als Vorausdeutung auf Magdalenes Entwicklung zur kompromisslos Liebenden gelten, die in Kontrast zu Ottilies Entsagen steht. Hollaender, der in Magdalene Dornis die verkürzte Klassikerrezeption am Beispiel des oberflächlichen Goethekults seiner Zeit kritisiert, zeigt sich selbst mit seinen zahlreichen Bezugnahmen auf die Figurenkonstellation der Wahlverwandtschaften als unter dem von Fontane diagnostizierten „Goethe-Bann“441 der Jahrhundertwende stehend. Unter den Vorzeichen der Moderne verhandelt Hollaender am Ende des 19. Jahrhunderts die Ehebruchthematik und kehrt dafür die Verhältnisse des berühmten Ehebruchromans vom Beginn des Jahrhunderts um. So entsagt Magdalene nicht wie Ottilie dem geliebten, aber verheirateten Mann und sühnt ihren Angriff auf die Institution der Ehe, sondern sieht das Ausleben ihrer Liebe als ihr individuelles Recht an. Bei der Thematisierung des Ehebruchs bezieht Hollaender sich auf wichtige zeitgenössische Wissenselemente, wie das zeitgenössische Bild der Frau als triebgeleitetes und amoralisches Wesen, Haeckels Popularisierung der Darwin’schen Lehre und das damit einhergehende Verständnis des Menschen als Naturwesen sowie das lebensreformerische Konzept der Freien Ehe. Letzteres wird im Roman mehrfach von Arnold, der sich im Laufe des Romans aus seiner religiösen Bindung herauslöst, ‚propagiert‘. Der durch Magdalene in Versuchung geratene Pfarrherr, der zur Abschreckung in der „heiligen Schrift [...] die Stellen, wo vom Ehebruch die Rede ist“ (MD, 162), studiert, glaubt zunächst noch mit Hilfe seines „starken Glauben[s]“ „widerstehen“ zu können (MD, 163). Unter dem Einfluss seiner neu erlangten Weltanschauung verteidigt Arnold später das individuelle Ausleben seiner Liebe und stilisiert seine Beziehung zu Magdalene zur Ehe zwischen zwei von der Natur für einander bestimmten Menschen und zum „Heiligste[n]“,442 wobei Magdalene erneut als ‚Katalysator‘ der inneren Wandlung des Pfarrherrn fungiert. In der folgenden Passage erscheint Arnold in der Rolle der Ehebrecherin, deren Steinigung Jesus verhindert. Sein ‚gerechtfertigter‘ Ehebruch ermöglicht ihm die Wahrung des „Heiligsten“. 440

Vgl. hierzu auch den Stellenkommentar zu den Wahlverwandtschaften, in dem der Gang zur Mühle als „Eintritt des Paares in den Bereich des Gottes Pan“ als „Eintritt in ein Arkadien der freien, von Konvention nicht behinderten Erotik“ gedeutet wird (Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. I. Abt, Bd. 8, S. 1031). In Magdalene Dornis finden Magdalene und Arnold dieses Arkadien auf ihren Spaziergängen zu den Feldern jenseits des Dorfes. 441 Theodor Fontane: Werke, Schriften und Briefe. 4. Abt.: Briefe. Bd. 4: 1890–1898. Hrsg. v. Walter Keitel und Helmuth Nürnberger. München 1982, S. 533. 442 Hier klingt erneut die für die Jahrhundertwende typische religiöse Überhöhung von Liebe und Sexualität an, vgl. hierzu Kap. 7.2.

206

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

Sie [Magdalene] hatte aber mit ihrem heißen Willen auch in ihn ein Kraftgefühl gesenkt, daß er jeden Selbstmordgedanken weit von sich wies. Er wollte leben und aller herrschenden Moral zum Trotz sein Glück sich bauen. Und gerade darin, daß er vor aller Welt in seinem neuen Denken sich bekennen würde, unbekümmert, daß man ihn von allen Seiten steinigen würde, wollte er sich scheiden von jenen Anderen, die in freveler Sinnenlust über das Heiligste hinwegschritten.443 Denn das Heiligste blieb ihm die Ehe – die Ehe zwischen Mann und Weib, die für einander geschaffen und von der Natur für einander bestimmt waren. Und Verbrechen und Sünde war es, in die Ehe zu schreiten, ohne von dem Bewußtsein erfüllt zu sein, daß diese und nur diese das Weib sein konnte, mit der man leben durfte. [...] (MD, 207)

Deutlich zeigt sich hier wieder der Nietzsche-Einfluss in der Umwertung bürgerlicher Werte durch den von Magdalene ‚bekehrten‘ Pfarrherrn. Unter dem Einfluss des zeitgenössischen Ich-Kults bzw. der Legitimierung des „Glücksanspruchs des Individuums auch gegen gesellschaftliche Schranken“444 ruft Arnold den Ehebruch gar zur „sittlichen That“ (MD, 213) aus. Bevor Arnold seine individualistische Sicht der Dinge ausprägt und seine Liebe zu Magdalene wie gezeigt rechtfertigt, zieht er, um „größeres Unheil“, nämlich die Konsequenzen seiner Beziehung zu Magdalene, von seiner Familie abzuwenden, Selbstmord in Erwägung (MD, 213). Später verwirft er diese Option als feige.445 Magdalene erscheint der Doppelselbstmord unglücklich Liebender („wie zwei Menschen aneinander gekettet im Tode sich vereinten, weil ihnen das Leben jede Möglichkeit dazu benommen“; MD, 132) zunächst als „Riesenthat“. Während sie in ihrer Reflexion über die Option der Selbsttötung beginnt, „die Bande zu lösen, die sie an Pflicht und Sitte fesselten“, erscheint es ihr allerdings mutiger, „allen Hemmnissen und der Welt zum Trotz, ihr gegenseitiges Recht geltend zu machen“ bzw. „diesen Kampf mit aller Energie zu führen, wo endlich der Sieg für alle Leiden reich entschädigen muß“ (MD, 133). Die „zwei Menschen“, die „aneinander gekettet im Tode sich vereinten, weil ihnen das Leben jede Möglichkeit dazu benommen“, erinnern an Ottilie und Eduard, von denen es im letzten Satz der Wahlverwandtschaften heißt: „[...] welch ein freundlicher Anblick wird es seyn, wenn sie dereinst wieder zusammen erwachen“.446 Während die Vereinigung der Liebenden bei Goethe wegen Ottilies selbstauferlegten Hungertodes, der wiederum den Tod Eduards zur Folge hat, erst im Jenseits möglich ist, entscheiden Magdalene und Arnold sich für die im Diesseits konsequent ausgelebte ehebrecherische Liebe. Diese wird bei Hollaender durch den Doppelmord des heimgekehrten Gerhart an seinem Bruder und der eigenen Braut gesühnt. Hollaender zeigt somit auf, dass der von ihm nach dem Muster realer lebensre443

Vgl. hier die inhaltlichen Parallelen zu Benzmanns Konzeption der heiligen Liebe und den „Frevler[n] [...], die mit lüsternem Spiel/die züchtigen Schleier des Schooßes entfalten,/Verspottend der Liebe Ziel.“ (siehe oben, S. 102). 444 Björn Spiekermann: Literarische Lebensreform um 1900, S. 222. 445 „Denn gemein und feige war es, sich gegen Sitte und Herkommen zu empören, um dann in seiner Kraft zusammenzubrechen und aus bleicher Furcht an sich selber Hand an zulegen.“ (MD, 213). 446 Johann Wolfgang Goethe: „Die Wahlverwandtschaften“, S. 529.

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

207

formerischer Konzepte gestaltete alternative Weltanschauungsentwurf, in dem Arnolds Vorstellung von der Freien Ehe nur einen Teil ausmacht, unter der vorherrschenden Moral des Wilhelminismus zum Scheitern verurteilt ist. Insofern trifft auch für Hollaenders „modernen Roman“ zu, was Paul Kahl für die Wahlverwandtschaften und Fontanes Roman Unwiederbringlich konstatiert, dass nämlich „[h]inter dem Problem der Ehe [...] die Grundfrage nach der Selbstbehauptung des Menschen gegenüber den ihn einschränkenden Gesetzmäßigkeiten überhaupt“447 liege. Fazit In Magdalene Dornis verarbeitet Hollaender bei der Gestaltung der Titelfigur grundlegende Elemente des Magdalenenstoffs, wie z.B. die Maria Magdalena zugeschriebene Eitelkeit, ihre Schönheit sowie ihren Hang zu Faulheit und Luxus. Im gesamten Roman wird immer wieder die Wirkung von Magdalenes langen roten Haaren und ihres betörenden Dufts beschrieben. Insofern liefert der Text ein eindrucksvolles Beispiel für die Haarerotik in Kunst und Literatur der Jahrhundertwende. Hollaender gestaltet seine Maria Magdalena-Figur, deren sprechender Name bereits auf die große Sünderin verweist, als Ehebrecherin, die den christlichen Priester Arnold, der Züge Jesu trägt, verführt. Dabei nimmt er Bezug auf die Vorstellung von Maria Magdalena und Jesus als Liebespaar. Bei der Gestaltung der Kontrastfiguren Johanna und Magdalene bezieht sich Hollaender auf das Maria und Marta-Idyll, so etwa in der Gegenüberstellung von Johanna und Magdalene im Kontext von Arnolds Reflexion über die Erziehung der Frau. Johanna erscheint in der Rolle der tätigen Hausfrau, während Magdalene als vermeintlich aufmerksame Zuhörerin Arnolds erscheint, die das „bessere Teil“ erwählt hat. Dass Hollaender sich hier allerdings parodierend auf den biblischen Prätext bezieht, wird deutlich, wenn im Text die Information vergeben wird, dass Magdalene Arnold lediglich aus sinnlichem Interesse an seiner Stimme und aus Gefallsucht und nicht wegen des Inhalts seiner ‚Lehre‘ lauscht. Hollaenders intertextuelle Bezugnahme entspricht insofern Pfisters Kriterium der Dialogizität, als der Folgetext den biblischen Prätext „ironisch relativier[t] und seine ideologischen Voraussetzungen unterminier[t].“ Magdalenes Funktion als Extrakt alles Weiblichen, das im Roman mit Eitelkeit, Triebhaftigkeit und Falschheit assoziiert wird, macht Hollaenders Text zu einem typischen Beispiel für die misogyne und biologistische Darstellung der Frau in der Literatur um 1900, wobei die deterministische Perspektive des Naturalisten Hollaender die Frage nach der Schuld für Magdalene Dornis letztlich überflüssig macht.448 Hansson reproduziert das Bild von Magdalene als Elementarweib, wenn er in seiner 447

Paul Kahl: „Theodor Fontanes Unwiederbringlich in der Romantradition der Wahlverwandtschaften“, S. 388. 448 Siehe oben, S. 182. Vgl. hierzu auch Flemmings Einschätzung, dass es im Roman nicht um „Bösewichter, sondern um naturhafte Gegebenheiten aufgrund von Umgebung und Vererbung“ gehe (Willi Flemming: „Felix Hollaender und sein Werk“, S. 563).

208

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

Rezension mit Verweis sowohl auf die biblische Mythologie als auch auf den Kampf der Geschlechter die Darstellung der Liebe in Hollaenders Roman thematisiert. Was Holländer [sic!] darstellt, das ist auch ganz einfach Eva, das Weib, das Bedürfnis nach Liebe. [...] Diese Magdalene, in deren Nähe kein Mann kommen kann, ohne an ihr hängen zu bleiben, ist im Grunde nichts anderes, als die verkörperte Naturmacht, die die stärkste ist unter den Menschenkindern. Und diese Naturmacht: des Weibes Herrschaft über den Mann, des Mannes Empfindung für das Weib, steht hier ganz ohne Zusammenhang mit den äußeren und inneren Gesetzen des menschlichen Wesens da. Sie hat ihren Ursprung jenseits davon; in einer geheimnisvollen Physis, die uns nicht anders entgegentritt und sich in keiner anderen Form greifen lässt, als in der des sengenden Feuers, das uns auch aus Eva-Magdalenas Leib entgegenschlägt.449

Magdalene hält an ihrer Liebe zu Arnold „der Welt zum Trotz“ konsequent fest und erscheint somit in Maria Magdalenas Rolle als Exempel großer Liebesfähigkeit. Bei der Verarbeitung des Liebesmotivs stellt Hollaender einen karikierenden Bezug her zum courtisane rachetée-Stoff. So erscheint die vermeintlich vom reinen Mann Arnold erhobene Maria Magdalena-Figur als Verführerin des Pfarrherrn, die ihn aus seiner alten Weltanschauung löst und zu radikal diesseitigem Lebensgenuss aufruft. Wie bei Hartleben und Benzmann gestaltet also auch Hollaender eine umgekehrte Bekehrung; Magdalene erscheint hier als sexuelle Erlöserin. Wie gezeigt spielt Hollaender bei der Nachtszene im Pfarrhaus, in der das Ringen Magdalenes mit ihrer erwachenden Sexualität gestaltet wird, auf die Besessenheit Maria Magdalenas an. Hollaenders Aktualisierung des Magdalenenstoffs besteht hier darin, dass er die Besessene unter Rückgriff auf zeitgenössisches medizinisches Wissen zur Hysterikerin stilisiert. Durch die intermedialen Bezüge auf Kunstwerke (Böcklins Meerweib, Faun, Venus von Milo, Loreley, Rheintöchter) und das dominante Wassermotiv, die zur Charakterisierung Magdalenes genutzt werden, wird ihre Rolle als gefährliches elementares Naturwesen und als Personifikation des ‚Lebens‘ deutlich. Verknüpft damit ist im Roman das Übermächtigungsmotiv, das zum Einen in der Beschreibung von Magdalenes Wirkung auf die männlichen Figuren, zum Anderen in den durch Magdalene ausgelösten All-Einheits-Erlebnissen zum Ausdruck kommt. Auch Arnolds Verlust seiner bisherigen „Welt- und Sittenanschauung“ und die männliche Selbstaufgabe sind hier zu nennen. Beides wird von Arnold positiv gewertet. Dies steht im Gegensatz zur negativen Variante des Übermächtigungsmotivs, durch die sich der literarische Typus der femme fatale auszeichnet. Hollaender bezieht sich bei der Gestaltung der weiblichen Hauptfigur zudem auf die Doppelwertigkeit Maria Magdalenas als Heilige und Hure. So gleicht Magdalene, die zu Beginn des Romans Züge der femme fragile trägt, im weiteren Verlauf der Romanhandlung aufgrund der ihr zugeschriebenen Grausamkeit und ihrer Falschheit, mit der sie die ihrem sexuellen Magnetismus erlegenen Männer täuscht, immer mehr 449

Ola Hansson: „Neue Bücher. I. Magdalena Dornis von Felix Holländer“, S. 1085f.

Maria Magdalena in der literarischen Lebensreform

209

dem Typus der femme fatale. Obwohl die durch Magdalene verkörperte weibliche Sinnlichkeit zur Katastrophe führt, erschwert ihr Changieren zwischen femme fatale und femme fragile, ebenso wie die Bezugnahmen auf den Typus der courtisane rachetée, eine eindeutige Einordnung als verderbenbringende Frau. Die Ambivalenz der Maria Magdalena-Figur, die nicht eindeutig einem der genannten Weiblichkeitsentwürfe zugeordnet werden kann, wird besonders deutlich, wenn man das Ende des zwanzigsten Kapitels von Magdalene Dornis in der dritten Auflage mit dem der ersten Auflage des Romans vergleicht. Während es in der Erstausgabe von 1892 über Johanna, die von Magdalenes Schwangerschaft erfährt, noch heißt: „Ein schriller gellender Schrei entrang sich dem gepeinigten Weibe, etwas, das wie ‚Dirne!‘ klang“,450 ist später nur noch von dem nicht weiter spezifizierten „gellende[n] Schrei“ Johannas die Rede. Mit diesem Verzicht auf die starke Negativwertung Magdalenes an wichtiger Stelle des Romans verstärkt Hollaender die Ambivalenz seiner modernen Maria Magdalena-Figur. Wie gezeigt werden konnte, orientiert sich Hollaender bei der Darstellung seiner Romanfiguren an Goethes Wahlverwandtschaften, wobei er die Figurenkonstellation in wichtigen Punkten ‚umkehrt‘: Während Eduard bei Goethe ganz von seiner Liebe zu Ottilie erfüllt ist, lehnt diese eine Verbindung zwischen beiden nach dem Tod von Charlottes und Eduards Sohn ab. Bei Hollaender ist es die Jungfrau Magdalene, die den reinen Mann Arnold verführt, die Beziehung der beiden wird – dem um 1900 verbreiteten, von Nietzsche beeinflussten ‚culte du moi‘ entsprechend – konsequent und rücksichtslos ausgelebt. Die betrogene und ahnungslose Ehefrau Johanna ist eine Karikatur Charlottes, welche sich bei Goethe durch ihre Weitsicht auszeichnet. Der verweiblichte und schwächliche Gerhart wiederum steht im Gegensatz zum tatkräftigen Hauptmann in den Wahlverwandtschaften. Diese Modifikation der Figurenkonstellation des klassischen Prätexts verweist auf Hollaenders Verhandlung der Eheproblematik unter dem Eindruck der gesellschaftlichen Veränderungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Die Vielzahl der weltanschaulichen Ansichten der Jahrhundertwende wird angedeutet in Arnolds Aneignung verschiedener zeitgenössischer Wissenselemente, die er zu seinem ‚neuen Glauben‘ amalgamiert. Die Herauslösung des Pfarrherrn aus seinen bisherigen religiösen und moralischen Anschauungen wird durch die Maria Magdalena-Figur Magdalene bzw. durch deren „geheime Weckkraft“ (MD, 152) ausgelöst. Magdalene selbst wiederum fungiert im Roman als Personifikation des ‚Lebens‘ und der Liebe, die die Memoiren Arnolds in seiner Handschrift mit dem Satz „Leben heißt lieben“ abschließt. Der letzte Abschnitt dieses Texts, in dem Arnold auf den Konflikt des Übergangsmenschen um 1900 eingeht, nachdem er in seiner Einleitung „ein Bild der geistigen Strömungen seiner Zeit zu geben suchte“, wird in Magdalene Dornis in einer intradiegetisch erzählten Passage wiedergegeben, in der Hollaender durch die Erwähnung 450

Felix Hollaender: Magdalene Dornis. Ein moderner Roman. Berlin 1892, S. 320.

Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der Literatur seit 1900

210

der „Gespenster“ Ibsen anspielt:

451

intertextuell auf das berühmte Drama seines literarischen Vorbilds

Wir Menschen an der Neige des neunzehnten Jahrhunderts klebten an den morschen Vorurteilen einer vergangenen Zeit und zerschnitten in uns selbst jede freiere Entwicklung, weil wir nicht die sittliche Kraft besaßen, Gespenster, die in uns rumorten, d.h., jene in sich toten und zerfallenen Anschauungen zu bannen. In Nacht und Dunkel schritten die meisten und begriffen nicht einmal, daß es einen Kampf galt um eine moderne Welt- und Sittenanschauung. (MD, 291)

Hollaender gestaltet in seinem Roman eben jenen Kampf um eine neue Weltanschauung und das Scheitern des in Freier Ehe verbundenen Paares an den gesellschaftlichen Schranken der Wilhelminischen Gesellschaft. Als deren Repräsentant erscheint Gerhart, der mittlerweile „Sekond-Lieutenant“ der „Afrikanischen Gesellschaft“ (MD, 261) ist und somit als Stellvertreter der expansiven Kolonialpolitik Wilhelm II. fungiert, am Ende des Romans, wenn er Bruder und Braut richtet. Obwohl Magdalene in ihrer Beziehung zu Gerhart als femme fatale erscheint, nimmt dieser kein fatales Ende. Erst durch den Doppelmord wird Gerhart, dessen Verhängnis es ist, dass er „seiner ganzen Naturanlage und aus den Gesetzen seines Ichs heraus Künstler war“ „und in dem Augenblick versagte, wo er sich vermaß, dem, was ihn bewegte Gestalt zu geben“ (MD, 5), im Irrenhaus zum gefeierten Maler. Insofern findet auch er, wie sein Bruder Arnold, erst durch Magdalene zu „den Wurzeln seines Selbst“ (MD, 7).

451

Vgl. hierzu folgende Einschätzung Frau Alvings zum Übergangsmenschen der Jahrhundertwende: „Aber, Manders, ich glaube fast, wir alle sind Gespenster. Nicht nur das, was wir von Vater und Mutter geerbt haben, geht in uns um. Es sind alle erdenklichen, toten Ansichten und allerhand alter, toter Glaube und so weiter.“ (Henrik Ibsen: Sämtliche Werke in deutscher Sprache. Durchges. und eingel. von Georg Brandes, Julius Elias und Paul Schlenther. Reihe 1, Bd. 7: Gespenster. Ein Volksfeind. Die Wildente. Berlin o.J. [ca. 1901], S. 47). Vgl. hierzu auch S. 195, Anm. 411.

7

Maria Magdalena als ‚Schutzpatronin‘ der literarischen Lebensreform1

Wie gezeigt werden konnte, übernehmen alle Autoren des Korpus bei ihren aktualisierenden Darstellungen Maria Magdalenas einzelne Elemente des tradierten Magdalenenstoffs. So erscheinen die untersuchten Maria Magdalena-Figuren als schöne sinnliche Frauen mit langem Haar, die z.T. in der Rolle der Geliebten Jesu erscheinen oder deren Beziehung zur jeweiligen männlichen Figur an diese Konstellation erinnert. Auch auf die Vorstellung von der reizenden Büßerin mit sündiger Vergangenheit und deren erotische Darstellung in bildender Kunst und Literatur seit dem 17. Jahrhundert wird Bezug genommen. Dabei wird die Doppelwertigkeit dieser außergewöhnlichen christlichen Figur betont, die als heilige Hure traditionell sowohl als Beispiel für Sündhaftigkeit als auch für Tugend und Vergebung gilt. Die Vorstellung von Maria Magdalena als Kurtisane („Jesus und Mirjam“) und Ekstatikerin (Magdalene Dornis) findet sich ebenfalls in den untersuchten Texten. Alle diese Elemente hypothetischen literarischen Wissens werden von den Autoren mit zeitgenössischen wissenschaftlichen und weltanschaulichen Wissensbeständen in Bezug gesetzt, und zwar in spezifischer, an die Unterströmung der literarischen Lebensreform gebundener Kombination. Besonders in Schlafs und Hollaenders aktualisierenden Verarbeitungen des Magdalenenstoffs wird dabei der sinnmodifizierende Effekt intertextueller Bezüge zu interpretatorisch relevanten Wissensmengen deutlich. Beispiele für die in den Aktualisierungen des Magdalenenstoffs herangezogenen Wissenselemente sind der durch seine Darwinrezeption geprägte Monismus Haeckels, Nietzsches Lebensphilosophie und lebensreformerische Wissensbestände wie das Konzept der Freien Ehe und die Verkultung des menschlichen Leibes und seiner Sexualität.2 1 2

Vgl. hierzu Kempers Charakterisierung der Muttergottes als „Schutzpatronin christlicher ‚Diätverordnungen‘“ siehe oben, S.13. Ohne andeuten zu wollen, dass es sich bei der Strömung der literarischen Lebensreform um eine literarische Gruppe im engeren Sinne handelt, kann man hier von gruppenspezifischem Wissen sprechen, da sich in den Texten des Korpus „[u]nter Ausscheidung textspezifischer, also individueller Wissensbehauptungen“ die genannten Wissenselemente als gruppenspezifische nachweisen lassen (vgl. hierzu Titzmanns Definition des gruppenspezifischen Wissens, siehe oben, S. 20f.). Auf diese Weise lässt sich die Verarbeitung des Magdalenenstoffs in der literarischen Lebensreform auch von der anderer literarischer Strömungen der Jahrhundertwende abgrenzen (vgl. hierzu Kap. 6.2).

212

Maria Magdalena als ‚Schutzpatronin‘ der literarischen Lebensreform

Aufgrund der Parallelen, welche die Maria Magdalena-Figuren in der literarischen Lebensreform aufweisen bzw. der „gestaltförmige[n] Konfiguration von Figureninformationen“, kann in Bezug auf die Aktualisierung des Magdalenenstoffs von der Ausbildung eines Typus bzw. einer Figurenkonzeption die Rede sein, die ich als erlösungsgewährende Verführerin oder sexuelle Erlöserin bezeichne. Obwohl bei Hartleben, Schlaf und Rilke Maria Magdalena nicht direkt als erlösende Verführerin erscheint, lässt sich auch für diese Aktualisierungen des Magdalenenstoffs die Konzeption der menschlichen Sexualität als erlösungsgewährende Erfahrung nachweisen. So mündet bei Hartleben die umgekehrte Bekehrung Maria Magdalenas durch Dionysos unter Anspielung auf das christliche Ritual der Eucharistie in der diesseitigbacchantischen Vereinigung der Hauptfiguren. In Schlafs Erzählung wird der Erlösung der Menschheit durch den Kreuzestod Jesu die Erlösung von „Mann und Weib“ durch sexuelle Erfüllung gegenübergestellt, die von der Maria Magdalena-Figur Mirjam eingefordert wird. In Rilkes Gedichten „Pietà“ und „Der Auferstandene“ wird dem Erlösungstod Jesu die in der jeweiligen Maria Magdalena-Figur personifizierte erotische Liebe gegenübergestellt, die sie als Situationsmächtige erscheinen lässt. Die in allen Texten des Korpus nachgewiesene, der Romantik entstammende „Vorstellung von der Frau als Naturwesen“, das „mit den vitalen Kräften des Lebens enger verbunden ist als der Mann“3 findet sich u.a. bei Nietzsche, der das Weibliche mit dem Dionysischen identifiziert und die „Frau als Erlöserin des Mannes“ begreift.4 Seine Identifikation des Weiblichen mit dem Sinnlichen bzw. Sexuellen entspricht einer der beiden um 1900 weit verbreiteten, von den Naturwissenschaften inspirierten Ansichten über das Weibliche, die sich in den ästhetischen Typen der femme fatale und der femme fragile manifestieren.5 3 4

5

Carola Hilmes: „Sehnsucht nach Erlösung“, S. 277. Carol Diethe: Vergiss die Peitsche. Nietzsche und die Frauen. Hamburg, Wien 2000, S. 11. Nietzsche postuliert darüber hinaus die von ihm positiv gewertete Geistlosigkeit der Frau. Beide dem Weiblichen hier zugeschriebenen Aspekte wurden in Hollaenders Roman nachgewiesen; zum Einen in der Konzeption Magdalenes als „unbändiges Naturkind‘, zum Anderen in Arnolds Bemühen, dem zu sich emporgehobenen Weib eine „freiere, höhere Anschauung über Welt und Dinge einzuflößen“ (MD, 211). So weist etwa Catani darauf hin, dass die Frau im wissenschaftlichen Diskurs der Jahrhundertwende meist als wesenhaft sexuell oder als vollkommen asexuell angenommen wird, wobei in beiden Fällen eine deutlich negative Bewertung von Weiblichkeit vorgenommen wird. Beispiele für die beiden Extrempostionen in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem ‚Rätsel Weib‘, die eine „Bio-Charakterologie der Frau“ (Jacques LeRider: Das Ende der Illusion. Die Wiener Moderne und die Krisen der Identität. Wien 1990, S. 130) vornehmen, sind zum Einen Weiningers viel zitierte Annahme des grundsätzlich „Dirnenhaften“ der Frau (vgl. Otto Weininger: Geschlecht und Charakter, S. 277) bzw. der polygamischen Veranlagung, die jeder Frau zukomme, zum Anderen die „[...] Absage an die weibliche Libido“ (Stephanie Catani: Das fiktive Geschlecht, S. 44). Vgl. zu diesem Zusammenhang auch Stauffer: Weibliche Dandys, blickmächtige Femmes fragiles, S. 321: „Die entsexualisierte Femme fragile und die sinnliche femme fatale verweisen beide auf konkurrierende Sexualtheorien des Fin de Siècle.“

Die Heilige Hure – femme fatale und femme fragile

213

7.1 Die Heilige Hure – Aktualisierung des Magdalenenstoffs und die Weiblichkeitstypen femme fatale und femme fragile Nun, in den Romanen und Theaterstücken ist die Frau entweder etwas unglaublich Gutes und Edles. Oder sie ist ganz las-ter-haft und dä-mo-nisch!!! Das ist ja alles so ein Unsinn! Das kommt bloß, weil Männer die Literatur beherrschen. Ihr Männer betrachtet die Frau ja doch nicht objektiv, sondern immer als den Gegenstand Eurer Lust oder Eures Leids.6

Die Autoren der untersuchten Texte kombinieren bei ihrer Aktualisierung des Magdalenenstoffs Merkmale der um 1900 dominanten Weiblichkeitstypen der femme fatale und der femme fragile7, wobei die Maria Magdalena-Figuren aufgrund der der Heiligen traditionell zugeschriebenen polymorphen Sexualität mehr der femme fatale als der femme fragile ähneln. Catani weist darauf hin, dass im Falle der femme fatale weibliche Sexualität „im Bild der triebgesteuerten, sexuell aktiven Frau“ dämonisiert wird, indem das Wesen der Frau mit der ihr zugeschriebenen „‚unbändige[n] weibliche[n] Sexualität, [...] die gleichsam den Geist, die Denkfähigkeit der Frau in ihren Bann zieht‘“,8 gleichgesetzt wird. Die Vorstellung von der Determination der Frau durch ihre Geschlechtlichkeit konnte v.a. für die Verarbeitungen des Magdalenenstoffs von Schlaf und Hollaender nachgewiesen werden. Die Beneblung der Frau durch die sie dominierende Triebhaftigkeit kommt bei Schlafs Maria Magdalena-Figur Mirjam durch ihr Unvermögen, Jesu 6 7

8

Marie Madeleine: Das bischen [sic!] Liebe. Drittes Tausend. Berlin 1906, S. 67. Vgl. hierzu Stephanie Catani: Das fiktive Geschlecht, S. 84f. Die Autorin zählt hier als die „kulturell etablierten Frauentypen“ femme fatale, femme fragile und femme enfant auf. Wegen ihrer Asexualität bzw. ihrer wenig ausgeprägten Sexualität wird die femme enfant im Rahmen der vorliegenden Arbeit, in der primär die motivische Nähe der Maria Magdalena-Figuren zur femme fatale von Interesse ist, unter den Typ der femme fragile subsumiert. In der jüngsten Forschung finden sich vermehrt Hinweise auf weitere Weiblichkeitstypen in der Literatur der Jahrhundertwende, wie etwa den weiblichen Dandy oder die Neue Frau (vgl. hierzu Isabelle Stauffer: Weibliche Dandys, blickmächtige Femmes fragiles). Aufgrund des stärkeren sozialgeschichtlichen Bezugs solcher Figuren, der im Gegensatz zu (pseudo)mythischen Weiblichkeitsimaginationen, zu denen ich neben der femme fatale auch die „biblische[ ] Skandalfigur[ ]“ Maria Magdalena zählen möchte, steht, bleiben diese Typen in der vorliegenden Arbeit unberücksichtigt. Ebd., S. 42f.. Auch Hilmes geht in ihrer Studie zur femme fatale auf dieses misogyne Moment in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung der Jahrhundertwende mit dem Weiblichen ein, wenn sie diese mit der Konzeption des Geschlechterverhältnisses um 1800 vergleicht: „Während jedoch die ‚polarisierte Geschlechterphilosophie‘ des ausgehenden 18. Jahrhunderts, die in der deutschen Klassik und Romantik literarisch vergewissert wurde, ausdrücklich die Gleichwertigkeit von Mann und Frau betonte – der Vorstellung idealer Ergänzung entsprechend war das Menschheitsideal nur gemeinsam erreichbar –, wird im ausgehenden 19. Jahrhundert, im Bemühen um eine ideologische Absicherung patriarchalischer Herrschaft, mit den Differenzen zunehmend die Minderwertigkeit des Weiblichen herausgestellt und nicht zuletzt durch Medizin, Anthropologie, Psychologie und schließlich Psychoanalyse ‚wissenschaftlich‘ fundiert.“ (Carola Hilmes: Die Femme fatale, S. 53).

