Von der Torheit, wählerisch zu sterben: Suizid in der deutschsprachigen Literatur um 1900 9783839433935

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Von der Torheit, wählerisch zu sterben: Suizid in der deutschsprachigen Literatur um 1900
 9783839433935

Table of contents :
Inhalt
Danksagung
1. Über bohrende Spitzen und zagende Figuren (Einleitung)
2. Forschungsstand
2.1 Der Suizid als Gegenstand der literaturwissenschaftlichen Forschung
2.2 Der Suizid als Gegenstand der kultur- und geschichtswissenschaftlichen Forschung
3. Theorie und Methode
3.1 Literaturtheoretische Grundlagen
3.2 Die Verdopplung der Analyseoptik
3.3 Praxistheorien und Subjektivierung
3.4 Grundlagen, Erkenntnispotenzial und Reichweite einer praxistheoretischen Perspektive auf Literatur
4. Ehrenmänner? Pistolen- und Giftsuizid bei Männern
4.1 Eine Frage der guten Haltung: Fontanes Schach von Wuthenow
4.2 Der General ohne Zukunft – Ferdinand von Saars Vae victis!
4.3 Der lebensmüde Adelssohn – Theodor Fontanes Stine
4.4 Ehre verloren, alles verloren? Schnitzlers Lieutenant Gustl
4.5 Bis zur Kopflosigkeit – Wedekinds Frühlings Erwachen
4.6 Der Topos vom heroischen Suizid (Zwischenfazit)
5. Ophelias Brüder: Männlicher Wassersuizid
5.1 »Lieber der Müggelsee«: Die Krise der bürgerlichen Männlichkeit in Hauptmanns Einsame Menschen
5.2 Der dekadente Asket im bürgerlichen Gewand: Thomas Manns Der kleine Herr Friedemann
5.3 Der tödliche Ehrgeiz der Erzieher: Hermann Hesses Unterm Rad
5.4 Die Umkehrung der Vorzeichen: Die Bezugnahme auf das Phänomen des männlichen Wassersuizids in Franz Kafkas Das Urteil
5.5 »Ins Wasser gesprungen – in den Tod gegangen«: Krisenerzählung des Bürgertums (Zwischenfazit)
6. Schöne Frauenleichen? Suizide weiblicher Figuren
6.1 Das bürgerliche »Bildungswerk« und seine Grenzen: Kellers Regine
6.2 Zwischen Sexualisierung und Pathologisierung: Fontanes Cécile
6.3 Die Virginia im schlesischen Sodom: Gerhart Hauptmanns Vor Sonnenaufgang
6.4 »Aussterben ist vornehm«: Dekadenz und Ästhetik in Keyserlings Harmonie
6.5 Schöne Frauenleichen und hässliche Tode. Zur Disparität weiblicher Suiziddarstellungen (Zwischenfazit)
7. Eine Funktionstypologie literarischer Suizidarten (Schluss)
Siglenverzeichnis
Literaturverzeichnis
Primärliteratur
Sekundärliteratur
Anhang

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Gerrit Vorjans Von der Torheit, wählerisch zu sterben

Praktiken der Subjektivierung | Band 8

Editorial Poststrukturalismus und Praxistheorien haben die cartesianische Universalie eines sich selbst reflektierenden Subjekts aufgelöst. Das Subjekt gilt nicht länger als autonomes Zentrum der Initiative, sondern wird in seiner jeweiligen sozialen Identität als Diskurseffekt oder Produkt sozialer Praktiken analysiert. Dieser Zugang hat sich als außerordentlich produktiv für kritische Kultur- und Gesellschaftsanalysen erwiesen. Der analytische Wert der Kategorie der Subjektivierung besteht darin, verwandte Konzepte der Individuierung, Disziplinierung oder der Habitualisierung zu ergänzen, indem sie andere Momente der Selbst-Bildung in den Blick rückt. So verstehen sich die Analysen des DFG-Graduiertenkollegs »Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive« als Beiträge zur Entwicklung eines revidierten Subjektverständnisses. Sie tragen zentralen Dimensionen der Subjektivität wie Handlungsfähigkeit und Reflexionsvermögen Rechnung, ohne hinter die Einsicht in die Geschichtlichkeit und die Gesellschaftlichkeit des Subjekts zurückzufallen. Auf diese Weise soll ein vertieftes Verständnis des Wechselspiels von doing subject und doing culture in verschiedenen ZeitRäumen entstehen. Die Reihe wird herausgegeben von Prof. Dr. Thomas Alkemeyer, Institut für Sportwissenschaft der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Soziologie und Sportsoziologie Prof. Dr. Thomas Etzemüller, Institut für Geschichte der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Neuere und Neueste Geschichte Prof. Dr. Dagmar Freist, Institut für Geschichte der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Geschichte der Frühen Neuzeit Prof. Dr. Gunilla Budde, Institut für Geschichte der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Deutsche und Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts Prof. Dr. Rudolf Holbach, Institut für Geschichte der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Geschichte des Mittelalters Prof. Dr. Johann Kreuzer, Institut für Philosophie der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Geschichte der Philosophie

Prof. Dr. Sabine Kyora, Institut für Germanistik der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Deutsche Literatur der Neuzeit Prof. Dr. Gesa Lindemann, Institut für Sozialwissenschaften der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Soziologie Prof. Dr. Ulrike Link-Wieczorek, Institut für Evangelische Theologie der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Systematische Theologie und Religionspädagogik Prof. Dr. Norbert Ricken, Institut für Erziehungswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum, Fachrichtung Theorien der Erziehung und Erziehungswissenschaft Prof. Dr. Reinhard Schulz, Institut für Philosophie der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Philosophie Prof. Dr. Silke Wenk, Kulturwissenschaftliches Institut der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Kunstwissenschaft

Gerrit Vorjans, geb. 1985, promovierte als Mitglied des Graduiertenkollegs »Selbst-Bildungen« im Fach Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Oldenburg.

Gerrit Vorjans

Von der Torheit, wählerisch zu sterben Suizid in der deutschsprachigen Literatur um 1900

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein. Die vorliegende Arbeit wurde von der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg als Dissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors der Philosophie (Dr. phil.) angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Gerrit Vorjans Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3393-1 PDF-ISBN 978-3-8394-3393-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Danksagung | 9 1.

Über bohrende Spitzen und zagende Figuren (Einleitung) | 11

2.

Forschungsstand | 21

2.1 Der Suizid als Gegenstand der literaturwissenschaftlichen Forschung | 21 2.2 Der Suizid als Gegenstand der kultur- und geschichtswissenschaftlichen Forschung | 26 3.

Theorie und Methode | 33

3.1 3.2 3.3 3.4

Literaturtheoretische Grundlagen | 33 Die Verdopplung der Analyseoptik | 42 Praxistheorien und Subjektivierung | 52 Grundlagen, Erkenntnispotenzial und Reichweite einer praxistheoretischen Perspektive auf Literatur | 64

4.

Ehrenmänner? Pistolen- und Giftsuizid bei Männern | 73

4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6

Eine Frage der guten Haltung: Fontanes Schach von Wuthenow | 73 Der General ohne Zukunft – Ferdinand von Saars Vae victis! | 90 Der lebensmüde Adelssohn – Theodor Fontanes Stine | 103 Ehre verloren, alles verloren? Schnitzlers Lieutenant Gustl | 125 Bis zur Kopflosigkeit – Wedekinds Frühlings Erwachen | 144 Der Topos vom heroischen Suizid (Zwischenfazit) | 167

5.

Ophelias Brüder: Männlicher Wassersuizid | 171

5.1 »Lieber der Müggelsee«: Die Krise der bürgerlichen Männlichkeit in Hauptmanns Einsame Menschen | 171 5.2 Der dekadente Asket im bürgerlichen Gewand: Thomas Manns Der kleine Herr Friedemann | 190 5.3 Der tödliche Ehrgeiz der Erzieher: Hermann Hesses Unterm Rad | 213 5.4 Die Umkehrung der Vorzeichen: Die Bezugnahme auf das Phänomen des männlichen Wassersuizids in Franz Kafkas Das Urteil | 233

5.5 »Ins Wasser gesprungen – in den Tod gegangen«: Krisenerzählung des Bürgertums (Zwischenfazit) | 249 6.

Schöne Frauenleichen? Suizide weiblicher Figuren | 253

6.1 Das bürgerliche »Bildungswerk« und seine Grenzen: Kellers Regine | 253 6.2 Zwischen Sexualisierung und Pathologisierung: Fontanes Cécile | 268 6.3 Die Virginia im schlesischen Sodom: Gerhart Hauptmanns Vor Sonnenauf gang | 292 6.4 »Aussterben ist vornehm«: Dekadenz und Ästhetik in Keyserlings Harmonie | 312 6.5 Schöne Frauenleichen und hässliche Tode. Zur Disparität weiblicher Suiziddarstellungen (Zwischenfazit) | 331 7.

Eine Funktionstypologie literarischer Suizidarten (Schluss) | 335

Siglenverzeichnis | 339 Literaturverzeichnis | 341

Primärliteratur | 341 Sekundärliteratur | 342 Anhang | 371

Danksagung

Dieses Buch ist die geringfügig überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Herbst 2014 von der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg angenommen wurde. Die Entstehung dieses Buches verdanke ich auch der Mithilfe einiger mir wohlgesonnener Menschen, die mich auf ganz unterschiedliche Weise unterstützt haben. Ich danke meinen beiden Gutachterinnen, Prof. Dr. Sabine Kyora und Prof. Dr. Gunilla Budde, für die fachkundige Betreuung dieser Arbeit. Sodann gilt mein Dank dem Graduiertenkolleg »Selbst-Bildungen«, das mir die Promotion in einer produktiven und kollegialen Arbeitsatmosphäre ermöglicht hat. Ferner danke ich dem literaturwissenschaftlichen Doktorandenkolloquium der Fakultät III für seine Anregungen und die Gelegenheit, mich in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung zu üben. Daneben haben sich einige Personen in besonderer Weise um dieses Buch verdient gemacht: Thomas Boyken hat nicht nur die vorliegende Studie mit klugen Ideen bereichert, sondern auch meine Auffassung von wissenschaftlicher Arbeit geprägt. Über die Krisen und Rückschläge, die naturgemäß während einer Promotion auftreten, hat mir Jana Legal mit Zuspruch und Aufmunterung hinweggeholfen. Dass ich mich überhaupt an das große Vorhaben einer Doktorarbeit gewagt habe, verdanke ich nicht zuletzt Uwe Schwagmeier († 2013), der mir manchen klugen Rat gegeben und mich stets zu diesem Projekt ermuntert hat. Aus dem Kreis der Freunde und Kollegen haben insbesondere Jörn Eiben, Lucas Haasis und Michael Vauth die Arbeit als kritische Austauschpartner gewinnbringend begleitet. Und Marta Mazur danke ich für ihre Hilfe bei Gestaltung und Layout des Buches. Zu Dank verpflichtet bin ich überdies auch der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften, die die Drucklegung großzügig bezuschusst hat. Schließlich danke ich meinen Eltern für ihre Unterstützung während meiner Studien- und Promotionszeit.

1. Über bohrende Spitzen und zagende Figuren (Einleitung)

»Was ist törichter, als wählerisch zu sterben?« Diese rhetorische Frage formulierte der römische Philosoph und Dramatiker Seneca in dem heute gemeinhin als Brief über den Selbstmord apostrophierten Ausschnitt aus den Epistulae morales ad Lucilium (Seneca 1984, 15). In dieser kurzen Schrift argumentiert der kategorische Suizidbefürworter Seneca, es sei belanglos, auf welche Weise man sich den Tod gebe. Anders als im Leben sei der Mensch bei seinem Sterben nur sich selbst Rechenschaft schuldig. Deshalb sei es unvernünftig, sich bei der Wahl der Suizidmethode über die Reaktionen der Nachwelt zu bekümmern und zu denken: »Jemand wird sagen, ich hätte zu wenig tapfer gehandelt, zu wenig überlegt, jemand, gegeben hätte es irgendeine beherztere Todesart.« (ebd., 11) Ob man bei der Selbsttötung den großen Vorbildern wie Cato nacheifere, ob man sich ersteche, erhänge oder vergifte, habe dementsprechend nicht die geringste Bedeutung. Was für Seneca zählt, ist allein die Entschlossenheit zum Suizid und nicht die Art und Weise desselben. Dementsprechend deutlich fällt das den Brief beschließende Plädoyer aus: »Du sollst selbstverständlich sterben, wie du kannst, und was immer sich bietet, dir Gewalt anzutun, sollst du nutzen.« (ebd., 19) Die affirmative und fast glorifizierende Haltung zur Selbsttötung, die im Brief über den Selbstmord zum Ausdruck kommt, mag möglicherweise Befremden oder gar Empörung auslösen. Unabhängig von der bis in die Antike zurückreichenden Diskussion über die moralische Legitimität des Suizids verweisen Senecas Ausführungen aber auf ein kulturelles Phänomen, mit dem sich die hier vorliegende Arbeit aus literaturwissenschaftlicher Perspektive eingehender befassen wird: Es geht um die Art und Weise der Selbsttötung. Wenn Seneca in seinem Brief unter Rekurs auf verschiedene skurrile Beispiele1 derart nachdrücklich für die Belang1

Lobend erwähnt Seneca insbesondere die Suizide verschiedener Sklaven, die sich entschlossen den Tod gaben, indem sie sich ein Holzstück in die Kehle rammten

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losigkeit der Todesart argumentiert, so deshalb, weil diese im zeitgenössischen Verständnis offenkundig nicht als belanglos galt. Denn wäre die Trivialität der Suizidmethode im antiken Rom eine Selbstverständlichkeit gewesen, so bedürfte dieser Sachverhalt keiner derart ausführlichen Erörterung. Es scheint also ganz so, als habe es bereits zu Lebzeiten Senecas durchaus Stimmen gegeben, die die Art und Weise des Suizids für bedeutsam hielten.2 Mehr als 1700 Jahre nach dem Brief über den Selbstmord vollendete Friedrich Schiller sein erstes Drama Die Räuber. Im letzten Akt des Schauspiels wird eine Selbsttötung dargestellt, die zwar vielleicht nicht den bekanntesten Suizid der deutschsprachigen Literatur markiert, aber möglicherweise einen der rätselhaftesten. Eingeschlossen im brennenden Schloss und bedrängt von den Häschern seines Bruders, sieht Franz von Moor, den Degen bereits in der Hand, keinen anderen Ausweg mehr, als sich das Leben zu nehmen: »Sind das ihre hellen Triller? Hör ich euch zischen, ihr Nattern des Abgrunds? – Sie dringen herauf – Belagern die Türe – warum zag ich so vor dieser bohrenden Spitze? – die Türe kracht – stürzt – unentrinnbar! – Ha! So erbarm du dich meiner! er reißt seine goldene Hutschnur ab, und erdrosselt sich.« (Schiller 1943, 126)

Eigenartig an dieser Darstellung ist nicht etwa der plausibel aus dem vorangehenden dramatischen Geschehen resultierende Suizid als solcher. Merkwürdig erscheint vielmehr das Schwanken der Figur in Bezug auf die Art und Weise ihrer Selbsttötung.3 Wenn der Protagonist den Degen aus der Hand legt, um sich zu erdrosseln, so schildert das Drama damit ein Verhalten, das man in Senecas Worten als die ›Torheit, wählerisch zu sterben‹ bezeichnen könnte. Sogleich ließe sich mit Blick auf diese Passage aus den Räubern fragen: Macht es denn einen Unterschied, ob sich Franz von Moor erhängt oder erdrosselt? Ganz offen-

oder ihren Kopf zwischen die Räder eines fahrenden Wagens hielten. Mit Blick auf diese Beispiele gelangt der Philosoph zu der Schlussfolgerung: »Nicht wird ein Einfall zum Tode fehlen, wem nicht fehlt der Mut.« (Seneca 1984, 17) 2

Tatsächlich hat die historische und kulturwissenschaftliche Suizidforschung längst herausgearbeitet, dass die Suizidmethoden in der Antike unterschiedlich beurteilt wurden. Manche Todesarten wie der Schnitt in die Venen galten als besonders würdevoll, andere, wie das Erhängen oder das Vergiften, wurden entschieden abgelehnt. Vgl. hierzu exemplarisch Mischler 2000, 39-43 und van Hoof 2005, 26.

3

So bemerkte jüngst Thomas Boyken über diese Stelle aus den Räubern: »Diese Handlung scheint befremdlich […] Warum zieht Franz den langsamen Tod durch Erdrosseln dem schnellen Tod durch den Degen vor?« (Boyken 2014, 116f.)

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sichtlich tut es das, denn wäre die Todesart belanglos, so müsste die Entscheidung zwischen Degen und Hutschnur nicht im Text thematisiert werden. Schillers Drama lenkt indirekt sogar noch die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf den Aspekt der Suizidmethode, indem es die Beantwortung einer explizit aufgeworfenen und keinesfalls rhetorischen Frage dem Leser überantwortet: Warum zagt Franz von Moor vor der bohrenden Spitze? Es ist nun an dieser Stelle nicht mein Ansinnen, das suizidale Verhalten von Schillers Figur zu interpretieren.4 Der Rekurs auf die Räuber dient mir vielmehr als besonders prägnantes Beispiel für ein literarisches Phänomen, über das Peter von Matt einst pointiert bemerkte: »An der Frage: wie bringe ich meinen Helden um? schleppen sich die Autoren oft länger und mühsamer als an den großen Ideen, um die sich die Germanisten dann wieder fast alleine kümmern.« (von Matt 1994, 15) Worauf von Matt hinweist und was sich an den Räubern zeigt ist, dass literarische Texte – bzw. die Autoren, die sie verfassen – offenkundig durchaus wählerisch sind, was den Tod ihrer Figuren anbelangt. Dabei liegt grundsätzlich jedem literarisch dargestellten Suizid eine Auswahl zu Grunde, denn jeder Entschluss für eine bestimmte Art der Selbsttötung ist zugleich eine Entscheidung gegen alle anderen, außerdem noch denkbaren Möglichkeiten des Ablebens. Die Besonderheit an den Räubern besteht dementsprechend also genaugenommen nicht in dem Verwerfen der einen Todesart zugunsten einer anderen. Bemerkenswert ist vielmehr, dass diese in der Regel implizite Auswahl in Schillers Drama explizit thematisiert und dem Rezipienten als Entscheidung der handelnden Figur präsentiert wird. Unabhängig davon aber, ob diese Auswahl im Text als Teil der Handlung zur Darstellung gebracht wird oder nicht, scheint Senecas eingangs zitiertes Diktum zumindest für die Literatur wahrlich nicht zu gelten: Augenscheinlich ist es weder beliebig noch belanglos, auf welche Weise sich einer in einem epischen oder dramatischen Werk das Leben nimmt. Im Gegenteil: Folgt man Peter von Matt in der Überlegung, es existiere so etwas wie eine »Semantik der Todesszene« (von Matt 1994, 12), so müsste man vielmehr annehmen, dass sich auch oder sogar gerade die Art und Weise des Suizids besonders dafür eignet, als Bedeutungsträger zu fungieren. Auf dieser Grundannahme fußt die hier vorliegende Arbeit. Wenn man nun davon ausgeht, die Suizidart einer Figur sei von Bedeutung, so ergibt sich daraus eine Frage, die für die nachfolgende Untersuchung forschungsleitend ist und die das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit markiert: Welche Funktionen und Bedeutungen sind mit den verschiedenen Suizidarten in literarischen Texten verknüpft?

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Eine Auseinandersetzung mit verschiedenen Deutungen der Todesart Franz von Moors findet sich wiederum bei Boyken 2014, 116-118.

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Bei der Bearbeitung dieser Frage werde ich möglicherweise auch zu Erkenntnissen über die mit verschiedenen Todesarten verbundenen kulturellen Vorstellungen gelangen. Gleichwohl aber wäre dies nur ein – zweifelsohne positiver – Nebeneffekt. Das vorrangige Ziel besteht hingegen darin, das spezifisch-literarische Potenzial unterschiedlicher Suizidarten zu erforschen. Denn bisher markierte die umfassende Auseinandersetzung mit der Frage, welche Funktion das Ableben einer Figur innerhalb des »Zeichenkomplex[es] der Todesszene« (ebd.) erfüllen kann, innerhalb der germanistischen Forschung ein Desiderat.5 Nach dieser allgemeinen Einführung in das Thema und die Fragestellung dieser Arbeit scheinen mir einige weitere Punkte klärungsbedürftig. Grundsätzlich kommt man bei der Auseinandersetzung mit einem komplexen Phänomen wie der Selbsttötung nicht umhin, früher oder später zu definieren, wovon man eigentlich spricht, wenn man den Begriff Suizid gebraucht. Im Folgenden bezeichne ich im Anschluss an Ursula Baumann als Suizid eine Handlung, »welche die ausführende Person mit der Absicht der tödlichen Selbstverletzung unternimmt und diese als Folge ihrer Handlung in einem absehbaren Zeitraum unmittelbar nach Beginn der Handlungsausführung für wahrscheinlich hält« (Baumann 2001, 3). Dezidiert ausgeschlossen sind diesem Verständnis nach damit unter anderem alle Formen einer rein symbolischen Selbsttötung. Was die Bezeichnungen angeht, so werden die Termini Selbsttötung und Suizid synonym gebraucht. Nicht sprechen werde ich hingegen von ›Selbstmord‹ und ›Freitod‹, denn diese beiden Begriffe verweisen auf unversöhnliche Positionen innerhalb der moralisch und ethisch hoch aufgeladenen Debatte über die Legitimität der Selbsttötung, an welcher ich mit meiner Arbeit nicht partizipieren werde. Ein weiterer Aspekt betrifft die zeitliche Eingrenzung der vorliegenden Studie. Bei einem komplexen Phänomen wie der Suiziddarstellung, welches sich in zahlreichen literarischen Texten findet, ist es meines Erachtens schon aus rein pragmatischen Gründen sinnvoll, den Untersuchungszeitraum einzuschränken. Daher werde ich mich in dieser Arbeit ausschließlich mit literarischen Werken

5

Grundsätzlich wäre die Analyse dieser Frage auch für solche literarischen Todesfälle aufschlussreich, die nicht auf eine Selbsttötung zurückzuführen sind. Eine Fokussierung auf das Phänomen des Suizids bietet aber zwei Vorteile: Erstens ermöglicht es diese Einschränkung, die ansonsten unbeherrschbare Disparität unterschiedlicher Todesarten auf eine vergleichsweise überschaubare Zahl von Möglichkeiten zu reduzieren. Zweitens ist die Selbsttötung auch deshalb besonders interessant, weil sie im Gegensatz zu anderen Todesarten im Text niemals als kontingent, sondern immer als willentliche Entscheidung der Figur erscheint, womit der Suizid den Bereich existenzieller Fragen, wie zum Beispiel nach der Freiheit des Subjekts, berührt.

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befassen, die zwischen ca. 1880 und 1914 veröffentlicht wurden. Für die Fokussierung auf diesen Zeitabschnitt, die ich im Anschluss an Ursula Baumann vornehme (vgl. ebd. 10), sprechen zwei Argumente. Erstens wurde der Diskurs über die Selbsttötung, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts nachgelassen hatte, in dieser Phase wieder besonders intensiv geführt. »Mit enormen zeitdiagnostischem Potenzial aufgeladen w[urde] der Suizid in dieser Zeit zu einem Gravitationszentrum weltanschaulicher und politischer Kontroversen.« (Baumann 2001, 10) Die Intensivierung dieses Diskurses zeigt sich auch an den epischen und dramatischen Texten dieser Epoche, in denen sich zahlreiche Figuren das Leben nehmen. Zweitens bietet sich diese Phase auch deshalb für eine Untersuchung an, weil um 1900 bestimmte Formen der Selbsttötung wie die Selbstertränkung männlicher Protagonisten virulent wurden, welche vorher zumindest in der deutschsprachigen Literatur praktisch keinerlei Tradition besaßen. Gerade aber solche Verschiebungen der Darstellungskonventionen sind für eine Analyse der literarischen Suizidarten besonders vielversprechend. Eingegrenzt wird der Umfang der vorliegenden Untersuchung schließlich auch durch die Beschränkung auf die Gattungen der Dramatik und der Epik. Was die obenstehende Definition des Suizids als eine Handlung im soziologischen Sinne impliziert, ist eine Geschehnisfolge, deren Minimalstruktur darin besteht, dass ein zunächst lebendiges Subjekt ein tödliches Mittel auf sich selbst anwendet und infolgedessen stirbt. Die literarische Darstellung einer solchen Geschehnisfolge setzt wiederum das Vorhandensein einer Handlung im literaturtheoretischen Sinn voraus.6 Diese ist zwar konstitutives Element der Dramatik und Epik, sie fehlt aber in vielen Formen der Lyrik, weshalb diese Gattung nicht berücksichtigt wird. Zusammengenommen umfasst das Untersuchungskorpus der vorliegenden Arbeit 13 Werke der deutschsprachigen Literatur, die zwischen 1880 und 1914 erschienen sind. Um die einzelnen Analysen untereinander besser ordnen und zueinander in Bezug setzen zu können, werden diese in drei größere Abschnitte gegliedert (Kapitel 4-6). Die Einteilung dieser Abschnitte orientiert sich sowohl an dem Kriterium der Todesart, als auch am Geschlecht der suizidalen Figur. Die Berücksichtigung der letztgenannten Kategorie beruht auf der Annahme von »Geschlechtsdifferenzen in der Methodenwahl« (Stengel 1969, 27), welche innerhalb der historisch-kulturwissenschaftlichen, soziologischen und medizinischen Selbsttötungsforschung einen Gemeinplatz markiert.7 In der vorliegen-

6

Vgl. dazu den Lexikon-Artikel Handlung im Metzler 1990, 188 sowie die literaturtheoretischen Ausführungen zur Geschehensdarstellungen in Kapitel 3.1.1 dieser Arbeit.

7

Vgl. hierzu ferner Haenel 1989, 30-32 und Baumann 2001, 252-257.

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den Arbeit wird diese Kategorie allerdings zunächst eher heuristisch zur Ordnung des Korpus verwendet. Tatsächlich ist in dieser Untersuchung erst noch zu prüfen, ob auch bei literarischen Suiziden geschlechtsspezifische Präferenzen in der Methodenwahl existieren. Wenn nun aus den über 50 epischen und dramatischen Suizid-Texten der Literatur um 19008 lediglich 13 Werke genauer untersucht werden, so handelt es sich notwendigerweise nur um einen kleineren Teil der literarischen Selbsttötungsdarstellung dieser Zeit. Naturgemäß enthält die Auswahl der zu analysierenden Werke ein subjektives Moment, weil die Zusammenstellung des Textkorpus unumgänglich dem Verfasser dieser Arbeit obliegt und nicht an eine objektive Instanz delegiert werden kann.9 Deshalb werde ich meine einleitenden Ausführungen damit beschließen, die Gründe, aus denen ich die einzelnen Texte und Analyseabschnitte ausgesucht habe, offenzulegen. Der erste Analyseabschnitt orientiert sich in erster Linie an der um 1900 literarisch weit verbreiteten Selbsttötung männlicher Figuren durch Schusswaffen. Den Auftakt bildet die Untersuchung von Theodor Fontanes Erzählung Schach von Wuthenow (1882). Generell besetzt Fontane im Korpus dieser Arbeit eine exponierte Stellung, weil er nicht nur zu den wichtigsten deutschsprachigen Romanciers des ausgehenden 19. Jahrhunderts zählte, sondern mit den mindestens sieben in seinem Oeuvre enthaltenen Suiziden auch eine wichtige Rolle bei der zeitgenössisch-literarischen Gestaltung der Selbsttötung in der Epik spielte. Von seinen drei Texten, in denen sich ein männlicher Protagonist erschießt, ist Schach der wohl wichtigste und bekannteste, weshalb dieses Werk für die Analyse ausgewählt wird. Anknüpfend an die preußische Perspektive Fontanes rückt danach mit Ferdinand von Saars Erzählung Vae Victis! (1883) die Darstellung des Pistolensuizids bei einem der bedeutendsten österreichischen Epiker dieser Zeit in den Fokus. Im daran anschließenden Kapitel zu Stine (1889) gerät vorübergehend eine andere Todesart in den Blick. Die Ergebnisse der ersten beiden Analysen werden als Gegenprobe mit der Analyse eines weiteren FontaneTextes konfrontiert, in welchem sich der aus einem ähnlichen Milieu stammende Protagonist den Tod gerade nicht durch die Pistole, sondern mithilfe von Gift gibt. Das vierte Kapitel dieses Abschnitts widmet sich mit Lieutenant Gustl (1901) einem der bekanntesten Texte Arthur Schnitzlers. Obwohl der Protagonist am Ende darauf verzichtet, sich zu erschießen, ist die Novelle für die literarische Funktionsweise dieser im Text praktisch durchgängig thematisierten Sui-

8 9

Vgl. hierzu die tabellarische Übersicht im Anhang. Ein Problem, vor dem im Grunde auch alle motivgeschichtliche Arbeiten stehen, bei denen der Gegenstand nicht durch irgendein objektives Kriterium wie das Oeuvre eines Autoren oder dergleichen beschränkt wird.

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zidart ungemein aufschlussreich. Der Abschnitt zur Selbsterschießung männlicher Protagonisten wird durch die Analyse von Frühlings Erwachen (1891) beschlossen. Wedekinds bekanntestes Drama bietet sich für eine Untersuchung unter anderem deshalb an, weil die Selbsterschießung hier nicht nur besonders martialisch dargestellt wird, sondern auch mit dem zeitgenössisch prominenten Phänomen des Schülersuizids verknüpft ist. Der zweite Analyseabschnitt behandelt mit dem Wassersuizid männlicher Protagonisten ein Phänomen, das an der Schwelle zum 20. Jahrhundert zum ersten Mal deutlich in der deutschsprachigen Literatur zu beobachten ist.10 Das Ertrinken im Wasser war in der abendländischen Kulturgeschichte stets ein weiblich konnotierter Tod, der sich im Übrigen wohl erst vergleichsweise spät, nämlich mit Shakespeares Hamlet und namentlich durch dessen Figur Ophelia, als gängige Selbsttötungsmethode in der europäischen Literatur vollends etabliert hat.11 Bis dato traditionslos, finden ab etwa 1890 in den Texten von einigen der bekanntesten Autoren dieser Zeit etliche männliche Figuren den Tod in Seen, Flüssen und Bächen. Ins Drama eingeführt wird dieses Phänomen von Gerhart Hauptmann, dessen untersuchtes Stück Einsame Menschen (1891) das erste von drei Schauspielen Hauptmanns ist, in denen sich eine männliche Figur ertränkt. Im Anschluss an die Analyse von Einsame Menschen richtet sich die Aufmerk-

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Die Selbstertränkung einer männlichen Figur klingt bereits in K.P. Moritz Anton Reiser (1785/86) zum ersten Mal an, allerdings bleibt es in diesem Roman bei einem erfolglosen Suizidversuch.

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Soweit ich sehen kann, markiert die Selbstertränkung weiblicher Figuren auch in der antiken Literatur eine Rarität: Mir ist mit dem etwa von Vergil oder Ovid überlieferten Hero- und Leander-Stoff lediglich ein Fall bekannt, in dem sich eine weibliche Protagonistin ertränkt. Die geringe Bedeutung dieser Todesart für die antike Literatur wird durch Anton van Hoofs Untersuchung bestätigt. Dieser hat über 1200 Zeugnisse, darunter viele literarische Texte, über die Selbsttötung in der Antike gesammelt und unter anderem unter dem Gesichtspunkt der Suizidart ausgewertet. Demnach ist die mit Abstand häufigste Todesursache mit 36% der Suizid durch Waffen, gefolgt von knapp 17% durch Erhängen. Die Selbstertränkung taucht in seiner Aufstellung als eigene Kategorie nicht mal auf und kann daher maximal 3% der untersuchten Fälle ausmachen. Vgl. van Hoof 2005, 25. Ähnlich sieht es für die Literatur im Mittelalter aus, in welcher der Suizid insgesamt ohnehin eine »Ausnahme, eine nahezu tabuisierte Randerscheinung« (Knapp 1979, 85) darstellte. Kurzum: Auch wenn dies hier nicht ausführlich belegt werden kann, so spricht vieles dafür, dass der Suizid durch Ertrinken erst mit Shakespeare wirklich in der europäischen Literaturgeschichte verankert wurde.

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samkeit auf drei Prosastücke. Thomas Manns Der kleine Herr Friedemann (1897), Hermann Hesses Unterm Rad (1903) und Franz Kafkas Das Urteil (1913) sind zunächst bereits schon deshalb relevant, weil sie allesamt den literarischen Durchbruch ihrer Verfasser bedeuten und zugleich jeweils den einzigen Wassersuizid im Werk der Autoren markieren. Vor allem aber ermöglicht es der Vergleich dieser Texte, die relativ gleichmäßig über den Untersuchungszeitraum verteilt erschienen sind, etwaige Konstanten und Veränderungen in der Bedeutung des männlichen Wassersuizids aufzuzeigen. Am Beginn des letzten Analyseabschnitts, der sich mit den Selbsttötungsarten weiblicher Figuren befasst, steht Gottfried Kellers Regine (1881). Mit dieser Novelle wird auch der Text eines Schweizer Autors als Teil der deutschsprachigen Literatur berücksichtigt. Regine ist im Rahmen dieser Arbeit vor allem deshalb relevant, weil in dem Text mit dem Erhängen eine Suizidart aufgegriffen wird, die eine sehr lange literarische Tradition12 hat und zudem außerliterarisch zu den gängigsten Formen der Selbsttötung gehört. Im Anschluss daran betrachte ich mit Cécile (1886) ein weiteres Werk Theodor Fontanes. Da sich auch hier – ähnlich wie schon in Stine – die Hauptfigur mit Toxinen das Leben nimmt, ermöglicht es die Betrachtung dieses Romans auch, nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden in der Gestaltung von männlichem und weiblichem Giftsuizid bei Fontane zu fragen. Die vorletzte Analyse befasst sich mit dem Schauspiel Vor Sonnenaufgang von Gerhart Hauptmann, der für die dramatische Gestaltung des Suizids um 1900 einer der wichtigsten Autoren war. Mit dem Erstechen gerät hier eine Selbsttötungsmethode in den Blick, welche insbesondere auf dem Theater eine sehr lange Tradition aufweist. Den Abschluss der Analysen markiert die Auseinandersetzung mit der Novelle Harmonie (1905) von Georg von Keyserling, der in meinem Korpus die deutschsprachigen Autoren aus dem Baltikum repräsentiert. Am Beispiel dieses Textes untersuche ich, wie das Motiv des weiblichen Todes im Wasser in der Literatur um 1900 aufgegriffen wurde. Bevor ich zur Untersuchung des nun in seiner Zusammenstellung erläuterten Textkorpus übergehe, werde ich allerdings zunächst noch einen Überblick über den Forschungsstand geben (Kapitel 2) und meinen theoretisch-methodischen Zugang (Kapitel 3) erläutern. Beginnen möchte ich meinen Streifzug durch das unerforschte Gebiet der literarischen Suizidarten allerdings mit den Worten Johann Wolfgang von Goethes, welche meiner Untersuchung als Motto dienen mögen: »So will ich die Betrachtungen nicht verbergen, die ich über die ver-

12

Diese Art der Selbsttötung findet sich mit dem Suizid Iokastes bereits in Sophokles Tragödie König Ödipus.

1. Ü BER

BOHRENDE

S PITZEN

UND ZAGENDE

FIGUREN (E INLEITUNG )

│ 19

schiedenen Todesarten, die man wählen könnte, wohlbedächtig angestellt.« (Goethe 1986, 635)

2. Forschungsstand

2.1 D ER S UIZID

ALS G EGENSTAND DER LITERATURWISSENSCHAFTLICHEN F ORSCHUNG

Wenn Alfred Alvarez in seinem Werk Der grausame Gott lakonisch konstatiert, »die halbe Weltliteratur handelt vom Tod« (Alvarez 1971, 201), so steht diese Aussage im Kontext jenes weit verbreiteten Diktums, das die Liebe und den Tod als die beiden großen Themen der Literatur identifiziert. Unabhängig davon, ob man dieser Einschätzung über den Inhalt der Weltliteratur nun zustimmen mag oder nicht, kann kaum bestritten werden, dass das große Thema des Sterbens in der abendländischen Literatur von ihrem Beginn an auch (aber natürlich nicht nur) am Beispiel der Selbsttötung verhandelt wurde. Bereits in Homers Odyssee und Pindars siebtem nemeischen Gesang hat der Suizid mit den am Rande erwähnten Selbsttötungen von Iokaste (Odyssee) und dem griechischen Kriegshelden Ajax (nemeischer Gesang) Einzug gehalten. Spätestens mit den zahlreichen Selbsttötungen in den attischen Tragödien bei Aischylos und Sophokles hat sich der »Selbstmord als echt tragische Lösung dramatischer Konflikte« (Knapp 1979, 271) in der abendländischen Literatur endgültig etabliert. Von da an schreibt sich die Liste der Suizide durch die Literaturgeschichte hindurch fort, von den Werken Ovids, über die von Shakespeare, Schiller, Goethe, Flaubert und Dostojewski bis hinein in die Gegenwart. Phasenweise ist die Selbsttötung vor allem im Theater ein »geradezu obligatorisches Element« (Minois 1996, 160), auf das einzelne Autoren, wie beispielsweise Shakespeare, in ihrem Oeuvre mehr als 50 Mal zurückgreifen.1 Bei anderen Dichtern, wie Goethe, reicht bereits eine einzige literarische Selbsttötung, um europaweit zu dem zweifelhaften

1

Minois zählt für das Werk Shakespeares genau 52 Suizide. Vgl. Minois 1996, 161.

22 │ VON DER T ORHEIT , WÄHLERISCH ZU STERBEN

Ruf zu gelangen, mit seinem literarischen Schaffen eine regelrecht Suizidepidemie ausgelöst zu haben.2 Bei dieser umfassenden Präsenz der Selbsttötung in der Literatur verwundert es folglich nicht, dass sich auch die literaturwissenschaftliche Forschung längst der genaueren Untersuchung des Suizids zugewandt hat. In der Germanistik ist vor allem seit den 1990er Jahren ein reges Interesse an diesem Thema zu verzeichnen,3 zu dem mittlerweile mehr als ein Dutzend Monographien erschienen sind. Grob skizziert beleuchten die meisten dieser Werke den Gegenstand vor allem aus zwei unterschiedlichen Perspektiven. Zunächst sind hier jene Untersuchungen zu nennen, die den Suizid in literarischen Texten im Hinblick auf die dargestellten Ursachen der Selbsttötung analysieren und die nicht selten von dem Optimismus getragen sind, dass die Untersuchung literarischer Suizide auch zum Verständnis der Ursachen realer Selbsttötungen beitragen kann. So konzentriert sich Joachim Noob (1998) in seiner Arbeit auf das zeitgenössisch viel diskutierte Phänomen des ›Schülerselbstmords‹ um 1900. Noobs erklärtes Ziel ist es, in seiner Untersuchung einen »Einblick in die inneren Beweggründe der Heranwachsenden« (Noob 1998, 14) für ihren Suizid zu gewinnen und diese Ergebnisse im Kontext der Entstehungszeit der Texte zu verorten. Kurz gesagt zeigt Noob in seiner Arbeit auf, welche Erklärungsmodelle die Literatur um 1900 für das Phänomen des Schülersuizids anbietet. In eine ähnliche Richtung zielt die Dissertationsschrift von Jan Ehlenberger (2006), die sich dem Gegenstand des Schülersuizids am Beispiel der Romane von Emil Strauss, Hermann Hesse, Bruno Wille und Friedrich Torberg nähert. Ehlenberger betrachtet das Phänomen des literarischen Suizids im Zusammenhang mit der in den Texten artikulierten Schulkritik und versucht darüber hinaus, die einzelnen Suizide mit Hilfe der Durkheimschen Suizidtypologie zu erklären. Den Versuch einer Typologie von Suizidanten unternimmt ferner Kai Wode (2007), dessen etwas salopp formuliertes Erkenntnisinteresse ebenfalls lautet: »Warum Suizid?« (Wode 2007, 100). Anders als Ehlenberger betrachtet Wode Texte aus verschiedenen Phasen des 20. Jahrhunderts, wobei seine Beispiele von Kafka über Fallada bis hin zu Thomas Bernhard

2

Ob es eine solche Epidemie wirklich gegeben hat, ist zumindest umstritten. Neumeyer konstatiert gar nach kritischer Betrachtung der überlieferten Fälle: »Dass es diese zeitgenössische ›Epidemie‹ von Selbstmorden in der Folge einer WertherLektüre gibt, ist historisch nicht belegbar.« (Neumeyer 2009, 34)

3

Vor den 1990er Jahren sind mit den Monographien von Duchon 1931, Buhl 1951 und Monath 1951 im Wesentlichen drei Studien zum Suizid in der Literatur erschienen, die allerdings nicht mehr dem aktuellen Stand der Forschung entsprechen und die überdies mittlerweile kaum noch verfügbar sind.

2. F ORSCHUNGSSTAND

│ 23

reichen. Zweitens bedient sich Wode bei seiner Analyse nicht des Modells von Durkheim, sondern der deutlich feineren Typologie von Jean Baecheler (1981). Darüber hinaus nimmt sich auch Michael Zimmermann (2002) der Frage nach den »motivations for suicide« (Zimmermann 2002, 23) an, denen er in der Nachkriegsliteratur von BRD und DDR nachspürt. Die Pointe seiner Arbeit besteht darin, dass er einen Unterschied zwischen den Suizidmotivierungen der beiden deutschen Literaturen nachweist. Wirft man einen Blick über die Germanistik hinaus, so zählt auch die Arbeit von Alexander Graf (1996) in diese Gruppe von Untersuchungen. Graf strebt ebenfalls eine nach Suizidmotiven geordnete Typologie der literarischen Selbsttötungen an, die er allerdings für Werke der russischen Prosa des 20. Jahrhunderts erstellt. Auch die Dissertation von Mirja Piltz (2003) gehört zu den Untersuchungen, welche die »Frage nach den Motiven, die den Protagonisten zu seiner suizidalen Tat veranlassen, in den Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses« (Piltz 2013, 13) stellen. Zur literaturwissenschaftlichen Erforschung der Suizidthematik steuert Piltzʼ Arbeit allerdings kaum neue Erkenntnisse bei. Ein zweiter Strang der Forschung untersucht das Verhältnis literarischer Texte zu verschiedenen zeitgenössischen Diskurse und Debatten, in welchen über einen langen Zeitraum nicht zuletzt auch die Frage nach der moralischen Bewertung der Selbsttötung verhandelt wurde. Die meisten dieser an der Schnittstellte zwischen Literatur- und Kulturwissenschaft situierten Forschungsarbeiten gehen davon aus, dass sich in literarischen Texten nicht nur die verschiedenen gesellschaftlichen Einstellungen zum Suizid spiegeln, sondern auch die zeitgenössischen Kontroversen um die Frage nach der Moralität der Selbsttötung. So befasst sich Heiko Buhr (1997) in seiner Arbeit mit verschiedenen Texten des 17. und 18. Jahrhunderts und versucht, »die Traditionen freizulegen, in denen die einzelnen Beiträge stehen, um so einen Überblick über die aktuellen, ideengeschichtlichen Strömungen« (Buhr 1997, 14) der Zeit zu erhalten. Gleichzeitig ist es Buhrs Anliegen, durch eine Untersuchung der ideengeschichtlichphilosophischen Diskurse verständlich zu machen, warum Goethes Werther einen derartigen Eklat hervorrufen konnte. Harald Neumeyer (2009) verfolgt mit seiner in der Tradition des New Historicism stehenden, wissensgeschichtlichen Arbeit die Absicht, die »Vernetzung zwischen literarischen und wissenschaftlichen Texten von der Mitte des 18. Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts nachzuzeichnen« (Neumeyer 2009, 39). Diese Vernetzungen diskutiert er hauptsächlich

24 │ VON DER T ORHEIT , WÄHLERISCH ZU STERBEN

an literarischen Texten von Goethe, Schiller und Brentano.4 Noch stärker kulturwissenschaftlich geprägt ist die Arbeit von Julia Schreiner (2003). Hier dienen die literarischen Texte als eine Quellensorte unter vielen, die zur Rekonstruktion der Verbindung zwischen den Diskursen um Melancholie, Hypochondrie und Suizid im späten 18. Jahrhundert herangezogen werden. Schreiner legt plausibel dar, dass es um 1800 zu einer gleichzeitigen Entpönalisierung und Pathologisierung des Suizids kam. Literarische Texte der ästhetischen Moderne ab 1850 untersucht Christine Abbt (2007). Dabei möchte sie einerseits die »von der Literatur dargestellte und erfahrbar gemachte Wirklichkeit als eine für die ethische Debatte über den Suizid relevante« (Abbt 2007, 14) Position kenntlich machen. Andererseits ist es ihr auch daran gelegen, einen Beitrag zur Erforschung der literarisch dargestellten Motive für den Suizid zu leisten, womit ihre Arbeit beiden hier bisher skizzierten Forschungsrichtungen zuzurechnen ist. Gleiches gilt auch für die Dissertation von Gerit Langeberg-Pelzer (1995), die sich auf die Selbsttötung in literarischen Texten um 1900 konzentriert. Ihre Untersuchung fragt nicht nur nach den literarischen dargestellten Ursachen von Suiziden, sondern auch danach, ob sich Schriftsteller mit ihren Texten »der herrschenden Auffassung« (LangenbergPelzer 1994, 4) über die moralische Bewertung des Suizids anschließen. Abseits dieser beiden großen Richtungen innerhalb der germanistischen Suizidforschung existieren auch Arbeiten, die sich des Gegenstands unter einer anderen Fragstellung nähern. Hier ist zunächst die Monographie von Hans-Jürgen Baden (1965) zu nennen, die am Beispiel der suizidalen Autoren Klaus Mann, Cesare Pavese und Ernest Hemingway danach fragt, »wie es um den Schriftsteller als Selbstmörder bestellt ist« (Baden 1965, 8). Badens Anliegen ist es, Bezüge zwischen dem Suizid dieser Autoren und ihren literarischen Werken herzustellen.5 Einen eher populärwissenschaftlichen, gleichwohl durchaus gewinnbringenden Zugriff auf das Thema Literatur und Suizid bietet die mittlerweile fast zum Standardwerk gewordene Abhandlung Der grausame Gott von Alfred Alvarez (1971). Ausgehend von der Frage, wie das Phänomen des Suizids die schöpferische Phantasie einzelner Autoren angeregt hat, bietet Alvarez einen kursorischen Durchgang durch die Literaturgeschichte, im Zuge dessen er be-

4

In eine ähnliche Richtung wie Buhr und Neumeyer zielt auch die Arbeit von Iris Meinen, die sich bei der Auswahl der literarischen Texte allerdings gänzlich auf Dramen konzentriert. Vgl. Meinen 2011.

5

Die Schwierigkeiten, einen Bezug zwischen der Selbsttötung eines Autors und dem Suizid in seinen Texten herzustellen, erörtert Bettina Menke in ihrem Aufsatz über Heinrich von Kleist. Vgl. Menke 2005.

2. F ORSCHUNGSSTAND

│ 25

stimmte Formen der literarischen Umgangs mit dem Suizid aufzeigt und ideenbzw. zeitgeschichtlich situiert. Zu erwähnen sind ferner das Buch von Fritz Peter Knapp (1979), der in seiner Monographie über den Suizid in der Epik des Hochmittelalters das »allmähliche Aufleben dieses Motivs« (Knapp 1979, 11) nachzeichnet, sowie die Dissertation von Erika-Christel Meier (2005) zur Selbsttötung im Werk Gerhart Hauptmanns. Die Arbeit von Meier ähnelt der hier vorliegenden Arbeit darin, dass sie nicht die Frage von Kausalität oder Moralität der literarischen Suizide in den Mittelpunkt rückt, sondern die »Funktion des Selbstmordmotivs in Hauptmanns gesamtem Werk« (Meier 2005, 21) untersucht. Dabei widerlegt Meier die von Roger Willemsen (2002) vertretene These, Hauptmann habe den Suizid »als Deus ex Machina eingesetzt […], aus Verlegenheit vor den Schlüssen seiner Dramen« (Willemsen 2002, 34).6 Allen hier aufgeführten Untersuchungen zur Selbsttötung in der Literatur ist gemein, dass die Frage nach der Funktion oder Bedeutung der jeweiligen Suizidmethoden entweder keine oder nur eine sehr randständige Rolle spielt. Wenn überhaupt, so gehen diese Arbeiten en passant und in der Regel nur in wenigen Sätzen auf die Besonderheiten der Art und Weise des literarischen Suizids ein.7 Die mehr oder weniger nebenbei angestellten Betrachtungen zu den literarischen Todesarten sind fast immer oberflächlich und zumeist wenig überzeugend. Eine Ausnahme hiervon markiert lediglich der Aufsatz von Karin Tebben (2002). Diese stellt die wichtige Frage, welchen poetologischen Gesetzen die Suizidmethoden in literarischen Texten gehorchen. Tebben spürt dieser Frage am Beispiel einiger suizidaler Frauenfiguren in der deutschsprachigen Literatur nach, wobei sie – dem Textformat geschuldet – eher zu schlaglichtartigen Ergebnissen gelangt. Eine groß angelegte Untersuchung, die sich systematisch der Frage nach der Funktion und Bedeutung literarischer Suizidmethoden annimmt und die dieser Bedeutung für einen bestimmte Phase der Literaturgeschichte über die Grenze einzelner Texte hinweg nachgeht, liegt bisher nicht vor. Anschlussfähig erscheinen immerhin die auch an literarischen Suiziddarstellungen erprobten Überlegungen Elisabeth Bronfens (1996) zum Zusammenhang von Tod, Weiblichkeit

6

Neben der umfangreichen Anthologie von Roger Willemsen (2002), die verschiedene aufschlussreiche literarische und nicht-literarische Texte über den Suizid beinhaltet, sei an dieser Stelle auch noch auf die literarische Anthologie von Armin Strohmeyr (1999) hingewiesen.

7

Selbst in einigen Untersuchungen zum Ophelia-Motiv, das dezidiert mit der Todesart des Ertrinkens verknüpft ist, bleibt die Besonderheit des Wassertodes oft unterbeleuchtet, so bei Würffel 1985. Ausführlich betrachtet wird die kulturelle Verbindung von Wassertod und Weiblichkeit hingegen bei Kindler 2004.

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und Ästhetik. Bronfen vertritt die Ansicht, Kunst und Literatur ästhetisieren das weibliche Sterben als den »Tod der schönen Frau« (Bronfen 1996, 10), weil sie damit »das Wissen um den Tod verdrängen und zugleich artikulieren« (ebd.) können. Diese These scheint insbesondere im Zusammenhang mit meiner Untersuchung weiblicher Suizide in der Literatur beachtenswert.

2.2 D ER S UIZID

ALS G EGENSTAND DER KULTUR - UND GESCHICHTSWISSENSCHAFTLICHEN F ORSCHUNG

Das Phänomen der menschlichen Selbsttötung hat im Laufe des 20. Jahrhunderts so stark das Interesse der Humanwissenschaften auf sich gezogen, dass sich mit der Suizidologie mittlerweile eine eigene, zwischen Soziologie, Medizin und Psychologie angesiedelte, Spezialdisziplin entwickelt hat, welche sich mit der Erforschung der Selbsttötung und vor allem mit den Möglichkeiten von Suizidprävention befasst. Für die hier vorliegende Arbeit sind weniger die Ergebnisse der klinisch-medizinischen Suizidforschung relevant8 als die verschieden kulturwissenschaftlich-historischen Studien zur Selbsttötung.9 Diese Untersuchungen bieten in der Regel einen umfassenden Überblick über die historischen Ausformungen der Suizidpraxis,10 über die damit verbundenen gesellschaftlichen Ächtungs- und Interventionsmechanismen sowie über die Entwicklung der verschiedenen mit diesem Phänomen verknüpften Diskurse. Zu nennen ist hier als erstes die Monographie von George Minois (1996), der sich in seiner materialreichen Geschichte des Selbstmords vor allem auf die kulturgeschichtliche Entwicklung des Umgangs mit dem Suizid in Westeuropa vom 16. bis zum 18. Jahrhundert konzentriert. Wo Minois Untersuchung endet, setzt die Studie von Ursula Baumann (2001) an. Baumann zeichnet die Geschichte der Selbsttötung im 19. und 20. Jahrhundert nach, wobei sie sich vor allem auf den

8

Als zwei der wichtigen Studien aus diesem Forschungsbereich seien allerdings die Arbeit von Ringel 1978 und Stengel 1969 zumindest erwähnt.

9

Ein guter Überblick über den Stand der historischen Forschung zum Suizid findet sich bei Bobach 2004. Einen historischen Überblick über Einstellung und Umgang des Menschen mit dem Tod liefert die umfangreiche Geschichte des Todes von Philippe Ariès. Ariès geht allerdings nur am Rande auf den Suizid ein.

10

Für eine Betrachtung des Suizids als eine historisch-gesellschaftliche Praxis plädieren nicht zuletzt Andreas Bähr und Hans Medick, die ihrem Sammelband Sterben von eigener Hand den Untertitel »Selbsttötung als kulturelle Praxis« beigefügt haben.

2. F ORSCHUNGSSTAND

│ 27

deutschsprachigen Raum konzentriert. Die Studie von Gerhard Mischler (2000) ist weniger detail- und materialreich als die zuvor genannten Untersuchungen, eröffnet dafür aber ein breites Panorama der Geschichte des Suizids. Ausgehend von einem Interesse für die verschiedenen Zwänge, die dem Subjekt eine freie Entscheidung für den eigenen Tod erschweren, vollzieht Mischler einen kursorischen Durchgang durch die Geschichte der Selbsttötung von der Antike bis in die Gegenwart. Anders als Minois und Baumann untersucht er auch, mit welchen Einstellungen Gesellschaften außerhalb des europäischen Kulturkreises dem Suizid gegenüberstehen. Wo seine Studie also eine globalere Perspektive auf die Selbsttötung nachzeichnet, konzentriert sich die Arbeit von Vera Lind (1999) vornehmlich auf die lokale Ebene. Lind untersucht verschiedene Fälle des Suizids in den Herzogtümern Schleswig und Holstein während der frühen Neuzeit und setzt ihre Ergebnisse in Bezug zu den sich in dieser Epoche ereignenden gesamtgesellschaftlichen Veränderungen im Umgang mit der Selbsttötung. Darüber hinaus liegen mit der Monographie von Michael MacDonald und Terrence Murphy (1990) sowie der Untersuchung von Olive Anderson (1987) zwei kulturwissenschaftliche Studien vor, die sich mit der Geschichte der Selbsttötung in England vom 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts befassen. Mit einem Fokus auf das späte 18. und frühe 19. Jahrhundert fragt Florian Kühnel (2013) in seiner mikrogeschichtlich orientierten Dissertation nach den »Selbstbeschreibungen und Deutungsversuchen adeliger Suizidenten und ihrer Umwelt« (Kühnel 2013, 14). Für meine Fragestellung ist die Lektüre dieser Arbeit vor allem deshalb sehr gewinnbringend gewesen, weil Kühnel darin intensiv die Semantik des Pistolensuizids diskutiert und die verbreite Deutung dieser Todesart als Form der Ehrenrettung teilweise relativiert. Zu erwähnen ist ferner der von Andreas Bähr und Hans Medick herausgegebene und interdisziplinär ausgerichtete Sammelband Sterben von eigener Hand (2005) sowie Bährs Dissertationsschrift Der Richter im Ich (2002). Diese Monographie ist für die hier vorliegende Arbeit nicht zuletzt insofern anregend gewesen, weil Bähr darin den Nachweis führt, dass sich auch reale Fälle von Selbsttötung als »semantische Konstruktionen« (Bähr 2002, 35) verstehen lassen. Eine solche Sichtweise auf den Suizid ist kompatibel mit der in dieser Arbeit vertretenen These, dass die Suizidmethoden in literarischen Texten Bedeutung tragen bzw. erzeugen.11 Diese These ist im Übrigen nicht sonderlich originell. Denn tatsächlich vertreten alle der hier aufgeführten kulturwissenschaftlichen Monographien implizit

11

Leider betrachtet Bähr in seiner Arbeit nicht, inwieweit die einzelnen Suizidmethoden in die jeweiligen Semantiken der untersuchten Selbsttötungsfälle eingebunden sind.

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die gleiche Ansicht. Zwar existiert keine Arbeit, die sich ausschließlich mit der kulturhistorischen Bedeutung verschiedener Suizidmethoden befasst, doch wird dieser Punkt von jeder der hier genannten Untersuchungen in den Blick genommen, was zum Teil in eigenen Kapiteln, zum Teil en passant geschieht. Gleichwohl ergibt sich aus der Zusammenschau der einzelnen Untersuchungen ein halbwegs konturscharfes Bild der Bedeutungen, die den einzelnen Suizidmethoden im europäischen Kulturkreis zugeschrieben wurden und zum Teil immer noch zugeschrieben werden. Im Folgenden wird dieses Bild für einige der wichtigsten Suizidmethoden kurz skizziert. Das Erhängen galt bereits in der Antike als Todesart »für Frauen und Sklaven« (van Hoof 2005, 26), die als »moralisch abstoßend« (Mischler 2000, 43) verpönt war und entschieden abgelehnt wurde. Diese negativen Konnotationen haften dem Tod durch den Strick auch in den folgenden fast Zweitausend Jahren christlich-abendländischer Geschichte an. Die bereits in der Antike bestehende Ablehnung gegenüber dieser Art zu sterben verband sich mit einem Motiv aus der christlichen Mythologie. Der Erhängungstod des Judas Ischariot12 avancierte infolge von Bibelrezeption und kirchlichem Suizidverbot13 alsbald zum »Archetypus eines schändlichen und verdammenswerten Todes« (Minois 1996, 45). Diese Suizidmethode besaß folglich »im europäischen Kulturkreis die geringste Akzeptanz und galt als die unehrenhafteste Art zu sterben« (Lind 1999, 330). Dies hat die Menschen allerdings nicht davon abgehalten, sich trotzdem auf diese Weise das Leben zu nehmen. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein war die Selbsterhängung die gängigste Art der Selbsttötung (vgl. Baumann 2001, 86). Diese war allerdings vor allem im einfachen Volk verbreitet, weshalb dieser Methode alsbald auch der Ruf anhaftete, »der Selbstmord des Bauerntölpels« (Minois 1996, 32) zu sein. Höheren Gesellschaftsschichten, speziell dem Adel, galt der Tod durch Schwert, Dolch oder Pistole als die einzig angemessene Weise, sich (als Mann) das Leben zu nehmen. Die Selbsttötung durch Waffen avancierte zu einer »etiquette for honourable suicide« (MacDonald/Murphy 1990, 184f.).14 Die un-

12

Von dem im Übrigen nur das Matthäus-Evangelium berichtet, dessen Darstellung

13

Dieses Verbot setzte sich erst im vierten und fünften nachchristlichen Jahrhundert

dann aber allgemein aufgegriffen wurde. Vgl. Minois 1996, 45. durch und wird vor allem vom Kirchenlehrer Augustinus zur theologischen Doktrin erhoben. Zu einer ausführlichen Schilderung der Argumentation gegen die Selbsttötung bei Augustinus vgl. Decher 1999, 21-29. 14

Wie bereits erwähnt, relativiert Florian Kühnel diese Lesart der Suizidart in seiner Dissertation. Zwar konstatiert auch Kühnel beim Adel eine »deutliche Affinität zum

2. F ORSCHUNGSSTAND

│ 29

terschiedliche kulturelle Wertigkeit zwischen dem Erhängen und dem Suizid durch Waffen wird besonders deutlich am Beispiel des englischen Edelmanns, der im frühen 18. Jahrhundert den Tod eines Standesgenossen mit den Worten kommentierte: »Welch‘ erbärmliche Vulgarität, das Erhängen zu wählen! Ich hätte ihm verziehen, wenn er sich eine Kugel in den Kopf gejagt hätte.« (Minois 1996, 274) Die hohe Akzeptanz des Suizids durch Waffen ist wiederum bereits in der Antike vorgebildet. Dieser Epoche entstammt mit dem Suizid des römischen Feldherrn Cato Uticensis, der sich erstochen hat, auch jenes Beispiel, das in Europa vor allem ab dem 18. Jahrhundert als das Vorbild des ehrenvollen und heldenhaften Suizids schlechthin rezipiert wurde.15 Soweit sich dies heute noch statisch rekonstruieren lässt, waren diese kulturellen Vorstellungen über den Suizid im Adel im Übrigen mehr als bloße Klischees, sondern wirkten sich nachweislich auf die Selbsttötung in den höheren Gesellschaftsschichten aus.16 Die mit einzelnen Suizidarten verbundenen historisch-kulturellen Vorstellungen orientierten sich allerdings nicht nur an den Kriterien von Standesgemäßheit und Ehrenhaftigkeit einer Todesart, sondern waren zudem auch geschlechtlich codiert. Vor allem die bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts sehr häufig vorkommende Selbstertränkung17 war gemeinhin eine weiblich konnotierte Art der Selbsttötung. Wie Lind bemerkt, galt der Suizid durch Ertränken als

Waffensuizid« (Kühnel 2013, 197) und eine damit verbundene weite Verbreitung des »Topos heroischer Suizid« (ebd. 201). Allerdings kommt er zu dem Ergebnis, dass der heroische Suizid vor allem »auf der Ebene von Zuschreibungen« (ebd. 312) existierte und dass auch der Pistolensuizid nicht dazu geeignet war, die verlorene Ehre eines Adeligen zu retten. 15

Man betrachte, um hier nur ein Beispiel zu nennen, wie euphorisch sich der junge Georg Büchner über den Suizid Catos äußert. Vgl. Büchner 1999.