214

Maria Magdalena als ‚Schutzpatronin‘ der literarischen Lebensreform

göttliche Bestimmung zu erkennen, zum Ausdruck. In Hollaenders Roman, der u.a. Bezüge zu misogynen Entwürfen der Jahrhundertwende, aber auch auf die lebensreformerische Vorstellung von der Freien Ehe und die Gleichberechtigung der Geschlechter aufweist, erscheint das „unbändige[ ] Naturkind“ Magdalene trotz ihrer dominanten und z.T. dämonisierten Sexualität auch als geistige Erlöserin Arnolds, deren „geheime Weckkraft“ ihn aus seiner alten Weltanschauung löst und ihm die Ausbildung seines ‚neuen Glaubens‘ ermöglicht. Von der Bezugnahme auf die zeitgenössische wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Bestimmung des Weiblichen zeugt bei Hollaender das wissenschaftlich-biologistische Vokabular, das der Beschreibung der Hysterikerin Magdalene und ihrer Sexualität dient. In Rilkes Verarbeitungen des Magdalenenstoffs kommt das übermäßige sexuelle Begehren Maria Magdalenas dadurch zum Ausdruck, dass sie auch nach dem Tode Jesu nicht von ihm lassen kann. Während im Fall der femme fatale oder der dämonischen Verführerin die „Sehnsucht nach Erlösung“, die in der sexuellen Vereinigung erhofft wird, durch deren Verderben bringende Sinnlichkeit9 notwendig enttäuscht wird, liegt laut Wagner das Charakteristikum der femme fragile darin, dass sie den Mann „von den Qualen der Begierde, [...] zur eigenen Sündelosigkeit“10 erlöse. Femme fatale-Figuren geraten aufgrund „des offensive[n] Bezug[s] zur Sexualität“ „in die Nähe zur Hure“,11 wohingegen im Falle der femme fragile „physische Sexualität [...] verdrängt“ wird, so dass Frauenfiguren dieses Weiblichkeitstypus uns in der Literatur als „vergeistigt, ätherisch, madonnengleich, [...] als ästhetische, blasse und überzarte, dem Tod geweihte weiße Schönheit“12 begegnen. In der Mehrzahl der Korpustexte wird unter dem Einfluss des zeitgenössischen Monismus der sich in dieser Dichotomisierung manifestierende Leib-Seele-Dualismus unterlaufen, wenn die Autoren ihre Maria Magdalena-Figuren zwischen femme fatale und femme fragile oszillieren lassen. Die den beiden Typen eingeschriebenen Extrempositionen der zeitgenössischen Wissenschaft zum ‚Rätsel Weib‘, nämlich die Dämonisierung bzw. Leugnung weiblicher Sexualität, werden somit konterkariert. Die Amalgamierung der beiden in Kunst und Literatur der Jahrhundertwende dominanten Weiblichkeitstypen, der die Vorstellung von der heiligen Hure Maria Magdalena zugrunde liegt, ist ein wesentlicher Aspekt der Aktualisierung des Magdalenenstoffs in der literarischen Lebensreform.13 9

10 11 12 13

Hilmes sieht im ästhetischen Typus der femme fatale einen Hass auf die Frau verkörpert, den sie auf die Desillusionierung des „Ideal[s] des ‚Hohen Paares‘“ (ebd., S. 53) bzw. die „der Frau zugedachte Erlöserfunktion“ (ebd., S. 23) in der Literatur der Romantik zurückführt. Zur Rückbindung der femme fatale an die romantische Literatur vgl. ebd., S. 14–39. Nike Wagner: Geist und Geschlecht, S. 139. Carola Hilmes: Die Femme fatale, S. 227. Walter Fähnders: Avantgarde und Moderne, S. 112. Vgl. in diesem Zusammenhang folgende Einschätzung Kirsten Beißwengers zu Carl Zuckmayers Roman Salwàre oder Die Magdalena von Bozen (1936): „Magdalena hat Züge der ‚femme fatale‘ und der ‚femme fragile‘ und verkörpert das monistisch-vitalistische Menschenbild Zuckmayers.“

Die Heilige Hure – femme fatale und femme fragile

215

In der Rolle der femme fragile als „entmaterialisierte[s], sphärische[s] Gegenstück zur bekannteren Femme fatale“14 erscheint Magdalene zu Beginn von Hollaenders Roman, wenn sie als zerbrechliche, dem Hungertod nahe Jungfrau dargestellt wird, wobei hier bereits die Erwähnung der „fast vornehme[n] Pelzmütze, die von ihrer ganzen Kleidung sonderbar abstach und etwas schief und unternehmend auf ihrem Kopfe ruhte“ auf die in ihr schlummernde animalische Leidenschaftlichkeit verweist. In ihrem Begehren wird Magdalene an einzelnen Stellen des Romans eine Grausamkeit zugeschrieben, die sie in der Rolle der femme fatale erscheinen lässt. Die Maria MagdalenaFigur in Schlafs Erzählung entwickelt sich im Gegensatz zu Magdalene von einer femme fatale, die die Erniedrigung ihrer Liebhaber genießt, zur Büßerin, die nach der Bekehrung durch Jesus ihrer dominanten Sexualität entsagt.15 Die Prädominanz des Typus der femme fatale in der Literatur um 1900 führt in der literaturwissenschaftlichen Erforschung der Jahrhundertwende mitunter dazu, dass auch Verführerinnen, für die gerade das für die „schöne Männerzerstörende“16 konstitutive Moment des Untergangs eines Mannes durch weibliche Sinnlichkeit nicht nachgewiesen werden kann, diesem Typ subsumiert werden.17 So werden mitunter auch Maria Magdalena-Figuren pauschalisierend als femme fatale-Gestalten klassifiziert.18 Ein Beispiel hierfür liefert Eilerts unreflektierte Einschätzung der Protagonistin von Magdalene Dornis als eine „Art ‚Femme fatale‘ auf dem Lande“ (siehe oben, S. 170). Schimpf stellt in ihrer Studie zur Profanierung des Magdalenenstoffs in der französischen Kunst des 19. Jahrhunderts fest, dass Maria Magdalena „[a]ls vermeintliche

14 15

16 17

18

(Kirsten Beisswenger: „‚... wie wenn man Flächeninhalte und Brückenhögen berechnet‘. Formund Motivelemente in Carl Zuckmayers Roman Salwàre oder Die Magdalena von Bozen“, in: Zuckmayer-Jahrbuch 2 (1999), S. 493–513, hier S. 493). Kafitz weist auf den Bezug von Zuckmayers Maria Magdalena-Figur zur Literatur der Jahrhundertwende hin (vgl. ebd., S. 511). Isabelle Stauffer: Weibliche Dandys, blickmächtige Femmes fragiles, S. 79. Wie gezeigt, spielt auch Rilke in „Pietà“ mit den Parallelen zu Wildes Salome auf den Typus der femme fatale an, obwohl seine Maria Magdalena-Figur, die gemeinsam mit Jesus „wunderlich zugrund“ geht, in der Rolle der mitleidvollen und trauernden Liebenden erscheint. Hans Hinterhäuser: Fin de Siècle. Gestalten und Mythen. München 1977, S. 108. Trotz der partiellen motivischen Nähe zur femme fatale findet sich m.E. in der deutschsprachigen Literatur der Jahrhundertwende keine Verarbeitung des Magdalenenstoffs, die sich zum Beleg einer solchen eindeutigen Einschätzung heranziehen ließe. Auch die Komplexität der beiden Maria Magdalena-Figuren Schlafs und Hollaenders, die gleichsam zwischen den gegensätzlichen Weiblichkeitskonzeptionen von Heiliger und Hure oszillieren, lässt eine eindeutige Klassifikation als femme fatale-Gestalten nicht zu. Vgl. etwa folgende Einschätzung Winterhoffs: „Die Namen der Femmes fatales sind Salome, Herodias, Eva, Judith, Dalila, Königin von Saba, Helena, Kleopatra, Salambô, Leda, Sphinx, Galathea, Maria Magdalena, Circe und die Sirenen, schöne weibliche Gestalten des alten Orients und der Antike, die sich infolge ihres Fremdartigen, Geheimnisvollen und ihrer persönlichen Geschichte zur Fixierung einer fatalen Gestalt eigneten.“ (Lissy Winterhoff: Ihre Pracht muß ein Abgrund sein, S. 53). Dass sich der Magdalenenstoff per se zu einer solchen Fixierung eignet, scheint mir aufgrund der Maria Magdalena traditionell zugeschriebenen mitleidvollen Liebe zu Jesus wenig plausibel.

216

Maria Magdalena als ‚Schutzpatronin‘ der literarischen Lebensreform

Prostituierte und Geliebte Jesu [...] alle inhaltlichen Voraussetzungen mit[bringe], um die Rolle der femme fatale einzunehmen“,19 allerdings ohne eine Begründung für diese These zu liefern – offensichtlich basiert ihre Klassifikation lediglich auf der Motivkopplung „Magdalena und der Tod“.20 Mag ihre Einschätzung, dass „Weiblichkeitsfiktionen wie die todbringende Geliebte [...] auf die verführerische Büßerin übertragen wurden“,21 auf einige dekadente Werke der bildenden Kunst (Rops, Mossa) zutreffen, so ist ihre These, dass Maria Magdalena in Heyses Drama eine Mitschuld am Kreuzestod Jesu zukomme, nicht haltbar: Da Magdalena die potentielle Rettungsmöglichkeit ausschlägt, besiegelt sie den Tod ihres vermeintlichen Geliebten. Die Femme fatale nimmt in der Figur Magdalenas Gestalt an.22

Schimpf vernachlässigt hier die heilsgeschichtliche Notwendigkeit des Erlösungstods Jesu im Rahmen der traditionellen Verarbeitung des biblischen Stoffes in Heyses Drama und den Tugendbeweis Magdalenas, der in ihrer Weigerung, zu ihrer sündigen Vergangenheit zurückzukehren und sich erneut zu prostituieren, zum Ausdruck kommt. Nur selten findet sich in der literaturwissenschaftlichen Forschung zu den in der Literatur der Jahrhundertwende vorherrschenden Weiblichkeitstypen der Hinweis auf Mischformen zwischen unschuldiger und dämonischer Frau. Bettina Klingler etwa weist in ihrer Studie zur femme incomprise darauf hin, dass es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Zuge der „sukzessive[n] Erotisierung des Madonnen-Typus“ und der „Sentimentalisierung des Magdalenen-Typus“ zur Ausbildung eines Mischtypus kommt, „der sich in der idealisierten Sünderin23 manifestierte und von großer Breitenwirkung war“, der korrespondierende Typus ist der der „der grausam wollüstigen Madonna“.24 Die Beispiele, die Klingler für den Typus der idealisierten Sünderin nennt (u.a. Dumas’ La Dame aux camélias und die Figur der Sonja aus Dostojewskis Schuld und Sühne), zeigen allerdings, dass der Name der Sünderin hier lediglich als Synonym für die Gefallene gilt (siehe oben, S. 69f.).25 Die positive Bewertung der Mischgestalt 19 20 21 22 23 24

25

Simone Schimpf: Profanierung einer Heiligen, S. 209. Ebd., S. 179. Ebd. Ebd., S. 209. Vgl. hierzu die Bezugnahme der Korpusautoren auf den literarischen Typus der courtisane rachetée. Bettina M. Klingler: Emma Bovary und ihre Schwestern. Die unverstandene Frau – Variationen eines literarischen Typus von Balzac bis Thomas Mann. Rheinbach-Merzbach 1986, S. 26. Zur grausamen Madonna in der Literatur der Jahrhundertwende vgl. etwa den Gedichtzyklus „Madonna Lucia“ des Baudelaire-Epigonen Felix Dörmann. Die Bezeichnung gefallener Frauen als Magdalenen ist besonders beliebt in der Literatur des Viktorianischen England, was sich m.E. auf die angelsächsische Institution der Magdalen-houses zurückführen lässt (siehe oben, S. 34, Anm. 15). Von der Popularität solcher Magdalenenfiguren im weiteren Sinne zeugt Bronfens Einschätzung zu den literarischen Weiblichkeitstypen des 19. Jahrhunderts: „Drei Typen von Weiblichkeit beherrschten die literarische Phantasie des neunzehnten Jahrhunderts: erstens, die diabolische Außenseiterin, die destruktive, fatale, dämonische

Die Heilige Hure – femme fatale und femme fragile

217

aus Bibel und Legende und die Idealisierung Maria Magdalenas zu einer „Frau, die ihre Sinnlichkeit auslebt und die Regeln der Doppelmoral in Frage stellt“,26 wie sie die Autoren der literarischen Lebensreform vornehmen, ist somit – ebenso wie die weltanschauliche Prägung dieser christlichen Figur durch gruppenspezifische Wissensbestände – bislang in der literaturwissenschaftlichen Forschung zur Jahrhundertwende um 1900 unbeachtet geblieben. Von den Charakteristika der femme fatale, die Hilmes in ihrer Studie herausarbeitet, können folgende Merkmale genannt werden, die auch den Maria Magdalena-Figuren der Jahrhundertwende zukommen: Exotische bzw. orientalische Schönheit, sexuelle Aktivität bzw. sexuelle Dominanz gegenüber dem Mann sowie das Eingebundensein der dargestellten Frauenfigur in einen biblischen oder mythologischen Kontext (vgl. hierzu für den Typus der femme fatale neben Salomé etwa die Darstellungen Judiths und Liliths).27 Hier ist auch die für den Typus der femme fatale besonders wichtige „Interdependenz von Malerei und Literatur“28 zu erwähnen, wie sie sich paradigmatisch etwa in der starken Prägung von Wildes Salomé-Figur durch die Gemälde Gustave Moreaus zeigt. Hilmes führt die Beliebtheit intermedialer Bezüge bei der Gestaltung von femme fatale-Gestalten auf die Möglichkeit zur szenenhaften Visualisierung der konstitutiven Übermächtigungssituation zurück, die auch für die untersuchten Verarbeitungen des Magdalenenstoffs typisch ist. Die Darstellung von Szenen der Übermächtigung des Mannes durch die Sinnlichkeit der Maria Magdalena-Figuren, die in den Texten des Korpus v.a. in den gestalteten unio-Erlebnissen zum Ausdruck kommen, ist wie die häufige Bezugnahme auf die Salbungsszene des Lukasevangeliums im Kontext der zeitgenössischen Heiligung des Sexus zu sehen und erklärt eine gewisse Gattungsaffinität des aktualisierten Magdalenenstoffs zur Lyrik.29 Die Konzentration auf einzelne Szenen und Posen der Heiligen

26 27

28 29

Frau; zweitens der domestizierte ‚Engel des Hauses‘, [...] drittens, als besondere Gattung der Maria Magdalena, als Büßerin und Erlöste, die sexuell freizügige und gefährliche – die gefallene Frau.“ (Elisabeth Bronfen: Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik. 2. Aufl. München 1994, S. 312). Der Hinweis auf den Typus des „angel in the house“ macht hier deutlich, dass Bronfen bei ihrer Klassifikation primär die englischsprachige Literatur des 19. Jahrhunderts im Blick hat. Vgl. hierzu S. 49, Anm. 39. Ingrid Maisch: Maria Magdalena, S. 129f. Die Figur der Salomé gilt als prototypische femme fatale der Jahrhundertwende. Vgl. hierzu die Einschätzung Winterhoffs, dass Salomé seit dem 19. Jahrhundert zum „Gattungsbegriff der femme fatale“ avanciert, (Lissy Winterhoff: Ihre Pracht muß ein Abgrund sein, S. 29). Auch Gerd Stein bezeichnet Salome als „den Inbegriff der Femme fatale“ (Gerd Stein: Kulturfiguren und Sozialcharaktere des 19. und 20. Jahrhunderts. Bd. 3: Femme fatale – Vamp – Blaustrumpf. Sexualität u. Herrschaft. Frankfurt/M. 1985, S. 12). Carola Hilmes: Die Femme fatale, S. XIII. Dass der Magdalenenstoff in der Literatur um 1900 kaum dramatisch verarbeitet wurde, erklärt sich m.E. aus der Scheu, biblische bzw. Jesus-Figuren auf der Bühne zu zeigen (in Heyses Drama etwa gibt es keinen Auftritt der Jesusfigur, von den Begegnungen Marias mit Jesus wird nur berichtet). Schlaf und Hollaender wählen für ihre Verarbeitungen des Magdalenenstoffs Prosa, da

218

Maria Magdalena als ‚Schutzpatronin‘ der literarischen Lebensreform

Maria Magdalena bzw. ihrer Postfigurationen lässt sich in den Texten des Korpus anhand der zahlreichen intermedialen Verweise auf die bildende Kunst nachweisen.

7.1.1 Maria Magdalena als Kunstwerk Beide Bilder [die der femme fatale und der femme fragile] sind zeitspezifische Varianten der idealen Geliebten aus der romantischen Tradition. Beiden Typen liegt eine Mortifikation des Weiblichen zugrunde. Beide markieren (zweifellos) mißlungene Versuche einer „Spiritualisierung des Leibes“.30

Im Gegensatz zu femme fatale und femme fragile wird im Falle der Maria MagdalenaFiguren der literarischen Lebensreform der Versuch einer „‚Spiritualisierung des Leibes‘“ im Bild der erlösungsgewährenden sexuellen Vereinigung mit der Heiligen, die zum ich-transzendierenden, mit der All-Einheit des Lebens verbindenden unioErlebnis stilisiert wird, als geglückt konzipiert. Trotzdem kann eine Mortifikation des Weiblichen zum Artefakt31 nicht nur in Richters in der Einleitung zur vorliegenden Arbeit zitierter Erzählung „Magdalena“, in der die Grenzen zwischen realer Frau und ihrer Darstellung im Gemälde in der Stilisierung des Modells durch die männlichen Figuren aufgehoben werden, sondern auch in den Korpustexten nachgewiesen werden. Ihren Ausdruck findet diese Mortifikation in der Parallelisierung der Maria Magdalena-Figuren mit Werken der bildenden Kunst. Sowohl die Sakralisierung der körperlichen Liebe als auch die Erhebung der Kunst zur Ersatzreligion sind interpretatorisch relevante Elemente32 des zeitgenössischen Wissens der Jahrhundertwende, durch die sich die aktualisierenden Darstellungen des Magdalenenstoffs auszeichnen. Die Gemeinsamkeit der beiden Konzeptionen stellt die Ermöglichung innerweltlicher Erlösungserfahrungen33 dar. Dass die Sakralisierung des Sexus und der Kunst von den Autoren der literarischen Lebensreform auf die Ekstatikerin Maria Magdalena projiziert werden, liegt nahe, überschneiden sich doch in dieser Figur zwei um 1900 virulente Themenbereiche, nämlich der der Sexualität und der Religiosität.34

30 31 32 33

34

es ihnen primär um den inneren Wandel der Maria Magdalena-Figuren unter dem Einfluss ihrer ‚Besessenheit‘ geht, der eher eine narrative Darstellungsweise als geeignet erscheinen lässt. Carola Hilmes: Die Femme fatale, S. 28. Vgl. ebd., S. 239. Siehe oben, S. 21, Anm. 20. Zur Funktion der Kunst um 1900 als „‚innerweltliche[r] irrationale[r] Erlösung‘“ (Max Weber) im Kontext der „Umwidmung des religiösen Gefühls“ vgl. Bernd Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion. 2. Aufl. Göttingen 2009, S. 97f., 107. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen zur vagierenden Religiosität der Jahrhundertwende, siehe unten, S. 221. Vgl. hierzu Georges Batailles Unterscheidung zwischen der „heiligen Erotik“ (ein Beispiel hierfür ist das mystische unio-Erlebnis), der „Erotik der Herzen“ und der „Erotik der Körper“; allen drei Formen liegt laut Bataille der Versuch zugrunde, „die Vereinzelung des Lebewesens, seine Diskontinuität durch ein Gefühl tiefer Kontinuität zu ersetzen“ (Georges Bataille: Der heilige Eros. Darmstadt, Neuwied a.R. 1963, S. 14f.) Den Autoren der literarischen Lebensreform geht es bei

Die Heilige Hure – femme fatale und femme fragile

219

Darüber hinaus eignet sich der Magdalenenstoff aufgrund der tradierten Darstellung der Heiligen als schöne Sünderin bzw. reizende Büßerin in besonderem Maße für die kunstreligiöse Überhöhung des Weiblichen in Literatur und Kunst um 1900. Unter den Vorzeichen der vagierenden Religiosität werden die profanierten Maria Magdalena-Figuren bzw. die schöne Heilige in den Texten des Korpus als Kunstwerk ‚angebetet‘. So stellt etwa Hollaender seine Künstlerfigur Gerhart in Proskynese vor der mit Böcklins Meeresstille verglichenen Maria Magdalena-Figur dar, die von seinem Bruder zur neuen Gottheit stilisiert wird.35 In Hollaenders Text ist darüber hinaus die zeittypische Haarerotik besonders ausgeprägt, die um 1900 ihren Ausdruck v.a. in den zahlreichen stilisierenden Frauendarstellungen des Jugendstils findet und die auch die Maria Magdalena-Figuren Schlafs und Rilkes prägt. Die Haarerotik ist sowohl für den Magdalenenstoff36 als auch für die Darstellung der femme fatale typisch, wobei im Fall der dämonischen Verführerin das Haar der Frau als Bedrohung für den Mann erscheint. Beide Traditionen führt Hollaender in seinem Text zusammen, wenn er Magdalene den Geliebten mit ihrem Haar umschlingen lässt (MD, 102). In „Venus Consolatrix“ erscheint die dargestellte Frauenfigur zunächst als Statue („Auf einmal fing die Säule an zu leben“), die später die Pose der Venus Pudica einnimmt. Mit der Göttin der Liebe wird auch Schlafs Mirjam verglichen, die in ihrer Rolle als Tänzerin ebenfalls wie eine belebte Statue wirkt37 und in ihrem orientalischen Schmuck an die berühmten zeitgenössischen Salomé-Gemälde Lovis Corinths, Franz von Stucks und Gustave Moreaus erinnert. Benzmann und Hartleben übernehmen in ihren Texten die liegende Pose der Heiligen aus Darstellungen der Büßerin in der Malerei des 17. Jahrhunderts.

35

36

37

ihren aktualisierenden Verarbeitungen des Magdalenenstoffs primär um die beiden letztgenannten Formen der Erotik, vgl. in diesem Zusammenhang Gustav Landauers Explikation zum Zusammenhang der Begriffe ‚Menschenliebe‘ und ‚Geschlechtsliebe‘, siehe unten, S. 236. „Und da stand Magdalenens Bild vor ihm [Arnold]. Er hatte seinen Gott zertrümmert, er hatte selber sein Haus sich unterwühlt und gleichsam aus den Fugen gehoben. Nun wohl, er hatte seinen neuen Gott gefunden – er mußte ein neues Haus sich aufrichten.“ (MD, 298). Vgl. hierzu Théophile Gautiers Novelle „La toison d’or“ (1850). Hier wird die blonde Haarpracht einer Rubens’schen Maria Magdalena zum goldenen Vlies, das der Protagonist Tiburce nach langer Suche in einer Kirche in Antwerpen findet. Gautier kritisiert das ästhetizistische L’art pour l’artPrinzip in der Figur des jungen Ästheten, der sich in das Magdalena-Gemälde verliebt und die Liebe eines jungen Mädchens erst erwidern kann, nachdem diese ein von Tiburce ausgewähltes, an Rubens’ Gemälde erinnerndes barockes Kostüm abstreift und für ihn in der Pose der Venus Anadyomene posiert. Vgl. hierzu folgende Textstellen aus Schlafs biblischer Erzählung, die Mirjam vor und nach ihrem Tanz charakterisieren und sie in der Ausübung ihrer Funktion als Objekt männlichen Begehrens fast automatenhaft erscheinen lassen: „Etwas abseits von ihnen aber stand Mirjam, still, fast regungslos, in der Pracht ihrer dunklen Schönheit gegen die weiße Mauer gelehnt.“ (JM, 8); „Und nun stand sie wieder gegen die Mauer gelehnt, mit noch leise vibrierendem Körper; und nun ganz still, in stummer, statuenartiger Ruhe [...]“ (JM, 13f.).

220

Maria Magdalena als ‚Schutzpatronin‘ der literarischen Lebensreform

Sowohl die kunstreligiöse Überhöhung des Weiblichen als auch die Reduktion der Frau auf ihre Sexualität lässt sich nicht nur für die Maria Magdalena-Figuren der literarischen Lebensreform, sondern auch für femme fatale-Gestalten nachweisen, wobei mit der Mortifikation des Weiblichen auch die Beschränkung weiblicher Handlungsmacht auf die Rolle der Mittlerin verbunden ist. Letztere expliziert Pohle in Anlehnung an Hilmes wie folgt: Vermitteln soll die romantisch imaginierte Frau zwischen dem unpoetischen Alltag und dem naturhaft poetisch Wunderbaren, das dem Mann Erlösung verspricht. Die entindividualisierte Frau, die gleichzeitig immer als Naturwesen und Nachtwesen gezeichnet und mit Sexualität identifiziert wird, wird in der Projektion mortifiziert, stillgelegt, zu Tode idealisiert. [...]38

Wichtige Voraussetzung für die hier angesprochene Mittlerin-Funktion der Frau ist die Übermächtigung des Mannes durch weibliche Sinnlichkeit.

7.1.2 Übermächtigung als Erlösung Hilmes bezeichnet in ihrer Studie zur femme fatale in der nachromantischen Literatur das sogenannte Übermächtigungsmotiv als konstitutiv für diesen Weiblichkeitstypus. Charakteristisch für eine Femme fatale ist nur die Übermächtigungssituation. Selbst auf eine kurze triumphale Siegerpose des vermeintlich diabolischen Weibes kann verzichtet werden, wenn nur die Begegnung zwischen Mann und Frau ein verhängnisvolles Ende nimmt und die traditionellen Herrschaftsverhältnisse zwischenzeitlich verkehrt worden sind.39

Das Übermächtigungsmotiv setzt eine in Opposition zur situationsmächtigen Frauengestalt stehende, als schwach und unterlegen konzipierte männliche Figur voraus. Im Fall der femme fatale kommt diese Rolle meist dem antibürgerlichen Décadent40 zu, während den Maria Magdalena-Figuren der literarischen Lebensreform männliche Vertreter des Übergangsmenschen der Jahrhundertwende gegenübergestellt werden, die sich durch die Begegnung bzw. Vereinigung mit der schönen Heiligen dem Ideal des ‚neuen Menschen‘ annähern. Die Gegenüberstellung von schwachem Mann und situationsmächtiger Frau, in der die „traditionellen [patriarchalischen] Herrschaftsverhältnisse zwischenzeitlich verkehrt“41 werden, führt im Falle der femme fatale zum Untergang des Mannes. Für die in den untersuchten Texten gestalteten Maria Magda38 39 40 41

Bettina Pohle: Kunstwerk Frau, S. 68. Carola Hilmes: Die Femme fatale, S. XII. Vgl. hierzu Ruth Florack: Wedekinds ‚Lulu‘. Zerrbild der Sinnlichkeit. Tübingen 1995, S. 42. Ebd., S. XII. Vgl. hierzu auch Klinglers Einschätzung, dass im Typus der femme fatale eine „Verschiebung zum Männlichen hin“ vorgenommen wird (Bettina M. Klingler: Emma Bovary und ihre Schwestern, S. 26f.). Zur erotischen Macht der femme fatale vgl. Carola Hilmes: Die Femme fatale, S. 65: „Erst unter dem Blickwinkel männlicher ‚Schwäche‘ – einem Krisenbewusstsein – vermag die Macht des Weibes ins Unermeßliche zu wachsen. Dadurch erweist sich diese als geliehene Macht, die Opferrolle des Mannes dagegen als selbst gewählte.“

Die Heilige Hure – femme fatale und femme fragile

221

lena-Figuren hingegen lässt sich eine positive Variante des Übermächtigungsmotivs nachweisen, bei der die Überwältigung durch weibliche Sinnlichkeit meist im gemeinsamen Liebeserlebnis gipfelt. Mitunter wird dabei auch hier das Geschlechterverhältnis umgekehrt, so dass etwa die sexuelle Erlöserin in „Venus Consolatrix“ in der Rolle Jesu erscheint und das männliche Sprecher-Ich in „Die heilige Magdalene“ die Titelfigur in Proskynese um Fürbitte anfleht („Heilige Magdalena,/ Bete für mich!“ – /Und ich schlang meine Arme/Um deine Kniee …“) und somit in eben der inferioren Rolle erscheint, die traditionell Maria Magdalena zugeschrieben wird.42 Maria Magdalena hingegen erscheint – der Logik der Umwertung entsprechend – in der Rolle der sexuellen Erlöserin. Diese der christlichen Heiligen zuerkannte Rolle setzt eine Profanierung des Konzepts der Erlösung voraus, bei der die sexuelle Vereinigung zur diesseitigen Erlösungserfahrung stilisiert wird und das Erleben von Transzendenz im Augenblick des sexuellen Höhepunkts der Liebenden ermöglicht wird. Eine solche Erlösungskonzeption ist im Kontext der sich im Zuge der Säkularisierung im 19. Jahrhundert ausbildenden, zeittypischen vagierenden Religiosität zu sehen, die Nipperdey wie folgt definiert: Die vagierende Religiosität war eine Antwort auf Krisengefühle der Zeit, auf die Verunsicherung durch Modernisierungsverluste, auf die Zweifel an den etablierten Sicherheiten, auf die Gefährdung der Personalität und der Kultur der Autonomie durch die „ehernen Gehäuse“ der modernen Zivilisation. Die überlieferte Religion hatte, so schien es diesen Menschen, demgegenüber keine Kraft mehr, aber auch die Gegentradition der aufgeklärten Rationalität war seit Nietzsche unglaubwürdig, sie hatte ja in jene Krise der Modernisierung hereingeführt.43

Säkularisierung ist hier nicht im Sinne der mittlerweile überholten „universalhistorische[n] ‚Säkularisierungs‘-Hypothese der (Religions)Soziologie“ zu verstehen, die impliziert, dass im Zuge der Modernisierung eine „von den Ansprüchen des Religiösen freigesetzte Welt“ ‚entstehe‘.44 Olaf Blaschke und Frank-Michael Kuhlemann erläutern 42 43

44

Vgl. hierzu auch die in Dehmels Gedicht mit dem bezeichnenden Titel Jesus bettelt gestaltete männliche Hauptfigur. Thomas Nipperdey: Arbeitswelt und Bürgergeist, S. 527. Vgl. im Kontext der vorliegenden Untersuchung auch Nipperdeys Einschätzung zum Stellenwert von Literatur unter den Vorzeichen der vagierenden Religiosität: „Kurz, nach 1900 gewinnt sehr viel Literatur eine religiöse Dimension, im Zeichen Nietzsches, in der Abkehr von der bestehenden Kultur und Gesellschaft, in der Enttäuschung am rational Gesellschaftskritischen, in der Vision eines neuen Lebens, postmodern und mythenversessen, Religion auch gegen alle Status-quo-Institutionen. Gewiß, darin mischt sich vieles, lyrische Stimmung, Patina des Alten und bloße Dekoration, vages wesenloses Schweifen, Heidnisches und Christliches, Modernes, Idealistisches und Völkisches. Aber das gerade ist charakteristisch.“ (ebd., S. 526). Ulrich Linse: „Säkularisierung oder neue Religiosität? Zur religiösen Situation in Deutschland um 1900“, in: Recherches Germaniques 27 (1997), S. 117–141, hier S. 117. Linse bezweifelt die Existenz einer „einheitlichen, sakral überformten Lebenswelt in der vorindustriellen Zeit“ bzw. schreibt ihr den Status einer „rückwärtsgewandten Utopie“ zu (ebd.). Laut Peter L. Berger gehen

222

Maria Magdalena als ‚Schutzpatronin‘ der literarischen Lebensreform

die Kritik an einem solchen „gängigen, aber unscharfen Säkularisierungsbegriff“ in der neueren Forschung zu Modernisierung und Säkularisierung: Anstelle einer unaufhaltsamen Entchristianisierung des Denkens betonte man, daß es im Prozess der Moderne durchaus auch zu einem Strukturwandel des kirchlichen und vor allem des religiösen Lebens kommen konnte. Säkularisierung darf also keineswegs – trotz der unbestreitbaren Herauslösung der sozialen und politischen Institutionen aus den kirchlichen Bindungen (Schulwesen, Sozialpolitik, Wissenschaft) mit Entchristlichung gleichgesetzt werden. Bei der Analyse des Säkularisierungsprozesses, der prinzipiell aus einem ganzen Bündel unterschiedlicher Entwicklungen bestehe, ist immer auch mit der ‚bloßen Transformation‘, mit der ‚Neufassung‘ religiöser Erscheinungen zu rechnen. 45

Auch die Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der literarischen Lebensreform zeugen – trotz ihres z.T. explizit blasphemischen und antikonfessionellen Habitus – weniger von einer Entchristlichung, sondern vielmehr von einer undogmatischen Aneignung christlicher Glaubensgehalte unter den Vorzeichen der Moderne. Für die im Kontext der Transformation des Religiösen um 1900 entstehenden weltanschaulichreligiösen Sinnstiftungsangebote ist es typisch, dass „nichtchristliche Varianten der Erlösung“ erprobt werden oder dass, nicht zuletzt unter dem Einfluss der Schriften Nietzsches und seiner Konzeption des ‚neuen Menschen‘, die „Selbsterlösung als Teil der innerweltlichen Heilsgeschichte“46 propagiert wird.

45

46

Vertreter dieser Säkularisierungstheorie „von der ungeprüften Behauptung“ aus, „der moderne Mensch sei unvermeidlich und unwiderruflich ein säkularisiertes Wesen“ und verstehen die Säkularisierung als „metaphysischen Verkehrsunfall der modernen Geschichte“, für den die moderne Wissenschaft verantwortlich zu machen sei (Peter Ludwig Berger: Sehnsucht nach Sinn. Glauben in einer Zeit der Leichtgläubigkeit. Frankfurt/M. 1996, S. 31f.). Zu aktuellen Positionen zur Säkularisierung bzw. Transformation von Religion und Religiosität unter modernen Vorzeichen vgl. Thomas Luckmann: Die unsichtbare Religion. Frankfurt/M. 1967; Friedrich Wilhelm Graf: Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur. Bonn 2004; Charles Taylor: Ein säkulares Zeitalter. Frankfurt/M. 2009; José Casanova: Public religions in the modern world. Chicago 2004; Wolfgang Knöbl: Die Kontingenz der Moderne. Wege in Europa, Asien und Amerika. Frankfurt/M., New York 2007. Für eine Historisierung der alten Säkularisierungstheorie spricht sich Detlef Pollack aus (Detlef Pollack: „Rekonstruktion statt Dekonstruktion: Für eine Historisierung der Säkularisierungsthese“, in: Zeithistorische Forschungen 7 (2010), S. 433–439). Olaf Blaschke/Frank-Michael Kuhlemann: „Religion in Geschichte und Gesellschaft. Sozialhistorische Perspektiven auf die vergleichende Erforschung religiöser Mentalitäten und Milieus“, in: Religion im Kaiserreich. Milieus – Mentalitäten – Krisen. Hrsg. v. Olaf Blaschke und FrankMichael Kuhlemann. Gütersloh 1996, S. 7–56, hier S. 9. Justus H. Ulbricht: „‚Transzendentale Obdachlosigkeit‘. Ästhetik, Religion und ‚neue soziale Bewegungen‘ um 1900“, in: Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden. Bd. II, S. 47–67, hier S. 61.

Die Heilige Hure – femme fatale und femme fragile

223

7.1.3 Selbsterlösung im Medium des Erotischen In Benzmanns Evangelienharmonie finden wir ein ‚modernes‘ Vater Unser, in dem zur Selbsterlösung47 aufgerufen wird. Mit seiner Verfremdung bzw. Aktualisierung christlichen Gedankenguts unter immanent-pantheistischen Vorzeichen ist dieser Text ein typisches Beispiel für neue Formen der Religiosität in der literarischen Lebensreform. Nun sind wir bei ihm, der das Wesen ist:/O Vater unser, der du bist/dein heiliges Wesen ist im All entglommen,/dein Reich ist jetzt zu uns gekommen,/dein Wille geschehe im Himmel wie auf Erden!/Wenn deine Ähren leuchten, kann uns nicht Trübsal werden!/o lass uns nicht in deiner Stille/erliegen – gib uns Kraft und Willen/zu deinem Werk, und alle Schuld,/die uns von dir entfernt, treib uns mit Ungeduld/zurück zu deinem Wesen,/daß wir uns mehr und mehr erlösen, s e l b s t erlösen!48

Ähnliche Konzepte der Selbsterlösung, die den Menschen in der Rolle des (Selbst-) Schöpfers erscheinen lassen, finden sich in den Korpustexten der vorliegenden Arbeit. So propagiert Hollaenders Priesterfigur Arnold, inspiriert von Magdalene bzw. der „heiße[n] Glut ihrer Leidenschaft“ als „Losung der Zeit und der Zukunft“, „sich selbst wieder [zu] schaffen, an sich selbst erbarmungslos [zu] arbeiten“, nachdem er infolge seiner Affäre mit Magdalene die schwindende Bedeutung des „Glaube[ns] an Glück und Erlösung – des Christentums tiefinnerste Quelle“ (MD, 282) erkannt hat. Arnolds ‚neuer Glauben‘ liefert ein Beispiel für die Bezugnahme auf unterschiedliche Sinnstiftungsangebote der Jahrhundertwende und deren Amalgamierung zu einer ‚modernen‘ Weltanschauung im Zuge der zeittypischen „Selbst-Autorisierung zur Sinnstiftung“.49 In Dehmels „Venus Consolatrix“ ruft die synkretistische Verführerin, die in der Rolle Jesu erscheint, das Sprecher-Ich dazu auf, sich selbst zu erlösen, was hier durch die sexuelle Vereinigung von Mann und Frau am Ende des Gedichts erreicht wird.50 Wie

47

48 49 50

Auf den hohen Stellenwert der Idee einer selbst zu erlangenden, meist nicht näher spezifizierten Befreiungserfahrung in der Literatur der Jahrhundertwende lässt u.a. eines der Jahresfeste der Neuen Gemeinschaft schließen, nämlich das am Zweiten Weihnachtsfeiertag begangene „Fest der Selbsterlösung“ (vgl. Gertrude Cepl-Kaufmann/Rolf Kauffeldt: Berlin-Friedrichshagen, S. 325). Zur Selbsterlösung vgl. auch folgende Einschätzung Karl Röttgers, des Mitherausgebers der Zeitschrift Charon, in der Einleitung zu seiner Anthologie Die moderne Jesusdichtung: „Und der freie Mensch, d.h. der Mensch der eigenen Verantwortlichkeit, kann alles Seiende nur insoweit schätzen, als es dem Aufbau seiner Persönlichkeit dient. Das gilt auch von der Religion – von allen Erlösungsversuchen. Der Mensch kann nur sich selbst erlösen. […]“ (Karl Röttger: „Einleitung“, in: Die moderne Jesusdichtung. Eine Anthologie. Mit einer religiösen und literarischen Einleitung hrsg. v. Karl Röttger. München, Leipzig 1907, S. V–XLIII, hier S. XXIX). Hans Benzmann: Eine Evangelienharmonie, S. 169 (Sperrung im Original). Rita Panesar: Medien religiöser Sinnstiftung. Der ‚Volkserzieher‘, die Zeitschriften des ‚Deutschen Monistenbundes‘ und die ‚Neue Metaphysische Rundschau‘ 1897–1936. Stuttgart 2005, S. 24. Vgl. hierzu auch Spiekermanns Hinweis auf die „zeittypische Rolle der Geschlechtsliebe als Ziel säkularer Erlösungshoffnungen“ (Björn Spiekermann: Literarische Lebensreform um 1900, S. 13).

224

Maria Magdalena als ‚Schutzpatronin‘ der literarischen Lebensreform

gezeigt, kann diese Darstellung auf das von Dehmel entwickelte evolutionistische Erlösungsmodell zurückgeführt werden. Ähnlich wie bei Dehmel wird auch in Schlafs biblischer Erzählung „Jesus und Mirjam“ das Konzept der Erlösung an den Liebesakt gekoppelt. So fragt etwa Mirjam Jesus im Zuge ihrer Verführungsversuchs, ob er nicht gekommen sei, „beide zu erlösen, Mann und Weib“ (JM, 60). Im Kontext seiner monistisch-pantheistischen All-EinheitsErlebnisse fragt sich Jesus in Bezug auf das Gebot der Liebe, ob es mehr sei, „Einen zu erlösen oder die Völker des Erdkreises“, bzw. was es bedeute, „den Erdkreis zu erlösen in sich selbst und in Einem“ (JM, 67f.). Die sexuelle Vereinigung wird hier zu einem Erlebnis stilisiert, das die Aufhebung der Individuation und somit die Teilhabe an der All-Einheit ermöglicht (vgl. hierzu die Ausführungen zur neomystischen unio, Kap. 7.2.1). In Benzmanns „Die heilige Magdalene“ wird das erlösende Moment des im Einklang mit der Natur vollzogenen Liebesakts durch das „dreimal Selig“ des „Pred‘gers vom Berge“ verdeutlicht. Ähnlich wie die in diesem Text gestaltete Frauenfigur, die sich von der reuigen Sünderin zur heiligen Spenderin des ‚Lebens‘ im Sinne des zeittypischen Lebenspathos entwickelt, wird auch die Maria Magdalena-Figur in Benzmanns „Christus und die beiden Frauen“ zur Frau stilisiert, die Jesus „zur Eigenmacht“ erhebt. Das am Ende des Texts gestaltete All-Einheitserlebnis in beseelter Natur und Kosmos verdankt sich ihrer „erlösende[n] Gegenwart“.

7.1.4 Umkehrung der Geschlechterverhältnisse Trotz der solchen Konzeptionen von der Erlösung durch weibliche Sinnlichkeit zugrundeliegenden Verkehrung der Geschlechterverhältnisse, die für das Übermächtigungsmotiv typisch ist, kann laut Hilmes der dämonischen Verführerin der Jahrhundertwende kein emanzipatorisches Potenzial zugesprochen werden, da die „sinnliche Macht der Femme fatale [...] abhängig [bleibt] von einer entsprechenden Disposition ihres Gegenspielers“ bzw. weil „die erotische (Über-) Macht der Frau als die ihr vom Mann geliehene“51 erscheine. Laut Hilmes verweist die Beschäftigung der Jahrhundertwende-Künstler mit dem Typus der femme fatale auf sein sozialpsychologisches Problem, das mit dem meist offen misogynen Frauenbild und dessen psychologischer „Verwissenschaftlichung“ in der Zeit des Fin de siècle ebenso zusammenhängt wie mit einer allgemeinen Verunsicherung und Krisenmentalität in Folge eines Orientierungs- und Wertverlusts. Das Problematische des Identitätsverlusts, wie es u.a. Hofmannsthal in seiner „Sprachkrise“ thematisiert, trägt wesentlich auch zur Klärung des Phänomens der femme fatale bei. Auch sie ist Ausdruck einer Krise des (herrschenden männlichen) Selbstbewusstseins.52

51 52

Carola Hilmes: Die Femme fatale, S. 225. Ebd., S. 32.

Die Heilige Hure – femme fatale und femme fragile

225

Insofern sei die femme fatale trotz des fehlenden emanzipatorischen Potenzials „eine Reaktion auf die repressive Sexualmoral“53 der Jahrhundertwende, da in der Absolutsetzung weiblicher Sinnlichkeit als den Mann dominierende Macht eine implizite Kritik liege nicht nur an der prekären Situation des Mannes, [...], sondern auch Kritik an der traditionell untergeordneten Situation der Frau, ihrer Beschränkung auf eine passive und asexuelle Rolle in der bürgerlichen Gesellschaft.54

Fähnders liefert in Bezug auf Wildes Salome eine ähnliche Einschätzung zur femme fatale, die seiner Meinung nach „die Passivitätsvorschrift und das Sinnlichkeitsverbot für die Frau ebenso wie die christliche Askese überschreitet“: Insofern lässt sich die Femme fatale als Angriff auf die herrschende Sexualmoral und ihre Repressionen sehen, die allerdings die misogyne Gleichsetzung von Frau/Weiblichkeit mit Sinnlichkeit/Sünde/Gewalt fortschreibt und insofern deutlich ihren Charakter als männliche Projektion erweist. Dennoch ist hervorzuheben, daß mit der Konstruktion der Femme fatale die Geschlechterverhältnisse als Herrschaftsverhältnisse, in denen „der Frau nun die männlichdominante Position zugeschrieben wird“, erkannt und interpretiert werden.55

Das Spiel mit den Geschlechterverhältnissen und das Überschreiten der Passivitätsvorschrift prägt, wie gezeigt, auch die in den untersuchten Texten dargestellten Maria Magdalena-Figuren, wobei die männliche Phantasie, in der Liebesvereinigung zur Erlösung zu gelangen, in den Texten des Korpus als erfüllt konzipiert ist. Dies steht in deutlichem Gegensatz zu der Verderben und Tod bringenden Sinnlichkeit der femme fatale, mit der die Maria Magdalena-Figuren des Korpus den Status als „synkretistisches Objekt“ 56 teilen. Während sich im Typus der dämonischen Verführerin der Jahrhundertwende weibliche Schönheit, erotische Macht und Dämonie vereint finden, wird die christliche Heilige Maria Magdalena von den Autoren der literarischen Lebensreform durch zeitgenössische Wissenselemente und deren Motivbereiche ‚angereichert‘. Die Konstruiertheit, die laut Hilmes Indiz für den Status der femme fatale als „Projektionsfläche erotischer Phantasie“57 ist, wird im Falle Maria Magdalenas durch die neben den genannten Bildbereichen beibehaltene christliche Symbolik, die wiederum unter den Vorzeichen lebensreformerischer Vorstellungen auf spezifische Weise umgedeutet wird, noch potenziert. So steht, wie bereits erwähnt, die Figur der Maria Magdalena in den untersuchten Texten exemplarisch für die Literatur und Kunst der Jahrhundertwende prägende Stilisierung und Ästhetisierung der Frau zum „Kunstprodukt ‚Weib‘“ (siehe oben, Kap 7.1.1).58 Aufgrund dieser Ästhetisierung, bei der die „Sehn53 54 55 56 57 58

Ebd., S. 39. Ebd., S. XIV. Walter Fähnders: Avantgarde und Moderne, S. 112. Carola Hilmes: Die Femme fatale, S. 66. Ebd., S. 64. Ebd., S. 66.

226

Maria Magdalena als ‚Schutzpatronin‘ der literarischen Lebensreform

sucht nach [...] einem nicht entfremdeten Dasein [...] ideologisch verzerrt auf das Weibliche projiziert“59 wird, zeugt die zunächst positiv erscheinende Konzeption Maria Magdalenas als erlösungsgewährende Verführerin von einer ähnlich misogynen Auffassung des Weiblichen, wie sie für die dämonische Verführerin in der Literatur um 1900 nachgewiesen werden kann, insofern nämlich in beiden Fällen eine Reduktion des Weiblichen auf die Sinnlichkeit der Frau vorgenommen wird.

7.1.5 Maria Magdalena als geniale Hetäre Die untersuchten Aktualisierungen des Magdalenenstoffs in der literarischen Lebensreform sind nicht nur durch die Amalgamierung von Merkmalen der femme fatale und der femme fragile in einer literarischen Figur geprägt, sondern weisen durch den Rückgriff auf die tradierte Vorstellung von Maria Magdalena als Kurtisane bzw. als promiske Frau auch Bezüge zum zeitgenössischen Hetärenkult auf. Dieser kommt im Kontext der Begeisterung für ein idealisiertes Neuheidentum60 um 1900 auf und verdankt sich v.a. der breiten Rezeption von Johann Jakob Bachofens Das Mutterrecht. Eine Untersuchung über die Gynaikokratie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur (1861).61 Wie Nietzsche betont auch Bachofen62 sowohl die Mutterrolle der Frau als auch ihre „schrankenlose Sexualität“63 bzw. ihren Status als Hetäre, indem er „den Begriff des Weiblichen selbst in zwei Aspekte aufspaltet, den mütterlichen und den erotischen, ‚Demeter‘ und ‚Aphrodite‘“.64 Mit diesen beiden Aspekten, die dem „utopische[n] Geschlecht“65 zugesprochen werden, spielt Dehmel wie gezeigt wiederholt in seinem Werk, wenn er Maria, der Mutter Jesu, die heilige Hure Magdalena gegenüberstellt. Auch für die Titelfigur aus Hollaenders Roman lässt sich die Darstellung der Frau als Geliebte und Mutter nachweisen, wobei beide dem

59 60

61

62

63 64 65

Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit, S. 32. Walter Fähnders spricht in Bezug auf die Kunst der Jahrhundertwende von einer „unerfüllten Hoffnung auf Wiederkehr einer klassisch-heidnischen Antike samt ihrer noch nicht durch das Christentum verdorbenen freien und entgrenzten Moral“ (Walter Fähnders: Avantgarde und Moderne, S. 100). Großer Beliebtheit erfreute sich Bachofens Theorie zum ursprünglichen Matriarchat v.a. im Münchner Kosmiker-Kreis um Klages, dessen männliche Mitglieder Franziska zu Reventlow „wegen ihres umfangreichen Liebeslebens und ihrer unehelichen Mutterschaft als Repräsentantin des modernen Hetärentums“ feierten (Isabelle Stauffer: Weibliche Dandys, blickmächtige Femmes fragiles, S. 5). Riedel geht davon aus, dass Nietzsche in seiner Weiblichkeitskonzeption durch Bachofens Schrift beeinflusst worden ist und verweist auf Positionen der Nietzsche-Forschung zu dieser Frage, vgl. Wolfgang Riedel: „Homo natura“, S. 197. Ebd., S. 184. Ebd., S. 183. Ebd., S. 180.

Die Heilige Hure – femme fatale und femme fragile

227

Weiblichen als konstitutiv zugeschriebenen Aspekte mit der Triebhaftigkeit der Frau in Verbindung gebracht werden. Die „Wunschprojektion der Frau, die sich dem auf sie gerichteten Begehren jederzeit passiv fügt“,66 äußert sich um 1900 zum Einen in sozialhygienischen Plänen zur „Institutionalisierung des Hetärenwesens“,67 zum Anderen in einer positiven Bewertung von Hetären- bzw. Dirnenfiguren in der Literatur. Unter dem Einfluss der Thematisierung von Prostitution in der französischen Literatur des späten 19. Jahrhunderts zählt bereits im Naturalismus die Dirne zu den bevorzugten Außenseiterfiguren. Für die Stilisierung der Prostituierten zur Verkörperung idealer ‚natürlicher‘ Weiblichkeit in der Literatur der Jahrhundertwende liefert folgende Passage aus Bierbaums Prinz Kuckuck ein anschauliches Beispiel: Ah, dieses Lächeln der Huren! Es ist ganz einzigartig. Es ist ebenso kindlich, wie es lasterhaft ist. Das ganze Weib liegt darin. Die ganze Natur. Die ganze Weltgeschichte. Es ist das Lächeln der nackten Lüge, die ewig wahr bleibt. Geschäftsmäßig liebenswürdig, manchmal die deutliche Larve aus bemalter Pappe, aber manchmal wundervoll echt: das untertänige Lächeln der Sklavin. Wo fände man das sonst noch? Und wo sonst fände man noch diese selbstverständliche animalische Intimität zwischen den Geschlechtern? Diese jeden Augenblick unbedingte Schamlosigkeit ist hinreißend. Es ist der letzte Rest echter Natur unter den Menschen.68

Eine solche Naturalisierung von Weiblichkeit bzw. die Stilisierung der Frau zum elementaren, durch ihre Sexualität bestimmten Naturwesen zeichnet u.a. Hollaenders Maria Magdalena-Figur aus, die als Prostituierte in die Romanhandlung eingeführt wird. Auch die „geniale[ ] Hetäre“ Mirjam kann als Verkörperung einer vermeintlich essenziellen Weiblichkeit gelten. Im Kontext der Aufwertung der Dirne zu einer positiven Figur in der Literatur um 1900, die sich in den untersuchten Texten für die Schutzheilige der Prostituierten, Maria Magdalena, nachweisen lässt, ist auch auf den literarischen Typus der courtisane rachetée einzugehen, der in den untersuchten Texten auf spezifische Weise umgedeutet wird.

7.1.6 Aktualisierende Bezugnahmen auf den Typus der courtisane rachetée Wie in den Textanalysen gezeigt, tragen einige der Maria Magdalena-Figuren in den Texten des Korpus Züge dieses literarischen Typus, der in der französischen Literatur des späten 18. Jahrhunderts ausgeformt wird. Konstitutiv für die courtisane rachetée ist das Moment der Erhebung einer ‚Sünderin‘ durch die Liebe eines Mannes, welche die in der Vergangenheit liegenden Verfehlungen der Frau sühnt.69 Paradigmatisch findet 66 67 68 69

Johannes Pankau: Sexualität und Modernität. Studien zum deutschen Drama des Fin de Siècle. Würzburg 2005, S. 75. Ebd., S. 67 Otto Julius Bierbaum: Prinz Kuckuck, S. 98f. Vgl. hierzu Elisabeth Frenzel: Motive der Weltliteratur, S. 432.