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MacDonald und Murphy belegen standesspezifische Präferenzen in der Wahl der Suizidmethode bereits für die frühe Neuzeit: »Peers, knights, and gentlemen made up less than 10 per cent of the reported suicides between 1660 and 1714, but they accounted for over 70 per cents of the shootings.« (MacDonald/Murphy 1990, 185) Vera Lind kommt auf Basis ihrer Daten zu einem noch deutlicheren Ergebnis: »Alle adeligen Männer, die sich im Untersuchungszeitraum selbst töteten, hielten sich an die für sie geltenden Ehrvorstellungen und töteten sich mit ihrer Waffe.« (Lind 1999, 325)

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Baumann gibt an, die Selbstertränkung sei in der Mitte des 19. Jahrhunderts die zweithäufigste Suizidmethode nach dem Erhängen gewesen. Vgl. Baumann 2001, 86. Für das Berlin der Jahre 1781-1786 kommt Mischler zu dem Ergebnis, die Selbstertränkung sei die gängigste Suizidart gewesen. Vgl. Mischler 2000, 86.

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»ein indirekter oder auch eher passiv zu nennender Tod […]. Außerdem bleibt bei dieser Todesart keine sichtbare Verletzung zurück, sie ist optisch gewaltfrei – alles Eigenschaften, die die Gesellschaft dem weiblichen Geschlechtscharakter zuschrieb.« (Lind 1999, 331) Diese Art der Selbsttötung knüpft an die alte Verbindung von Wasser und Weiblichkeit an, die seit der Antike in den mythischen Geschichten der Wasserfrauen, Nixen, Melusinen und Undinen tradiert wurde.18 An einem gewissen Punkt der europäischen Kulturgeschichte griff diese alte Verbindung von Weiblichkeit und Wasser auf das Phänomen der Selbsttötung über und formte die häufig mit Shakespeares Ophelia-Figur verbundene Vorstellung der Selbstertränkung als weibliche Art des Suizids. An der Etablierung dieser Vorstellung waren Literatur und Kunst entscheidend beteiligt, wie unter anderem Barbara Gates für das 19. Jahrhundert herausgearbeitet hat: »Suicide by drowning, a common route for those woman who did take their own lives, was the way most visual artists and many writers of the Victorian era imagined female suicide.« (Gates 1988, 135) Auch hier blieb die Vorstellung vom Wassersuizid als weiblicher Todesart nicht auf die Kunst beschränkt, sondern wirkte sich auf die realen Suizide aus. Mit Blick auf die Suizidstatistiken des 19. Jahrhunderts konstatierte Anderson: »Drowning was everywhere used more by women than men.« (Anderson 1987, 19) Dieses Ergebnis wird von den übrigen Studien bestätigt. Die Selbsttötung durch Gift genoss in der Antike zumindest unter Männern ein geringes Ansehen und wurde zumeist als »ein feiger Ausweg betrachtet« (van Hoof 2005, 26), der auch deshalb abgelehnt wurde, weil man den sogenannten Schierlingsbecher in Athen auch den zum Tod verurteilten Verbrechern ver-

18

Wie Inge Stephan anmerkt, war das Wasser schon »in der Antike, obwohl es männliche Wassergottheiten wie z.B. Poseidon gab, überwiegend weiblich konnotiert« (Stephan 1988, 246). Böhme spricht gar von einer »erotischen Verschmelzung von Frau und Wasser, wie sie seit der Antike im endlosen Strom der Nymphen, Sirenen, Undinen, Nixen vorgenommen wird« (Böhme 1988, 212). Ab dem Mittelalter beruhte die Verbindung von Weiblichkeit und Wasser, die sich in den Elementarwesen der Nymphen und Sirenen manifestierte, allerdings längst nicht mehr ausschließlich auf dem mythologischen Kosmos der Antike. Das christliche Europa hatte diese Verbindungen in seinen eigenen Geschichten zusammengeführt, vor allem in den Gestalten der Melusinen und Undinen. Die kulturelle Existenz letzterer ist spätestens in der um 1320 entstandenen Sage vom Stauffenbergergeschlecht bezeugt. Diese wurde später zu einer der Quellen für das vor 1541 entstandene Werk Liber de Nymphis, Sylphis, Pygmaeis et Salamandris et de Caeteris SpiritibusTheophrast Hohenheimensis des Arztes und Mystikers Paracelsus.

2. F ORSCHUNGSSTAND

│ 31

abreichte (vgl. Mischler 2000, 42). Im christlichen Europa war diese Suizidmethode insgesamt allerdings weniger verpönt als das Erhängen und avancierte unter anderem im Theater zu einer durchaus nicht unüblichen Art des Bühnentods. In der Realität war der Suizid durch Gift spätestens ab dem 19. Jahrhundert »always commoner among women than men« (Anderson 1987, 20) und wurde beispielsweise in Berlin mit dem flächendeckenden Aufkommen von Gasheizungen zu einer der bevorzugtesten Arten vor allem weiblicher Selbsttötung. Generell etablierte sich im Laufe der europäischen Kulturgeschichte die Vorstellung, dass sich Männer in der Regel mit den so genannten ›harten‹ und augenblicklich tödlichen Suizidmethoden das Leben nehmen (vor allem durch den Strick oder durch Schusswaffen), während Frauen die langsamer wirkenden, ›weichen‹ Methoden (vor allem die Selbstertränkung und die Vergiftung) bevorzugen (vgl. Baumann 2001, 254 sowie Lind 1999, 330). Aktuelle Suizidstatistiken legen im Übrigen den Verdacht nahe, dass solche kulturellen Vorstellungen über den Suizid bis heute eine gewisse Wirkmächtigkeit besitzen.19 Das Referat der wichtigsten, mit einzelnen Suizidmethoden verbundenen kulturellen Vorstellungen20 soll indes nicht den Eindruck vermitteln, in der vorliegenden Arbeit werde davon ausgegangen, die Verwendung der Suizidmethoden in literarischen Texten sei gänzlich durch diese kulturellen Bedeutungen determiniert. Vielmehr liegt dieser Arbeit die Annahme zu Grunde, dass die Art

19

Aus einer Untersuchung, die Stefan Rübenach für das Jahr 2006 im Auftrag des Statistischen Bundesamtes erhob, geht hervor, dass sich Frauen dreimal so häufig ertränken wie Männer, während sich andersherum Männer fast neunmal häufiger erschießen. Vgl. hierzu Rübenach 2007. Ursula Baumann zu Folge könnten die »geschlechtsspezifischen Präferenzen bei der Methodenwahl den Schlüssel für die Erklärung der unterschiedlichen Suizidraten« (Baumann 2001, 254) liefern. Sie nimmt an, dass die niedrigere Suizidrate bei Frauen das Resultat der geringeren Tödlichkeit der von Frauen verwendeten Suizidmethoden ist.

20

Neben den vier hier erörterten und empirisch wie kulturell wichtigsten Suizidmethoden existieren noch verschiedene weitere Zuschreibungen. So galt der Tod durch das Durchschneiden der eigenen Kehle lange Zeit als Resultat »religiöser Melancholie« (Lind 1999, 333). Der Tod einer Frau durch den Sprung in die Tiefe avancierte als »act of autonomy or self-assertion« (Gates 1988, 142) vor allem im 19. Jahrhundert zu einem populäreren Topos in der viktorianischen Kunst. Die Selbstverbrennung hingegen galt als so schmerzhaft, dass sie nur von Wahnsinnigen gewählt werden könne. Vgl. Osiander 1813, 184. Die Verbindung von Wahnsinn und Selbstverbrennung ist im Übrigen im antiken Mythos von Herakles bereits vorgeprägt.

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und Weise der Selbsttötung in literarischen Texten auf sehr vielfältige Weise motiviert sein kann und dass diese möglichen Motivierungen weit über eine bloße Reproduktion verbreiteter kultureller Bedeutungen hinausgehen.

3. Theorie und Methode

3.1 L ITERATURTHEORETISCHE G RUNDLAGEN 3.1.1 Literarische Suizide und die Frage der Geschehensdarstellung »Ein unschuldiges Kind warst du ja eigentlich, aber noch eigentlicher warst du ein teuflischer Mensch! – Und darum wisse: Ich verurteile dich jetzt zum Tode des Ertrinkens!‹ Georg fühlte sich aus dem Zimmer gejagt, den Schlag mit dem der Vater hinter ihm aufs Bett stürzte, trug er noch in den Ohren davon. Auf der Treppe, über deren Stufen er wie über eine schiefe Fläche eilte, überrumpelte er seine Bedienerin, die im Begriffe war, heraufzugehen [...]. Aus dem Tor sprang er, über die Fahrbahn zum Wasser trieb es ihn. Schon hielt er das Geländer fest, wie ein Hungriger die Nahrung. Er schwang sich über, als der ausgezeichnete Turner, der er in seinen Jugendjahren zum Stolz seiner Eltern gewesen war. Noch hielt er sich mit schwächer werdenden Händen fest, erspähte zwischen den Geländerstangen einen Autoominibus, der mit Leichtigkeit seinen Fall übertönen würde, rief leise: ›Liebe Eltern, ich habe euch doch immer geliebt‹, und ließ sich hinfallen.« (DU 53)

Der nur in wenigen Sätzen geschilderte Suizid Georg Bendemanns, des Protagonisten aus Kafkas Erzählung Das Urteil, zählt in der deutschsprachigen Literatur um 1900 nicht nur zu den meist interpretierten Darstellungen einer Selbsttötung,1 sondern gewiss auch zu den eigentümlichsten. Doch trotz oder gerade wegen der besonderen Merkwürdigkeit dieser Selbsttötung soll das Ende von Kafkas Erzählung als Ausgangspunkt für einige grundsätzliche Überlegungen zu literarischen Suiziddarstellung dienen.

1

Vgl. hierzu die Ausführungen im Kapitel 5.4 dieser Arbeit.

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Womit hat der Leser es in oben zitierter Passage zu tun? Rein erzähltheoretisch betrachtet schildert der Erzähler hier zunächst eine Reihe aufeinander folgender Ereignisse: Der Vater spricht das Todesurteil aus; Georg eilt aus dem Haus; Georg stößt mit der Bediensteten zusammen; Georg klettert über das Geländer der Brücke; Georg lässt sich ins Wasser fallen. Diese serielle Aneinanderreihung der einzelnen Ereignisse erfüllt wiederum die erzähltheoretische Definition eines Geschehens, denn »[d]urchläuft ein Subjekt nacheinander mehrere Ereignisse, bilden diese ein Geschehen« (Martinez/Scheffel 2003). Dieses Geschehen wiederum wird zu einer Geschichte, wenn die einzelnen Ereignisse nicht bloß chronologisch kontingent aufeinander, »sondern auch nach einer Regel oder Gesetzmäßigkeit auseinander folgen« (ebd.). Mit anderen Worten wird aus dem Geschehen erst dann eine Geschichte, wenn die »dargestellten Veränderungen motiviert sind« (ebd., 110). Eine solche Motivierung des Geschehens, die Einbettung der einzelnen Ereignisse in einen »Verursachungszusammenhang« (Martinez 1996a, 22), liegt hier für Kafkas Das Urteil sicherlich vor, denn die zum Suizid führenden Ereignisse resultieren direkt auseinander. Darüber hinaus aber scheint die Einbettung des Suizids in einen solchen Verursachungszusammenhang ein obligatorisches Element aller in dieser Arbeit betrachteten Suizide zu sein. In keinem der literarischen Texte um 1900 erscheint die Selbsttötung als ein vom restlichen Geschehen isoliert stehendes Ereignis. Der Suizid der Protagonisten ist stets das Ergebnis eines vorangehend dargestellten Geschehens, mit dem die Selbstauslöschung der Figuren auf unterschiedliche Weise verknüpft ist. Die Suizide literarischer Figuren sind also stets Teil eines irgendwie motivierten Geschehens. Gleichzeitig ist damit aber auch die Entscheidung für eine bestimmte Todesart Teil dieses Geschehens.2 Denn jedes Mal, wenn sich eine Figur ertränkt, erschießt oder vergiftet, wird im Text aus einem bestimmten Möglichkeitshorizont eine bestimmte Art der Selbsttötung ausgewählt, die den Vorzug vor allen anderen, zumindest theoretisch ebenfalls noch möglichen Suizidmethoden erhält.3 In manchen Texten wie Theodor Fontanes Stine wird auf diese Auswahl verwiesen:

2

Auf diese Sichtweise auf den Suizid bzw. die Suizidmethode als Teil eines dargestellten Geschehens rekurriert die von mir im Folgenden zuweilen verwendete und leicht verknappende Formulierung, die Selbsttötung bzw. die Art der Selbsttötung in einem literarischen Text sei auf eine bestimmte Weise motiviert.

3

Auch wenn die Autorintention für meine späteren Analysen keine relevante Kategorie markiert, so sind es letztlich dennoch die ihre Texte organisierenden Autoren, die – ob bewusst oder unbewusst sei dahingestellt – die Todesarten ihrer Figuren auswählen.

3. T HEORIE UND M ETHODE

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»Auf seinem Schreibzeug lag ein kleiner Revolver, zierlich und mit Elfenbeingriff. Er nahm ihn in die Hand und sagte: ›Spielzeug. Und tut es am Ende doch. Bei gutem Willen ist viel möglich; ›mit einer bloßen Nadel‹, sagt Hamlet, und er hat recht. Aber ich kann es nicht. […] Nein, ich erschrecke davor, trotzdem ich wohl fühle, daß es standesgemäßer und Haldernscher wäre. Doch, was tutʼs! Die Halderns, die mir schon so viel zu vergeben haben, werden mir auch das noch verzeihen müssen. Ich habe nicht die Zeit, mich über Punkte wie diese zu grämen.‹ Und er legte den Revolver wieder aus der Hand. ›Ich muß es also anders versuchen‹, fuhr er nach einer Weile fort.« (ST, 104)

Kurz darauf vergiftet sich der Protagonist mit einer Überdosis Schlafpulver. Fontanes Novelle rekurriert in dieser Passage direkt auf die Auswahl der Suizidmethode aus einem bestimmten Möglichkeitshorizont, indem dieser Vorgang selbst wiederum als eine Ereignisfolge (der Protagonist nimmt den Revolver in die Hand, führt danach einen Monolog, legt den Revolver wieder beiseite und vergiftet sich schlussendlich) dargestellt wird. Diese explizite Verknüpfung der einzelnen Ereignisse markiert indes eher eine Ausnahme, denn wie Martinez und Scheffel bemerken, wird »die Motivation der Ereignisse […] im Text selten explizit ausgesprochen« (Martinez/Scheffel 2003, 112). Doch auch dort, wo Texte die Verknüpfungen einzelner Ereignisse nicht explizieren, sind diese Verknüpfungen »nicht etwa ›nicht vorhanden‹, sondern ›unbestimmt vorhanden‹« (Martinez 1996a, 25). Auch in solchen Fällen ist das Geschehen motiviert, nur wird diese Motivierung lediglich implizit vermittelt und kann vom Leser, beispielsweise durch einen Rückgriff auf sein empirisches Weltwissen, in der Interpretation gegebenenfalls erschlossen werden. Ferner findet auch in solchen Texten eine Auswahl der Suizidmethode statt, in denen diese Auswahl nicht wie in Stine in einer eigenen Ereignisfolge explizit gemacht wird. Wenn zum Beispiel in Kafkas Erzählung Georgs Vater am Ende sagt »und darum wisse: ich verurteile dich jetzt zum Tode des Ertrinkens!« (DU 53), so deutet bereits das Kausaladverb ›darum‹ auf einen vorangehend entfalteten Zusammenhang zwischen dem im Text dargestellten Geschehen und dem titelgebenden Urteil hin. Dieser Zusammenhang aber erstreckt sich nicht bloß auf den Suizid als solchen, sondern auch auf die konkrete Methode der Selbsttötung, die im Text – so darf man wohl annehmen – nicht ohne Grund genannt wird. Die Todesart hier nicht für motiviert zu halten hieße, diese zum Resultat reinen Zufalls zu erklären, wogegen sich in Abwandlung des gemeinhin Einstein zugeschriebenen Zitats mit Blick auf die Suizidmethoden einwenden ließe: Kafka würfelt nicht.4

4

Gegen die Annahme einer reinen Kontingenz literarischer Suizidmethoden sprechen neben den verschiedenen Hinweisen auf eine klar umrissene Bedeutung dieser Me-

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Kurzum: Die in dieser Studie untersuchten Suizide betrachte ich stets als Teil eines literarisch dargestellten, verknüpften und damit motivierten Geschehens. Da jedem der hier betrachteten Suizide nolens volens die Bevorzugung einer Todesart gegenüber allen anderen inhärent ist,5 so ist damit auch die Suizidart Teil dieses Geschehens und damit ihrerseits in irgendeiner Weise motiviert. Dies gilt im Übrigen nicht nur für epische, sondern auch für dramatische Texte, denn beide Gattungen sind ihrem Wesen nach geschehensdarstellend.6 Wenn in Schillers eingangs erwähntem Drama Die Räuber Franz Moor am Ende erst einen Degen auf sich richtet, sich dann über sein Erschrecken vor der berühmten bohrenden Spitze wundert, den Degen schließlich wieder aus der Hand legt und sich stattdessen mit einer Hutschnur erdrosselt, so hat der Leser es auch hier mit einem verknüpften und motivierten Geschehen zu tun. Folgerichtig erachten daher auch Martinez und Scheffel das Konzept der Geschehensmotivierung als ebenfalls tragfähig für die Analyse von Dramen: »Unter Motivierung verstehen wir den Inbegriff der Beweggründe für das in einem erzählenden oder dramatischen Text dargestellte Geschehen.« (Martinez/Scheffel 2003, 110) Wenn ich in dieser Arbeit der Bedeutung und Funktion von Suizidmethoden in dramatischen und epischen Texten nachspüre, so scheint es mir also mit Blick auf die vorangegangen

thoden innerhalb literarischer Werke auch eine Reihe biographischer Zeugnisse verschiedener Schriftsteller. Über Gerhart Hauptmann ist bekannt, dass er jahrelang die Zeitungsmeldungen verschiedener kurioser Suizide ausgeschnitten und die einzelnen Suizidmethoden unterstrichen hat. Vgl. Meier 2005, 154-163. Und Frank Wedekind hält in seinen Tagebüchern über ein Treffen mit Hauptmann fest: »Während des Verdauens wird mit lebhafter Teilnahme die Frage ventiliert, welche Art von Selbstmord die bequemste sei.« (Wedekind 1986, 39) Gleichwohl will ich damit nicht behaupten, Autoren seien sich immer und jederzeit völlig darüber bewusst, warum sie sich in ihren Texten für oder gegen bestimmten Suizidmethoden entscheiden. Ebenso scheint es möglich, dass solche Entscheidungen unbewusst getroffen werden und beispielsweise durch nicht reflektierte kulturelle Vorstellungen beeinflusst sind. Doch auch in solchen Fällen läge eine bestimmte Form der Determiniertheit eines Suizids vor, die weit mehr ist als bloße Kontingenz. 5

Die einzige Möglichkeit, dies zu verhindern, besteht darin, zwar den Suizid zu schildern oder anzudeuten, die Suizidmethode aber im Text zu verschweigen. Tatsächlich machen einige literarische Texte um 1900 davon auch Gebrauch, so etwa Hauptmanns Fuhrmann Henschel (1898) oder Schnitzlers Andreas Thameyers letzter Brief (1900).

6

Ausführlich zur Frage der Geschehensdarstellung in Drama und Epik vgl. Korthals 2003, 86-183.

3. T HEORIE UND M ETHODE

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Ausführungen vielversprechend, zu untersuchen, wie diese Suizidmethoden innerhalb des dargestellten Geschehens motiviert sind. 3.1.2 Drei Arten der Geschehensmotivierung Matías Martinez hat im Rahmen seiner Dissertation Doppelte Welten systematisch die verschiedenen Möglichkeiten der Geschehensmotivierung7 untersucht. In seinen Überlegungen bezieht sich Martinez auf die bereits 1932 von Clemens Lugowski eingeführte, dann aber lange Zeit kaum rezipierte Unterscheidung zwischen einer ›Motivation von hinten‹ und einer ›Motivation von vorne‹. Während Lugowskis ›Motivation von vorne‹ noch deckungsgleich mit Martinez kausaler Motivierung ist, unterteilt dieser Lugowskis ›Motivation von hinten‹ in die beiden Fälle einer finalen und einer kompositorischen Motivation. Jede dieser drei Arten der Motivation bietet einen spezifischen Typ von Erklärung für die Verknüpfungen einzelner Ereignisse zu einem sinnhaften Zusammenhang. Die kausale Motivierung versucht vor allem das Figurenhandeln, aber auch »nichtintendierte Handlungsfolgen, Handlungsgemengelagen und Geschehnisse ohne Beteiligung intentionsbegabter Agenten« (Martinez 1996a, 22) als das Ergebnis eines kausalen Verursachungszusammenhanges zu erklären. Die auseinanderfolgenden Ereignisse stehen in einem »Ursache-WirkungsZusammenhang [...], der als empirisch wahrscheinlich oder zumindest möglich gilt« (Martinez/Scheffel 2003, 111). Diese Art der Motivation bezieht sich auf den Realgrund, auf die Ursache der Verknüpfung von Einzelereignissen. Sie fragt nach den Zusammenhängen der einzelnen Ereignisse innerhalb der erzählten Welt,8 wobei der Fragemodus der des »kausalempirischen warum?« (vgl. Martinez 1996b, 17) ist. Mit Blick auf das Ende von Kafkas Urteil würde die Frage nach der kausalen Motivierung lauten, warum sich Georg ertränkt. Die notwendige Antwort: weil der Vater ihm diese Todesart auferlegt‹, integriert die einzelnen Ereignisse in einen kausalen Zusammenhang, der gemessen an den ›Spielregeln‹ der Diegese wie auch der empirischen Realität zumindest nicht gänzlich unmöglich erscheint.9 Dabei werden diese ›Spielregeln‹ der erzählten

7

Die Begriffe Motivierung und Motivation werden im Folgenden synonym verwen-

8

Martinez und Scheffel bevorzugen den Begriff der erzählten Welt gegenüber dem

det, wie dies auch bei Martinez der Fall ist. synonymen Terminus Diegese. Dieser begrifflichen Unterscheidung folge ich in dieser Arbeit weitgehend. 9

Dieser kausale Zusammenhang erscheint hier zwar vielleicht nicht als unmöglich, aber doch zumindest als sehr unwahrscheinlich, weshalb ich eingangs davon sprach,

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Welt vom Text »meist nur implizit vorausgesetzt statt explizit behauptet« (Martinez 1996a, 24). Handelt es sich um literarische Texte mit einem ›realistischen Anspruch‹, so unterliegt die Diegese dieser Texte in der Regel den gleichen Gesetzmäßigkeiten, die der Leser auch für die eigene Lebenswelt annimmt. Die kausale Motivierung ist damit in gewisser Weise, wie Phillip Ajouri anmerkt, eine Form realistisch illusionsbildender Motivierung (vgl. Ajouri 2006, 442).10 Die kompositorische Motivierung11 hingegen »folgt nicht empirischen, sondern künstlerischen Kriterien« (Martinez/Scheffel 2003, 114). Diese Art der Motivierung liegt immer dann vor, wenn die Ereignisse »der narrativen Welt allein durch ihre Funktion im intentionalen Zusammenhang des gesamten Werkes motiviert sind« (Jannidis 2004, 223). Nach der kompositorischen Motivierung fragt der Interpret nicht im Modus des kausalempirischen ›warum‹, sondern im Modus des handlungsfunktionalen ›wozu‹. Die Frage an Kafkas Das Urteil lautet in diesem Fall also nicht, warum sich Georg ertränkt, sondern wozu diese Art des Todes im Text dient. Ein und dasselbe Geschehen kann dabei gleichzeitig kompositorisch und kausal motiviert sein, denn beide Arten der Motivierung schließen sich nicht gegenseitig aus. Sie sind vielmehr grundsätzlich inkommensurabel, das heißt »sie betreffen verschiedene Aspekte des Textes und können deshalb nebeneinander bestehen« (Martinez 1996a, 27). Diese Inkommensurabilität hängt mit dem zusammen, was Martinez die »doppelte epistemische Struktur narrativer Texte« (ebd., 26) nennt. Gemeint ist damit, dass ein literarischer Text

die Selbsttötung im Urteil sei eigentümlich. Die gegebene Antwort, Georg ertränke sich, weil der Vater ihm dies befohlen habe, ist insofern unbefriedigend, als dass sie zwei weitere Fragen offen lässt. Warum befolgt Georg erstens den Befehl des Vaters, obwohl er selbst keinen Todeswunsch hegt? Warum entscheidet sich der Vater zweitens ausgerechnet für den Tod durch Ertrinken? Diese tiefergreifenden Fragen lassen sich aus den Zusammenhängen der Ereignisse innerhalb der erzählten Welt nicht plausibel beantworten. Das Geschehen am Ende der Erzählung ist damit in gewisser Weise kausal untermotiviert. Es scheint so, als sei hier noch eine andere Art der Motivierung vorhanden. 10

Realistisch ist diese Illusion indes nur für Texte, die ihrerseits einen realistischen Anspruch haben, d.h. die in gewisser Weise die Realität nachahmen. Fantastische Texte hingegen erzeugen zwar auch eine bestimmte Illusion. Dieser ist allerdings in der Regel kein (vollständig) realistischer Anspruch unterlegt, weil der Leser es in diesen Texten mit einem anderen Typus erzählter Welt zu tun hat. Vgl. hierzu das Kapitel zu den erzählten Welten in Martinez/Scheffel 2003, 123-134.

11

Die gelegentlich von Martinez auch als ästhetische Motivierung bezeichnet wird. Vgl. Martinez/Scheffel 2003, 114.

3. T HEORIE UND M ETHODE

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zwei sich ausschließende Perspektiven vereint. Da wäre erstens die »chronikalisch-zeitgenössische Agentenperspektive« (ebd.) der in der erzählten Welt handelnden Figuren. Aus dieser Perspektive stellt sich das sich in actu vollziehende Geschehen als unabgeschlossen dar, das heißt, es existiert ein durch bestimmte Gesetzmäßigkeiten definierter Möglichkeitsraum, innerhalb dessen der Fortgang der Ereignisse offen ist. Zweitens gibt es eine analytisch-retrospektive Perspektive, die in epischen Texten oft deckungsgleich mit der Perspektive der Erzählinstanz ist, weshalb Martinez auch von der »Erzählerperspektive« (ebd.) spricht.12 Aus dieser vom Ende aus zurückblickenden Perspektive ist das Geschehen vollständig determiniert, weil es »von der ersten Zeile an mit Bezug auf ein geschlossenes Plot-Schema« (ebd., 27) angelegt ist. In dieser Perspektive existiert (anders als in der Agentenperspektive) kein Raum für Zufälle, der Möglichkeitshorizont ist geschlossen, das Geschehen vollständig arrangiert bzw. komponiert. Bestimmte, mit diesen Arrangements verbundene Versprechen manifestieren sich bereits in den Genrenamen der einzelnen Textsorten. So kann die erzählte Zeit im Bildungsroman nie nur einen Tag im Leben des Protagonisten umfassen und die Tragödie kann per definitionem nicht anders als tragisch enden. Die kausale Motivierung ist der Agentenperspektive verpflichtet, die kompositorische Motivierung hingegen der Erzählerperspektive. Die kompositorische Motivierung ist ferner in gewisser Hinsicht antiillusionistisch, weil sie dort, wo sie erkennbar wird, den Statuts des Kunstwerks als ein ›gemachtes‹ Artefakt enthüllt und – gemäß eines Ausspruchs von Gottfried Keller – den Versuch des Künstlers unterminiert, »die Regeln der Kunst als Regeln der Realität auszugeben« (Keller 1989, 236). Da aber vor allem in Texten mit ›realistischem‹ Anspruch ein und dasselbe Ereignis oft sowohl kausal als auch kompositorisch motiviert ist, bleibt die Illusion des Textes gewahrt, denn die kausale Motivierung überdeckt gewissermaßen die kompositorische. Im Übrigen können auch solche Ereignisse kompositorisch motiviert sein, die nicht unmittelbar als Movens der Handlung fungieren, sondern der Ebene des Erzählens, den konkreten Darstel-

12

Der Begriff der Erzählerperspektive ist allerdings insofern etwas irreführend, als sich eine analytisch-retrospektive Perspektive auch im Drama findet, wo es keinen Erzähler im eigentlichen Sinne gibt. Ferner sind auch in der Epik durchaus Fälle denkbar, in denen die Perspektive des Erzählers nahezu deckungsgleich mit der Agentenperspektive ist. Eigentlich wäre der Begriff der ›Autorperspektive‹ zur Bezeichnung viel besser geeignet, wenngleich man sich damit all die Schwierigkeiten einkauft, die im Zusammenhang mit der Diskussion über den ›Tod des Autors‹ verhandelt werden.

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lungsverfahren oder einem bestimmten Stil zuzurechnen sind.13 So wäre beispielsweise eine auf das Ende des Protagonisten verweisende Natur- oder Farbsymbolik ebenfalls Teil der Komposition und damit ggfs. kompositorisch motiviert. Als dritte Form der Motivation führt Martinez schließlich die finale Motivation ein. Von einem final motivierten Geschehen lässt sich sprechen, wenn innerhalb der erzählten Welt eine organisierende göttlich-numinose Instanz existiert, die das Geschehen lenkt. Diese Art der Motivation »nimmt eine Mittelstellung zwischen kausaler und kompositorischer Motivation ein. Mit der kausalen Motivation hat sie gemeinsam, daß sie ontologische Aussagen macht über Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge der erzählten Welt. Mit der kompositorischen Motivation hat sie gemeinsam, daß sie die logische Struktur narrativer Sätze hat, nämlich eine epistemische Position voraussetzt, die dem Geschehen über zukünftig ist.« (Martinez 1996a, 28f.)

Da kausale und finale Motivierung auf der gleichen Ebene, nämlich innerhalb der erzählten Welt, angesiedelt sind, markieren sie miteinander unvereinbare Alternativen. Ein und dasselbe Ereignis kann beispielsweise nicht gleichzeitig Zufall und göttliche Fügung sein, denn der Möglichkeitshorizont ist entweder offen oder geschlossen, aber nicht beides zugleich.14 Mit der kompositorischen Motivierung hingegen ist die finale Motivation vereinbar. Beiden Arten der Motivierung ist eine Vorbestimmtheit des Handlungsverlaufs gemein. Durch die das Geschehen final motivierende, göttliche Instanz werde gar, wie Martinez konstatiert, »die komponierende Kraft und die retrospektive Kompetenz des Autors in der erzählten Welt selbst repräsentiert« (Martinez 1996a, 28). Kompositorische und finale Motivierung sind damit kongruent und können folglich nebeneinander bestehen, da sie auf unterschiedlichen Ebenen des Textes angesiedelt sind.

13

In der Begrifflichkeit von Todorov könnte man hier vom discours sprechen. Martinez und Scheffel bevorzugen hingegen den Begriff der Darstellung, wobei sie »innerhalb des Feldes Darstellung zwischen ›Erzählung‹ und ›Erzählen‹« (Martinez/Scheffel 2003, 24) eine Unterscheidung machen. In dieser Aufgliederung des discours-Begriffes folgen sie Genette, der seinerseits die Ebene des discours in récit und narration unterteilt.

14

Es existieren allerdings einige literarische Texte, die genau diese beiden unvereinbaren Arten der Motivierung unaufgelöst nebeneinander stehen lassen. Martinez spricht hier von jenen ›doppelten Welten‹, die er in seiner Dissertation genauer untersucht.

3. T HEORIE UND M ETHODE

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Was bedeuten diese Überlegungen zur Geschehensmotivierung nun aber konkret für eine Analyse der verschiedenen Suizidmethoden? Allgemein kommt zunächst jede der einzelnen Motivierungsarten dafür in Frage, die Todesart des Protagonisten zu determinieren. Diese ist mit Sicherheit in jenen Fällen final oder kausal motiviert, in denen sie sich als das Resultat eines UrsacheWirkungs-Zusammenhanges erklären lässt. Dieser muss im Text allerdings nicht zwangsweise explizit gemacht werden, sondern ist möglicherweise nur »unbestimmt-vorhanden« (Martinez/Scheffel 2003, 113) und muss vom Leser in der Lektüre erst im Rückgriff auf ein bestimmtes Weltwissen erschlossen werden. Grundsätzlich muss sich im Falle einer kausalen oder finalen Motivierung eine Antwort auf die Frage finden lassen, warum sich ein Protagonist auf eine bestimmte Weise das Leben nimmt. Sollte der Text keinerlei Deutungsangebote machen, die sich als Hinweise auf das Wirken einer numinosen Macht innerhalb der erzählten Welt verstehen lassen, so kommt eine finale Motivierung der Todesart auch grundsätzlich nicht in Betracht. Im Fall der kompositorischen Motivierung müsste man hingegen in der Analyse des Textes eine bestimmte Funktion der Suizidmethode für die Gesamtkomposition des Textes nachweisen können. In diesem Fall gilt es, eine plausible Antwort auf die Frage zu finden, wozu die Todesart eines Protagonisten im Zusammenhang mit der Textkomposition dient. Da Suizide in der Regel am Ende der Handlung situiert sind, scheint hier die Annahme plausibel, dass sich die Suizidmethode im Falle einer kompositorischen Motivierung in irgendeiner Form auf im Text vorangegangene Elemente der Komposition bezieht. Auch eine doppelte Motivierung von Suizidmethoden ist möglich, denn wie ausgeführt schließen sich die kompositorische Motivation auf der einen und die finale und kausale Motivierung auf der anderen Seite nicht gegenseitig aus. Dementsprechend gilt es also, stets alle Möglichkeiten der Motivierung einer Todesart zu überprüfen und sich beispielsweise den Blick auf die Komposition auch dann nicht zu sparen, wenn bereits eine kausale oder finale Motivierung nachgewiesen werden konnte. Das Konzept der Geschehensmotivierung hilft dabei, die Analyse der Suizidmethoden zu systematisieren und die Untersuchung literaturtheoretisch zu fundieren. Gleichwohl aber scheint dieses Konzept für sich genommen immer noch zu unspezifisch, um damit ein komplexes Phänomen wie die Semantik und literarische Funktion der Selbsttötung adäquat in den Blick zu bekommen. Alleine im Falle der kausalen Motivierungen existiert eine schier unübersehbare Vielzahl von möglichen Kausalzusammenhängen, in welche die Suizidmethode eingebunden sein kann. Diese Zusammenhänge werden, wie ausgeführt, längst nicht immer (möglicherweise sogar in der Minderheit der Fälle) vom Text explizit gemacht und müssen stattdessen oft im Rückgriff auf ein bestimmtes, zeitge-

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nössisches Welt- und Kulturwissen erst erschlossen werden. Um diese Rekonstruktionsleistung in der Analyse zu erbringen, reicht meines Erachtens ein alleiniger Zugang über das zwar sehr umfassende, dafür aber an manchen Stellen zu wenig tiefenscharfen Konzept der Geschehensmotivierung nicht aus. Um den Fokus der Untersuchung zu schärfen, scheint es mir in diesem Zusammenhang hilfreich, zunächst auf allgemeiner Ebene die Formierung des kulturellen Wissens um den Suizid bzw. die Suizidmethoden zu betrachten. In einem zweiten Schritt werde ich dann überlegen, ob ich den methodischen Zugriff über die Geschehensmotivierung sinnvoll um ein weiteres theoretisches Konzepte ergänzen kann.

3.2 D IE V ERDOPPLUNG DER ANALYSEOPTIK 3.2.1 Zur Zweckmäßigkeit einer Figurenanalyse: kulturelle Suizidvorstellungen Spätestens seit dem Ende des 18. Jahrhunderts finden sich im Sprechen über den Suizid auch Äußerungen, welche ein explizites Wissen über die Bedeutung einzelner Suizidmethoden formulieren. Über die im Forschungsstand bereits angestellten Betrachtungen zu den Suizidmethoden hinaus, werden im Folgenden nun einige der zeitgenössischen Perspektiven des späten 18. und 19. Jahrhunderts kurz umrissen. Immanuel Kant, der gewiss kein Befürworter des Suizids war, unterteilte in seiner 1798 erschienen Schrift Anthropologie in pragmatischer Hinsicht die Suizidmethoden in solche, die Ausdruck von Mut und charakterlicher Stärke seien und jene, die aus Feigheit und Schwäche gewählt würden. Kant formuliert: »Wenn das dazu gewählte Mittel plötzlich und ohne mögliche Rettung tötend ist, wie z.B. der Pistolenschuß […]: so kann man dem Selbstmörder den Mut nicht streiten. Ist es aber der Strang, der noch von anderen abgeschnitten, oder gemeines Gift, das durch den Arzt noch aus dem Körper geschafft, oder ein Schnitt in den Hals, der wieder zugenäht und geheilt werden kann, […] so ist es feige Verzweiflung aus Schwäche, nicht rüstige, welche noch Stärke der Gemütsverfassung zu einer solchen Tat erfordert.« (Kant 2000, 178f.)

Im 1814 veröffentlichten, dritten Teil seiner Autobiographie Dichtung und Wahrheit stellt auch Goethe einige Betrachtungen zu den verschiedenen Möglichkeiten des Suizids an. Fast apodiktisch bemerkt er: »Frauen suchen im Wasser die Kühlung ihres Verzweifelns« (Goethe 1986, 635), wohingegen das Er-

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hängen eine verpönte Methode sei, »weil es ein unedler Tod ist« (ebd.). Den Suizid durch Gift oder das Öffnen der Pulsadern wähle, wer langsam aus dem Leben zu scheiden gedenke, wobei der »Tod durch eine Natter [...] einer Königin würdig« (ebd.) sei, was eine Anspielung auf das Schicksal Kleopatras ist. Als einzig nachahmungswürdige Tat aber erscheint Goethe die Selbsttötung Kaiser Ottos, der sich »einen scharfen Dolch mit eigner Hand in das Herz gestoßen« (ebd., 636) habe. Ein Jahr vor Goethe hatte sich bereits der Medizinprofessor Friedrich Benjamin Osiander in seiner in den Debatten um den Suizid häufig rezipierten Schrift Über den Selbstmord intensiv mit den einzelnen Todesarten auseinandergesetzt. Osiander zu Folge sei beispielsweise das Erhängen nicht nur der »Judas Ischariots-Tod« (Osiander 1813, 128), sondern auch die »sehr gewöhnliche Todesart gemeiner, melancholischer und desperater Leute« (ebd.). Das Erschießen sei der »Militär-, Renommißten- und Genie-Tod« (ebd., 138), wohingegen der Suizid durch Nahrungsverweigerung als »Selbstmord der Geizhälse und Negersklaven« (ebd., 170) angesehen wird. Der Tod durch Öffnen der Pulsadern und Durchtrennen der Kehle käme nur für »fromme Schwärmer, höchstbeklommene Melancholiker und desperate Gefangene« (ebd., 152) in Frage, während die Selbstverbrennung als Todesart nur von ausgemachten Verrückten gewählt würde (vgl. ebd., 184). Aus dem Jahr 1838 stammt ein aufschlussreicher Beitrag eines vornamentlich nicht näher genannten Dr. Diez, der die einzelnen Selbsttötungsmethoden mit bestimmten Krankheitszuständen in Verbindung setzt. So sei die Selbstertränkung das Resultat eines Nervenfiebers, welches »die Kranken als Selbstmörder in Flüsse und Brunnen« (Diez 1838, 203) treibe. Das Erschießen gilt Diez als Todesart von »Personen, die von heftigen Kopfschmerzen gequält werden« (ebd., 204), wohingegen das freiwillige Verhungern von Menschen gewählt würde, bei denen eine »Störung der Verdauungsfähigkeit« (ebd., 205) vorliege. Auch gegen Ende des 19. Jahrhunderts finden sich in den Diskursen Äußerungen über die einzelnen Suizidmethoden. So konstatiert Alexander von Oettingen 1881, »daß bei relativ edleren Beweggründen (wie unglückliche Liebe, Kummer über Andere, Scham und Reue) auch das so zu sagen noblere Mittel, die Schusswaffe und das Gift, gebraucht werden« (von Oettingen 1881, 19).15 Eugen Rehfisch schließlich kommt 1893 zu dem Ergebnis, der Suizid durch Erschießen sei »Privilegium der besitzenden Classe und aller derer, die durch ihre

15

Ganz ähnlich formuliert Hans Rost noch 1927: »In hypothetischer Verallgemeinerung läßt sich vielleicht sagen, daß der Selbstmörder, den ein elendes Motiv treibt, auch zu einem unedlen Mittel greifen wird, während edle Selbstmordmotive auch zu nobleren Mitteln führen.« (Rost 1927, 251)

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Stellung mit Waffen vertraut sind« (Rehfisch 1893, 115). Ähnliche Aussagen finden sich zum Teil auch in literarischen Texten der Zeit, beispielsweise in Fontanes bereits erwähnter Novelle Stine. In seiner Reflektion über die zu wählende Todesart sinniert hier der Protagonist Waldemar von Haldern darüber »daß es standesgemäßer und Haldernscher wäre« (ST 104), sich zu erschießen, womit er eine gesellschaftliche Konvention hinsichtlich der Suizidmethode andeutet. Die angeführten Beispiele bieten nur einen schlaglichtartigen Einblick in die Vielzahl der in verschiedenen Diskursen erscheinenden Äußerungen zum Suizid. Dennoch genügt dieser Einblick in das kulturelle Wissen über die Bedeutung bestimmter Todesarten, um daraus einige Beobachtungen abzuleiten, aus denen sich methodische Konsequenzen für diese Arbeit ergeben. Der ersten Beobachtung nach ist die Suizidmethode in all diesen Äußerungen stets kausal verknüpft mit dem suizidalen Subjekt, wobei die Art dieser Kausalität variiert. Aus Kants Perspektive ist die gewählte Todesart Ausdruck bestimmter charakterlicher Eigenschaften des Suizidenten wie Mut oder Feigheit, Stärke oder Schwäche. Bei Goethe erscheinen einige Todesarten als geschlechtsabhängig, andere wiederum als Ausdruck charakterlicher Eigenschaften wie Würde oder (fehlendem) Edelmut. Osiander bringt die Suizidmethoden sowohl mit bestimmten soziokulturellen und beruflichen Positionen in Verbindung, als auch mit verschiedenen Krankheitszuständen. Diez hingegen betrachtet die Todesart eines Suizidenten als gänzlich durch dessen Krankheit determiniert. Am Ende des 19. Jahrhunderts macht von Oettingen die subjektiven Motive des Suizids als Faktor für die Wahl der Todesart stark, während Rehfisch und auch Hauptmann die Bedeutung der sozialen Position wie Klassen- oder Standeszugehörigkeit betonen. Dem suizidalen Subjekt äußere Faktoren wie beispielsweise die Jahreszeit, das Klima oder historisch-politische Rahmenbedingungen wie Kriegs- oder Friedenszeiten werden hingegen von keinem der Autoren als relevante Kategorien genannt.16 Innerhalb des kulturellen Wissens um die Selbsttötung scheint es also eine Tradition zu geben, in der die Todesart als etwas angesehen wird, das direkt aus

16

Möglicherweise mögen diese externen Faktoren auf den ersten Blick abwegiger scheinen, als sie wirklich sind. Denn tatsächlich ist der Einfluss dieser Faktoren auf den Suizid in den soziologischen Untersuchungen vor allem seit Durkheim durchaus untersucht worden. Dabei wurden schwächere Einflüsse bestimmter externer Faktoren wie der Jahreszeit auf die Auswahl der Suizidmethode festgestellt. Allerdings haben solche, in verschiedenen Spezialdiskursen generierte Ergebnisse erstens kaum Eingang in das kulturelle Wissen gefunden und zweitens wird in diesen Untersuchungen solchen externen Faktoren gegenüber den direkt das Subjekt betreffenden Einflüssen (Geschlecht, Beruf, etc.) eine deutlich nachrangige Rolle eingeräumt.

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dem suizidalen Subjekt selbst resultiert. Stark vereinfacht gesagt: Auf welche Weise sich jemand das Leben nimmt, hängt davon ab, wer dieser jemand ist und in welchem Zustand er sich befindet. Wenn man nun davon ausgeht, dass dieses kulturelle Wissen jeher schon von literarischen Texten rezipiert und (mit)produziert wird, so scheint die Annahme plausibel, dass auch in vielen literarischen Texten ein bestimmter Zusammenhang zwischen der gewählten Suizidmethode und der suizidalen Figur bestehen könnte. Wenn man ferner einen solchen Zusammenhang nicht nur für möglich, sondern für gängig erachtet, so wird man gewiss wenig Einwände gegen den Vorschlag vorzubringen wissen, den Fokus der literaturwissenschaftlichen Beobachtung auf die suizidalen Figuren zu legen und diese einer Figurenanalyse zu unterziehen. Genau dies beabsichtige ich in der vorliegenden Arbeit. Aus dieser methodischen Entscheidung resultiert die weiterführende Frage, welche Art der Figurenanalyse dem Gegenstand angemessen ist. Hier scheint es mir sinnvoll, eine Art der Figurenanalyse zu wählen, die aktuellen wissenschaftlichen Standards entspricht und welche überdies auch dem zeitgenössischen Wahrnehmungsparadigma17 des Suizids um 1900 Rechnung trägt und sich nicht etwa ahistorisch zu diesem verhält.18 3.2.2 Grundlagen eines sozial-historischen Zugangs: Der Suizid als fait social Der Einblick in die Debatte über die Suizidmethoden gestattet noch eine weitere Beobachtung: Zwischen dem Ende des 18. und dem Ende des 19. Jahrhundert vollzog sich eine grundsätzliche Veränderung der Thematisierung der Selbsttötung. Nicht zufällig betrachteten die Autoren zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Suizidmethoden vor allem als Ausdruck bestimmter Krankheitsbilder, während die Autoren an der Schwelle zum 20. Jahrhundert die Bedeutung gesellschaftlicher Faktoren betonten. Dieser Wandel hing zusammen mit einer Verschiebung des Wahrnehmungsparadigmas, unter dem das Phänomen der Selbsttötung betrachtet wurde. Solche Verschiebungen der diskursiven Perspektiven auf den Su-

17

Mit dem Begriff des Wahrnehmungsparadigmas folge ich der Deutung Baumanns, die von »unterschiedlichen Paradigmen und Modelle[n] des Suizids in der abendländischen Geschichte« (Baumann 2001, 380) spricht. Vgl. hierzu auch Brunner 2007, 15.

18

Dies könnte man beispielsweise einer psychoanalytischen Perspektive vorwerfen, die in Anbetracht des Textkorpus nahezu zwangsweise in eine ›avant-la-lettreArgumentation‹ verfallen müsste, da der größte Teil der literarischen Texte deutlich vor Freuds Traumdeutung (1900) erschienen ist.

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izid hat es in der Geschichte der Selbsttötung mehrfach gegeben, wobei die für die vorliegende Arbeit relevanten im Folgenden nur kurz referiert werden können. Seit dem christlichen Verbot der Selbsttötung im fünften Jahrhundert wurde der Suizid unter dem kirchlichen Dogma für lange Zeit als ein religiöses und moralisches Problem verhandelt. Das für die Selbsttötung bemühte Erklärungsmodell war denkbar simpel: nahm sich ein Individuum das Leben, stand es unter dem Einfluss des Teufels, unter den es durch einen liederlichen und gottesfernen Lebenswandel geraten sein musste.19 Die Institutionen der Gesellschaft rächten sich an diesem fehlgeleiteten Individuum, indem sie dem Suizidenten ein ordentliches Begräbnis verweigerten und dessen Leiche auf mannigfaltige Art und Weise schändeten (vgl. Mischler 2000, 61f.). Im Laufe des Mittelalters und zunehmend ab dem 14. Jahrhundert etablierte sich daneben langsam eine alternative und zunächst apologetische Erklärung für die Selbsttötung, welche als weitere Ursache für den Suizid (neben dem Einfluss des Teufels) auch den Wahnsinn gelten ließ. Beide Erklärungsmodelle koexistierten für einige Jahrhunderte, doch im Verlauf der frühen Neuzeit gewann die Deutung des Suizids als Resultat bestimmter Krankheitszustände zunehmend an Bedeutung.20 Spätestens in der Aufklärung war die Dominanz des alten Paradigmas vom Suizid als Werk des Teufels endgültig überwunden, die Selbsttötung wurde nun vorrangig als ein »medizinisches und psychologisches Problem« (ebd., 77) begriffen. Infolgedessen kam es zu einer »Entpönalisierung des Suizids« (Schreiner 2003, 280), die einherging mit einer gleichzeitigen Pathologisierung der Selbsttötung. Im gleichen Maße, wie sich diese Perspektive auf den Suizid durchsetzte, waren es nicht mehr nur wie ehedem Philosophen und Theologen, die sich mit diesem Phänomen befassten, sondern in zunehmendem Maße auch Mediziner. Wenn nun im Zuge dieses Paradigmenwechsels auch die einzelnen Suizidmethoden als Ausdruck pathologischer Zustände angesehen wurden, so ist dies folglich wenig verwunderlich.

19

Mischler verortet den Beginn dieser Sichtweise für das Jahr 452: »Das Konzil von Arles erklärt 452, daß Selbstmörder diabolico repletus furore, d.h. vom Teufel besessen sein.« (Mischler 2000, 48) Noch bei Luther sei diese Sicht auf den Suizid vorherrschend gewesen, habe der Reformator doch selbst bekundet, er sei »gewöhnlich der Meinung, daß solche Leute einfach und unmittelbar vom Satan getötet worden sind« (ebd., 65).

20

Zu den Stationen dieser zunehmenden Perspektivenverschiebung vgl. Mischler 2000, 68-73 und Fenner 2008, 42-52.

3. T HEORIE UND M ETHODE

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Kaum aber hatte sich die Deutung des Suizids als medizinischpsychologisches Problem weitgehend durchgesetzt, so schien an den Rändern des Diskurses ein neues Paradigma auf. Als das früheste, deutschsprachige Dokument dieser abermals veränderten Sichtweise auf die Selbsttötung identifiziert Baumann eine 1788 veröffentlichte Vorlesung des Arztes und Wissenschaftshistorikers Johann Carl Wilhelm Moehsen, die das »früheste Beispiel einer soziologischen Erörterung des Themas« (Baumann 1997, 485) markiert. Praktisch im gleichen Augenblick, da das medizinische Paradigma des Suizids zur Hegemonie gelangte, entstand eine neue, zunächst subhegemoniale Perspektive, welche die Selbsttötung als soziales und gesellschaftliches Phänomen betrachtete. Erneut koexistierten zwei Betrachtungsweisen des gleichen Phänomens, von denen das medizinische Paradigma die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts hindurch dominierte.21 Dies änderte sich etwa ab den 1880er Jahren. Bedingt durch die im Laufe des 19. Jahrhundert immer besser werdenden Methoden der statistischen Erfassung und aufbauend auf der ab 1830 Fuß fassenden Moralstatistik,22 etablierte sich am Ende des Jahrhunderts im Zuge der Entstehung der Soziologie »eine neue Konkurrenz zum Mitte des 19. Jahrhunderts dominanten medizinischen Paradigma« (Baumann 2001, 228). Innerhalb von weniger als zwanzig Jahren erschienen mehrere große und wissenschaftlich breit rezipierte Monographien, die auf Basis statistischen Materials die sozialen Einflüsse und Faktoren des Suizids betonten. 1879 publizierte Enrico Morselli seine 1881 ins Deutsche übersetzte und noch vorwiegend moralstatistische Arbeit Der Selbstmord. Ein Kapitel aus der Moralstatistik. Ein Jahr darauf erschienen sowohl die Monographie Zeitbild über akuten und chronischen Selbstmord Alexander von Oettingens als auch Tomas G. Masaryks Der Selbstmord als sociale Massenserscheinung der modernen Civilisation. Selbst Eugen Rehfisch – seines Zeichens Mediziner – gestand 1893 in seiner Schrift Der Selbstmord. Eine kritische Studie ein, dass man zur Erklärung des Suizids »das Primäre in unseren socialen Zuständen zu suchen« (Rehfisch 1893, 16) habe. 1897 schließlich veröffentlichte Emil Durk-

21

Über die Konkurrenz der unterschiedlichen Wahrnehmungsparadigmen im 19. Jahrhundert bemerkt Baumann: »Im Laufe des 19. Jahrhunderts meldeten abwechselnd sowohl Medizin und Psychiatrie als auch gesellschaftswissenschaftliche Ansätze ihren Hegemonieanspruch an, indem sie den Suizid als ihre ureigenste Domäne reklamierten.« (Baumann 2001, 223)

22

Die Moralstatistik war eine wissenschaftliche Disziplin, die vor allem in der Mitte des 19. Jahrhunderts Konjunktur hatte und welche auf Basis statistischer Daten hauptsächlich solche sozialen Phänomene untersuchte, die heutzutage in der Soziologie als Devianz bezeichnet werden.

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heim mit seinem Der Selbstmord jenes Werk, das zum Gründungsdokument der modernen Soziologie avancieren sollte. Diese sich etablierende Perspektive auf den Suizid als fait social23 verband sich an der gemeinhin als Krisenzeit wahrgenommenen Schwelle zum 20. Jahrhundert in den wissenschaftlichen Diskursen und öffentlichen Debatten mit einer leicht diffusen, allgemeinen Kulturkritik. Pointiert fasst Ursula Baumann zusammen: »Im späten 19. Jahrhundert und frühen 20. Jahrhundert, datierbar von ca. 1880 bis 1914, wird der Suizid zum bevorzugten Austragungsfeld politischer und weltanschaulicher Kontroversen. Ungleich stärker als in den Jahrzehnten davor und anders als im späten 20. Jahrhundert wird die Selbsttötung in dieser Zeit als gesamtgesellschaftliches Problem wahrgenommen und facettenreich diskutiert.« (Baumann 2001, 227)

Erst im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts erstarkte das medizinische Paradigma unter dem Einfluss neuer psychiatrischer und psychoanalytischer Erkenntnisse24 aufs Neue. Für den Untersuchungszeitraum der vorliegenden Arbeit aber lässt sich konstatieren, dass die literarischen Texte zwischen 1880 und 1914 in einer Phase verfasst und publiziert wurden, in welcher der Suizid vor allem als soziales bzw. kulturelles und weniger als medizinisches Problem wahrgenommen wurde. Gleichzeitig lässt sich in dieser Phase auch ein großes Interesse der Literatur am

23

Der Begriff des fait social wurde wiederum von Durkheim bereits 1895 in seiner Schrift Die Regeln der soziologischen Methode geprägt und von ihm auf das Phänomen des Suizids übertragen. Ins Deutsche wird der Begriff zumeist als ›sozialer Tatbestand‹ übersetzt.

24

Eine systematische Auseinandersetzung der Psychoanalyse mit diesem Thema hat erst relativ spät eingesetzt. Im Jahr 1910 war vor allem der Schülersuizid erstmalig Thema in den schriftlich dokumentierten Diskussionen des Wiener psychoanalytischen Vereins – ohne dass dies jedoch in der Folge zu einer breiten Auseinandersetzung mit dem Thema geführt hätte. Die frühesten und nur knappen Überlegungen Freuds zum Suizid finden sich im 1917 erschienenen Aufsatz Trauer und Melancholie. 1920 kam Freud am Rande auch in Jenseits des Lustprinzips noch auf die Selbsttötung zu sprechen, doch insgesamt zählte der Suizid nicht zu den Themen, denen Freud eine größere Aufmerksamkeit schenkte. Die wichtigsten psychoanalytischen Impulse für die Suizidforschung erfolgten daher erst in den 1930er Jahren durch Freuds Schüler Karl Menninger, der in seinem 1938 publizierten Werk Man against himself die erste wirklich großangelegte psychoanalytische Arbeit zum Suizid verfasste. Vgl. hierzu Willemsen 2002, 48.

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Phänomen der Selbsttötung feststellen. Dies allein mag noch als eine bloße Koinzidenz gelten. Doch betrachtet man die literarischen Texte dieser Zeit eingehender, so offenbaren sich die dort dargestellten Suizide als Resultat vielfältiger sozialer Konflikte und Beziehungen, mithin also durchaus als der Durkheimsche fait social. Nicht zufällig findet sich ein nicht unerheblicher Teil dieser literarischen Selbsttötungen in den sozialen Dramen Hauptmanns und in den Gesellschaftsromanen Fontanes,25 also in jenen Werken, die sich besonders stark mit der Darstellung bestimmter sozio-kultureller Milieus befassen. Anders als im ausgehenden 18. Jahrhundert finden sich in den literarischen Texten am Ende des 19. Jahrhunderts kaum jene dem medizinischen Paradigma verpflichteten Schilderungen, welche den Suizid vorwiegend als Resultat der »Krankheit zum Todte« (Goethe 1998, 51) interpretieren. Allem Anschein nach wirkte sich also das die Diskurse dominierende soziale Wahrnehmungsparadigma des Suizids auch auf die Selbsttötungsdarstellung literarischer Texte dieser Zeit aus, ganz so wie dies im Übrigen auch Baumann annimmt (vgl. Baumann 2001, 228). Wenn nun aber der Suizid in diesen Texten als eine soziale Frage behandelt wird, dann scheint es nötig, eine Art der Figurenanalyse zu wählen, welche dieser zeitspezifischen Thematisierung des Suizids gerecht wird. Genauer gesagt bedarf es einer Figurenanalyse in sozial-historischer Perspektive. Diese Analyse sollte erstens in der Lage sein, die suizidalen Protagonisten im sozialen bzw. gesellschaftlichen Koordinatensystem der Zeit zu verorten. Zweitens wäre es hilfreich, wenn sich damit auch die dargestellten und in den Suizid mündenden sozialen Verflechtungen und Konflikte verstehen und interpretieren lassen.26 Eine theoretische Perspektive, die dies zu leisten verspricht, ist eine subjektanalytisch orientierte Theorie sozialer Praktiken. Dabei handelt es sich um ein interdisziplinär gelagertes Bündel theoretischer Ansätze, mit denen sich untersuchen lässt, wie aus einem Individuum ein Subjekt im Sinne eines erkenn- und anerkennba-

25

So finden sich in den Novellen und Romanen Fontanes mindestens sieben Selbsttötungen. Allein im dramatischen Werk Gerhart Hauptmanns nimmt der Suizid Meiers Zählung nach sogar »in nicht weniger als 19 Dramen […] eine zentrale Position ein« (Meier 2005, 15).