228

Maria Magdalena als ‚Schutzpatronin‘ der literarischen Lebensreform

sich diese Figurenkonstellation in der Salbungsszene des Lukasevangeliums gestaltet („Ihre vielen Sünden sind ihr vergeben, denn sie hat viel Liebe gezeigt; [...]“), die fester Bestandteil des traditionellen Magdalenenstoffs ist.70 Schlaf liefert in seiner biblischen Erzählung einen expliziten intertextuellen Verweis auf die Begegnung zwischen Sünderin und Jesus, wenn Mirjam im Hause Simons die Füße Jesu salbt. Am Ende des Texts wird die Bekehrung Mirjams zu göttlicher Liebe und ihr Ablassen vom Werben um den geliebten Mann gestaltet. Wie gezeigt, erlaubt eine Lesart des Textes vor der Folie von Schlafs weltanschaulichen Entwürfen allerdings die Deutung von Mirjams Warten auf die „letzten Dinge und Erfüllungen“ als Warten auf die Wiederkehr des „motorischen Individuums“ Jesus und die Ausübung seiner „patriarchalische[n] zeugerische[n] Funktion“. Eine ähnliche modifizierende Bezugnahme auf den Typus der courtisane rachetée konnte für Hollaenders Roman Magdalene Dornis nachgewiesen werden, wenn Zeichen einer vermeintlichen Frömmigkeit Magdalenes als Ausdruck ihrer Triebhaftigkeit ‚entlarvt‘ werden. Auch das für den Typus der courtisane rachetée konstitutive Moment der Erhöhung der Frau durch den Mann wird ironisiert, wenn Arnold als vermeintlicher Bildner des Weibes erscheint, der nicht erkennt, wie sehr er von Magdalene beherrscht wird, deren Demut nur Maske ist.71 In Hinblick auf Magdalenes Rolle als ‚Katalysator‘ für die weltanschauliche und sexuelle Befreiung des Pfarrherrn kann nicht mehr – wie im Fall der courtisane rachetée – von einer durch den Mann ‚erlösten‘ Gefallenen die Rede sein, sondern die Gefallene wird als solche selbst zur Erlöserin des Mannes. Während sich für die in „Pietà“ gestaltete Maria Magdalena-Figur, die den Gekreuzigten für die nichtvollzogene Liebe anklagt („Das hätte dürfen nur mein Eingang sein“), Bezüge zu der für die courtisane rachetée typischen Selbstopferung72 nachweisen lassen („wie gehen wir beide wunderlich zugrund“), will Benzmanns heilige Magdalene gemeinsam mit ihrem Geliebten beten „am opferrauchenden Altar der Liebe“. Im Gebet dieser Maria Magdalena-Figur finden wir das Moment der Erhebung der Frau durch den Mann, die Parallelen zur Salbungsszene des LukasEvangeliums werden deutlich durch die Jesusähnlichkeit der männlichen Figur. Der Bezug zum „sentimentalen Typ der Courtisane rachetée“73 ist auch hier wieder ironisierend, da die zu Beginn des Textes entjungferte Maria Magdalena-Figur hier zur Sinnenlust ‚bekehrt‘ wird und nicht – wie es dem traditionellen Magdalenenstoff entspräche – für ihre sexuellen Ausschweifungen büßt. Benzmann spielt also mit der Doppelwertigkeit, die die Figur der Maria Magdalena auszeichnet, und verkehrt die 70 71

72 73

Vgl. hierzu auch Frenzels Hinweis auf die Nähe der courtisane rachetée zu „büßerhaftem Magdalenentum“ (ebd.). Vgl. hierzu auch die Ironisierung ihres Status als Gefallene durch Magdalene, wenn sie auf Arnolds Warnung, nicht vom Stuhl zu fallen, reagiert: „Wenn ich nicht bereits gefallen bin, Arnold,“ raunte sie leise, „dann denke ich, ist nicht Gefahr vorhanden.“ (MD, 256). Vgl. Elisabeth Frenzel: Motive der Weltliteratur, S. 435. Ebd.

Die Heilige Hure – femme fatale und femme fragile

229

Vorzeichen von sündigem und heiligem Verhalten. In ähnlicher Weise gestaltet Hartleben seine umgekehrte Bekehrung der Sünderin und Büßerin durch Dionysos, der die Heilige zur Lebensteilhabe aufruft. Bei Hollaender lässt sich der Wandel Magdalenes im Zuge der „üppigen Entfaltung“ ihrer „wilde[n], begehrende[n] Natur“ als ‚Bekehrung‘ des zunächst in der Rolle der femme fragile erscheinenden jungen Mädchens, das sich vor männlichem Begehren fürchtet, zum „begehrenden Weib“ interpretieren, das in seiner z.T. grausamen Liebe Züge der femme fatale trägt. Die Betonung der übermäßigen und überwältigenden Liebesfähigkeit Maria Magdalenas geht im Falle der aktualisierenden Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der literarischen Lebensreform mit der Aussparung ihres Verkündigungsauftrags und der Dominanz des Liebesmotivs einher. Im Zuge der positiven Wertung der Sexualität Maria Magdalenas als ‚Lebens‘-Elixier bleibt das Bußmotiv entweder völlig ausgespart oder wird in charakteristischer Weise umgedeutet, so dass die Weigerung Maria Magdalenas, an der Alleinheit des Lebens teilzuhaben, zur Sünde stilisiert wird („Der Magdalenenwein“), für die Maria Magdalena Buße leistet („Die heilige Magdalene“). Die Verfehlung dieser beiden Maria Magdalena-Figuren stellt also vor der Folie des zeitgenössischen Lebenspathos und der Aufwertung des Sexuellen als Medium der Teilhabe des Menschen an einer monistisch verstandenen Alleinheit nicht mehr das Ausleben ihrer Sexualität, sondern ihre zunächst asketische Haltung dar. Die nachgewiesene Idealisierung und Sakralisierung der Sexualität Maria Magdalenas, die in den Texten des Korpus mit der Bezugnahme auf gruppenspezifische Wissensbestände der literarischen Lebensreform verknüpft wird, macht die schöne Sünderin zu einer der zeittypischen „‚erlösende[n]‘ Dirnenfiguren, die einem neuen Lebensprogramm entsprachen“.74 Wie bereits erwähnt, wird Maria Magdalena diese Rolle von Autoren der literarischen Lebensreform im Zuge der Ausbildung eines eigenen Weiblichkeitstypus bzw. einer spezifischen Figurenkonzeption zuerkannt. Schneider definiert letztere als „häufig rekurrente Ausgestaltungen von Figuren, bei denen wiederholt auf bestimmte Persönlichkeitstheorien zurückgegriffen wird“. Im Fall der Maria Magdalena-Figur in der literarischen Lebensreform kann als eine solche Persönlichkeitstheorie das um 1900 allerorten geforderte, durch die zeittypische Nietzschebegeisterung geprägte Ideal des ‚neuen Menschen‘75 gelten. Entscheidend für den Typus der erlösungsgewährenden Verführerin ist, dass nicht notwendigerweise sie selbst – wie bei Hollaender, Dehmel und Benzmann – dieses Ideal verkörpert, sondern dass die ihr korrespondierende 74

75

Elisabeth Frenzel: Motive der Weltliteratur, S. 440. Schimpf spricht in Bezug auf die Stilisierung Maria Magdalenas zur „weibliche[n] Erlöserin“ in der Kunst des 19. Jahrhunderts von der „Steigerung der bekehrten Prostituierten“ (Simone Schimpf: Profanierung einer Heiligen, S. 166.). Zur „avantgardistische[n] Religiosität des ‚neuen Menschen‘“ im Kontext kulturwissenschaftlicher und theologischer Debatten der Jahrhundertwende vgl. Friedrich Wilhelm Graf: „‚Alter Geist und neuer Mensch‘. Religiöse Zukunftserwartungen um 1900“, in: Das neue Jahrhundert. Europäische Zeitdiagnosen und Zukunftsentwürfe um 1900. Hrsg. v. Ute Frevert. Göttingen 2000, S. 185–228.

230

Maria Magdalena als ‚Schutzpatronin‘ der literarischen Lebensreform

männliche Figur durch die (sexuelle) Begegnung mit ihr die Möglichkeit erhält, zum ‚neuen Menschen‘ oder „homo natura“ (Riedel) zu werden. Von zentraler Bedeutung ist hierbei das durch die Vereinigung mit der Ekstatikerin Maria Magdalena, deren religiöse Verzückung zu den traditionellen Motiven der bildenden Kunst zählt, ermöglichte Alleinheitserlebnis, das von der zeitgenössischen Mystikbegeisterung zeugt.76

7.2 Lebensmystik und Sakralisierung des Sexus Der Friedrichshagener Wilhelm Bölsche gibt 1905 den Cherubinischen Wandersmann des Angelus Silesius neu heraus, versehen mit einem Vorwort, das den Titel „Über den Wert der Mystik für unsere Zeit“ trägt. Bölsche formuliert hier die zeittypische Forderung, dass „das ganze Religiöse zu einem Inn e n erlebn is des Einzelnen“77 werden solle und bezeichnet die mystische Grundstimmung als ein ganz besonders tiefes, ja tiefstes Sichanlehnen des Einzelmenschen an eine höhere Macht in ihm, nämlich an die große pulsende Lebenswelle selbst, an „das Leben“ im größten Zuge im Gegensatz zu den kleinen Phasen und Irrungen.78

Das Bild von der „große[n] pulsende[n] Lebenswelle“ liefert ein Beispiel für die in der von Lebensphilosophie und Lebenspathos der Jahrhundertwende geprägten Literatur beliebte Wasser- bzw. Meeresmotivik.79 Die Deutung des Meers als „Lebensgleichnis“ erläutert Rasch wie folgt: Der Anblick des Meeres scheint fast die Anschauung des nicht sinnlich wahrnehmbaren Gesamtlebens zu ersetzen. Denn das Meer hat eine unübersehbare, grenzenlos scheinende, ins Ungewisse sich verlierende Weite, eine ständige Bewegtheit und den jähen Wechsel von relativer Ruhe und Sturm. Es ist sowohl einladend und schön wie bedrohlich und vernichtend. Vor allem aber bildet das Verhältnis von Welle zum Meer in unvergleichlicher Genauigkeit das Verhältnis des Individuums zur Lebensganzheit ab. Aus der gewissermaßen amorphen 76

77

78 79

Vgl. zum Zusammenhang zwischen der Aktualisierung des Magdalenenstoffs in der literarischen Lebensreform und der zeitgenössischen Mystikbegeisterung die in den untersuchten Texten nachgewiesenen Bezüge zu der in der Mystik beliebten Jesusminne bzw. zum Hohelied (zur nuptialen Mystik vgl. Uwe Spörl: Gottlose Mystik, S. 21). Wilhelm Bölsche: „Einleitung“, in: Des Angelus Silesius Cherubinischer Wandersmann. Nach der Ausg. letzter Hand von 1675 vollständig hrsg. und mit einer Studie „Über den Wert der Mystik“ eingel. v. Wilhelm Bölsche. Jena und Leipzig 1905, S. I–LXIX, hier S. X (Sperrung im Original). Ebd., S. XX. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Riedels Begriff der „Literaturgeschichte des ozeanischen Gefühls“, der sich in etwa mit der von Spiekermann als literarische Lebensreform bezeichneten literarischen Strömung der Jahrhundertwende deckt. Wie Spiekermann bezieht sich auch Riedel auf Raschs Begriff des Lebenspathos: „Wolfdietrich Rasch hat denn auch in diesem Text [Hölderlins Hyperion] die Vorwegnahme der von ihm, wie erwähnt, als ‚Lebenspathos‘ oder ‚Lebensmystik‘ bezeichneten ‚ozeanischen‘ Mentalität der Dichtung und Philosophie um 1900 gesehen.“ (Wolfgang Riedel: „Homo natura“, S. 85).

Lebensmystik und Sakralisierung des Sexus

231

Masse des Wassers bilden sich in jedem Augenblick neue Wellen, die aber sofort wieder sich auflösen, in das Ganze zurücksinken. Diese aber erzeugt sogleich wieder neue Wellen, wie der schöpferische Urgrund neue, individuelle, schnell vergängliche Gestalten hervorbringt.80

Diese „dionysische Gleichung von Leben und Tod“81 lässt sich in Dehmels „Venus Consolatrix“ nachweisen, wo die zum Auferstehungserlebnis stilisierte sexuelle Vereinigung mit der zur Teilhabe am „große[n] Leben“ aufrufenden ‚Venus‘ als umarmtes Ertrinken in „tiefe[n] Meeren“ konzipiert wird, die es ermöglicht, den „Grund der Welt“ zu schauen. Im Kontext des zeittypischen Ideals der Alleinheit und der Sakralisierung des Eros finden wir hier paradigmatisch „die für die lebensmystische Dichtung der Jahrhundertwende topische Trostfigur des ‚süßen Todes‘“82 gestaltet. Auch Bölsche stilisiert in seinem breit rezipierten Liebesleben in der Natur den Liebesakt zum seligen Tod, der die Einheit des Menschen mit einer „höhere[n] Einheit“ ermöglicht, und somit einem monistischen Auferstehungserlebnis gleichkommt. Gleichzeitig wird der Tod des Individuums hier zum Liebesakt verklärt. Liebe, die wirkliche, [...] lehrt uns einzig und allein, wie über das starre Individuum Zusammenschlüsse greifen, [...]. Mann und Weib, Eltern und Kind, Mensch in Menschheit, Blut im Geist, Geist im Ideal, in überströmenden Weltentraum. Liebe ist die einzige freiwillige Auflösung des Individuums, der schmerzlose, unsäglich selige Tod, den jede Kreatur in unendlicher brennender Sehnsucht sucht... [...] Sie lehrt uns die einzige Form, wo die Vernichtung nicht grauenvoll ist. Wo sie ein seliges Aufsteigen in eine höhere Gemeinschaft ist. Wenn der Tod des Individuums nun auch in seiner bangen Form nichts andres wär als ein verkannter Liebesakt?83

Die im zeittypischen Meeresmotiv zum Ausdruck gebrachte lebensmystische „Erkenntnis, daß nur die Individuen sterben, daß das Gesamtleben als solches keinen Tod kenn[e]“,84 lässt sich auch in Hartlebens Gedicht nachweisen, in dem Dionysos die den Tod ihres Herrn beweinende Maria Magdalena darüber belehrt, dass sich ein „Menschenglück in seinem Lauf“ nicht durch „Tod und fremdes Elend“ beeinträchtigen lassen solle.85 Benzmann nutzt das Meeresmotiv im Kontext seiner naturreligiösen Darstellung der Alleinheit. So vergleicht Johannes in „Christus und die beiden Frauen“ das AllLeben mit dem Meer, die Titelfigur von „Die heilige Magdalene“ erscheint zu Beginn des Gedichts in der aus dem traditionellen Magdalenenstoff übernommenen liegenden Pose „[a]uf dem meergrünen Teppich des Mooses“. Das für die Lebensmystik der Jahrhundertwende typische Meeresmotiv findet sich im Textkorpus am häufigsten in Hollaenders Roman gestaltet. Hier wird die zwischen femme fragile und femme fatale 80 81 82 83 84 85

Wolfdietrich Rasch: „Aspekte der deutschen Literatur um 1900“, S. 25. Ebd., S. 24. Wolfgang Riedel: „Homo natura“, S. 126. Wilhelm Bölsche: Das Liebesleben in der Natur, S. 36f. Wolfdietrich Rasch: „Aspekte der deutschen Literatur um 1900“, S. 24. In Rilkes „Der Auferstandene“ wird der individuelle Tod Jesu, auf den Hartlebens Dionysos-Figur hier anspielt, gar zur Voraussetzung für Maria Magdalenas Fähigkeit zur intransitiven All-Liebe stilisiert.

232

Maria Magdalena als ‚Schutzpatronin‘ der literarischen Lebensreform

oszillierende, geheimnisvolle und widersprüchliche Magdalene, die als Verkörperung des ‚Lebens‘ erscheint, mit dem Meer, das „sowohl einladend und schön“ wie auch „bedrohlich und vernichtend“ ist, gleichgesetzt. Im Kontext der Forderung nach „Veränderung der individuellen Lebensführung“ des Menschen im Einklang mit Natur, die die literarische Lebensreform mit der sozialgeschichtlichen Lebensreform teilt, kommt dem Erlebnis der Einheit mit der „große[n] pulsende[n] Lebenswelle“ ein zentraler Stellenwert zu.86 In lebensphilosophischen Entwürfen gilt das Erlebnis der sexuellen Vereinigung als intensivste Form der Lebensteilhabe, während im Monismus menschliche Sexualität zum „Motor der Evolution“ stilisiert wird, der „die Existenzbedingung aller Lebewesen darstelle“87 und somit die Beheimatung des Menschen in der monistisch-immanent verstandenen Einheit der Welt verbürgt.88 Auf den Zusammenhang zwischen Haeckels Monismus und seiner Aneignung der Evolutionslehre soll im Folgenden kurz eingegangen werden, um den Stellenwert der Sakralisierung des Sexus in der literarischen Lebensreform zu verdeutlichen. Eine „religiöse Gestimmtheit“, die sich auf die sakralisierte Natur richtet, ist typisch für den Monismus der Jahrhundertwende, der als „die Popularphilosophie der Jahrhundertwende schlechthin“89 gelten kann und sich selbst als „Versuch einer wissen-

86

87 88

89

Vgl. in diesem Zusammenhang Riedels Hinweis auf den ideengeschichtlichen Zusammenhang zwischen dem Begriff der Natur um 1800 mit dem des Lebens um 1900 (Wolfgang Riedel: „Homo natura“, S. XIII). Vgl. hierzu auch Raschs Einschätzung, dass die „romantische[ ] AlleinheitsErfahrung“ sich im „Lebenspathos der Zeit um 1900 erneuert“ (Wolfdietrich Rasch: „Aspekte der deutschen Literatur um 1900“, S. 34). Björn Spiekermann: Literarische Lebensreform um 1900, S. 78. Vgl. hierzu Monika Ficks Ausführungen zum monistischen Lebensbegriff: „Die Beseelung des Physischen, das Äquivalenzdenken, die Nobilitierung der sinnlichen Wahrnehmung und die organische Verdichtung des Erlebens. Aus allen diesen Motiven ergibt sich der ‚monistische‘ Lebensbegriff – Leben gedeutet als psychophysische Einheit, als individualisierend-formatives und zugleich, in der Evolution, alle Geschöpfe verbindendes Prinzip.“ (Monika Fick: Sinnenwelt und Weltseele, S. 73). Wolfgang Riedel: „Homo natura“, S. 78. Die enorme Popularität des Monismus erklärt sich u.a. aus dessen Bezugnahme auf wichtige naturphilosophische Positionen des 19. Jahrhunderts; hier sind v.a. Fechners Panpsychismus und Schopenhauers Willensphilosophie zu nennen. Vgl. zu diesem Zusammenhang Wolfgang Riedel: „Homo natura“, und Monika Fick: Sinnenwelt und Weltseele. Riedel weist darauf hin, dass der emphatische Naturbegriff innerhalb der Literatur der Jahrhundertwende eher aus der Naturphilosophie als aus der Naturwissenschaft übernommen worden ist: „Dichtung und Naturphilosophie und nicht Dichtung und Naturwissenschaft – dies ist die Allianz, die der Moderne einen nicht-szientifischen Begriff der Natur bewahrt.“ (Wolfgang Riedel: „Homo natura“, S. XIV). Der Grund hierfür liege darin, dass der Gegenstand der Naturphilosophie die „‚ganze Natur‘“ ist; im Gegensatz dazu stehe die „dissoziierte Empirie der [naturwissenschaftlichen] Einzelforschung.“ Vgl. hierzu Ajouris Charakterisierung der Naturanschauung des Monismus Haeckel’scher Prägung: „Die belebte und unbelebte Natur ist eine große harmonische und zusammenhängende Einheit. Die Natur ist nicht nur Gegenstand der

Lebensmystik und Sakralisierung des Sexus

233

90

schaftlichen Religion“ versteht. In seiner Studie zur Neomystik in der Literatur der Jahrhundertwende geht Spörl auf die Bedeutung von Haeckels Monismus ein und nennt als ersten der „vier Grundpfeiler“ dieser „pantheistische[n] Offenbarungsreligion“ die „Darwinsche Entwicklungslehre,91 die auch als Absage an teleologische Naturvorstellungen verstanden wird“.92 Mit Darwins Lehre von der Entstehung der Arten bzw. der Erkenntnis, dass der Mensch vom Tier abstammt – laut Freud eine der drei großen Kränkungen der Menschheit – verliert der Mensch seine ontologische Stellung als ‚Krone der Schöpfung‘. Diese (aus christlicher Perspektive gesehene) ‚Degradierung‘ des Menschen ist ein beliebtes Thema in weltanschaulichen Texten der Jahrhundertwende. So weist etwa Spiekermann darauf hin, dass in der Weltanschauungsliteratur der Zeit „[m]it spürbarer Lust an der blasphemischen Pose [...] immer wieder die Annahme eines substantiellen Unterschieds zwischen Tier und Mensch geleugnet“ wurde.93 Der blasphemische bzw. antikirchliche Habitus in Kombination mit dem Hinweis auf die tierische Abstammung des Menschen lässt sich im Werk Haeckels an zahlreichen Stellen nachweisen. So schreibt er etwa mit Bezug auf die „individuelle Existenz“ des Menschen, dass diese sich nicht „der ‚Gnade des lieben Gottes‘“, sondern dem „‚Eros‘ seiner beiden Eltern“ verdanke, „jenem mächtigen, allen vielzelligen Thieren und Pflanzen gemeinsamen Geschlechtstriebe,

90 91

92

93

Naturwissenschaften, sondern ermöglicht eine religiöse Gestimmtheit und lädt zu ästhetischen Betrachtungen ein. […]“ (Philip Ajouri: Literatur um 1900, S. 70). Ebd., S. 313. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Ulbrichts Charakterisierung Haeckels als „einen der Kirchenväter der Moderne“ (Justus H. Ulbricht: „‚Transzendentale Obdachlosigkeit‘“, S. 54.) Zur großen Popularität Darwins in der deutschen Literatur der Jahrhundertwende vgl. exemplarisch Kurt Bayertz: „Die Deszendenz des Schönen. Darwinistische Ästhetik im Ausgang des 19. Jahrhunderts“, in: Fin de siècle. Zu Naturwissenschaft und Literatur der Jahrhundertwende im deutsch-skandinavischen Kontext. Hrsg. v. Klaus Bohnen et al. Kopenhagen 1984; Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert. Bd. 2: Der Darwinismus-Streit. Hrsg. v. Kurt Bayertz, Myriam Gerhard und Walter Jaeschke. Hamburg 2007; Peter Sprengel: „Vom ‚Ursprung der Arten‘ zum ‚Liebesleben in der Natur‘. Metaphysischer Darwinismus in der Literatur des frühen 20. Jahrhunderts“, in: „Scientia poetica“. Literatur und Naturwissenschaft. Hrsg. v. Norbert Elsner und Werner Frick. Göttingen 2004, S. 293–315; Peter Sprengel: Darwin in der Poesie. Spuren der Evolutionslehre in der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Würzburg 1998. Die anderen von Spörl genannten Grundpfeiler sind das „im 19. Jahrhundert entdeckte[ ] ‚kosmologische Grundgesetz‘ der Erhaltung von Energie bzw. Substanz“, die „eigentliche monistische[ ] Grundannahme, nach der es im gesamten Universum nur eine Substanz gibt, die physisch und psychisch zugleich ist“ und die „Annahme der Analogie von Ontogenese und Phylogenese, nach der man von den Entwicklungszusammenhängen der einen Genese auf die der anderen schließen darf“ (Uwe Spörl: Gottlose Mystik, S. 98f.). Björn Spiekermann: Literarische Lebensreform um 1900, S. 50. Riedel führt in seiner Studie zur literarischen Anthropologie um 1900 diese Vorstellung von der „unbedingte[n] Zugehörigkeit [des Menschen] zur Tier- und Pflanzenreihe“ neben der Rezeption der Evolutionslehre v.a. auf den Einfluss der sich im 19. Jahrhundert entwickelnden Zytologie zurück (Wolfgang Riedel: „Homo natura“, S. 165).

234

Maria Magdalena als ‚Schutzpatronin‘ der literarischen Lebensreform

welcher zu deren Begattung führt“.94 Die Wertschätzung der menschlichen Sexualität finden wir an anderer Stelle der Welträthsel ausführlicher formuliert: Der intime sexuelle Verkehr, auf welchem allein die Erhaltung des Menschengeschlechts beruht, ist dafür [für die „feine Veredlung des wahren Menschenwesens“] ebenso wichtig wie die geistige Durchdringung beider Geschlechter und die gegenseitige Ergänzung, die sich Beide gleicher Weise in den praktischen Bedürfnissen des täglichen Lebens wie in den höchsten idealen Funktionen der Seelenthätigkeit gewähren. Denn Mann und Frau sind zwei verschiedene, aber gleichwerthige Organismen, jeder mit seinen eigenthümlichen Vorzügen und Mängeln. Je höher sich die Kultur entwickelte, desto mehr wurde dieser ideale Werth der sexuellen Liebe erkannt, und desto höher stieg die Achtung der Frau, besonders in der germanischen Rasse; ist sie doch die Quelle, aus welcher die herrlichsten Blüthen der Poesie und Kunst entsprossen sind.95

Mit seiner Identifikation der Frau mit dem Sexuellen, die an die Darstellung Maria Magdalenas als Personifikation des ‚Lebens‘ und der Liebe in der literarischen Lebensreform erinnert und die seine Konzeption von Mann und Frau als „gleichwerthige Organismen“ stante pede unterläuft, zeigt sich Haeckel hier als typischer Vertreter seiner Epoche (siehe Kap. 7.1). Die Aufwertung bzw. Idealisierung des Sexuellen in monistischen und lebensmystischen Konzeptionen erklärt die Beliebtheit von Motiven aus dem Bildbereich des Körpers bzw. des Organismus, die von der Aufwertung des Leiblichen96 zeugen. Häufig werden sie verknüpft mit abstrakten Konzepten wie Gesundheit, Kraft und Jugendlichkeit. Ein Beispiel hierfür liefert Hartlebens Gedicht „Der Magdalenenwein“. Hier wird der christlichen Leibfeindlichkeit, die im Text ihren Ausdruck in der als sündig charakterisierten Selbstkasteiung Maria Magdalenas und dem hässlichen Kruzifix in ihren Händen findet, der jugendlich-vitale nackte Körper des Dionysos gegenübergestellt. In „Venus Consolatrix“ ruft die Titelfigur das Sprecher-Ich zu Selbsterlösung, Gesundung und Teilhabe am „groß[en] Leben“ auf, was im Kontext der Rezeption von zeitgenössischen lebensphilosophischen und monistischen Konzepten 94 95 96

Ernst Haeckel: Die Welträthsel, S. 58. Ebd., S. 143 (Hervorhebung A.G.-T.). Vgl. hierzu auch Arnolds Ausführungen zur gleichberechtigten Ergänzung von Mann und Frau in Magdalene Dornis, siehe oben, S. 193f. Damit verbunden ist die Ablehnung des christlichen Leib-Seele-Dualismus bzw. der Abwertung des Fleischlichen. Im Werk der Korpusautoren finden sich einige Anspielungen auf die monistische Annahme von einer „U n i v e r s a l - S u b s t a n z oder [eines] ›göttliche[n] Weltwesen[s]‹“, das „uns zwei verschiedene Seiten seines wahren Wesens, zwei fundamentale A t t r i b u t e ; die M a t e r i e [...] und de[n] G e i s t (die allumfassende d e n k e n d e Substanz-Energie)“ zeigt. (Ernst Haeckel: Die Welträthsel, S. 88) (Sperrung im Original). Hollaenders Priesterfigur etwa ist besonders von der Einheit von „Seelische[m] und Sinnliche[m]“ in Magdalenes Wesen fasziniert und sieht in „ihrem Vermögen, das Körperliche mit dem Geistigen und das Geistige mit dem Körperlichen zu durchsetzen, [...] ihre Wunderkraft“ (MD, 298). Schlafs Jesus-Figur ist im Zuge der durch Mirjam ausgelösten All-Einheitserfahrung nicht mehr in der Lage, „dies Beides voneinander zu scheiden, Fleisch und Geist. Er gewahrte ihre innerste und notwendigste Einheit und Verbundenheit.“ (JM, 69).

Lebensmystik und Sakralisierung des Sexus

235

innerhalb der literarischen Lebensreform als Aufruf zu frei ausgelebter Sexualität gedeutet werden kann. Die Vitalität und Gesundheit der Titelfigur kommt durch ihre „starken Pulse[n]“ zum Ausdruck, auf die Fertilität der Frauenfigur wird durch die Erwähnung ihrer mit den Stigmata Jesu verglichenen Schwangerschaftsstreifen angespielt. Die Apostrophierung des Bluts der Verführerin97 wird durch die ironisierende intertextuelle Bezugnahme auf den christlichen Wortgebrauch in der Formulierung „desselben Fleisches Blut, für das der große Heiland sich erregte“ deutlich. Eine ähnliche Sexualisierung des Blutmotivs im Kontext einer intertextuellen Bezugnahme auf den Jesusstoff findet sich in Benzmanns „Die heilige Magdalene“, wenn im Kontext des Liebesakts die Tränen des Mannes mit „blutige[n] Tropfen“ verglichen werden und sein Schweiß über das Gesicht der ‚reuigen‘ Maria Magdalena rinnt. In Schlafs „Jesus und Mirjam“ wird über die Erwähnung des Bluts der Tänzerin und Sünderin deren Triebhaftigkeit verdeutlicht („die heißen, suchenden Triebe ihres Blutes“; „Ihr Blut raste nach ihm“). In Magdalene Dornis dient das Blutmotiv zur Charakterisierung der Maria Magdalena-Figur als Personifikation des Lebens, etwa wenn im Kontext ihres Lebensdursts die Rede davon ist, dass sie „ihr junges Blut“ kühlen will. Von einer Idealisierung und Überhöhung der „Liebe, die im Körperlichen verankert ist und von daher in Einvernehmen setzt mit der Welt“, als „zentrale[m] Sinnbild der monistischen Philosophie“98 ist es nur ein kleiner Schritt zum „‚erotischen Monismus‘“,99 den Spiekermann in Dehmels Liebeslyrik verwirklicht sieht und der alle Korpustexte dieser Arbeit prägt. Spiekermann erläutert den Begriff wie folgt: In der sorgfältigen Integration, nicht nur des menschlichen Leibes, sondern der geschlechtlichen Vereinigung in die natürliche Umgebung drückt sich die Überzeugung des ‚erotischen Monismus‘ aus: Da der Mensch selbst Naturwesen sei, der Naturprozeß aber primär auf Fortpflanzung beruhe, finde er über die Sexualität zur Einheit mit der Natur zurück. Der Ge-

97

98 99

Vgl. im Kontext des in „Venus Consolatrix“ verwendeten Blutmotivs auch die Erwähnung der blutroten Rüsche ihres Kleides im Bereich des Halses, also der Hauptschlagader. Im Kontext der Verlebendigung der Konsole werden deren „Silberadern“ erwähnt. Monika Fick: Sinnenwelt und Weltseele, S. 146. Dem erotischen Monismus geht es nicht um die rein ‚tierische‘ Triebnatur des Menschen, sondern um den „ideale[n] Werth der sexuellen Liebe.“ So konstatiert etwa Spiekermann in Bezug auf die „Entfesselung der Instinkte“: „Demgegenüber glaubte Dehmel, wie viele seiner Zeitgenossen, an die Möglichkeit, den Gewissenskonflikt zwischen Fleisch und Geist in einer dialektischen Synthese aufzuheben und so dem Leiden an diesem – nur kulturell erzeugten – Zwiespalt ein Ende zu machen.“ (Björn Spiekermann: Literarische Lebensreform um 1900, S. 134). Die Idealisierung und Enttabuisierung der menschlichen Sexualität, die literarische Verarbeitungen des Monismus prägt, steht in deutlichem Kontrast zur rigiden wilhelminischen Sexualmoral. Vgl. hierzu etwa die Einschätzung Ajouris, dass der Friedrichshagener Bölsche in seinem vielzitierten Liebesleben in der Natur „die Sexualität nicht nur zum kosmischen, sondern zum heiligen Prinzip [erhebe] und [...] sich damit in bewusster Opposition zur Kirche und natürlich zur Prüderie des Kaiserreiches“ bewege (Philip Ajouri: Literatur um 1900, S. 75).

236

Maria Magdalena als ‚Schutzpatronin‘ der literarischen Lebensreform

schlechtsakt, so glaubte man, verbürgt die Teilhabe am sinnstiftenden Evolutionsprozeß [...], er bildet die Schnittstelle zwischen Individuum und emphatisch beschworenem ‚Leben‘.100

Es ist genau diese Schnittstelle, an der die „freiwillige Auflösung des Individuums“ zum „selige[n] Aufsteigen in eine höhere Gemeinschaft“ wird, die in den Texten des Korpus für die männlichen Figuren durch die sexuelle Vereinigung mit der jeweiligen Maria Magdalena-Figur erlebbar wird.101 Eine solche religiöse Überhöhung des Geschlechtsakts gestaltet der Friedrichshagener Gustav Landauer in der folgenden Passage aus Skepsis und Mystik, die mit ihrer kosmischen Motivik vom erotischen Monismus der Zeit zeugt. In der Verwendung der biblischen Formel vom Erkennen des Weibes als Umschreibung für die sexuelle Vereinigung, die die überzeitliche Gemeinschaft aller Menschen ermöglicht, kommt die zeitgenössische religiöse Überhöhung des Erotischen zum Ausdruck. Landauers Parallelisierung von Menschenliebe und Geschlechtsliebe erinnert an die Erkenntnis der „innerste[n] und notwendigste[n] Einheit und Verbundenheit“ von Fleisch und Geist, die Schlafs Jesus-Figur vermittelt durch Mirjam erkennt, die als Repräsentantin der Vereinigung von Eros und Agape in der Rolle der schönen Sünderin bzw. reizenden Büßerin erscheint. Gleichzeitig erinnert Landauers Erwähnung des „Unseligen, dem nicht sein ganzer Mensch unter der Liebe erzittert“ an die bei Benzmann erwähnten „Frevler[ ] [...], die mit lüsternem Spiel/die züchtigen Schleier des Schooßes entfalten“ und das „Hohelied/der ewigen Liebe im Weltallsraum“ nicht zu erkennen vermögen: Die Liebe ist darum ein so himmlisches, so universelles und weltumspannendes Gefühl, ein Gefühl, das uns aus unseren Angeln, das uns zu den Sternen emporhebt, weil sie nichts anderes ist als das Band, das die Kindheit mit den Ahnen, das uns und unsere ersehnten Kinder mit dem Weltall verbindet. Es liegt ein tiefer Sinn darin, daß die Bezeichnung für das Gefühl der Gemeinschaft, die uns mit der Menschheit verbindet, – Liebe, Menschenliebe – dieselbe ist, wie für das Gefühl der Geschlechtsliebe, die uns mit den nachkommenden Geschlechtern verkuppelt. Weh dem Unseligen, dem nicht sein ganzer Mensch unter der Liebe erzittert, dem die Befriedigung beim Menschenzeugen nichts weiter ist als ein Haut- und Spanngefühl! Es ist die tiefste und glühendste Welterkenntnis, die beste, die uns zuteil ward, wenn der Mann das Weib erkennt, wenn die Welt in einer neuen Gestalt aufblitzen will und der Feuerblitz durch zwei Menschen hindurchgeht.102

100

Ebd., S. 279f. (Hervorhebung A.G.-T.). Vgl. hierzu auch Riedels Einschätzung, dass der Eros in der vom zeitgenössischen Lebenspathos geprägten Literatur der Jahrhundertwende als „ich-transzendierende Kraft“ fungiere (Wolfgang Riedel: „Homo natura“, S. 253). 102 Gustav Landauer: Skepsis und Mystik. Versuche im Anschluss an Mauthners Sprachkritik. Fotomech. Nachdr. d. 2. Aufl. Köln 1923. Münster, Wetzlar 1978, S. 21. 101

Lebensmystik und Sakralisierung des Sexus

237

7.2.1 Neomystische unio-Erlebnisse In seiner Studie zur „gottlosen Mystik“ geht Spörl auf solche in der Literatur um 1900 gestalteten, immanenten All-Einheitserfahrungen ein, wie wir sie exemplarisch bei Landauer gestaltet finden: „Neomystisch“ soll demnach heißen, was als Erfahrung oder Erlebnis (, Gedanke, Theorie oder Weltanschauung) der mystischen unio (oder der spekulativen Mystik) strukturell gleicht, ohne auf einen persönlichen Gott oder einen anderen transzendenten Gegenstand bezogen sein. Die strukturelle Identität mit der mystischen unio betrifft dabei besonders den unbezweifelbaren Wahrheits- und Erkenntnischarakter, die grenzenlose Einheit oder unmittelbare Nähe stiftende Funktion, die Opposition zur rationalen und empirischen Erkenntnis und zur Alltags- oder Wissenschaftssprache, die transitorische Augenblickshaftigkeit, die (psychische wie physische) Affektivität und Eindringlichkeit sowie die Problematik eines adäquaten künstlerischen Ausdrucks von mystischer unio-Erfahrung und neomystischem Erlebnis. Als Substitut Gottes oder des transzendenten Gegenstandes der mystischen unio fungieren dabei im allgemeinen – dem von Monismus [...] und Lebensphilosophie dominierten weltanschaulichen Hintergrund der Jahrhundertwende entsprechend – entweder das (lebensphilosophisch verstandene) Leben oder die Natur als Gesamtheit, ein anderer Mensch bzw. seine ‚Seele‘ oder einzelne Gegenstände, jeweils betrachtet unter einer lebensphilosophischen oder verwandten Perspektive.103

Wie gezeigt, lässt sich in der Mehrzahl der Korpustexte ein solches neomystisches unio-Erlebnis nachweisen, wobei sowohl die Natur als auch die jeweilige Maria Magdalena-Figur zum „Substitut Gottes“ wird; so etwa in der „geschlechtliche[n] Vereinigung in [...] natürlicher Umgebung“, die in Benzmanns „Die heilige Magdalene“ gestaltet wird. Im letzten Abschnitt dieses Gedichts wird das sexuelle Erlebnis unter den Vorzeichen der zeittypischen Naturreligiosität zur Vermählung der emphatisch aufgeladenen Natur mit dem „Heiland der Liebe“ stilisiert. Die Titelfigur, 103

Uwe Spörl: Gottlose Mystik, S. 26 (Hervorhebungen im Original). Zum Zusammenhang zwischen der neomystischen unio und Diltheys lebensphilosophischem Erlebnisbegriff vgl. ebd., S. 24 und Wolfgang Riedel: „Homo natura“, S. 19f. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Elisabeth Hurths Einschätzung zu Wilhelm Walloths Jesus-Roman Der neue Heiland (1909): „Die in der ‚neuen Religion‘ angestrebte Selbstauflösung, das Aufgehen im ‚Göttlichen‘ bezeichnet hier eine innerweltliche, subjektiv-seelische Mystik, die die Offenbarung eines transzendenten Gottes durch eine seelische religiöse Empfindungsweise der Welt ersetzt.“ (Elisabeth Hurth: „‚Der neue Heiland‘. Aspekte der Jesusroman-Literatur um 1900“, in: Wirkendes Wort 3 (1993), S. 575–592, hier S. 585). Ein paradigmatisches Beispiel für ein solches unio-Erlebnis finden wir in dem berühmten Gedichtband des Friedrichhageners Julius Hart mit dem bezeichnenden Titel Triumph des Lebens: „[...]/Ein Erlöster, leid- und lustlos,/an der Erde Mutterschoß/bett ich mich, dem ganz All-Einen/was gilt klein und was gilt groß?/Allen Farben, allen Formen/schloß mein innres Aug sich zu,/Welt und ich sind nicht getrennt mehr,/Welt bin ich und Welt bist du./Fühle meiner Berge Ruh,/du bist ich und ich bin du –/Allen Farben, allen Formen/schloß mein innres Aug sich zu.../[...]“ (Julius Hart: Triumph des Lebens. Gedichte. Buchschmuck von Fidus. Florenz, Leipzig 1898, S. 219). Zur „enge[n] Affinität des panpsychistisch-pantheistischen Monismus und der Neomystik der Jahrhundertwende“ vgl. Uwe Spörl: Gottlose Mystik, S. 110ff.

238

Maria Magdalena als ‚Schutzpatronin‘ der literarischen Lebensreform

die zu Beginn des Texts in ihrer Reue für ihre Verfehlung, nämlich ihre Entjungferung, dargestellt wird, avanciert im Kontext des Erlebnisses erfüllter Sexualität in Einklang mit der Natur zur Erlöserin und Lebens-Spenderin des Mannes. Ihre Naturhaftigkeit wird, wie bereits erwähnt, durch die Parallelisierung mit dem Nachthimmel hervorgehoben. In Benzmanns „Christus und die beiden Frauen“ wird im Kontext der „erlösende[n] Gegenwart Marias“ eine nächtliche Allbeseelungsszene dargestellt, in der Jesus und Johannes „wie zwei Flammen [...] mit allem Leben zusammen“ fließen. Auch in Hollaenders Roman lässt sich die durch Haeckels Monismus geprägte zeittypische Naturreligiosität104 an zahlreichen Stellen nachweisen. Hier ist zunächst die Stilisierung der Titelfigur zu einem trieb- und instinktgeleiteten Naturwesen, dem die Elemente Wasser und Feuer zugeordnet werden, zu nennen. Das „unbändige Naturkind“ Magdalene, dem vom Erzähler ein „sexueller Magnetismus“ zugeschrieben wird, fungiert darüber hinaus als Auslöser für die unio-Erfahrungen der männlichen Figuren, durch die sie im Medium des Erotischen die Integration in die Ganzheit der Natur erleben. Neben den naturreligiösen Erlebnissen von Magdalenes Vater und Gerhart ist hier v.a. das All-Einheitserlebnis im Kontext des Spaziergangs von Magdalene und Arnold zu nennen, das durch Magdalenes Berührung ausgelöst wird und bei dem beide „einen tiefen Zusammenhang mit sich und der stillen Natur“ verspüren. Die Funktion der menschlichen Sexualität als Mittel zur Verschmelzung des Naturwesens Mensch mit der All-Einheit105 wird in Magdalene Dornis besonders hervorgehoben, wenn nicht nur der wesenhaft sexuellen Frauenfigur Magdalene Elemente der Natur zugeschrieben werden, sondern auch die Natur selbst weiblich konnotiert ist („[u]nd in der ganzen Natur bereits jener üppige, frauenhafte Zug, der sich betäubend auf die Nerven legt“). In Schlafs biblischer Erzählung erlebt Jesus die Vereinigung mit dem pantheistisch-christlich konzipierten „ewig wirkenden That- und Schöpfergrund“. Der Jesus-Figur offenbart sich eine naturmystisch-pantheistische Gottesvorstellung, in der die Schöpfungskraft der Geschlechterpolarität bzw. des „Zwiespalts“ im Rahmen des von der monistischen Polaritätsphilosophie des Autors geprägten Texts positiv gewertet wird; die geschlechtliche Liebe erscheint als „notwendige[s] Urgebot[ ]“. Diese Konzeption erinnert an Haeckels Stilisierung der Sexualität zum „Motor der Evolution“.106 Im Kontext des 104

Vgl. hierzu folgende Einschätzung Kafitz‘ in Bezug auf die „naturreligiösen, monistischen und lebensreformerischen Vorstellungen“ der Friedrichshagener Neuen Gemeinschaft (Dieter Kafitz: Johannes Schlaf, S. 21): „Die monistische Auslegung des Entwicklungslehre bildete den Ausgangspunkt einer religiösen Naturverehrung.“ (ebd., S. 242). 105 Im Kontext von Arnolds Rezeption der „Werke der Naturforscher“ und seiner Erkenntnis der „menschlich-tierischen Natur“ konnten explizite intertextuelle Verweise auf Haeckels Monismus nachgewiesen werden, etwa auf das biogenetische Grundgesetz oder seinen Begriff der mythischen Schöpfungsgeschichte, der als unmarkiertes Zitat in den Text integriert ist (MD, 208). 106 Vgl. in diesem Zusammenhang auch den intertextuellen Verweis auf Haeckels Welträthsel, den Schlaf mit der Formulierung „notwendigen Urgebotes“ vornimmt: Laut Haeckel sei die Geschlechtsliebe für Jesus „ein nothwendiges Übel“ gewesen. Schlaf bezieht sich, wie gezeigt, in seiner Rezension der Welträthsel explizit auf diesen Vorwurf (siehe oben, S. 155).

Lebensmystik und Sakralisierung des Sexus

239

zweiten pantheistisch-monistischen unio-Erlebnisses in Schlafs biblischer Erzählung verwandelt sich für Jesus nach der Begegnung mit der liebenden Maria MagdalenaFigur die ihn umgebende Naturszenerie zum Hohelied der Liebe. In Hartlebens Gedicht kommt die All-Einheit in der Gleichsetzung von Maria Magdalenas Augen und Blut mit Himmel und Wein zum Ausdruck, die der Gott Dionysos im Zuge seines Aufrufs zur Weltteilhabe vornimmt. Bei Rilke wird indirekt auf die All-Einheit Bezug genommen, wenn in „Der Auferstandene“ die Resurrektion Jesu geschieht, um aus der Maria Magdalena-Figur „die Liebende zu formen/die sich nicht mehr zum Geliebten neigt“, die also Rilkes Ideal der intransitiven All-Liebe verkörpert und zur Großen Liebenden stilisiert wird. Dehmel stilisiert die sexuelle Vereinigung mit der ‚Venus‘, die mit ihren springenden Pulsen als Personifikation des Lebens erscheint, zur Entgrenzungserfahrung, die mit dem Versinken in „tiefe[n] Meere[n]“ bis zum „Grund der Welt“ einhergeht. Inwiefern Dehmels Erlösungsmodell, in dem die Akzeptanz der eigenen Triebhaftigkeit und ihr Ausleben zur Voraussetzung für eine ethische Höherentwicklung der Menschheit wird, und das Ideal der Natürlichkeit die Darstellung seiner Erlöserin-Figur beeinflusst haben, wurde im Rahmen der Analyse von „Venus Consolatrix“ nachgewiesen. Bei Benzmann, Schlaf, Hollaender und Dehmel werden die neomystischen unio-Erlebnisse der männlichen Protagonisten durch die jeweilige korrespondierende Maria Magdalena-Figur ausgelöst. Insofern trifft hier Horst Fritz’ Einschätzung zu, dass in von Monismus und Lebensphilosophie geprägten literarischen Entgrenzungsentwürfen der Jahrhundertwende „[d]ie Geliebte [...] als Mittel der Weltteilhabe“ fungiere107 (vgl. hierzu Kap. 7.1). Maria Magdalena erscheint in den Texten der literarischen Lebensreform nicht mehr wie in der Literatur des Mittelalters als Mittlerin zwischen Betendem und Gott, sondern wird in der durch sie ermöglichten weltimmanenten unio zur Mittlerin zwischen Mann und Alleinheit. Insofern werden auch die erlösenden Maria Magdalena-Figuren auf die Rolle der Mittlerin reduziert, auf die Hilmes im Kontext der literarischen Idealisierung der Frau seit der Romantik eingeht: Die Hochschätzung, mit der in der Romantik von der Frau gesprochen wird, verdeckt dabei den Gestus ihrer Erniedrigung. Diese wohl uneingestandene, sicherlich ungewollte Misogynie äußert sich in den Tendenzen einer idealisierenden Vergeistigung der Frau und ihrer Reduktion auf Mittlerfunktionen.108

Nicht zu vernachlässigen ist im Kontext der vom Monismus beeinflussten Idealisierung menschlicher Sexualität in der Figur der Heiligen Maria Magdalena das Verhältnis des Monismus zur christlichen Religion, das sich nicht auf antiklerikale und antipapistische 107

Horst Fritz: „Zur Dämonisierung des Erotischen“, S. 451. Vgl. hierzu auch die Einschätzung der Dehmel’schen Liebeslyrik durch Samuel Lublinski in seiner Bilanz der Moderne: „Dehmel will im Weib die Welt umarmen, die Frau, die er liebt, will er als Symbol aller seelischen Werte und schöpferischen Kräfte empfinden, [...]“ (Samuel Lublinski: Die Bilanz der Moderne. Hrsg. von Gotthart Wunberg. Tübingen 1974, S. 360). 108 Carola Hilmes: Die Femme fatale, S. 17.

240

Maria Magdalena als ‚Schutzpatronin‘ der literarischen Lebensreform

Positionen reduzieren lässt, sondern auch von der Anerkennung basaler christlicher Tugenden wie Mitleid und Nächstenliebe zeugt.

7.2.2 Exkurs: Synthese monistischer und christlicher Positionen 1911 veröffentlicht der Pädagoge und Soziologe Johannes Unold109 seine „zehn Gebote des Monismus“ in Der Monismus: Zeitschrift für einheitliche Weltanschauung und Kulturpolitik. Unold stellt seinen zehn Geboten, von denen drei die „Weltanschauung“, die restlichen sieben die „Lebensführung“ betreffen, die Einschätzung voran, dass „der mosaische Dekalog [...] nach allgemein ethischen und pädagogischen Gesichtspunkten für unsere Zeit und Bildungsstufe nicht nur ungenügend, sondern auch ungeeignet“110 erscheine und dass es gelte, „diese religiös-ethische Unterweisung mehr und mehr zu ergänzen durch eine wissenschaftlich begründete Welt- und Lebensanschauung“111 – gemeint ist der Monismus. Hier finden wir einen Aspekt, der auch für die Darstellung Maria Magdalenas in den Texten des Korpus relevant ist. Unold verwirft nämlich nicht die christlichen zehn Gebote bzw. die in ihnen zum Ausdruck kommende Moral, sondern spricht davon, dass diese um eine der Gegenwart angepasste wissenschaftliche Weltanschauung „zu ergänzen“ seien.112 Trotz seiner wiederholten Angriffe gegen die dualistische Lehre des Christentums und den Papismus113 finden wir auch bei Haeckel eine solche Anerkennung der christlichen Ethik unter Berufung auf eine idealisierende Urchristentum-Konzeption. 109

Unold, der u.a. Mitbegründer und Vorstandsmitglied des Deutschen Monistenbunds war, hatte zunächst Theologie studiert, dieses Studium aber unter dem Zwang „innerer Wahrhaftigkeit“ aufgegeben. In der Zeitschrift Das Monistische Jahrhundert wird er charakterisiert als „einer der stärksten und solidesten Köpfe der monistischen Bewegung, die ihm für seine Erzieherarbeit nicht dankbar genug sein kann.“ (W[illy]B[lossfeldt]: „Unsere Mitarbeiter“, in: Das monistische Jahrhundert. Zeitschrift für wissenschaftliche Weltanschauung und Weltgestaltung 1 (April 1912– März 1913), S. 71f., hier S. 72). 110 Johannes Unold: „Die zehn Gebote des Monismus. (Auf Grund der Erfahrungen aus Natur und Geschichte)“, in: Der Monismus. Zeitschrift für einheitliche Weltanschauung und Kulturpolitik 58, 6 (1911), S. 210–212, hier S. 210. 111 Ebd. 112 Ein weiteres Beispiel für den Versuch einer Synthese von Monismus und Christentum liefert der Friedrichshagener Bruno Wille in seiner Weltanschauungsschrift Die Christus-Mythe als monistische Weltanschauung. Wille spricht hier explizit von einem „monistischen Christentum“ (Bruno Wille: Die Christus-Mythe als monistische Weltanschauung. Ein Wort zur Verständigung zwischen Religion und Wissenschaft. Berlin 1903, S. 5), das christliche Gebot der Nächstenliebe wird transformiert zum „sittliche[n] Monon“: „Dein Nächster ist dein Selbst; was du ihm Gutes oder Böses angetan, hast du deinem Selbst angetan.“ (ebd., S. 52.). 113 Haeckel spricht in den Welträthseln u.a. von einem „katholische[n] Polytheismus, in dem zahlreiche ›Heilige‹ (oft von sehr zweifelhaftem Rufe (!!)) als untergeordnete Gottheiten angebetet […] werden“ (Ernst Haeckel: Die Welträthsel, S. 111), eine deutliche antikonfessionelle Provokation.

Lebensmystik und Sakralisierung des Sexus

241

Denn die christliche Religion besitzt (in ihrer ursprünglichen, reinen Form!) trotz aller Irrthümer und Mängel einen so hohen sittlichen Werth, sie ist vor allem seit anderthalb Jahrtausenden so eng mit den wichtigsten socialen und politischen Einrichtungen unseres Kulturlebens verwachsen, daß wir uns bei Begründung unserer monistischen Religion möglichst an den bestehenden Institutionen anlehnen müssen. Wir wollen keine gewaltsame Revolution, sondern eine vernünftige Reformation unseres religiösen Geisteslebens.114

Haeckel geht es also wie Unold nicht um das Verwerfen christlicher Werte, sondern um ihre Reinterpretation und Neubegründung unter modernen, wissenschaftlichen Vorzeichen.115 Als den „besten Theil der christlichen Moral, an dem wir festhalten“, nennt Haeckel die „Humanitäts-Gebote der Liebe und Duldung, des Mitleids und der Hülfe.“116 Diese Aufzählung christlicher Tugenden ist besonders interessant in Hinblick auf die vom Monismus der Jahrhundertwende geprägten Texte des Korpus, gilt doch die Heilige Maria Magdalena traditionell als Exempel großer Liebesfähigkeit und des Mitleids.117 Der intertextuelle Verweis auf das Maria und Marta-Idyll, dessen Haeckel sich mit der Formulierung „besten Theil“ bedient, steht exemplarisch für die starke Affinität zu christlichem Vokabular in der Literatur der Jahrhundertwende, die ein Indiz für das Weiterleben zentraler Elemente der christlichen Religion in neuen weltanschaulichen Formen ist (vgl. hierzu die Ausführungen zur vagierenden Religiosität, siehe oben, S. 221). Die für den Monismus Haeckelscher Prägung typische Beibehaltung und Aktualisierung christlichen Gedankenguts im Kontext moderner Wissensbestände prägt auch die Verarbeitungen des Magdalenenstoffs in der literarischen Lebensreform. Neben den bereits genannten Beispielen für die Verlagerung der christlichen Erlösungskonzeption 114

Ernst Haeckel: Die Welträthsel, S. 135 (Sperrung im Original; Hervorhebung A. G.-T.). Vgl. hierzu Spörls Einschätzung, dass der „Monismus [...] – zumindest bei seinen Anhängern – als naturwissenschaftlich begründete und damit gerechtfertigte Weltanschauung, als legitimierter Nachfolger des alten Christentums in den modernen Zeiten von Naturwissenschaft und Technik [galt].“ (Uwe Spörl: Gottlose Mystik, S. 103). Vgl. in diesem Zusammenhang auch Lucien Hölschers Explikation des neueren Säkularisierungsbegriffs: „Säkularisierung in diesem Sinne bedeutete also nicht allein Auflösung und Abkehr vom Christentum, sondern dessen Überwindung auf eine neue religiöse Form hin, die zugleich keine Religion mehr in der traditionellen Bedeutung des Wortes war. Die großen Fragen nach dem Anfang und Ende der Welt, nach dem Grund für die Geltung sozialer Normen und moralischer Gebote, nach dem Sinn der Lebens etc., auf die die christliche Religion Antwort gab, sollten neue Antworten in der wissenschaftlichen Forschung und im freien gesellschaftlichen Dialog finden.“ (Lucien Hölscher: Weltgericht oder Revolution. Protestantische und sozialistische Zukunftsvorstellungen im deutschen Kaiserreich. Stuttgart 1989, S. 195). 116 Ebd. 117 Vgl. in diesem Zusammenhang die Stilisierung Maria Magdalenas in Arno Holz’ Gedicht „Erkenne dich selbst!“ zur „ewige[n] Liebe“, die als „Allerbarmerin“ [...] „ihre schöne, süsse Tochter, Das Mitleid“ an ihr „grosses, feuriges Sonnenherz“ drückt. (Arno Holz: Werke. Bd. V: Das Buch der Zeit. Dafnis. Kunsttheoretische Schriften. Hrsg. v. Wilhelm Emrich und Anita Holz. Neuwied a.R. 1962, S. 267). 115

242

Maria Magdalena als ‚Schutzpatronin‘ der literarischen Lebensreform

in den Bereich des Sexuellen können als weitere Beispiele die Anspielung auf das – ebenfalls lebensmystisch umgedeutete – christliche Ritual der Eucharistie in Hartlebens Gedicht und die Darstellung der Jesus-Figuren von Benzmann und Schlaf als Monisten genannt werden. In Magdalene Dornis äußert sich der durch die Affäre mit Magdalene ausgelöste weltanschauliche Wandel des Pfarrherrn u.a. in einer inhaltlichen und rhetorischen Veränderung seiner Predigten.118 Spiekermann spricht in Bezug auf Dehmels Deutung des christlichen Begriffs des ‚ewigen Lebens‘ als „durch Darwin theoretisch beglaubigte[ ] Menschheitsentwicklung“ von seiner Hoffnung, „[d]urch diese Aktualisierung ihres Fundaments [...] die neutestamentliche Ethik für seine Zeit retten zu können“119 und erläutert diesen wegen des blasphemischen Habitus des Autors zunächst überraschenden Befund wie folgt: Diese christliche Kontextualisierung dürfte verwundern bei einem Autor, den wir bisher als Darwinisten und lebensphilosophischen Eudämonisten kennengelernt haben. Wie viele seiner Zeitgenossen hob Dehmel an der ‚Jesuslehre‘ vor allem die Botschaft der Liebe hervor. So wird erklärlich, daß er gerade in Liebesgedichten und erotischen Gedichten christliche Symbole und Figuren einsetzt. [...]120

Nicht nur Dehmels Lyrik, sondern auch die übrigen Texte des Korpus zeichnen sich aus durch die Verwendung christlicher Motivik und Figuren, nämlich Jesus- und Maria Magdalena-Figuren, im Kontext erotischer Darstellungen. Auf diesen Zusammenhang soll im Folgenden in Hinblick auf das literarische Jesus-Bild der Jahrhundertwende eingegangen werden. 118

„Er sprach einfach und schlicht in gedrücktem Tone, ließ alle großen Bilder beiseite und ermahnte zur Liebe, Versöhnung und Selbsteinkehr. Alles hochtrabende Pathos war aus seiner Rede geschwunden. Immer wieder hob der den Satz hervor, daß keiner das Recht habe, den anderen zu richten.“ (MD, 209f.). 119 Björn Spiekermann: Literarische Lebensreform um 1900, S. 187. Vgl. hierzu auch Bölsches Erklärung zu seinem Austritt aus der Landeskirche 1906: Er habe diesen Schritt vollzogen, „nicht um mich damit vom Religiösen abzuwenden, sondern ausgesprochen, um es mir zu retten“ (zitiert nach: Frank Simon-Ritz: „Kulturelle Modernisierung und Krise des religiösen Bewußtseins. Freireligiöse, Freidenker und Monisten im Kaiserreich“, in: Olaf Blaschke/Frank-Michael Kuhlemann: Religion im Kaiserreich, S. 457–473, hier S. 470). Röttger liefert im Vorwort zu seiner Jesus-Anthologie eine Einschätzung zum zeitgenössischen Verständnis von Jesus als Typus, die ebenfalls von dem Versuch, sich eine moderne Form der Christlichkeit zu erhalten, geprägt ist: „Jesus ist, [...], somit ein Typ, ein Repräsentant der Menschheit. Soweit die Evangelien das Ringen und Leiden einer Menschenseele offenbaren, sind sie uns noch wertvoll.“ (Karl Röttger: Die moderne Jesusdichtung, S. XVI) 120 Björn Spiekermann: Literarische Lebensreform um 1900, S. 257. Vgl. hierzu folgende Einschätzung Nipperdeys zur vagierenden Religiosität der Jahrhundertwende: „Die kirchliche Religion war noch nah, die Fragmentierung der Lebenswelt und der Relativität der Werte wurden noch, neu wie sie waren, erlitten, Lebensdeutung maß sich am bisherigen religiösen Anspruch auf Universalität, auf überindividuelle Verpflichtung und feste Wertordnung. Nur eine neue Religiosität konnte, so schien es diesen Menschen, die traditionelle Religion wie den traditionellen Rationalismus ablösen und zudem die Schrumpfform des konventionellen Restchristentums ersetzen.“ (Thomas Nipperdey: Arbeitswelt und Bürgergeist, S. 527).