26

Ein solch sozial-historischer Zugang wird von Martin Huber im von Ansgar und Vera Nünning herausgegebenen theoretisch-methodischen Übersichtswerk unter dem Oberbegriff einer sozial-historischen Analyse textinterner Gesichtspunkte in Grundzügen skizziert. Allgemein geht es einem solchen Ansatz um die »Bezüge zwischen dem Text und konkreten politischen, gesellschaftlichen oder sozialgeschichtlichen Fakten« (Huber 2010, 208), welche sich auch auf die Darstellung von Figuren und Figurenkonstellationen auswirken.

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ren sozialen Akteurs wird.27 Dies geschieht – so die Grundannahme – im Vollzug sozialer Praktiken, mit denen sich ein Individuum auf eine spezifische Subjektivierungsweise in eine bestimmte kulturelle Form bringt (bzw. gebracht wird), welche sich mit Andreas Reckwitz als Subjektform bezeichnen lässt. Indem ich nun diese, von den sozialen Praktiken ausgehende, Perspektive auf literarische Figuren in Relation zu den Ergebnissen der alltags- und mikrogeschichtlichen Subjektforschung setze, wird es mir erstens möglich, literarische Figuren als Repräsentationen bestimmter Subjektformen und Subjektivierungsweisen zu identifizieren. Zweitens lassen sich mit diesem Blick auf die zum Suizid der Figuren führenden sozialen Konflikte verstehen, die ohne eine sozialhistorische Kontextualisierung nicht intelligibel werden.28 Eine sozial-historische Perspektive stellt keinen Widerspruch zu einer Verwendung des Konzepts der Geschehensmotivierung dar, sondern vermag dieses auf sinnvolle Weise zu ergänzen, vor allem im Hinblick auf die Fälle kausaler Motivierung. Denn zur ›Kausalität‹ der erzählten Welt zählen oft unbestimmt vorhandenen Gesetzmäßigkeiten der Realität, die in die Fiktion übernommen wurden – und dazu kann beispielsweise auch die Konvention zählen, dass sich Angehörige einer bestimmten sozialen Gruppe auf eine bestimmte Weise das Leben nehmen. Gleichzeitig geraten mit diesem Ansatz auch die (sozialen) Ursachen und die Motive der dargestellten Suizide in den Blick, welche sich möglicherweise ihrerseits auf die Auswahl von Suizidmethoden auswirken.29 Insgesamt ermöglicht dieser sozial-historische Zugang, das wer und das warum der literarisch dargestellten Suizide zusammenzudenken. Gleichwohl aber ist die Fundierung dieses Zugangs durch das Konzept der Geschehensmotivierungen nötig. Denn diese sozial-historische Perspektive bleibt vor allem für die kompositorische Motivierung, die sich häufig eher auf die Ebene der Darstellung bezieht, vermutlich in mancher Hinsicht blind. Sollte die literarisch realisierte Suizidmethode beispielsweise durch die Einbindung in eine im Text angelegte Symbolkette bestimmt sein, so wird man diesen Zusammenhängen gewiss nicht durch eine Analyse der im Text dargestellten Subjektivierungsweisen und sozialen Beziehungen auf die Spur kommen, sondern nur durch eine auf dem Konzept der Geschehensmotivierung aufbauende hermeneutische Analyse. Man könnte den in dieser Arbeit gewählten Ansatz daher als eine Art ›doppelter Optik‹ bezeichnen,

27

Vgl. hierzu Alkemeyer/Budde/Freist 2013.

28

Dies könnte beispielsweise bei bestimmten Konflikten im Zusammenhang mit dem

29

Es sei hier auf an die oben zitierte Position von Oettingens erinnert, welcher für edle

uns heute weitgehend fremdem Ehrverständnis um die Jahrhundertwende gelten. Beweggründe des Suizids auch die Verwendung von nobleren Mitteln behauptete.

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bei der das gleiche Phänomen gleichsam mit zwei unterschiedlichen Brennweiten belichtet wird. Ich fasse das Vorgehen noch einmal zusammen: Ausgehend von der Überlegung, dass im kulturellen Wissen die Selbsttötungsmethoden in der Regel in Zusammenhang mit dem suizidalen Subjekt stehen, wird mit einem sozialhistorischen Zugang zunächst danach gefragt, ›wer‹ sich da in den literarischen Texten eigentlich das Leben nimmt. Damit ist vor allem gemeint, wer diese literarische Figur innerhalb des sozialen und gesellschaftlichen Koordinatensystems ist, mithin also, welche Subjektivierungsweise im Text repräsentiert wird. Mit dieser sehr eng fokussierenden, sozial-historischen Optik bekomme ich allerdings viele und vor allem die Komposition betreffende Aspekte eines Textes nicht in den Blick. Daher gilt es, diese erste Perspektive um eine parallel stets mitlaufende, zweite Perspektive zu erweitern, aus welcher ich mit den Mitteln der Hermeneutik nach all jenen symbolischen, metaphorischen, gattungsspezifischen, handlungsfunktionalen, usw. Aspekten Ausschau halte, welche vor allem auf der Ebene der Komposition die Wahl der Suizidmethode beeinflussen können. Mit den gleichen Mitteln kann zudem geprüft werden, ob im Text eine finale Motivierung vorliegt. Sowohl für die Figurenanalyse als auch für die Untersuchung der Komposition wird eine Lektüre von Nöten sein, die eng am Text operiert. Methodisch werde ich deshalb auf ein close reading zurückgreifen.30 Wie nun aber eine sozial-historische Figurenanalyse mit Hilfe der Subjektivierungstheorie aussehen kann, wonach dabei genau gesucht wird und wie die Ergebnisse gedeutet werde, ist Gegenstand der theoretischen Ausführungen im nachfolgenden Kapitel.

30

Bei der Unterscheidung zwischen Theorie und Methode folge ich Ansgar und Vera Nünning, die unter Theorien »explizite, elaborierte, geordnete und logisch konsistente Kategoriensysteme, die der Beschreibung, Erforschung und Erklärung der Sachverhalte ihres jeweiligen Objektbereichs dienen« (Nünning/Nünning 2010, 6) verstehen. Methoden hingegen meinen die »Art und Weise des Vorgehens« (ebd., 7).

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3.3 P RAXISTHEORIEN

UND

S UBJEKTIVIERUNG

Was ist gemeint, wenn oben von einer praxistheoretischen Perspektive auf Subjektivierung gesprochen wurde? Um dies zu beantworten ist es sinnvoll, zunächst zu klären, was Praxistheorien sind und was der Begriff der Subjektivierung meint. Allgemein gesprochen bezeichnet Subjektivierung den Prozess, »in dem das Subjekt unter spezifisch sozialen-kulturellen Bedingungen zu einem solchen ›gemacht‹ wird« (Reckwitz 2010b, 10.) und in welchem Subjekte eine »erkennbare und bestimmten normativen Forderungen entsprechende, anerkennbare Form annehmen« (Alkemeyer/Budde/Freist 2013, 18). Diese Vorstellung vom Subjekt als einer Entität, die unter sozio-kulturellen Bedingungen auf eine spezifische Weise erst hergestellt und damit buchstäblich ›gemacht‹ wird, ist beileibe keine philosophische Selbstverständlichkeit. Sie entstand erst im 19. Jahrhundert und ist das Resultat einer Abgrenzung gegen das Subjektverständnis der transzendentalen Subjektphilosophie, deren Denken von Descartes bis zum Deutschen Idealismus (vgl. Reckwitz 2010b, 12) auf der Grundannahme einer Autonomie des Subjekts fußte.31 Diese Vorstellung von der Autonomie des Subjekts geriet im 19. Jahrhundert langsam ins Wanken; es kam allmählich zu jener »Einsicht in die Historizität und Gesellschaftsbedingtheit des Subjekts« (Alkemeyer/Budde/Freist 2013, 9), die Reckwitz retrospektiv als »Dezentrierung des Subjekts« (Reckwitz 2010b, 13) beschreibt.32 Erst in Folge dieses veränderten Subjektverständnisses wurde die Frage nach dem Prozess der Herstellung des Subjekts, nach seiner Subjektivierung, virulent. Seitdem gab es Versuche aus un-

31

»Das klassische Subjekt erhält seinen Kern in bestimmten mentalen, geistigen Qualitäten, die zugleich Ort seiner Rationalität sind. Ihm werden im klassischen Diskurs in diesem Sinne universale, allgemeingültige Eigenschaften – seien diese in einer Vernunft oder einer Natur begründet – zugeschrieben.« (Reckwitz 2010b, 12)

32

Die Stationen dieser Dezentrierung des Subjekts umreißt u.a. Andreas Reckwitz: »Marx und Freud, Nietzsche und Heidegger, Wittgenstein und Dewey, schließlich auch Foucault und Derrida – sie alle versuchen mit unterschiedlichen konzeptuellen Mitteln eine ›Dezentrierung des Subjekts‹, die sich rhetorisch verkürzt als Tod des Subjekts abbilden lässt. […] Das Subjekt wird ›dezentriert‹, indem es seinen Ort als Null- und Fixpunkt des philosophischen und humanwissenschaftlichen Vokabulars verliert, es erweist sich selber in seiner Form als abhängig von gesellschaftlichkulturellen Strukturen.« (Reckwitz 2010b, 13)

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terschiedlichen Richtungen, auf diese Frage eine Antwort zu finden. Ein solcher Versuch erfolgt gegenwärtig auch von Seiten der sogenannten Praxistheorien.33 Bei den Praxistheorien handelt es sich nicht um ein einheitliches und systematisches Theoriegebäude, sondern »eher um ein Bündel von Theorien mit ›Familienähnlichkeit‹« (Reckwitz 2003, 283), in welchem sich die Einflüsse von zum Teil sehr unterschiedlichen Denkern wiederfinden.34 Andreas Reckwitz verortet die Praxistheorien innerhalb der Forschungs- und Theorielandschaft auf Seiten der kulturtheoretischen Ansätze, die er ihrerseits im weitesten Sinne zu den Sozialtheorien zählt (vgl. ebd.). Allgemein gesprochen interessieren sich die Praxistheorien (wie alle Sozialtheorien) zunächst nicht in erster Linie für die Frage der Subjektivierung, sondern vor allem dafür, wie Sozialität überhaupt möglich ist und auf welche Weise soziale Ordnung entstehen kann. Gemein ist den verschiedenen Praxistheorien, dass sie das Soziale auf der Ebene kollektiver Verhaltensweisen situieren, welche auf einem inkorporierten praktischen Können und Wissen der beteiligten Subjekte basieren. Als die kleinsten Einheiten des Sozialen gelten in dieser Perspektive die konkreten sozialen Praktiken. Damit gehen die Praxistheorien auf Abstand zu anderen kulturtheoretischen Ansätzen, welche das Soziale auf der Ebene »kognitiv geistige[r] Schemata« (Reckwitz 2003, 288) oder auf der Ebene von Diskursen und Texten verorten.35 Ausgehend von diesem Verständnis des Sozialen wurde nun in jüngerer Vergangenheit mit dem im Grunde naheliegenden Versuch begonnen, sich dem Phänomen der Subjektivierung aus einer praxistheoretisch-informierten Perspektive zu nä-

33

Andere, synonyme Bezeichnungen für die Praxistheorie sind ›Theorien sozialer

34

Großen Einfluss auf die Praxistheorien üben die Arbeiten Pierre Bourdieus, Theodo-

Praktiken‹ oder › Praxeologie‹. re Schatzkis, Anthony Giddens, Luc Boltanskis sowie die späten Arbeiten Michel Foucaults aus. Im deutschen Sprachraum hat vor allem Andreas Reckwitz die praxistheoretischen Diskussionen nachhaltig beeinflusst. 35

Diese beiden anderen kulturtheoretischen Ansätze bezeichnet Reckwitz als ›Mentalismus‹ und ›Textualismus‹. Vgl. Reckwitz 2003, 288. Dem an den kognitivgeistigen Schemata interessierten Mentalismus schlägt Reckwitz Autoren wie LeviStrauss oder Alfred Schütz zu. Zum an Texten, Diskursen und Kommunikationssystemen interessierten Textualismus rechnet Reckwitz Autoren wie Clifford Geertz, den frühen Foucault der Diskursanalyse sowie Niklas Luhmann. Beiden Ansätzen halten die Praxistheorien allerdings »einen konzeptuellen ›Intellektualismus‹ vor, eine ›Intellektualisierung‹ des sozialen Lebens« (Reckwitz 2003, 289), welche die tatsächliche soziale Praxis nicht adäquat erfasse.

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hern.36 Aus dieser Sichtweise stellt sich Subjektivierung als ein Prozess dar, innerhalb dessen sich Individuen »in der Teilnahme an alltäglichen sozialen Praktiken sowie in speziellen Praktiken des Übens, Trainierens und der Reflexivität körperlich wie psychisch in eine (hegemoniale) Subjektform einpassen« (Alkemeyer/Budde/Freist 2013, 20), wobei die für die konkrete Forschung relevante Frage dann lautet, wie dies jeweils im Einzelnen vonstattengeht (vgl. Alkemeyer 2013, 34). Zur Erklärung dieses Vorgangs bzw. dieser Vorgänge offerieren die Praxistheorien verschiedene Konzepte, Begriffe und Ideen, von denen ich einige im Folgenden näher erläutern werde. Ich beschränke mich allerdings auf jene Aspekte, die für die vorliegende Arbeit relevant sind und spare Elemente aus, die in manchen praxistheoretischen Arbeiten wichtig sind, die sich aber für die Bearbeitung der vorliegenden Problemstellung als wenig hilfreich erwiesen haben. 3.3.1 Praktiken – Dispositionen – Selbsttechniken Als der kleinsten Einheit des Sozialen kommt den Praktiken innerhalb der Praxistheorien eine exponierte Rolle zu. Die als »sozial geregelte, typisierte, routinisierte Form des körperlichen Verhaltens (einschließlich des zeichenverwendenden Verhaltens)« (Reckwitz 2010, 135) verstandenen Praktiken unterscheiden sich von Handlungen dadurch, dass sie nicht als das Ergebnis individueller und singulärer Willensakte und Entscheidungen betrachtet werden. Stattdessen begreifen die Praxistheorien soziale Praktiken als »know-how abhängige und von einem praktischen ›Verstehen‹ zusammengehaltene Verhaltensroutinen« (Reckwitz 2003, 289), welche kollektive und im weitesten Sinne iterative Verhaltensweisen hervorbringen: Praktiken des Lesens, Essens, Arbeitens, etc.37

36

Diese Perspektive innerhalb der Praxistheorien bezeichne ich im Folgenden engführend als ›subjektivierungstheoretische Perspektive‹. Mir ist völlig klar, dass weder jeder Zugang zu Fragen der Subjektivierung praxistheoretisch ist, noch jede Form der Praxistheorie an der Frage der Subjektivierung interessiert ist. Die Bezeichnung ist eine reine Heuristik, die es ermöglicht, auf komplizierte Formulierungen wie ›eine an Fragen der Subjektivierung interessierte Form der Praxistheorie‹ zu verzichten.

37

Thomas Alkemeyer weist darauf hin, dass es bei den Praxistheorien nicht darum gehe, den Begriff der Praktiken gegen den Begriff der Handlung auszuspielen. Vielmehr werde »Handeln als ein Bestandteil von Praktiken begriffen, d.h. als eine von praktischen Kontexten gerahmte, aber eigenständige Tätigkeitsform« (Alkemeyer 2013, 43).

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Neben der Über-Individualität sozialer Praktiken betont Andreas Reckwitz vor allem zwei weitere Aspekte: Die Materialität von Praktiken einerseits und eine der Praxis implizite Logik andererseits (vgl. Reckwitz 2003, 290).38 Die Materialität von Praktiken manifestiert sich demzufolge in den beiden Instanzen der Körper und der Artefakte.39 So ist aus der Perspektive der Praxistheorien kaum eine soziale Praktik denkbar, in die nicht der menschliche Körper involviert ist. Dies trifft beispielsweise selbst für die als vorwiegend geistigintellektuell geltende Praktik des Lesens zu, an welcher der menschliche Körper mindestens durch das Umblättern der Seiten und durch eine bestimmte, immobile und regulierte körperliche Haltung beteiligt ist. Fast apodiktisch lässt sich aus dieser Perspektive formulieren: »Eine Praktik besteht aus bestimmten routinisierten Bewegungen und Aktivitäten des Körpers.« (Reckwitz 2003, 290) Daneben spielen bei vielen Praktiken unterschiedliche Artefakte eine Rolle, deren »praktische Verwendung Bestandteil einer sozialen Praktik [ist] oder die soziale Praktik selbst darstellt« (ebd., 291).40 Die Praxistheorien betonen neben der Materialität von Praktiken auch deren implizite Normativität und eine der Praxis implizite Logik (vgl. Brümmer 2015, 59). Gemeint ist damit, dass den jeweiligen Praktiken eine spezifische basale ›Funktionsweise‹ inhärent ist, die bei den an dieser Praktik beteiligten Akteuren das Vorhandensein eines bestimmtes praktisches Wissen und Können voraussetzt. Dieses nicht-explizite Wissen und Können geht den Praktiken nicht im Sinne einer theoretisch-intellektuellen Reflexion voraus, sondern kommt im Vollzug der Praktik als implizites Wissen oder als ein verkörpertes Knowinghow zur Anwendung.41 Dementsprechend interessieren sich praxistheoretische

38

Der Begriff Praxis wird hier mit Kristina Brümmer als »materieller und kontingenter Tätigkeits-, Vollzugs- und Wirkungszusammenhang« (Brümmer 2015, 50) verstanden, wobei die jeweiligen Praktiken dann »zeitspezifische und empirisch identifizierbare Erscheinungsform[en] sozialer Praxis« (ebd.) sind.

39

Beide Instanzen, vor allem aber die Körper blieben – so die Kritik vonseiten der Praxistheoretiker – in vielen anderen Handlungs- und Kulturtheorien oft unberücksichtigt. Vgl. Reckwitz 2003, 290.

40

Am Beispiel des Lesens wären hier zunächst Printmedien oder Tablets zu nennen, neben denen aber noch weitere Artefakte wie Lesesessel oder Schreibtisch relevant sein können. Auch bei vielen Praktiken der Selbsttötung spielen Artefakte eine Rolle: der Strick beim Erhängen, die Pistole beim Erschießen usw.

41

Wiederum mit Blick auf die Praktik des Lesens besteht ein solches implizites Wissen beispielsweise darin, dass man in der westlichen Welt von links nach rechts und von oben nach unten liest, ohne diese kulturell spezifischen, normativen Regeln ex-

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Arbeiten vor allem dafür, »welches Wissen in einer bestimmten sozialen Praktik zum Einsatz kommt« (Reckwitz 2003, 292). Im Zusammenhang mit dem für die Aneignung einer Praktik nötigen impliziten Wissen und Können ist ferner der Begriff der Disposition relevant. Dispositionen sind im praxistheoretischen Verständnis bestimmte »Fähigkeiten, Fertigkeiten, Gewohnheiten, Anlagen und Neigungen« (Alkemeyer 2013, 52), welche einerseits für den Vollzug einer Praktik die Voraussetzung bilden und andererseits überhaupt erst in Praktiken hergestellt und gestaltet werden. Dispositionen sind der »Repertoirboden im Sinne eines Potentials« (ebd.), das dem praktischen Wissen und Können zu Grunde liegt und das wiederum erst durch dieses praktische Können erkennbar wird. Eine besondere Form sozialer Praktiken sind die sogenannten SelbstTechniken oder Technologien des Selbst, ein Begriff, der auf Michel Foucault zurückgeht. Mit Selbst-Techniken sind jene Praktiken gemeint, mit denen das Subjekt »eine Reihe von Operationen an seinem Körper oder seiner Seele, seinem Denken, seinem Verhalten und seiner Existenzweise« (Foucault 1993, 26) vornimmt, um sich in ein Verhältnis zu sich selbst zu setzen. Selbst-Techniken sind mit anderen Worten »alle Möglichkeiten, die ein Subjekt hat, mit sich selbst in Kontakt zu treten, sich also [...] selbstreferentiell zu verhalten« (Kyora 2013, 253). Dies sind beispielsweise Praktiken wie die Meditation oder das Fasten, aber auch Praktiken wie das Tagebuchführen oder Techniken der Gewissensprüfung. 3.3.2 Subjektformen, Subjektivierungsweisen, Identität und Gender Aus der Sicht der Praxistheorien sind es die Praktiken, in denen sich die Subjektivierung eines Individuums vollzieht und durch welche sich das Individuum in eine konkrete Subjektform bringt. Der Begriff der Subjektform bezeichnet in dieser Perspektive die spezifisch kulturelle Form, in welcher der Einzelne überhaupt erst zu einem »gesellschaftlichen Wesen wird« (Reckwitz 2010, 17), welches (an)erkennbar und sozial mitspielfähig ist. Eine Subjektform ist, wie Etzemüller herausstellt, ein »Ensemble von Verhaltensweisen, Werten, Zielen und Prakti-

plizit zu reflektieren. Natürlich kann sich das einzelne Subjekt diese Regeln und das einer Praktik implizite Wissen bewusst machen, indem es in das sogenannte metapragmatische Register überwechselt (vgl. Alkemeyer 2013, 49); im Regelfall geschieht dies aber nicht, weil es für das Gelingen einer Praktik überhaupt nicht nötig oder gar störend ist.

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ken, ein Bündel von Dispositionen, die Verhalten, Wahrnehmungen und Handlungen regelrecht formatieren« (Etzemüller 2013, 177). Dabei repräsentiert das einzelne Subjekt nicht bloß die mit einer Subjektform verbundenen, normativen Erwartungen; diese Erwartungen werden im Prozess der Subjektivierung vielmehr »praktisch angeeignet, verinnerlicht und sichtbar verkörpert« (Alkemeyer/Budde/Freist 2013, 19)42 und damit als Dispositionen im Subjekt verankert. Im Zuge dieser Verankerung prägt das Subjekt auch eine Identität aus. Aus praxistheoretischer Perspektive bezeichnet dieser Begriff einen »spezifischen Aspekt [der] Subjektform: die Art und Weise, in der in diese kulturelle Form eines bestimmtes Selbstverstehen, eine Selbstinterpretation eingebaut ist« (Reckwitz 2008, 17). Zur Illustration der Bedeutung von Subjektformen wird zuweilen das Bild der »bewohnbaren Zonen« bemüht, »die von einem Individuum auf eine akzeptierte Weise bewohnt werden müssen, um als Subjekt soziale Anerkennung zu erlangen« (Alkemeyer/Budde/Freist 2013, 18). Diese Metapher sollte indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Subjektform vor allem eine Beobachtungskategorie ist, die es Wissenschaftlern ermöglicht, bestimmte Settings aus Praktiken und Dispositionen als eine regelhaft auftretende Formatierung und Typisierung zu beschreiben.43 Zum Teil konturieren sich Subjektformen erst in der analytischen Retrospektive des Wissenschaftlers, zuweilen rekurrieren sie allerdings auch direkt auf Selbstbeschreibungen und Selbstthematisierungen eines bestimmten (historischen) Feldes.44

42

In der Differenz zwischen bloßer Repräsentanz und einer Verkörperung besteht einer der Hauptunterschiede zwischen dem Konzept der Subjektform und dem Konzept der sozialen Rolle. Vgl. hierzu Alkemeyer/Budde/Freist 2013, 19.

43

Vgl. insgesamt zu dieser Problematik: Etzemüller 2013, 176f.

44

Die veranschaulichenden Beispiele liefert hier Reckwitz einflussreiche Studie Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. Wenn Reckwitz im ersten Teil der Monographie die Entstehung und Formatierung des bürgerlichen Subjekts untersucht, so schließt diese Subjektform direkt an die Selbstbeschreibungen eines zeitgenössischen Feldes an, in welchem die Akteure ein Selbstverständnis als Bürger mit einer spezifischen Lebensweise besaßen, welches nicht zuletzt literarisch artikuliert wurde. Anders sieht es im Falle des im letzten Teil seines Buches von Reckwitz untersuchten ›konsumtorischen Kreativsubjekts‹ des späten 20 Jahrhunderts aus. Hier wird der analytische Konstruktionscharakter dieser Subjektform schnell augenscheinlich, denn kaum ein Zeitgenosse würde seine eigene Lebensweise als die eines konsumtorischem Kreativsubjekts thematisieren.

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Mit dem Begriff der Subjektform verbunden ist eine jeweilige Subjektivierungsweise. Während der Terminus Subjektivierung den allgemeinen Sachverhalt einer prozesshaften Formatierung des Individuums meint, bezeichnet die konkrete Ausrichtung dieser Subjektivierung auf eine spezifische Subjektform hin. Subjektivierungsweisen, Subjektformen und Praktiken sind damit aus der Perspektive einer praxistheoretischen Subjektforschung notwendig miteinander verquickt: Subjektivierung vollzieht sich immer in spezifischen Praktiken und in einer bestimmten Weise auf eine spezifische Subjektform hin ausgerichtet. Die entscheidende Analyseeinheit markieren die Praktiken. Sie sind nicht nur Motor und Medium der Einpassung eines Individuums in eine Subjektform, sondern auch jene beobachtbaren Entitäten, vermittels derer Subjektformen analytisch überhaupt erst erkenn- und beschreibbar werden. Dies machen sich nicht zuletzt jene praxistheoretischen Arbeiten zu nutzen, die in ihren Untersuchungen historischen Subjektformen nachspüren und deren Konturen ausloten, indem sie die dazugehörigen Settings aus Praktiken (und Dispositionen) rekonstruieren. Ein solches Vorgehen scheint grundsätzlich auch für eine literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit Subjektformen anschlussfähig. Welche Form das einzelne Individuum annehmen kann, ist potentiell geschlechtsabhängig. Das heißt, bestimmte Subjektformen (wie beispielsweise das Offizierssubjekt im 19. Jahrhundert) können eindeutig weiblich oder männlich codiert sein. Andere Subjektformen hingegen können übergeschlechtlich sein oder ihrerseits möglicherweise in zwei unterschiedlichen, geschlechtlich differenzierten Varianten vorliegen.45 In dem Maße aber, in dem die Kategorie des Geschlechts in bestimmte Subjektformen eingeschrieben ist, ist der Untersuchung von Subjektformen ihrerseits immer schon eine latente Genderperspektive inhärent.

45

So konstatiert Reckwitz in Das hybride Subjekt beispielsweise für das bürgerliche Subjekt eine »Bifurkation des Geschlechter« (Reckwitz 2010a, 154). Demnach sei das bürgerliche Subjekt in der frühbürgerlichen Phase noch verhältnismäßig geschlechtsindifferent gewesen. In der spätbürgerlichen Phase hingegen sei es im Zuge der »kulturellen Produktion von Geschlechtscharakteren« (ebd., 264) zu einer »Spaltung des bürgerlichen Subjekts« (ebd., 265) in zwei geschlechtlich differenzierte Formen gekommen.

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3.3.3 Subjektivierung zwischen Unterwerfung und Selbst-Bildung Offen geblieben ist bisher die Frage nach dem Eigenanteil des Subjekts bei seiner Subjektivierung: wie passiv oder wie aktiv ist dieses bei der Einpassung in eine Subjektform? Subjektivierung kann sich grundsätzlich in zwei verschiedenen Modi vollziehen, welche beide bereits im umfangreichen Werk Michel Foucaults diskutiert wurden. Zunächst widmete sich Foucault in Überwachen und Strafen den »Technologien von Macht und Herrschaft« (Foucault 1993, 27) und der damit verbundenen Frage, mit welchen Zwangspraktiken verschiedene Disziplinarinstitutionen (Gefängnisse, Internate, etc.) die ihnen überantworteten Individuen in einer Weise subjektivieren, die Foucault als »Unterwerfung« (Foucault 2008a, 927) bezeichnet. In seinen späteren Untersuchungen zur Gouvernementalität wandte sich Foucault hingegen stärker der Frage der Selbstführung und damit dem Eigenanteil des Individuums an seiner Subjektivierung zu, denn er war zu dem Schluss gekommen, zuvor die »Bedeutung der Technologie von Macht und Herrschaft allzu stark betont« (Foucault 1993, 27) zu haben. Foucaults Überlegungen zur Selbstführung und zu den Technologien des Selbst erweisen sich als fruchtbar für jene praxistheoretischen Perspektiven auf das Subjekt, welche gegenwärtig vor allem den »Eigenanteil der Individuen an der praktischen Aus- und Umgestaltung vorgefundener Subjektformen und damit an ihrer eigenen Subjektwerdung« (Alkemeyer/Budde/Freist 2013, 21) betonen. Diese stärkere Fokussierung auf den – zuweilen unter dem Begriff der ›SelbstBildung‹ subsumierten – Eigenanteil der Individuen an ihrer Subjektivierung ermöglicht es den Praxistheorien, bestimmte Aspekte in den Blick zu bekommen, welche bei einem reinen Konzept der Unterwerfung im Dunkeln bleiben, obwohl sie »gerade unter einem subjektivierungstheoretischen Blickwinkel relevant sind: die engagierte Hingabe an eine Praktik; die Weisen des Umgangs mit der Aneignung von Anforderungen und normativen Erwartungen« (Alkemeyer 2013, 38), aber auch Aspekte wie »Handlungsmächtigkeit, Reflexionsvermögen, Selbstbezug« (Alkemeyer/Budde/Freist 2013, 9). Der auf einer Metaebene situierte Einwand gegen ein alleiniges Konzept von Subjektivierung als Unterwerfung, bei welchem die Dimension der Selbst-Bildung keine Rolle spielt, besteht letztlich darin, dass sich damit aus praxistheoretischer Perspektive sozialer Wandel und die Veränderungen von Subjektivierungsweisen nicht erklären lassen. Gleichwohl aber scheint es wenig sinnvoll, das Konzept der Unterwerfung einfach gegen das Konzept der Selbst-Bildung auszutauschen und damit das Eine

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gegen das Andere auszuspielen.46 Hilfreicher ist es, wie Kristina Brümmer von »einem Spannungsfeld von Fremd- und Selbstführung« (Brümmer 2015, 74) auszugehen, innerhalb dessen der Eigenanteil der einzelnen Individuen an ihrer je spezifischen Subjektivierung ganz unterschiedlich bemessen sein kann. In dieser Lesart sind Widerstand, Wandel und Kritik zwar möglich, aber nicht in jedem Einzelfall obligatorisch. 3.3.4 Subjektivierungsregime Unabhängig davon, ob sich Subjektivierungen in konkreten Fällen eher als Unterwerfungen oder eher als Selbst-Bildungen darstellen, vollziehen sich solche Prozesse niemals autark und in einem von allen gesellschaftlichen Einflüssen befreitem Vakuum. Stattdessen sind stets verschiedene soziale Kräfte wirksam, die auf die Subjektivierung des Individuums einwirken und dieses zu unterwerfen suchen oder zumindest einen an gesellschaftlichen Normen orientierten ›Subjektivierungs-Druck‹ erzeugen. Ulrich Bröckling hat hierfür den Begriff des Subjektivierungsregimes geprägt. Subjektivierungsregime sind ihm zufolge »Kraftfelder, deren Linien – unter anderem – in institutionellen Arrangements und administrativen Verordnungen, […] in technischen und architektonischen Anordnungen, in medialen Inszenierungen und Alltagsroutinen wirksam sind« (Bröckling 2007a, 39). Diese Kraftfelder umspannen sozusagen alle Praktiken der Subjektivierung und proklamieren zugleich ein im Folgenden als Subjekt-Ideal bezeichnetes »Idealbild, auf das hin die Individuen zugerichtet werden« (ebd., 38). Als Advokaten einer gesellschaftlich produzierten Normativität konfrontieren Subjektivierungsregime den »Einzelnen mit spezifischen Erwartungen, die er zurückweisen, zu unterlaufen oder einzulösen versuchen« (ebd., 30) kann. Die Zugriffsversuche eines Regimes auf das einzelne Subjekt sind immer an einem jeder Subjektivierung impliziten Telos orientiert, mit dem das einzelne Subjekt konfrontiert ist und zu welchem es sich in irgendeiner Weise verhalten muss.47 Das ein Individuum adressierende Regime lässt sich nach Bröckling nicht

46

Dies ist auch bei Foucault nicht der Fall. Seine Fokusverschiebung von den Herrschaftstechniken zu den Selbsttechniken ist keine Revision des Konzepts der Unterwerfung, sondern eine Relativierung und Ergänzung desselben. Grundsätzlich bleiben auch Foucaults Überlegungen zur Disziplinierung und Unterwerfung für eine subjektivierungstheoretische Perspektive anschlussfähig.

47

Zu dem einer Subjektivierung impliziten Telos bemerkt Bröckling ferner: »Welches Telos die Arbeit am selbst verfolgt, ist kontingent; dass sie eines (oder mehrere) hat,

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»auf einen moralischen Code reduzieren. Es bündelt nicht nur einen Kanon von ›Du sollst dieses‹- / ›Du darfst nicht jenes‹-Regeln, sondern definiert auch die Wissensformen, in denen Individuen die Wahrheit über sich erkennen, die Kontroll- und Regulationsmechanismen, mit denen sie konfrontiert sind, die Spezialisten, deren Ratschlägen und Anweisungen sie Autorität zusprechen, sowie die Sozial- und Selbsttechnologien« (ebd., 39).

Das Konzept der Subjektivierungsregime steht in einer erkennbaren Nähe zu Foucaults Begriff der Macht,48 welche von Bröckling auch betont wird.49 Man könnte dieses Verhältnis so fassen, dass Subjektivierungsregimes eine am konkreten Prozess der Subjektivierung orientierte Erscheinungsform bzw. Spielart der Macht sind. Gleichwohl aber ist es in Bröcklings Konzeption dem Subjekt möglich, sich den Zugriffen der Macht zu verweigern und den Subjektivierungsregimen durch »subversive Strategien und Taktiken« (ebd., 41) Widerstand entgegenzusetzen und so »eine andere Form des Regierens und Sich-selbstRegierens – ein Gegenregime« (ebd.) zu etablieren. Den Kontakt des Individuums mit einem es adressierenden Subjektivierungsregime darf man sich indes nicht als die Begegnung mit einer irgendwie metaphysischen, spirituellen Instanz vorstellen. Vielmehr tritt ein Subjektivierungsregime nur vertreten durch konkrete Akteure bzw. Institutionen in Erscheinung, die in einer im weitesten Sinne materiellen Form Einfluss auf die Subjektivierung des Einzelnen nehmen. Diese ein Subjektivierungsregime vertretenden Akteure, mithin seine Agenten, bezeichnet Bröckling als ›Subjektivierungsregisseure‹:

ist unverzichtbar. Ohne solche Vorgaben bliebe offen, in welche Richtung der Einzelne sich bewegen und sich führen lassen soll.« (Bröckling 2007a, 41) 48

Ähnlich wie Bröckling über die Subjektivierungsregime, betont auch Foucault über die Produktivität der Macht: »Man muss aufhören, die Wirkungen der Macht immer nur negativ zu beschreiben, als ob sie nur ›ausschließen‹, ›unterdrücken‹, ›verdrängen‹, ›zensieren‹, ›abstrahieren‹, ›maskieren‹, ›verschleiern‹ würde. In Wirklichkeit ist die Macht produktiv; und sie produziert Wirkliches. Sie produziert Gegenstandsbereiche und Wahrheitsrituale: Das Individuum und seine Erkenntnis sind Ergebnisse dieser Produktion.« (Foucault 2008a, 900)

49

So bemerkt Bröckling hierzu in Anlehnung an Butler: »Das Paradox der Subjektivierung verschränkt sich mit dem der Macht: Auf der einen Seite ist die Macht, verstanden als Ensemble der Kräfte, die auf das Subjekt einwirken, diesem vorgängig. […]. Auf der anderen Seite kann Macht nur gegenüber Subjekten ausgeübt werden, setzt diese also voraus.« (Bröckling 2007b, 122)

62 │ VON DER T ORHEIT , WÄHLERISCH ZU STERBEN »Subjektivierungsregime brauchen Subjektivierungsregisseure. Sie verleihen den Programmen Autorität, sie definieren die Aufgaben, vermitteln die Techniken zu ihrer Lösung, sie motivieren und sanktionieren, sie geben Feedbacks und evaluieren schließlich die Ergebnisse.« (Bröckling 2007b, 133)50

Diese Denkfigur der Regisseure, welche die Regime repräsentieren, bietet nicht zuletzt für die literaturwissenschaftliche Theorieadaption einen großen Vorteil: sie ermöglicht es, die mit dem Phänomen der Subjektivierung verbundenen Konflikte an konkrete Akteure und – übertragen auf die Betrachtung literarischer Texte – an konkrete Figuren rückzubinden. Diese Denkfigur ermöglicht es mit anderen Worten, bestimmte und zum Teil antagonistische Subjektpositionen51 und Relationen zu benennen. Offen ist bisher allerdings noch die Frage, auf welche Weise eigentlich das oben erwähnte, normative Telos definiert wird, welches Subjektivierungsregimes vertreten. Die Beantwortung dieser Frage führt zu einer Diskussion der Rolle von Diskursen und damit in das Grenzgebiet zwischen den Praxistheorien und jenen Ansätze, die unter dem Begriff des Textualismus subsumiert werden. 3.3.5 Praktiken und Diskurse Innerhalb der verschiedenen praxistheoretischen Ansätze ist der Stellenwert von Diskursen umstritten. Einige Ansätze neigen dazu, die Ebene der Diskurse bei den Analysen praktischer Vollzüge zu vernachlässigen. Dementgegen ist vor allem bei den an Subjektivierung interessierten praxistheoretischen Arbeiten die Tendenz zu erkennen, den Begriff des Diskurses zunehmend in die Analysesprache zu integrieren und ihn vom Stigma des Textualismus zu befreien. Den bisher elaboriertesten Versuch, das Verhältnis von Praktiken und Diskursen zu bestimmen, hat im deutschen Sprachraum wiederum Andreas Reckwitz vorgenommen.

50

Bröckling benennt auch konkret eine Reihe typischer Subjektivierungsregisseure: »Zu den klassischen Spezialisten wie Seelsorgern, Lehrern oder Ärzten ist inzwischen eine unübersehbare Zahl von Beratern, Gutachtern, Therapeuten und Trainern hinzugetreten.« (Bröckling 2007b, 133)

51

Der Begriff der ›Subjektpositionen‹ bezieht sich nicht wie der Begriff Subjektform auf einen übergreifenden kulturellen Typus, sondern auf die konkreten Positionen, die einzelne Subjekte in bestimmten sozialen Feldern (im Sinne Bourdieus) einnehmen können. Der Begriff ermöglicht es, bestimmte Relationen zwischen Subjekten zu beschreiben und beispielsweise beim Blick auf einen Gerichtsprozess die Subjektpositionen Anwalt, Richter und Staatsanwalt zu identifizieren.

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Schon früh betonte Reckwitz, ein Diskurs könne für die Praxistheorie »nichts anderes denn eine spezifische soziale Praktik sein, d.h. der Diskurs wird aus praxistheoretischer Sicht allein in einem bestimmten Gebrauch, als ein Aussagesystem, das in bestimmten Kontexten produziert und rezipiert wird« (Reckwitz 2003, 298) verstanden.52 Die Produktion von Diskursen ist eine Praktik bzw. geschieht in Praktiken, was auch mit Blick auf Schriftsteller einleuchtet, die ihrerseits in bestimmten und durchaus auch handwerklichen Praktiken Diskurse produzieren und fortschreiben. Wenn man von einem solchen Zusammenhang ausgeht, dann erscheinen Praktiken und Diskurse als »zwei aneinander gekoppelte Aggregatzustände der materiellen Existenz von Wissensordnungen« (Reckwitz 2008b, 201f.), die grundsätzlich gleichberechtigt sind. Aus seiner Perspektive existieren also »diskursive Praktiken« (ebd., 203), denen eine bestimmte Funktion bei der Produktion und Distribution von Subjektformen zukommt: »Subjektformen werden in sozialen Praktiken routinemäßig produziert; in Diskursen werden sie explizit zum Thema und in Form von Subjektrepräsentationen hergestellt und gesellschaftlich verfügbar gemacht.« (Reckwitz 2010, 137) In der Genese seiner Überlegungen zu Praktiken und Diskursen begreift Reckwitz Diskurse schlussendlich als Bündel diskursiver Praktiken. Diese diskursiven Praktiken sind »Praktiken der Repräsentation« (Reckwitz 2008b, 203), durch welche »Objekte, Subjekte und Zusammenhänge auf eine bestimmte, regulierte Weise dargestellt werden und in dieser Darstellung als spezifische sinnhafte Entitäten erst produziert werden« (ebd.). Die Anerkennung der Existenz diskursiver Praktiken findet sich in Reckwitzʼ oben zitierter Praktiken-Definition in der Betonung des ausdrücklich eingeschlossenen, ›zeichenverwendenden Verhaltens‹ wieder. Diese Ausdehnung des Praktiken-Begriffs hat für die Adaption der Praxistheorien Konsequenzen. Denn erst indem durch die Integration diskursiver Praktiken die Repräsentation von Subjektformen und ebenso die Repräsentation anderer Praktiken innerhalb eines praxistheoretischen Vokabulars denkbar wird, ist die Möglichkeit dafür geschaffen worden, dass die vorwiegend mit Text- und Bildquellen operierenden Disziplinen wie Literatur-, Film- oder Geschichtswissenschaft überhaupt mit einem praxistheoretischen Denk- und Begriffssystem arbeiten können. Nur durch diese theoretische Integration bekommen Texte innerhalb des praxistheoretischen Denkgebäudes einen Status als (überzeitliche) Manifestationen diskursiver Praktiken zugeordnet; ohne diese Integration hingegen wären sie in einem praxistheoretischen Denken positions- und funktionslos. Zu den textu-

52

Diese Sichtweise ist grundsätzlich kompatibel mit Theodor Schatzkis einflussreicher Definition von Praktiken, welche er als »doings and sayings« (Schatzki 2002, 72) bestimmt hatte.

64 │ VON DER T ORHEIT , WÄHLERISCH ZU STERBEN

ellen und visuellen Diskursen,53 die andere Praktiken und ganze Subjektformen repräsentieren (können), zählt Reckwitz ausdrücklich literarische Texte. Im Folgenden werde ich mich nun eingehender mit der Frage der Repräsentation von Praktiken und Subjektformen in literarischen Texten befassen. Es gilt, im abschließenden Teil meiner theoretischen Überlegungen die Reichweite, Bedingungen und Grenzen einer literaturwissenschaftlichen Adaption subjektivierungstheoretischer Annahmen zu erörtern.

3.4 G RUNDLAGEN , E RKENNTNISPOTENZIAL UND R EICHWEITE EINER PRAXISTHEORETISCHEN P ERSPEKTIVE AUF L ITERATUR 3.4.1 Grundlagen und Bedingungen Das Verfassen literarischer Texte ist also nach Reckwitz eine diskursive Praktik, durch die Subjektrepräsentationen bereitgestellt werden. Diese These werde ich nun mit Blick auf ihre impliziten Annahmen und die sich daraus ergebenden Konsequenzen diskutieren. 1. Wenn das Verfassen eines literarischen Textes eine diskursive Praktik und der Text selbst die Manifestation dieser Praktik ist, dann ist diese Praktik wie alle Praktiken abhängig vom zeitlichen und gesellschaftlichen Kontext, in den sie eingebettet ist. Diese praxistheoretische Perspektive geht also zwingend einher mit einer Verabschiedung der Vorstellung eines »autonom schöpfenden, individuell und überzeitlich zeugenden Autorensubjekt[s]« (Huber 2010, 201), dessen literarisches Schaffen über jedweden zeitlichen und gesellschaftlichen Kontexten erhaben wäre. Diese aus Reckwitzʼ Überlegungen abgeleitete Konsequenz ist keine exklusive Schlussfolgerung einer praxistheoretischen Perspektive auf Literatur, sondern vielmehr eine Grundannahme, auf der allgemein alle sozialhistorischen Zugänge zu literarischen Texten fußen. So konstatierte Martin Huber: »Ein sozialhistorisch orientierter Begriff von Literatur überwindet die Vorstellung, Literatur als geschlossenes, autonomes, stilistisch und formal sich selbst genügsames Kunstwerk zu beschreiben, und stellt stattdessen die Literatur in den sozialen Handlungszusammenhang gesellschaftlicher Prozesse.« (Huber 2010, 204)

53

Zur Unterscheidung zwischen visuellen und textuellen Diskursen vgl. Reckwitz 2010b, 137.

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2. Mit der Verabschiedung eines autonomen und geschlossenen Status des Kunstwerks geht die »Grundannahme, Literatur habe eine explizite Referenz auf die außertextuelle Wirklichkeit« (ebd., 201) einher, von der sozial-historische Textanalysen notwendig immer ausgehen. Diese Prämisse liegt auch Reckwitzʼ Annahme zu Grunde, literarische Texte würden Subjektrepräsentationen liefern und damit gleichzeitig als Medium der Verständigung über bestimmte SubjektIdeale dienen. Bei genauerer Betrachtung scheint Reckwitz bei seinen Überlegungen allerdings mit zwei unterschiedlichen Modellen von Repräsentation zu operieren, die er nicht voneinander unterscheidet. So vertritt er zunächst die Position, literarische Texte und andere Kunstwerke offerierten »explizite Repräsentationen« (Reckwitz 2010, 60) verschiedener Subjektformen. Als Beispiel nennt er die Darstellung »eines Subjekts mit moralischem Sinn und Sinn für biographische Entwicklung im bürgerlichen Roman« (ebd., 67). Die Subjektrepräsentation scheint in diesem Fall auf der Figurenebene der erzählten Welt und damit im Bereich des Dargestellten zu liegen. Wenn Reckwitz an späterer Stelle allerdings über die avantgardistischen Subjektmodelle spricht, so leitet er diese Modelle offenbar eher aus dem literarischen Stil ab, wie es zum Beispiel seine Überlegungen zum expressionistischen Subjekt nahelegen: »Das expressionistische Subjekt baut auf einem semiotischen Dualismus des Bewegten gegen das Erstarrte, des Chaotischen gegen das Geordnete, des Spontanen gegen das Kalkulierte.« (ebd., 303)54 Der ›Ort‹ der Repräsentation im literarischen Text scheint hier nicht mehr die erzählte Welt, sondern die Ebene der Darstellung zu sein, aus welcher Schlussfolgerungen über Subjektformen abgeleitet werden, welche allerdings nicht mehr durch die einzelnen Figuren des Textes repräsentiert werden. Für die hier vorliegende Arbeit, in der dezidiert eine sozial-historische Figurenanalyse angestrebt wird, ist vor allem die erste Form, d.h. die Repräsentation von Subjektformen durch literarische Figuren auf der Ebene der erzählten Welt, relevant. Dabei ist nun zunächst zu klären, unter welchen Umständen die erzählte Welt ei-

54

Auf ähnliche Weise stellen sich auch Reckwitzʼ Überlegungen zum dadaistischen Subjektmodell dar: »Im dadaistischen Subjektmodell wird am eindeutigsten Transgression in einem Verständnis des Lebens als Experiment, in den Möglichkeiten des Ichs als ein ›Spiel‹ festgemacht.« (Reckwitz 2010a, 306) Wie Reckwitz nun aber von den ästhetisch-literarischen Verfahren auf ein damit verbundenes Modell von Subjektivität schließt, ist in seinen zum Teil holzschnittartigen Ausführungen nicht immer ersichtlich und nachvollziehbar.

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nes literarischen Textes Subjektentwürfe55 bereitstellen kann, welche als Repräsentation außerliterarischer Subjektformen erkennbar und intelligibel sind. Solche grundsätzlichen Fragen über das Verhältnis von Literatur und außerliterarischer Wirklichkeit wurden in literaturtheoretischen Arbeiten – in neuerer Form etwa bei Frank Zipfel – unter anderem im Zusammenhang mit dem Fiktions-Begriff bereits ausführlich erörtert. Mit Blick auf diese Diskussion lässt sich hier zunächst thesenhaft formulieren, dass literarische Texte nur dann Repräsentationen außerliterarischer Subjektformen bereitstellen können, wenn in diesen Texten das Realitätsprinzip der Darstellung der Figuren (und der Sozialität) zu Grunde liegt. Was ist mit dem Realitätsprinzip gemeint? Damit ist allgemein gemeint, »daß eine fiktive Welt so nah wie möglich an der realen Welt zu konstruieren ist« (Zipfel 2001, 85). Dieses Postulat fußt auf der Überlegung, dass literarische Texte niemals alle Sachverhalte explizieren, von denen sie ausgehen. Folglich finden sich in jedem literarischen Text implizite Sachverhalte, die es nötig machen, »Regeln für das korrekte Ergänzen eines Erzähl-Textes bzw. für das korrekte Vervollständigen der fiktiven Welt zu erarbeiten« (ebd.). Diese notwendigen Regeln werden gemäß des Realitätsprinzips aus der außerliterarischen Wirklichkeit abgeleitet, das heißt, es »können zur fiktiven Welt alle Sachverhalte der realen Welt gerechnet werden, die nicht durch den Erzähl-Text ausdrücklich aufgehoben oder negiert werden« (ebd.).56 Wenn beispielsweise Schach von Wuthenow in Fontanes Erzählung in Folge eines Pistolenschusses stirbt, so setzt dies voraus, dass der Text von den gleichen Annahmen über die Zerstörbarkeit des menschlichen Körpers ausgeht, die auch in der Wirklichkeit Gültigkeit besitzen. Die literarischen Texten impliziten, allgemeinen Annahmen können über physikalische und biologische Gegebenheiten hinaus auch »das Verhalten von Lebewesen oder […] die menschliche Psychologie« (ebd., 86)

55

Der von Sabine Kyora entliehene Begriff der »literarische[n] Subjektentwürfe« (Kyora 2013, 252) trägt dem Umstand Rechnung, dass literarische Texte neben der Repräsentation außerliterarischer Subjektformen grundsätzlich auch fiktive Subjektmodelle entwerfen können, welche keine Referenz auf die Wirklichkeit haben. Letzteres scheint insbesondere, aber nicht ausschließlich in phantastischen Texten häufig der Fall zu sein. (Man denke beispielsweise an all die Zauberer, Elfen, Waldläufer, Halblinge und dergleichen aus dem ›Tolkien-Universum‹.) Der Terminus Subjektentwurf fungiert hier also als Oberbegriff für alle Modelle von Subjekthaftigkeit, die in literarischen Texten entworfen werden können.

56

Zipfel spricht hier zwar zunächst nur von Erzähltexten, doch betont er an anderer Stelle, dass diese Überlegungen zur Fiktionalität auch für das Drama gelten. Vgl. Zipfel 2001, 313.

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und damit letztlich auch die Beschaffenheit der literarischen Figuren betreffen. Mit Blick auf Texte, die sich unter dem Begriff der Realistik57 subsumieren lassen, formuliert Zipfel für die Figuren noch präziser: »Als Ereignisträger realistischer Geschichten kommen ausschließlich Figuren in Frage, deren Eigenschaften nicht von den Merkmalen abweichen, die für reale Personen gemäß dem Wirklichkeitskonzept als möglich gelten.« (ebd., 108) Was für die Beschaffenheit einzelner Figuren gilt, trifft auch für deren soziales Verhalten und für die Schilderung sozialer Beziehungen zu. So lange dies vom Text nicht explizit negiert wird, ist auch der Darstellung von Sozialität das Realitätsprinzip unterlegt, was von Claus-Michael Ort auf den Begriff der »Sozialmimesis« (Ort 2003, 105) gebracht wird. Mit Blick auf ihren sozialen Kontext hin interpretierbar sind demnach solche »erzählenden und dramatischen […] Texte, die sich durch eine Mimesis, eine Nachahmung des Sozialen auszeichnen, also fiktive soziale (politische, wirtschaftliche) Zustände darstellen« (ebd., 104). Nun gibt es aber bei der Anwendung des Realitätsprinzips auf literarische Texte einer vergangenen Epoche unter Umständen ein Problem: das, was wir gegenwärtig für die Wirklichkeit halten, galt in früheren Epochen möglicherweise als Fiktion.58 Um diesem Problem zu begegnen, schlägt Zipfel vor, in solche Fällen das Realitätsprinzip durch das Prinzip der allgemeinen Überzeugungen zu ersetzen. Der Unterschied zwischen beiden Prinzipien beruht »auf der Reflexion über die historische und kulturelle Bedingtheit und Variabilität dessen, was als Wirklichkeit aufgefasst wird« (Zipfel 2001, 87), womit sich das Prinzip der allgemeinen Überzeugungen letztlich als eine auf die »Wirklichkeitskonzeption des Produktionszusammenhangs relativierte Form des Realitätsprinzips« (ebd., 88) darstellt.59 Texte vergangener Epochen (wie der Zeit um 1900) können also immer dann zeitgenössische Subjektrepräsentationen beinhalten, wenn die Darstellung der Figuren und der sozialen Welt in diesen Texten dem Prinzip der allgemeinen Überzeugungen gehorcht. Verallgemeinernd kann man formulieren, dass es sich bei Subjektentwürfen in literarischen Texten dann um Repräsentati-

57

Realistik meint bei Zipfel den Fall, »daß die Geschichte einer Erzählung in Bezug

58

Ein simples Beispiel hierfür ist die uns heute selbstverständliche Kugelförmigkeit

auf das jeweils gültige Wirklichkeitskonzept möglich ist« (Zipfel 2001, 107). der Erde, die in einem mittelalterlichen Text nicht als Referenz an die Wirklichkeit, sondern als Fiktion gegolten haben muss. 59

In diesem Prinzip drückt sich stärker als im Realitätsprinzip eine konstruktivistische Vorstellung von Wirklichkeit aus. Der Maßstab für das, was in einer bestimmten Epoche als Realität gilt, ist letztlich das diskursive Wissen dieser Zeit, mithin die kulturellen Vorstellungen, und nicht irgendeine ontologische Wahrheit.

68 │ VON DER T ORHEIT , WÄHLERISCH ZU STERBEN

onen außerliterarischer Subjektformen handelt, wenn der Darstellung von Figuren und Sozialität das Prinzip der allgemeinen Überzeugung unterlegt ist. 3.4.2 Erkenntnispotenzial Was aber ist der Gewinn eines sozial-historischen Zugangs praxistheoretischen Zuschnitts? Zwei verschiedene Aspekte versprechen hier einen Mehrwert für die Textanalyse: 1. Mit dieser Perspektive wird es möglich, das Verhältnis zwischen einer literarischen Figur und einem außerliterarischen sozialen Typus zu bestimmen und beispielsweise die literarische Figur als Repräsentationen einer bestimmten Subjektform zu identifizieren. Dies ist deshalb besonders gut möglich, weil ein solcher subjektivierungstheoretischer Zugang eine Antwort auf die Frage gibt, wie ein Subjekt hergestellt und in einer bestimmten Form intelligibel wird. Ich möchte dies am Beispiel des bürgerlichen Subjekts illustrieren. Schon 1989 forderte Eberhard Lämmert, den Begriff der Bürgerlichkeit als literarhistorische Kategorie ernst zu nehmen. Dabei wies er allerdings auf eine Schwierigkeit dieses Begriffs hin: »So kann Bürgerlichkeit keineswegs nur Bürgern zukommen, und andererseits muß ein Bürger [...] nicht in allen seinen Zügen und unter Umständen sogar nicht einmal dominant Bürgerlichkeit aufweisen.« (Lämmert 1989, 197) Wenn der Bürger nicht durch Geburt oder die Zuerkennung bestimmter Rechte zu einem solchen wird, dann stellt sich allerdings die Frage, wie man erkennen kann, ob eine literarische Figur der zeitgenössischen Auffassung von Bürgerlichkeit entspricht. Stark vereinfacht lautete die m.E. plausible Antwort der Praxistheorien auf diese Frage: ein Figur ist dann bürgerlich, wenn sie sich bürgerlich verhält. Übersetzt man dies in das Vokabular der Praxistheorien, so lässt sich formulieren: bürgerlich bzw. als bürgerlich erkennbar ist eine Figur dann, wenn im Text die Subjektivierung dieser Figur in spezifisch bürgerlichen Praktiken dargestellt wird. Um aber bei Texten aus vergangenen Epochen entscheiden zu können, ob die im Text repräsentierten Praktiken in dieser Zeit als spezifisch bürgerlich galten, ist es nötig, die Ergebnisse der geschichtswissenschaftlichen Forschung hinzuzuziehen. Nur die Geschichtswissenschaft kann fundiert über die sich in einem spezifischen Setting von Praktiken manifestierenden, historischen Konturen einer Subjektform Auskunft geben. Literaturwissenschaftler indes können Aussagen darüber treffen, wie sich die vorgefundenen Subjektentwürfe in literarischen Texten zu historischen Subjektformen verhalten und dabei Abweichungen und Deckungsgleichheiten aufzeigen. Eine solche im

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Prinzip deduktive Form einer sozial-historischen Analyse kommt in der hier vorliegenden Arbeit zur Anwendung.60 Mit dieser Art der Figurenanalyse lässt sich überprüfen, ob die in einem literarischen Text realisierte Art der Selbsttötung vor allem außerliterarischrelevanten Gepflogenheiten des Suizids Rechnung trägt. Vielleicht tötet sich eine bestimmte literarische Figuren deshalb auf eine bestimmte Weise, weil sie einer außerliterarischen Subjektform nachempfunden ist, die eine bestimmte SuizidPraktik präferiert. Damit will ich ausdrücklich nicht behaupten, dass es zu jeder Subjektform eine kulturell fest zugeordnete Art der Selbsttötung gibt, die sich dann in literarischen Texten wiederfindet. Zumindest für einige Subjektformen aber scheint es solche festen Suizidkonventionen tatsächlich zu geben, die dann möglicherweise auch in literarischen Texten repräsentiert werden. So wählt beispielsweise eine Offiziers-Figur wie Schach von Wuthenow in Fontanes gleichnamiger Novelle möglicherweise lediglich aus dem einen Grund den Tod durch die Pistole, weil die Offiziere in der Realität genau diese Art des Suizids bevorzugten (oder besser: weil sie in dem Ruf standen, dies zu tun). Die Suizidmethode würde in einem solchen Fall dem Realitätsprinzip gehorchen und wäre, in der Terminologie von Martinez, im Text kausal motiviert.61 Eine solche Deutung

60

Deduktiv ist dieser Zugang in so weit, als zunächst ausgehend von der Annahme einer Wirklichkeitsreferenz kritisch geprüft wird, ob bestimmte Zusammenhänge der Wirklichkeit als Erklärung für Teile der fiktiven Welt des literarischen Textes taugen. Gleichwohl stellt dieser Zugang durchaus in Rechnung, dass sich die Dinge in der Literatur immer auch ganz anders verhalten können als in der Wirklichkeit. Gerade um diese Möglichkeit nicht aus dem Blick zu verlieren, liegt dieser Arbeit ein zweifacher methodischer Zugang zugrunde, der in Kapitel 3.2 als ›doppelte Analyseoptik‹ ausgeflaggt wurde. Ferner will ich grundsätzlich auch nicht die Möglichkeit in Abrede stellen, induktiv aus literarischen Texten wiederum Rückschlüsse über die Beschaffenheit einer historischen Wirklichkeit ziehen zu können. Dies ist allerdings im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht zielführend und wäre ohnehin eher Aufgabe einer geschichtswissenschaftlichen Arbeit, die mit Hilfe von Literatur etwas über die historische Wirklichkeit herausfinden möchte.