Lebensmystik und Sakralisierung des Sexus

243

7.2.3 Der lebensmystische Jesus Der Versuch, christliches Gedankengut für die eigene Zeit zu retten, lässt sich u.a. im Werk Benzmanns nachweisen, der, wie gezeigt, seine Jesusfigur in „Christus und die beiden Frauen“ eine monistische unio erleben lässt und in „Die heilige Magdalene“ eine Vereinigung des „Heiland[s] der Liebe“ mit dem „Dom der Natur“ und dem „Venusstern“ darstellt, die an die Synthese christlicher Werte, naturreligiöser Empfindungen und der Aufwertung der geschlechtlichen Liebe im Rahmen zeitgenössischer monistischer Konzepte erinnert. Auch die für Haeckel typische Kirchenfeindlichkeit lässt sich im Werk Benzmanns nachweisen, wenn er etwa im Nachwort zu seiner modernen Evangelienharmonie schreibt: „Dem Christentum stand ich niemals fremder gegenüber als in jenen vergangenen Jahren, in denen mir Christus selbst allmählich näher und näher kam“.121 Lemke geht auf diese zeittypische Haltung Benzmanns in Bezug auf dessen literarische Wurzeln im Naturalismus ein, wobei seine Annahme von einer naturnotwendig eintretenden Religiosität ein anschauliches Beispiel für den Sozialdarwinismus der Jahrhundertwende liefert: Ist ganz allgemein klar, daß sich unsere sozial gerichtete Zeit gern mit J e s u P e r s ö n l i c h k e i t befassen mußte, so ist das im Falle Benzmanns noch deutlicher, [...]. Aus seinem sozialen Gefühl bricht eine religiöse Entwicklung naturnotwendig hervor. Aber diese Entwicklung führt ihn, wie das bei so vielen Menschen der letzten Jahrzehnte ging, von dem ab, was man das offizielle Christentum unserer Tage nennen könnte, und zu Jesu Gestalt hin.122

Eine solche „Entmythologisierung Christi“123 und die Entkopplung Jesu von der offiziellen Lehre der Kirche finden im Zuge der Säkularisierung um 1900 in Rekurs auf die seit Mitte des 19. Jahrhunderts populäre Leben-Jesu-Forschung und deren Orientierung am historischen Jesus statt. Das zeitgenössische Interesse beginnt sich nun v.a. auf „Christus als ‚bloßen Menschen‘“124 zu richten, dem trotz der Leugnung seines Gottmenschentums weiterhin eine Vorbildfunktion zukommt.125 Die Bezugnahme auf die Leben-Jesu-Forschung konnte für die Texte Schlafs und Hollaenders nachgewiesen werden, die sich bei ihrer Konzeption der Figur der Maria Magdalena an den Schriften Renans und Strauß‘ orientieren. Im Versuch, den historischen Jesus als Typus des ‚höheren Menschen‘ zu konzipieren, lässt sich bei vielen Autoren der Einfluss Nietzsches nachweisen.126 Es ist somit wenig verwunderlich, dass sich in der Literatur 121

Hans Benzmann: Eine Evangelienharmonie, S. 237. Ernst Lemke: Hans Benzmann, S. 18 (Sperrung im Original). 123 Helmut Scheuer: „Zur Christus-Figur in der Literatur um 1900“, in: Fin de siècle. Hrsg. v. Roger Bauer et al., S. 378– 402, hier S. 382. 124 Ebd. 125 Vgl. Hans Benzmann: Eine Evangelienharmonie, S. 238. 126 Zu den Parallelen des Jesusbilds der zeitgenössischen Bibelkritik und Leben-Jesu-Forschung und Nietzsches Verständnis des ‚Gekreuzigten‘ vgl. Elisabeth Hurth: „‚Der neue Heiland‘“, S. 576.

122

244

Maria Magdalena als ‚Schutzpatronin‘ der literarischen Lebensreform

der Jahrhundertwende häufig die enge Verbindung oder Ineinanderblendung der beiden Erlöserfiguren Jesus und Dionysos findet (vgl. hierzu Hartlebens „Der Magdalenenwein“). Während im Naturalismus überwiegend asketische bzw. ‚reine‘ Jesusfiguren dargestellt werden127 und Jesus zum großen Sozialreformer bzw. zum ersten Sozialisten stilisiert wird, kommt es im Rahmen der „lebenskultisch umgedeutete[n] ChristusRezeption“128 zum Versuch, „dem Verzicht fordernden und das Diesseits verachtenden Christentum eine lebensbejahende und vitalistische Haltung zu unterlegen“.129 Von diesem Versuch zeugt etwa Schlafs biblische Erzählung, in der die Rehabilitierung menschlicher Sexualität durch Jesus vor dem Hintergrund der monistischpantheistischen Weltanschauung des Autors gestaltet wird. Im Zuge der vom Lebenspathos der Zeit geprägten Umformung der „Leidensgestalt Christi zu einer heiteren Figur“130 und aufgrund des zentralen Stellenwerts des Erotischen als „Ursprung und Urbild des Lebens“ in lebensphilosophischen und monistischen Entwürfen wird in der Literatur der Jahrhundertwende nun auch die Sexualität des Menschensohnes thematisiert. Mit Ausnahme von „Der Magdalenenwein“ lässt sich diese Tendenz zur Sexualisierung von Jesus-Figuren in allen Texten des Korpus nachweisen. Wie Kächler betont, wird der Jesusfigur um 1900 mitunter auch „eine weitere Figur gegenüberNeben Nietzsches grundlegender Wertschätzung der Person Jesu hat auch sein Konzept des Übermenschen auf die Schriftsteller der Jahrhundertwende beim Ausformen ihres Jesus-Bildes gewirkt, vgl. hierzu Uwe Kächler: Die Jesusgestalt in der Erzählprosa des deutschen Naturalismus, S. 40. Zu den „Christus-Anleihen“ in Also sprach Zarathustra vgl. Wolfgang Riedel: „Homo natura“, S. 201. 127 Vgl. Uwe Kächler: Die Jesusgestalt in der Erzählprosa des deutschen Naturalismus, S. 185. Für die Untersuchung der literarischen Verarbeitung des Magdalenenstoffs bei nachnaturalistischen Autoren ist auch Kächlers Einschätzung der „Grundsituation der naturalistischen Jesusgestalt“ aufschlussreich: „Einem armen Mädchen oder einer jungen Frau hilft das Mitleid und die Zuwendung eines Retters aus ihrem Elend hinaus.“ (ebd., S. 97). Wie gezeigt, entspricht das Verhältnis zwischen Gerhart und Magdalene zu Beginn von Hollaenders Roman genau dieser Situation, die auch für den literarischen Weiblichkeitstypus der courtisane rachetée grundlegend ist. Im Verlauf der Handlung von Magdalene Dornis entwickelt sich die Titelfigur vom armen geretteten Mädchen zur leidenschaftlich liebenden Frau. Diesem Wandel entspricht auf der Ebene der Figurenkonstellation die ‚Ersetzung‘ Gerharts durch seinen Bruder Arnold als Partner Magdalenes. 128 Gertrude Cepl-Kaufmann/Rolf Kauffeldt: Berlin-Friedrichshagen, S. 331. 129 Helmut Scheuer: „Zur Christus-Figur in der Literatur um 1900“, S. 390. Die Übergänge zwischen dem Jesusbild des Naturalismus und der literarischen Lebensreform sind natürlich fließend. Besonders das Beispiel des Friedrichshagener Dichterkreises zeigt, dass viele ‚ehemalige‘ Naturalisten sich in den 1890er Jahren verstärkt mit lebensmystischen und neureligiösen Positionen auseinandersetzen. Vgl. hierzu auch die Einschätzung Kächlers, dass einige Naturalisten „frühere Positionen aufgaben und sich verstärkt religiös-mystische oder nationale Gedanken aneigneten.“ (Uwe Kächler: Die Jesusgestalt in der Erzählprosa des deutschen Naturalismus, S. 16). Hinzuweisen ist hier auf den ‚deutschen‘ bzw. ‚germanischen‘ Jesus, wie er in der Literatur der Jahrhundertwende entworfen wird; vgl. hierzu Karl Röttger: Die moderne Jesusdichtung, S. XXXVI und Helmut Scheuer: „Zur Christus-Figur in der Literatur um 1900“, S. 391f. 130 Helmut Scheuer: „Zur Christus-Figur in der Literatur um 1900“, S. 390.

Lebensmystik und Sakralisierung des Sexus

245 131

gestellt [...], die das Prinzip der Lebensbejahung vertritt“. Wie gezeigt werden konnte, kommt in der Mehrzahl der Korpustexte diese Funktion der jeweiligen Maria Magdalena-Figur zu. So löst etwa die Gegenwart Mirjams bei Schlafs Jesusfigur die ‚Erkenntnis‘ der geschlechtlichen Liebe als Urgebot und das damit verbundene neomystische unio-Erlebnis aus. Hollaenders Magdalene wird als Extrakt des Weiblichen zur Verkörperung des Lebens und der Sexualität, welche die jesusähnliche Priesterfigur Arnold zur Lebensfeier ‚bekehrt‘. Auch Dehmels Verführerin, die selbst in der Rolle Jesu erscheint, ruft in „Venus Consolatrix“ das männliche Sprecher-Ich zur Lebensteilhabe auf. Das Entgrenzungserlebnis von Jesus und Johannes, das ihnen die Teilhabe an der All-Einheit ermöglicht, wird in Benzmanns „Christus und die beiden Frauen“ durch die zur Erlöserin stilisierte Maria Magdalena-Figur ausgelöst. Auch in „Die heilige Magdalene“ wird die Titelfigur bzw. die sexuelle Vereinigung mit ihr zum Mittel der Weltteilhabe stilisiert. Selbst die in Rilkes „Pietà“ gestaltete Maria Magdalena-Figur kann mit dem Festhalten an ihrem nach dem Tod Jesu sinnlos gewordenen sexuellen Begehren als Verkörperung des „Prinzip[s] der Lebensbejahung“ gelten, welcher der Leichnam Jesu gegenübergestellt ist. In Hartlebens Gedicht wird diese Funktion von der Dionysos-Figur erfüllt, die im Kontext der Konversion Maria Magdalenas in der Rolle Jesu erscheint und in Form der Herabwürdigung des Kruzifix’ Kritik an deren Weltflucht und Trauer übt. Die „Umwertung des Gottessohns und d[ie] damit verbundene[ ] Aufwertung des Menschensohnes“,132 die das spezifische JesusBild der Jahrhundertwende prägt, ist also für die Untersuchung der Maria MagdalenaFigur in der literarischen Lebensreform insofern relevant, als die Auswirkungen des Wandels in der Christusdarstellung auf die literarische Konzeption der sponsa Jesu nachgewiesen werden konnten. Diese in der Forschung bislang übersehene Modifikation des literarischen Maria Magdalena-Bildes durch Autoren der literarischen Lebensreform und ihre Signifikanz für die von Lebensmystik und neureligiösen Strömungen geprägten Zeit um 1900 konnte im Rahmen der vorliegenden Arbeit aufgezeigt werden.

131 132

Uwe Kächler: Die Jesusgestalt in der Erzählprosa des deutschen Naturalismus, S. 41. Helmut Scheuer: „Zur Christus-Figur in der Literatur um 1900“, S. 396.

246

Maria Magdalena als ‚Schutzpatronin‘ der literarischen Lebensreform

7.3 Fazit Maria Magdalena wird in der literarischen Lebensreform zur sexuellen Erlöserin stilisiert, welche die ihr jeweils gegenübergestellte männliche Figur zum ‚neuen Menschen‘ werden lässt, indem sie ihm die Erkenntnis und Aneignung zeitgenössischer weltanschaulicher Elemente ermöglicht. Die sexuelle Vereinigung mit der christlichen Heiligen wird dabei zur immanenten Selbsterlösungserfahrung und neomystischen unio stilisiert, die das Erleben des vom zeitgenössischen Lebenspathos geprägten Ideals der All-Einheit ermöglicht. Insofern kann hier von der Resakralisierung der Heiligen im Rückgriff auf die erotisierende Tradition der Darstellung Maria Magdalenas seit dem Barock vor dem Hintergrund der „Wiederentdeckung des Erotischen um 1900“133 die Rede sein. Bei dieser aktualisierenden Darstellung kommt es zu einer spezifischen Funktionalisierung von Elementen des traditionellen Magdalenenstoffs, die der Rehabilitierung des Sexus vor dem Hintergrund weltanschaulicher Wissenselemente der Jahrhundertwende dient. Die schöne Heilige Maria Magdalena, die trotz ihres sündigen Weltlebens traditionell positiv gewertet wird, wird hierbei bewusst zur Exemplifizierung gewählt. Vor dem Hintergrund der Stilisierung menschlicher Sexualität zum Mittel der Weltteilhabe und intensivster Form des Lebens wird, in Anlehnung an die Salbungsszene des Lukasevangeliums, die Sündhaftigkeit Maria Magdalenas, die viel geliebt hat, zu ihrer Tugend stilisiert. Versteht man Sünde als „Bruch des Gottesverhältnisses durch den Menschen“,134 so wird deutlich, dass Maria Magdalena vor dem Hintergrund der undogmatischen, vom zeitgenössischen Lebenspathos und der Sakralisierung des Eros gefärbten Religiosität und dem pantheistisch-monistischen Weltbild der literarischen Lebensreform, die die Vermählung der Venus mit dem „Heiland der Liebe“ feiert, ihren Status als (negativ gewertete) Sünderin verliert. Die religiöse Ekstase der Anachoretin wird von den Autoren der literarischen Lebensreform zu erotischer Ekstase profaniert, so dass die sexuelle Vereinigung mit ihr eine neomystische All-Einheitserfahrung ermöglicht. Maria Magdalenas sexuelle Übermacht wird im Rahmen dieser neomystischen Konzeption ebenso wie die männliche Selbstaufgabe im Liebeserlebnis positiv gewertet, dies steht in deutlichem Gegensatz zur Dämonisierung weiblicher Sexualität im Typus der femme fatale. Das Bußmotiv erfährt dementsprechend, sofern es im Kontext dieser Überhöhung des Liebesmotivs überhaupt noch thematisiert wird, eine charakteristische Umwertung: Maria Magdalena tut in den Texten der literarischen Lebensreform Buße für ihre sexuelle Askese bzw. die versäumte Teilhabe am AllLeben („Die heilige Magdalene“). Diese Konzeption der schönen Heiligen Maria Magdalena ist vor dem Hintergrund des für die literarische Lebensreform typischen,

133 134

Björn Spiekermann: Literarische Lebensreform um 1900, S. 248. Wolf Krötke: „Sünde/Schuld und Vergebung. I. Begrifflichkeit“, in: RGG Bd. 4, Sp. 1867–1868, hier Sp. 1868.

Fazit

247

durch Nietzsche geprägten „Diesseitsenthusiasmus“ und der zeitgenössischen „Lebensfrömmigkeit“135 zu sehen. Insofern dient die Wahl der christlichen Heiligen im Kontext der Heiligung der Geschlechtsliebe nicht nur der Übertragung ihrer religiösen Aura auf die ihr traditionell zugeschriebene zügellose Sexualität, sondern auch auf die mit ihr in Verbindung gebrachten weltanschaulichen Positionen, die am Ideal des in lebensreformerischen Kreisen angestrebten ‚neuen Menschen‘ ausgerichtet sind. Im Kontext der in der Literatur um 1900 gestalteten Versuche, eine subjektive Variante des christlichen Glaubens für das moderne Individuum zu bewahren, trifft zu, was Hartenstein für Maria Magdalena-Figuren in Romanen aus der zweiten Hälften des 20. Jahrhunderts konstatiert, dass nämlich die schöne Sünderin zur „geeignete[n] Gewährsperson für ‚andere‘ Lehren“136 wird. Spiekermann konstatiert in seiner Untersuchung von Dehmels Frühwerk, dass im Zuge der „Aufwertung des Erotischen durch biologische Anthropologie und ‚dionysisch‘ gestimmte Lebensphilosophie“ die geschlechtliche Liebe zur „Projektionsfläche sentimentalischer Sehnsüchte wurde, die das ganze affektive Potential einer ‚vagierenden‘ Religiosität [...] in sich aufnahmen“ (siehe oben, S. 89). Daraus ergibt sich der hohe Stellenwert eines säkularisierten und sexualisierten Erlösungsbegriffs innerhalb der literarischen Lebensreform, der in der vorliegenden Untersuchung anhand der Aktualisierung des Magdalenenstoffs aufgezeigt werden konnte. Die Heilige, die in Analogie zur zeittypischen Sexualisierung der Jesus-Figur, als dessen sponsa zur Personifikation von Liebe und Leben stilisiert und als liebende Sünderin zur Trösterin des Mannes funktionalisiert wird, erscheint somit als nahezu ideale Projektionsfläche für die vagierende Religiosität lebensreformerisch geprägter Autoren, wobei hier mehrere Aspekte des Religiösen in der genuin christlichen Figur kulminieren: Nicht nur die „zeittypische Rolle der Geschlechtsliebe als Ziel säkularer Erlösungshoffnungen“137 wird an dieser Figur exemplifiziert, sondern die schöne Sünderin mit erotischer Haarpracht zeugt auch von der (kunst)religiösen Überhöhung des Weiblichen in der Literatur um 1900. Das Bild der zur weltlichen Liebhaberin stilisierten Heiligen Maria Magdalena, die durch ihre Sexualität Erlösung gewährt, indem sie den Mann an der monistischimmanenten Alleinheit teilhaben lässt, liefert ein paradigmatisches Beispiel für aktuelle Forschungspositionen zur Transformation des Religiösen in der Moderne: In der Figur der Maria Magdalena, wie sie von den Autoren der literarischen Lebensreform um 1900 entworfen wird, werden im Bild des Geschlechtsakts als unio mit der All-Einheit immanente Inhalte zur religiösen Erfahrung überhöht, gleichzeitig wird anhand der

135

Elisabeth Hurth: „‚Der neue Heiland‘“, S. 584 und 579. Judith Hartenstein: „Maria Magdalena in literarischer Rezeption“, in: Kunst der Deutung. Deutung der Kunst. Beiträge zu Bibel, Antike und Gegenwartsliteratur. Hrsg. von Angela Standhartinger, Horst Schwebel und Friederike Oertelt. Münster 2007, S.109–118, hier S. 113. 137 Björn Spiekermann: Literarische Lebensreform um 1900, S. 13. 136

248

Maria Magdalena als ‚Schutzpatronin‘ der literarischen Lebensreform

Konzeption der durch die sexuelle Vereinigung mit einer Heiligen zur erlangenden Erlösung Sakrales profaniert.138 Wie gezeigt werden konnte, unterscheidet sich die Aktualisierung des Magdalenenstoffs in der literarischen Lebensreform durch ihre explizite intertextuelle Bezugnahme auf zeitgenössische Wissensbestände deutlich von traditionellen Vorstellungen der Heiligen. Zwar lässt sich bereits in Kunst und Literatur des Barock eine profanierte, erotisierende Darstellung der Heiligen nachweisen, die v.a. in der bildenden Kunst des 19. Jahrhunderts z.T. bis zum Pornographischen gesteigert wird, das innovative Moment der Aktualisierung des Magdalenenstoffs in der literarischen Lebensreform liegt jedoch in der Darstellung der geschlechtlichen Vereinigung der männlichen Figuren mit der erotisch-schönen Sünderin. Im Kontext der Lebensmystik der Jahrhundertwende und der zeittypischen Sakralisierung des Sexus wird die der Heiligen im Mittelalter zuerkannte Rolle als zweite Eva bzw. als „Botin des Lebens” auf spezifische Weise umgedeutet, so dass Maria Magdalena nun nicht mehr als „Zeugin für die Möglichkeit der Erlösung” erscheint, sondern selbst im Medium des Erotischen Erlösung gewährt. Sie erscheint also nicht mehr als Mittlerin zwischen Gott und Betendem, sondern verbindet den Mann mit der immanenten ich-transzendierenden AllEinheit des ‚Lebens‘. Die Handlungsmacht der Maria Magdalena-Figuren in der literarischen Lebensreform bleibt somit auf die in der Literatur der Romantik ausgeprägte Rolle der Frau als „Trägerin der ideellen männlichen Harmonie- und Einheitssehnsüchte“139 beschränkt.

138

Vgl. hierzu folgende Einschätzung José Casanovas: „Much of the difficulty in analyzing processes of secularization, religious transformation and sacralization in our global age as simultaneous rather than as mutually exclusive processes derives from the tendency to use the dichotomous analytical categories sacred/profane, transcendent/immanent, and religious/secular, as if they were synonymous and interchangeable, when in fact they correspond to historically distinctive, somewhat overlapping but not synonymous or equivalent social systems of classification.“ (José Casanova: „Religion in Modernity as Global Challenge”, in: Religion und die umstrittene Moderne. Hrsg. v. Michael Reder, José Casanova und Hans Joas. Stuttgart 2010, S. 1–17, hier S. 3). 139 Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit, S. 32.

8

Anhang

8.1 8.2

Otto Erich Hartleben: „Der Magdalenenwein“ Hans Benzmann: „Die heilige Magdalene“

Anhang

250

8.1: Otto Erich Hartleben: „Der Magdalenen-Wein“

Otto Erich Hartleben: „Der Magdalenen-Wein“

251

Anhang

252 Hans Benzmann: „Die heilige Magdalene“ Und da lagst du Auf der schwarzen Erde des Waldes, Auf dem meergrünen Teppich des Mooses, Eine büßende Magdalene. – Deine weißen Seelenblüthen Waren verdorrt von der Glut der Sünde, Deine Augen flatterten Wie verirrte Tauben In die Höhe, Suchend die blauen, milden Gnadenblicke des Himmels. Aus deiner Seele schrie, Sprachlos jammernd, Das schmerzlich jähe Erwachen Aus Kinderträumen, Das zitternde Staunen Über das neue ungeheure, Seltsame Wunderwerk der Liebe, Das Himmel und Hölle dir erschlossen . . . . . Und starr und stumm, Ein Tiger, träge vom Fraß, Ein Wandrer am Abgrund des Lebens, Stand ich da Und stierte mit stumpfem Blick Auf die Trümmer des Tempels, In dem ein Engel Verklärten Blickes betend, Gelegen hatte am weißen Altar der Liebe, Auf den Tempel, Den ich zerstört Mit der qualmigen Fackel Satanischen Seelenbrandes . . . . . . Da stand ich, Baar alles Göttlichen, Alles Menschlichen baar, Ein Titan wollüstiger Grausamkeit, Und sann meinem Werke nach Sann meinem Wesen nach Und sah, wie der unersättliche Wurm der Sünde Zerfressen hatte Die letzte menschliche Faser In meiner Brust, Wie die Stätte in mir Leer war wie eine versengte Haide . . . . . Und ich brach zusammen, Wahnsinnig winselnd, Ohnmächtig ächzend,

Unter der Wucht der Erkenntnis, – Ich brach zusammen Wie eine Welt der Sünde . . . . . . .................... Fern rollte der Donner . . . . . Und mir war’s, als spräche Ein Priester den furchtbaren Fluch Der Verdammung über uns aus . . . . . Ich schielte empor Und sah, wie das Abendrot Rieselte an den Kiefern herab Wie rauchendes Opferblut, Wie die Strahlen der Sonne An den Zweigen hingen Gleich gelbseidenen Kirchenfahnen. Mir war es, als ob Die bunten Blumen umher Stachen in meine Seele Wie tausend höhnende Kleine bunte Heiligenbilder aus Mosaik, Wie tausend Haßgiftige Menschenaugen, – Mir war es, als lägen wir an der Schwelle eines Domes, Aus dem der Vögel Gezwitscher Tönte hellstimmig wie Knabengesang, Das Rauschen des Waldes wie Orgelklang Und Singen der gläubigen Menge, Aus dem der Donner rollte Wie eines schwarzen Priesters Furchtbarer Fluch der Verdammnis, Treibend uns aus dem Dom der Natur, In dem wir gefrevelt, Aus den friedlichen Hütten der Menschen In die ewige Nacht der Qualen . . . . . Die Sonne erlosch, Verwirbelnd in dunklen Wolkenmassen. In der Höhe erschien Leuchtend ein Engel Mit göttlich kalten Jehovahaugen. Sein Flammenschwert Zuckte wieder und wieder Auf uns herab . . . . . Und ich raffte mich auf, Ich riß dich empor

Hans Benzmann: „Die heilige Magdalene“ Und floh mit dir Durch das Dickicht des Waldes Wilder und wilder, Weiter und weiter Wie ein Verfluchter . . . . . – Eine Wurzel umklammerte mich Wie eine Schlange der Hölle, Und ich stürzte nieder. Da rannen wie blutige Tropfen Thränen aus meinen Augen, Und mein heißer Schweiß Floß über dein bleiches Gesicht, Das die Reue zerfraß, – Und ich legte mich still Und müde nieder, Mit dir zu sterben . . . . . ................. Über uns stand die Nacht Mir ihren blühenden Sternen, Ein Tempel des Friedens. Ruhe, weite Ruhe. Du beugtest dich über mich Leuchtenden Auges Und dein warmer Mund Hauchte mir Leben ein. „Heilige Magdalena, Bete für mich!“ – Und ich schlang meine Arme Um deine Kniee . . . . Da kam es wie übermenschliches Jauchzen Aus deiner Brust, Und wie ein Heiligenschein

253 Umfloß es dein Haupt: „Wie konnt’ ich verzagen, Wie konnt’ ich hadern mit dir, Dem meine Seele gehört, Der du mein Herr und Gott bist! Gesündigt habe ich Wider den heiligen Geist der Liebe! Gieb du Vergebung meiner Menschlichen Schwäche, Erleuchtung fließe von dir zu mir! Beten will ich mit dir Am opferrauchenden Altar der Liebe Und fliegen mit dir Über Himmel und Hölle Jenseits von Gut und Böse!“ Da zog der Heiland durch meine Seele, Der Pred’ger vom Berge, Und sprach ein dreimal Selig . . . . In ihrer ewigen Weisheit Thronte die Nacht, Stand die Natur Mit dem Diadem der Welten Zu unsren Häupten Und lächelte mild Ihrer Vermählung Mit dem Heiland der Liebe. Über uns glänzte der Venusstern, Der eins war mit dem von Betlehem . . . Es strahlte ein Heiligenschein Von deinem Haupte . . .