61

Martinezʼ Konzept der kausalen Motivierung korrespondiert direkt mit dem Realitätsprinzip und ist dementsprechend mit diesem kompatibel. Die kausale Motivierung eines Textes fußt auf dem Realitätsprinzip, was sich bei Martinez wie folgt liest: »Wie für Ereignisse des realen Alltags wird auch für die erzählten Welten literarischer Texte die Wirksamkeit bestimmter Gesetzmäßigkeiten meist nur implizit vorausgesetzt statt explizit behauptet. […] Dabei unterlegt der Leser dem dargestellten Geschehen – sofern es sich um Texte mit ›realistischem‹ Anspruch handelt –

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wäre aber nur dann plausibel, wenn man vorher zeigen könnte, dass sich Schach von Wuthenow im Text auch wie ein Offizier verhält, also als die Repräsentation eines Offiziers-Subjekts verstanden werden kann. Für eine derartige Analyse ist der hier skizzierte theoretische Zugang besonders gut geeignet, weil er im Unterschied zu anderen sozialhistorischen Ansätzen erstens ein Konzept von Subjektivierung beinhaltet und zweitens als Analyseeinheit auf den dargestellten Praktiken aufbaut, die sich auch in literarischen Texten vergleichsweise gut herausarbeiten und beobachten lassen. 2. Zudem ermöglicht es dieser Textzugang auch, die im Text dargestellten sozialen Ursachen der literarischen Selbsttötungen in den Blick zu bekommen. Wie in Kapitel 3.2.2 bereits angedeutet, scheinen die literarischen Texte um 1900 die Suizide ihrer Protagonisten nahezu ausnahmslos als das Ergebnis sozialer Prozesse bzw. Konflikte darzustellen. Solchen Konflikten, die sich beispielsweise um Fragen der Ehre drehen können, ist eine bestimmte soziale Logik implizit, welche sich mittels einer praxistheoretischen Analyse offenlegen lässt. Denn wie im Grunde alle soziologischen Theorien, so wollen auch die Praxistheorien vor allem beleuchten, wie soziales Handeln und soziale Ordnung möglich sind, wobei der besondere praxistheoretische Ansatz eben darin besteht, das Soziale von den Praktiken her zu denken. Das heißt also, dass man über die Betrachtung von literarisch repräsentierten Praktiken und Subjektformen unter bestimmten Umständen auch erklären kann, warum Figuren in literarischen Texten Suizid begehen. Der hier skizzierte sozial-historische Textzugang ermöglicht es damit also, sowohl offenzulegen, wer sich im Text das Leben nimmt, als auch aufzuzeigen, warum es zum Suizid kommt, wobei das ›wer‹ und das ›warum‹ in aller Regel miteinander verbunden sind.62 Beide Aspekte können dann wiederum mit der Frage zusammenhängen, wie eine Figur sich das Leben nimmt. 3.4.3 Grenzen eines praxistheoretischen Zugangs zu Literatur Ein erster Grenzpunkt einer praxistheoretischen Perspektive auf literarische Texte ergibt sich aus den oben skizzierten Bedingungen dieses Zugangs. Wenn sozial-historische Analysen voraussetzen, dass in den betrachteten Werken das Realitätsprinzip für die Darstellung der Figuren und der sozialen Zusammenhänge gilt, so endet die Reichweite dieser Methode dort, wo dieses Prinzip für die ge-

prima facie Erklärungen, deren Gültigkeit er auch für die eigene Lebenswelt annimmt.« (Martinez 1996a, 24) 62

So kommen beispielsweise Suizide aus Ehrgründen nur bei Figuren vor, für die das Konzept der Ehre relevant ist.

3. T HEORIE UND M ETHODE

│ 71

nannten Aspekte aufgehoben ist. Bei welchen Texten dies der Fall ist, lässt sich vorab nicht pauschal sagen. Sicherlich ist eine Aufhebung des Realitätsprinzips bei bestimmten Formen fiktiver Geschichten wie der Phantastik eher zu erwarten, als bei Texten mit realistischem Anspruch. Doch muss die Aufhebung des Realitätsprinzips weder allein auf die Phantastik beschränkt sein, noch muss sich diese Aufhebung selbst in phantastischen Texten auf alle Aspekte der Geschichte erstrecken. Die Wirklichkeitsreferenz einer Geschichte ist etwas Graduelles; das Realitätsprinzip ist nie vollständig, sondern immer nur bis zu einem gewissen Grad, d.h. in Bezug auf bestimmte Aspekte, aufgehoben.63 Wo aber die Trennlinie verläuft, ab der eine sozial-historische Figurenanalyse nicht mehr möglich ist, lässt sich nicht a priori feststellen; vielmehr wird sich jeweils erst in den einzelnen Analysen zeigen, ob der theoretische Zugang an seine Grenze stößt. Eine gewisse Gültigkeit des Realitätsprinzips ist nur eine notwendige, aber noch keine hinreichende Bedingung für den hier skizzierten Textzugang. Es ist noch ein weiteres Problem denkbar, an dem eine solche Textanalyse scheitern könnte: Eine praxistheoretische Perspektive, so wurde gesagt, analysiert das Soziale und die Subjekte über die Praktiken. Wenn im literarischen Text allerdings Praktiken gar nicht oder nur unzureichend dargestellt werden, so ist der praxistheoretische Zugang seiner Grundlage entzogen. Dieses Problem betrifft also nicht den Wirklichkeitsbezug der Geschichte, sondern den Aspekt der Informationsvergabe. Wenn keine Informationen über die Praktiken, in denen sich eine Figur subjektiviert, vergeben werden, so lassen sich aus praxistheoretischer Perspektive für diese Figur auch nicht die Konturen einer Subjektform feststellen.64

63

Auch fiktive Geschichten sind nach Zipfel »nie ganz und gar unwirklich, sie haben stets eine Beziehung zur Wirklichkeit« (Zipfel 2001, 82). Sowohl das Erzählen als auch das Verstehen einer Geschichte brauchen Anknüpfungspunkte in der Realität, von denen aus überhaupt erzählt bzw. verstanden werden kann. Geschichten hingegen, »die in keiner Relation zu unserer Wirklichkeitskonzeption stehen, könnten wir weder erzählen noch verstehen, wir könnten sie uns nicht einmal vorstellen« (Zipfel 2001, 82).

64

Auf ein ähnliches Problem weist Thomas Boyken in seiner Dissertation hin, in welcher er das Habitus-Konzept Pierre Bourdieus als Instrument für die Figurenanalyse fruchtbar macht. Bei der Adaption des soziologischen und im weitesten Sinne praxistheoretischen Habitus-Konzepts kommt Boyken ebenfalls zu dem Ergebnis, dass »durch mangelnde Informationsvergabe hinsichtlich der Wahrnehmungs-, Denkund Handlungsmuster einer Figur« (Boyken 2014, 391) die Analyse erschwert werden könne.

72 │ VON DER T ORHEIT , WÄHLERISCH ZU STERBEN

Zusammengefasst bestehen mögliche Fallstricke für eine subjektivierungstheoretische Perspektive auf Literatur einerseits darin, dass die Darstellung der Figuren und der sozialen Beziehungen in Texten nicht zwangsläufig dem Realitätsprinzip unterworfen sein muss und andererseits darin, dass im Text möglicherweise keine Informationen über Subjektivierungspraktiken einer Figur vergeben werden. In beiden Fällen wäre es nicht möglich, die Figur sozial-historisch als Repräsentation einer Subjektform zu lesen und daraus Schlussfolgerungen über den Zusammenhang zwischen Subjektivierungsweisen und Suizidmethoden abzuleiten. Ob diese Fallstricke aber nun auch bei der Untersuchung des Textkorpus zu Schwierigkeiten führen, wird sich erst in den jeweiligen Analysen herausstellen.

4. Ehrenmänner? Pistolen- und Giftsuizid bei Männern

4.1 E INE F RAGE DER GUTEN H ALTUNG : F ONTANES S CHACH VON W UTHENOW Im Jahr 1882 veröffentlichte Theodor Fontane in der Vossischen Zeitung mit seinem Schach von Wuthenow einen Text, den Georg Lukàczs knapp siebzig Jahre später zum »einsame[n] Gipfel der deutschen historischen Erzählkunst« (Lukàczs 1973, 68) erklärte. Der Stoff der Geschichte des Rittmeisters Schach von Wuthenow, der sich nach einer Liaison mit der ebenso geistreichen wie in Folge einer Krankheit entstellten Victoire von Carayon der vom Kronprinzen befohlenen Ehe durch einen Pistolensuizid entzieht, geht auf eine reale Begebenheit zurück. Im Jahr 1815 erschoss sich der preußische Major von Schack vor der befohlenen Verlobung mit der neu geadelten Bankierstochter Victoire von Crayen. So geringfügig Fontanes Abänderung der Figurennamen gegenüber den historischen Personen ausfällt, so gewichtig ist der Kunstgriff, dessen sich der Schriftsteller bei der Datierung seiner fiktiven Geschichte bedient. Fontane verlegt die Handlung in den Sommer des Jahres 1806 und damit an den Vorabend der preußischen Niederlage gegen Napoleon in der Doppelschlacht von JenaAuerstedt. Schach von Wuthenow ist damit, wie von Lukàczs attestiert, eine historische Erzählung, die wie der vier Jahre zuvor erschienene Roman Vor dem Sturm zur Zeit der Koalitionskriege spielt. Im Schach von Wuthenow verschmilzt, wie Christian Grawe bemerkt, »das Novellistische des unerhörten Ereignisses […] mit einer breitangelegten Milieustudie« (Grawe 2000, 537) im historischen Gewand,1 welche den preußischen Adel zum Gegenstand nimmt. In der

1

Da der Text sowohl Elemente des historischen Romans als auch Merkmale der Novelle aufweist, gestaltet sich eine eindeutige Zuordnung zu einer der beiden Prosa-

74 │ VON DER T ORHEIT , WÄHLERISCH ZU STERBEN

Forschungsliteratur herrscht weitgehende Einigkeit darüber, dass diese literarische Milieustudie eine »doppelte Repräsentanz für zwei militärisch geprägte Gesellschaftsformationen« (Ecker 2002, 206) besitzt. Für die preußische Gesellschaft um 1806 ebenso wie für das »zeitgenössische Preußen Fontanes in den Jahren nach der Reichsgründung« (ebd.).2 Der Text sei, so eine verbreitete Ansicht der Sekundärliteratur, eine von »Fontanes politischen Gegenwartserfahrungen gespeist[e]« (Grawe 2000, 537) Replik auf die Gesellschaft des Kaiserreichs, welche ihrerseits eine »dunkle Ahnung hatte, daß sie selbst durch diese angeblich historische Novelle angegriffen wurde« (Osborne 1991, 97).3 Wenn also im Folgenden die Subjektivierung Schachs im Hinblick auf den Suizid betrachtet und in Relation zu bestimmten historisch-kulturellen Vorstellungen von Adeligkeit und Offizierstum gesetzt wird, so zu denjenigen, die während der Entstehungszeit der Erzählung virulent waren. Denn der Text transportiert in erster Linie die kulturellen Vorstellungen seiner Entstehungszeit und weniger diejenigen des historischen Zeitpunkts der Handlung. Dies gilt nicht nur für die Vorstellung bestimmter Subjektformen,4 sondern auch für die kulturelle Bedeutung verschiedener Suizidmethoden. Mit Blick auf die Entstehungszeit der Erzählung werde ich im Folgenden argumentieren, dass Schach nicht, wie zuweilen konstatiert, eine »Außenseiterposition« (Kaiser 1978, 492) unter seinen Standesgenos-

formen schwierig. Daher wird in den folgenden Ausführungen der Begriff der Erzählung beibehalten, welcher durch den Untertitel des Textes Erzählungen aus der Zeit des Regiments Gensdarmes bereits evoziert wird. 2

Die Ansicht Eckers teilen Müller-Seidel 1980, Osborne 1991, Grawe 2000, Geppert

3

Tatsächlich lassen sich im Text einige Anachronismen nachweisen, welche darauf

2001, Szukala 2008. hindeuten, dass die Darstellung der adeligen Gesellschaft von kulturellen Vorstellungen beeinflusst ist, die nicht dem Zeitpunkt der Handlung entstammen können. So könnten sich preußische Offiziere zwar durchaus Anekdoten über den Kaiser von Brasilien erzählt haben (vgl. SW 25), allerdings sicher nicht vor der Gründung des Kaiserreichs Brasilien 1822. Ähnlich verhält es sich mit den im ersten Kapitel im Salon der Carayons gereichten Karlsbader Oblaten (vgl. SW, 7). Diese erfreuten sich tatsächlich in preußischen Adelskreisen und speziell bei Kaiser Wilhelm I. großer Beliebtheit, jedoch erst, seit diese ab 1867 gewerblich vertrieben wurden. Um 1800 waren die Karlsbader Oblaten hingegen in Preußen noch nahezu unbekannt. Vgl. Weinmann 1985, 63. 4

Mit Blick auf die Subjektform des adeligen Offiziers ist dies ohnehin unproblematisch, da sich die dazugehörige Subjektivierungsweise zwischen 1806 und 1882 nur wenig verändert hat.

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sen bekleidet, sondern im Gegenteil geradezu prototypisch einer bestimmten zeitgenössischen Vorstellung vom adeligen Offizierssubjekt entspricht. Zu dieser zeitgenössischen Vorstellung zählt auch die im Text realisierte Selbsttötungsart des Erschießens. Darüber hinaus werde ich zeigen, wie die Stilisierung des Suizids als ›aufrechter Tod‹ an das für Schachs Lebensweise zentrale Prinzip der Haltung anknüpft, welches noch im Akt der Selbstauslöschung wirkmächtig bleibt. 4.1.1 Die gute Haltung des adeligen Offiziers Im Folgenden gilt es also mit Blick auf die Bedeutung der Suizidmethode, zwei unterschiedliche Fragen zu beantworten: Inwieweit kann Schach erstens als Repräsentation eines bestimmten sozialen Typus, nämlich des zeitgenössischen adeligen Offiziers, verstanden werden? Und wie lassen sich zweitens aus der sozialen Funktionslogik dieser Figur, mithin aus ihrer dargestellten Subjektivierung, der Entschluss zum Suizid und die Art der Selbsttötung erklären? Diese Fragen lassen sich weder aus der Rede des Erzählers, noch aus den Kommentaren der übrigen Protagonisten zweifelsfrei beantworten. Zwar sind Schach und sein Suizid mehrfach Gegenstand der Gespräche der übrigen Figuren, doch unterscheiden sich diese in ihren Urteilen über den preußischen Rittmeister zuweilen fundamental. So gilt Schach je nach Perspektive mal als »Pedant und Wichtigtuer« (SW 24) oder als »ängstlicher Aufmerker« (SW 106), der weder »von hervorragender geistiger Bedeutung, noch von superiorem Charakter« (SW 134) ist; dann aber auch wieder als »ritterlich« (SW 44) und »einer unsrer Besten« (ebd.) oder auch als »Kavalier und Mann von Ehre« (SW 119). Welche dieser Bewertungen zutrifft, ist für den Leser zunächst nicht unmittelbar entscheidbar. Innerhalb der nullfokalisierten Erzählung ist die einzige Instanz mit einem logisch privilegierten Status der Erzähler, welcher es aber nahezu vollständig vermeidet, die Figuren oder ihr Handeln in irgendeiner Weise wertend zu kommentieren. Aus den Äußerungen über Schach lässt sich also kein eindeutiges Bild der Hauptfigur oder eine Erklärung für ihren Suizid extrahieren, was bereits MüllerSeidel feststellte, der konstatierte: »Eindeutigkeit im Urteil gehört nicht zu den Strukturprinzipien dieser Erzählung.« (Müller-Seidel 1980, 147) Gleichwohl aber ist es möglich, die Funktionslogik dieser Figur sozialhistorisch zu erschließen, indem man die Subjektivierungspraktiken Schachs in den Blick nimmt und im zeitgenössischen Kontext verortet. Schon Schachs erster Auftritt beginnt mit der Darstellung eines körperlichen Verhaltens, welches sich im weiteren Verlauf des Textes mehrfach wiederholt. Kaum in den Salon eingetreten »küßte [er] der Frau von Carayon die Hand, ver-

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neigt sich gegen Victoire und begrüßt dann Alvensleben« (SW 10). Was hier geschildert wird, ist ein routinisiertes und formalisiertes körperliches Verhalten, welches Angelika Linke in ihrer Untersuchung der adeligen »Leibesgestik« (Linke 2004, 260) unter den Begriff der »körperliche[n] Kommunikationspraktiken« (ebd., 257) fasst. Dieser Typus von Praktiken wird im Zusammenhang mit der Hauptfigur die gesamte Erzählung hindurch geschildert und ist insbesondere spezifisch für Schachs gesellschaftlichen Verkehr mit den weiblichen Figuren. Neben dem mehrfach erwähnten Handkuss5 zählen dazu auch das Reichen des Armes beim Spaziergang,6 Verneigungen bzw. Verbeugungen,7 ein bestimmtes Abschiedszeremoniell8 oder das Behilflich-Sein beim Aussteigen aus der Kutsche.9 Derartige Praktiken gehörten zu der unter den Begriffen »Höflichkeit bzw. Benehmen« (Funck 2004, 212) subsumierten Etikette adeliger Interaktionspraxis. Die Bedeutung dieser für das Gelingen von Konversation im Grunde überflüssigen Etikette bestand nicht in ihrer interaktiven Funktion, sondern es war »gerade der arbiträre, stilistisch-ornamentale Charakter dieses Körperverhaltens, [welcher] seinen sozialen Wert« (Linke 2004, 264) markierte. Komplementär zu der ritualisierten Leibesgestik der Hauptfigur basiert in Fontanes Erzählung auch die verbale Kommunikation zwischen Schach und seinen Standesgenossinnen auf formalisierten sprachlichen Praktiken. Dazu zählt zunächst, dass sich Schach gegenüber den Carayon-Damen stets feierlicher Anreden wie »meine teure Victoire« (SW 67) oder »meine gnädigste Frau« (SW 27) bedient.10 Über den formalen Aspekt der Anrede hinaus weist die Konversation zwischen den Figuren noch andere Muster auf, die sich als eine Art Sprachspiel beschreiben lassen. Zu diesem Sprachspiel gehört der Aufbau einer ScheinHierarchie, innerhalb derer sich der Protagonist der Verfügungsgewalt der adeligen Damen unterwirft. Innerhalb des Sprachspiels bekleidet Schach die Position des Kavaliers, der nicht nur die »Befehle« (SW 28) der Damen bereitwillig befolgt, sondern sich auch glücklich darüber erklärt »gehorchen zu können« (ebd.).11 Diese Selbststilisierung als Diener, der sich mit »empressement« (SW

5

Vgl. SW 34, 71, 82, 126.

6

Vgl. SW 39, 41, 128.

7

Vgl. SW 61.

8

Vgl. SW 69, 85, 129.

9

Vgl. SW 33.

10

Vgl. auch SW 10, 34, 35, 68, 82

11

Diese Hierarchie bleibt allerdings eine scheinbare, denn weder in der außerliterarischen Realität noch in Fontanes Text verfügen die Frauen über eine tatsächliche reale Macht, mit der sie ihre Interessen durchsetzen können. Deutlich wird dies an dem

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123) der Gnade und dem »Großinquisitoriat« (SW 66) Josephines unterwirft, verbindet sich mit den Frauen entgegengebrachten »Huldigungen« (SW 34). Derartige Konstellationen, bei denen der Mann »dem schönen Geschlechte […] in ritterlicher Verehrung seine Huldigung darbringt« (Funck 2004, 219), waren typisch für die adelige Subjektkultur, welche es erforderte, »in vorbildlicher Weise Konversationskompetenzen [zu erwerben]« (Reckwitz 2010, 183). Denn wer sich in der adeligen Gesellschaft behaupten wollte, »muß[te] diese Verkehrs- und Verhaltensformen beherrschen und internalisieren« (Braun/Gugerli 1993, 301). Seine gesellschaftliche Mitspielfähigkeit stellte das adelige Subjekt auch durch eine souveräne Beherrschung der stark formalisierten körper- und verbalkommunikativen Umgangsformen unter Beweis. Schach beherrscht diese Umgangsformen perfekt, ist sich aber zugleich des formalisierten Charakters seines Verhaltens bewusst. Dies klingt etwa an, wenn der Erzähler bemerkt: »Schach schickte seinen Diener und ließ anfragen, ob die Damen der Vorstellung beizuwohnen gedächten? Es war eine bloße Form, denn er wußte, daß es so sein werde.« (SW 71) Die Formvollendung des körperlichen und kommunikativen Verhaltens war innerhalb der adeligen Subjektkultur einem höheren Prinzip verpflichtet, welches als Haltung bezeichnet wurde. Dieser »Schlüsselbegriff« (Funck/Malinowski 1999, 245) der adeligen Subjektivierungsweise meinte weit mehr als nur die äußerliche Körperhaltung. Er implizierte vielmehr die Vorstellung von einem »Zusammenwirken von physischen und psychischen Dispositionen, die in formvollendeter Weise Nähe und Abstand, Vertrautheit und Distanz austarierten, Affekte und Triebhaftigkeit kontrollierten« (Funck 2004, 224). Das adelige Subjekt hatte demnach ein »körperliches An-Sich-Halten inkorporiert [...], dessen Selbstdisziplin, affektive Mäßigung und Verfeinerung der Bewegungen die Voraussetzung für eine nach außen jeder sichtbaren Unbeholfenheit enthobenen Perfektion und Balance seiner Körperbewegungen« (Reckwitz 2010, 183) lieferte. Leitend war die Annahme, dass sich in der äußeren Gestalt des Subjekts seine innere Haltung ausdrücke und umgekehrt (vgl. Funck 2004, 216). Verfügte ein Adeliger also über ein adrettes Auftreten und gute Manieren, beherrschte er mit anderen Worten die Umgangsformen und Spielregeln der adeligen Gesellschaft, so war dies in der Logik der Adelskultur ein untrügliches Zeichen für einen tadellosen

Konflikt in der zweite Hälfte der Erzählung: Obwohl Josephine von Carayon mit ihrer Forderung nach einer Ehe zwischen Schach und der schwangeren Victoire alle gesellschaftlichen Regeln auf ihrer Seite weiß, verweigert sich Schach zunächst der Verlobung.

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Charakter.12 Diesem »Ideal allgegenwärtiger Haltung und Selbstbeherrschung« (Funck/Malinowski 2000, 84) ist in Fontanes Erzählung auch die Subjektivierung der Hauptfigur verpflichtet. Der Erzähler benennt dies explizit, wenn er von Schachs »guter Haltung« (SW 120) spricht und auch darüber hinaus mehrfach auf die Haltung des Protagonisten verweist (vgl. SW 83, 117). Die sich im Prinzip der Haltung manifestierende Vorstellung von der Verbindung des Charakters und der äußeren Erscheinung ging innerhalb der Adelskultur so weit, dass sie die Physiognomie und Konstitution des Subjekts mit einschloss: Nicht nur Haltung und formvollendetes Auftreten, sondern auch ein bestimmtes Aussehen wurde innerhalb der adeligen Subjektkultur als äußerer Ausdruck des inneren Charakters interpretiert. »Eine geringe Körpergröße oder das Tragen von Brillen wurden als ernstzunehmende körperliche Mängel« (Malinowski 2003, 81) bewertet. Das Idealbild des adeligen Offiziers beinhaltete mit anderen Worten verschiedene »ästhetische Aspekte, die gutes Aussehen« (Wienfort 2006, 91) mit einschlossen. Auf diese ästhetischen Aspekte rekurriert Fontanes Erzählung in doppelter Hinsicht: Erstens entspricht die Darstellung Schachs, der als außergewöhnlich »schöner Mann« (SW 117) geschildert wird,13 auf einer oberflächlichen Ebene dem bereits angesprochenen Idealbild des gutaussehenden adeligen Offiziers. Zweitens wird die Ästhetik seiner Existenzweise auch konstatiert, wenn die Figur Alvensleben bemerkt, Schach sei ein Mensch, bei dem alles »ganz und gar auf das Ästhetische zurückzuführen« (SW 23) sei. Wie aus dem Gesprächszusammenhang deutlich wird, bezieht sich diese Bemerkung über Schach auf die Ästhetisierung seiner gesamten Lebensführung, welche bestimmte »überspannte Vorstellungen von Intaktheit und Ehe« (ebd.) ebenso einschließt wie die zunächst skurril anmutende Marotte Schachs, sich »beim Zubettgehen […] seine safranfarbenen Nachthandschuh« (SW 25) anzuziehen. Die mit dem Prinzip der Haltung verknüpfte Ästhetisierung der Existenzweise kennzeichnet Schach also nicht etwa als einen Außenseiter der adeligen Gesellschaft, sondern im Gegenteil als prototypisch adeliges Subjekt.

12

Diese Wertschätzung des Charakters diente nicht zuletzt der Legitimation des adeligen Herrschaftsanspruchs, der sich aus der »Behauptung eines spezifisch adeligen Tugendkatalogs, in dem Charakter und Treue, Mut und Führungswillen eine wichtige Rolle spielen« (Wienfort 2006, 29), ableitete.

13

Auf das gute Aussehen Schachs wird mehrfach in der Erzählung rekurriert, etwa wenn Josephine Schach in die Riege »schöner Männer« (vgl. SW 81) zählt oder wenn Victoire mit Blick auf eine mögliche Hochzeit zwischen ihrer Mutter und Schach vom »schönste[n] Paar […], das seit Menschengedenken im französischen Dom oder in der Dreifaltigkeitskirche getraut wurde« (SW 28) spricht.

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Daneben finden sich in der Erzählung weitere und im Folgenden kurz umrissene Aspekte, durch die Schach als Repräsentation eines adeligen Offiziers erkennbar wird. Grundsätzlich ist an dieser Stelle anzumerken, dass zwischen dem Offizierssubjekt und der männlich-adeligen Subjektform in vielen Punkten keine trennscharfe Unterscheidung möglich ist. Das Offizierskorps war über Jahrhunderte eine der typisch aristokratischen Domänen: Fast alle adeligen Männer waren zumindest zeitweise als Offiziere beim Militär und stärker noch als in anderen Staaten gaben insbesondere in Preußen die Junker den Ton im gesellschaftlich so bedeutenden Offizierskorps« (Stonerman 2001, 32) an. Der Adel prägte mit anderen Worten das Offizierskorps und die Ausgestaltung der Subjektform des Offiziers. Wesentliche Bestandteile dieser Subjektform gehen auf die Adelskultur zurück. Das gilt beispielsweise für den identischen Ehrbegriff. Der soldatische Ehrbegriff entstammt, wie Florian Kühnel ausführt, »der Welt des Adels und hatte sich mit dem Aufkommen der stehenden Heere auf den gesamten Soldatenstand übertragen« (Kühnel 2013, 200). Und auch das Ideal allgegenwärtiger Haltung entspringt der höfischen Adelskultur und ist über die historisch gewachsene, enge Verzahnung des Adels mit dem Kriegertum (prototypisch in der Subjektform des Ritters) in die Offizierskorps der neuzeitlichen Armeen übernommen worden.14 Das Offizierssubjekt ist entsprechend von den Prinzipien und Praktiken der männlich-adeligen Subjektivierung durchdrungen und weißt deshalb große Ähnlichkeiten mit diesem auf. Diese Gemeinsamkeiten blieben auch bestehen, als die Offizierskorps – etwa in Preußen – sukzessive für bürgerliche Rekruten geöffnet wurden, welche allerdings vor allem auf die technischen Waffengattungen und die wenig angesehenen Regimenter beschränkt blieben,15 während insbesondere die Garde- und Kavallerieregimenter von adeligen Offizieren befehligt wurden. Wenn Schach als Offizier in einem dieser KavallerieRegimenter, den »Gensdarmes« (SW 24), dient, so weist ihn dies bereits als Mitglied einer adeligen Offiziers-Elite aus.16 Diese Elite war »unbeirrbar monarchisch gesinnt« (Wienfort 2006, 90) und definierte sich nicht zuletzt über eine unbedingte Treue gegenüber dem Königshaus.17 Diese Treue klingt in der Erzäh-

14

Vgl. Wienfort 2006, 91; Malinowski 2003, 81; Funck 2004, 207.

15

Vgl. neben Stonerman 2001, 31 auch Kroener 2008, 84f.

16

Wie Winkel in ihrer Untersuchung des preußischen Offizierskorps betont, war das Kavallerieregiment der Gendarmes eine »der prestigeträchtigsten Einheiten« (Winkel 2009, 214) der preußischen Armee. Vgl. hierzu auch Friedrich 2001, 328.

17

So konstatiert Buschmann, das Treue-Konzept habe »im Laufe des 19. Jahrhunderts […] eine immer größere Bedeutung in den Leitbildern der militärischen Erziehung bekommen« (Buschmann 2008, 105).

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lung an, wenn der Protagonist bekundet: »Der Prinz ist mir ein gnädger Herr, und ich liebʼ ihn de tout mon coeur.« (SW 67) Daneben werden Schach noch weitere, typischerweise zur adeligen Subjektkultur zählende, Praktiken zugeschrieben, wie etwa die Beschäftigung mit »Genealogie« (SW 38) oder die Leidenschaft für »Rennpferde« (SW 45).18 Der entscheidende Aspekt an Schachs Subjektivierung aber bleibt das Prinzip der Haltung, auf deren Wahrung das Verhalten der Figur und ihre ästhetisierte Lebensweise ausgerichtet sind. Der sich im Verlauf der Erzählung entfaltende Konflikt, der schließlich zum Suizid des Protagonisten führt, erscheint aus subjektivierungstheoretischer Perspektive vor allem als eine Krise der Haltung. 4.1.2 Haltungsverlust durch Formwahrung – Schachs »Krisis« als auswegloses Dilemma In der zweiten Hälfte der Erzählung gerät Schach in Folge der Affäre mit Victoire von Carayon in eine als »Krisis« (SW 121) wahrgenommene Zwangslage, in der die Bewahrung der Haltung und einer an ästhetischen Kriterien orientierten Existenzweise zu einem unlösbaren Problem avancieren. Nach der Entdeckung der Liaison pocht Josephine von Carayon auf der Eheschließung zwischen Schach und ihrer schwangeren Tochter. Mit dieser Forderung handelt sie im Einklang mit den ständischen Konventionen der Zeit. Während voreheliche sexuelle Kontakte zwischen adeligen Männern und Frauen aus unterbürgerlichen Schichten durchaus üblich waren und gemeinhin toleriert wurden,19 galten außereheliche Sexualbeziehungen auf der eigenen Standesebene als problematisch, weil diese die Ehre der beteiligten Frauen beschädigten. Denn die Ehre einer Dame beruhte »auf ihrer ›geschlechtlichen Integrität‹, auf ihrem Verzicht auf vor- und außereheliche sexuelle Beziehungen« (Frevert 1995, 188). Wurde diese Ehre, welche immer zugleich auch eine Familienehre war und die Angehörigen mitbetraf, durch eine Affäre beschädigt, so konnte sie nur auf eine Weise wiederhergestellt werden: »entweder, bei unverheirateten Frauen, auf dem Wege der Eheschließung oder, bei verheirateten Frauen, durch ein Duell zwischen Ehebre-

18

Im Gegensatz zum Bürgertum bewahrte sich der Adel auch im 19. Jahrhundert größtenteils eine »gelebte Naturnähe« (Malinowski 2003, 62). Pferde besaßen nicht nur eine praktische Bedeutung als »Fortbewegungsmittel, Wertanlage und conditio sine qua non der Kavalleristen« (ebd., 64), sondern waren auch eine »unverzichtbare Requisite für die Inszenierung […] aristokratischer Überlegenheit« (ebd., 65). Vgl. auch Conze 2000, 353.

19

Vgl. Wippermann 2010, 14f.

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cher und Ehemann« (Frevert 1991, 224). Wenn Josephine von Carayon auf die »Legitimierung des Geschehens« (SW 84) durch Eheschließung drängt, so weiß sie die Normen der adeligen Gesellschaft auf ihrer Seite, worauf sie sich auch berufen kann: »Ich gehöre der Gesellschaft an, deren Bedingungen ich erfülle, deren Gesetzen ich mich unterwerfe; daraufhin bin ich erzogen und ich habe nicht Lust, einer Opfermarotte meiner einzig geliebten Tochter zur Liebe meine gesellschaftliche Stellung mit zum Opfer zu bringen.« (ebd.) Als ein in seinem Verhalten an den Spielregeln der adeligen Kultur orientiertes Subjekt kann sich Schach dieser Argumentation letztlich nicht entziehen. Für einen Moment aber scheint es an diesem Punkt der Erzählung so, als würde Schach in der Konfrontation mit Josephine seine sonst so formvollendete Haltung nicht bewahren können. Er ist »ersichtlich getroffen« (SW 83) und seine ganze »Haltung zeigte, welche Gewalt sie [Josephine, G.V.] noch immer über ihn ausübte« (ebd.). Die mit der Wahrung der Haltung verbundene »affektive Mäßigung« (Reckwitz 2010, 183) kann der Protagonist kurzzeitig nicht aufrechterhalten. Allerdings gelingt es Schach rasch, »sich wieder zu sammeln« (SW 84), Haltung anzunehmen und auf die Forderung nach einer Heirat mit Victoire zu entgegnen, »daß er wohl wisse, wie jegliches Ding im Leben seine natürliche Konsequenz habe. Und solcher Konsequenz gedenk er sich nicht zu entziehen. Wenn ihm das, was er jetzt wisse, bereits früher bekannt geworden sei, würdʼ er um eben die Schritte, die Frau von Carayon jetzt fordere, seinerseits aus freien Stücken gebeten haben. […] Aber er fühle nicht mindre Gewißheit, daß er sich zu dem Tage zu beglückwünschen habe, der binnen kurzem diesen Wechsel in sein Leben bringen werde. Victoire sei der Mutter Tochter, das sei die beste Gewähr einer Zukunft, die Verheißung eines wirklichen Glücks.« (ebd.)

Der formale und beinahe floskelartige Gehalt dieser Antwort wird in der zitierten Passage auch erzähltechnisch hervorgehoben. Während der Erzähler unmittelbar zuvor die Forderung Josephines noch in direkter Rede anführt, wird Schachs Antwort nun in indirekter Rede wiedergegeben. Durch den abrupten Wechsel vom Indikativ zum Konjunktiv distanziert sich der Erzähler von den Aussagen Schachs, bei denen es sich deutlich nicht um ein Wahrsprechen im Sinne einer ›authentischen‹ Artikulation der eigenen Empfindungen handelt, sondern um eine Antwort, die alleine der Wahrung der gesellschaftlichen Spielregeln geschuldet ist. Diese Interpretation kann sich zusätzlich auf die direkt an die Textstelle anschließende Bemerkung des Erzählers stützen, Schachs Worte seien »artig und verbindlich gesprochen, aber doch zugleich mit einer bemerkenswerten Kühle« (ebd.). Zudem wird dem Leser qua Introspektion die Situationsdeutung Josephi-

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nes angetragen, welche in Schachs Worten »weder die Sprache der Liebe, noch der Schuld« (SW 85) erkennt. Man müsste ergänzen: Was Josephine hier vernimmt, ist die Sprache der Pflicht; einer Pflicht gegenüber den gesellschaftlichen Konventionen. Zwei Punkte werden an dieser Passage also deutlich: Form und Haltung zu wahren bedeutet für Schach, seine persönlichen Interessen gegebenenfalls den gesellschaftlichen Konventionen unterzuordnen. Zweitens nimmt auch die Unterwerfung unter diese gesellschaftlichen Konventionen ihrerseits wiederum eine bestimmte Form an. Schach willigt nicht etwa zähneknirschend in die Heirat ein, sondern er bedient sich dazu bestimmter Konversationspraktiken, die sein eigentliches Unbehagen über die Entscheidung verschleiern sollen. Form und Haltung zu wahren heißt mit anderen Worten, so zu tun, als wolle man aus freien Stücken das, wozu man gesellschaftlich ohnehin verpflichtet ist. Bis zu diesem Zeitpunkt der Erzählung erscheint Schachs Lage noch nicht als ein auswegloses Dilemma, sondern lediglich als eine zwar unerwünschte, aber durch die Befolgung der gesellschaftlichen Spielregeln auflösbare Zwangslage. Zu einer ernsthaften und letztlich tödlichen Krise weitet sich die Situation aus, als der Protagonist wegen seiner Befolgung der Konventionen der adeligen Gesellschaft aus dem Kreis genau dieser angegriffen wird. Diese Attacke erfolgt in Form von anonym verbreiteten, aber öffentlich ausgehängten Karikaturen, in denen Schach für die Bevorzugung der hässlichen Tochter gegenüber der schönen Mutter verspottet wird (vgl. SW 89ff.). Die Karikaturen sind eine öffentliche Verletzung der Ehre Schachs, welche besonders perfide ist, weil ihre anonyme Publikation Schach der Möglichkeit beraubt, seine Ehre durch eine etwaige Forderung zum Duell wiederherzustellen. Gleichzeitig stellen die Karikaturen auch die ästhetisierte und auf Haltung bedachte Existenzweise des Protagonisten in Frage. Denn die Zeichnungen führen Schach vor Augen, dass eine Ehe mit Victoire einen Makel seiner äußeren Form darstellt, welcher zum Kristallisationspunkt für einen ehrverletzenden gesellschaftlichen Spott wird. Dieser Makel besteht in der von Alvensleben zu Beginn der Erzählung angesprochenen mangelnden Repräsentativität Victoires (vgl. SW 23). Die in seiner Schönheit und seiner tadellosen Haltung kultivierte, perfekte äußere Form des adeligen Offiziers wird durch die Ehe mit Victoire unterminiert, die aufgrund ihrer mangelnden Schönheit als gänzlich ungeeignet empfunden wird, um ihren zukünftigen Ehemann nach außen hin adäquat zu repräsentieren, wie es im 19. Jahrhundert die Aufgabe adeliger Frauen war.20 Diese Problematik wird an zwei der Erzählung aufgegriffen. Da ist zunächst jene Passage, in der Schach die Reaktion der höfischen Gesellschaft auf seine Braut imaginiert: »Er sah sich in einem

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Zu den öffentlich-repräsentativen Aufgaben der Frau vgl. Conze 2000, 291.

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Kutschwagen bei den prinzlichen Herrschaften vorfahren, um ihnen Victoire von Carayon als seine Braut vorzustellen. Und er hörte deutlich, wie die alte Prinzeß Ferdinand ihrer Tochter, der schönen Radziwill, zuflüsterte: ›Est-elle riche?‹ ›Sans doute‹. ›Ah, je comprends.‹« (SW 98) Noch deutlicher wird der Aspekt der mangelnden Repräsentativität Victoires, wenn Schach über das Porträt für die Ahnengalerie auf seinem Landgut sinniert: »Und dann ist allmählich die Zeit da, sich malen zu lassen, malen zu lassen für die Galerie. Denn wir dürfen doch am Ende nicht fehlen! Und zwischen die Generäle rückʼ ich dann als Rittmeister ein, und zwischen die schönen Frauen kommt Victoire […] Nein, nein!« (SW 103) Schachs innerer Monolog endet mit einer wiederholten Verneinung, in der sich bereits vorausdeutend sein Unwillen ausdrückt, sich mit diesem Lebensentwurf zu arrangieren. Dabei verbindet sich in dieser Passage der Aspekt der mangelnden Repräsentativität der Ehefrau mit einem anderen Problem, das gleichwohl ebenfalls die äußere Form des Subjekts betrifft. Eine Heirat mit Victoire wäre auch mit einem Umzug auf das Landgut verbunden, was gleichbedeutend mit Schachs Ausscheiden aus dem Militärdienst wäre. Aber als ein Offizier, der es nur zum Rittmeister gebracht hat, glaubt Schach im Vergleich mit seinen Ahnen, die zumeist Generäle waren, vor dem Urteil seiner Nachfahren nicht bestehen zu können. Dieses besondere »Familienbewusstsein« (Conze/Wienfort 2004, 12), das in Schachs Gedanken zum Ausdruck kommt, ist wiederum ein typisches Merkmal von Adeligkeit. Die Familie wird im Adel »stets als Gemeinschaft der vergangenen, lebenden und kommenden Generationen verstanden« (Malinowski 2003, 49). Um diese Gemeinschaft herum sind verschiedene Erinnerungspraktiken gruppiert, zu denen das Führen von Stammbäumen ebenso zählt wie das Anlegen von Gemäldegalerien (vgl. SW 102). Dieser »Totenkult« (Conze 2000, 352) des Adels führt zu einer Transgression bestimmter Grenzen: Das einzelne adelige Subjekt wähnt sich nicht mehr nur dem Urteil seiner Zeitgenossen unterworfen, sondern auch dem seiner Nachfahren. Insofern ist es also durchaus adelstypisch, wenn sich Schach um das Bild sorgt, das sich die Nachwelt von ihm macht. Dieses Bild aber scheint durch die Hochzeit mit Victoire ernstlich gefährdet. Schach steht also vor einem Dilemma: Um die Form und die gesellschaftlichen Konventionen zu wahren, muss er Victoire ehelichen. Heiratet er sie aber, so beschädigt die Ehe mit einer für unrepräsentabel erachteten Frau in Schachs Vorstellung die perfekte Form seiner Existenz so stark, dass er weder vor dem Urteil seiner lebenden Standesgenossen noch vor dem seiner Nachfahren bestehen zu können glaubt. Als Sinnbild dieses Problems fungiert die Kreismetapher im 14. Kapitel. »Es war ersichtlich, daß ihn der Kreis, in dem er ging, an einen andern Kreis gemahnte, denn er murmelte vor sich hin: könntʼ ich heraus.« (SW 97)

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Plausibilisiert wird Schachs Dilemma durch zwei kompositorisch motivierte Ereignisse innerhalb der Erzählung. Bei dem ersten handelt es sich um die bereits erwähnte Veröffentlichung der Spottkarikaturen. Dieses Ereignis erfüllt zunächst die Funktion, Schachs Sorge über die Beschädigung seiner äußeren Erscheinungsform und seines gesellschaftlichen Ansehens durch eine Ehe mit Victoire psychologisch nachvollziehbar zu begründen. Darüber hinaus wird die Begründetheit von Schachs Bedenken durch die Veröffentlichung der Karikaturen verifiziert, denn offenkundig ist die Eheschließung tatsächlich Anlass für einen ehrverletzenden Spott. Das zweite Ereignis betrifft die andere Seite des Problems und plausibilisiert, warum sich der Protagonist nicht einfach der Eheschließung verweigern kann. Es handelt sich um die Vorladung der Hauptfigur beim Prinzen, der auf die »honnêteté« (SW 117) pocht und der den Protagonisten vor die Wahl stellt, den Dienst zu quittieren oder in die Heirat einzuwilligen. Was der Prinz Schach mit anderen Worten androht, ist die Entfernung aus dem Offiziersstand, was zeitgenössisch nicht weniger bedeutet als die »schärfste Strafe, die einen Offizier treffen konnte« (Frevert 1991, 179). Betrachtet man die bis dahin geschilderte Subjektivierung der Hauptfigur, so wird deutlich, dass diese Art des Ausscheidens aus dem Offiziersstand für den Protagonisten auf keinen Fall in Betracht kommt. Diese Einschätzung bestätigt sich nicht zuletzt durch die Bemerkung des Erzählers, »Schach schwieg, verriet aber durch Haltung und Miene, daß ihm dies das Schmerzlichste sein würde.« (SW 117) Fontanes Erzählung schildert also eine Figur, die sich in einem aus ihrer Perspektive unlösbaren Dilemma befindet. Keine der beiden anklingenden Möglichkeiten – Heirat mit Victoire oder unehrenhaftes Ausscheiden aus dem Offiziersstand – ist mit der Subjektivierungslogik der Hauptfigur vereinbar, weil beide Lösungen dem Grundprinzip der Haltungswahrung widersprechen. In dieser Situation, unmittelbar nach dem Gespräch mit dem Prinzen, deutet der Erzähler zum ersten Mal den Suizid an. Dieser erscheint aus Schachs Perspektive als der einzige Ausweg, bei dem der Protagonist seine Haltung wahren und gleichzeitig dem Befehl des Prinzen gehorchen kann: »Und dafür gab es nur einen Weg. Ein Gedanke, den er schon in Wuthenow gefaßt hatte, kam ihn jetzt wieder und reifte rasch zum Entschluß, und je fester er ihn werden fühlte, desto mehr fand er sich in seine frühere gute Haltung und Ruhe zurück.« (SW 120)

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4.1.3 »Heaven, he is dead« – Der formvollendete Suizid und die Kritik daran Der Vollzug der Selbsttötung wird in der Erzählung dezidiert nicht als eine Affekttat dargestellt, sondern als ein sorgsam geplanter und beherrscht ausgeführter Akt der Selbstauslöschung. Noch im Suizid ist Schach um die Wahrung von Form und Haltung bemüht. Bevor er sich erschießt, regelt er zunächst buchstäblich seine Angelegenheiten, indem er den Befehl seines Königs befolgt und Victoire heiratet. Dies ist auch deshalb wichtig, damit diese ihr Kind nicht als ein uneheliches zur Welt bringt. Die übrigen Figuren täuscht Schach über seine Absichten hinweg; vor und während der Hochzeit zeigt er sich in heiterer Stimmung (vgl. SW 123) und noch seine Abschiedsworte »bis auf morgen« (SW 129) verschleiern den längst gefassten Entschluss, sich das Leben zu nehmen. Selbst mit der Aussicht auf den unmittelbar bevorstehenden Tod gilt es für Schach, Haltung zu bewahren, sich und seine Affekte zu beherrschen, das Hochzeitsritual ordnungsgemäß über die Bühne zu bringen und noch offene Streitigkeiten beizulegen.21 Kaum aber sind alle Angelegenheiten geregelt und in die richtige Form gebracht worden, da erschießt sich Schach noch auf dem Rückweg von der Hochzeit in seiner Kutsche. Hier lohnt sich der Blick auf die Darstellung seiner Leiche. »[D]er Wagen hielt vor Schachs Wohnung, und der Groom sprang in Angst und Eile vom Bock, um seinen Herrn beim Aussteigen behilflich zu sein. Er öffnete den Wagenschlag, ein dichter Qualm schlug ihm entgegen, und Schach saß aufrecht in der Ecke, nur wenig zurückgelehnt. Auf dem Teppich zu seinen Füßen lag das Pistol.« (SW 130f.)

Ich möchte diese Passage zum Ausgangspunkt nehmen, um daran zwei unterschiedliche Aspekte zu erörtern. Der erste betrifft die Suizidmethode des Erschießens. Vorangehend habe ich argumentiert, dass Schach das Subjekt-Ideal des adeligen Offiziers repräsentiert und sich auch seinem geschilderten Selbstverständnis nach diesem sozialen Typus zurechnet. Wenn sich der Protagonist erschießt, so verhält sich Schach damit so, wie sich Offiziere im 19. Jahrhundert in solchen Fällen in aller Regel verhalten haben. Die Idee vom Pistolensuizid als

21

So konstatiert der Erzähler, in Schachs ganzem Verhalten drücke sich ein »Hang nach Versöhnung« (SW 127) aus. Dementsprechend lässt er seinem alten Gegner Bülow von Sander eine versöhnliche Botschaft übermitteln (vgl. SW 127), woraufhin im Anschluss auch noch ein klärendes Gespräch zwischen Schach und Josephine geschildert wird (vgl. ebd.).

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Todesart der Adeligen und Offiziere ist eine jahrhundertealte und weit verbreitete kulturelle Vorstellung, die fast schon einen Gemeinplatz markiert. Ein frühes Zeugnis für die Existenz dieser Vorstellung ist der von Minois zitierte Ausspruch eines englischen Edelmannes aus dem frühen 18. Jahrhundert zum Suizid eines Standesgenossen: »Welchʼ erbärmliche Vulgarität, das Erhängen zu wählen! Ich hätte ihm verziehen, wenn er sich eine Kugel in den Kopf gejagt hätte.« (Minois 1996, 274) In den letzten Jahrzehnten hat die geschichtswissenschaftliche Forschung nachgewiesen, dass diese kulturelle Vorstellung auch der tatsächlichen Suizidpraxis unter Adeligen und Offizieren entsprach. Insbesondere bei Suiziden im Militär kommen seit der frühen Neuzeit »überdurchschnittlich häufig […] Schusswaffen zum Einsatz« (Kästner 2007, 108).22 Die kulturell wie empirisch verbreitete Verknüpfung von Adeligkeit und Pistolensuizid markiert also einen der in Martinezʼ Erzähltheorie als ›unbestimmt vorhanden‹ bezeichneten Sachverhalte der erzählten Welt, welcher unausgesprochen zur Erklärung des Geschehens herangezogen wird. Insofern ist die Todesart also (auch) kausal motiviert, denn sie resultiert kohärent aus dem Selbstverständnis des Protagonisten als adeligem Offizier. Indem sich der Offizier Schach erschießt, verhält er sich allerdings nicht nur so, wie es realistischerweise zu erwarten ist,23 sondern er bestätigt damit auch performativ sein Selbstverständnis als Offizierssubjekt. Auf diesen Sachverhalt rekurrieren Kolk (vgl. Kolk 1986, 59) und auch Ecker, welcher über Schachs Selbsttötung bemerkt, dass »im Extremfall der eigene Tod vom Subjekt als Bestätigung der Identität akzeptiert werden kann, wenn die Handlung ritualisiert erfolgt und einem internalisierten Verhaltenskodex entspricht« (Ecker 2002, 226). Genau das ist im Schach von Wuthenow der Fall. Der zweite Aspekt betrifft die stilisierte Darstellung von Schachs totem Körper, der »aufrecht in der Ecke, nur wenig zurückgelehnt« (SW 129f.) in der Kutsche sitzt. Fontanes Erzählung richtet es so ein, dass auch Schachs Leichnam noch eine aufrechte Haltung wahrt und nicht etwa zusammengesackt oder vorn-

22

Diese Ergebnisse teilen beispielsweise die Untersuchungen von MacDonald/Murphy 1990, 185; Minois 1996, 275; Lind 1999, 318; Mischler 2000, 87; Baumann 2001, 270. Selbst in der jüngst erschienen Arbeit von Kühnel 2013, die sich kritisch mit der These einer angeblichen Akzeptanz des Pistolensuizids durch einen spezifisch adeligen Ehrenkodex auseinandersetzt, konstatiert der Autor eine »deutliche Affinität des Adels zum Waffensuizid« (Kühnel 2013, 197).

23

Wie eingangs bereits angemerkt, konnte sich Fontane bei der Gestaltung des Suizids an dem realen Fall des Majors von Schack orientieren, der sich ebenfalls erschossen hat.

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über gekippt in der Kutsche liegt, wie es sicher realistischer wäre.24 Pointiert formuliert: Der Protagonist wahrt die äußere Form nicht nur bis zum Tod, sondern auch noch im Tod selbst. Es ist sicher richtig, dass dieses »›aparte‹ Ende […] seiner ästhetischen Vorstellung« (Buffagni 2002, 167) entspricht. Insofern lässt sich die Position des toten Körpers möglicherweise auch als von Schach intendiert lesen. Vor allem aber markiert die Stilisierung des Leichnams eine Art Metakommentar des Textes, durch welchen mit der Inszenierung der Haltung das zentrale Konstruktionsprinzip der Hauptfigur in der Darstellung seines Todes zitiert wird. Nun könnten meine bisherigen Ausführungen fälschlicherweise den Eindruck erzeugt haben, durch die Todesdarstellung werde in Fontanes Erzählung die Selbsttötung des Protagonisten glorifiziert. Das ist nicht der Fall. Tatsächlich wird der fast pathetische Gehalt des Suizids sowohl durch die Darstellungsweise des Textes unterminiert als auch vermittels Figurenrede offen kritisiert. Die dabei artikulierte Kritik weist paradigmatisch über den zu einem zeittypischgesellschaftlichen Symptom erklärten Einzelfall hinaus und verbindet sich mit einer skeptischen Beurteilung der adeligen Subjektkultur insgesamt. Die subtile Unterwanderung des ästhetisierten und auf Formvollendung zielenden Suizids der Hauptfigur geschieht durch die Rahmung der Selbsttötungssequenz. Bei seiner letzten Kutschfahrt wird Schach von seinem englischen Groom und seiner Ordonnanz Barsch begleitet. Zwischen diesen Figuren entspinnt sich nach dem tödlichen Schuss folgender Dialog: »›Damm‹, sagte der Groom. ›Whatʼs that?‹ ›Wat et ist? Wat soll es sind, Kleener? En Steen is et; en doter Feldwebel‹ ›Oh no, Baarsch. Nich stone. ʼt was something….dear me…like shooting.‹ ›Schuting? Na nu.‹ ›Yes; pistol-shooting…‹« (SW 129)

Nachdem der Groom daraufhin seinen toten Herren in der Kutsche entdeckt, wirft er entsetzt »den Schlag wieder ins Schloß und jammert: ›Heaven, he is dead‹ (ebd.). Die Darstellung des Toten wird also eingerahmt von einem englisch-plattdeutschen Dialog, der, wie Claudia Buffagni zu Recht bemerkt, eine gewisse Komik aufweist (vgl. Buffagni 2002, 167), durch die der tragische Gehalt der geschilderten Selbsttötung relativiert wird. Gleichzeitig bildet dieser dia-

24

Zum zeitgenössisch-medizinischen Wissen über Position und Versehrung des Körpers beim Suizid durch Erschießen vgl. Schlegel 1827, Reinhard 1839, Braun 1844, Köhler 1904, Roller 1914, Rehfeldt 1929.

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lektal gefärbte und volkssprachliche Dialog einen scharfen Gegensatz zu Schachs Ausdrucksweise, die Teil eines formalisierten und ästhetisierten Sprachspiels ist und in der zwar Gallizismen ihren Platz finden, nicht aber englische oder niederdeutsche Elemente. Kurzum: Das englisch-niederdeutsche Kauderwelsch, mit dem die Selbsttötung kommentiert wird, unterminiert den ästhetischen und pathetischen Gehalt des Suizids und verleiht ihm eine komischhumoristische Note. Darüber hinaus endet die Erzählung nicht mit der Darstellung des Suizids, sondern mit der kritischen Kommentierung dieser Selbsttötung durch Bülow und Victoire. Während Victoires abschließende Bemerkung, Schach sei »seiner ganzen Natur nach auf Repräsentation und Geltendmachung einer gewissen Grandezza gestellt« (SW 134) gewesen, sich im Wesentlichen mit der zurückliegend betonten Bedeutung von Form und Haltung deckt, geht die Einschätzung Bülows noch einen Schritt weiter. Bülow bewertet Schach abschließend als ein »Symptom« (SW 130), welches »um seiner symptomatischen Bedeutung willen« (ebd.) interessant sei. Schach sei eine »Zeiterscheinung« (ebd.), welche »sich in dieser Art und Weise nur in Seiner Königlichen Majestät von Preußen Hauptund Residenzstadt, oder, wenn über diese hinaus, immer nur in den Reihen unserer nachgeborenen fridericanischen Armee zutragen konnte« (ebd.). Am Ende der Erzählung erscheint die titelgebende Hauptfigur also eben nicht als »Außenseiter« (Kaiser 1978, 492)25 und damit als ein lediglich auf sich selbst verweisender Einzelfall. Vielmehr erklärt Bülow Schach zum geradezu typischen Vertreter des preußischen Offizierskorps am Vorabend der Schlacht bei Jena und Auerstedt, welche sich im Text in der Bemerkung »Der Krieg ist erklärt« (SW 132) bereits ankündigt. Kritisch ist diese Beurteilung insbesondere deshalb, weil es, wie Fontanes Leser sehr wohl wussten, genau dieses adelig dominierte Offizierskorps war, das »in der Wahrnehmung der preußischen Öffentlichkeit […] die Verantwortung für die Niederlage gegen das revolutionäre Volksheer der Franzosen« (Wienfort 2006, 89) trug. Schach avanciert am Ende der Erzählung also zum Prototyp jenes Schwertadels, dem die Verantwortung für die schwerste Niederlage Preußens zugeschrieben wurde. Hinter dieser ›historischen Kritik‹ aber verbirgt sich eine weitere Kritik, die auf Teile des Adels im Kaiserreich zur Entstehungszeit des Textes zielt. Als Figur repräsentiert Schach nicht nur den Typus des preußischen Offiziers anno

25

Den Außenseiterstatus der Hauptfigur sieht Kaiser gerade in Schachs »ästhetische[r] Existenz« (Kaiser 1978, 492) begründet. Diese Deutung spielt allerdings das Ästhetische zu stark gegen das Gesellschaftliche aus und verkennt, dass speziell im Adel die Wahrung ästhetisierter Formen gesellschaftlich festgeschrieben war.

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1806, sondern er entspricht auch weitgehend dem adeligen Subjekt-Ideal am Ende des 19. Jahrhunderts. Nicht zufällig reagierte die »adelige Literaturkritik […] durchaus positiv auf Fontanes Erzählung, weil sie in Schach einen ›Mann von vorzüglichen Eigenschaften‹« (Ecker 2002, 212) erkannte, der vor dem Urteil seiner Standesgenossen durchaus bestehen konnte. Auch noch zu Fontanes Zeiten waren die Einübung von Haltung und Selbstbeherrschung ebenso wie das Erlernen bestimmter körper- und verbalkommunikativer Formen zentrale Bestandteile der adeligen Subjektivierungsweise. Gleichzeitig aber richtete sich auf genau diese Aspekte auch die bürgerliche Adelskritik. Diese brachte die Aristokratie »mit Oberflächlichkeit und bloßem Schein in Verbindung« (Maurer 1996, 596) und warf dem adeligen Subjekt gerade wegen seiner formalisierten und auf die Wahrung der Haltung bedachten Verhaltensweisen einen »leeren Formalismus« (Reckwitz 2010, 179) und eine übersteigerte »Wertschätzung der äußeren Erscheinung« (Wienfort 2006, 15) vor. Die gleiche Kritik findet sich fast wörtlich in Bülows abschließendem Urteil, Schach sei an einer »Welt des Scheins« (SW 132), in der es »statt der Ehre nur noch den Dünkel« (SW 130) gebe, zugrunde gegangen. Auf diese Weise bildet das für Adelige und Offiziere bedeutsame Prinzip der Haltung, das sowohl der Motivierung wie auch der ästhetischen Stilisierung von Schachs Suizid zu Grunde liegt, zugleich den Bezugspunkt einer im Text artikulierten Kritik am Junkertum des Kaiserreichs. Indem Fontane diese Kritik in das Gewand einer historischen Erzählung hüllte, verschleierte er allerdings ihren zeitgenössischen Bezug so subtil, dass dieser von vielen Lesern unbemerkt blieb. Im privaten Rahmen hingegen äußerte sich der Schriftsteller mit zunehmendem Alter wesentlich eindeutiger über den Adel,26 wie aus einem viel zitierten Brief an Georg Frielander aus dem Jahr 1897 deutlich wird: »Preußen – und mittelbar ganz Deutschland – krankt an unseren Ostelbieren. Über unseren Adel muß hinweggegangen werden; man kann ihn besuchen wie das Ägyptische Museum und sich vor Ramses und Amenophis verneigen, aber das Land ihm zu Liebe regieren, in dem Wahn: dieser Adel sei das Land – das ist unser Unglück.« (Fontane 1970, 407)

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Vgl. zu Fontanes Positionierungen gegenüber dem preußisch-deutschen Adel Fischer 2000.

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4.2 D ER G ENERAL OHNE Z UKUNFT – F ERDINAND S AARS V AE VICTIS !

VON

Das Phänomen des Pistolensuizids adeliger Offiziersfiguren steht auch im Fokus der zweiten Textanalyse dieser Arbeit. In diesem Kapitel wird die Thematik allerdings anhand der Darstellung eines Schriftstellers untersucht, der selbst als Adeliger dem Offiziersstand angehörte und der daher auf die gleiche Problematik möglicherweise eine andere Perspektive hatte als der als bürgerlicher Autor geltende Fontane (vgl. Friedrich 2001, 324). Ferdinand von Saar veröffentlichte die im Folgenden betrachtete Novelle zunächst 1879 unter dem Titel Der General in der Zeitschrift Nord und Süd. 1897 publizierte er sie dann, mit einigen Änderungen (vgl. Roček 1986, 329), unter dem Titel Vae victis! im zweiten Band seiner Anthologie Novellen aus Österreich. Bereits Fritz Martini attestierte den Novellen von Saars eine gewisse Nähe zur Prosa Theodor Fontanes, die sich in der Gesellschaftskritik und dem »oft wiederkehrenden Selbstmordmotiv« (Martini 1962, 492) manifestiere. Beide Aspekte sind nicht von der Hand zu weisen. Ähnlich wie im Schach von Wuthenow handelt es sich auch in Vae victis! bei der Hauptfigur Ludwig Baron Brandenberg um einen adeligen Offizier, der sich in einer persönlichen und beruflichen Krise erschießt. Und genau wie Fontane erhob auch von Saar für seine Novellen den Anspruch, sie seien »Kultur- und Sittenbilder« (Stüben 1995, 170) des zeitgenössischen Lebens seit 1850. Gleichwohl aber vollzog sich von Saars literarische Auseinandersetzung mit der Gesellschaft vor dem Hintergrund einer anderen politischen und sozialen Gemengelage, als dies bei Fontane der Fall war. Wo jener sich durchaus kritisch mit der Gesellschaft des gerade geeinten und nach dem sprichwörtlich gewordenen ›Platz an der Sonne‹ strebenden Wilhelminischen Deutschland auseinandersetzte, vollzog sich von Saars künstlerisches Schaffen im sozialen und politischen Kontext des vom Zerfall bedrohten österreichischen Vielvölkerstaates, der nach den Niederlagen von Solferino (1859) und Königgrätz (1866) im Wettstreit der europäischen Großmächte erheblich an Boden eingebüßt hatte. Es mag in diesem Zusammenhang nicht verwundern, dass speziell von Saars Novellen aus Österreich in der Forschung oft als das »Zeitbild einer zu Ende gehenden Epoche der k.u.k. Monarchie« (Klauser 2006, 26) interpretiert wurden. Dies gilt auch oder sogar ganz besonders für Vae victis! Wie zu zeigen ist, verbindet sich der Niedergang des Protagonisten Brandenberg in diesem Text mit den gesellschaftlichen Veränderungen im Österreich

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der 1860er und 70er Jahre.27 Dabei werde ich im Folgenden die These vertreten, dass die Auswahl der Suizidmethode in Vae Victis! auf eine ähnliche Weise wie im Schach von Wuthenow als standesgemäße Selbsttötungsart des adeligen Offizierssubjekts kausal motiviert ist. In beiden Texten wird zudem das Ableben der Hauptfigur auf eine vergleichbare Weise als ›aufrechter Tod‹ dargestellt. Wo diese Darstellung aber in Fontanes Erzählung kritisch kommentiert und in ihrem tragischen Gehalt erzähltechnisch unterminiert wird, ist die Schilderung des Erzählers in Vae Victis! gekennzeichnet von einer unverhohlenen Sympathie für den unverschuldet an desperaten äußeren Umständen zugrunde gehenden Protagonisten. 4.2.1 Ein »hervorragender Offizier« mit militärischer Haltung Formal betrachtet besteht der Text aus drei Abschnitten, in denen die Konturierung der Hauptfigur als Repräsentation eines adeligen Offiziers auf unterschiedliche Weise vorangetrieben wird. Die Novelle startet sozusagen in medias res mit einer szenischen Darstellung des letzten Tages im Leben des Protagonisten. Unter verhältnismäßig geringer Zeitraffung werden zunächst die mittägliche Rückkehr Brandenbergs aus einem Manöver und der sich daran anschließende Streit mit seiner Ehefrau geschildert, bevor am Schluss des Textes die zur Selbsttötung führenden Ereignisse während der Abendgesellschaft sowie die Ausführung des Suizids dargestellt werden. Diese beiden Textteile werden durch eine etwa siebenseitige Analepse unterbrochen, in welcher der Erzähler unter starker Zeitraffung die Lebensgeschichte Brandenbergs von der Geburt bis zum Handlungszeitpunkt darlegt. Während in der szenischen Darstellung die Figur und der Vollzug der für ihre Subjektivierung typischen Praktiken in actu geschildert werden, konturiert der Erzähler in der Analepse die Biographie der Figur in Form eines kommentierten Lebensberichts. Diese beiden Arten der Figurendarstellungen ergänzen sich zu einem Gesamtbild vom Protagonisten als geradezu vorbildlichem Offizier der k.u.k.-Armee, was sich exemplarisch an den Anfängen der jeweiligen Textabschnitte zeigen lässt. Die ersten Informationen, die zu Beginn der Novelle über den Protagonisten vergeben werden, sind sein Namen »General Baron Ludwig Brandenberg« (VV 76) und seine letzte Beschäftigung, die in der Teilnahme an einem »Feldmanöver« (VV 77) bestand. Über die Nennung des militärischen Ranges (General) und der gerade vollzogenen militärischen Praktik (Manöver) wird sogleich der

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Einen Überblick über die Geschichte Österreichs in der Phase des Neoabsolutismus ab 1848 findet sich unter anderem bei Vocelka 2002, 206-215.

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Offiziersstatus der Hauptfigur akzentuiert. Die Erkennbarkeit der Hauptfigur als Offizierssubjekt wird in der Novelle zudem durch die kurz darauf erfolgende Beschreibung des Aussehens des Protagonisten verstärkt: »Seine Haare waren bereits leicht ergraut; aber sein hoher, schlanker Wuchs hatte noch etwas Jugendliches, und das schmale, längliche Gesicht schimmerte edel unter dem betreßten, vom grünen Federbusch umwallten Hute hervor. [Er] ließ, wie um seine Ankunft kundzugeben, den Säbel leicht an die Sporen klingen.« (VV 78)

Zunächst wird Brandenberg durch die Erwähnung der typischen Insignien des Offiziers, Hut und vor allem Säbel (vgl. Deak 1991, 158), als Mitglied der Kriegerkaste ausgewiesen. Daneben entspricht das beschriebene Äußere der Hauptfigur weitgehend der oft unter dem Begriff der »Schneidigkeit« (Malinowski 2003, 81) subsumierten Vorstellung vom Phänotyp des Offiziers: »Großgewachsen und schmal tailliert, in formvollendeter, sicherer Haltung […] spiegelt die äußere uniformierte Erscheinung die innere Haltung.« (Funck 2002, 69) Die stereotypen, äußerlichen Qualitäten des vorbildlichen Offiziers waren das bei der Hauptfigur angedeutete »sprichwörtliche ›Gardemaß‹ [und] körperliche ›Zähigkeit‹« (Malinowski 2003, 81). Auch das edel schimmernde Gesicht Brandenbergs, bei dem man begründet fragen könnte, wie sich der Leser ein solches konkret vorzustellen hat, lässt sich in diesem Zusammenhang als ein nicht ganz wörtlich zu nehmender Ausdruck charakterlicher Qualitäten verstehen. Kurzum: Bereits durch die Darstellung des Figurenäußeren wird der Protagonist in von Saars Novelle als jener geradezu musterhafte Offizier erkennbar, den der Erzähler dann im ersten Satz der Analepse explizit als einen der »beliebtesten und hervorragendsten Offizieren der Armee« (VV 83) bezeichnet. Die in dieser Analepse entfaltete Lebensgeschichte Brandenbergs liest sich wie eine realistische Biographie, die den tatsächlichen Karrierewegen der historischen Offizierssubjekte in der k.u.k-Armee stark ähnelt. So erfährt der Leser zunächst, Brandenberg sei kein Angehöriger des Hochadels, sondern der Sohn eines Hauptmanns, der für seine Dienste beim Militär in den Adelsstand erhoben (vgl. VV 83) wurde. Die Nobilitierung verdienter Offiziere nach 30 bzw. 40 Dienstjahren war in Österreich eine gängige Praxis (vgl Deak 1991, 190), die mit dazu führte, dass der Offiziersstand zu einer »sogenannten zweiten Gesellschaft« (Allmayer-Beck 1987, 103) wurde. Inklusion und Exklusion funktionierten im österreichischen Offizierskorps nicht so sehr über die soziale Herkunft, sondern stärker über die »Fiktion der Zugehörigkeit zu einem besonders vornehmen Stand« (Deak 1991, 154), zu dem prinzipiell auch Bürger, Kleinbürger und

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Menschen unterschiedlicher Religionen28 Zutritt hatten und innerhalb dessen theoretisch jeder Karriere machen konnte. Brandenbergs soziale Herkunft als Sohn eines Vaters, der sich innerhalb der Streitkräfte durch militärische Tapferkeit seine Nobilitierung erarbeitet hatte, war also innerhalb des österreichischen Offizierskorps nicht ungewöhnlich. Daneben war auch der absolvierte Ausbildungsweg des Protagonisten für einen höheren Offizier zum in der Mitte der 1860er Jahre gelegenen Handlungszeitpunkt der Novelle geradezu typisch. Als Absolvent der »Militärakademie« (VV 83) erhielt Brandenberg die bestmögliche Offiziersausbildung, die vor allem im Vergleich zu den eher »egalitären Ausbildungsstätten« (Deak 1991, 110) der Kadettenschulen gute Aussichten auf einen Aufstieg in den Generalstab bot. Am entscheidendsten aber gewinnt das Bild Brandenbergs als musterhaftem Offizier dadurch an Kontur, dass der Erzähler ausführlich die Bewährung des Protagonisten in der militärischen Praxis, das heißt seine Tüchtigkeit und Tapferkeit im Gefecht, betont. So erfährt der Leser, der Protagonist habe sich im ersten italienischen Unabhängigkeitskrieg 1848 unter dem im Österreich dieser Zeit hochangesehenen Radetzky »durch eine glänzende und entscheidende Waffentat derart verdient [gemacht], daß er mit der höchsten kriegerischen Auszeichnung, dem Theresienkreuze, belohnt wurde« (VV 83). Die Heldenhaftigkeit des Einsatzes im Kampf wird zusätzlich durch die »schwere Verwundung« (ebd.) Brandenbergs im Italienfeldzug herausgestrichen, welche den körperlichen und gesundheitlichen Einsatz der Hauptfigur für das Vaterland beglaubigt. Auch die Rolle des Protagonisten im zweiten italienischen Unabhängigkeitskrieg im Jahr 1859, der mit einer Niederlage Österreichs endete, wird vom Erzähler auf eine Weise geschildert, welche das Bild von der Hauptfigur als Repräsentation eines musterhaften Offizier nicht beschädigt. So erfährt der Leser, Brandenberg habe »inmitten ratloser Operationen mit seinen Truppen das möglichste geleistet« (VV 86). Die Schuld an der Niederlage trägt in dieser Darstellung des Erzählers der »oberste Feldherr« (ebd.), – gemeint ist der von der österreichischen Öffentlichkeit viel gescholtene Feldmarschall Gyulay – von dessen Fähigkeiten Brandenberg bereits vor dem Krieg »keine allzuhohe Meinung« (ebd.) gehegt habe. Diese durch die historische Entwicklung bestätigte Einschätzung verifiziert Brandenbergs militärische Expertise. Wenn der Erzähler den Protagonisten ei-

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So dienten in der österreichischen Armee auch zahlreiche jüdische Offiziere, was innerhalb der preußischen Streitkräfte praktisch undenkbar war. Von den jüdischen Offiziersbewerbern in Preußen wurde »zwischen 1884 und 1914 kein einziger von mehreren Tausend Anwärtern auch nur zum Reserveleutnant ernannt« (Schmidl 2003, 146).

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nerseits aus der Verantwortung für das österreichische Fiasko in Italien entlässt und die »Standhaftigkeit« (VV 86) betont, mit welcher der Protagonist diese Niederlage ertragen habe, so schildert er andererseits in fast pathetischer Weise die emotionalen und körperlichen Auswirkungen des militärischen Debakels auf die Hauptfigur. Bei Brandenberg sei nach dem Friedensschluss von Villafranca »etwas in seinem Inneren gebrochen und vernichtet« (ebd.). Zudem habe er »in diesen Tagen die ersten grauen Haare an sich wahrgenommen« (ebd.). Der Protagonist hat im Prozess seiner Subjektivierung das Offizier-Sein so weit inkorporiert, dass sein seelisches und körperliches Befinden buchstäblich an das Schicksal der k.u.k-Armee gebunden ist. Zusammengefasst entwirft der Erzähler also ein Bild Brandenbergs als geradezu idealtypischer Entsprechung des vorbildlichen Offiziers-Subjekts. Der Protagonist wird als ein Musterbeispiel an Tüchtigkeit, Tapferkeit und militärischer Expertise geschildert, der zudem »infolge seines menschenfreundlichen Wesens bei Untergebenen sehr beliebt« (VV 90) sei. Zu dieser Darstellung Brandenbergs als Subjekt-Ideal des Offiziers gehört auch der wiederholte Verweis auf ein für diese Subjektivierung wichtiges Prinzip, welches vor allem im letzten Abschnitt der Novelle mehrfach thematisiert wird. Es handelt sich um die bereits aus der Analyse des Schach von Wuthenow bekannte Wahrung einer bestimmten körperlichen Haltung. Der Erzähler in Vae victis! spricht präziser von einer »militärische[n] Haltung« (VV 91), an der drei verschiedene Aspekte besonders hervorstechen. Erstens wird die Einnahme dieser Haltung als etwas dargestellt, das überintentional und damit gewohnheitsmäßig funktioniert. So heißt es bei der ersten Erwähnung dieses Prinzips, Brandenberg nehme »unwillkürlich« (ebd.) die »gewohnte« (ebd.) Haltung ein, wobei er sich beim Blick in den Spiegel selbst über die problemlose Annahme dieser Haltung wundert (vgl. ebd.). Diese Verwunderung hat mit dem zweiten Aspekt zu tun, der die Widerständigkeit und Persistenz der Haltung gegenüber äußeren Irritationen betrifft. Mehrfach wird der Protagonist in zum Teil von Todesphantasien begleiteten Zuständen emotionaler Niedergeschlagenheit dargestellt. Die emotionale Verfassung des Protagonisten beeinträchtigt aber offenkundig nicht die vom Offizierssubjekt inkorporierte Wahrung der äußeren Haltung. Besonders augenscheinlich ist dies in der Passage, in welcher der General aus dem belauschten Gespräch zwischen seiner Frau und ihrem Liebhaber von der eingeleiteten Ehescheidung und seiner bevorstehenden beruflichen Außerdienstsetzung erfährt. Obwohl diese Neuigkeiten einer beruflichen und privaten Bankrotterklärung gleichkommen, die ihm »fast das Bewußtsein« (VV 97) raubt, kann sich der Protagonist dazu zwingen, »in den Salon zurückzukehren und dort eine stol-

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ze, unbeirrte Haltung anzunehmen« (VV 97).29 Die in der militärischen Subjektivierungsweise in unterschiedlichen Praktiken gedrillte und eingeübte Haltung wird als derart internalisiert dargestellt, dass der Protagonist sie selbst in einem Moment allergrößter Krisenhaftigkeit nicht verliert. Drittens offenbart sich im Zusammenhang mit der zuletzt zitierten Passage der öffentliche Charakter der Haltung. Die Momente, in denen Brandenbergs Haltungswahrung geschildert wird, sind jene, in denen er souverän in der Öffentlichkeit agieren muss. Auch nachdem er bei der Abendgesellschaft von seiner bevorstehenden Demission erfahren hat, gelingt es ihm, seine Aufgaben als Gastgeber souverän wahrzunehmen und seine Gemütslage vor den Gästen zu verbergen. Der Öffentlichkeitsbezug30 der Haltung und ihr überintentionaler Charakter werden erneut betont, wenn der Erzähler bemerkt, Brandenberg selbst erscheine »der aufrechte, schlanke Mann in Generalsuniform, der den Herren Zigarren anbot und später die nach und nach sich entfernenden Gäste zur Tür geleitete, sein Doppelgänger zu sein« (VV 98). Obwohl der Protagonist als emotional hochgradig aufgewühlt geschildert wird, ist sein Verhalten »nach außen jeder sichtbaren Unbeholfenheit enthoben« (Reckwitz 2010, 183), ganz so, wie es das schon im Kapitel zu Schach von Wuthenow thematisierte »Ideal allgegenwärtiger Haltung und Selbstbeherrschung« (Funck/Malinowksi 2000, 84) vorsah. Die von Reckwitz skizzierten Bestandteile dieses Ideals – »Selbstdisziplin, affektive Mäßigung und Verfeinerung der Bewegungen« (Reckwitz 2010, 183) – werden in von Saars Novelle allesamt der Hauptfigur zugeschrieben. Während sich die Selbstdisziplin und die affektive Mäßigung Brandenbergs bei der Abendgesellschaft zeigen, wird der Aspekt der Bewegung schon zu Beginn der Novelle thematisiert. Zur Beschreibung des Ganges des Protagonisten verwendet der Erzähler überwiegend nicht das Verb laufen, sondern das vornehmere »schreiten« (vgl. VV 78, 79, 91). Dieses bezeichnet gemäß der Wortbedeutung um 1900 eine »abgemessene, nach Umständen […] bedächtige, feierliche« (DWB 1899, Sp. 1730) Art des Gehens, also eine verfeinerten Form der Bewegung.

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Der Aspekt des Sich-Zur-Haltung-Zwingens klingt bereits zuvor an. So gelingt es Brandenberg, sich bei der Zurückweisung durch seine Frau »gewaltsam« (VV 79) zu fassen und mit »erzwungener Gleichgültigkeit« (ebd.) über seine Niedergeschlagenheit hinwegzutäuschen.

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In ähnlicher Weise zeigt sich der Öffentlichkeitsbezug der Haltung schon zuvor, wenn Brandenberg die militärische Haltung genau in dem Moment annimmt, in dem er aus seinem Privatzimmer durch den »dunkelnden Gang in den Salon« (VV 91) tritt, in welchem die Abendgesellschaft abgehalten werden soll.

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Kurzum: In der für die dargestellte Subjektivierung bedeutsamen Wahrung der adels- und offizierstypischen Haltung gleicht der österreichische General Brandenberg dem preußischen Rittmeister Schach von Wuthenow. Gleichwohl aber tragen beide Texte ihren Lesern eine unterschiedliche Beurteilung der Figuren an. Anders als Fontanes Erzählung ist von Saars Novelle deutlich darum bemüht, die Sympathie des Lesers für die Hauptfigur zu gewinnen. Dies wird forciert, indem der Erzähler dem Protagonisten positiv konnotierte Charakterzüge wie ein »menschenfreundlichen Wesen« (VV 90) attestiert. Ferner versieht der Erzähler auch die Schilderung von Brandenbergs Verhalten mit positiv konnotierten Attributen, was sich beispielsweise am »freundlichen Lächeln« (VV 92) oder der »herzlich[en] (VV 78) Art, seine Frau zu begrüßen, festmachen lässt. Darüber hinaus wird Brandenberg im Text als eine Figur dargestellt, bei der das für die zeitgenössischen Offiziere »stark ausgeprägte Standesgefühl« (AllmayerBeck 1987, 103) nicht in Hochmut, Ignoranz und Borniertheit umschlägt, wie dies die bürgerliche Adelskritik insbesondere dem militärisch orientierten, »schnöde[n] Junkertum« (VV 81) zuweilen vorwarf.31 Vielmehr geht Brandenberg kritisch und reflektiert mit dem eigenen Stand ins Gericht geht. So gesteht er im Disput mit seiner Frau ein, dass das Militär in der Vergangenheit »geistige Bestrebungen und wissenschaftliche Verdienste nicht hoch genug« (VV 81) veranschlagt habe und dass folglich die in dieser Zeit geforderten »Reformen not tun« (ebd.). Statt einem an Standesdünkel grenzenden elitären Selbstverständnis offenbart der Protagonist in Vae victis! Verständnis für die liberalen Reformbewegungen dieser Zeit, die nach den Niederlagen in den italienischen Unabhängigkeitskriegen die k.u.k-Armee hart trafen.32 Brandenberg wird also nicht als ein Reaktionär dargestellt, was grundsätzlich dazu geeignet war, auch die Sympathie der zeitgenössischen, liberal-bürgerlichen Leserschaft für diese Figur zu wecken. Schlussendlich appelliert auch die Darstellung des Leidens und der Verzweiflung des Protagonisten an die Empathie des Lesers. So schildert der Erzähler, Brandenberg verspüre in Folge der andauernden Abweisungen durch seine Frau ein »bitteres Gefühl der Vereinsamung« (VV 87). Der Eindruck, in einem »unwürdigen und aufreibenden Zustande« (VV 89) gefangen zu sein, steigert sich zu Brandenbergs Wunsch, die Kugel im Krieg hätte ihn nicht verwunden,

31

Zu dieser Art der Adelskritik vgl. insbesondere Wienfort 2006, 15. Vgl. ferner zur politisch motivierten Kritik an der reaktionären Einstellung des Adels Groß 2013, 90-121 u. 231-246.

32

Zu den auch die Reduzierung von Militärbudget und Truppenstärke umfassenden Militärreformen in Österreich nach 1859 vgl. Schmidt-Brentano 1975, 141-150.

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sondern ihm den »ehrlichen Soldatentod« (VV 91) bringen mögen, um ihm jenen Zustand zu ersparen, den der Erzähler am Ende auf die Klimax »einsam, unbeliebt, verachtet« (VV 100) bringt.33 Diese Darstellung zielt darauf, das Mitleid des Lesers für die Hauptfigur zu wecken. Stark begünstigt wird dies durch die weitgehend interne Fokalisierung des Textes, die dem Leser einen Einblick in das Seelenleben Brandenbergs und nicht etwa in das der anderen Figuren gestattet. Durch die Darstellung einer gewissen Fragilität und einiger kleinerer charakterlicher Schwächen34 erscheint der Protagonist bis zu einem bestimmten Grad als ein gemischter Charakter. Gerade indem der intern fokalisierende Erzähler einen Einblick in das Seelenleben und die inneren Kämpfe der Hauptfigur gewährt, bekommt die Darstellung des Offizierssubjekts bei von Saar gewissermaßen einen ›menschlichen‹ Anstrich. Während auf diese Weise einerseits das Einfühlen des Lesers in das Schicksal des Generals forciert wird, erschwert der Erzähler auf der anderen Seite eine mögliche Identifikation mit der anderen Hauptfigur der Geschichte, Corona Brandenberg. Das geschieht, indem dieser Figur von Anfang an in den wertenden Kommentaren des Erzählers negativ konnotierte Charaktereigenschaften und Attribute zugeschrieben werden. Das beginnt bei der Beschreibung ihrer »vernichtenden Augen« (VV 76), die »ebenso bereit erschienen, in eisiger Verachtung zu blicken, wie rasche Zornblitze zu schleudern« (ebd.). Dies setzt sich fort in der »unverhohlenen Grausamkeit« (VV 82), mit der sie ihren Mann demütigt und es endet bei der »entsetzliche[n] Unmittelbarkeit der Verachtung« (VV 97), mit der Corona Brandenberg über ihren Mann spricht. Die ganze Novelle über lässt der Erzähler nicht den geringsten Zweifel darüber aufkommen, dass nicht der immer wieder vorsichtige und zärtliche Annäherungsversuche unternehmende Brandenberg (vgl. VV 78f.) die Verantwortung für das Scheitern seiner Ehe trägt, sondern seine abweisende und untreue Gattin. Der von seiner Frau begangene Ehebruch widerspricht zudem allen zeitgenössischen Moralvorstellungen und trägt dazu bei, den Leser gegen diese weibliche Figur einzunehmen. Dies al-

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Besonders anschaulich wird Brandenbergs seelische Lage, als dieser einsam einem »zum Sterben traurig[en]« (VV 96) Lied lauscht: »Ein tiefer Seufzer entrang sich ihm. Ja, so sah es in seiner eigenen Brust aus! So empfand, litt, stritt und verzweifelte er seit Wochen und Monden!« (ebd.)

34

So erfährt der Leser, Brandenberg begegne dem »geringschätzigen Wohlwollen« (VV 87) und »geistigem Hochmut« (ebd.) seinerseits mit dem »Hochmut seines Standes« (ebd.). Gewissermaßen apologetisch und um die Sympathie des Lesers für Brandenberg bemüht, betont der Erzähler indes sofort, dass ein solches Verhalten »sonst nicht in seinem Wesen lag« (ebd., 87).

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les zusammengenommen ist Nehrig zuzustimmen, wenn er eine »melancholische Sympathie« (Nehrig 1985, 109) des Erzählers für den Protagonisten konstatiert. Diese Sympathie ist nicht nur an die positive Darstellung dieser Figur geknüpft, sondern sie ist auch verbunden mit der in der Novelle entfalteten, ausweglosen Lage des Protagonisten, welche in seinen Suizid mündet. 4.2.2 »Nichts bliebt ihm übrig, als zu sterben« – Der dreifache Ruin des Protagonisten Richtet man den Blick auf die Frage, wie Brandenbergs Entschluss zur Selbsttötung handlungslogisch motiviert ist, so zeigt sich, dass im Text mehr als nur eine Ursache für den Tod des Protagonisten angelegt ist. Wie schon Stüben zu Recht bemerkte, wird Brandenbergs Suizid vielmehr als das Resultat eines auf »drei Ebenen sich vollziehende[n] Zusammenbruch[s]« (Stüben 1995, 175) geschildert, an dessen Ende die Hauptfigur sozial, beruflich und privat ruiniert ist. Die Komposition der Novelle ist so aufgebaut, dass die von vornherein auf ein tragisches Ende ausgerichtet Geschichte am Schluss in einem Punkt kulminiert, an dem sich der Protagonist in einer ausweglosen Situation wiederfindet. Dieser ist erreicht, wenn Brandenberg zeitgleich von den Scheidungsabsichten seiner Frau und seiner unmittelbar bevorstehenden Außerdienstsetzung erfährt. Inhaltlich eng miteinander verknüpft sind der berufliche und der soziale Abstieg, die beide in der Schilderung des Erzählers als das Resultat der sich wandelnden politischen Verhältnisse erscheinen. Nach der Niederlage der Österreicher im zweiten Italienischen Unabhängigkeitskrieg kam es zu einer Welle von Reformbewegungen in der k.u.k-Armee, die in von Saars Novelle als ein »hastiger, unruhiger Drang zu verbessern und umzugestalten« (VV 89) geschildert werden, infolge derer viele »ausgezeichnete Offiziere über Nacht in den Ruhestand versetzt wurden« (VV 90). Wenn der Erzähler bemerkt, Brandenberg sei aufgrund seiner Tüchtigkeit und seiner Beliebtheit bei den Untergebenen lange von diesen »gewaltsamen Eingriffen verschont geblieben« (VV 90), so trägt dieser Hinweis zunächst zur positiven Darstellung des Protagonisten als hervorragender und beliebter Offizier bei. Gleichwohl kündigt sich der Niedergang Brandenbergs schon früh an, wenn es zu Beginn der Novelle heißt, dem General sei in beruflicher Hinsicht zuletzt der »Boden unter seinen Füßen schwankend geworden« (VV 89). Die Nachricht von der beschlossenen Demission des Generals wird ferner auch durch die Anspielungen auf das sinkende Prestige des Protagonisten vorbereitet. So erfährt der Leser schon zu Beginn des Textes, dass viele der ehemaligen Kameraden und Waffengefährten des Generals dessen Einladung zur Abendgesellschaft ausgeschlagen haben. Während Brandenberg

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selbst dies mit der Anwesenheit einiger ebenfalls eingeladener, armeekritischer Liberaler erklärt (vgl. VV 81), bemerkt der Erzähler einige Seiten darauf, der als Relikt der militärischen Vergangenheit Österreichs geltende Brandenberg habe in jüngster Vergangenheit sukzessive an Ansehen verloren und sei mittlerweile »nachgerade zu einer persona ingrata« (VV 90) geworden. Bei der Abendgesellschaft nimmt der Protagonist schließlich bei den wenigen anwesenden Stabsoffizieren eine »eigentümlich verlegene Zurückhaltung« (VV 93) ihm gegenüber wahr. Dieser Hinweis lässt sich als letzte Vorausdeutung auf die bevorstehende Außerdienstsetzung der Hauptfigur verstehen, über welche Brandenberg und mit ihm der Leser kurz darauf erfahren, sie sei zu diesem Zeitpunkt der Handlung bereits beschlossene Sache. Diese Demission aber hat für den Protagonisten weitreichendere Folgen als nur eine Veränderung des Alltags und einen Verlust der beruflichen Aufgabe. Gerade im Offizierskorps, dessen Angehörige vom sozialen Prestige dieses Standes stärker abhängig waren als die Angehörigen jeder anderen gesellschaftlichen Gruppe (vgl. Allmayer-Beck 1987, 103), bedeutete eine erzwungene Außerdienstsetzung neben kleineren finanziellen Einbußen35 vor allem in hohem Maße den Verlust von sozialem und symbolischem Kapital. Vor diesem Hintergrund markiert die Nachricht, »schon in den nächsten Tagen außer Dienst gesetzt [zu] werden« (VV 97), für sich genommen bereits eine Hiobs-Botschaft für den Protagonisten. Darüber hinaus ist die Komposition des Textes darauf angelegt, Brandenbergs Lage an dieser Stelle der Geschichte noch zusätzlich zu verschärfen, indem der Protagonist im gleichen Atemzug auch noch Kenntnis von der Affäre seiner Ehegattin und deren Scheidungsabsichten erlangt. Nicht nur steht dem General damit das Scheitern seiner Ehe mit einer Frau, über die der Erzähler versichert, Brandenberg sei trotz aller Probleme leidenschaftlich in sie verliebt (vgl. VV 85), unmittelbar bevor.36 Als betrogener

35

Die ökonomischen Folgen sind für Brandenberg noch die am wenigsten schwerwiegenden, da Generäle bis zu 80% ihres letzten Gehalts als Pension erhielten. Vgl. Schmidt-Brentano 1975, 409. Auf diese zum Teil üppigen Pensionen rekurriert auch der Doktor, wenn dieser bemerkt, Brandenbergs »Ruhegehalt sichert ihm ein behagliches Dasein« (VV 97).

36

Wenn es in der Novelle heißt, »dieser wonnige Leib, nach dem er verschmachtete war sein […] und ihm doch verwehrt« (VV 91), so offenbart Brandenbergs Beziehung zu seiner Frau sicherlich auch die Komponente des sexuellen Begehrens. Es scheint allerdings dem Rest der Novelle nicht angemessen, wollte man Vae Victis! aufgrund dieser einen Textstelle in die Riege jener Texte von Saars zählen, in denen der sexuelle Trieb und dessen »krankhafte Erscheinungen« die »Hauptrolle« (Charue 1985, 250) spielen, wie dies die etwas einseitige Lesart Charues suggeriert.

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Ehemann droht ihm überdies auch der Verlust seiner Ehre, die speziell dem Offizierssubjekt als eines der höchsten Güter galt, das es mit »dringende[r] Notwendigkeit« (Deak 1991, 157) zu verteidigen hatte.37 Die üblichen Praktiken, mit denen der Offizier seine angegriffene Ehre verteidigen konnte, waren das Duell und die sogenannte Ehrennotwehr, bei der es sich um nicht weniger als den augenblicklichen Totschlag eines nicht satisfaktionsfähigen Ehrverletzenden handelte. Beide Optionen zieht auch Brandenberg in Erwägung. Da Doktoren in dieser Zeit gemeinhin als satisfaktionsfähig galten, hätte die nach dem militärischen Ehrenkodex korrekte Reaktion Brandenbergs in einer Herausforderung zum Duell auf Säbel oder Pistolen bestanden. Von der Idee eines Duells nimmt der Protagonist allerdings Abstand, weil er befürchtet, der Doktor könne ihn dadurch düpieren, dass er diese Aufforderung als »mit seinen Anschauungen nicht im Einklang stehend« (VV 99) ablehnen könnte. Diese Möglichkeit scheint gemessen an der historischen Wirklichkeit durchaus realistisch, da es in Österreich wie in Deutschland gerade aus dem bürgerlichen Lager teils erhebliche Widerstände gegen die Praktik des Duells gab, was um 1900 in beiden Ländern zur Gründung einer Anti-Duell-Liga führte.38 Auch die Praktik der Ehrennotwehr, die darin bestünde, den Doktor »ohne jede Erklärung wortlos niederzuschießen« (VV 99), scheint Brandenberg unangemessen – und dies nicht etwa aus moralischen Überlegungen. Vielmehr fürchtet er, die »kurzsichtige, flach urteilende Welt würde den General als feigen Mörder verdammen – und das Andenken des Doktors mit der Aureole des Martyriums umgeben« (VV 99). Dieses Problem rekurriert auf die besondere gesellschaftliche Position des Doktors, der zuvor als ein scharfer Kritiker des Militärs vorgestellt wurde, welcher die Armee in parlamentarischen Debatten »auf das schneidendste angegriffen« (VV 89) und den Offiziersstand »rücksichtlos [..] bloßgestellt« (VV 81) hatte. Abgesehen von der besonderen kompositorischen Pointe, dass Corona Brandenberg ihren Ehemann ausgerechnet mit einer Figur betrügt, die innerhalb des Textes als der unerbittlichste Gegner des Offizierskorps geschildert wird, stehen Brandenbergs Bedenken durchaus im Einklang mit den tatsächlichen sozialen Gegebenheiten dieser Zeit. Denn gerade im von liberalen Reformbewegungen geprägten Klima im Österreich der 1860er Jahre39

37

Einen guten Überblick zur Verteidigung der Ehre in der österreichischen Armee bietet Mader 1983. Zur allgemeinen Problematik des Duells empfiehlt sich nach wie vor die Lektüre von Frevert 1991.

38

Ausführlich zur Anti-Duell Liga in Österreich und zur Duell-Kritik insgesamt vgl.

39

Vgl. hierzu Zöllner 1990, 404-406 und Vocelka 2002, 210.

Mader 1983, 129-134.

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wäre der Mord an einem der schärfsten Kritiker des Militärs gewiss das redensartliche Wasser auf die Mühlen der Armeekritiker gewesen. Als Mord aber wäre diese Tat nicht nur von zivilen Gerichten eingestuft worden, sondern auch von der Militärgerichtsbarkeit, denn die Bedingungen für eine Ehrennotwehr sind im Text nicht gegeben.40 Zugleich zeigt sich an dieser Problematik die ganze Reichweite der Subjektivierung Brandenbergs als Offizier. Wenn dieser den Doktor nur deshalb nicht erschießt, weil er ihn nicht zum Märtyrer der militärkritischen Bewegung machen will, so stellt der Protagonist damit das Wohl der innenpolitisch unter Druck stehenden Armee über seine persönlichen Befindlichkeiten und Rachegelüste. Die Situation des Protagonisten am Ende der Novelle ist damit als eine unauflösbare Zwangslage konstruiert. Beruflich und privat steht er vor dem Ruin. Zusätzlich droht Brandenberg der Verlust der Ehre, wobei jeder Versuch, diese wiederherzustellen, die Situation zusätzlich verschlimmern würde. Insofern ist Martini also durchaus zuzustimmen, wenn er mit Blick auf diese Situation Vae victis! als die »Tragödie eines hilflos gewordenen Generals« (Martini 1964, 490) bezeichnet. Die Tragik liegt in der Ausweglosigkeit einer Situation, in welche die Figur im Grunde ohne eigenes Verschulden verstrickt wurde. In dieser Lage ist es für Brandenberg unmöglich, seine Subjektform und sein Selbstverständnis als Offizier zu wahren, weil er wesentliche Kernbestandteile dieser Subjektform (Stellung, soziales Kapital, Ehre) zu verlieren droht. So stellt sich aus der Perspektive des Protagonisten der Suizid als einzige Möglichkeit dar, dem Verlust von Ehre, Haltung, Ansehen und allem, was das Selbstverständnis als Offizierssubjekt ausmacht, zuvorzukommen. Diese unausweichlich scheinende Konsequenz aus der Unauflösbarkeit des Konflikts wird dem Leser besonders eindringlich und apodiktisch in erlebter Rede vermittelt: »Es war aus mit ihm, ganz aus! Nichts bliebt ihm übrig, als zu sterben.« (VV 99) 4.2.3 Der aufrechte Tod eines Unzeitgemäßen Ähnlich wie im Schach von Wuthenow wird auch der Suizid in Vae Victis! nicht als eine überstürzt ausgeführte Affekttat geschildert. Zwar fasst Brandenberg zügig den Entschluss, sich das Leben zu nehmen, denn »wer das erlebt hatte, was ihm heute widerfahren, der konnte, der durfte nicht länger atmen – durfte das Licht des neuen Tages nicht mehr schauen!« (VV 98). Die Ausführung dieses

40

Bei satisfaktionsfähigen Personen war es zunächst unumgänglich, diese zum Duell aufzufordern und sie eben nicht ohne ein erklärendes Wort einfach niederzuschießen. Vgl. hierzu Deak 1991, 158.

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Plans aber wird ohne Hektik vollzogen und nimmt innerhalb der Novelle noch eine Nacht an erzählter Zeit sowie mehrere Seiten Erzählzeit ein. Bevor er zur Tat schreitet, verbrennt Brandenberg seine persönlichen Unterlagen und Dokumente. Darunter befindet sich unter anderem sein Offizierspatent (vgl. VV 100), dessen Vernichtung sich auch als ein symbolischer Hinweis darauf lesen lässt, dass dem Protagonisten eine Fortsetzung seiner Subjektivierung als Offizier unmöglich ist. Ohne Eile harrt er in dieser Szene vor dem Kamin aus, »bis der letzte Funke verglostet« (VV 101) ist und die »Morgendämmerung« (ebd.) bereits anbricht. Erst dann erschießt sich Brandenberg mit einer »zierlich gearbeiteten Pistole« (VV 98), deren Ladung er vorher sorgfältig untersucht hat (vgl. ebd.). Wie schon in Fontanes Erzählung, so wird auch bei von Saar die Agonie aus der Darstellung der Selbsttötung vollständig ausgeschlossen. Die Schilderung des Suizidvollzugs wird auf eine Erwähnung der akustischen Begleitumstände reduziert, die als »ein kurzer, scharfer Knall, [...] der aber im Hause, wo alles im tiefen Schlafe lag, nicht vernommen wurde« (VV 101), beschrieben werden. Die Ausführungen des Erzählers setzen erst an der Stelle wieder ein, an der am nächsten Morgen Brandenbergs Diener seinen toten Herren auffindet. Über die Position des Toten erfährt der Leser, dieser sitze »leblos auf dem Sofa [...], das Haupt zur Brust herabgesunken. Er hatte sich mit geübter, sicherer Hand eine Kugel ins Herz geschossen« (VV 101). Auch bei von Saar stirbt die adelige Offiziersfigur also in einer aufrechten, sitzenden Körperhaltung, wobei der Erzähler keinerlei äußere Verletzungen schildert. Gegenüber einer Darstellung, bei welcher der Tote etwa auf dem Fußboden in seinem Blut liegend aufgefunden wird, ist dies sicher die würdevollere Alternative. Die militärische Haltung der Hauptfigur, findet sich also in ganz ähnlicher Weise wie im Schach von Wuthenow auch in der Ästhetik der Todesdarstellung wieder. Mit Blick auf beide Texte zeichnen sich vier Gemeinsamkeiten in der Stilisierung des Suizids adeliger Offiziere ab. Beide Figuren nehmen sich nicht im Affekt das Leben, sondern töten sich mit großer Ruhe nach sorgfältiger Betrachtung ihrer Lage. Bevor sie zur Tat schreiten, regeln sie ihre noch zu ordnenden Angelegenheiten. Beide Figuren sterben in einer aufrechten Körperhaltung und beide wählen als Todesart das Erschießen. Warum nun ausgerechnet diese Suizidart gewählt wird, darüber gibt auch von Saars Novelle an keiner Stelle explizit Auskunft. Gleichwohl aber ist die Todesart auch in diesem Text kausal motiviert. Ähnlich wie bei Fontane, so wählt auch hier der Protagonist den Tod durch die Pistole, weil er seinem Selbstverständnis nach Offizier ist und wie ein Offizier handelt. Und ähnlich wie in Deutschland war auch in Österreich diese Art der Selbsttötung unter Offizie-

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ren empirisch gesehen der Normalfall.41 In der Terminologie von Martinez ist dieser Normalfall einer der nicht explizierten ›unbestimmt vorhandenen‹ Sachverhalte der erzählten Welt, der gleichwohl für die Kausalzusammenhänge Handlung relevant ist. Anders als in Fontanes Erzählung aber wird die Selbsttötung des Protagonisten in Vae Victis! weder kritisiert, noch durch bestimmte Darstellungsverfahren unterlaufen oder konterkariert. Vielmehr hat der Leser es in dieser Novelle mit einer vom Erzähler positiv gezeichneten Figur zu tun, deren gleichermaßen ausweglose wie fremdverschuldete Situation darauf angelegt ist, das Mitleid des Lesers zu erwecken. Wenn sich Brandenbergs früh im Text formulierte Einsicht, »ich habe keine Zukunft mehr« (VV 83) durch den Verlauf der Geschichte vollständig bestätigt, so wird dieser Niedergang vom Erzähler mit Melancholie und unverhohlener Sympathie für die Hauptfigur geschildert. Dementsprechend ist es nur folgerichtig, wenn der Suizid dem Protagonisten am Ende nicht nachteilig ausgelegt wird, etwa als unzeitgemäßer aristokratischer Spleen oder – wie bei Fontane – als Ausdruck des »Kultus einer falschen Ehre« (SW 132). Vielmehr erscheint die Selbsttötung Brandenbergs, wie schon Martini bemerkte, als eine Tat, mit welcher die Figur »den Rest von Adel und seelischer Hoheit rettet, den Saar seinen Gestalten meist im Untergang noch erhält« (Martini 1964, 491).

4.3 D ER LEBENSMÜDE ADELSSOHN – T HEODOR F ONTANES S TINE Mit Blick auf die Ergebnisse der vorangegangenen Analysen deuten sich bereits erste textübergreifende Gemeinsamkeiten bei der Suiziddarstellung im Zusammenhang mit einem bestimmten Typus männlich-adeliger Figuren an. Statt nun die Analyse dieses Figurentypus an anderen Texten fortzusetzen – und möglicherweise lediglich die bereits gewonnenen Erkenntnisse zu bestätigen – scheint es mir an dieser Stelle vielversprechender, als Gegenprobe ein literarisches Werk zu betrachten, in dem sich eine männliche Figur adeliger Herkunft auf eine ganz andere Weise den Tod gibt. Sieben Jahre nach Schach von Wuthenow veröffentlichte Theodor Fontane 1890 in der Wochenzeitschrift Deutschland einen weiteren Gesellschaftsroman, der mit der Selbsttötung eines Sohnes aus adeligem

41

Vgl. Deak 1991, 131. Dieser Normalfall der Selbsttötung adeliger Offiziere durch einen Pistolenschuss bestätigt sich auf besonders tragische Weise in von Saars eigenem Schicksal. Denn nach schwerer Krankheit hat auch der langjährige Offizier von Saar auf genau diese Art seinem Leben ein Ende gesetzt Vgl. Klauser 2006, 36.

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Hause endet. Anders als Schach und Brandenberg erschießt sich Waldemar von Haldern, der Protagonist in Stine, allerdings nicht. Stattdessen vergiftet er sich mit einer Überdosis Schlafpulver. Neben der Art der Selbsttötung lässt sich bei diesem Suizid eine weitere Besonderheit feststellen. Im Gegensatz zu vielen anderen Suizidtexten dieser Zeit reflektiert die sich das Leben nehmende Figur in Stine vor ihrer Selbsttötung ausführlich über die zu dieser Tat geeignete Methode: »Auf seinem Schreibzeug lag ein kleiner Revolver, zierlich und mit Elfenbeingriff. Er nahm ihn in die Hand und sagte: ›Spielzeug. Und tut es am Ende doch. Bei gutem Willen ist viel möglich; ›mit einer bloßen Nadel‹, sagt Hamlet, und er hat recht. Aber ich kann es nicht. […] Nein, ich erschrecke davor, trotzdem ich wohl fühle, daß es standesgemäßer und Haldernscher wäre. Doch, was tutʼs! Die Halderns, die mir schon so viel zu vergeben haben, werden mir auch das noch verzeihen müssen. Ich habe nicht die Zeit, mich über Punkte wie diese zu grämen.‹ Und er legte den Revolver wieder aus der Hand. ›Ich muß es also anders versuchen‹, fuhr er nach einer Weile fort. ›Und schließlich warum nicht? Ist die Blame denn gar so groß? Kaum. Es finden sich am Ende ganz reputierliche Kameraden. Aber welche? Ich war nie groß im Historischen (überhaupt worin), und nun versagen mir die Beispiele. Hannibal…Weiter komm ich nicht. Indessen, er kann genügen.‹« (ST, 104)

Augenscheinlich wird hier eine Methode der Selbsttötung zu Gunsten einer anderen verworfen. Die Entscheidung zum Giftsuizid erscheint als ein auf der Ebene der erzählten Welt thematisierter, intentionaler Entschluss der handelnden Figur, womit die Auswahl der Todesart zunächst kausal motiviert ist. Allerdings ist die Begründung des Protagonisten für seine Entscheidung gegen den Pistolensuizid psychologisch unvollständig ausgeführt. Zwar bemerkt Waldemar, er erschrecke vor der Vorstellung, sich zu erschießen. Warum aber der Tod durch die Pistole so viel erschreckender ist als der Tod durch Gift, bleibt unklar und der Interpretation des Lesers überlassen. Die zunächst naheliegende Deutung, Waldemar fehle schlicht der Mut sich zu erschießen, erweist sich im Gesamtzusammenhang des Romans als wenig plausibel. Denn erstens lassen sich für eine Feigheit Waldemars im Text nur schwerlich Belege finden; im Gegenteil wird er in einigen Passagen als mutig und zielstrebig dargestellt.42 Zweitens ist es auch

42

So berichtet Waldemars Onkel vom Mut seines Neffen während des DeutschFranzösischen Krieges: »Aber ein Haldern war er. Und weil er einer war, war er der erste von der Schwadron, der an den Feind kam, und vor dem Karree, das sie sprengen sollten, ist er zusammengesunken, zwei Kugeln und ein Bajonettstich und das

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nicht unmittelbar einleuchtend, warum der Tod durch die Pistole mehr Mut erfordern sollte als der Suizid durch Gift. Bei näherer Betrachtung erweist sich also die kausale Motivierung der Suizidmethode als unvollständig. Gerade diese Unvollständigkeit lenkt den Blick auf die kompositorische Motivierung, welche im Normalfall durch die Illusionsbildung einer konsistent ausgeführten, kausalen Motivierung überdeckt wird. Die von Waldemar nur unzureichend begründete Auswahl des Tötungsmittels nährt den Verdacht, die Entscheidung für den Tod durch Gift könnte vor allem kompositorisch motiviert sein und beispielsweise einen Kommentar des Textes zu der sich das Leben nehmenden Hauptfigur darstellen. Auf eine ähnliche Deutung der Selbsttötung laufen auch verschiedene Arbeiten der Sekundärliteratur hinaus. Diesen Untersuchungen gilt der Suizid Waldemars als »unmännlich« (Helmstetter 1998, 153) oder als »nicht preußisch-adelig« (Daffa 1998, 13).43 Allerdings verzichten diese Arbeiten weitgehend darauf, die Unmännlichkeit und Unadeligkeit Waldemars am Text zu belegen. Eine gewisse Plausibilität ist zumindest Daffas Interpretation indes nicht abzusprechen, da Waldemar selbst im Text bekundet, der Tod durch die Pistole sei »standesgemäßer und Haldernscher« (ST 104) als der Tod durch Gift. Der Bruch mit den Standeskonventionen erscheint allerdings in der Schilderung der Hauptfigur nicht als die eigentliche Absicht ihrer Entscheidung, sondern eher als ein nicht intendierter Nebeneffekt, der mit einem »doch, was tutʼs!« (ebd.) billigend in Kauf genommen wird. Gleichwohl lässt sich die Thematisierung des Aspekts der Standesgemäßheit an dieser Stelle als ein Hinweis darauf lesen, wie die Art der Selbsttötung im Kontext der Gesamtkomposition des Textes verstanden werden kann. Von diesem Hinweis ausgehend wird im Folgenden die These vertreten, dass sich in dem als unadelig geltenden Giftsuizid pars pro toto die Unfähigkeit der Hauptfigur ausdrückt, den verschiedenen Normen und Erwartungen der adeligen Gesellschaft zu entsprechen. In ein subjektivierungstheoretisches Vokabular übersetzt handelt es sich demzufolge bei Waldemar um die literarische Darstellung eines Subjekts, dessen

Pferd über ihm.« (ST 89) Darüber hinaus vertritt Waldemar offensiv und ohne Scheu vor der Konfrontation gegenüber seinem Onkel den Wunsch, eine nicht standesgemäße Ehe mit Stine einzugehen, selbst wenn dies »Bann- und Achterklärungen« (ST 82) durch seine Familie nach sich ziehen sollte. 43

Dementgegen deutet Grawe die Auswahl der Suizidmethode figurenintentional und ausschließlich mit Blick auf die kausale Motivierung: »Und Waldemars Selbstmord schließlich, bezeichnenderweise nicht mit einer Schusswaffe, sondern auf die nach den Vorstellungen der Epoche unmännliche Art mit Gift vollzogen, wirkt wie die Folge seiner sozialen Einsicht in die eigene Überflüssigkeit.« (Grawe 2000, 599)

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Einpassung in verschiedene Variationen der adeligen Subjektform nicht oder zumindest nicht vollständig gelingt, was mit einer letztlich zum Tode führenden Lebens- und Identitätskrise einhergeht. Die zur Überprüfung dieser These vorgenommene Figurenanalyse orientiert sich im Folgenden nicht an der Chronologie des Geschehens, sondern an der Lebensgeschichte des Protagonisten, welche erst im Verlauf des sich einer szenischen Darstellungsform bedienenden Romans (vgl. Osborne 2001, 135)44 entfaltet wird. 4.3.1 Variationen der adeligen Subjektform I: Erbsöhne Die im Text vor allem durch verschiedene Analepsen erzählte Biographie Waldemars verläuft zunächst wie der typische Lebenslauf eines preußischen Junkers in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Geboren etwa um 1851,45 wächst Waldemar als erstgeborener Sohn eines Grafen auf dem Familiengut in Klein-Haldern auf. Zwar sind Familien- und Ortsname von Fontane frei erfunden, die geographischen Angaben im Roman evozieren allerdings eine Lokalisierung des Haldernschen Landguts im Berliner Umland östlich der Hauptstadt.46

44

Den Großteil der Erzählung, deren erzählte Zeit einige Wochen umfasst, stellen zwei längere, sich jeweils auf einen Tag beschränkende Episoden dar: die Schilderung der Abendgesellschaft im Hause Pittelkow in den ersten sechs Kapiteln und die »glänzende Folge echter Fontanescher Gespräche« (Grawe 2000, 597) am Todestag der Hauptfigur in den Kapiteln 11-15. Dazwischen werden episodenhaft die Besuche Waldemars bei Stine geschildert, bevor der Roman im 16. Kapitel mit der der Beerdigung Waldemars schließt.

45

Das ungefähre Geburtsjahr lässt sich durch die Angabe rekonstruieren, dass Waldemar zu Beginn des Deutsch-Französischen Krieges 1870 ca. 19 Jahre alt gewesen ist (vgl. ST 97). Auch der Zeitpunkt der Handlung lässt sich durch einen Kommentar des Barons Papageno im elften Kapitel auf die Zeit um 1880/81 eingrenzen. Dieser formuliert: »War es vor oder nach dem Kriege, gleichviel, aber es sind noch keine zehn Jahre.« (ST 66) So lässt sich dieser Aussage im Umkehrschluss entnehmen, dass seit dem Ende des Deutsch-Französischen Krieges 1871 ungefähr eine Dekade vergangen sein muss.

46

Diese Deutung stützt sich maßgeblich auf das letzte Kapitel des Romans. Hier wird geschildert, dass in das Trauergeläut der Kirchenglocken von Groß-Haldern »die Glocken von Crampnitz und Wittenhagen [einstimmten] und die von Orthwig und Nasseheide folgten« (ST 109). Krampnitz ist heute ein Stadtteil von Potsdam, Ortwig liegt etwa 80 km nordöstlich von Berlin, Nassenheide im Löwenberger Land nördlich von Berlin und Wittenhagen südlich von Stralsund. Man darf es mit diesen

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Waldemar gehört damit qua Geburt zu jenem ostelbischen Landadel, der das Rückgrat der preußischen Aristokratie bildete. Folgerichtig verläuft Waldemars Subjektivierung zunächst auch in den für seinen Stand typischen Bahnen. Die im Roman geschilderte Erziehung und Ausbildung entspricht im Wesentlichen der adeligen Erziehungspraxis dieser Zeit. So war es durchaus üblich, die Bildung des adeligen Nachwuchses der Obhut von Hauslehrern zu überantworten, von denen Waldemar bemerkt, diese hätten ihn mit »Sprüchen und Geboten und dem ewigen ›Was ist das‹« (ST 96) gequält. Anders als für das Bürgertum spielten die allgemeinbildenden Schulen, speziell die humanistischen Gymnasien, für den Adel eine eher untergeordnete Rolle. Die Erziehung und Bildung der jungen Adeligen war zuvorderst um die adelige Kernfamilie herum organisiert, die bei der Erziehung der Kinder von verschiedenen Bediensteten unterstützt wurde. Dazu zählten »Nanny, Bonne, Gouvernante, Erzieher, Sprach- und Hauslehrer« (Funck/Malinowski 2000, 77) und gelegentlich auch Tanten und Onkel, die beispielsweise den Reitunterricht begleiteten, »wenn nötig mit gezieltem Peitscheneinsatz« (ebd.). Wenn Waldemar beklagt, seine Eltern seien hart gegen ihre Kinder gewesen (vgl. ST 97), so war auch das typisch für die adelige Erziehung im 19. Jahrhundert. Zeitgenössische Quellen betonen häufig das strenge elterliche Regiment, welches körperliche Züchtigung und zum Teil drakonische Strafen beinhaltete.47 Diese »Erziehung zur Härte« (Funck/Malinowski 2000, 78) setzte sich in der Realität wie auch in der fiktiven Biographie von Fontanes Figur beim Militär fort. Kaum volljährig, tritt Waldemar als Offizier einem DragonerRegiment – und damit wiederum adelstypisch der Kavallerie – bei. Auch hier ist er dem harten Drill unter einem »eisenfresserischen Kommandeur« (ST 54) ausgesetzt. Gleichwohl bezeichnet Waldemar in der Rückschau diese Phase als »seine beste Zeit« (ebd.). Soweit entspricht der Lebenslauf Waldemars also dem, was in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als typischer Werdegang preußisch adeliger Männer gegolten haben mag. Es ist zunächst Waldemars familiä-

Ortsangaben im Roman allerdings nicht zu genau nehmen. Es ist sehr zweifelhaft, ob es zwischen diesen zum Teil mehr als 50 Kilometer auseinanderliegenden Orten wirklich einen Punkt gibt, von dem aus die Kirchenglocken aller Ortschaften zu hören sind. Die Schilderung im Text ist daher mit ziemlicher Sicherheit nicht realistisch. Die genannten Ortsnamen fungieren eher als grobe Orientierungsmarken, die dem Leser signalisieren, dass es sich bei den von Halderns um eine der zahlreichen Junkerfamilien aus dem preußischen Kerngebiet der Mark Brandenburg handelt. 47

Funck und Malinowski bemerken dazu: »So gehörten schon bei geringen Vergehen Schläge mit der Reitpeitsche und dem Knotenstock […], ›Jagdhiebe‹ und ›Schellen‹ zu den gewöhnlichen Bestrafungsmitteln.« (Funck/Malinowski 2000, 78)

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res Umfeld und später sind es die Institutionen des Militärs und ihre Vertreter, welche die Subjektivierung der Hauptfigur als männlich-adeliges Subjekt forcieren. Hannemann spricht hier mit Blick auf Fontanes Protagonisten treffend von einem »being constructed as a member of […] noble class« (Hannemann 2000, 41). Der in dieser Phase seines Lebens noch weitgehend unmündige Waldemar fügt sich im Wesentlichen den Ansprüchen seiner verschiedenen Erzieher und Ausbilder, subjektiviert sich also bereitwillig in der Form, die für ihn vorgesehen ist. Folgerichtig zieht er auch nicht etwa widerwillig in den Krieg gegen Frankreich, sondern ist wie seine Kameraden »überglücklich, aus dem GarnisonsEinerlei heraus zu sein« (ST 54). Wiederum ist also Hannemann zuzustimmen, wenn dieser bemerkt, »Waldemar is not pressed into service, but willfully follows the path that the identitiy-constructive narrative of his class has drawn out for him.« (Hannemann 2000, 41) Diese Informationen erhält der Leser in erster Linie aus Waldemars eigenen und rückblickenden Schilderungen seiner Lebensgeschichte. Der heterodiegetische Erzähler des Romans tritt dagegen weitgehend hinter die Dialoge der Figuren zurück und verzichtet ähnlich wie schon im Schach von Wuthenow auf wertende Kommentare über die Figuren. In Waldemars Erzählung seiner Lebensgeschichte mischen sich allerdings unüberhörbar kritische Töne. So bezeichnet er beispielsweise den Militärdienst als »seine einzig frohe« (ST 54) Zeit. Auf dem Haldernschen Landgut hingegen sei er »im Hause selbst, bei meinen eigenen Eltern, ein Fremder« (ST 97) gewesen, der die schlechte Laune und die Verstimmungen seiner Stiefmutter habe entgelten müssen (vgl. ebd.). Ferner beklagt er, er habe zwar gehört, »wie seine Kameraden und seine Vorgesetzten sprechen; aber wie Menschen sprechen, das hat er nicht gehört, das weiß er nicht recht« (ST 57).48 Das als Ablehnung erfahrene Verhalten seiner Eltern versucht Waldemar psychologisch zu erklären: »Ich habe später darauf geachtet und es in mehr als einer Familie gesehen, wie hart Eltern gegen ihre Kinder sind, wenn diese ganz bestimmten Wünschen und Erwartungen nicht entsprechen wollen.« (ST 97) Diese deutliche Problematisierung der eigenen Biographie ist ein Indiz dafür, dass Waldemars Einpassung in die adelige Subjektform nicht reibungsund problemlos geglückt ist. Diese Problematisierung findet allerdings im Wesentlichen erst nachträglich in der Rückschau des Protagonisten auf seine Vergangenheit statt. Als Kind und Heranwachsender mag Waldemar zwar gelegentlich gezeigt haben, dass ihm »nicht alles gefalle« (ebd.). Von einer direkten Auflehnung gegen das von seinen Eltern und Erziehern vertretene Subjektivierungs-

48

Die zitierte Passage wird im Roman von Stine erzählt, die ihrerseits allerdings betont, dies seien Waldemars »eigene Worte« (ST 57).

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regime ist allerdings nicht die Rede.49 Stattdessen hat sich Waldemar gefügt und zunächst jenen Lebensweg beschritten, der für ihn als Erbsohn qua Klassenzugehörigkeit vorgezeichnet war. Die in Waldemars rückblickender Erzählung anklingende kritische Distanzierung vom eigenen Werdegang setzt hingegen erst an einem späteren Punkt seiner im Roman geschilderten Biographie ein, der sich allerdings relativ genau lokalisieren lässt. 4.3.2 Bruchstelle einer Subjektivierung: Invalidität Das Ereignis, das Waldemars Leben aus den durch seine Klassenzugehörigkeit definierten Bahnen wirft, ist seine schwere Verwundung im Krieg. An diese schließen sich das Ausscheiden aus dem Berufsleben, ein Bruch im Verhältnis zu den Eltern und eine Identitätskrise des Protagonisten an. Über die Zeit unmittelbar nach seiner Verwundung resümiert die Hauptfigur: »[I]ch war ein Vierteljahr lang der Held und Mittepunkt der Familie, besonders als auch prinzliche Telegramme kamen, die sich nach mir erkundigten. Ja, Stine, das war meine große Zeit. Aber ich hätte sterben oder mich rasch wieder zu Gesundheit und guter Karriere herausmausern müssen, und weil ich weder das eine noch das andre tat und nur so hinlebte, […], da war es mit meinem Ruhme bald vorbei.« (ST 97f.)