9

Verzeichnisse

9.1 Siglenverzeichnis Hollaender, Felix: Magdalene Dornis. Ein moderner Roman = MD Lutherbibel. Standardausgabe mit Apokryphen = LB Schlaf, Johannes: Christus und Sophie = CS Ders.: „Jesus und Mirjam. Eine biblische Erzählung“ = JM Ders.: Psychomonismus, Polarität und Individualität. Ein offener Brief an Herrn Professor Max Verworn = PPI Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft = RGG

9.2 Literaturverzeichnis 9.2.1 Primärtexte Anonym: „Der geheilte Pan“, in: Die Grenzboten. Zeitschrift für Politik, Literatur und Kunst 55 (1896), S. 323–334. Benzmann, Hans: „Die Entwicklung der modernen deutschen Lyrik“, in: Moderne deutsche Lyrik. Mit einer literargeschichtlichen Einleitung und biographischen Notizen hrsg. v. Hans Benzmann. Leipzig 1904, S. 15–76. Ders.: Eine Evangelienharmonie. Mit Holzschnitten von Albrecht Dürer, Lucas Cranach d. ä., Altdorfer und Burgkmair. Leipzig 1909. Ders.: Im Frühlingssturm! Erlebtes und Erträumtes. Großenhain, Leipzig 1894. Bierbaum, Otto Julius: Prinz Kuckuck. Leben, Taten, Meinungen und Höllenfahrt eines Wollüstlings. München 1917. B[lossfeldt], W[illy]: „Unsere Mitarbeiter“, in: Das monistische Jahrhundert. Zeitschrift für wissenschaftliche Weltanschauung und Weltgestaltung 1 (April 1912 – März 1913), S. 71f. Bölsche, Wilhelm: „Einleitung“, in: Des Angelus Silesius Cherubinischer Wandersmann. Nach der Ausg. letzter Hand von 1675 vollständig hrsg. und mit einer Studie „Über den Wert der Mystik“ eingel. v. Wilhelm Bölsche. Jena und Leipzig 1905, S. I–LXIX.

256

Verzeichnisse

Ders.: Das Liebesleben in der Natur. Eine Entwicklungsgeschichte der Liebe. Bd. 1. 36.–39. Tausend. Stark vermehrte und umgearb. Ausgabe. Jena 1909. Bourneville, Désiré Magloire und Paul Marie Léon Regnard: Publications du progrès médical: Iconographie photographique de la Salpêtrière (Service de M. Charcot). T. 1: Hystéro-Épilepsie: Description des attaques; les possédées de Londun du crucifiement. Paris 1876/1877. Brockhaus’ Konversations-Lexikon. Vierzehnte vollst. neubearb. Aufl. in sechzehn Bänden. Neunter Bd.: Heldburg–Juxta. Leipzig, Berlin und Wien 1894. Büchner, Georg: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente. In zwei Bänden. Bd.1. Hrsg. v. Henri Poschmann. Frankfurt/M. 1992. Dehmel, Richard: Aber die Liebe. Ein Ehemanns- und Menschenbuch. Nachdruck der Ausg. von 1893. Eschborn 1993. Ders.: „Aus einem apokryphen Evangelium. Kapitel 32. Zweite Offenbarung vor Maria Magdalena“, in: Die Gesellschaft 13, 4 (1897), S. 175. Ders.: Brief an Johannes Schlaf vom 21.1.1895, Stadtarchiv Halle Hauptamt Nr. 1, S 15 SCHL N 61 Nr. 9. Ders.: Dichtungen, Briefe, Dokumente. Hrsg. v. Paul Johannes Schindler. Hamburg 1963. Ders.: Die Verwandlungen der Venus. Erotische Rhapsodie. Mit einer moralischen Ouvertüre. Nachdruck der Ausg. 1907. Hrsg. von Heike Menges. Eschborn 1996. Ders.: „Ein weibliches Vorbild“, in: Die Gesellschaft 8 (1892), S. 1469–1472. Ders.: Weib und Welt. Gedichte. Nachdruck der Ausgabe von 1896. Hrsg. von Heike Menges. Eschborn 1998. von Eichendorff, Joseph: „Das Marmorbild. Eine Novelle“, in: Ders.: Werke in fünf Bänden. Bd. 2: Ahnung und Gegenwart. Erzählungen. Hrsg. v. Wolfgang Frühwald, Brigitte Schilbach und Hartwig Schulz. Frankfurt/M. 1985, S. 383–428. Fontane, Theodor: Werke, Schriften und Briefe. 4. Abt.: Briefe. Bd. 4: 1890–1898. Hrsg. v. Walter Keitel und Helmuth Nürnberger. München 1982. Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. I. Abt, Bd. 2: Gedichte 1800–1832. Hrsg. v. Karl Eibl. Frankfurt/M. 1988. Ders.: „Die Wahlverwandtschaften“, in: Ders.: Sämtliche Werke. I. Abt., Bd. 8: Die Leiden des jungen Werthers. Die Wahlverwandtschaften. Kleine Prosa. Epen. In Zusammenarbeit mit Christoph Brecht hrsg. v. Waltraud Wiethölter. Frankfurt/M. 1994, S. 269–529. Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Gemeinverständliche wissenschaftliche Vorträge über die Entwickelungslehre im Allgemeinen und diejenige von Darwin, Goethe und Lamarck im Besonderen, über die Anwendung derselben auf den Ursprung des Menschen und andere damit zusammenhängende Grundfragen der Naturwissenschaft. Berlin 1868. Ders.: Die Welträthsel. Gemeinverständliche Studien über Monistische Philosophie. Volks-Ausg. 78. bis 97. Tausend. Bonn 1903. Hansson, Ola: „Neue Bücher. I. Magdalena [sic!] Dornis von Felix Holländer [sic!]“, in: Freie Bühne 2 (1891), S. 1083–1086. Hart, Julius: Triumph des Lebens. Gedichte. Buchschmuck von Fidus. Florenz, Leipzig 1898. Hartleben, Otto Erich: „Der Magdalenenwein“, in: PAN 3 (1895), S. 143f. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke. Bd. I.: Vorlesungen über die Ästhetik. Auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu ed. Ausg. Redaktion Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. Frankfurt/M.1986. Heyse, Paul: „Maria von Magdala“. In: Ders.: Gesammelte Werke. Reihe 1, Bd. 5: Moralische Novellen: Einakter. Die Weisheit Salomos. Maria von Magdala. Stuttgart, Berlin 1924, S. 597–669. Hollaender, Felix: Ges. Werke. Bd. 3: Der Weltanschauungsroman: Der Weg des Thomas Truck. Rostock 1926. Ders.: Magdalene Dornis. Ein moderner Roman. Berlin 1892.

Literaturverzeichnis

257

Ders.: Magdalene Dornis. Ein moderner Roman. 3. Aufl. Berlin 1896. Holz, Arno: Werke. Bd. V: Das Buch der Zeit. Dafnis. Kunsttheoretische Schriften. Hrsg. v. Wilhelm Emrich und Anita Holz. Neuwied a.R. 1962. Ibsen, Henrik: Sämtliche Werke in deutscher Sprache. Durchges. und eingel. von Georg Brandes, Julius Elias und Paul Schlenther. Reihe 1, Bd. 7: Gespenster. Ein Volksfeind. Die Wildente. Berlin o.J [ca. 1901]. Klopstock, Friedrich Gottlieb: Der Messias. Bd. I: Text. Hrsg. v. Elisabeth Höpker-Herberg. Berlin, New York 1974. Landauer, Gustav: Skepsis und Mystik. Versuche im Anschluss an Mauthners Sprachkritik. Fotomech. Nachdr. d. 2. Aufl. Köln 1923. Münster, Wetzlar 1978. Lublinski, Samuel: Die Bilanz der Moderne. Hrsg. v. Gotthart Wunberg. Tübingen 1974. Lutherbibel. Standardausgabe mit Apokryphen. Durchges. Ausgabe. Stuttgart 1999. Marholm, Laura: Das Buch der Frauen. Zeitpsychologische Porträts. Mit 6 Autotypien nach Photographien. 4. Aufl. Paris, Leipzig, München 1896. Dies.: „Die Frauen in der skandinavischen Dichtung. Strindberg’s Lauratypus“, in: Freie Bühne für modernes Leben 1 (1890), S. 364–368. Marie Madeleine [d.i. Marie Madeleine von Puttkamer]: Auf Kypros. 6. Aufl. Berlin, o.J. [1907]. Dies.: Das bischen [sic!] Liebe. Drittes Tausend. Berlin 1906. Miegel, Agnes: Frühe Gesichte. Stuttgart 1939. Dies.: Gedichte. Stuttgart 1901. Nietzsche, Friedrich: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Sechste Abt., Bd. 1: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen (1883– 1885). Berlin 1968. Ders.: Werke. Sechste Abt., Bd. 3: Der Fall Wagner. Götzen-Dämmerung. Nachgelassene Schriften (August 1888–Anfang Januar 1889). Der Antichrist. Ecce homo. Dionysos-Dithyramben. Nietzsche contra Wagner. Berlin u.a. 1969. Renan, Ernest: Geschichte der Anfänge des Christenthums. Bd. 1: Das Leben Jesu. 4. Aufl. Berlin 1864. Richter, Carl Thomas: „Magdalena“, in: Ders.: Magdalena. Die Großmutter. Zwei Erzählungen. Illustriert von H. Schlittgen. Stuttgart o.J. [ca. 1898], S. 1–88. Rilke, Rainer Maria: Briefe an Sidonie Nádherný von Borutin. Hrsg. v. Bernhard Blume. Frankfurt/M. 1973. Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 5: Worpswede. Rodin. Aufsätze. Hrsg. vom Rilke-Archiv in Verb. mit Ruth Sieber-Rilke. Besorgt durch Ernst Zinn. Frankfurt/M. 1965. Ders.: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Bd. 1: Gedichte 1895 bis 1910. Hrsg. v. Manfred Engel und Ulrich Fülleborn. Frankfurt/M. 1996. Rossetti, Dante Gabriel: Poems. A New Edition. London 1881. Röttger, Karl: „Einleitung“, in: Die moderne Jesusdichtung. Eine Anthologie. Mit einer religiösen und literarischen Einleitung hrsg. v. Karl Röttger. München, Leipzig 1907, S. V–XLIII. Schiller, Friedrich: Werke und Briefe. Hrsg. v. Georg Kurscheidt und Otto Dann. Bd.1. Gedichte. Frankfurt/M. 1992. Schlaf, Johannes: Christus und Sophie. Wien, Leipzig 1906. Ders.: „Ernst Häckels [sic!] ‚Welträtsel‘“, in: Wiener Rundschau 3 (1898/99), S. 618–622. Ders.: „Jesus und Mirjam. Eine biblische Erzählung“, in: Ders.: Jesus und Mirjam. Der Tod des Antichrist. Minden i.W. 1901, S. 3–82. Ders.: Psychomonismus, Polarität und Individualität. Ein offener Brief an Herrn Professor Max Verworn. Leipzig 1908. Ders.: Religion und Kosmos. Berlin 1911.

258

Verzeichnisse

Schopenhauer, Arthur: Sämtliche Werke. Dritter Bd. Die Welt als Wille und Vorstellung II. Nach der ersten, von Julius Frauenstädt besorgten Gesamtausg. Neu bearb. und hrsg. von Arthur Hübscher. 4.Aufl., durchges. von Angelika Hübscher. Mannheim 1988. Soergel, Albert: Dichtung und Dichter der Zeit. Eine Schilderung der deutschen Literatur der letzten Jahrzehnte. 7., unveränd. Abdruck. Leipzig 1911. Spee, Friedrich: Trutznachtigall. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1649. Hrsg. und eingel. v. G. Richard Dimler. Washington D.C. 1981. Sudermann, Hermann: Heimat. 13. Aufl. Stuttgart 1893. Tolstoi, Leo N.: „Die Kreutzersonate“. In: Ders.: Die Kreuzersonate. Der Teufel. Reinbek 1961, S. 7– 96. Trakl, Georg: Dichtungen und Briefe. Bd. 1: Gedichte. Sebastian im Traum. Veröffentlichungen im Brenner 1914/15. Sonstige Veröffentlichungen zu Lebzeiten. Nachlass. Briefe. Hrsg. v. Walther Killy und Hans Szenklar. 2., erg. Aufl. Salzburg 1987. Troeltsch, Ernst: „Sudermanns Heimat“, in: Ders.: Kritische Gesamtausgabe. Bd. 1: Schriften zur Theologie und Religionsphilosophie (1888–1902). Hrsg. v. Christian Albrecht et al. Berlin, New York 2009, S. 341–357. Unold, Johannes: „Die zehn Gebote des Monismus. (Auf Grund der Erfahrungen aus Natur und Geschichte)“, in: Der Monismus. Zeitschrift für einheitliche Weltanschauung und Kulturpolitik 58, 6 (1911), S. 210–212. von Ostini, Fritz: „Anti-Fin de siècle“, in: Jugend. Münchner illustrierte Wochenschrift 1 (1898), S. 2. Wagner, Richard: Rienzi. Fliegende Holländer. Tannhäuser. Lohengrin. Tristan. Meistersinger. Leipzig 1926. Weininger, Otto: Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung. 24., unveränd. Aufl. Wien, Leipzig 1922. Wille, Bruno: Die Christus-Mythe als monistische Weltanschauung. Ein Wort zur Verständigung zwischen Religion und Wissenschaft. Berlin 1903. von Zinzendorf, Nikolaus Ludwig: Ergänzungsbände zu den Hauptschriften. Bd. II. Teutsche Gedichte. XII. Anhang und Zugaben I–IV zum Herrnhuter Gesangbuch. Hrsg. v. Erich Beyreuther und Gerhard Meyer. Hildesheim 1964. Voß, Richard: Magda. Zürich 1879.

9.2.2 Sekundärliteratur Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden. Bd. II: Um 1900. Hrsg. v. Wolfgang Braungart, Gotthart Fuchs und Manfred Koch. Paderborn, München, Wien, Zürich 1998. Ajouri, Philip: Literatur um 1900. Naturalismus – Fin de siècle – Expressionismus. Berlin 2009. Anstett-Janssen, Marga: „Maria Magdalena“, in: Lexikon der christlichen Ikonographie. Bd. 7: Ikonographie der Heiligen. Innozenz bis Melchisedech. Hrsg. v. Wolfgang Braunfels. Rom, Freiburg i. B., Basel, Wien 1974, Sp. 516–541. Auerochs, Bernd: Die Entstehung der Kunstreligion. 2. Aufl. Göttingen 2009. Auffarth, Christoph: „Dionysos / Bacchus“, in: RGG. Bd. 2, Sp. 863–864. Aus der Fünten, Wiltrud: Maria Magdalena in der Lyrik des Mittelalters. Düsseldorf 1966. Bachtin, Michail M.: Die Ästhetik des Wortes. Hrsg. v. Rainer Grübel. Frankfurt/M. 1979. Bataille, Georges: Der heilige Eros. Darmstadt, Neuwied a.R. 1963. Bayertz, Kurt: „Die Deszendenz des Schönen. Darwinistische Ästhetik im Ausgang des 19. Jahrhunderts“, in: Fin de siècle. Zu Naturwissenschaft und Literatur der Jahrhundertwende im deutsch-skandinavischen Kontext. Hrsg. v. Klaus Bohnen et al. Kopenhagen 1984.

Literaturverzeichnis

259

Becker-Cantarino, Barbara: „‚Der schöne Leib wird Stein‘. Zur Funktion der poetischen Bilder als Geschlechterdiskurs in Eichendorffs ‚Marmorbild‘“, in: Das Sprach-Bild als textuelle Interaktion. Hrsg. v. Gerd Labroisse und Dick van Stekelenburg. Amsterdam 1999, S. 123–134. Beisswenger, Kirsten: „‚... wie wenn man Flächeninhalte und Brückenbögen berechnet‘. Form- und Motivelemente in Carl Zuckmayers Roman Salwàre oder Die Magdalena von Bozen“, in: Zuckmayer-Jahrbuch 2 (1999), S. 493–513. Berendt, Hans: Rainer Maria Rilkes Neue Gedichte. Versuch einer Deutung. Bonn 1957. Berger, Peter Ludwig: Sehnsucht nach Sinn. Glauben in einer Zeit der Leichtgläubigkeit. Frankfurt/M. 1996. Beutel, Albrecht: „Erbauungsliteratur“, in: RGG. Bd.2: C–E, Sp. 1386–1391. Blaschke, Olaf und Frank-Michael Kuhlemann: „Religion in Geschichte und Gesellschaft. Sozialhistorische Perspektiven auf die vergleichende Erforschung religiöser Mentalitäten und Milieus“, in: Religion im Kaiserreich. Milieus – Mentalitäten – Krisen. Hrsg. v. Olaf Blaschke und FrankMichael Kuhlemann. Gütersloh 1996, S. 7–56. Boa, Elizabeth: „Die Geschichte der O oder die (Ohn-)Macht der Frauen: ‚Die Wahlverwandtschaften‘ im Kontext des Geschlechterdiskurses um 1800“, in: Goethe-Jahrbuch 118 (2002), S. 217–233. Bogdal, Klaus-Michael: Historische Diskursanalyse der Literatur. Theorie, Arbeitsfelder, Analysen, Vermittlung. Wiesbaden 1999. Bohnen, Klaus: „Determinationslösung als Ansatzpunkt moderner Literatur. Ein unveröffentlichter Brief Richard Dehmels und sein ästhetischer Problemzusammenhang“, in: Text und Kontext 5, 2 (1977), S. 89–105. Bovenschen, Silvia: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen. Frankfurt/M. 1979. Bradley, Brigitte L.: Rainer Maria Rilkes „Der neuen Gedichte anderer Teil“. Entwicklungsstufen seiner Pariser Lyrik. Bern 1976. Brendecke, Arndt: „Das Fin de siècle als Paradigma der Moderne. Wider einen überdeterminierten Epochenbegriff“, in: Das intellektuelle Europa der Jahrhundertwenden. Hrsg. v. Barbara Surowska. Warschau 2000, S. 33–64. Brockhaus – Die Enzyklopädie. In 24 Bänden. 20. Aufl. Band 23: Vall–Welh Leipzig 1999. Bronfen, Elisabeth: Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik. 2. Aufl. München 1994. Dies.: Das verknotete Subjekt. Hysterie in der Moderne. Berlin 1998. Bruns, Karin: „Ethischer Klub [Berlin]“, in: Handbuch literarisch-kultureller Vereine, S. 91–95. Dies.: „Die neue Gemeinschaft [Berlin-Schlachtensee]“, in: Handbuch literarisch-kultureller Vereine, S. 358–371. Buchholz, Kai und Annette Wagner: „Sexualreform und neues Geschlechterverhältnis“, in: Die Lebensreform. Bd. 2, S. 441–443. Burrichter, Rita: „Erkenntnis und Hingabe – Maria Magdalena in der bildenden Kunst“, in: Bibel und Kirche 55, 2 (2000), S. 178–186. Dies.: „Maria Magdalena. Kunst“, in: Wörterbuch der Feministischen Theologie. Hrsg. v. Elisabeth Gössmann et al. 2. Aufl. Gütersloh 2002, S. 403–404. Butzer, Günter und Joachim Jacob: „Lerche“, in: Metzler Lexikon literarischer Symbole, S. 204f. Casanova, José: Public religions in the modern world. Chicago 2004. Ders.: „Religion in Modernity as Global Challenge”, in: Religion und die umstrittene Moderne. Hrsg. v. Michael Reder, José Casanova und Hans Joas. Stuttgart 2010, S. 1–17. Catani, Stephanie: Das fiktive Geschlecht. Weiblichkeit in anthropologischen Entwürfen und literarischen Texten zwischen 1885 und 1925. Würzburg 2005. Dies.: „Vagina“, in: Metzler Lexikon literarischer Symbole, S. 400–401.

260

Verzeichnisse

Cepl-Kaufmann, Gertrude und Rolf Kauffeldt: „Friedrichshagener Dichterkreis“, in: Handbuch literarisch-kultureller Vereine, Gruppen und Bünde, S. 112–126. Diethe, Carol: Vergiss die Peitsche. Nietzsche und die Frauen. Hamburg, Wien 2000. Doerry, Martin: Übergangsmenschen. Die Mentalität der Wilhelminer und die Krise des Kaiserreichs. Weinheim 1986. Duden Familiennamen. Herkunft und Bedeutung. Bearb. von Rosa und Volker Kohlheim. Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich 2005. Eilert, Heide: Das Kunstzitat in der erzählenden Dichtung. Studien zur Literatur um 1900. Stuttgart 1991. Engel, Manfred: „Das Frühwerk. Einleitung.“, in: R.M. Rilke: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Bd. 1: Gedichte 1895 bis 1910, S. 612–630. Ders.: „Nachwort“, in: R.M. Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Hrsg. und kommentiert von M. Engel. Stuttgart 1997, S. 319–350. Erdmann, Ulrich: Vom Naturalismus zum Nationalsozialismus? Zeitgeschichtlich-biographische Studien zu Max Halbe, Gerhart Hauptmann, Johannes Schlaf und Hermann Stehr. Frankfurt/M. 1997. Eybl, Franz M.: „Problematische Harmonie: Lohensteins Trähnen der Maria Magdalena zu den Füssen unsers Erlösers“, in: Studien zum Werk Daniel Caspers von Lohenstein. Anläßlich der 300. Wiederkehr des Todesjahres hrsg. v. Gerald Gillespie und Gerhard Spellerberg. Amsterdam 1983, S. 23–46. Fähnders, Walter: Avantgarde und Moderne. 1890–1933. Stuttgart 1998. Felman, Shoshana: „Weiblichkeit wiederlesen“, in: Dekonstruktiver Feminismus. Literaturwissenschaft in Amerika. Hrsg. v. Barbara Vinken. Frankfurt/M. 1992, S. 33–61. Fellmann, Ferdinand: „Die erotische Rechtfertigung der Welt. Aspekte der Lebensphilosophie um 1900“, in: Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden. Bd. II, S. 31–47. Fick, Monika: Sinnenwelt und Weltseele. Der psychophysische Monismus in der Literatur der Jahrhundertwende. Tübingen 1993. Fin de Siècle. Zu Literatur und Kunst um die Jahrhundertwende. Hrsg. v. Roger Bauer et al. Frankfurt/M. 1977. Fischer, Jens Malte: Fin de siècle. Kommentar zu einer Epoche. München 1978. Flemming, Willi: „Felix Hollaender und sein Werk“, in: Felix Hollaender: Gesammelte Werke. Bd. 6: Die autobiographischen Romane: Das letzte Glück. Traum und Tag. Unser Haus. Rostock 1926, S. 543–584. Florack, Ruth: Wedekinds ‚Lulu‘. Zerrbild der Sinnlichkeit. Tübingen 1995. Frenzel, Elisabeth: Motive der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. 6., überarb. und ergänzte Aufl. Stuttgart 2008. Frenzel, Elisabeth: Stoffe der Weltliteratur: Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. 10., überarb. und erw. Aufl. Stuttgart 2005. Fritz, Horst: „Zur Dämonisierung des Erotischen in der Literatur des Fin de Siècle“, in: Fin de Siècle. Hrsg. v. Roger Bauer et al., S. 442–464. Geisenhanslüke, Achim: „Foucault in der Literaturwissenschaft“, in: Foucault in den Kulturwissenschaften. Eine Bestandsaufnahme. Hrsg. v. Clemens Kammler und Rolf Parr. Heidelberg 2007, S. 69–81. Genette, Gérard: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt/M. 1993. Germanese, Donatella: Pan (1910–1915). Schriftsteller im Kontext einer Zeitschrift. Würzburg 2000. Giesing, Michaela: „Theater als verweigerter Raum. Dramatikerinnen der Jahrhundertwende in deutschsprachigen Ländern“, in: Frauen, Literatur, Geschichte. Schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hrsg. v. Hiltrud Gnüg und Renate Möhrmann. Frankfurt/M. 1989, S. 240–259.

Literaturverzeichnis

261

Graf, Friedrich Wilhelm: „‚Alter Geist und neuer Mensch‘. Religiöse Zukunftserwartungen um 1900“, in: Das neue Jahrhundert. Europäische Zeitdiagnosen und Zukunftsentwürfe um 1900. Hrsg. v. Ute Frevert. Göttingen 2000, S. 185–228. Ders.: Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur. Bonn 2004. Grätz, Katharina: „Wissenschaft als Weltanschauung. Ernst Haeckels gelöste Welträtsel und ihr Text“, in: Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert. Hrsg. v. Lutz Danneberg und Friedrich Vollhardt in Zusammenarbeit mit Hartmut Böhme und Jörg Schönert. Tübingen 2002, S. 240–255. Groddeck, Wolfram: Friedrich Nietzsche: Die „Dionysos-Dithyramben“. Bedeutung und Entstehung von Nietzsches letztem Werk. Berlin 1991. Handbuch literarisch-kultureller Vereine, Gruppen und Bünde. Hrsg. v. Wulf Wülfing, Karin Bruns und Rolf Parr. Stuttgart 1998. Hansel, Hans: Die Maria-Magdalena-Legende. Eine Quellenuntersuchung. Bottrop i.W. 1937. Häntzschel, Günter: Bildung und Kultur bürgerlicher Frauen 1850–1918. Eine Quellendokumentation aus Anstandsbüchern und Lebenshilfen für Mädchen und Frauen als Beitrag zur weiblichen literarischen Sozialisation. Tübingen 1986. Hartenstein, Judith: Charakterisierung im Dialog. Maria Magdalena, Petrus, Thomas und die Mutter Jesu im Johannesevangelium im Kontext anderer frühchristlicher Darstellungen. Göttingen 2007. Dies.: „Die geliebte Jüngerin und die beauftragte Apostelin. Warum Maria Magdalena so interessant ist“, in: Zeitschrift für Gottesdienst & Predigt 21 (2003), S. 14f. Dies.: „Maria Magdalena in apokryphen Evangelien“, in: Bibel und Kirche 55, 2 (2000), S. 188–191. Dies.: „Maria Magdalena in literarischer Rezeption“, in: Kunst der Deutung. Deutung der Kunst. Beiträge zu Bibel, Antike und Gegenwartsliteratur. Hrsg. von Angela Standhartinger, Horst Schwebel und Friederike Oertelt. Münster 2007, S. 109–118. Haskins, Susan: Mary Magdalen. Myth and Metaphor. London 2005. Helbig, Jörg: Intertextualität und Markierung. Untersuchungen zur Systematik und Funktion der Signalisierung von Intertextualität. Heidelberg 1996. Helduser, Urte: „‚Maskerade‘ als ‚weibliche Natur‘. Literatur und Geschlechterdiskurs um 1900“, in: Der Deutschunterricht 56, 2 (2000), S. 15–26. Henrichs, Albert: „Der rasende Gott: Zur Psychologie des Dionysos und des Dionysischen in Mythos und Literatur“, in: Antike und Abendland 40 (1994) S. 31–58. Hess-Lüttich, Ernest W.B.: „Intertextualität und Medienvergleich“, in: Text Transfers. Probleme intermedialer Übersetzung. Hrsg. v. Ernest W.B. Hess-Lüttich. Münster 1987, S. 9–20. Hillenbrand, Rainer: „Die Reue der Bajadere: Sklavendienste und klassische Humanität in Goethes indischer Legende“, in: Michigan Germanic Studies 18, 2 (1992), S. 126–133. Hilmes, Carola: Die Femme fatale. Ein Weiblichkeitstypus in der nachromantischen Literatur. Stuttgart 1990. Dies.: „Sehnsucht nach Erlösung: Bilder des Weiblichen um 1900“, in: Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden. Bd. II, S. 267–289. Hinterhäuser, Hans: Fin de Siècle. Gestalten und Mythen. München 1977. Hofstätter, Hans H.: „Darstellungen der Maria Magdalena in der Bildenden Kunst“, in: Maria Magdalena – Zu einem Bild der Frau in der christlichen Verkündigung. Hrsg. v. Dietmar Bader. München, Zürich 1990, S. 72–84. Hölscher, Lucien: Weltgericht oder Revolution. Protestantische und sozialistische Zukunftsvorstellungen im deutschen Kaiserreich. Stuttgart 1989. Hörisch, Jochen: „Wein“, in: Metzler Lexikon literarischer Symbole , S. 419f. Houben, Heinrich Hubert: Verbotene Literatur von der klassischen Zeit bis zur Gegenwart. Ein kritisch-historisches Lexikon über verbotene Bücher, Zeitschriften und Theaterstücke, Schriftsteller und Verleger. Bd. 1. Hildesheim 1965.

262

Verzeichnisse

Hurth, Elisabeth: „‚Der neue Heiland‘. Aspekte der Jesusroman-Literatur um 1900“, in: Wirkendes Wort 3 (1993), S. 575–592. Ingenhoff-Danhäuser, Monika: Maria Magdalena. Heilige und Sünderin in der italienischen Renaissance. Studien zur Ikonographie der Heiligen von Leonardo bis Tizian. Tübingen 1984. Jannidis, Fotis: Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie. Berlin 2004. Ders.: „Zuerst Collegium Logicum. Zu Tilmann Köppes Beitrag ‚Vom Wissen in Literatur‘“, in: Zeitschrift für Germanistik 18 (2008), S. 373–377. Jegensdorf, Lothar: Die spekulative Deutung und poetische Darstellung der Natur im Werk von Johannes Schlaf. Phil. Diss. Masch. Bochum 1969. Jensen, Anne: „Maria von Magdala in den frühkirchlichen und ostkirchlichen Traditionen“, In: Bibel und Kirche 55, 2 (2000), S. 192–199. Kächler, Uwe: Die Jesusgestalt in der Erzählprosa des deutschen Naturalismus. Frankfurt/M. 1993. Kahl, Paul: „Theodor Fontanes Unwiederbringlich in der Romantradition der Wahlverwandtschaften“, in: Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft 52 (2008), S. 374–391. Kafitz, Dieter: Johannes Schlaf – weltanschauliche Totalität und Wirklichkeitsblindheit. Ein Beitrag zur Neubestimmung des Naturalismus-Begriffs und zur Herleitung totalitärer Denkformen. Tübingen 1992. Käppel, Lutz: „Uroboros“, in: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Bd. 12/I: Tam–Vel. Hrsg. v. Hubert Cancik und Helmuth Schneider, Stuttgart 2002, Sp. 1053. Kaschke, Lars: „Aus dem Alltag des wilhelminischen Kulturbetriebs: Börries von Münchhausens Angriffe auf Richard Dehmel“, in: Text und Kontext 20, 1 (1997), S. 35–57. Kauffeldt, Rolf und Gertrude Cepl-Kaufmann: Berlin-Friedrichshagen. Literaturhauptstadt um die Jahrhundertwende. Der Friedrichshagener Dichterkreis. München 1994. Keppler-Tasaki, Stefan: „Die Heiligung der ‚sündigen Liebe‘: Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘ und der Tristanstoff“, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 152 (2000), S. 64–91. Kemper, Hans-Georg: „Georg Trakl und der Expressionismus“, in: Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden. Bd. II, S. 141–169. Ders.: Komische Lyrik – Lyrische Komik. Über Verformungen einer formstrengen Gattung. Tübingen 2009. Kindler, Simone: Ophelia. Der Wandel von Frauenbild und Bildmotiv. Berlin 2004. Kindt, Tom: Unzuverlässiges Erzählen und literarische Moderne. Eine Untersuchung der Romane von Ernst Weiß. Tübingen 2008. Klausnitzer, Ralf: Literatur und Wissen. Zugänge – Modelle – Analysen. Berlin 2008. Klee, Ernst: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. 2. Aufl. Frankfurt/M. 2007. Klingler, Bettina M.: Emma Bovary und ihre Schwestern. Die unverstandene Frau – Variationen eines literarischen Typus von Balzac bis Thomas Mann. Rheinbach-Merzbach 1986. Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearb. von Elmar Seebold. 24., durchges. und erw. Aufl. Berlin [u.a.] 2002. Knöbl, Wolfgang: Die Kontingenz der Moderne. Wege in Europa, Asien und Amerika. Frankfurt/M., New York 2007. Knoll, Friedrich-Otto: Die Rolle der Maria Magdalena im geistlichen Spiel des Mittelalters. Ein Beitrag zur Kultur- und Theatergeschichte Deutschlands. Berlin u.a. 1934. Koch, Thomas: Literarische Menschendarstellung. Studien zu ihrer Theorie und Praxis. (Retz, La Bruyère, Balzac, Flaubert, Proust, Lainé). Tübingen 1991. Köppe, Tilmann: „Vom Wissen in Literatur“, in: Zeitschrift für Germanistik 17 (2007), S. 398–410. Krabbe, Wolfgang R.: „Lebensreform/Selbstreform“, in: Handbuch der deutschen Reformbewegungen: 1880–1933. Hrsg. v. Diethart Kerbs und Jürgen Reulecke. Wuppertal 1998, S. 73–75. Krötke, Wolf: „Sünde /Schuld und Vergebung. I. Begrifflichkeit“, in: RGG. Bd. 4, Sp. 1867–1868.

Literaturverzeichnis

263

Kunisch, Hermann: Rainer Maria Rilke. Dasein und Dichtung. 2., neu gefasste und stark erw. Aufl. Berlin 1975. Lamott, Franziska: Die vermessene Frau. Hysterien um 1900. München 2001. Largier, Nikolaus: „Die Erfindung der Pornographie: Sasha Grey, Pietro Aretino und das Spiel der Erregung“, in: Figurationen der Moderne. Mode, Sport, Pornographie. Hrsg. v. Birgit Nübel und Anne Fleig. München 2011, S. 199–217. Die Lebensreform: Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900. Hrsg. v. Kai Buchholz et al. Darmstadt 2001. Lengiewicz, Adam: „Taube“, in: Metzler Lexikon literarischer Symbole, S. 382f. Lennartz, Norbert: „My unwasht Muse“. (De-)Konstruktionen der Erotik in der englischen Literatur des 17. Jahrhunderts. Tübingen 2009. Lemke, Ernst: Hans Benzmann. Eine Einführung in sein Leben und sein Werk. Stettin 1919. LeRider, Jacques: Das Ende der Illusion. Die Wiener Moderne und die Krisen der Identität. Wien 1990. Lexikon der Namen und Heiligen. Hrsg. v. Otto Wimmer und Hartmann Melzer. 4., neubearb. und wesentl. erw. Aufl. Innsbruck, Wien, München 1982. Linse, Ulrich: „Säkularisierung oder neue Religiosität? Zur religiösen Situation in Deutschland um 1900“, in: Recherches Germaniques 27 (1997), S. 117–141. Literatur und Wissen. Theoretisch-methodische Zugänge. Hrsg. v. Tilmann Köppe. Berlin, New York 2011. Luckmann, Thomas: Die unsichtbare Religion. Frankfurt/M. 1991. Lurker, Manfred: Wörterbuch biblischer Bilder und Symbole. München 1973. Maillard, Christine und Michael Titzmann: „Vorstellung eines Forschungsprojekts: ‚Literatur und Wissen(schaften) in der Frühen Moderne‘“, in: Literatur und Wissen(schaften) 1890–1935. Hrsg. v. C. Maillard und M. Titzmann. Stuttgart 2002, S. 7–37. Maisch, Ingrid: Maria Magdalena. Zwischen Verachtung und Verehrung. Das Bild einer Frau im Spiegel der Jahrhunderte. Freiburg i. B. u. a. 1996. Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hrsg. von Günter Butzer und Joachim Jacob. Stuttgart 2008. Mildner, Susanne: Konstruktionen der Femme fatale. Die Lulu-Figur bei Wedekind und Pabst. Frankfurt/M. 2007. Moltmann–Wendel, Elisabeth: „Maria Magdalena. Tradition“, in: Wörterbuch der Feministischen Theologie, S. 402f. Moormann, Eric M. und Wilfried Uitterhove: Lexikon der antiken Gestalten. Mit ihrem Fortleben in Kunst, Dichtung und Musik. Stuttgart 1995. Motté, Magda: „Esthers Tränen, Judiths Tapferkeit“. Biblische Frauen in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Darmstadt 2003. Müllejans-Dickmann, Rita: „‚und kämmt ihr goldenes Haar‘. Anatomie eines Frauenbildes“, in: Die Loreley. Ein Fels im Rhein. Ein deutscher Traum. Hrsg. v. Mario Kramp und Matthias Schmandt. Mainz a.R. 2004, S. 82–91. Müller, Günther: Geschichte des deutschen Liedes. Vom Zeitalter des Barock bis zur Gegenwart. Darmstadt 1959. Müller, Wolfgang G.: „Die Neuen Gedichte / Der Neuen Gedichte anderer Teil“, in: Rilke-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. v. Manfred Engel. Darmstadt 2004, S. 313f. Neumann, Birgit: „Kulturelles Wissen und Literatur“, in: Kulturelles Wissen und Intertextualität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien zur Kontextualisierung von Literatur. Hrsg. v. Marion Gymnich, Birgit Neumann und Ansgar Nünning. Trier 2006, S. 29–52. Niehl, Franz W.: „Einem Mythos auf der Spur – Didaktische Wege zu Maria Magdalena“, in: Bibel und Kirche 55, 2 (2000), S. 212–216. Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1866–1918. Arbeitswelt und Bürgergeist. München 1990.

264

Verzeichnisse

Novak, Rudolf R.: „Felix Hollaender – vergessen und neu entdeckt“, in: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 19 (1978), S. 238–253. Osinski, Jutta: Einführung in die feministische Literaturwissenschaft. Berlin 1998. Pankau, Johannes: Sexualität und Modernität. Studien zum deutschen Drama des Fin de Siècle. Würzburg 2005, S. 75. Panesar, Rita: Medien religiöser Sinnstiftung. Der ‚Volkserzieher‘, die Zeitschriften des ‚Deutschen Monistenbundes‘ und die ‚Neue Metaphysische Rundschau‘ 1897–1936. Stuttgart 2005. Parr, Rolf: „Diskurs“, in: Foucault-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. v. Clemens Kammler, R. Parr und Ulrich Johannes Schneider. Stuttgart, Weimar 2008, S. 233–237. Pestalozzi, Karl: „‚Aus des Dionysos, der Venus Sippe‘. Reflexe von Nietzsches Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik in der deutschen Literatur der Jahrhundertwende“, in: London German Studies (1998), S. 223–250. Ders.: „Vorwort“, in: Nietzsches „Also sprach Zarathustra“. Im Auftrag der Stiftung Nietzsche-Haus hrsg. v. Peter Villwock. Basel 2001, S. VII–IX. Petersen, Silke: „Zerstört die Werke der Weiblichkeit!“ Maria Magdalena, Salome und andere Jüngerinnen Jesu in christlich-gnostischen Schriften. Leiden 1999. Pfister, Manfred: „Konzepte der Intertextualität“, in: Intertextualität: Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Hrsg. v. Ulrich Broich und Manfred Pfister. Tübingen 1985, S. 1–31. Ders.: „Zur Systemreferenz“, in: Broich /Pfister: Intertextualität, S. 52–58. Pohle, Bettina: Kunstwerk Frau. Inszenierungen von Weiblichkeit in der Moderne. Frankfurt/M. 1998. Pollack, Detlef: „Rekonstruktion statt Dekonstruktion: Für eine Historisierung der Säkularisierungsthese“, in: Zeithistorische Forschungen 7 (2010), S. 433–439. Pöllinger, Andreas: Der Zensurprozeß um Paul Heyses Drama „Maria von Magdala“ (1901–1903). Ein Beispiel für die Theaterzensur im wilhelminischen Preußen. Frankfurt/M. 1989. Radlbeck-Osmann, Regina: „Maria Magdalena“, in: Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 6. Hrsg. v. Walter Kasper. Freiburg i. B., Basel, Rom, Wien 1997, S. 1340. Rajewsky, Irina O.: Intermedialität. Tübingen 2002. Rasch, Wolfdietrich: „Aspekte der deutschen Literatur um 1900“, in: Ders.: Zur deutschen Literatur seit der Jahrhundertwende. Gesammelte Aufsätze. Stuttgart 1968, S. 1–48. Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Hrsg. v. Hans Dieter Betz. 4., völlig neu bearb. Aufl. Tübingen 2008. Reusch, Judith: Zeitstrukturen in Goethes Wahlverwandtschaften. Würzburg 2004. Riedel, Wolfgang: „Homo natura“. Literarische Anthropologie um 1900. Berlin 1996. Röhr, Volker: Der Magdalena-Typus im Wiener Volksstück Kaiserischer Prägung. Phil. Diss. masch. München 1994. Ruprecht, Erich: „Einführung“, in: Literarische Manifeste der Jahrhundertwende 1890–1910. Hrsg. v. Erich Ruprecht und Dieter Bänsch. Stuttgart 1970, S. XVII–XLII. Schabert, Ina: „Gender als Kategorie einer neuen Literaturgeschichtsschreibung“, in: Genus – zur Geschlechterdifferenz in den Kulturwissenschaften. Hrsg. v. Hadumod Bußmann und Renate Hof. Stuttgart 1995, S. 162–205. Schawe, Martin: „Pietà“, in: Marienlexikon. Bd. 5: Orante–Scherer. Hrsg. von Remigius Bäumer und Leo Scheffczyk. St. Ottilien 1993, S. 218–222. Scheuer, Helmut: „Zur Christus-Figur in der Literatur um 1900“, in: Fin de siècle. Hrsg. v. Roger Bauer et al., S. 378–402. Schimpf, Simone: Profanierung einer Heiligen. Maria Magdalena in der französischen Kunst des 19. Jahrhunderts. Berlin 2007. Schneider, Ralf: Grundriß zur kognitiven Theorie der Figurenkonzeption am Beispiel des Viktorianischen Romans. Tübingen 2000.

Literaturverzeichnis

265

Schnittka, Ingolf: Der Nachlaß Johannes Schlafs. Biographie, Bibliographie und Kommentar. Phil. Diss. masch. Halle 1989. Scott, Joan Wallach: „Gender: Eine nützliche Kategorie der historischen Analyse“, in: Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Hrsg. v. Dorothee Kimmich, Rolf G. Renner und Bernd Stiegler. Vollst. überarb. und aktualisierte Neuausg. Stuttgart 2008, S. 388–413. Simon-Ritz, Frank: „Kulturelle Modernisierung und Krise des religiösen Bewußtseins. Freireligiöse, Freidenker und Monisten im Kaiserreich“, in: Blaschke/Kuhlemann: Religion im Kaiserreich, S. 457–473. Spiekermann, Björn: Literarische Lebensreform um 1900. Studien zum Frühwerk Richard Dehmels. Würzburg 2007. Spörl, Uwe: Gottlose Mystik in der deutschen Literatur um die Jahrhundertwende. Paderborn 1997. Ders.: „Sprachskepsis und Poesie als Modi der Weltanschauungskritik in der Nachfolge von Nietzsches frühem Essay ‚Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne‘“, S. 1–16 (abrufbar unter: www.erlangerliste.de/ede/skepsis.pdf (letzter Aufruf: 13.10.2012). Sprengel, Peter: Darwin in der Poesie. Spuren der Evolutionslehre in der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Würzburg 1998. Ders.: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870–1900. Von der Reichsgründung bis zur Jahrhundertwende. München 1998. Ders.: Literatur im Kaiserreich. Studien zur Moderne. Berlin 1993. Ders.: „Vom ‚Ursprung der Arten‘ zum ‚Liebesleben in der Natur‘. Metaphysischer Darwinismus in der Literatur des frühen 20. Jahrhunderts“, in: „Scientia poetica“. Literatur und Naturwissenschaft. Hrsg. v. Norbert Elsner und Werner Frick. Göttingen 2004, S. 293–315. Stauffer, Isabelle: Weibliche Dandys, blickmächtige Femmes fragiles. Ironische Inszenierungen des Geschlechts im Fin de Siècle. Köln 2008. Stein, Gerd: Kulturfiguren und Sozialcharaktere des 19. und 20. Jahrhunderts. Bd. 3: Femme fatale – Vamp – Blaustrumpf. Sexualität u. Herrschaft. Frankfurt/M. 1985. Stephan, Inge: „Literaturwissenschaft“, in: Gender-Studien. Eine Einführung. Hrsg. v. Christina von Braun und Inge Stephan. Stuttgart, Weimar 2000, S. 290–299. Stopczyk, Annegret: „Ehe und freie Liebe. Zur Frauenbewegung um 1900“, in: Die Lebensreform. Bd. 1, S. 127–130. Sulzgruber, Werner: Hermann Sudermann „Heimat“. Betrachtungen und Analysen zu einem vergessenen Schauspiel. Wien 1997. Székely, Johannes: Franziska Gräfin zu Reventlow. Leben und Werk. Mit einer Bibliographie. Bonn 1979. Szendi, Zoltán: „Der Geist der Verneinung. Zu den biblischen Motiven in der Lyrik Rilkes“, in: Ders.: Durchbrüche zur Modernität. Studien zur österreichischen Literatur. Wien 2000, S. 101–115. Taylor, Charles: Ein säkulares Zeitalter. Frankfurt/M. 2009. Tebben, Karin: Von der Unsterblichkeit des Eros und den Wirklichkeiten der Liebe. Geschlechterbeziehungen – Realismus– Erzählkunst. Heidelberg 2011. Thamer, Jutta: Zwischen Historismus und Jugendstil. Zur Ausstattung der Zeitschrift „Pan“ (1895– 1900). Frankfurt/M. 1980. Thomé, Horst: „Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp“, in: Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert, S. 338–380. Titzmann, Michael: „Propositionale Analyse – kulturelles Wissen – Interpretation“, in: Medien und Kommunikation. Eine interdisziplinäre Einführung. Hrsg. v. Hans Krah und Michael Titzmann. Stuttgart 2006, S. 67–92. Ulbricht, Justus H.: „Lichtgeburten. Neuheidnische und ‚neugermanische‘ Tendenzen innerhalb der Lebensreform“, in: Die Lebensreform. Bd. 2, S. 133–138.

266

Verzeichnisse

Ders.: „‚Transzendentale Obdachlosigkeit‘. Ästhetik, Religion und ‚neue soziale Bewegungen‘ um 1900.“, in: Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden. Bd. II, S. 47–67. van Vaerenbergh, Leona: „Der dionysische Tanz und das ‚Lebenspathos‘ der Jahrhundertwende: Eine Interpretation lyrischer Texte“, In: Neophilologus 69 (1985), S. 579–589. Villwock, Peter: „Zarathustra. Anfang und Ende einer Werk-Gestalt Nietzsches“, in: Nietzsches „Also sprach Zarathustra“. Im Auftrag der Stiftung Nietzsche-Haus hrsg. v. Peter Villwock, S. 1–34. Volkmann, Laurenz: „Dialogizität“, in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Hrsg. von Ansgar Nünning. 4., aktualis. und erw. Aufl. Weimar 2008, S. 127f. von Rüdiger, Gertrud: „Magdalenenliteratur vom Mittelalter bis zur Gegenwart“, in: Die Frau. Monatsschrift für das gesamte Frauenleben unserer Zeit (Mai 1911), S. 464–471. Wackernagel, Philipp: Das deutsche Kirchenlied. Von der ältesten Zeit bis zum Anfang des XVII. Jahrhunderts. Mit Berücksichtigung der deutschen kirchlichen Liederdichtung im weiteren Sinne und der lateinischen von Hilarius bis Georg Fabricius und Wolfgang Ammonius. Bd. 2. Reprograf. Nachdr. der Ausg. Leipzig 1867. Hildesheim 1964. Wagner, Nike: Geist und Geschlecht. Karl Kraus und die Erotik der Wiener Moderne. Frankfurt/M. 1982. Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert. Bd. 2: Der DarwinismusStreit. Hrsg. v. Kurt Bayertz, Myriam Gerhard und Walter Jaeschke. Hamburg 2007. Weigand, Friedrich Ludwig Karl: Deutsches Wörterbuch. Hrsg. v. Hermann Hirt. Bd. 1 A–K. 5. Aufl. Gießen 1909. Weissberg, Liliane: „Entkleidungen: Die ‚Mode‘ der Hysterikerin“, in: Figurationen der Moderne, S. 47–67. Wind, Edgar und Frederic Antal: „The Maenad under the Cross. Some Examples of the Role of the Maenad in Florentine Art of the Later Fifteenth and Early Sixteenth Centuries”, in: Journal of the Warburg Institute 1 (1937–38), S. 70–73. Winko, Simone:„Diskursanalyse, Diskursgeschichte“, in: Grundzüge der Literaturwissenschaft. Hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold und Heinrich Detering. München 2008, S. 463–478. Dies.: Kodierte Gefühle. Zu einer Poetik der Emotionen in lyrischen und poetologischen Texten um 1900. Berlin 2003. Winterhoff, Lissy: Ihre Pracht muß ein Abgrund sein, ihre Lüste ein Ozean. Die jüdische Prinzessin Salome als Femme fatale auf der Bühne der Jahrhundertwende. Würzburg 1998. Wolbert, Klaus: „Die Lebensreform – Anträge zur Debatte.“, in: Die Lebensreform. Bd. 1., S. 13–21. Wruck, Peter: „Durch! [Berlin]“, in: Handbuch literarisch-kultureller Vereine, S. 83–87. Zänker, Jürgen: Crucifixae. Frauen am Kreuz. Berlin 1998. Zettel, Annabel: Das Rätsel der Verstrickten. Die Illustrationen der Präraffaeliten zu Alfred Tennysons „The Lady of Shalott“. Berlin 2011. Zwink, Eberhard: David Friedrich Strauss, 1808 bis 1874: Zerstörer unhaltbarer Lösungen und Prophet einer kommenden Wissenschaft (Albert Schweitzer). Stuttgart 2008.

Abbildungsverzeichnis

267

9.3 Abbildungsverzeichnis Corinth, Lovis: Kreuzabnahme. Abrufbar unter: http://www.zeno.org/Kunstwerke/B/Corinth,+Lovis%3A+Kreuzabnahme (letzter Aufruf: 22. 10. 2012). Léfèbvre, Joseph: Marie-Madeleine dans la grotte. In: Simone Schimpf: Profanierung einer Heiligen, S. 107. Meister der heiligen Magdalena: „Maria Magdalena mit acht Szenen aus ihrer Vita“. In: La Maddalena tra Sacro e Profano. Da Giotto a De Chirico. Hrsg. von Marinela Mosco. Centro Mostre di Firenze, Mailand 1986, S. 43. Rodin, Auguste: Christe et la Madeleine. In: Simone Schimpf: Profanierung einer Heiligen, S. 196. Rossetti, Dante Gabriel: Mary Magdalen at the door of Simon the Pharisee. In: La Maddalena tra Sacro e Profano, S. 90. Sirani, Elisabetta: La Maddalena che si frusta. In: La Maddalena tra Sacro e Profano, S. 203. Tizian: La Maddalena. In: La Maddalena tra Sacro e Profano, S. 193.

10 Index

10.1 Sachregister Aktualisierung 12, 15, 24–27, 30, 41, 43, 64, 69–71, 76, 82, 108, 128, 144, 163f., 208, 211–213, 215, 218f., 223, 226f., 229f., 241f., 246–248 Blasphemie 14, 111, 115, 128–130, 132, 138, 222, 233, 242 Courtisane rachetée 64, 106, 146, 162, 179f., 193, 208f., 216, 227f., 244 Entgrenzung 15, 28f., 85, 92, 95, 239, 245 Erlöserin, sexuelle 12f., 15, 43,109, 119, 123, 130, 208, 212, 214, 221, 228, 238f., 245f. Erlösung 11, 15, 23, 56, 78, 88, 95–98, 100, 102, 108, 115, 119f., 122, 126f., 130, 140, 151, 153, 163, 192, 212, 214, 216, 218, 220–226, 239, 242, 247f. Femme fatale 12–15, 25, 27, 51, 125, 128, 130, 135, 139, 143, 155–157, 160, 162, 164, 170, 173f., 176–179, 182, 186f., 189, 208–210, 212–221, 224–227, 229, 232, 246 Femme fragile 12–15, 25, 27, 128, 130, 162, 170, 173, 179, 182, 185, 187, 208f., 212–215, 218, 226, 229, 231 Figurenkonzept 24f. Figurenkonzeption 24f., 138, 167, 212, 229 Friedrichshagener Dichterkreis 89, 101, 104, 131, 194, 230, 235f., 238, 240, 244

Gender 26f. Intertextualität, intertextuelle Verweise 29, 28–30, 60, 63, 65, 68f., 71–76, 81, 97f., 106f., 115, 117–119, 126f., 131, 137, 139, 147, 149, 151, 153, 155, 158, 161f., 166, 171, 174f., 182, 190f., 195f., 198f., 205, 207, 210f., 228, 235, 238, 241, 248 Kunstreligion 170, 219f. Lebenspathos 14, 22, 69, 87, 89, 100, 107, 110, 113, 130, 163, 224, 229f., 232, 236, 246 Lebensreform, literarische 11–15, 17f., 21, 23–30, 66, 68, 70f., 76, 82, 85, 87–89, 92f., 113, 129f., 144, 151, 162, 172, 187, 211f., 215, 217–220, 222f., 225f., 229f., 232, 234f., 238f., 242, 244–248 Lebensreform, sozialgeschichtliche 88, 95, 112, 192f., 205, 207, 214, 232 Magdalenenmotiv, doppelte Richtung 64, 68, 70 Maria- und Marta-Idyll 35f., 40, 77, 108, 181, 193, 207, 241 Monismus 22, 89, 148f., 160, 163, 172, 178, 199, 211, 214, 232, 235f., 241 Säkularisierung 64, 88, 97, 221f., 241, 243, 247 Selbsterlösung 89, 119, 121f., 192, 222f., 234, 246

Index

270 Typus 15, 23, 25–27, 40f., 43, 48, 55, 64, 66–69, 82, 106, 125, 128, 143, 146, 157f., 162, 170–173, 176, 178, 208f., 212, 214–217, 220, 224f., 227–229, 242–244, 246 Übermächtigungsmotiv 139, 162, 208, 217, 220f., 224

Unio-Erlebnis, neomystisches 145, 148f., 152, 162f., 189, 217–219, 224, 237– 239, 243, 245–247 Weltanschauungsliteratur 150 Wissen, Wissenselemente 17–25, 30, 43, 71f., 75, 87, 89, 166, 190, 195f., 205, 208f., 211, 225, 246

10.2 Verzeichnis der Personen und biblischen Frauengestalten Benzmann, Hans 30, 86, 100, 101–110, 118f., 121, 124, 126, 130, 139, 156, 161, 206, 208, 220, 223f., 228f., 231, 235–238, 242f., 245, 249, 252 Bölsche, Wilhelm 89, 152, 230f., 235, 242 Dehmel, Richard 13f., 25, 30, 73, 83, 85– 87, 90, 94, 99, 101, 105, 109–130, 136, 138–141, 144, 151, 154, 161f., 189, 194, 221, 223f., 226, 229, 231, 235, 239, 242, 245, 247 Goethe, Johann Wolfgang 64–67, 73, 75, 197–206, 209 Haeckel, Ernst 20, 22, 73, 89, 129, 149, 151, 155, 163, 178, 190f., 198f., 205, 211, 232–234, 238, 240f., 243 Hartleben, Otto Erich 30, 43, 74, 85, 89– 100, 107, 109f., 116, 126, 130, 194, 208, 212, 220, 229, 231, 234, 239, 242, 244f., 249f Heyse, Paul 30, 67, 78f., 82, 86, 138, 141, 143, 216, 218 Hollaender, Felix 30, 73, 75f., 81, 86, 90, 96, 101, 109, 114, 118, 144, 156, 158, 161, 163–215, 218f., 223, 226–229, 231, 234, 238f., 243–245 Ibsen, Henrik 195, 210 Landauer, Gustav 219, 236f.

Maria Aegyptica 31f., 36f., 40f., 67 Maria von Bethanien 31–33, 35f., 40, 55, 62, 142 Maria von Magdala 16, 30–33, 35, 55, 74, 81, 112, 116f., 128, 130, 141, 151, 158 Marie Madeleine (d.i. Marie Madeleine von Puttkamer) 30, 83–86, 136, 158, 213 Nietzsche, Friedrich 13f., 20, 22, 26, 69, 73, 77, 86, 96–100, 106, 113, 119– 121, 155f., 196, 206, 209, 211f., 226, 229, 244, 247 Richter, Carl Thomas 11, 218 Rilke, Rainer Maria 25, 30, 52f., 101, 130–141, 163f., 212, 214f., 219, 231, 239, 245 Schlaf, Johannes 30, 41, 71, 74, 82, 86, 90, 101, 109, 124, 141–164, 167, 173f., 176, 178, 211–215, 218f., 224, 228, 234–236, 238f., 242–245 Schopenhauer, Arthur 191, 232 Sudermann, Hermann 76f. Sünderin, namenlose 34, 41, 57, 64, 118 Tolstoi, Leo N. 191 Trakl, Georg 41, 85–87 Weininger, Otto 149, 212 Wille, Bruno 89, 240