In der bedeutsamen Formulierung »ich hätte sterben oder mich rasch wieder zu Gesundheit und guter Karriere herausmausern müssen« sind zwei Aspekte miteinander verzahnt, aus denen der handlungstragende Konflikt des Textes maßgeblich gespeist wird. Es handelt sich zum einen um die von Waldemars Eltern an ihren Sohn gerichteten Erwartungen. Diese sind stark von gesellschaftlichen Konventionen geprägt und werden von Waldemar an anderer Stelle auf den abstrakten Begriff der »herrschenden Anschauungen« (ST 65) gebracht. Zum anderen werden diese Erwartungen in Beziehung zur körperlichen Verfassung der Hauptfigur gesetzt. Waldemar ist von seiner schweren Kriegsverletzung nie richtig genesen und drückt sich noch zum Handlungszeitpunkt »schwach und krank in der Welt herum« (ST 89). Er ist mit anderen Worten invalide und damit nicht in der Lage, den Ansprüchen seiner Eltern an ihn zu genügen.

49

Dies ist insofern erwähnenswert, als dass durchaus um 1900 verschiedene literarische Texte entstanden sind, in denen sich jugendliche Protagonisten den Anforderungen und Zwängen verschiedener Subjektivierungs-Regime auf unterschiedliche Weise entziehen. Vorausweisend sei an dieser Stelle auf die Untersuchungen zu Frühlings Erwachen (Kapitel 4.5) und Unterm Rad (Kapitel 5.3) verwiesen.

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Die Bedeutsamkeit dieser Invalidität für die Handlung wird schon auf der ersten Seite des Romans durch einen geschickten Kunstgriff in den Text eingeführt. Fontane lässt einen großen Teil der Handlung in der Pittelkowʼschen Wohnung spielen, die im Roman in der Berliner Invalidenstraße50 gelegen ist, mit deren Benennung der Text beginnt.51 Auf einer symbolischen Ebene steht damit vom ersten Satz an die Handlung des Romans im Zeichen dieser Invalidität, die schon zu Beginn als Merkmal Waldemars erkennbar wird. So wird er noch vor seinem ersten Auftritt im Roman bereits von seinem Onkel als »jung und etwas blaß« (ST 11) angekündigt, wobei die Blässe als Ausdruck von Kränklichkeit gelesen werden kann. Dieser Eindruck verfestigt sich wenig später durch die Bemerkung Pauline Pittlekows, Waldemar sei »ein armes, krankes Huhn« (ST 40). Von da an wird seine schwächliche Konstitution von verschiedenen Figuren in verschiedenen Dialogen immer wieder thematisiert.52 Waldemar attestiert sich selbst gegenüber Stine unumwunden: »Ich bin krank.« (ST 43) Kurz darauf bezeichnet er seine Krankheit gar als »Lebensberuf« (ST 44). Gleichzeitig aber wird auch Stine vom Erzähler als »Typus einer […] angekränkelten Blondine« (ST 11) vorgestellt, welche ihrerseits im Laufe des Romans von eigener Krankheit zu berichten weiß (vgl. ST 44). Dies hat in Teilen der Forschungsliteratur zu dem Schluss geführt, Waldemar und Stine stünden als Figurenpaar im Rahmen eines Gegensatzes »lebensstarker und lebensschwacher Personen« (Lang 2001, 24) dem alten Grafen und Pauline Pittelkow gegenüber.53 So zutreffend diese Beobachtung zur Komposition des Textes auch sein mag, so wenig erschöpft sich darin die Funktion, die Waldemars Invalidität im Roman erfüllt. Vielmehr fungiert die gelegentlich zugespitzt als »Lebensuntüchtigkeit« (Sommer 2011, 102)54 interpretierte Invalidität der Hauptfigur vor allem als kausale Motivierung für wesentliche Teile des Geschehens. Sowohl Waldemars Lebensumstände als auch der im Roman immer wieder thematisierte Konflikt mit

50

Die Invalidenstraße wird im Text immer wieder erwähnt (vgl. exemplarisch ST 11, 13, 40). Daneben werden auch noch der »Invalidenpark« (94) und der »Invalidenhausgarten« (ST 22) angeführt. Die in geographischen Bezeichnungen versteckten Anspielungen auf die Invalidität sind im Text also praktisch allgegenwärtig. Im Übrigen hat es all diese Orte bereits um 1900 in Berlin tatsächlich gegeben.

51

Der erste Satz des Romans lautet: »In der Invalidenstraße sah es aus wie gewöhn-

52

Vgl. exemplarisch ST 41, 54, 57, 75.

53

Vgl. auch Thunecke 1979, 512.

54

Vgl. dazu auch Helmstetter 1998, 153.

lich.« (ST 3)

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seinen Eltern resultieren unmittelbar aus seiner Invalidität. Man muss sich dazu vergegenwärtigen, dass Waldemar zum Zeitpunkt der Handlung seit etwa einem Jahrzehnt im Prinzip keiner geregelten Tätigkeit nachgeht und in seinen eigenen Worten »nur so hinlebt« (ST 97). Zwar galt Müßiggang als ein Privileg der Aristokratie, an welchem sich unter anderem die bürgerliche Adelskritik entzündete.55 Eine solch lange Phase der faktischen Untätigkeit aber war selbst für adelige Männer ungewöhnlich, zumal diese bei Waldemar in eine Lebensphase fällt, in der die Weichen für eine standesgemäße Karriere als Gutsherr, Offizier, höherer Beamter oder Diplomat (vgl. Wienfort 2006, 88) gestellt werden. Waldemars Verwundung markiert die Bruchstelle einer Subjektivierung, die bis zu diesem Ereignis in den standesüblichen Bahnen verlaufen ist und welche den Erwartungen seiner Eltern entsprochen hatte. Durch seine Invalidität ist Waldemar bei diesen nun aber regelrecht in Ungnade gefallen. Das mag vor allem Fontanes bürgerlichen Lesern als moralisch verwerflich erschienen sein. Aus der Logik der Bewahrung adeliger Familien- und Besitzkontinuität heraus ist es indes durchaus nachvollziehbar. Denn es waren die erstgeborenen Söhne, auf welche die Adelsfamilien den Großteil ihrer Ressourcen konzentrierten, damit diese die Erbfolge sichern und die für den Adel so wichtige Familiengeschichte um weitere Kapitel fortschreiben konnten.56 Dieses Prinzip der »Primogenitur« (ST 83) wird in Fontanes Roman benannt. In seiner Funktion als Bewahrer von Besitzstand und Familientradition aber droht Waldemar durch seine Invalidität auszufallen, was das Unbehagen seiner Familie gegenüber Waldemars Karriere- und Erfolglosigkeit erklärt. Gleichzeitig hat die Erfahrung, als Invalide bei der eigenen Familie in Ungnade zu fallen, auch dazu geführt, dass sich Waldemar zunehmend von seinen Eltern und den von diesen vertretenen Anschauungen distanziert. Dies bringt er auf die griffige Formel: »Das mit dem vierten Gebot, das hat auch seine Grenze.« (ST 99) Erst durch seine Selbstbefreiung vom normativen Druck der gesell-

55

Vgl. Reckwitz 2010a, 116, Frie 2004 277, Braun/Gugerli 1993, 308.

56

Marcus Funck bemerkt hierzu: »In Familien mit Gutsbesitz widmeten die Eltern dem Erben des ungeteilten Besitzes, im Normalfall der erstgeborene Sohn, sehr viel mehr Aufmerksamkeit als den Geschwistern. Der erbende Sohn genoß im Zweifelsfall eine bessere Ausbildung, wurde bis zur Übernahme des Erbes einem angeseheneren Regiment zugewiesen und sorgsamer verheiratet als seine Brüder.« (Funck 2004, 208) Auf einen ähnlichen Aspekt zielt auch Andreas Reckwitz: »Das einzelne Kind ist relativ austauschbar und in erster Linie ein Element der Familiengenealogie.« (Reckwitz 2010a, 144) Es wird folglich innerhalb der Adelsfamilie vor allem über seine Position innerhalb der Erbfolge definiert.

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schaftlichen Konventionen erscheint es figurenpsychologisch überhaupt realistisch, dass Waldemar ernsthaft eine Mesalliance mit der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammenden Stine anstrebt. Daneben wird auch das Festhalten an diesem Vorhaben im Roman durch seine Krankheit begründet, etwa wenn Waldemar bemerkt: »Ich bin in den Jahren und in der Lage, selbstständig handeln zu dürfen, und ich werde selbstständig handeln. Krankheit macht eigensinnig.« (ST 78) Schließlich markiert Waldemars Invalidität, wie ich im Folgenden argumentieren werde, innerhalb der erzählten Welt in gewisser Hinsicht überhaupt erst den Ausgangspunkt und die Ursache seiner Bekanntschaft mit Stine. 4.3.3 Variationen der adeligen Subjektform II: Lebemänner Die meisten literaturwissenschaftlichen Untersuchungen zu Stine befassen sich sehr ausführlich mit der in den ersten Kapiteln des Textes dargestellten Gesellschaft im Haus von Pauline Pittelkow. Dabei ist bisher auf eine Frage, die bestimmte Figurenkommentare förmlich nahelegen, noch keine befriedigende Antwort gegeben worden: Warum nimmt Waldemars Onkel seinen wesentlich jüngeren Neffen überhaupt mit zu dieser gesellschaftlichen Zusammenkunft? Dass dies in gewisser Hinsicht »unpassend« (ST 12) ist, bemerkt Stine bereits im zweiten Kapitel des Textes. Später wird der alte Graf diese Entscheidung selbst als einen »Fauxpas« (ST 84) und als eine »törichte Laune« (ebd.) bezeichnen. Zur Beantwortung dieser Frage ist es hilfreich, sich vor Augen zu führen, um welche Art von Zusammenkunft es sich bei dieser Tischgesellschaft handelt. Formal gesehen schildert der Roman zunächst das Zusammentreffen dreier adelig-männlicher Figuren – Waldemar, sein Onkel Sarastro von Haldern und Baron Papageno57 – mit drei weiblichen Figuren kleinbürgerlicher Herkunft – der Näherin Stine, ihrer verwitweten Schwester Pauline Pittelkow und der Schauspielerin Wanda Grützmacher. Diese Konstellation allein ist bereits bemerkenswert, denn kleinbürgerliche Frauen waren in dieser Zeit kein standesgemäßer gesellschaftlicher Umgang für adelige Männer. Die schweigend tolerierte Ausnahme hiervon bildeten Prostitutionsverhältnisse und genau solche werden im Text dargestellt. Bereits auf den ersten Seiten wird deutlich, dass Pauline Pittelkow eine Art Mätresse des alten Grafen ist. Zeitgenössisch korrekt

57

Die Namen der Figuren legen einen Bezug des Romans zu Mozarts Zauberflöte nahe, zumal Sarastro Pauline Pittelkow zweideutig als »Meine Königin der Nacht« (ST 27) bezeichnet. Der von der literaturwissenschaftlichen Forschung hinreichend untersuchte Bezug des Romans zur Zauberflöte (Vgl. unter anderem: Hertling 1982) spielt allerdings für die Fragestellung dieser Arbeit keine Rolle.

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lässt sich von einem »Demimonde-Verhältnis« (Mecklenburg 1998, 254) zwischen den beiden sprechen, welches an »schärfere Arten der Prostitution grenzt« (ebd., 252). Der alte Graf finanziert augenscheinlich Pauline Pittelkows Lebensstil,58 während diese ihm im Gegenzug gewisse sexuelle Gefälligkeiten erweist. An mehr als einer Stelle deutet der Text an, dass diesem Verhältnis auch Paulines jüngstes Kind entstammt.59 Darüber hinaus veranstaltet Pauline auf Wunsch des alten Grafen häufiger Tischgesellschaften,60 die vor allem dem Amüsement der adeligen Herren dienen. Die Gespräche bei dieser abendlichen Zusammenkunft sind praktisch durchgängig doppeldeutig und beinhalten diverse sexuelle Anspielungen. Wie Daffa zutreffend bemerkt, schwelgen die alten Herren förmlich »in frivolen bzw. obszönen Anspielungen« (Daffa 1998, 197). Der Erzähler des Textes ist indes nicht bemüht, diesen hoch zweideutigen Ton der Tischgespräche zu verschleiern, sondern bemerkt offen, es handle sich bei den an die Damen gerichteten Worten um »Intimitäten« (ST 30). Die in den Kapiteln vier bis sechs des Romans enthaltenen sexuellen Anspielungen sind so zahlreich, dass sich die zwangsweise ausufernde Darstellung aller Zweideutigkeiten hier verbietet.61 Mit dem Wissen um die besonderen Eigenarten dieser Abendgesellschaft ist es dann auch nicht verwunderlich, dass mit Wanda Grützmacher – auf Wunsch des Grafen – ausgerechnet eine Schauspielerin an dieser Veranstaltung

58

Vgl. ST 20. An dieser Stelle muss die Einschätzung Sommers relativiert werden, der die Beziehung zwischen Pauline und dem Grafen ausschließlich als ein »kaum verhülltes Ausbeutungsverhältnis« (Sommer 2011, 102) versteht. Diese Deutung verkennt, dass Pauline Pittelkow im Text nicht als schwache und abhängige Frau geschildert wird, sondern als eine durchaus selbstbewusste Figur, welche das Verhältnis mit dem Grafen ihrerseits willentlich und aus Kalkül aufrechterhält. Dementsprechend befindet sie, die Situation sei »auch recht gut so; wenigstens für unsereins« (ST 12).

59

Dafür spricht nicht zuletzt, dass sich Sarastro selbst mit Blick auf Pauline Pittelkow

60

Dass dies nicht die erste Veranstaltung dieser Art ist, lässt sich vor allem aus einem

als »Witwenretter und Waisenvater« (ST 85) bezeichnet. Schreiben des alten Grafen über die Vorbereitungen zu eben jener Abendgesellschaft schließen: »Aber für alles andere mußt Du sorgen. Nichts Apartes, nichts Großes, bloß so wie immer [Hervorhebung G.V.].« (ST 12) Ferner hält es der Graf auch für unnötig, seinen Freund Papageno den anwesenden Damen vorzustellen, denn dieser »genießt des Vorzuges, allen Anwesenden bekannt zu sein« (ST 22). 61

Dies auch, weil die Forschungsliteratur zu Fontanes Roman bereits auf viele dieser Zweideutigkeiten eingegangen ist. Vgl. exemplarisch Sommer 2011; Daffa 1998; Mecklenburg 1998.

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teilnimmt. Im 19. Jahrhundert standen Schauspielerinnen in dem Ruf, ihre zumeist niedrigen Gagen durch oft länger andauernde Verhältnisse mit reichen Gönnern aufzubessern, was ihnen faktisch »den Status einer Maitresse« (Schulte 1994, 111) gab. Auf diesen Umstand spielt der Erzähler in Fontanes Roman an, wenn er über Wanda bemerkt: »Sie zog dementsprechend ›ein gutes Gehalt einer schlechten Behandlung vor‹, und wenn ihr bei Soupers mit Bourgeoisenwitwern, einer ihr besonders sympathischen Gesellschaftsklasse, die Speisekarte gereicht wurde, so zeigte sie mit einem ihr kleidenden und seine Wirkung nie verfehlenden Ernst auf das rasch als Bestes und Teuerstes Erkannte.« (ST 16)

Insofern lässt sich Daffa also zustimmen, wenn diese mit Blick auf Wanda von einer »Gelegenheitsprostituierten« (Daffa 1998, 191) spricht. Es waren die im Text geschilderte Figurenkonstellation und der obszön-zweideutige Ton der Dialoge, welche Stine »zu einer für das bürgerliche Publikum bedenklichen Geschichte machen mußten« (Müller-Seidel 1975, 278f.). Obwohl er bereits ein etablierter Autor war, hatte Fontane große Schwierigkeiten, diesen Roman zu publizieren, denn fast alle Zeitungen lehnten das Manuskript als »zu brenzlich« (Wessels 1979, 501) ab. Nachdem Fontane den Roman letztlich doch noch veröffentlichen konnte, reagierte vor allem die konservative Presse mit Empörung. Eine derartige Reaktion auf eine Geschichte, in der sich die Darstellung von Sexualität letzten Endes dennoch auf Andeutungen beschränkt, mag auch damit zu tun gehabt haben, dass Demimonde-Verhältnisse eben nicht nur in den fiktionalen Geschichten der Romanciers existierten, sondern in der Gesellschaft des Kaiserreichs häufiger vorgekommen sind. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts blieben mehr als ein Drittel der nicht erbenden Söhne und immerhin ein Zehntel der erstgeborenen adeligen Männer unverheiratet (vgl. Funck 2004, 209). Aus historischer Perspektive lässt sich begründet fragen, wie diese unverheirateten Adeligen ihre Sexualität ausgelebt haben. Zwar ist dies einer der Punkte, über den die adeligen Autobiographien und sonstige Selbstzeugnisse nicht allzu auskunftsfreudig sind.62 Auch fehlt hierzu bisher eine große und vergleichende historische Untersuchung. Gleichwohl aber hat die geschichtswissenschaftliche Forschung bereits verschiedene Belege dafür gefunden, dass außer-

62

In diesem Punkt unterscheidet sich der Adel kaum vom Bürgertum, dessen Schweigen über die eigene Sexualität Gunilla Budde pointiert zusammenfasst: »Das sonst so beredte Bürgertum verstummte vor bürgerlichen Schlafzimmertüren.« (Budde 2009, 29)

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eheliche sexuelle Verhältnisse im Adel durchaus keine Seltenheit waren.63 Dies mag zu dem Vorwurf der »vorgeblichen Amoralität« (Reckwitz 2010, 102) beigetragen haben, den insbesondere die bürgerliche Kritik an den Adel richtete. Wenn man bereit ist diesem historischen Rekurs zu folgen, so hat dies Konsequenzen für die Interpretation der Tischgesellschaft im Hause Pittelkow. Diese erscheint dann als die literarische Darstellung einer sozialen Praxis, welche für bestimmte Teile der Adelskultur in dieser Zeit nicht unüblich war. Diese Deutung führt zurück zu der weiter oben formulierten Frage, warum Waldemar seinen Onkel zu dieser Tischgesellschaft begleitet. Indem Sarastro von Haldern seinen Neffen zu dieser Veranstaltung im Hause Pittelkow mitnimmt, macht er Waldemar mit einer bestimmten Ausprägung des adeligen Lebensstils vertraut. Es handelt sich dabei um jene Existenzweise adeliger Junggesellen, bei denen Müller-Seidel nicht zu Unrecht von der »Familie der Lebemänner« (MüllerSeidel 1975, 275) spricht. Im Roman werden verschiedene Praktiken angeführt, die zu diesem Lebensstil zählen. Dazu gehören die bereits erwähnte Pflege außerehelicher Liebschaften und die Teilnahme an unstandesgemäßen Tischgesellschaften. Dazu zählen ferner verschiedene Konsumpraktiken wie der Genuss von guten Zigarren (vgl. ST 28) und Alkohol zu allen Uhrzeiten, auch in Form von »Morgenkognak« (ST 63) und Wein-Frühstück.64 Dazu gehört schließlich das

63

Über die sexuellen Ausschweifungen des Adels bemerkt beispielsweise Wolfang Wippermann: »Mehr oder weniger ›schmutzige Geschichten‹ dieser Art aus den hohen und höchsten Gesellschaftsschichten gab es wirklich viele. Sie waren auch der sensationslüsternen Öffentlichkeit bekannt, wo sie entsprechend hämisch und mit ausgesprochener Lust am sexuellen Detail kommentiert wurden.« (Wippermann 2010, 14) So seien unter adeligen Männern kollektive Besuche im Bordell keine Seltenheit gewesen und dies »keineswegs nur im heimatlichen Berlin, wo es mehrere Etablissements gab, die sich auf die sexuellen Bedürfnisse dieser Herren eingestellt hatten« (ebd.). Auch Funck kommt mit Blick auf das Offizierskorps zu dem Ergebnis, dass sich zahlreiche Beispiele für die »Ausbrüche aus der sexuellen Verklemmung, wie zum Beispiel Masturbation, Bordellbesuch, Ehebruch« (Funck 2002, 77) finden lassen. Auch Regina Schulte geht in ihrer Untersuchung zur Prostitution in der bürgerlichen Gesellschaft am Rande auf Demimondenschaft, Mätressentum und Prostitution im Zusammenhang mit dem Adel ein. Vgl. Schulte 1994, 63 und 110f.

64

Vor allem bei letztgenanntem Aspekt scheint eine ironische Distanznahme des Erzählers durch, wenn dieser bemerkt, an der Art, wie Baron Papageno »den Kork zog, erkannte man den Frühstücker vom Fach« (ST 70).

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Privileg, auszuschlafen,65 nicht arbeiten zu müssen und seinen Tag mit unproduktiven Tätigkeiten wie der Beobachtung des »Liebesleben[s] einer Sperrlingsfamilie« (St 62) zu verbringen. Kurzum: Der vom alten Grafen und Baron Papageno gepflegte Lebensstil zeichnet sich wesentlich durch Müßiggang und nicht etwa durch Fleiß und beruflichen Ehrgeiz aus. Das dazu gehörende und von Sarastro selbst formulierte Credo lautet: »Debauchiere wer kann und mag.« (ST, 75) Damit zeichnet der Text ein Bild dieser adeligen Figuren, das einem in der bürgerlichen Gesellschaft verbreiteten Stereotyp entspricht. Der Roman bedient das Klischee des Adeligen, der in »parasitäre[r] Leistungsverweigerung« (Reckwitz 2010, 179) durch »Müßiggang [und] kaum finanzierbaren Luxus«66 (Wienfort 2008, 15) allen bürgerlichen Wertvorstellungen widerstrebt. Dieses Stereotyp beinhaltete ferner die Unterstellung »adelstypische[r] Bildungsdefizite« (Frie 2004, 277), welche im Roman ebenfalls anklingen.67 Wichtiger als die stereotype Ausgestaltung des im Text dargestellten Lebensstils ist aber, dass dieser im Gegensatz zu dem steht, was Waldemars Eltern für ihren Sohn als angemessene Existenz erachten. Denn weder Papageno noch Waldemars Onkel haben es zu erfolgreicher Karriere, Familie und überdurchschnittlichem Wohlstand gebracht. Allerdings wird dies beispielsweise von Sarastro auch gar nicht erwartet. Dieser kann sich sein Dasein als adeliger Lebemann erlauben, weil er als nachgeborener Sohn nicht in der Pflicht steht, die Familienund Besitzkontinuität sichern zu müssen – eine Freiheit, die freilich durch den ohnehin erzwungenen Verzicht auf alle Erbansprüche erkauft ist.68 Wenn

65

So konstatiert Papageno über den von ihm gepflegten Lebensstil: »Ich schlief immer noch um elf.« (ST 62) Auch Sarastro ist mittags noch im Morgenrock gekleidet (vgl. ST 74) und wundert sich darüber, dass Waldemar bereits um 11 Uhr morgens bei Papageno vorstellig geworden ist (vgl. ST 76).

66

Über die finanzielle Situation von Papageno bemerkt der Erzähler, »seine Finanzlage war nicht die beste« (ST 63), was bei der Schilderung des exzessiven Lebensstils des Barons einen durchaus kritischen Impetus hat.

67

Vgl. hierzu: »So liebte Baron Papageno zu perorieren und schloß dann in der Regel mit Zitaten aus der ersten Strophe des »Ring des Polykrates«, womit sich seine Kenntnis der Ballade, wie bei vielen andern, erschöpfte.« (ST 61)

68

Die Reichweite des im Text dargestellten Modells von Adeligkeit darf indessen nicht überschätzt werden. Sicher hat es speziell in Berlin viele Adelige gegeben, deren Lebensstil dem skizzierten Stereotyp von Adeligkeit durchaus entsprochen hat. Allerdings weist Marcus Funck auf die vielen Fälle hin, bei denen sich die »nachgeborenen Söhne im Verzicht, in einer asketischen, manchmal gar zölibatären Le-

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Waldemar nun von seinem Onkel mit dessen Lebensstil vertraut gemacht wird, so geschieht dies mit Hintersinn. Denn offenbar ist es Sarastros Absicht, das von ihm selbst geführte Leben seinem Neffen schmackhaft zu machen. Deutlich wird dies an der Stelle, an der Waldemar seinem Onkel von seinen Heiratsplänen berichtet. Noch bevor der Onkel erfährt, wen Waldemar zu ehelichen gedenkt, rät er kategorisch von diesem Vorhaben ab:69 »Ein Mann wie du heiratet nicht. Das bist du drei Parteien schuldig: dir, deiner Nachkommenschaft […] und drittens der Dame, die du gewählt.« (ST 77) Dieser apodiktisch angetragene Ratschlag hat weitreichende Konsequenzen. Im Prinzip ermuntert Sarastro seinen Neffen dazu, durch den Verzicht auf die Gründung einer eigenen Familie seinen Platz in der Erbfolge zu räumen. Aus der Logik der Bewahrung von Besitzstand und Familientradition heraus bedeutet dies nahezu zwangsweise, das Prinzip der Primogenitur aufzugeben und Waldemars jüngeren Bruder zum Erben des Familienbesitzes zu machen. Denn nur dieser wäre dann noch in der Lage, die Erbfolge und die Zukunft des Adelsgeschlechts zu sichern. Diese Lösung erscheint übrigens in den Augen der Familie durchaus tragfähig, wie das Ende des Romans andeutet. Von Waldemars Bruder erfahren wir im letzten Kapitel, dass ihm »der ältere Bruder, um das mindeste zu sagen, in nicht unerwünschter Weise Platz gemacht hatte« (ST 111). Die Litotes evoziert hier zumindest den Verdacht, der jüngere Bruder habe Waldemars Platz in der Erbfolge schon länger angestrebt. Auch die Stiefmutter ist über den Tod des eigentlichen Erbsohns nicht im Mindesten erschüttert, sondern sieht Waldemars Suizid »lediglich vom Standpunkte des ›Affronts‹ aus« (ST 110f.). Aus der Überzeugung heraus, der kränkliche Waldemar könne den Erwartungen seiner Eltern und seiner Rolle als Erbsohn nicht gerecht werden, nimmt sich Sarastro seines Neffen an und macht diesen mit der Existenzweise adeliger Lebemänner bekannt. Damit verbunden ist die Hoffnung, dem als »arme[n], unglückliche[n] Mensch[en]« (ST 88) bezeichneten Waldemar eine alternative Lebensweise aufzuzeigen, die eine glücklichere Existenz zu gewährleisten verspricht.70 Waldemars Einführung in die gesellschaftlichen Kreise, in denen sein

bensweise« (Funck 2004, 210) üben mussten. Dies war naturgemäß vor allem bei den Sprößlingen aus den weniger wohlhabenden Adelsfamilien der Fall. 69

Da Sarastro zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß, dass Waldemar Stine heiraten will, handelt es sich bei seinem Einspruch auch nicht um den Versuch, seinem Neffen eine Mesalliance auszureden.

70

Dabei ist es nicht nur Sarastro, der Waldemars Existenz als Unglück darstellt. Waldemar selbst entwirft im Gespräch mit Stine ex negativo von sich das Bild eines

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Onkel verkehrt, erscheint in der Darstellung des Textes bereits als eine bestimmte Form der Subjektivierung. Denn im Rahmen der Abendgesellschaft werden Waldemar nicht einfach nur bestimmte Praktiken, wie eine spezielle Art der Konversation oder der Konsum von Rauschmitteln, demonstriert. Vielmehr ist er selbst in den Vollzug dieser Praktiken eingebunden, denn er konsumiert und konversiert aktiv mit. Die im Roman geschilderte Abendgesellschaft lässt sich als eine soziale Formation lesen, die nach bestimmten Regeln funktioniert und zu der verschiedene Praktiken gehören. Als Lehrmeister Waldemars fungiert sein Onkel Sarastro. Dieser führt seinem Neffen erstens den Vollzug bestimmter Praktiken vor, animiert diesen zweitens zur Teilnahme an diesen Praktiken und leitet ihn drittens verbal an. Dies zeigt sich besonders deutlich an den dargestellten Konversationspraktiken. Das Tischgespräch ist keine regellose Unterhaltung, sondern nimmt die Form eines Sprachspiels an. Zu dem männlichen Part in diesem Sprachspiel gehört es, in Doppeldeutigkeiten zu sprechen, nahezu permanent sexuelle Anspielungen zu machen und den Damen auch »Huldigungen« (ST 23) entgegenzubringen. Dieses Sprachspiel wird nicht nur von Sarastro und Papageno in der Figurenrede vorgeführt, sondern auch vom Erzähler zusammenfassend angedeutet: »Je mehr sich eine narkotische Wolke durch das Zimmer verbreitete, desto mysteriöser wurde auch die Sprache. Der alte Graf übernahm dabei die Führung, während Baron Papageno sekundierte.« (ST 30) In seiner Funktion als Lehrmeister versucht Waldemars Onkel auch, seinen Neffen in das Gespräch einzubinden (vgl. ST 26) und ist entsprechend erfreut darüber, »daß Waldemar auf den angestimmten Ton einging« (ebd.). Als sich Waldemar aber in ernsten, über die Grenzen dieses Sprachspiels hinausgehenden kunsttheoretischen Ausführungen zu verlieren droht, interveniert Sarastro sogleich: »›Brav, brav‹, unterbrach hier der Graf. Und so bitte ich denn, die Gläser zu füllen.« (ST 26) Noch deutlicher wird die anleitende Funktion des Onkels, als dieser wenige Seiten darauf belehrend eine Handlung seines Neffen unterbindet. »Der junge Graf wollte Beifall klatschen, der Oheim aber hielt ihn zurück und erklärte, ›daß man sein Feuer, auch in solchen Dingen, nie zu früh verknattern müsse‹« (ST 33). 4.3.4 Emigrationsphantasien Es ist also vor allem der als Mentor auftretende Sarastro von Haldern, der seinen Neffen mit dem angemessenen Verhalten bei solchen Abendgesellschaften ver-

unglücklichen Menschen: »Ich bin krank und ohne Sinn für das, was die Glücklichen und Gesunden ihre Zerstreuung nennen.« (ST 43)

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traut zu machen versucht und der über den ›korrekten‹ Vollzug der verschiedenen, in diesem Kontext relevanten Praktiken wacht. Der Konflikt des Romans wird nun allerdings gerade dadurch möglich, dass im Rahmen dieser Abendgesellschaft etwas passiert, das in der Logik der Praxis nicht vorgesehen ist. Angedeutet wird dies vom Erzähler an prominenter Stelle im Schlusssatz des die Abendgesellschaft beschließenden fünften Kapitels: »Nur der junge Graf und Stine schwiegen und wechselten Blicke.« (ST 38) Vorausdeutend wird dem Leser hier die Darstellung der sich in den folgenden Kapiteln entwickelnde Liebesbeziehung zwischen Stine und Waldemar bereits in Aussicht gestellt. Die Anbahnung einer tiefergehenden emotionalen Bindung zwischen den Teilnehmern ist nun aber gerade nicht der Zweck dieser Abendgesellschaft, die den adeligen Herren ausschließlich zum Amüsement dienen soll. Gleichwohl verliebt sich Waldemar in Stine und beginnt bald nach dem geselligen Abend damit, diese in ihrer Wohnung zu besuchen. Die zum Teil in direkter Rede, zum Teil auch als Redebericht wiedergegebenen Gespräche zwischen den beiden Protagonisten unterscheiden sich deutlich von dem letztlich oberflächlichen Sprachspiel der Abendgesellschaft. Statt Koketterien und Anzüglichkeiten auszutauschen, erzählen sich Waldemar und Stine ihre Lebensgeschichte bzw. »Geschichten aus ihrem Leben« (ST 51). Darüber hinaus betreiben sie in intimen, aber stets sittsamen Gesprächen71 über die Glückseligkeit des eigenen Daseins eine fremd- und selbstpsychologische Kommunikation (vgl. ST 43ff.), die Reckwitz zufolge vor allem ein Merkmal der bürgerlichen Freundschafts- und Intimitätsbeziehungen war.72 Dazu zählt auch die empathische Bezugnahme auf das Gegenüber und die Mitteilung der eigenen emotionalen Verfassung. Ist die Konversation bei der Abendgesellschaft ein auf Amüsement ausgerichtetes, »frivol-ironische[s] Spiel« (Hertling 1982, 68) mit klar verteilten Rollen zwischen standesungleichen Figuren, so sind die Gespräche zwischen Stine und Waldemar eine intime und

71

Waldemar verlässt Stine in der Regel vor dem Einbruch der Dunkelheit (vgl. ST 51), um den Besuchen keinen moralisch fragwürdigen Anschein zu geben. In der Forschung ist bereits bemerkt worden, dass der in diesem Zusammenhang oft bemerkte Sonnenuntergang auch symbolisch als »Vorwegnahme des tragischen Beziehungsendes« (Lang 2001, 29) gelesen werden kann.

72

»Entscheidend für bürgerliche Freundschaftspraktiken ist die Psychologisierung des Subjekts. Freundschaftssubjekte psychologisieren sich gegenseitig, eine Interpretation des Anderen und der eigenen Person […] Die intimen Subjekte entwickeln Verfahren, in denen sie nach ihren eigenen ›inneren‹ Eigenschaften fahnden, diese zu dechiffrieren suchen und im Sinne eines ›Sich Öffnens‹ dem Anderen mitteilen« (Reckwitz 2010a, 138f.)

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gleichberechtigte Konversationen auf Augenhöhe. Zu keinem Zeitpunkt erweckt der Erzähler den Eindruck, Waldemar eifere seinem Onkel nach und wolle Stine lediglich als »Liebschaft« (ST 58) für sich gewinnen. Stine selbst beharrt im Gespräch mit ihrer Schwester energisch auf der Tugendhaftigkeit von Waldemars Absichten, indem sie bekundet: »Noch ist kein Wort über seine Lippen gekommen, dessen ich mich vor Gott und Menschen oder vor mir selber zu schämen hätte.« (ST 57) Im Endeffekt führt Waldemars Teilnahme an der Abendgesellschaft zu einem Resultat, das der alte Graf nicht vorhergesehen hatte und nicht gutheißen kann. Die ursprüngliche Absicht, Waldemar den Lebensstil des adeligen Junggesellen näher zu bringen, wird durch dessen Bekanntschaft mit Stine vollständig unterlaufen. Nicht nur steht Waldemars Vorhaben einer Hochzeit mit Stine im Gegensatz zu der Empfehlung seines Onkels, der seinem Neffen von der Ehe kategorisch abrät. Vielmehr führt Sarastros Versuch, Waldemar eine alternative Möglichkeit adeliger Existenz zu offenbaren, unbeabsichtigt dazu, dass dieser nun jedwede adelige Existenz aufzugeben und durch eine gänzlich andere Subjektivierungsweise zu ersetzen gedenkt. Denn in seinen Plänen ist die Heirat mit Stine an eine Emigration nach Amerika geknüpft, wo er »bei Adam und Eva wieder anfangen« (ST 79) und ein bescheidenes und einfaches Leben führen will. Zwei Punkte sind dazu anzumerken. Erstens ist Waldemar realistisch genug, um zu erkennen, dass er für eine Mesalliance niemals den Segen seiner Eltern, denen »eine Schwiegertochter im Stile von Stine Rehbein einfach Tod und Schande bedeutet« (ST 85), erhalten wird.73 Das Vorhaben, seine Erbansprüche aufzugeben und nach Amerika auszuwandern ist in diesem Zusammenhang bereits eine Kompromisslösung, die Waldemar auch deshalb anstrebt, weil er »versöhnungsbedürftig« (ST 78) ist und »in Frieden aus dieser Alten Welt scheiden möchte« (ebd.). Im Ansinnen, eine für alle Beteiligten halbwegs tragfähige Lösung zu finden, erwählt sich Waldemar freiwillig ein für diese Zeit typisches Schicksal der adeligen »Querschläger, Versager und Renegaten, [die] mit großem Aufwand verschwiegen, geächtet, ausgeschlossen oder ›nach Amerika geschickt‹« (Malinowski 2003, 56) wurden. Zweitens macht der rasch gefasste Plan der Auswanderung aber vor allem deutlich, dass Waldemar kein fest verankertes adeliges Selbstverständnis ausgeprägt hat, das ein unbedingtes Festhalten am adeligen Lebensstil einfordern würde. Ohne lange Bedenkzeit ist er bereit, alle Standesprivilegien und seinen gesamte Lebensweise vollständig aufzugeben,

73

»Meine Familie kann den Schritt nie gutheißen, den ich vorhabe, braucht es nicht, soll es nicht; aber sie kann ihn gelten lassen, ihn verzeihen. Und diese Verzeihung möchte ich haben, nichts weiter.« (ST 65)

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um auf einem anderen Kontinent »ein andres Leben anzufangen« (ST 78).74 Seine Subjektivierung als adeliges Subjekt ist also insofern misslungen, als dass diese nicht zu der dauerhaften Verankerung einer adeligen Identität im Subjekt geführt hat. Angetrieben von dem Wunsch einer gemeinsamen Zukunft mit Stine, entwirft Waldemar ein (nur) in Amerika möglich scheinendes, auf nebulösen philosophischen Anschauungen fußendes75 alternatives Lebensmodell, welches ihm zugleich als ein Ausweg aus seinem als Unglück empfundenen bisherigen Dasein (vgl. ST 98) erscheint. Kaum aber hat Waldemar diesen Plan gefasst, so entlarven die anderen Figuren bereits die seinem Vorhaben innewohnende Utopie. Zunächst bringt dies Pauline Pittelkow auf den Punkt, wenn sie über das Leben in Amerika bemerkt: »Du mein Gott, was will er da? Da müssen sie scharf ran und bei sieben Stunden in Stichsonne, da fällt er um.« (ST 91) Auf Basis idyllisch-verklärter Vorstellungen vom Landleben76 sitzt Waldemar der Illusion auf, ausgerechnet er, der Kranke und Invalide, könne in Amerika eine Existenz auf Grundlage seiner eigenen Hände Arbeit führen. Diese Vorstellung offenbart sich dem Leser spätestens an der Stelle als Illusion, als selbst Stine Waldemar in deutlichen Worten den utopischen Charakter dieses Vorhabens vor Augen führt: »Wie du dich selbst verkennst. Der Tagelöhnersohn aus eurem Dorfe, der mag so leben und dabei glücklich sein; nicht du. Dadurch, daß man anspruchslos sein will, ist manʼs noch nicht; und es ist ein ander Ding, sich ein armes und einfaches Leben ausmalen oder

74

In diesem Punkt unterscheidet sich Stine deutlich von seinem Pendant, dem zwei Jahre zuvor erschienen Roman Irrungen, Wirrungen. In einer fast identischen Konfliktlage fügt sich dort die adelige Hauptfigur Botho von Rienäcker dem gesellschaftlichen Druck und den Anforderungen seiner Subjektform und verzichtet auf die Mesalliance mit der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammenden Lene.

75

Im Gespräch mit seinem Onkel argumentiert Waldemar für den Ausstieg aus einer »Welt bestimmter und berechtigter Anschauungen« (ST 79) wie folgt: »Ich habe mir sagen lassen, alles regle sich nach einem Gesetz des Gegensatzes, das zugleich ein Gesetz des Ausgleiches ist […]. Die Halderns haben lange genug an der Feudalpyramide mit bauen helfen, um endlich den Gegensatz oder den Ausgleich, oder wie du’s sonst nennen willst, erwarten zu dürfen. Und da kommt denn nun Waldemar von Haldern und bezeigt seine Neigung, wieder bei Adam und Eva anzufangen.« (ebd.)

76

»Ich sehne mich danach, einen Baum zu pflanzen oder ein Volk Hühner aufsteigen oder auch bloß einen Bienenstock ausschwärmen zu sehen.« (ST 98)

122 │ VON DER T ORHEIT , WÄHLERISCH ZU STERBEN es wirklich führen. Und für alles, was dann fehlt, soll das Herz aufkommen. Das kann es nicht.« (ST 98)

Schlussendlich ist es also Stine und nicht der elterliche oder gesellschaftliche Druck, welche die Umsetzung von Waldemars ohnehin utopischem Vorhaben verhindert und damit dessen Hoffnung auf einen Neuanfang in Amerika zunichtemacht.77 4.3.5 Die unadelige Todesart als Ausdruck der Erschöpfung Nach diesen Ausführungen wende ich mich abschließend wieder dem Aspekt der Suiziddarstellung zu. Die Selbsttötungsszene sowie die dabei thematisierten Überlegungen Waldemars darüber, auf welche Weise er sich das Leben nehmen soll, werfen zwei unterschiedliche Fragen auf: Warum verzichtet der Protagonist erstens darauf, sich zu erschießen? Warum wählt er zweitens als Alternative ausgerechnet den Tod durch Gift? Was den (verweigerten) Pistolensuizid betrifft, so haben bereits die Textanalysen zu Schach von Wuthenow und Vae Victis! ergeben, dass es sich dabei um eine aus der Verknüpfung von Aristokratie und Kriegertum hervorgegangene typische Suizidart von Offizieren im Speziellen und männlichen Adeligen im Allgemeinen handelt. Auf diese auch in literarischen Texten virulente kulturelle Vorstellung rekurriert Waldemars eingangs zitierte Bemerkung, der Tod durch die Pistole sei standesgemäßer als der Suizid durch Gift. Offenkundig aber ist die Standesgemäßheit der Selbsttötung in Stine kein entscheidendes Kriterium für das Ableben der Hauptfigur. Denn im Unterschied zu den Figuren Schach und Brandenberg erscheint Waldemar von Haldern in seinem Verhalten und seinem Selbstverständnis nicht als eine typisch adelige Figur. Im Gegenteil habe ich oben argumentiert, in Fontanes Roman werde gerade Waldemars scheiternde adelige Subjektivierung und seine misslingende Einpassung in zwei unterschiedliche Varianten der adeligen Subjektform geschildert. Weder die maßgeblich durch das elterliche Regime forcierte Subjektivierung als adeliger Erbsohn noch die durch den Onkel initiierte Partizipation an den Praktiken der adeligen Lebemänner erscheinen dem Protagonisten als eine annehmbare und Glück verheißende Lebensweise. Anders als Schach und Brandenberg, die sich gerade deshalb töten, weil sie von den äußeren Umständen zu einer Veränderung ihrer Existenz gezwungen werden, die ihrem Selbstverständnis widerspricht, prägt

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Pointiert fasst Stine dies in zwei Sätzen zusammen: »Du willst nach Amerika, weil es hier nicht geht. Aber glaube mir, es geht auch drüben nicht.« (ST 96)

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Waldemar im Verlauf der Subjektivierung keine adelige Identität aus. Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, dass er bereit ist, nach Amerika zu emigrieren und jedwede Form adeliger Existenz sowie alle Standesprivilegien aufzugeben. Insofern ist es also durchaus konsequent, wenn sich eine solche Figur wenig um die Standesgemäßheit ihres Ablebens bekümmert. Doch auch wenn Waldemar den Bruch mit den Suizidkonventionen des Adels registriert, so erscheint dieser als etwas, das eher in Kauf genommen denn gezielt herbeigeführt wird. Es finden sich im Text keine Hinweise, die es nahelegen, diese Auswahl der Suizidmethode als bewussten Akt der Distanzierung des Protagonisten von seiner adeligen Herkunft zu deuten. Die kausale Motivierung der Ablehnung des Pistolensuizids beschränkt sich auf Waldemars unpräzise Begründung »ich kann es nicht« (ST 104). Von der Ebene der Romankomposition aus betrachtet lässt sich diese etwas rätselhafte Unfähigkeit zum Pistolensuizid aber als eine Art Textkommentar zur Hauptfigur verstehen, durch welchen abschließend noch einmal die zuvor im Roman geschilderte Unfähigkeit des Protagonisten herausgestellt wird, seinen Platz innerhalb der adeligen Gesellschaft zu finden. Dies wäre ein Fall von kompositorischer Motivierung, die an dieser Stelle des Textes bedeutsamer scheint als die vergleichsweise unvollständige kausale Motivierung des Suizidgeschehens. Ähnliches gilt auch für die zweite Frage danach, warum sich der Protagonist als Alternative zum verworfenen Pistolensuizid ausgerechnet mit Gift tötet. Auch hier ist eine kausale Motivierung des Geschehens insofern nicht erkennbar, als dass diese Auswahl nicht begründet wird. Mit Blick auf eine mögliche kompositorische Motivierung dieses Aspekts ist zunächst der Hinweis bedeutsam, bei dem tödlichen Gift handle es sich um eine Überdosis »Schlafpulver« (ST 107). Mit dieser Information im Hinterkopf möchte ich auf einen wichtigen Unterschied verweisen, der zwischen der tödlichen Krise des Protagonisten in Stine und der Situation der beiden Protagonisten in den zuvor untersuchten Texten besteht. Sowohl im Schach von Wuthenow als auch in Vae Victis! bricht die zum jeweiligen Suizid führende Krise mehr oder weniger plötzlich über den Protagonisten herein. In beiden Texten liegt das Krisenhafte gerade darin begründet, dass die Figuren ihre bisherige Existenzweise nicht mehr aufrechterhalten können. Waldemar hingegen sieht sich nicht plötzlich mit desperaten gesellschaftlichen Umständen konfrontiert, die ihm ein Weiterleben wie bisher unmöglich machen würden. Vielmehr besteht das Problem nach der Beendigung der Liaison mit Stine gerade darin, dass sich sein Dasein unverändert fortsetzt wie bisher. Ein Dasein, über welches der Leser erfährt, Waldemar drücke sich »schwach und krank in der Welt herum« (ST 89) und lebe im Grunde »nur so hin« (ST 98). Demgegenüber markiert das Vorhaben, mit Stine nach Amerika zu emigrieren

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gerade den Versuch, aus dieser als Unglück empfundenen Existenz auszubrechen. In dem Augenblick aber, in dem sich diese Hoffnung als Illusion entpuppt, gelangt Waldemar zu der Einsicht in die Vergeblichkeit seiner Mühen. Symbolisch eingefangen wird dies am Ende des Romans durch die Halbkreise, die er vor seinem Suizid in den Sand zeichnet und über welche er bemerkt: »Unwillkürliches Symbol meiner Tage. Halbkreise! Kein Abschluß, keine Rundung, kein Vollbringen.« (ST 103) Dieser Kommentar bezieht sich nicht nur auf die Liaison mit Stine, sondern vielmehr auf Waldemars Existenz als Ganzes. Die gescheiterte Liebesbeziehung ist nicht der Auslöser seiner Lebenskrise, sondern nur ihr Schlussakkord. Nach diesem letzten Aufbäumen im Ringen um eine glückverheißende Existenz sind Waldemars Kräfte und sein Lebenswille erschöpft. Mehrfach wird dies am Ende des Romans thematisiert. So bemerkt der Erzähler über den Protagonisten, dieser sei »müde« (ST 102) und »seine Kräfte [sind] verzehrt, und so schloß er unwillkürlich die Augen und fiel in Traum und Vergessen« (ebd.); ein Zustand, über den Waldemar nach dem Erwachen vorausdeutend orakelt: »Ich glaube, so kommt der Tod.« (ST 103) Dieses Motiv der Kraftlosigkeit greift Waldemar wenige Seiten später erneut auf, wenn er im Abschiedsbrief an seinen Onkel bekundet, er sei »nicht mehr stark genug, [s]ich drein zu ergeben« (ST 105) und sein Leben weiterzuführen. Mit diesem semantischen Feld der Erschöpfung, Kraftlosigkeit und Müdigkeit ist das zum Suizid verwendete Schlafpulver ebenso verknüpft, wie die Darstellung von Waldemars letzter Handlung: »Und er löschte die Lichter und trank. Und dann nahm er seinen Platz wieder ein und lehnte sich zurück und schloß die Augen.« (ST 106) Das Sterben des Protagonisten wird – anders als bei Schach und Brandeberg – im Roman nicht als ein Abgang mit dem redensartlichen großen Knall einer abgefeuerten Pistole geschildert, bei welchem der Suizident plötzlich und von einem Augenblick auf den nächsten die Schwelle zwischen Leben und Tod überschreitet. Das Ende Waldemars erscheint vielmehr als ein langsames Hinübergleiten ins Jenseits, bei welchem er einem Dasein buchstäblich entschläft, dessen langwierige Kämpfe seine Kräfte verzehrt haben. Die im Text realisierte Art des Suizids ist damit letztlich gleich in doppelter Weise kompositorisch motiviert. Sie markiert zunächst die explizit unstandesgemäße Todesart einer Figur, von deren Inkongruenz zu verschiedenen adeligen Lebensmodellen der Roman umfassend berichtet. Der Tod durch Schlafpulver verweist darüber hinaus aber auch symbolisch auf die Erschöpfung des Protagonisten, dessen Kräfte im langen Ringen um eine akzeptable Existenzweise aufgebraucht sind und der nach einem letzten Scheitern des Versuchs, seinem »Leben […] einen Inhalt« (ST 106) zu geben im eigentlichen Wortsinn lebensmüde geworden ist.

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Auf unterschiedliche Weise haben die Analysen bis hierher den Eindruck bestätigt, die Selbsttötung mittels einer Schusswaffe sei um 1900 ein in literarischen Texten repräsentiertes und ästhetisch stilisiertes Spezifikum der militärisch-adeligen Subjektkultur gewesen. Nahm sich ein männlich-adeliges Subjekt das Leben, so geschah dies inner- wie außerliterarisch typischerweise durch Erschießen. Offenbar war der Pistolensuizid also innerhalb einer militärisch geprägten, adeligen Subjektkultur eine sozial geregelte und überindividuelle Verhaltensweise, womit diese Suizidart eine spezifische Praktik markieren würde. Bei den Analysen der literarischen Repräsentationen des Pistolzensuizids ist nun allerdings eine Frage bisher unbeantwortet geblieben: Welcher impliziten Logik folgt diese Praktik? An den bisher untersuchten Werken ließ sich zwar nachvollziehen, dass der Pistolensuizid zeitgenössisch als typisch für Adelige und Offiziere galt. Warum das aber so war, ist bisher weitgehend unklar geblieben, wenngleich insbesondere von Saars Vae Victis! den Verdacht nahelegte, diese Art der Selbsttötung könnte etwas mit dem Aspekt der Ehre zu tun haben. Im Folgenden werde ich daher nun einen literarischen Text untersuchen, der ein genaueres Verständnis dieser Praktik ermöglicht.

4.4 E HRE VERLOREN , ALLES L IEUTENANT G USTL

VERLOREN ?

S CHNITZLERS

Der Erstabdruck von Arthur Schnitzlers Monolognovelle78 Lieutenant Gustl in der Weihnachtsbeilage der liberalen Tageszeitung Neue Freie Presse am ersten Weihnachtstag 1900 lag gerade drei Tage zurück, da reagierte bereits die hauptsächlich in Militärkreisen gelesenen Tageszeitung Die Reichswehr mit einem empörten Leitartikel auf Schnitzlers Darstellung eines österreichischen Offiziers: »Dieses Gemisch aus Unflath, niedrigster Gesinnung und Verdorbenheit des Herzens, von Feigheit und Gewissenlosigkeit steckt Herr Schnitzler in eine österreichische Lieutenantsuniform« (Lindken 1992, 58) echauffierte sich der Verfasser dieses Artikels,79 um sogleich lapidar festzustellen: »In der Armee gibt es

78

Die große Leistung Schnitzlers, im Lieutenant Gustl den ersten »konsequent durchgehaltene[n] Innere[n] Monolog der deutschsprachigen Erzählliteratur« (Renner 2010, 31) vorgelegt zu haben, kann hier nur am Rande gewürdigt werden.

79

Es ist nicht mehr zweifelsfrei festzustellen, wer der Verfasser des ungezeichneten Leitartikels war. Allerdings gilt es in der Schnitzler-Forschung als »sehr wahrscheinlich« (Lindken 1992, 58), dass der Artikel von Gustav Davis, dem Herausgeber der Reichswehr, verfasst wurde. Vgl. hierzu auch Polt-Heinzl 2000, 45.

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solche Officiere nicht, weil man sie eben nicht duldet.« (ebd., 59) Diese Antwort der Reichswehr markierte den Auftakt zu einer förmlichen Schmähkampagne gegen Arthur Schnitzler, in welche sich rasch auch solche Stimmen mischten, die den »Literaturjuden Schnitzler« (Polt-Heinzl 2000, 59) mit unverhohlenem Antisemitismus auf das Übelste verunglimpften. Parallel zu dieser vor allem von deutschnationalen Presseorganen geführten Kampagne reagierte auch die Militärgerichtsbarkeit auf den Lieutenant Gustl. Gegen Schnitzler, der selbst Reserveoffizier bei der k.k. Landwehr war, wurde alsbald ein ehrengerichtliches Verfahren eingeleitet, an dessen Ende er des »Offizierscharakters für verlustig erklärt« (ebd., 51) wurde. Begründet wurde das Urteil damit, Schnitzler habe durch seinen Text erstens »die Ehre und das Ansehen der österr. ung. Armee geschädigt« (ebd., 52). Zweitens sei er seiner Ehrenpflicht nicht nachgekommen, die es geboten hätte, auf die persönlichen Angriffe im Artikel der Reichswehr zu reagieren.80 Knapp zusammengefasst provozierte die Novelle also den heftigen und teilweise antisemitisch gefärbten Widerspruch konservativer und militärnaher Kreise, welche sich über die Darstellung der Offiziersfigur im Text erbost zeigten. Die nachfolgende Analyse wird sich unter anderem mit der Frage beschäftigen, was an dieser Figurendarstellung eine derartige Empörung bei manchen Zeitgenossen hervorrufen konnte. Dafür sicher nicht verantwortlich war der Suizid der Hauptfigur, denn tatsächlich wird im Lieutenant Gustl überhaupt keine Selbsttötung geschildert. Zwar handeln zwei Drittel des Textes davon, dass sich der Protagonist nach einer erlittenen Ehrverletzung das Leben nehmen will. Zur Ausführung dieses Planes kommt es allerdings nicht, weil der Verursacher der Ehrverletzung am Ende des Textes plötzlich verstirbt. Gleichwohl aber scheint mir Schnitzlers Novelle trotz oder sogar gerade wegen der am Schluss doch nicht vollzogenen Selbsttötung besonders gut dazu geeignet, um daran die literarische Thematisierung des Pistolensuizids und die dieser Praktik implizite Logik zu untersuchen. Denn in der deutschsprachigen Literatur existiert vermutlich kaum ein zweiter Text, in dem

80

Konkret hatte man hinsichtlich dieses zweiten Vorwurfs von Schnitzler erwartet, er würde den Herausgeber der Zeitung zum Duell fordern. Wie Peter Huemer zu Recht ironisch bemerkte, kann man dem Ehrenrat angesichts dieser Erwartung einen gewissen »Sinn für Witz« (Huemer 2006, 82) nicht absprechen, hatte Schnitzler doch in seinem Lieutenant Gustl gerade jenen Ehrenkodex und Duellzwang scharf kritisiert, dessen Einhaltung nun der Ehrenrat von ihm erwartete. Schnitzler war das ehrengerichtliche Verfahren nach eigenem Bekunden indes gleichgültig (vgl. PoltHeinzl 2000, 54), so dass er konsequenterweise weder vor dem Ehrengericht erschien noch auf seine Vorladung auch nur antwortete.

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eine Figur derart ausführlich über ihren Suizid reflektiert und gleichzeitig so nachdrücklich auf einer bestimmten Art der Selbsttötung insistiert. Im Verlauf der Geschichte formuliert Gustl mindestens 19 Mal die Absicht, sich zu erschießen. Eine andere Todesart zieht er zu keinem Zeitpunkt in Erwägung. Dieses unerschütterliche Beharren auf dem Suizid durch Erschießen erscheint – wie es im Folgenden zu zeigen gilt – als das Resultat eines militärspezifischen Ehrenkodexes, dessen implizite Logik in Schnitzlers Novelle offengelegt und zugleich kritisiert wird. Ausgehend von Gero von Wilperts Überlegung, die Novelle verhandle die Problematik einer »Diskrepanz von sozialem Anspruch und sozialer Wirklichkeit des k.u.k. Offizierskorps« (von Wilpert 1986, 120), werde ich im Folgenden argumentieren, dass in der Figur des Lieutenant Gustl eine scharfe Differenz zwischen dem propagierten Subjekt-Ideal und den tatsächlichen zeitgenössischen Ausformungen des Offizierssubjekts erkennbar wird. Diese Differenz kulminiert am Ende des Textes in dem Verzicht des Protagonisten auf die Selbsterschießung, wodurch diese Praktik als das Relikt eines zur bloßen Fassade erstarrten Ehrbegriffs enttarnt wird. 4.4.1 »Aber was wissen sie denn von mir?« (LG 34) – Biographie und Selbstverständnis In einem ersten Schritt werde ich zunächst die im Text geschilderte Biographie der Figur, ihre Position im sozialen Gefüge der Armee und insbesondere das Selbstverständnis des Protagonisten untersuchen. Diese Aspekte sind von Bedeutung, weil sie den Hintergrund bilden, vor dem sich der Konflikt der Novelle abspielt und vor dem die um die Frage von Ehre und Suizid kreisende Problematik erst verständlich wird. Über die soziale Herkunft Gustls herrscht in der Forschungsliteratur Uneinigkeit. Zum Teil wird die Position vertreten, der Protagonist stamme aus dem Kleinbürgertum (vgl. Aurnhammer 2010, 162) und sei der »Sohn eines kleinen Beamten« (Polt-Heinzl 2009, 70). Zuweilen wird auch der familiäre Hintergrund einer »höheren Grazer Beamtenfamilie« (Kaiser 1997, 51) konstatiert. Exakt bestimmen lässt sich die soziale Herkunft des Protagonisten letztlich nicht, da der Text dafür keine genügend präzisen Informationen vergibt (vgl. von Wilpert 1986, 120). Was sich aus den in der Novelle genannten Details allerdings ablesen lässt, ist, dass Gustl etwa 24 Jahre alt ist81 und aus einer nicht-adeligen Fami-

81

Dies ergibt Gustls Angabe über seine ersten sexuellen Erfahrungen, die er im Alter von »vierzehn oder fünfzehn« (LG 25) gemacht habe, was nun neun Jahre zurückliege.

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lie stammt,82 welche finanziell nicht sonderlich gut situiert ist. Aufgrund der fehlenden finanziellen Unterstützung durch die Familie dient Gustl auch lediglich als Lieutenant in einem Infanterie-Regiment. Er bekleidet damit den niedrigsten Offiziersrang in einer Waffengattung, die das Gros der Armee ausmachte, aber gegenüber der Kavallerie und bestimmten Eliteeinheiten wie den Kaiserjägern ein eher geringes Prestige genoss.83 Ein Beitritt zur Kavallerie aber war Gustl aufgrund der bescheidenen finanziellen Mittel der Familie nicht möglich, weil dies für seinen Vater »ein zu teurer Spaß gewesen« (LG 30) wäre. Der geschichtliche Hintergrund dieser Bemerkung ist, dass die Offiziersanwärter dieser Waffengattung sowohl für ihre Ausrüstung als auch für die Uniformen und Pferde selbst aufkommen mussten (vgl. Deak 1991, 144).84 Neben Dienstrang und Waffengattung wird auch die militärische Ausbildung des Protagonisten als durchaus gewöhnlich dargestellt. Wie der Leser schon zu Beginn erfährt, hat Gustl seine Ausbildung nicht an einer der angesehenen Wiener Militärakademien genossen, sondern an einer der zahlreichen Kadettenschulen (vgl. LG 12). Diese waren gegenüber den elitären Akademien zu »egalitären Ausbildungsstätten« (Deak 1991., 110) avanciert, an denen vorwiegend junge Männer ausgebildet wurden, die »ihre Aufnahmeprüfung ins Gymnasium nicht geschafft hatten« (ebd.). Auf diesen Sachverhalt spielt auch Schnitzlers Novelle an, denn auch Gustl ist ein gescheiterter Gymnasiast, der eigentlich Ökonomie studieren wollte (vgl. LG 28), bis man ihn »aus dem Gymnasium hinausgʼschmissen hat« (LG 12). Im Unterschied zu dem hochdekorierten und geradezu musterhaften General Brandenberg aus Vae Victis! handelt es sich bei Schnitzlers Protagonisten um eine Figur, welche nicht die Elite, sondern die Masse der gewöhnlichen Offiziere der k.u.k.-Armee repräsentiert. Gustl erscheint als absoluter Durchschnittsoffizier, der sich stark über seine Zugehörigkeit zur Armee definiert und das für das Offizierskorps »stark ausgeprägte Standesgefühl« (Allmayer-Beck 1987, 103) erkennen lässt. Der Protagonist ist also mit anderen Worten seinem gesamten

82

Abgesehen davon, dass sich absolut keine Hinweise für eine adelige Abstammung finden, hat von Wilpert überzeugend argumentiert, es sei undenkbar, »daß ein Leutnant Gustl adliger Herkunft einer solchen im Laufe einer Krisennacht nicht gedacht hätte« (von Wilpert 1986, 120).

83

Zur Struktur der k.u.k.-Armee und ihrer Gliederung nach Waffengattungen vgl.

84

Die finanziell eingeschränkten Mittel der Eltern zeigen sich auch daran, dass Gustl

Wagner 1987, 430-484. diese als Geldquelle zur Begleichung seiner Spielschulden im Gegensatz zu dem vermögenden Onkel nicht in Erwägung zieht. Vgl. LG 10.

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Selbstverständnis nach durch und durch Offizierssubjekt. Drei Aspekte, an denen dies deutlich wird, werde ich im Folgenden kurz umreißen. Das Selbstverständnis Gustls als Offizier zeigt sich erstens daran, dass er von sich selbst mehrfach in der dritten Person auch als »Herr Lieutenant«85 spricht. Die Selbstanrufung und Selbstthematisierung des Protagonisten funktioniert in der Novelle also nicht nur über den Eigennamen, sondern auch über den militärischen Rang. Zweitens orientieren sich die im inneren Monolog dargestellten Denk- und Wahrnehmungsschemata des Protagonisten vor allem an den militärischen Autoritäten. Als Vorbilder erscheinen in Gustls Denken nicht die spirituellen, geistigen oder moralischen Autoritäten des zivilen Lebens, sondern ausschließlich die militärischen Vorgesetzen. Die Ansichten und Positionen der ranghöheren Offiziere bilden den Bezugspunkt, an dem sich Gustl in seinem Denken und Handeln orientiert.86 So bemerkt er mit Blick auf eine kürzlich ausgesprochene Duellforderung: »Ich habʼ mich famos benommen, der Oberst sagt auch, es war absolut korrekt.« (LG 11) Auch beim Nachdenken über seinen Suizid ist ihm vor allem wichtig, »dass der Oberst sagt: Er ist ein braver Kerl gewesen« (LG 23). Die Bezugnahme auf die militärischen Autoritäten erfolgt stets nach dem gleichen rhetorischen Muster: ›Der Oberst sagt«; »Der Major Leder hatʼs gʼsagt!« (LG 34); »Der Oberstleutnant hat neulich gʼsagt« (LG 40). Eine kritische Auseinandersetzung mit diesen Autoritäten findet in Gustls Denken nicht statt, er ist der militärischen Obrigkeit treu ergeben. Drittens gehört zu Gustls Selbstdefinition als Offizier eine Abgrenzung gegen zwei Arten von Feindbildern. Zur ersten Gruppe zählt der Protagonist all jene, die bei ihm im Verdacht stehen, dem Militär als Ganzem nicht wohlgesonnen zu sein. Dazu gehören vor allem die als »Rechtsverdreher« (LG 11) verunglimpften Juristen, die »Sozialisten« (ebd.) und allgemein alle »Juden« (LG 8). Die zweite Gruppe besteht aus den von Gustl als Bedrohung empfundenen »Einjährigen« (LG 22). Dabei handelt es sich um die von den zeitgenössischen Berufsoffizieren kritisch beäugten Rekruten mit Realschulabschluss oder Matura, die sich freiwillig einer einjährigen Ausbildung zum Reserveoffizier unterzogen.87 Aus Gustls Perspektive erscheint die Institution des

85

Vgl. exemplarisch LG 25, 26, 35.

86

Ähnlich hierzu auch Polt-Heinzl: »Oberst und Major, die ranghöheren Chargen, sind für Gustl Gewährsleute seiner Lebens- bzw. Todesphilosophie und Garanten tapferer Männlichkeit.« (Poltz-Heinzl 2009, 86)

87

Mit der Institution des Reserveoffiziers war die Erwartung verbunden, dass die gebildeten bürgerlichen Männer, die im zivilen Leben oft Führungspositionen bekleideten, besonders geeignet waren, um im Falle einer totalen Mobilmachung das Reserveheer zu befehligen. Mit Blick auf die Vorbehalte der Berufsoffiziere gegenüber

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Reserveoffiziers als eine Untergrabung der militärischen Hierarchie, an der deutliche Kritik geäußert wird. Berufsoffiziere wie Gustl müssten sich demnach »jahrelang plagen, und so ein Kerl dient ein Jahr und hat genau dieselbe Distinktion wie wir…es ist eine Ungerechtigkeit« (LG 22). Wenn sich Gustl an dieser Stelle über dieselbe ›Distinktion‹ im Sinne eines gleichen Ansehens von Berufsund Reserveoffizieren beklagt, so verweist dies auch darauf, dass für Gustls Selbstverständnis nicht zuletzt die Zugehörigkeit zu einem exponierten gesellschaftlichen Stand mit hohem sozialem Prestige eine wichtige Rolle spielt. Zwei Punkte sollten durch meine bisherigen Ausführungen deutlich geworden sein: Gustl erscheint als eine Figur, die sich erstens selbst als Offizier versteht und deren im Text entfalteter biographischer Hintergrund zweitens für die meisten k.u.k.-Offiziere dieser Zeit durchaus gewöhnlich war. Vor diesem Hintergrund befasst sich die Analyse nun im Folgenden mit den konkreten Subjektivierungspraktiken, die im Text geschildert werden. 4.4.2 Glücksspiel, Liebschaften, Ehre: Subjektivierung und Subjekt-Ideal im Offizierskorps Im inneren Monolog Gustls werden mit stark variierender Häufigkeit verschiedene Praktiken seiner Subjektivierung als Offizier erwähnt. Darunter finden sich zunächst jene der militärischen Ausbildung, die unter dem Begriff des militärischen Drills bei der Subjektivierung von Soldaten auch zu erwarten sind. Dazu zählen das Abhalten von »Manövern« (LG 12), das »Exzerzieren« (LG 45), das Einüben von Gewehrgriffen (vgl. ebd.), kurzum all jene Praktiken des militärischen Alltags, an die Gustl denkt, wenn er von der »Rackerei in der Kasernʼ« (LG 30) spricht. Selbstverständlich hat sich keiner von Schnitzlers feuilletonistischen Kritikern an der Erwähnung dieser absolut üblichen Praktiken des militärischen Trainings gestört. Das Problem besteht im Gegenteil vielmehr darin, dass diese im Denken des Protagonisten eher randständig sind und nur im Nebensatz erwähnt werden. Diese von Schnitzler geschaffene Offiziersfigur treiben ganz andere Dinge um als militärische Taktik, Gewehrgriffe oder Strategien der Landesverteidigung. Die Praktiken, die in Gustls Gedankenwelt wichtig sind und die entsprechend häufig thematisiert werden, stellten sich allerdings in den Augen der zeitgenössischen Öffentlichkeit und vor allem aus der Perspektive hoher Mi-

den Reserveoffizieren konstatiert Schmidl »eine gewisse Kluft zwischen Berufsund Reserveoffizieren« (Schmidl 1989, 76). Zu den Reserveoffizieren zählte im Übrigen auch Arthur Schnitzler. Allgemein zum Reserveoffizier vgl. Deak 1991, 109 und Schmidl 1989, 74-76.

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litärs als problematisch dar. Im Folgenden werden einige davon genauer betrachtet. Glücksspiel

Die Novelle beginnt mit dem Besuch Gustls in einem Oratorium der Wiener Oper. Wie der Leser nach wenigen Seiten erfährt, wohnt Gustl dem Konzert allerdings nur bei, weil er am Vortag beim Glücksspiel »Hundertsechzig Gulden auf einen Sitz verspielt« (LG 9) hat und mangels Liquidität nun »in das blöde Konzert« (ebd.)88 gehen musste, anstatt mit seinen Kameraden Karten zu spielen. Dabei handelt es sich bei der von Gustl verspielten Summe erstens nicht um einen kleinen Betrag, sondern um mehr als drei Monatsgehälter eines Lieutenants.89 Zweitens hat Gustl Geld verspielt, das er nicht besitzt, womit er nun bei seinem Kameraden Ballert Schulden in nicht unerheblicher Höhe hat. Nun war die Verschuldung von Offizieren in der k.u.k.-Armee grundsätzlich kein ungewöhnliches Phänomen. Allerdings wurde scharf differenziert zwischen akzeptablen Schulden, die ein Offizier beispielsweise zur Finanzierung seiner Ausrüstung, zur Vorstreckung der Heiratskaution oder zur Finanzierung der Ausbildung seiner Kinder aufnahm und den leichtsinnigen, sogenannten ›schmutzigen Schulden‹. Zur letztgenannten Kategorie zählten unter anderem Spielschulden, aber auch Mietschulden oder die nicht bezahlte Zeche in der Gastwirtschaft. Diese Schulden galten als unehrenhaft, mussten unter Umständen von den Kameraden des Offiziers übernommen werden und konnten, wenn sie aufgedeckt wurden, zum Ausschluss aus dem Offizierskorps führen und endeten daher nicht selten mit einem Suizid des Betroffenen (vgl. Deak 1991, 152). Bei Gustls Schulden handelt es sich um solche unehrenhaften Schulden, wenngleich diese noch nicht so unbegleichbar hoch sind, dass er sich deshalb das Leben nehmen müsste.90 Gleichwohl aber widerspricht die Darstellung eines Lieutenants, der

88

Subtil deutet Schnitzlers Novelle in Passagen wie dieser mehrfach die »mangelnde Bildung« (Kaiser 1997, 44) und das »Kulturbanausentum« (von Wilpert 1986, 122) Gustls an, der »außer mit Tanzmusik und Märschen nichts anfangen [kann]« (von Jüchen 1984, 74). Diese Darstellung des Offiziers mag ihren Teil zur ablehnenden Haltung beigetragen haben, mit der die militärischen Kreise auf die Novelle reagierten.

89

Ein Lieutenant der österreichischen Armee verdiente zum Zeitpunkt der Handlung im Jahr 600 Gulden, das entspricht 50 Gulden im Monat. Vgl. hierzu Albu-Lisson 2011, 221 und Deak 1991, 149.

90

Genau diesen Fall der unehrenhaften Spielschulden, die nicht beglichen werden können und bei einer Anzeige ans Regimentskommando zum Ausschluss aus dem

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seine Mutter und seinen Onkel brieflich um Geld zur Begleichung von Spielschulden bitten muss (vgl. LG 10), den Ehrvorstellungen des Offizierskorps. Dies gilt im Prinzip für die Praktik des Glücksspiels insgesamt, deren Status innerhalb der Armee ambivalent war. Zweifelsohne war diese Praktik unter Offizieren und Mannschaften gang und gäbe. Deak bemerkt gar: »Spielen war beinahe eine Verpflichtung und für viele eine Sucht« (ebd., 134). Offiziell aber waren gerade aufgrund der daraus häufig resultierenden, unehrenhaften Verschuldung der Offiziere Glücks- und Hasardspiel verboten und konnten entsprechend zum Gegenstand ehrengerichtlicher Verfahren werden (vgl. Wagner 1987, 269). Die vermittelnde Lösung zwischen Anspruch und Wirklichkeit im Umgang mit dem Glücksspiel bestand in der Praxis darin »ein Auge zuzudrücken, wenn daraus kein ›Skandal‹ entstand« (Allmayer-Beck 1987, 105). Die literarische Schilderung eines Lieutenants aber, der eher ein notorischer denn ein gelegentlicher Spieler ist und von dem angedeutet wird, er sei beileibe kein Einzelfall, widersprach dem Subjekt-Ideal des Offiziers. Dementsprechend war diese Darstellung eine Provokation für Angehörigen des Offizierskorps, die ein anderes Bild von sich und ihrem Stand hatten und propagierten. Liebschaften

Provozierend an der Darstellung des Protagonisten ist neben seiner Neigung zum Glücksspiel ferner die ausgesprochene Lüsternheit Gustls, der, wie von Wilpert formuliert, »keine Frau ansehen kann, ohne ans Bett […] zu denken« (von Wilpert 1986, 120). Im Oratorium gilt seine Aufmerksamkeit folglich nicht der Musik, sondern den Damen in den gegenüberliegenden Logen (vgl. LG 7, 13) sowie der Frage, ob die Sängerinnen auf der Bühne »lauter anständige Mädeln sind, alle hundert?« (LG 8). Die Form des inneren Monologs mit ihrer starken Introspektion ist dafür prädestiniert, die Lüsternheit von Gustls Gedanken darzustellen, welche die ganze Novelle hindurch um bereits realisierte oder angestrebte sexuelle Beziehungen zu verschiedenen Frauen kreisen.91 Selbst als der Protagonist seinen Suizid schon beschlossen hat, ist das Sexualitäts-Thema weiterhin präsent und wechselt sich mit dem Nachdenken über den bevorstehenden Tod ab. Dabei phantasiert Gustl nicht nur von sexuellen Beziehungen zu verschiedenen Frauen, sondern es wird deutlich, dass er diese Promiskuität auch realisiert. So unterhält Gustl zum Handlungszeitpunkt der Novelle eine Liebschaft mit ei-

Offizierskorps führen, spielte Schnitzler ein Vierteljahrhundert nach Lieutenant Gustl in seiner Novelle Spiel im Morgengrauen (1926) literarisch durch. Am Ende dieses Textes erschießt sich die verschuldete Hauptfigur Wilhelm Kasda. 91

Vgl. hierzu exemplarisch LG 10, 14, 27, 33.

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ner gewissen Steffi,92 die allerdings offiziell mit einem Bankier liiert ist (vgl. LG 9), der sie offenbar auch finanziell aushält und von ihrer Affäre nichts weiß (vgl. LG 20). Gemessen an den insgesamt eher konservativ-katholischen Wertvorstellungen im Österreich des 19. Jahrhunderts hatten solche Verhältnisse bereits per se etwas Anrüchiges, insbesondere dann, wenn daran Offiziere beteiligt waren. Dies mag zunächst verwundern, weil Praktiken wie das Konkubinat in der k.u.k.Armee durchaus weit verbreitet (vgl. Deak 1991, 173) waren. Das hing vor allem damit zusammen, dass viele Offiziere keine Ehe eingehen konnten, weil das Militär die Entrichtung einer extrem hohen Heiratskaution verlangte.93 Als Alternative blieb diesen Offizieren daher oft nur das Führen einer unehelichen Beziehung. Allerdings widersprach dies dem Ideal der ritterlichen Keuschheit, dem sich das Offizierskorps offiziell verpflichtet fühlte (ebd., 169). Somit verhielt es sich mit dem Konkubinat ähnlich wie mit dem Glücksspiel. Es kam in der Armee häufig vor und wurde bis zu einem gewissen Grad toleriert. Offiziell aber war das Konkubinat verboten und konnte zum Gegenstand eines ehrgerichtlichen Verfahrens werden und mit dem Ausschluss aus dem Korps enden, wenn dem beteiligten Offizier ein »unsittlicher Lebenswandel« (Wagner 1987, 541) nachgewiesen wurde. Die in der Novelle entworfenen Lebensumstände des Protagonisten entsprechen ziemlich genau der zeitgenössischen Vorstellung eines solchen unsittlichen Lebenswandels. Denn erstens wird Gustl als eine Figur dargestellt, deren Interesse an Frauen ausschließlich körperlicher Natur94 ist und der es bequem ist, »wenn man nur gelegentlich engagiert ist und ein anderer hat die ganzen Unannehmlichkeiten« (LG 34). Zweitens handelt es sich bei Gustls Liaison mit Steffi genau genommen nicht um ein Konkubinat, welches per Definitionem eine dauerhafte, nicht verheimlichte und in der Regel monogame Form der Beziehung ist. Stattdessen erscheint die geschilderte Affäre als eine verheimlichte und kurzzeitige Liebschaft mit einer anderweitig liierten Frau, an deren Austauschbarkeit Gustl keinen Zweifel lässt, wenn er bemerkt: »Nach der Steffi wärʼ ja noch man-

92

Aus der Novelle wird zudem ersichtlich, dass Gustl bereits zuvor ähnliche Beziehungen zu anderen Frauen unterhalten hat, wovon er detaillierter auf die Beziehung mit einer gewissen Adel‹ eingeht. Vgl. LG 33.

93

Die bereits 1750 von Maria Theresia eingeführte Heiratskaution diente vor allem als »Witwenpension respektive Waisenversorgung« (Albu-Lisson 2011, 220) und Betrug beispielsweise im Jahr 1908 für einen Lieutenant das Dreiunddreißigfache seines Jahresgehalts. Vgl. ebd., 221.

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So bemerkt Gustl über Steffi: »Ist doch ein Glück, dass ich nicht in sie verliebt war…das muss traurig sein, wenn man eine gern hat und so.« (LG 41)

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che andere gekommen.« (LG 41) Drittens galt eine untreue, polygame und vom Protagonisten als »Luder« (LG 41) titulierte Frau wie Steffi im zeitgenössischen Kontext grundsätzlich nicht als angemessener gesellschaftlicher Umgang für einen Offizier. Dies gilt umso mehr, als die Novelle den Verdacht evoziert, diese Frau stünde zu ihrem Bankier in einem Demimonde-Verhältnis (vgl. LG 14), was diese Figur in die Nähe einer Prostituierten rückt. Schnitzler entwirft seinen Protagonisten also nicht als einen aufrichtig liebenden Offizier, der nur deshalb im Konkubinat lebt, weil er sich die Kaution für die Heirat nicht leisten kann. Eine solche Darstellung hätte möglicherweise sogar das Mitgefühl der Leser mit dem Protagonisten geweckt. Stattdessen erscheint Gustl als ein promiskuitiver Lebemann, dessen Interesse an Frauen vorwiegend körperlicher Natur ist und der sich weder um die Sexualmoral seiner Zeit noch um die Pönalisierung außerehelicher Sexualbeziehungen im Offizierskorps schert. Darüber hinaus deutet der Text an, dass Gustl auch Affären mit den Frauen seiner Kameraden geführt hat (vgl. LG 27), was zu jenen besonders schweren Vergehen zählte, bei denen sich die Ehrengerichte unnachgiebig zeigten (vgl. Deak 1991, 174). Das so gezeichnete Bild des Offiziers mag vielleicht sogar realistisch gewesen sein. Es hat aber definitiv nicht dem von militärischen und konservativ-gesellschaftlichen Eliten propagierten Subjekt-Ideal vom ehrenhaften und ritterlich-keuschen Offizier entsprochen und musste daher nahezu zwangsweise auf eine ablehnende Haltung militärischer und militärnaher Leserkreise stoßen. Praktiken der Ehrenverteidigung

Am deutlichsten zielt die in der Novelle artikulierte Kritik am Offizierstum allerdings weder auf das Glücksspiel noch auf die Sexualmoral des Protagonisten, sondern auf den Aspekt der Ehre. Genauer gesagt geht es um die Praktiken der Ehrenverteidigung, speziell um das Duell und die Ehrennotwehr, die in Schnitzlers Text zentrale Punkte darstellen. Während der eigentliche Konflikt der Novelle um das Problem der (verpassten) Ehrennotwehr Gustls kreist, fungiert die Thematik des Duells als Rahmung der Handlung.95 Die Hintergründe des bevorstehenden Duells entfalten sich erst nach und nach. Zu Beginn wird dem Leser lediglich offenbart, Gustl habe einen Doktor aufgrund einer gefallenen Bemerkung zu einem Duell auf Säbel gefordert (vgl. LG 8), wobei zumindest die Art

95

Diese rahmende Funktion wird im Arrangement des Textes dadurch realisiert, dass das bevorstehende Duell an prominenten Stellen – am Ende des ersten Absatzes und damit am Ende von Gustls ersten Gedankengang sowie im Schlusssatz der Novelle – erwähnt wird. Vgl. LG 7 und LG 45.

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eines solchen Duells in Österreich um 1900 durchaus üblich war (vgl. Mader 1983, 33). Der Inhalt dieser offenbar ehrverletzenden Bemerkung des Doktors bleibt einstweilen noch verborgen. Weiterhin ist im Fortgang der Geschichte zu erfahren, der bevorstehende Zweikampf sei für Gustl nicht »das erste Mal« (LG 11), wodurch der Schluss nahegelegt wird, dass das Duell eine offenbar häufiger von Gustl vollzogene Praktik der Ehrenverteidigung ist. Dieser Eindruck korreliert mit der latenten Aggressivität, mit der Gustl andere Männer wahrnimmt: »Was guckt mich der Kerl dort immer an? […] Ich möchtʼ Ihnen raten, ein etwas weniger freches Gesicht zu machen, sonst stellʼ ich Sie mir nachher im Foyer!« (LG 8) Frühzeitig evoziert der Text also den Eindruck, bei Gustl handle es sich um einen leicht reizbaren Charakter, der einem Konflikt zumindest nicht aus dem Weg geht. Dieser Verdacht erhärtet sich im Fortgang der Lektüre, etwa wenn der Protagonist über das bevorstehende Duell bemerkt: »Ich kennʼ manche, die den Burschen hätten durchschlüpfen lassen. Der Müller sicher, der wärʼ wieder objektiv gewesen oder so was.« (LG 11)96 Offensichtlich also wäre eine Vermeidung des Duells auch für einen Offizier durchaus möglich gewesen. Tatsächlich erweist sich der Anlass des Ehrenhandels im weiteren Verlauf der Geschichte als vergleichsweise nichtig. Angegriffen fühlt sich der Protagonist von der Bemerkung des Doktors, »Sie werden mir doch zugeben, dass nicht alle ihre Kameraden zum Militär gegangen sind, ausschließlich um das Vaterland zu verteidigen!« (LG 12) Dieser Kommentar konnte im zeithistorischen Kontext bestenfalls als eine Beleidigung des ersten und niedrigsten Grades gelten, die in der Praxis nicht automatisch zu einem Duell führen musste.97 Dabei ist die Aussage des Doktors historisch gesehen durchaus zutreffend, denn tatsächlich befand sich Österreich zum Zeitpunkt der Handlung seit fast 35 Jahren im Frieden. Nie zuvor

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Die negative Deutung der an sich positiv konnotierten Objektivität, die Gustl hier offenbart, ist Teil einer den ganzen Text durchgehaltenen, ironischen Darstellung dieser Figur. Huemer bemerkte zutreffend, Schnitzler habe eine Novelle geschaffen, »die sich gnadenlos lustig macht über diesen Leutnant« (Huemer 2006, 74) und die witzig sei, auch wenn »1900 sehr viele darüber nicht lachen konnten« (ebd., 75).

97

Der Ehrenkodex des österreichischen Offizierskorps sah eine Differenzierung zwischen einer Beleidigung des schwerwiegendsten dritten Grades durch einen Schlag, einer Beleidigung zweiten Grades durch ein Schimpfwort sowie der Beleidigung ersten Grades vor. Letztgenannte Form der Beleidigung war indes nicht völlig trennscharf definiert und bezog sich auf verschiedene Formen der Despektierlichkeit, wobei es dem Ehrgefühl des jeweiligen Offiziers überlassen war, ab wann er sich beleidigt fühlte. Vgl. zu diesem Komplex der verschiedenen Beleidigungsstufen Mader 1983, 45-51.

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»hatte eine Habsburgermonarchie eine derart lange Friedenszeit erlebt« (Deak 1991, 78), in der eine ganze Generation von Offizieren und Soldaten ein- und wieder ausgemustert wurde, ohne jemals gekämpft und das Vaterland verteidigt zu haben. Dieser Sachverhalt relativiert den beleidigenden Charakter dieser Bemerkung ebenso, wie die einige Seiten darauf erfolgende Andeutung von Gustls tatsächlichen Beweggründen für die Forderung zum Duell: »Der Doktor hat das absolut in dem Ton gesagt, als wenn er direkt mich gemeint hättʼ. Er hättʼ nur noch sagen müssen, dass sie mich aus dem Gymnasium hinausgʼschmissen haben und dass ich deswegen in die Kadettenschulʼ gesteckt worden bin.« (LG 12) Wenn Gustl über diese Passage hinaus an späterer Stelle bemerkt, er habe eigentlich immer Ökonomie studieren wollen (vgl. LG 28), so wird daraus auf eine ironische Weise ersichtlich, dass der Protagonist tatsächlich nur zum Militär gegangen ist, weil er aus dem Gymnasium geworfen wurde. Die Forderung zum Duell dient der Hauptfigur eher zur Rechtfertigung der eigenen Biographie denn zur Verteidigung der angeblich angegriffenen Ehre des gesamten Offizierskorps.98 Selbst aus der Perspektive der zeitgenössischen Duell-Befürworter dürfte dieser Anlass für den Zweikampf damit mindestens als diskutabel erschienen sein. Insgesamt offenbart Gustl im Fortgang des Textes ein selbst nach zeitgenössischen Maßstäben fragwürdig erscheinendes Ehrverständnis, was vor allem im Zusammenhang mit der Beleidigung durch den namentlich nicht näher genannten Bäckermeister deutlich wird. Dieser schimpft den Protagonisten einen »dumme[n] Bub« (LG 15), umfasst den Griff von Gustls Säbel und droht, diesen herauszuziehen, zu zerbrechen und in Einzelteilen an das Regimentskommando zu schicken, wenn der Lieutenant nur das geringste Aufsehen mache. Man kann hier zunächst der Deutung von Wilperts folgen, dass dieser Akt des Bäckers aus der Perspektive eines Offiziers zunächst »objektiv den Tatbestand der Ehrenkränkung« (von Wilpert 1986, 126) erfüllt. Vor allem das angedrohte Zerbrechen von Gustls Säbel, der Insignie des Offiziersstandes, kommt einer symbolischen Aberkennung der Offiziersehre gleich,99 für die es wenige Jahre vor der

98

Sowohl Kaiser als auch Polt-Heinzl attestieren dem Protagonisten, sein Ehrverständnis sei vor allem durch »soziale Minderwertigkeitsgefühle« (Kaiser 1997, 52; vgl. auch Polt-Heinzl 2006, 90) geprägt. Dieser eher psychologischen Deutung kann einstweilen zugestimmt werden.

99

Nuber spricht in diesem Zusammenhang mit Bezug auf die Psychoanalyse von einer »symbolischen Kastration […], weil sich Gustls Identität auf männliche Dominanz und Zugehörigkeit zum Militär gründet« (Nuber 2002, 430). Dieser Deutung kann soweit zugestimmt werden. Wenig plausibel ist hingegen die Interpretation von

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Veröffentlichung von Schnitzlers Novelle einen europaweit wahrgenommen Präzedenzfall gab. Der französische Offizier Alfred Dreyfus wurde im Zusammenhang mit der nach ihm benannten Dreyfus-Affäre der Weitergabe geheimer Information an das Deutsche Reich verdächtig. Nachdem ihn ein Gericht der Spionage für schuldig befand, zerbrach man öffentlich Dreyfusʼ Säbel und zwang ihn, vor einer johlenden Menschenmenge mit zerrissener Uniform die Reihen seiner Kameraden abzuschreiten.100 Anders als im Fall des letztlich von der Geschichte reingewaschenen Dreyfus evoziert Schnitzlers Novelle nicht den Eindruck, Gustl würde unschuldig das Opfer eines ehrverletzenden Angriffs. Denn es ist der Protagonist selbst, der den entscheidenden Zwischenfall durch sein Gedrängel an der Garderobe und die gegenüber dem Bäcker artikulierte Beleidigung »Sie, halten Sie das Maul« (LG 15) provoziert. Da die Auseinandersetzung von niemandem außer den beiden Betroffenen bemerkt wird, hat Gustl zwar theoretisch die Möglichkeit, um seiner Karriere willen über diesen Vorfall hinwegzusehen.101 Dies ändert aber ebenso wenig wie Gustls vorangegangene Provokation etwas an der Tatsache, dass die Reaktion des Bäckers einen schweren Angriff auf die Ehre darstellt, zu dem sich der Protagonist irgendwie verhalten muss. Nach dem Ehrenkodex des österreichischen Offizierskorps hätte die einzig adäquate Reaktion auf diese Beleidigung in einem unmittelbaren Rückgriff auf die Praktik der Ehrennotwehr bestanden. Dies ist Gustl völlig bewusst, wenn er sagt: »Ich müsstʼ ja den Säbel ziehen und ihn zusammenhauen.« (LG 16) Die Darstellung des Textes ist an dieser Stelle nicht übertrieben, denn tatsächlich sah der militärische Ehrenkodex einen An-

Lange-Kirchheim, die in dem Säbel die »eindeutige Metaphorik eine[s] Missbrauchstrauma[s]« (Lange-Kirchheim 2006, 101) der Hauptfigur erkennt. In Zusammenhang mit diesem Trauma stehe »das Zerbrechen des Säbels […] in Relation zu den grausamen Penisverstümmelungen vieler Initiationsriten, aber natürlich auch zur Freudʼschen Konzeption des Inzestverbots, das mittels Kastrationsdrohung durchgesetzt wird« (ebd. 104). Diese Lesart fußt erstens auf gewagten Zusatzannahmen wie derjenigen, dass der Bäcker die Vaterposition einnehme, weil »das Zeugen des Menschen im Volksglauben mit dem Brotbacken« (ebd., 102) verglichen werde. Zweitens finden sich für diese Interpretation kaum schlüssige Textbelege in der Novelle. 100 Zu einer detaillierten Beschreibung der Dreyfus-Affäre vgl. Weil 1931, hier insbesondere S. 45-49. Zur zeitgenössischen Rezeption der Affäre in Österreich vgl. Weinzierl 1995. 101 Dies wird Gustl auch durch den Bäcker nahegelegt, der explizit betont: »Aber ich will Ihnen die Karriere nicht verderben...also schön brav sein!« (LG 16)

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griff auf die Gesundheit und gegebenenfalls das Leben des Beleidigenden vor, wenngleich auch dies mit den zivilen Gesetzen unvereinbar war.102 Gustl aber bleibt passiv und reagiert nicht, was nur zum kleineren Teil an der überlegenen Kraft des Bäckers liegt, dessen Hand der Protagonist zunächst nicht vom Griff des Säbels entfernen kann (vgl. LG 15). Doch auch nachdem der Bäcker den Säbelgriff freigegeben hat, bleibt die Hauptfigur körperlich untätig, während dem Leser durch den inneren Monolog gleichzeitig das volle Bewusstsein Gustls über diese Untätigkeit präsentiert wird: »Warum gehʼ ich denn nicht hin und hauʼ ihm den Schädel auseinander? Nein, es geht ja nicht, es geht ja nicht...gleich hättʼ ichʼs tun müssen...Warum habʼ ichʼs denn nicht gleich getan?« (LG 16) Gustls Untätigkeit erscheint nicht als das Resultat einer bewussten Entscheidung oder moralischer Bedenken. Vielmehr schildert der Text einen körperlich und psychisch überforderten Protagonisten, der von der sich schnell ereignenden Konfrontation buchstäblich überrumpelt wird. Die Überforderung schlägt sich unter anderem in der mehrfach wiederholten Frage »habʼ ich geträumt?« (ebd.) nieder, in der das Erstaunen des Protagonisten über seine eigene Handlungsunfähigkeit zum Ausdruck kommt. Gustl erscheint in dieser Passage also ein Subjekt, dem die für die Bewältigung dieser kritischen Lage notwendigen Kompetenzen abgehen. Der Vollzug der sozial vorgesehenen und im Ehrenkodex des Offizierskorps akribisch definierten Praktik der Ehrennotwehr misslingt, wobei dieses Misslingen kein intellektuelles oder moralisches, sondern vor allem ein praktischkörperliches ist. Kognitiv erfasst Gustl die Lage, aber er scheitert schlicht daran, seine mentale Überforderung zu bewältigen und körperlich zu reagieren. Dieser besondere Gehalt des Versagens im Sinne einer Überforderung hängt direkt mit dem Verlust der Ehre des Protagonisten zusammen. Gustl ist sich seines nach allen zeitgenössischen Konventionen evidenten Ehrverlusts durchaus bewusst. Mehrfach rekurriert die Hauptfigur darauf, »Schimpf und Schand« (LG 18) auf sich geladen zu haben, nun »satisfaktionsunfähig« (LG 19) zu sein und sich daher totschießen zu müssen. Das in diesem Zusammenhang aufgerufene Credo des Protagonisten lautete: »[E]s ist ja aus mit mir...Ehre verloren, alles verloren.« (LG 22) Am Ende der Novelle jedoch nimmt er sich nicht das Leben, sondern wähnt sich durch den Tod des Bäckers rehabilitiert: »Keiner weiß was, und nichts ist gʼschehen.« (LG 44) Es ist schlussendlich dieser Verzicht auf den Suizid, in dem die kritische Darstellung des österreichischen Lieutenants und der provozierende Gehalt der Novelle insgesamt gipfeln. Denn gerade das Ende des

102 Vgl. zum Aspekt der Ehrennotwehr im österreichischen Offizierskorps die Ausführungen bei Deak 1991, 157-159 sowie – mit Blick auf Schnitzlers Novelle – die Anmerkungen von Polt-Heinzl 2009, 93f.

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Textes verweist schonungslos auf »eine Schwachstelle im militärischen Ehrbegriff« (Fliedl 2001, 139). Diese offenbart sich, wenn man einen genaueren Blick auf die implizite Logik und Normativität wirft, die den Praktiken der Ehrverteidigung inhärent war. Die in den zeitgenössischen Diskursen zum Teil explizierte Logik der Ehrennotwehr war im Prinzip identisch mit der Funktion des Duells. In beiden Fällen ging es, wie Frevert bemerkt, dem Offizier ausdrücklich nicht um die Rache für eine erlittene Beleidigung, sondern um den Nachweis seines soldatischen Charakters. Dieser zeichnete sich idealerweise »durch Gradlinigkeit, Entschlusskraft und Mut aus, der sich im Augenblick der Gefahr bis zur Lebensverachtung steigern könne. Ein Offizier, der diese Eigenschaften vermissen lasse, habe seinen Beruf verfehlt und sei für die Armee […] untragbar.« (Frevert 1991, 99) Ein Militärangehöriger hingegen, der auf eine Beleidigung in der dafür vorgesehenen Weise reagierte, bewies demnach »vor allem sich selbst, daß [er] die soldatische Tugend der Tapferkeit zu eigen hatte« (Mader 1983, 14f.). Das Duell und die Ehrennotwehr waren damit Praktiken, die als ein »Erziehungsmittel zum militärischen Geist« (ebd,. 46) bestimmte und für den Krieg relevante Fähigkeiten auch in Friedenszeiten trainieren sollten. Mit der Forderung zum Duell stellte der Offizier seinen Mut und seine Todesverachtung unter Beweis und mit der Ehrennotwehr demonstrierte er seine Entschlossenheit, ohne zu zögern auf alle Formen des Angriffs (verbal und körperlich) kriegerisch zu reagieren. Der Sinn dieser Praktiken bestand nicht zuletzt darin, ein gewisses kriegerisches Aggressionspotenzial der Offiziere auch in Friedenszeiten aufrechtzuerhalten, damit diese nicht im Ernstfall des Krieges durch zögerliches oder feiges Verhalten die Kampfkraft der Streitkräfte schwächten (vgl. Frevert 1991, 99). Davon ausgehend verliert Gustl seine Ehre genaugenommen also nicht, weil er beleidigt wird. Er verliert sie, weil er die soldatischen Tugenden wie Entschlossenheit und Tapferkeit vermissen lässt, die es gebieten, die erfolgte Beleidigung augenblicklich und ohne zu zögern mit dem Säbel zu sühnen. Die Konfrontation mit dem Bäcker ist für Gustl eine Situation der Bewährung, in welcher er seinen soldatischen Charakter und seine Eignung als Offizier unter Beweis stellen muss, woran er allerdings scheitert. Dieses Versagen besteht erstens auch dann fort, wenn es dafür keine Zeugen gibt. Dementsprechend bemerkt Gustl, »es ist doch ganz egal, ob ein anderer was weiß!...Ich weiß es doch, und das ist die Hauptsache!« (LG 19). Zweitens ist speziell die Ehrennotwehr zeitlich streng gebunden, das heißt ein Versagen in dieser Situation kann nicht nachträglich korrigiert werden und wird auch nicht aufgehoben, wenn der Beleidigende nachträglich unter anderen Umständen zu Tode kommt. Auch das steht Gustl deutlich vor Augen: »Und wenn ihn [den Bäcker, G.V.] heutʼ Nacht der Schlag trifft, so

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weiß ichʼs...ich weiß es...und ich bin nicht der Mensch, der weiter den Rock trägt und den Säbel, wenn ein solcher Schimpf auf ihm sitzt.« (LG 21) Gewiss ist diese Passage auch eine »ironische Vorausdeutung« (Aurnhammer 2010, 168) auf das Ende der Novelle, an dem der unwahrscheinliche Fall des plötzlichen Todes des Bäckers tatsächlich eintritt. Vielmehr aber dient diese Bemerkung des Protagonisten der späteren Entlarvung seines heuchlerischen Ehrverständnisses, auf welche Schnitzlers Text von Beginn an ausgerichtet ist. Denn das in der Mitte der Novelle formulierte und im Einklang mit dem Kodex des Militärs stehende Ehrverständnis Gustls steht im Widerspruch zum tatsächlichen Ende der Geschichte. Gemessen an seinen eigenen Ansprüchen existiert für den Protagonisten nach dem Versagen in der Konfrontation mit dem Bäcker schlechterdings keine Möglichkeit, seine Ehre im Leben zurückzuerlangen. Pointiert konstatierte bereits von Wilpert hierzu, Gustl habe seine Ehre »nach dem Gesetzt, nachdem er angetreten [ist], verloren, und sie ist auch durch das zufällige Ableben des Kontrahenten nicht wieder hergestellt worden« (von Wilpert 1986, 131). Dementsprechend scheint der einzige Ausweg aus dieser Situation für Gustl tatsächlich in der Selbsttötung zu bestehen. Am Ende der Novelle aber nimmt der Protagonist, kaum dass er vom plötzlichen Ableben des Bäckers erfahren hat, jubelnd von seinem geplanten Suizid-Vorhaben Abstand: »Tot ist er – tot ist er! Keiner weiß was, und nichts ist gʼschehen!« (LG 44) Damit aber verweigert Gustl letztlich die vollständige Unterwerfung unter den Ehrenkodex und verhält sich auf eine Weise, die mit dem Subjekt-Ideal des Offiziers nicht vereinbar ist. Dieser Wille zum Leben ist möglicherweise sogar empathisch nachvollziehbar; gleichwohl wird es dem Leser am Ende des Textes trotzdem fast unmöglich gemacht, mit der Hauptfigur zu sympathisieren. Dafür sorgt nicht zuletzt die besondere Pointe, die Schnitzlers Text am Schluss bereithält: Denn kaum hat sich Gustl um des Überlebenswillens einerseits den Erfordernissen des Ehrenkodex entzogen, so macht er sich das Insistieren auf die Ehre andererseits dort wieder zu nutzen, wo es ihm dienlich ist: beim bevorstehenden Duell mit dem Doktor, einem »ungeschulten Fechter« (LG 11), über den der Protagonist im letzten Satz sagt: »Na wartʼ, mein Lieber, wartʼ, mein Lieber! Ich bin grad gut aufgelegt...Dich hauʼ ich zu Krenfleisch!« (LG 45)103 Diese finale Wendung der No-

103 Wie bereits ausgeführt, suggeriert der Text, Gustl diene das bevorstehende Duell vor allem auch dazu, den Doktor, der Gustl indirekt daran erinnert hat, dass dieser nur aufgrund seines Ausschlusses aus dem Gymnasium Offizier geworden sei, zum Schweigen zu bringen. Gleichzeitig schmückt sich Gustl auch damit, ein besonders unerbittlicher Verfechter der Ehre des Offiziersstandes zu sein (vgl. LG 11), womit

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velle diskreditiert die Hauptfigur vollends und entlarvt Gustls Ehrbegriff als Heuchelei und »bloße Fassade« (Kaiser 1997, 42). Die Krisennacht führt nicht zur Läuterung des Protagonisten. Aus Gustl wird am Ende in der Tat »kein Paulus, der einmal Saulus war« (Aurnhammer 2010, 168). 4.4.3 »So müsstʼ ich mich ja stante pede erschießen« (LG 16) – Der geplante Pistolensuizid Nach diesen Überlegungen wird verständlicher, warum Schnitzlers Novelle derart empörte Reaktionen der militärnahen Kreise provozieren konnte. Der Protagonist ist zum einen als eine Figur entworfen, die mit ihrer Neigung zu Glücksspiel und Konkubinat zwar durchaus den tatsächlichen Ausformungen des historischen Offiziers-Subjekts entsprochen haben dürfte, die aber keinesfalls mit dem propagierten Subjekt-Ideal des Offiziers im Einklang stand. Der Text macht damit auf einen real existierenden Unterschied zwischen der idealtypischen Modellierung des Offiziers und seiner tatsächlichen Subjektivierung aufmerksam, zu welcher durchaus auch solche alltäglichen Praktiken zählten, die offiziell verpönt waren.104 Da sich Gustl selbst als Offizier versteht und in Puncto Herkunft und Ausbildungsweg das Gros des Offizierskorps repräsentierte, erscheint diese Figur nicht als Exot oder Renegat innerhalb des Militärs. Zum anderen unterstellte Schnitzlers Text den Offizieren einen heuchlerischen und inkonsequenten Umgang mit dem eigenen Ehrenkodex. Beide Kritikpunkte konnten auch deshalb auf eine solche Resonanz stoßen, weil die zeitgenössischen Leser Schnitz-

ihm das Duell auch zur Steigerung seiner persönlichen Reputation dient. Dies klingt an, wenn er formuliert: »Wird mir überhaupt nützen, die Sache.« (ebd.) 104 Diese Kluft zwischen offiziellem Anspruch und tatsächlicher Praxis im Offizierskorps umfasst im Übrigen auch die Frage des Antisemitismus. Das Offiziell von den verschiedenen Institutionen der Armee verbreitete Credo lautete: »In der kaiserlichen Armee existieren kein Nationalitäten, kein Racenunterschied und keinerlei Glaubensstreit: […] das Blut des Deutschen und des Slaven, des Christen und des Juden fließt auf dem Schlachtfeld in einem großen Strom zusammen.« (Schmidl 1989, 68) Doch natürlich gab es auch im Offizierskorps Antisemiten wie Schnitzlers fiktiven Lieutenant Gustl. Für einen allgemeinen Überblick über die Situation der zahlreichen jüdischen Offiziere in der Armee vgl. Schmidl 1989.

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lers Protagonisten offensichtlich nicht nur als eine erfundene Figur begriffen, sondern als die Repräsentation eines außerliterarischen Typus.105 Auch die Art und Weise des geplanten Suizids im Lieutenant Gustl lässt sich durch diesen Bezug des Textes, dessen Darstellung weitgehend das Realitätsprinzip unterlegt ist, zur außerliterarischen Wirklichkeit verstehen. Wie schon im Schach von Wuthenow und in Vae Victis!, so ist auch der in Schnitzlers Novelle wiederholt thematisierte Entschluss Gustls, sich zu erschießen, kausal motiviert. Diese unbestimmt vorhandene, das heißt nicht explizierte, Kausalität besteht oberflächlich darin, dass sich Gustl seinem Selbstverständnis als Offizier nach auf eine Weise das Leben nehmen will, die für diese Subjekt-Form typisch war. Gerade die Häufigkeit, mit der Gustl davon phantasiert, sich erschießen zu wollen, zeigt, als wie hochgradig konventionalisiert diese Art des Todes im Militär offensichtlich galt bzw. wie stark verbreitet sie auch tatsächlich war. Darüber hinaus aber ermöglicht Schnitzlers Novelle dem Leser auch einen tieferen Einblick in die implizite Logik dieser literarisch repräsentierten Suizidpraktik. Aus Gustls Gedankenstrom lässt sich der Sinn extrahieren, den die Hauptfigur ihrem geplanten und auf eine bestimmte Art vollzogenen Suizid beimisst. Dabei besteht ein offensichtlicher Zusammenhang zwischen dem Verlust der Ehre und dem geplanten Suizid, welcher in Gustls Überlegungen formuliert wird: »Ich weiß, dass ich satisfaktionsunfähig bin, und darum muss ich mich totschießen.« (LG 19) Die geplante Selbsttötung wird nicht vorrangig aus Scham über das zurückliegende Versagen erwogen, sondern weil der Protagonist satisfaktionsunfähig und seiner Ehre verlustig ist. Ohne diese Ehre kann Gustl zwar den Dienst »quittieren mit Schimpf und Schande« (LG 18) oder nach Amerika emigrieren (vgl. LG 31) und damit zumindest weiterleben. Es ist ihm aber unmöglich, im Offizierskorps zu verbleiben und als Offiziers-Subjekt weiter zu existieren. Der Sinn, den Gustl der geplanten Selbsterschießung beimisst, erschöpft sich allerdings nicht darin, dem unvermeidlichen Ausscheiden aus dem Offizierskorps zuvorzukommen. Vielmehr geht es dem Protagonisten darum, »im letzten Moment sich anständig zu benehmen, ein Mann sein, ein Offizier sein, so dass der Oberst sagt: Er ist ein braver Kerl gewesen, wir werden ihm ein treues Angedenken bewahren!« (LG 23). Die Selbsttötung dient in Gustls Wahrnehmung also nicht bloß der Beendigung des eigenen Lebens, sondern sie zielt auch darauf, das Urteil der Nachwelt über den Verstorbenen zu beeinflussen. Würde sich die Bedeutung des Suizids bloß darauf beschränken, aus einem per-

105 Dementsprechend bemerkte Polt-Heinzl zur Reaktion des Militärs auf Schnitzlers Figur: »Gerade weil er so schlagend ähnlich war, fühlte man sich offenbar getroffen.« (Polt-Heinzl 2009, 96)

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spektivlosen Dasein zu scheiden, welches durch das drohende Zerbrechen der als alternativlos dargestellten Offizierskarriere seinen Inhalt verloren hat, so wäre die konkrete Todesart irrelevant, solange sie ihren Zweck erfüllt. Während die Selbsttötung an sich etwas sehr Konkretes und Reales ist, verfügt die Suizidart des Erschießens über einen symbolischen Gehalt, der an die Nachwelt gerichtet ist. Mit dieser Tat will Gustl sein »Angedenken« reinwaschen und zeigen, dass er »anständig«, ein »Mann« und vor allem »ein Offizier« ist. Es geht dem Protagonisten mit anderen Worten darum, gegenüber seinen Vorgesetzten und Kameraden genau jenen Offizierscharakter unter Beweis zu stellen, der durch die verpasste Ehrennotwehr und den Verlust der Ehre in Abrede steht. Dazu bedarf es aber einer Handlung, mit welcher sich die soldatischen Tugenden wie Mut, Entschlossenheit und Todesverachtung nachdrücklich demonstrieren lassen. Ein radikalerer Schritt der Todesverachtung und Entschlossenheit als die Selbsttötung ist kaum noch vorstellbar. In diesem Zusammenhang wird nun endlich auch ersichtlich, warum ausgerechnet das Erschießen in besonderem Maße dazu geeignet ist, die Entschlossenheit und die Todesverachtung des Offiziers-Subjekts unter Beweis zu stellen. Diese Suizidart ist eine der tödlichsten und konsequentesten Arten der Selbstentleibung, weil sie von einem Augenblick auf den nächsten vollendete Tatsachen schafft. Sie unterscheidet sich darin von der Selbstertränkung, dem Giftsuizid, dem Öffnen der Pulsadern und selbst dem Erhängen. Bei all diesen Suizidarten ist der Ausgang der Selbsttötung nicht vollends sicher, weil sie erst zeitverzögert zum Tod führen und damit die Möglichkeit einer Rettung in letzter Sekunde offenhalten. Diese so genannten weichen Suizidmethoden galten und gelten auch heute noch als unsicher und damit letztlich inkonsequent.106 Der hier formulierte Gedanke war bereits im 18. Jahrhundert virulent und findet sich praktisch genauso schon 1798 in Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht: »Wenn das dazu gewählte Mittel plötzlich und ohne mögliche Rettung tödlich ist, wie z.B. der Pistolenschuß […]: so kann man dem Selbstmörder den Mut nicht streiten. Ist es aber der Strang, der noch von anderen abgeschnitten, oder gemeines Gift, das durch den Arzt noch aus dem Körper geschafft, oder ein Schnitt in den Hals, der wieder zugenäht und geheilt werden kann […], so ist es feige Verzweiflung aus Schwäche.« (Kant 2000, 178f.)

106 Vgl. hierzu insbesondere die Ausführungen bei Ursula Baumann, die sogar die These aufstellt, die höhere Suizidrate bei Männern hänge damit zusammen, »weil die von Männern eingesetzten ›harten‹ Methoden häufiger zum Tod führen als die ›weichen‹, die von Frauen bevorzugt werden« (Baumann 2001, 254).

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Ein Offizier, der sich auf eine solche ›feige‹ Weise das Leben nahm, anstatt sich mit einem Schuss in das Herz oder in den Kopf, der mit nahezu hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit augenblicklich das Leben beendet, zu töten, ließ die geforderte Entschlossenheit und Todesverachtung vermissen und stand unter dem Verdacht, es mit seinem Suizid nicht vollends ernst zu meinen. Darüber hinaus bewies der Offizier durch den gezielten Todesschuss, dass er auch die praktischen Fähigkeiten des soldatischen Kriegshandwerks beherrschte. Die Praktik des Pistolensuizids unter Offizieren zielte zusammengefasst also implizit darauf ab, der Nachwelt durch diese besonderes konsequente Art der Selbsttötung zu beweisen, dass dem suizidalen Subjekt jene soldatischen Eigenschaften wie Mut, Tapferkeit und Entschlossenheit zu eigen waren, die bei einem Versagen in Ehrenangelegenheiten in Abrede gestellt wurden. Diese Semantik des Pistolensuizids ist im Lieutenant Gustl implizit auch den Selbsttötungsphantasien der Hauptfigur unterlegt. In dem Maße aber, in dem Gustls Ehrverständnis am Ende als heuchlerisch desavouiert wird, erscheint schließlich auch der Pistolensuizid als das Relikt einer Subjektkultur, mit deren Spielregeln es der Protagonist nicht ganz so genau nimmt. Mehr noch: Die empörten Reaktionen der militärnahen Gesellschaftskreise legen den Schluss nahe, dass Schnitzler mit dieser Darstellung eines zeitgenössischen Lieutenants und seines Ehrverständnisses nur allzu genau auf einen wunden Punkt im Selbstverständnis des zeitgenössischen Offizierskorps gezielt hatte. Wie der Volksmund formulieren würde: Getroffene Hunde bellen.

4.5 B IS ZUR K OPFLOSIGKEIT – W EDEKINDS F RÜHLINGS E RWACHEN Frank Wedekinds 1891 vollendetes Drama Frühlings Erwachen ist der erste von mehreren in dieser Arbeit behandelten Texten, die gleichzeitig auch das Debüt bzw. den literarischen Durchbruch ihrer Verfasser bedeuteten.107 Der Inhalt des

107 Überhaupt scheinen zumindest in der deutschsprachigen Literatur etliche literarische Debuts nicht ohne einen dargestellten Suizid auszukommen. Die Liste der in dieser Arbeit betrachteten ›Durchbruchstexte‹ (Wedekind, Thomas Mann, Kafka) lässt sich um viele weitere Beispiele erweitern, von denen die prominentesten gewiss Goethe mit seinem Werther und Schiller mit seinen Räubern markieren. Es wäre – freilich an anderer Stelle – eine Überlegung wert, ob nicht beispielsweise das skandallöse Potenzial von Suiziddarstellungen von Autoren über fast zwei Jahrhunderte dazu genutzt wurde, sich im literarischen Feld zu etablieren.

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als ›Kindertragödie‹ betitelten Werkes galt seinerzeit als derart heikel, dass sich Wedekind nach Konsultation eines Anwalts für eine Veröffentlichung in der Schweiz entschied, weil zu befürchten stand, »daß, wenn das Buch in Deutschland gedruckt würde, Autor, Verleger und Drucker jeder mindestens zwei Jahre Gefängnis zu gewärtigen hätten« (Wedekind 2000, 769f.). Dabei erschöpfte sich die besondere Brisanz des Inhalts längst nicht in der Darstellung eines Suizids. Sie basierte vielmehr auf der unverblümten Thematisierung jugendlicher Sexualität, die mit einer Geißelung der »Doppelmoral der Wilhelminischen Ära« (Splitter 1999, 13) und mit einer scharfen Kritik am Erziehungssystem dieser Zeit verbunden war. Diese Kritik wurde von vielen Zeitgenossen, etwa von Robert Reitzel 1892, durchaus verstanden und bisweilen als längst fälliger Angriff »auf den Jugend-Verderb, wie er namentlich auf deutschen Gelehrten-Schulen und in ›gebildeten‹ Familien getrieben wird« (Reitzel zit. nach Wedekind 2000, 866), begrüßt. Mit Blick auf Funktion und Bedeutung der Suizidmethoden ist Frühlings Erwachen im Kontext dieser Arbeit nicht zuletzt deshalb aufschlussreich, weil sich der Text – obgleich auch er die Schilderung eines Pistolensuizids enthält – in mindestens drei Punkten von den zuvor betrachteten Werken unterscheidet. Erstens handelt es sich bei Frühlings Erwachen um ein Drama, was die Frage nach gattungsspezifischen Eigenarten der Suiziddarstellung aufwirft. Zweitens scheint es der Leser bei Wedekind mit einer anderen Form der Ästhetisierung des Suizids und der Leiche zu tun zu haben. Drittens schließlich unterscheidet sich der suizidale Protagonist Moritz Stiefel – so viel kann bereits jetzt konstatiert werden – schon auf den ersten Blick von den zuvor untersuchten literarischen Suizidenten. Bei Moritz handelt nicht um einen Erwachsenen, sondern um ein Kind, das zudem deutlich erkennbar nicht zum Adel gehört. Möglicherweise sind also auch die Ursachen für seinen Suizid gänzlich anders gelagert als in den zuvor untersuchten Prosatexten. Zu Beginn sollen aber zunächst die ersten beiden Aspekte betrachtet werden, die mit der Frage zusammenhängen, wie Tod und Sterben des Protagonisten dargestellt werden. 4.5.1 Darstellung des Sterbens Die Frage, wie das Sterben des Protagonisten in Frühlings Erwachen dargestellt wird, lässt sich rasch und salopp beantworten: gar nicht. Es gibt in Wedekinds Drama ebenso wenig eine Sterbeszene wie in Vae Victis! oder Schach von Wuthenow. In allen Fällen begleiten Leser bzw. Zuschauer die suizidale Figur nur bis kurz vor ihr Ende; der Moment aber, in dem es buchstäblich todernst wird, bleibt in der Darstellung ausgespart. Wo die Erzähler in den untersuchten Prosatexten pietätvoll gewissermaßen den Raum verlassen, situiert Wedekind

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das Sterben seiner Figur genau zwischen dem zweiten und dem dritten Akt. Wenn der Vorhang nach dem zweiten Akt sinkt, ist Moritz Stiefel noch lebendig. Wenn sich der Vorhang zu Beginn des dritten Aktes wieder hebt, setzt die Handlung an dem Punkt wieder ein, an dem die Lehrer über den Tod ihres ehemaligen Schülers konferieren. Über das, was in der nicht geschilderten Zwischenzeit offstage geschehen ist, kann kaum ein Zweifel bestehen, nicht zuletzt weil Moritzʼ mit dem Satz »Jetzt gehe ich nicht mehr nach Hause« (FE 53) beschlossener Monolog am Ende des zweiten Aktes deutlich seinen darauffolgenden Suizid vorwegnimmt.108 Ungewissheit kommt lediglich vorübergehend in Bezug auf die Art und Weise des Suizids auf, weil einzelne Figuren zeitweilig behaupten, Moritz hätte sich erhängt (vgl. FE 62).109 Diese kurzzeitige Ungewissheit wird allerdings rasch durch eine gegenläufige Schilderung Ilses ausgeräumt: »Ich war schon über die Brücke drüben, da hörtʼ ich den Knall.« (FE 63) In der Form eines Botenberichts wird innerhalb des Dramas vorübergehend eine intradiegetische Erzählinstanz eingeführt, welcher die genauere Darstellung der Umstände des Figurenablebens überantwortet wird – ein dramaturgischer Kniff, den bereits Peter von Matt als eine häufige Variante der dramatischen Todesdarstellung identifiziert hat.110 Diese Erzählinstanz aber präsentiert den Suizid nach dem gleichen Grundschema, das sich bereits im Schach von Wuthenow und in Vae Victis! findet. Erzählt wird nicht das Sterben der Figur, sondern nur das, was man in Anlehnung an Peter von Matt als die »Symptome des nahenden Todes« (von Matt 1994, 17) bezeichnen könnte.111 Das mit dem Pistolensuizid verbundene Symptom ist in al-

108 Abgesehen davon wurde dieser Suizid im Drama zuvor schon vorbereitet, indem Moritz mehrfach ankündigt, sich im Falle einer nicht eintretenden Versetzung zu erschießen. Vgl. FE 24, 30, 31. 109 Auch in Frühlings Erwachen wird damit durch die Nennung einer anderen, ebenfalls noch denkbaren Suizidart indirekt darauf aufmerksam gemacht, dass auch in diesem Drama eine Todesart allen anderen Methoden der Selbsttötung vorgezogen wurde. Dies mag einmal mehr als Indiz dafür gelten, dass die Todesart einer Figur nicht belanglos oder beliebig ist, sondern mit Bedacht gewählt wird. 110 Von Matt bemerkt hierzu: »Wenn einer hinter der Szene stirbt – eine häufige Variante – bringt das nur andere Schwierigkeiten, nicht etwa weniger. Die Funktionen der Todesszene wachsen dann alle dem Botenbericht zu. Dieser aber ist ein erzählendes, ein undramatisches Medium.« (von Matt 1994, 76) 111 Mit Blick auf das Theater thematisiert von Matt die Schwierigkeit, das Sterben glaubhaft auf die Bühne zu bringen: »So wie da gestorben wird, stirbt in praxi niemand – aber wir wollen überzeugt sein, so sterbe jeder.« (von Matt 1994, 16) Daher

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len drei Texten das von der Erzählinstanz vernommene Geräusch des Schusses. Auf die Schilderung dieses Symptoms folgen jeweils alsbald das Auffinden der Leiche und zumeist auch eine Darstellung des äußeren Zustandes des Toten, so wie dies auch in Frühlings Erwachen der Fall ist. In diesem Sinne unterscheidet sich die Darstellung des Sterbens in Wedekinds Drama also nicht grundlegend von den zuvor untersuchten Prosatexten, sondern folgt einem ähnlichen Schema. Dies hat nicht zuletzt auch damit zu tun, dass Wedekind darauf verzichtete, die eigentliche Selbsttötungshandlung durch eine Anweisung im dramatischen Nebentext auf die Bühne zu bringen. 4.5.2 Das Hirn in den Weiden – zur Ästhetik des Todes Zur Suiziddarstellung zählt wie bei vielen anderen Suizidtexten auch in Frühlings Erwachen eine Schilderung vom Auffinden des Toten samt einer Beschreibung des Leichnams. Diese Beschreibung aber fällt in Wedekinds Drama besonders drastisch aus: »MARTHA: Istʼs wahr, Ilse, daß er ohne Kopf drinliegt?« ILSE: Er muß sie mit Wasser geladen haben! – Die Königskerzen waren über und über mit Blut besprengt. Sein Hirn hing in den Weiden umher.« (FE 64)

Wie der Leser erfährt, ist Moritz Kopf durch den Schuss buchstäblich explodiert; das Schädelinnere wurde auf die umliegende Flora verteilt. Die auf den Titel des Dramas verweisende Bedeutung der Weide als Symbol für den Frühling (vgl. Zerling 2007, 284) markiert ebenso wie die die Erwähnung der mit Blut bespritzen Königskerzen, durch welche ein semantischer Bezug zum für das Drama wichtigen Märchen von der kopflosen Königin hergestellt wird,112 einen für meine Fragestellung eher randständigen Punkt. Bemerkenswerter scheinen mir an dieser Darstellung drei andere und miteinander verknüpfte Aspekte: Erstens ist

sei es insbesondere im Drama nötig, das Ableben der Figur durch die Schilderung verschiedener Symptome vorzubereiten und indirekt anzuzeigen. Wenn das Ende der Figur dann eintritt, brauche diese »nur noch einzusinken, und wir nehmen den Tod auf der Stelle für erwiesen an« (ebd., 17). Diese Überlegungen von Matts sind anschlussfähig für die Schilderung des Sterbens in epischen Texten. Auch hier kann das Eintreten des Todes indirekt dargestellt werden, etwa indem wie im Schach von Wuthenow nur das Ertönen eines Pistolenschusses erzählt wird. 112 Zur Funktion des Märchens von der kopflosen Königin und zur Bedeutung des Motivs der Kopflosigkeit allgemein, siehe Kapitel 4.4.5.

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bereits die Schilderung eines schwer versehrten Leichnams an sich für Suiziddarstellungen dieser Zeit ungewöhnlich. In anderen Texten wird die Zerstörung des Körpers entweder verschwiegen113 oder gar explizit verneint.114 Eine Ausschmückung der physischen Gewalt des suizidalen Aktes ist aus der Darstellung des Todes in den meisten Texten der Zeit ebenso verbannt wie jede Form der Agonie. In Frühlings Erwachen hingegen wird die Zerstörung des Körpers nicht nur geschildert, sondern auch in besonders drastischer Weise anschaulich gemacht. Das buchstäbliche Explodieren von Moritzʼ Kopf bedingt zweitens die Aussparung des Suizids im dramatischen Nebentext und damit die ›undramatische‹ Verlagerung des eigentlichen Sterbens der Hauptfigur hinter die Bühne. Denn im Hinblick auf die Aufführbarkeit des Dramas ist eine solche Form der Selbsttötung, bei welcher der Schädel des Protagonisten platzt, bereits rein bühnentechnisch kaum realisierbar, um von der Unzumutbarkeit der Darstellung eines solchen Ablebens für das zeitgenössische Publikum gar nicht erst zu sprechen. Drittens lässt sich konstatieren, dass Wedekind in seinem Drama um eine plausible und physikalisch korrekte Erklärung dieser extrem destruktiven und in der deutschsprachigen Literatur wohl einmaligen Ausformung des Pistolensuizids bemüht ist. Tatsächlich führt ein Schuss in den Kopf in den meisten Fällen nicht zu einer Verletzung, bei welcher der Schädel förmlich abgerissen wird. Eine Möglichkeit, den im Drama dargestellten Effekt auch in der Realität zu erzielen, war allerdings schon zur Entstehungszeit des Textes um 1890 bekannt, wie ein Blick in Ernst Bergmanns 1880 publiziertes Buch Die Lehre von den Kopfverletzungen offenbart: Demnach seien solche Zertrümmerungen des Schädels nur zurückzuführen »auf eine Art Sprengung durch die hoch und plötzlich gesteigerte Höhlenpression, welche das Geschoss bei seinem Einschlagen in einen mit flüssiger oder breiiger Masse erfüllten Hohlraum ausübt« (Bergmann 1880, 101). Schießt sich ein Mensch durch den mit Wasser gefüllten Mundraum, so hat dies tatsächlich ähnliche Auswirkungen, wie jene, die im Drama geschildert werden.115 Der zitierte, bisher kaum beachtete Kommentar Ilses, »er muß sie mit

113 Weder in Vae Victis! noch im Schach von Wuthenow wird die durch den Schuss hervorgerufene Verletzung erwähnt. 114 So heißt es beispielsweise über Fontanes titelgebende Figur Graf Petöfy, der sich ebenfalls erschießt: »Er habe zurückgelehnt in seinem Schreibtischstuhl gesessen, auf den ersten Blick ohne Zeichen äußerer Verletzung oder überhaupt dessen, was geschehen sei.« (Fontane 2006, 184) 115 Während die Luft im Mundraum beim Pistolensuizid unter dem Druck des eintretenden Projektils komprimiert wird, ist dies bei Wasser nicht möglich. Der Druck

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Wasser geladen haben!« zielt also offenbar genau auf diese Ausformung der Suizidpraxis, mit welcher eine bestimmte Konsequenz von Moritz Selbsttötung – seine Leiche liegt mit abgetrenntem Kopf im Sarg – plausibel begründet wird. Damit liegt hier zunächst eine Form kausaler Motivierung vor: Weil Moritz sich auf diese Weise erschießt, fehlt seinem Leichnam danach der Kopf. Der Umstand aber, dass hier zur Plausibilisierung der geschilderten Verletzungen extra ein medizinisches Spezialwissen bemüht wird, erweckt den Verdacht, das Abtrennen des Schädels durch den Suizid könnte darüber hinaus noch eine andere Funktion erfüllen; eine Funktion, die sich nicht darin erschöpft, bloß eine Form von Drastik zu sein, mit der ein ›Schockeffekt‹ erzeugt wird. Von der Forschungsliteratur wurde bereits hinreichend und weitgehend konsensual die große Bedeutung herausgestellt, die im Drama dem Motiv der Kopflosigkeit zukommt, welches möglicherweise gar ein Leitmotiv des Textes ist.116 Im Folgenden werde ich die These vertreten, dass dieses Motiv der Kopflosigkeit nicht nur in einem losen Zusammenhang mit der Art des Suizids steht,117 sondern dessen Ausgestaltung maßgeblich determiniert. Konkret besteht die Funktion dieser besonderen Suizidart meines Erachtens gerade darin, den am Ende des Dramas eintretenden, buchstäblichen Kopfverlust Moritzʼ zu plausibilisieren. Die im Bühnentod des Protagonisten realisierte Kopflosigkeit wäre demnach nicht bloß das Resultat dieser speziellen Suizidmethode, sondern auch ihr eigentlicher Zweck. Dieser erschließt sich wiederum nur im Zusammenhang mit der metaphorischen Bedeutung des Motivs der Kopflosigkeit. Diese metaphorische Bedeutung geht über den Ereignishorizont der erzählten Welt hinaus und betrifft vor allem die Ebene der Textkomposition. Vor diesem Hintergrund ist allgemein danach zu fragen, in welchem Verhältnis das Motiv der Kopflosigkeit und der Suizid des Protagonisten zueinander stehen. Um dies zu klären, wird sich der Blick nun zunächst auf die Ursachen von Moritzʼ Suizid richten, bevor der Fokus in einem zweiten Schritt auf das Motiv der Kopflosigkeit gelegt wird. 4.5.3 Ursachen des Suizids Inhaltlich verhandelt Frühlings Erwachen im Wesentlichen zwei große und miteinander verschränkte Themen. Hier wäre zunächst eine Auseinandersetzung mit

wird daher nicht abgebaut, sondern breitet sich durch die Flüssigkeit im Mundraum aus und bringt schließlich den Schädel zum Bersten. 116 Diese Position vertreten unter anderem Florack 1997 und Noob 1998. 117 So nimmt beispielsweise Rothe 1968 an, das Motiv der Kopflosigkeit »nimmt den Schuß in den Kopf vorweg« (Rothe 1968, 27).

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dem Problem der Sexualaufklärung in der Gesellschaft des deutschen Kaiserreichs zu nennen, welches ein großer Teil der Forschungsliteratur als zentrales Thema des Dramas identifiziert.118 Die Bedeutung dieses Aspekts ist angesichts der fast durchgängigen Thematisierung der Sexualität unbestreitbar119 und schlägt sich bereits im Titel nieder, der sich als eine Anspielung auf das Erwachen des Sexualtriebs lesen lässt. Anhand der Moritz-Figur verhandelt der Text darüber hinaus noch ein weiteres, in den zeitgenössischen Diskursen breit verhandeltes Thema, nämlich die sogenannte Schülerüberbürdung, welche unmittelbar mit dem in dieser Zeit ebenfalls viel diskutierten Phänomen des Schülersuizids in Verbindung gebracht wurde. Gerade im Zusammenhang mit Moritzʼ Selbsttötung scheint dieses zweite Thema zwar nicht die alleinige, aber doch die wichtigere Rolle zu spielen. Anders als Wendla geht Moritz nämlich nicht in erster Linie an seiner Unaufgeklärtheit und einer restriktiven Sexualmoral zu Grunde, sondern vor allem an den Folgen des schulischen Leistungsdrucks. Die Konsequenzen, die sich für ihn aus einem Scheitern in der Schule ergeben, legt Moritz bereits zu Beginn des Textes unmissverständlich offen: »Wenn ich nicht promoviert worden wäre, hätte ich mich erschossen.« (FE 24)120 Als er im Fortgang des Textes befürchtet, seine zunächst provisorisch ausgesprochene Versetzung werde zugunsten seines Mitschülers Ernst Röbel zurückgenommen, bekräftigt Moritz diese Konsequenzen noch einmal: »Röbel erschießt sich nicht. […] Wenn ich durchfalle, rührt mein Vater der Schlag, und Mama kommt ins Irrenhaus. So was erlebt man nicht!« (FE 30f.) An einem Zusammenhang zwischen Moritzʼ Selbsttötung und seinem schulischen Versagen kann also kein Zweifel bestehen.121 Welche Rolle aber wird im Drama der Institution Schule für die in

118 Vgl. hierzu exemplarisch vor allem die Studien von Gutjahr 2001 und Pankau 2005. 119 Richter bemerkt hierzu: »Von den neunzehn Szenen, aus denen das Stück besteht, kann man allenfalls drei von offenen oder verdeckten Bezugnahmen auf diesen Motivkomplex frei finden (nämlich die Szenen […], die strikt auf Moritz Stiefel konzentriert sind).« (Richter 2000, 160) 120 Eine Haltung, die der Verfasser dieser Arbeit sehr gut nachvollziehen kann. 121 Zu dem gleichen Ergebnis kommen Noob 1998, Splitter 1999, Schmidt-Bergmann 2002. Widersprochen werden muss hingegen Whittaker 2013, die konstatiert: »Die Ursache für seinen Selbstmord bleibt zwischen Angst vor schulischem Versagen und – wie von den Lehrern unterstellt – Verwirrung durch die Aufklärungsschrift Melchiors ambivalent.« (Whittaker 2013, 130) Moritzʼ Aussagen im Text machen deutlich das schulische Versagen als Motiv für seinen Suizid kenntlich. Zudem werden die Lehrer im Text vor allem bei ihrem Versuch, Melchior für den Tod Mo-

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den Suizid mündende Subjektivierung des Protagonisten zugeschrieben und welche Erziehungspraktiken werden dabei geschildert? 4.5.4 Subjektivierung als Disziplinierung: Zur Schülerüberbürdung Wenn im Zusammenhang mit Wedekinds Drama von ›Schule‹ die Rede ist, so meint dies konkret das humanistische Gymnasium, das sich um 1900 mehr als andere Schulformen einer besonders starken Kritik ausgesetzt sah.122 Die Institution des Gymnasiums und die dazugehörenden Pädagogen werden in Frühlings Erwachen als ein Subjektivierungsregime präsentiert, welches im Wesentlichen disziplinierend und strafend auf das einzelne Subjekt einwirkt. Die erste und zugleich wichtigste »Disziplinartechnik« (Foucault 2008a, 865), mit der dieses Regime operiert, ist das mit einer strengen Reglementierung der Freizeit verbundene Exerzitium, das darauf zielt, auch die Freizeit der Schüler mit Übungen und Aufgaben auszufüllen. Bereits zu Beginn des Dramas beklagen sich die Schüler über die hohe zeitliche Belastung durch die ihnen aufgetragenen Hausarbeiten: »ERNST: Zentralamerika! – Ludwig der Fünfzehnte! Sechzig Verse Homer! – Sieben Gleichungen! GEORG: Wenn nur wenigstens der lateinische Aufsatz nicht auf morgen wäre! MORITZ: An nichts kann man denken, ohne daß einem Arbeiten dazwischen kommen!« (FE, 11)

Unabhängig von der Frage der Zumutbarkeit des geschilderten Arbeitspensums kann zunächst konstatiert werden, dass die Reichweite der schulische Disziplinarmacht in der erzählten Welt nicht mit der Schulglocke endet. Vielmehr stehen die Schüler auch in ihrer Freizeit unter dem Einfluss des schulischen Subjektivierungsregimes, dessen disziplinierende und unterwerfende Praktiken auch außerhalb der eigentlichen Unterrichtsstunden vollzogen werden. Dies zeigt sich bereits in der zweiten Szene des Dramas. Kaum kommt hier das Gespräch der Figuren auf die noch ausstehenden Hausarbeiten, da verlassen alle Schüler mit Ausnahme von Moritz und Melchior postwendend die Szenerie, um sich wieder ihren Schulaufgaben zuzuwenden (vgl. ebd.). Wie in dem darauffolgenden Dialog deutlich wird, kann sich auch Moritz nicht dem Druck dieser Disziplinar-

ritzʼ verantwortlich zu machen, derart karikiert dargestellt, dass die von diesen Figuren vertretene Erklärung für die Selbsttötung ihres Schülers als haltlos erscheint. 122 Zur Kritik am humanistischen Gymnasium vgl. exemplarisch Hermann 1991, 150152 und Mix 1995, hier insbesondere S. 185-192.

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techniken entziehen. Wiederholt kommt er in dem sich eigentlich um die erwachende Sexualität drehenden Gespräch auf die noch anstehenden Schularbeiten zu sprechen (vgl. FE 13, 16, 17), wobei sich bereits in seinen Ausführungen eine deutliche Kritik an den ihn adressierenden Subjektivierungspraktiken findet: »Ich habe noch Mittelamerika und Ludwig den Fünfzehnten vor mir. Dazu die sechzig Verse Homer, die sieben Gleichungen, der lateinische Aufsatz. [...]. Um mit Erfolg büffeln zu können, muß ich stumpfsinnig wie ein Ochse sein.« (FE 16) Moritz artikuliert hier zwei der Vorwürfe, die dem humanistischen Gymnasium auch in den außerliterarischen Diskursen der Zeit immer wieder entgegengebracht wurden. Die dort formulierte Kritik zielte zum einen auf die »übermäßige zeitliche Belastung der Schüler durch den Schultag und die Hausaufgaben, deren Erledigung sich häufig bis in die Nacht ausdehne« (Whittaker 2013, 52). Zum anderen richtete sie sich gegen die Inhalte und didaktischen Grundprinzipien eines Unterrichts, der die Schüler »mit seinem Memorieren und Auswendiglernen von Daten und Ereignissen […] zur Passivität, widerstandsloser Aufnahme des Stoffes und blindem Gehorsam einer Autorität gegenüber heranzog« (Noob 1998, 102). Im Fortgang des Textes wird deutlich, wie das im Drama dargestellte Subjektivierungsregime einen »Selbstzwang zur Leistung« (Whittaker 2013, 52) erzeugt, der sich im Fall von Moritz zu einer »obsessive mania« (Jelavich 1983, 132) auswächst. Moritz lernt, bis er nachts »um kurz nach drei« (vgl. FE 30) am Schreibtisch einschläft. Am nächsten Morgen ist sein »erster Gedanke beim Erwachen [...] die Verba auf µι« (ebd.). Dem Disziplinierungsdruck dieses Regimes kann sich Moritz nicht entziehen. Stattdessen wird der an ihn herangetragene Leistungs-Imperativ verinnerlicht und in die Maxime »Ich will arbeiten und arbeiten, bis mir die Augen zum Kopf herausplatzen« (FE 30) überführt. Das hinter dieser Maxime stehende Prinzip geht weit über die bloße Vermeidung von Müßiggang hinaus. Vielmehr ist hier jene Ökonomie am Werke, die Foucault als das »Prinzip einer theoretisch endlos wachsenden Zeitnutzung« (Foucault 2008a, 857) bezeichnet, welches er in sehr unterschiedlichen, modernen Subjektivierungsregimen wie beispielsweise dem Gefängnis oder der Armee am Werke sieht. Dieses Prinzip fordere »nicht nur Einsatz, sondern Ausschöpfung. Es geht darum, aus der Zeit immer noch mehr verfügbare Augenblicke und aus jedem Augenblick immer noch mehr nutzbare Kräfte herauszuholen.« (ebd.)123 Dieses Prämisse der maximalen Zeitausschöpfung, der Moritz unter-

123 Noch an anderer Stelle wird deutlich, wie sehr Moritz dieses Prinzip der maximalen Zeitausnutzung verinnerlicht hat. Als ihn Frau Gabor ermahnt, häufiger spazieren zu gehen, erwidert er: »Ich werde fleißig spazieren gehen. Sie haben recht. Man kann auch währen des Spazierengehens fleißig sein! Daß ich noch selbst nicht auf den

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worfen ist, wird im Drama allerdings kritisiert, weil sie zu einer völligen Erschöpfung des Protagonisten führt und dessen Gesundheit schädigt. Artikuliert wird diese Kritik auf zwei unterschiedliche Arten. Erstens geschieht dies indirekt, indem die Auswirkungen dieser Arbeitsbelastung auf Moritzʼ Gesundheitszustand geschildert werden. So erfährt der Leser/Zuschauer zunächst, der Protagonist schlafe in Folge der durcharbeiteten Nächte im Unterricht unwillentlich ein »wie der besoffene Polyphem« (FE 30). Daneben stellt Moritz an sich selbst Auswirkungen fest, die sowohl den Körper als auch den Geist betreffen: »Dein Tee wird mir gut tun, Melchior! Ich zittre nämlich. Ich fühle mich so eigentümlich vergeistert. Betaste mich bitte mal. Ich sehe – ich höre – ich fühle viel deutlicher – und doch alles so traumhaft.« (FE 31) Die vom Protagonisten selbst beschriebenen negativen körperlichen Folgen seiner Arbeitsbelastung werden durch die Beobachtung anderer Figuren verifiziert, etwa wenn Frau Gabor kommentiert: »Sie sehen aber gar nicht gut aus. Fühlen Sie sich nicht wohl?« (FE 32) Diese Bemerkung verbindet sich mit einer zweiten Art der Kritikäußerung. Frau Gabor, die einzige liberal eingestellte Erwachsenenfigur des Dramas, mahnt die Folgen von Moritzʼ Subjektivierung durch die schulischen Disziplinartechniken an: »Sie sollten so etwas nicht tun, Herr Stiefel. Sie sollten sich schonen. Bedenken Sie ihre Gesundheit. Die Schule ersetzt Ihnen die Gesundheit nicht.« (FE 32) Mit dieser Formulierung knüpft Wedekinds Drama direkt an die in verschiedenen zeitgenössischen Diskursen populäre These an, die Überbürdung in den Schulen schädige nachhaltig die Gesundheit der Schüler und produziere »nicht nur blasse Brillenträger, sondern künftige Geisteskranke« (Radkau 1998, 316). Obgleich es hierfür kaum statistische Belege gab, wurde vor allem die Überbürdung in den höheren Schulen verantwortlich gemacht für »Kurzsichtigkeit, Kopfschmerzen, Verkrümmung, Brust- und Unterleibserkrankungen, bestimmte ansteckende Krankheiten« (Oelkers 1989, 249). Überdies wurde angenommen, die Überbürdung der Schüler würde bei diesen im Erwachsenenalter den Ausbruch von Nervosität und Neurasthenie124 begünstigen. Als Belege führte man

Gedanken gekommen!« (FE 33) Durch die Art, in der Moritz hier den Ratschlag Frau Gabors missversteht, erzeugt der Text einerseits eine gewisse ironische Komik, die andererseits aber auch insofern tragisch ist, als dass sie Moritzʼ Verfangenheit in dem ihm aufgezwungenen Leistung-Imperativ illustriert. 124 Die Neurasthenie war im ausgehenden 19. Jahrhundert ein Deutungsschema für verschiedene wahrgenommene Erscheinungen und Symptome, die als körperliche, geistige und soziale Funktionsstörungen interpretiert wurden. Obwohl die Neurasthenie in den zeitgenössischen Diskursen breit verhandelt wurde, so blieben ihre genauen Konturen wenig trennscharf und diffus. Man schrieb der Neurasthenie zahl-

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neben einer angeblich gestiegenen Zahl wehrdienstuntauglicher junger Männer auch »die wachsende Zahl von Nervenzusammenbrüchen und Selbstmorden unter den Schülern an« (Albisetti/Lundgreen 1991, 232). Letztgenannter Aspekt avancierte unter dem Begriff des ›Schülerselbstmords‹ um die Jahrhundertwende zu einem Thema, welches in verschiedenen Diskursen breit verhandelt und mit der Überbürdung direkt in Verbindung gebracht wurde. Die Thematisierung dieses Problems fand nicht nur innerhalb der Wissenschaft und den pädagogischen Lexika und Fachzeitschriften statt, sondern »auch in de[m] bereits recht ausdifferenzierten Zeitschriftenmarkt des Kaiserreichs« (Eiben 2015, 66). Die in den Zeitungen abgedruckten Meldungen über Suizide unter Schülern und die Flut der dazu erscheinenden Publikationen125 evozierten bei vielen Zeitgenossen den Eindruck, man habe es mit einer wahren Selbstmordepidemie (vgl. Hahn 1994, 159) unter Jugendlichen zu tun.126 Zwar lässt sich ein epidemisches Ausmaß der Selbsttötungen unter Schülern bei genauer Betrachtung ebenso wenig nachweisen wie eine unmittelbare Verantwortlichkeit des Bildungssystems für diese Sui-

reiche Ursachen, Erscheinungsformen und Symptome zu und betrachtete sie als eine Zeiterscheinung der als nervös charakterisierten Epoche um die Jahrhundertwende. Sie galt »als eine Art Neurose, die auf sehr enge Weise an die politischen und sozialen Faktoren gebunden« (Radkau 1994, 211) war. Dabei wurde auch die Überbürdung in den Schulen als Ursache dafür angeführt, dass »jedes dritte Kind an einer Störung des Nervensystems leide und zur Gruppe potentieller Neurastheniker gerechnet werden müsse« (ebd.) Als Symptome dieser Krankheit galten unter anderem »Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, Schwindelgefühle, Verdauungsstörungen, Herzbeschwerden und Impotenz« (ebd., 213). Einige dieser Symptome werden in Frühlings Erwachen auch Moritz zugeschrieben. 125 Allein in der 1927 erschienen Bibliographie des Selbstmords von Hans Rost sind zum Suizid bei Schülern und Jugendlichen nicht weniger als 178 Titel verzeichnet. Vgl. Rost 1927, 88-97. 126 Dieser Eindruck wurde weniger von den wissenschaftlichen Publikationen, in denen sich stets auch relativierende und mäßigende Stimmen zu Wort meldeten, als vielmehr von der nationalen und internationalen Presse erzeugt. O. Gerhardt zitiert in seinem Beitrag Über die Schülerselbstmorde einen Artikel der Pariser Les Annales aus dem Jahr 1908. Darin heißt es: »In Deutschland ist es noch schlimmer. Tausende von Schülern machen ihrem Leben ein Ende, um der Brutalität einer eisernen Disziplin zu entgehen, und sodann weil ihr Gehirn der schrecklichen Masse von Kenntnissen, die sie aufhäufen ohne zu verdauen, nicht Widerstand leisten kann. Das Übermaß tötet sie.« (Gerhardt 1909, 130)

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zide.127 Trotzdem wurden in den von reformpädagogischen Auseinandersetzungen geprägten Debatten im Kaiserreich alsbald die Bildungsinstitutionen, allen voran die humanistischen Gymnasien, als Hauptverursacher der vermeintlich gehäuft auftretenden Suizide unter Schülern identifiziert.128 Diese seinerzeit populäre Diskursfigur findet sich in Verbindung mit Moritzʼ Selbsttötung auch in Frühlings Erwachen. Sie begegnet dem Leser zu Beginn des dritten Aktes, wenn der Direktor der Schule in Reaktion auf den gerade erfolgten Suizid des Protagonisten seine Kollegen ermahnt, dass man die Schule »vor den Verheerungen einer Selbstmordepidemie zu schützen habe, wie sie bereits an verschiedene Gymnasien zum Ausbruch gelangt« (FE 54) sei. Dieser kurze Einblick in die an der Schwelle zum 20. Jahrhundert geführten Debatten um die Erziehung der Jugend sollte ausreichen, um zu verdeutlichen, dass in Wedekinds Drama verschiedene Aspekte anklingen, die auch in den außerliterarischen Diskursen um 1900 als reformpädagogische Argumente gegen den Zustand des Bildungssystems ins Feld geführt wurden. Das gilt konkret für den Überbürdungsvorwurf, für die Wahrnehmung einer Selbstmordepidemie an den Gymnasien und mit Einschränkungen auch für die angeblich durch die Schule begünstigte Verbreitung von Nervosität und Neurasthenie. Gleichwohl aber geht die Kritik am schulischen Subjektivierungsregime in Frühlings Erwachen noch über diese zeittypischen Vorwürfe hinaus und wird auf andere Erziehungspraktiken ausgeweitet. Konkret zielt diese Kritik im Text vor allem auf die Disziplinartechnik der Prüfung. Eine erste Klage über die besondere Beschaffenheit dieser Praktik findet sich bereits zu Beginn des Dramas. Hier bemängelt Moritz: »Wozu gehen wir in die Schule? – Wir gehen in die Schule, damit man uns examinieren kann! – Und wozu examiniert man uns? – Damit wir durchfallen. – Sieben müssen ja durchfallen, schon weil das Klassenzimmer oben nur sechzig faßt.« (FE 11)

Foucault bemerkte über die Disziplinartechnik der Prüfung im Allgemeinen, sie kombiniere »die Techniken der überwachenden Hierarchie mit denjenigen der normierenden Sanktion. Sie errichtet über den Individuen eine Sichtbarkeit, in der man sie differenzierend behandelt« (Foucault 2008a, 890). Die besondere

127 In dieser Hinsicht bestätigen die Ergebnisse von Hahn die Position, die bereits in den Diskursen um 1900 von verschiedenen Autoren wie Eulenburg oder Gerhardt vertreten wurden. Vgl. Hahn 1994, 160. 128 Für einen allgemeinen Überblick über die Auseinandersetzungen um eine Reformierung des Bildungswesen und zur Kritik am Gymnasium im ausgehenden 19. Jahrhundert vgl. Oelkers 1989, Hermann 1991 sowie Radkau 1998.

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Perfidie der in Frühlings Erwachen dargestellten Ausformung dieser Praktik besteht darin, keine absolute Leistungsnorm zu definieren, die theoretisch alle Schüler erreichen könnten. Die zu erreichende Norm verhält sich vielmehr relativ zur Leistung der Gruppe und ist so festgelegt, dass es auf jeden Fall zu einem Ausschluss der leistungsschwächsten Schüler kommt. Ihre disziplinierende Wirkung entfaltet diese Praktik nicht zuletzt, indem das Subjektivierungsregime jederzeit transparent macht, welche Schüler gefährdet sind. In der vierten Szene rechnet ein Mitschüler Moritz dessen Situation vor: »Die Eselsbank abgerechnet zählen wir mit dir und Röbel zusammen einundsechzig, während oben das Klassenzimmer mehr als sechzig nicht fassen kann.« (FE 24) Die Einrichtung einer ›Eselsbank‹ für die leistungsschwächsten Schüler markiert ihrerseits eine bestimmte Technik, die auf eine sichtbare Anordnung der Schüler abzielt und die die Klasse in zwei unterschiedliche Stufen teilt. Foucault hat für Techniken dieser Art eine zweifache Aufgabe herausgearbeitet: »Sie soll die Abstände markieren, die Qualitäten, Kompetenzen und Fähigkeiten hierarchisieren; sie soll aber auch bestrafen und belohnen. Die Reihung wirkt sanktionierend, die Sanktion wirkt ordnend.« (Foucault 2008a, 887) Für die beiden nicht zur Eselsbank zählenden, aber ebenfalls versetzungsgefährdeten Figuren Moritz Stiefel und Ernst Röbel hält die Schule indes noch besondere Form der Prüfung bereit. Beide Schüler werden zunächst provisorisch versetzt und »während des ersten Quartals soll sich dann herausstellen, wer dem anderen Platz zu machen hat« (FE 24). Diese Regelung dehnt das Prinzip von Schule als »einem pausenlos funktionierenden Prüfungsapparat, der den gesamten Unterricht begleitet« (Foucault 2008a, 892) ins Extreme aus, indem es eine durchgängige Konkurrenzsituation zwischen Moritz und Ernst Röbel etabliert, innerhalb derer der Zwischenstand dieser Situation den betroffenen Protagonisten jederzeit drohend vor Augen steht.129 So weiß Moritz zu Beginn des zweiten Aktes genau: »Ernst Röbel hat seit den Ferien schon sechsmal nichts gekonnt; dreimal im Griechischen, zweimal bei Knochenbruch; das letztemal in der Literaturgeschichte. Ich war erst fünfmal in der bedauernswerten Lage; und von heute ab kommt es überhaupt nicht mehr vor.« (FE 30) Der gesamte Unterricht wird für Moritz zu einer einzigen Prüfungssituation, die einen enormen Disziplinierungsdruck auf ihn ausübt. Die verschiedenen, hier als Disziplinartechniken eines auf das Subjekt einwirkenden Regimes geschilderten Praktiken führen dazu, dass sich Moritz dem

129 Daneben entlarvt diese Regelung die zuvor ins Feld geführte Begründung, es müssten sieben Schüler sitzen bleiben, weil der Klassenraum nur sechzig Personen fasst, als Scheinargument. Denn ganz offensichtlich ist rein räumlich betrachtet sowohl für Moritz als auch für Ernst Röbel Platz im Klassenzimmer.

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damit verbundenen und genuin bürgerlichen Leistungsethos130 vollständig unterwirft – mit all den damit verbundenen und im Drama geschilderten, gesundheitlichen Konsequenzen. Moritz wird nicht als eine Figur dargestellt, die in der Lage wäre, sich der auf ihn einwirkenden Disziplinarmacht dieses Regimes zu entziehen oder diese zu unterlaufen. Vielmehr ist seine Subjektivierung hin zu einem bis zur Besessenheit arbeitenden Schüler selbst ein Effekt dieser Disziplinarmacht.131 Widerständige Momente einer Selbst-Bildung werden – anders als beispielsweise bei Melchior – nicht geschildert; Moritz Subjektivierung erscheint vielmehr als eine durch die Disziplinarmacht mittels verschiedener Disziplinartechniken forcierte Einpassung in eine vorgesehene Subjektform. Dieser Vorgang entspricht dem, was Foucault als »Unterwerfung« (Foucault 2008a, 927) bezeichnet, wobei die griffigste Formel für diesen Prozess von Moritz selbst artikuliert wird: »Man hat mich gepreßt.« (FE 46) Die Einpassung in eine Subjektform schildert der Text damit als eine fast gewaltsame Einpressung. Die besondere Perfidie dieses Vorgangs besteht gerade darin, dass Moritz trotz der vollständigen Unterwerfung unter die Anforderungen des schulischen Subjektivierungsregimes letztlich aus seinem Sozialverband (seiner Schulklasse) ausgestoßen wird.132 Weil das schulische Subjektivierungsregime zwangsweise Ausschluss produzieren muss,133 bleiben Moritzʼ intensive Bemühungen erfolglos.

130 Zu diesem Arbeitsethos bemerkt Gunilla Budde: »Da jedoch auch schon die kleinen Bürgerinnen und Bürger Regelmäßigkeit und Pflichterfüllung zum Richtmaß ihrer Lebensführung wählen sollten, unterstand bereits ihr Kinderalltag vor Schulbeginn einem dicht gefüllten Stundenplan. Früh sollten die Bürgerkinder ökonomische Zeiteinteilung, Selbstdisziplin und unermüdlichen Fleiß beweisen. Schulischen Leistungsdruck bekamen dann hingegen vor allem die Söhne zu spüren.« (Budde 1994, 405) 131 Foucault konstatiert hierzu: »Letzten Endes steht das Examen im Zentrum der Prozeduren, die das Individuum als Effekt und Objekt von Macht, als Effekt und Objekt von Wissen konstituieren. (Foucault 2008a, 898) Ferner bilanziert er: »Zunächst das Spital, dann die Schule, noch später die Werkstatt: sie sind durch die Disziplinen nicht einfach ›in Ordnung gebracht‹ worden; vielmehr sind sie dank ihnen solchermaßen zu Apparaten geworden, daß jeder Objektivierungsmechanismus darin als Subjektivierungs/ Unterwerfungsinstrument funktioniert.« (ebd., 931) 132 Schönborn

spricht

in

diesem

Zusammenhang

von

einem

»zynisch-

menschenverachtende[m] System« (Schönborn 1999, 556) und Richter konstatiert »drastische Zwänge einer lebensfremden Schule« (Richter 2000, 152). 133 Das im Drama implizit geschilderte Bestreben des Gymnasiums, die Klassengrößen zu reduzieren und Schüler auszuschließen, findet in den zeitgenössischen Diskursen

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Dementsprechend konstatiert er am Ende resigniert: »Ich passe nicht hinein.« (FE 46), woraus er die Konsequenz zieht, sich das Leben zu nehmen. Die obenstehend ausgeführten Aspekte sind die Faktoren, die in der Hauptsache zu Moritzʼ Suizid führen. Drei weitere Punkte, die außerdem mit dem Suizid des Protagonisten verbunden sind, möchte ich nur kurz anreißen. Erstens entfaltet das schulische Subjektivierungsregime seine Wirksamkeit nicht nur in entpersonalisierten Praktiken, sondern unter Beteiligung von Subjektivierungsregisseuren, die in diese Praktiken involviert sind oder sie anleiten. Als solche erscheinen im Drama zunächst die Lehrerfiguren, deren Darstellung nicht nur ihrer Namen wegen karikaturistische Züge trägt.134 Das satirische Lächerlich-Machen der Pädagogen nimmt der Kritik an dem Bildungssystem nichts von seiner Schärfe, sondern akzentuiert diese Kritik lediglich auf eine andere Weise. Die Schüler erscheinen im Drama als Opfer eines von unfähigen Erziehern getragenen Bildungssystems, wobei das dargestellte Verhalten der Lehrer an verschiedenen Stellen immer wieder vom Komischen ins Zynische übergeht. Dies gilt beispielsweise für die gänzlich empathielose Reaktion des Rektors Sonnenstich auf die ihm vom Hänschen überbrachte Nachricht vom Tod eines Mitschülers: »›So?‹ sagte Sonennstich, ›hast du von letzter Woche her nicht noch zwei Stunden nachzusitzen? […]‹. Hänschen war wie gelähmt.« (FE 33) Zweitens stehen in Frühlings Erwachen auch die an Moritz gestellten Ansprüche speziell von Seiten seines Vaters mit am Pranger. Dessen vom kleinbürgerlichen Aufstiegsehrgeiz135 geprägte Erwartungshaltung wird von Moritz

ein Äquivalent in der Klage über die angebliche »Akademikerschwemme« (Radkau 1998, 318). In den Reformdiskussionen wurde argumentiert, die Öffnung der Universitäten für die Absolventen von Realgymnasien in den 1870ern erzeuge eine »schwerwiegende Überfüllung aller akademischen Berufe« (Albisetti/Lundgreen 1991, 230), der es durch eine Reduzierung der Abiturientenzahlen entgegenzuwirken gelte. Dabei wurde ein Struktur- und Funktionswandel angestrebt, der nicht nur darauf abzielte, »die zukünftigen Eliten zum Abitur zu führen, sondern auch darin, die traditionell am Abitur orientierten sozialen Gruppen gegen den Andrang aus niederen sozialen Schichten abzuschirmen« (ebd., 248). Als Spross einer kleinbürgerlichen Familie (siehe FN 234) zählt auch Moritz zu dieser ›niederen‹ Schicht, die seit den 1870ern in die akademischen Berufe drängte. 134 Das Karikaturenhafte der Lehrerfiguren ist ausführlich unter anderem bei Splitter 1999, 34-36 herausgearbeitet worden. Vgl. ferner Schmidt-Bergmann 2002, 114. 135 Das Herkunftsmilieu Moritz Stiefels ist in der Sekundärliteratur umstritten. Einige AutorInnen, wie etwa Schönborn, sind der Ansicht, diese Figur sei dem Bildungs-

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mehrfach als Grund für seinen schulischen Ehrgeiz angeführt (vgl. FE 11, 31). Dieser »Erwartungsdruck seines Vaters […], der den schulischen Erfolg seines Sohnes erzwingen will« (Splitter 1999, 32),136 ist nicht bloß von Moritz imaginiert, wie die Darstellung seiner Beerdigung offenbart. Hier wird in einer wiederum satirische Züge tragenden Weise die Abwendung des Vaters von seinem gescheiterten und in Ungnade gefallenen Sohn dargestellt, indem Rentier Stiefel wiederholt bekundet: »Der Junge war nicht von mir! Der Junge hat mir von kleinauf nicht gefallen!« (FE 60) In gewisser Weise erscheinen damit Eltern und Lehrer Teil des gleichen Subjektivierungsregimes, wie dies auch in der außerliterarischen Realität zur Entstehungszeit des Dramas nicht ungewöhnlich war. Denn »in Konfliktfällen [...] stellten sich bürgerliche Eltern eher auf die Seite der Schule als auf die ihrer Kinder« (Berg 1991, 118), was auch für kleinbürgerliche Eltern galt. Drittens ist die Tabuisierung von Sexualität ebenfalls eine Praktik des schulischen Subjektivierungsregimes. Vor allem in der Szene, in der die Lehrer über Melchior zu Gericht sitzen, wird deutlich, wie die Institution Schule jeden Versuch der Thematisierung von Sexualität im Namen der »Empfindungen für die Diskretion der Verschämtheit einer sittlichen Weltordnung« (FE 59) aktiv unterbindet. Wenngleich auch die Darstellung einer »strikten Tabuisierung« (Noob 1998, 129) von Sexualität im Drama zugespitzt ist, so verweist dies dennoch auf die in der zeitgenössischen Pädagogik relevante Vorstellung, nach der das »Ignorieren der eigenen Sexualität […] als Voraussetzung für den schulischen Lernerfolg [galt]. Ganz konsequent bestand deshalb die Sexualerziehung im Wesentlichen darin, dass sie unterblieb.« (Splitter 1999, 19) Diese gezielte Desinformation der Jugendlichen in sexuellen Fragen trägt im Drama ihren Teil zu Moritz allgemeiner Verunsicherung bei. Trotzdem darf ihre Bedeutung für den Suizid nicht überschätzt werden, denn gegenüber den überbürdenden Praktiken des Schulsystems spielt die Tabuisierung der Sexualität unter den Ursachen von Moritzʼ Selbsttötung eine deutlich untergeordnete Rolle.

bürgertum zuzurechnen. Vgl. Schönborn 1999, 556. Plausibler scheint mir hingegen die Position von Splitter und Noob, die unter anderem auf Basis der sprechenden Figurennamen im Drama bei der Familie Stiefel eine kleinbürgerliche Herkunft aus dem Handwerk annehmen. Vgl. hierzu Splitter 1999, 32 u. Noob 1998, 140. 136 In Übereinstimmung mit dem Dargelegten kommen auch Bosse und Renner zu dem Schluss, dass Moritz die »Anforderungen der Schule (und seines Vaters) zu Tode peinigen« (Bosse/Renner 2011, 68).

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4.5.5 Das Motiv der Kopflosigkeit im Kontext des Suizids Nachdem die Ursachen des in der Tragödie dargestellten Suizids erörtert wurden, richtet sich der Blick nun auf die Verbindung dieses Suizids mit dem für das Drama wichtigen Motiv der Kopflosigkeit. Verschiedene Autoren interpretieren dieses im Kontext der Sexualität. Das Märchen von dem König mit den zwei Köpfen erscheint beispielsweise aus einer psychoanalytischen Perspektive als »symbolische Darstellung der Bisexualität« (Hitschmann 1976, 106), der Schuss in den Kopf markiere ein Scheitern an der Geschlechtsnorm (vgl. Schönborn 1999, 571) oder sei eine »symbolische Kastration« (Whittaker 2013, 142). In Abgrenzung zu diesen Positionen liest Jelavich das Motiv der Kopflosigkeit als eine »allegory off the educational system which limits the education allotted to girls but over-emphasizes the intellectual training of boys, whereby ›headless queens‹ and ›two-headed kings‹ are produced« (Jelavich 1983, 132). In eine ähnliche Richtung zielt Florack, die konstatiert, Moritz müsse »geistig so intensiv arbeiten, daß er buchstäblich nicht mehr weiß, wo ihm der Kopf steht« (Florack 1994, 334). Beide Interpreten deuten das Motiv der Kopflosigkeit im Zusammenhang mit der schulischen Überbürdung des Protagonisten. Mit Blick auf die herausgearbeitete, exponierte Bedeutung der Überbürdung für Moritz und seinen Suizid scheint die Position von Florack und Jelavich plausibler als die der übrigen Autoren. Für die Lesart des Motivs der Kopflosigkeit im Kontext eines den Protagonisten überfordernden Schulsystems sprechen zudem zwei weitere Argumente. Das erste betrifft die Position und den Kontext, in dem dieses Motiv ins Drama eingeführt wird. Das nach einhelliger Forschungsmeinung wichtigste Element dieser Motiv-Kette ist das Märchen von der Königin ohne Kopf. Das erste Mal erwähnt und ausführlich nacherzählt wird dieses Märchen in der ersten Szene des zweiten Aktes. Dabei handelt es sich um jene Szene, in welcher ausführlich der oben beschrieben Druck des schulischen Subjektivierungsregimes mit all seinen körperlichen und geistigen Auswirkungen auf Moritz geschildert wird. Bevor er die Geschichte von der kopflosen Königin erzählt, fabuliert Moritz über seinen Lerneifer137 und die tödlichen Konsequenzen, die ein Scheitern in der Schule für ihn haben würde.138 Auf die Wiedergabe des Märchens folgt

137 »Ich will arbeiten und arbeiten, bis mir die Augen zum Kopf herausplatzen.« (FE 30) Auch in dieser Formulierung ist das im Suizid verwirklichte Motiv des platzenden Kopfes bereits präfiguriert. 138 »So was erlebt man nicht!« (FE 31); »Dafür bürgt mir die unabänderliche Konsequenz, daß ich nicht stürze, ohne das Genick zu brechen.« (ebd.)

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unmittelbar die Passage, in der Frau Gabor den durch den Lerneifer hervorgerufenen, schlechten körperlichen Zustand des Protagonisten anmahnt (vgl. FE 32). Das Sprechen über Sexualität hingegen spielt im Kontext der eindeutig von der Schulthematik eingerahmten Erzählung dieses Märchens keine Rolle. Zweitens deutet ein weiteres Indiz auf eine Verbindung zwischen dem Motiv der Kopflosigkeit und der Überbürdung hin. Moritz beschließt seine Erzählung des Märchens unmittelbar mit dem Satz: »Seit den Ferien kommt mir die kopflose Königin nicht aus dem Kopf.« (FE 32) In der Forschungsliteratur hat bisher kein Interpret der Temporalangabe »seit den Ferien« Beachtung geschenkt. Dabei ist der Handlungszeitpunkt,139 an dem Moritz über die Kopflosigkeit nachzudenken beginnt, für eine Deutung dieses Motivs durchaus aufschlussreich, weil er auf eine bestimmte Situation verweist, in der die Kopflosigkeit plötzlich relevant wird. Bei einer genauen Lektüre stellt sich heraus, dass die Ferien im Drama zuvor nur einmal erwähnt werden und zwar im Zusammenhang mit Moritzʼ Wettstreit gegen Ernst Röbel: »Ernst Röbel hat seit den Ferien schon sechsmal nichts gekonnt.« (FE 30) Diese Erwähnung findet in der gleichen Szene statt, in der auch das Märchen von der Kopflosigkeit eingeführt wird. Wenn nun Moritz bekundet, er müsse seit den Ferien immer an die kopflose Königin denken, so scheint es plausibel, diesen Kommentar im Kontext seiner seit den Ferien deutlich verschärften, schulischen Situation zu interpretieren. Kurz gesagt: So wie das Märchen ins Drama eingeführt und so wie es innerhalb der dargestellten Handlung des Schauspiels situiert ist, bezieht es sich nicht auf die Sexualitätsthematik, sondern auf das Problem der Schülerüberbürdung, welches für die Moritz-Figur ohnehin der wichtigere Aspekt ist. Was aber bedeutet das Märchen, wenn man es unter dieser Prämisse in den Blick nimmt? Betrachtet man die fast parabelhafte Geschichte zunächst ohne über den Text hinausgehende Annahmen, wie diese beispielsweise von psychoanalytischen Ansätzen vorausgesetzt werden, so hat das Märchen zunächst eine vergleichsweise einfache Botschaft. Für den König ist es ebenso problematisch, zwei Köpfe zu haben, die sich »das ganze Jahr in den Haaren lagen« (FE 32), wie es für die Königin problematisch ist, überhaupt keinen Kopf zu haben und

139 Zur Zeitstruktur in Frühlings Erwachen ist an dieser Stelle unter Rückgriff auf das theoretische Vokabular Manfred Pfisters (vgl. nachfolgend Pfister 1997, 369) anzumerken, dass in Wedekinds Drama eine offene Zeitstruktur vorliegt. Die fiktive gespielte Zeit beträgt mehrere Wochen und übersteigt die reale Spielzeit deutlich, was im Wesentlichen durch eine außerszenische Raffung hergestellt wird. So vergehen beispielsweise zwischen dem ersten und dem zweiten Akt innerhalb der fiktiven gespielten Zeit die gesamten Schulferien und einige Wochen des neuen Schuljahrs.

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damit »nicht essen, nicht trinken, [...] nicht sehen, nicht lachen« (FE 31) zu können. »Glücklich« (FE 32) werden beide erst, nachdem der König der Königin einen Kopf abgegeben hat. Im Kern besteht die Lehre dieses Märchens also darin, das richtige Maß zu finden und zwar zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig an Kopf. Jelavichs Interpretation zielt nun darauf ab, dieses Zuwenig bzw. Zuviel an Kopf als ein Zuwenig bzw. Zuviel an Bildung zu begreifen, wobei Letztgenanntes auf genau jene schulische Überforderung des Protagonisten zielt, die oben skizziert wurde. Die Plausibilität dieser Interpretation Jelavichs stützt der Überbürdungs-Kontext, in den das Märchen im Drama eingebettet ist. Dafür spricht ferner die Tatsache, dass die Idee von der Schädlichkeit exzessiver Kopfarbeit in den zeitgenössischen Diskursen über das Schulwesen weit verbreitet war. Im Publikationsjahr von Frühlings Erwachen erschien auch eine wichtige Streitschrift Albert Eulenburgs, in welcher der Autor scharf die »Schädigung durch seitens der Schule auferlegte überwiegende Kopfarbeit (Gehirnarbeit)« (Eulenburg 1891, 26) bemängelte. Zudem waren bereits vor der Veröffentlichung von Frühlings Erwachen Studien erschienen, welche die »Verursachung von Kopfweh durch Überbeanspruchung« (Oelkers 1989, 249) nachgewiesen hatten. Dies führte alsbald zu der Etablierung des Begriffs vom ›Schulkopfschmerz‹,140 der als Resultat der Überschreitung der kognitiven Kapazitäten der Schüler in Folge des sich explosionsartig vermehrenden Wissensstoffes (vgl. Whittaker 2013, 45) gedeutet wurde. Wenn man von dieser Interpretation des Märchens ausgeht, so lässt sich der im weiteren Verlauf des Dramas eintretende und im Suizid vollendete Kopfverlust Moritzʼ verstehen als eine Metapher für die verheerenden Folgen des durch Schule (und Eltern) erzeugten, überbürdenden Leistungsdrucks. Das Motiv der Kopflosigkeit taucht nach der Einführung des Märchens im Text wieder auf, als Moritzʼ Scheitern in der Schule endgültig feststeht. In einem Brief warnt Frau Gabor Moritz indirekt davor, »den Kopf zu verlieren« (FE 44) und ermahnt ihn: »Kopf hoch, Herr Stiefel!« (FE 45) Beide Formulierungen sind für sich genommen zunächst lediglich Redewendungen, die im alltagssprachlichen Gebrauch ein unbedachtes Handeln bezeichnen bzw. als Aufmunterung

140 Dieser Begriff findet sich auch in einer weiteren bedeutenden Streitschrift. Emil Hartwich beklagt in Woran wir leiden, die Schüler »zermartern ihr junges Hirn mit einer Masse von Zeug und Kehricht« (Hartwich 1882, 11). Dies führe zu jenen Fällen von »Schulkopfschmerzen, die schon eine ganz erschreckende Ausbreitung gewonnen haben!« (ebd.). Dabei handelt es sich übrigens um den gleichen Emil Hartwich, der Fontane als Vorlage zur Figur des Major Crampas diente. Vgl. zum Schulkopfschmerz ferner Whittaker 2013, 52.

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fungieren. Im Zusammenhang mit der das Drama durchziehenden Symbolik aber verweisen sie auch auf die sich abzeichnenden Folgen der geistigen Überbürdung, deren Konsequenz für Moritz am Ende in einem wortwörtlichen Verlust des Kopfes besteht. In der Szene vor seinem Suizid wird das Motiv erneut aufgegriffen, hier monologisiert Moritz: »Das Leben hat mir die kalte Schulter gezeigt. Von drüben her sehe ich ernste freundliche Blicke winken: die kopflose Königin, die kopflose Königin – Mitgefühl, mich mit weichen Armen erwartend.« (FE 48) Moritz imaginiert an dieser Stelle die kopflose Königin als die ihn mit offenen Armen erwartende Alternative zu jenem Leben, über welches der Protagonist in der gleichen Szene bemerkt: »Ich passe nicht hinein. Mögen sie einander auf die Köpfe steigen. – Ich ziehe die Tür hinter mir zu und trete ins Freie.« (FE 46) Moritz schließt in dieser Passage mit seinem Dasein ab, das von Leistungsdruck und Disziplinierung durch das schulische Subjektivierungsregime geprägt war und begibt sich sinnbildlich in die ›offenen Arme‹ der kopflosen Königin. Wenn sich der Protagonist beim Beschreiten dieses Ausweges aber buchstäblich seines Kopfes entledigt, so ist dies natürlich zwangsläufig gleichbedeutend mit dem Tod. Aufschlussreich ist überdies, dass Moritz mit seinem Suizid nicht etwa als dramatis personae ausscheidet, sondern in der letzten Szene als Geist mit dem »Kopf unter dem Arm« (FE 79) erneut auftritt. Wie Florack herausarbeitet, rekurriert Wedekinds Drama in dieser Szene auf die im Volksglauben weit verbreitete Vorstellungen von kopflosen Wiedergängern (vgl. Florack 1997, 341f.), die, wenn sie eines unnatürlichen Todes gestorben sind, als Gespenster mit dem Kopf unter dem Arm in die Welt der Lebenden zurückkehren.141 Unabhängig von der Bedeutung dieser mit phantastischen Zügen versehenen Schlussszene ist an dieser Darstellung bemerkenswert, dass die über weite Strecken des Textes metaphorische Bedeutung der Kopflosigkeit nun direkt Teil des auf der Bühne dargestellten Geschehens wird. Jelavich konstatiert hierzu: »By blowing his brains out, Moritz becomes, quite literally, a ›headless queen‹, who carries his head under his arm in the final scene.« (Jelavich 1983, 132) Damit verbunden aber ist ein Wechsel der Ebene. Vor dem Suizid war die Kopflosigkeit eine über das Geschehen innerhalb der erzählten Welt und die Perspektive der einzelnen Figuren hinausgehende Metapher und damit kompositorisch motiviert. Durch Moritz Su-

141 Im Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens heißt es hierzu: »Besonders erscheinen alle die kopflos, die eines vorzeitigen, gewaltsamen oder unnatürlichen Todes gestorben sind. […] Sie erscheinen entweder ganz ohne Kopf oder sie tragen ihn mit sich, unter dem Arm […]. Die kl.en Wiedergänger erscheinen meist in der Nähe ihres Grabes.« (Lerche 1932, 216-218.)

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izid und sein Auftreten als Wiedergänger aber avanciert diese Metapher zu einer wortwörtlichen Kopflosigkeit auf der Ebene der erzählten Welt, die am Ende Teil der auf der Bühne dargestellten Handlung ist. 4.5.6 Von der metaphorischen zur buchstäblichen Kopflosigkeit Auf den vorangehenden Seiten wurde argumentiert, dass das für das Drama zweifelsohne wichtige Motiv der Kopflosigkeit nicht in erster Linie im Zusammenhang mit den Problemen des Protagonisten steht, sich in der heteronormativen Geschlechterordnung zurechtzufinden. Vielmehr scheint es so, als beziehe sich dieses Motiv auf jenen Problemkomplex der schulischen Überforderung, der im vorangehenden Kapitel wie auch in den zeitgenössischen Diskursen unter dem Begriff der Überbürdung verhandelt wurde. Für diese Lesart sprechen meines Erachtens drei Argumente. Erstens ist im Zusammenhang mit der MoritzFigur das Problem der Überbürdung allgemein von größerer Bedeutung als das Problem der Sexualität. Moritzʼ Suizid erscheint nicht das Resultat sexueller Irritationen, sondern als das Ergebnis seiner Überbürdung und als Effekt der verschiedenen Disziplinartechniken des schulischen Subjektivierungsregimes, dessen Anforderungen das Handeln des Protagonisten im Drama maßgeblich bestimmen. Für dieses Motiv ist zweitens das Märchen von der kopflosen Königin entscheidend. Dieses Märchen aber wird nicht im Zusammenhang mit der Sexualitätsthematik ins Drama eingeführt, sondern ist im Text in die Darstellung der Überbürdungsfolgen eingebettet. Drittens spielt das Sprechen über den Kopf nicht nur in Frühlings Erwachen, sondern auch in den zeitgenössischen Diskursen über die Überbürdung eine tragende Rolle. Verschiedene Positionen innerhalb dieser Diskurse teilen mit Wedekinds Drama die Vorstellung einer Schädigung des Kopfes durch die geistige Überbürdung der Schüler. Dort aber, wo in diesen Diskursen die Beeinträchtigung des Kopfes vor allem somatisch und als Schädigung des Geistes gedacht wird, geht Wedekinds Drama einen Schritt weiter, indem es die Schädigung des Kopfes bis zu seiner vollständigen physikalischen Zerstörung vorantreibt, welche im Platzen des Schädels kulminiert. Ausgehend von diesen Überlegungen steht das Motiv der Kopflosigkeit metaphorisch für all jene Schädigungen, die durch das wilhelminische Bildungswesen im Allgemeinen und das Gymnasium im Speziellen an den Schülern hervorgerufen werden.142 Wedekinds Drama stellt das Gymnasium als eine Bildungsin-

142 Hier zeigt sich an Frühlings Erwachen eines der besonderen Potenziale von Literatur. Wedekind gelingt es, die in den zeitgenössischen Diskursen auf vielen tausend

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stitution dar, welche durch systematische Überbürdung und im Grunde perverse Disziplinartechniken Schüler mit – salopp formuliert – zerstörten Köpfen produziert. Wenn sich Moritz am Ende des Textes den Schädel buchstäblich wegsprengt, so destruiert er damit in radikaler Weise jenes mit lauter »Bildungsballast« (Florack 1997, 341) angefüllte Körperteil, auf das die Disziplinierungsanstrengungen des schulischen (und elterlichen) Subjektivierungsregimes maßgeblich gerichtet waren. Anders formuliert: Das Sprichwort vom Krug, der zum Brunnen geht, bis er bricht, gilt auch für Moritz: Das als perfide erscheinende Schulsystem quält ihn so lange, bis der Protagonist keine andere Möglichkeit mehr sieht, als sich den gemarterten Schädel gewaltsam vom Körper abzutrennen. Moritz vertauscht die durch den doppelköpfigen König vertretene, vollständige Unterwerfung unter die zerstörerischen Anforderungen des Subjektivierungsregimes gegen die durch die kopflose Königin repräsentierte und nicht weniger zerstörerische Alternative, sich diesem Regime vollständig und endgültig durch Suizid zu entziehen. Der im Märchen durch die Aufteilung der Köpfe vollzogene, glückliche Ausgleich zwischen beiden Positionen gelingt dem Protagonisten im Drama nicht. Alles in allem ist das Bedeutsame an der im Text gewählten Suizidmethode also vor allem das Resultat, zu dem diese Methode führt.143 Der durch die besondere Art des Pistolensuizids verursachte Verlust des Kopfes schließt unmittelbar an das für den Text wichtige Motiv der Kopflosigkeit an. Die metaphorische Bedeutung dieses Motivs geht über die Ebene der erzählten Welt und die Perspektive der einzelnen Figuren hinaus. Die Suizidmethode ist insofern Teil der kompositorischen Motivierung des Geschehens, als ihre Funktion darin besteht, Mo-

Seiten entfaltete Kritik an den Folgen des Bildungswesens in einem einzigen Motiv zu verdichten. 143 Dieses Ergebnis einer kopflosen Leiche hätte möglicherweise auch durch andere, zumindest theoretisch denkbare Suizidmethoden wie Selbstguillotinierung oder dergleichen plausibel begründet werden können. Allerdings scheinen alle anderen Todesarten, die zum gleichen Effekt führen können, ungleich abwegiger als die im Drama realisierte Suizidmethode. Zudem kursierten in den Debatten über den Schülersuizid, etwa im 1907 publizierten Aufsatz Schülerselbstmorde von Albert Eulenburg, vereinzelt auch die Vorstellung, Schüler würden sich vorwiegend mittels Schusswaffen das Leben nehmen. Eine 1914 publizierte Monographie des gleichen Autors, in der mehr als 100 Schülersuizide aufgelistet werden, relativiert diesen Eindruck allerdings etwas. Vgl. Eulenburg 1914.

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ritzʼ Tod unmittelbar mit dem Motiv der Kopflosigkeit zu verbinden.144 Dadurch wird zugleich die auf zwei unterschiedlichen Ebenen formulierte Kritik am Schulwesen zusammengeführt. Diese Kritik wird im Drama einerseits auf der Ebene der erzählten Welt artikuliert, indem hier die von verschiedenen Figuren kritisch kommentierten Ursache-Wirkungszusammenhänge offengelegt werden, aus denen Moritzʼ Suizid als das Resultat »drastische[r] Zwänge einer lebensfremden Schule« (Richter 2000, 152) erkennbar wird. Parallel dazu wird auf der Ebene der Textkomposition das Motiv der Kopflosigkeit etabliert, welches metaphorisch auf die gleichen Missstände im Bildungswesen rekurriert.145 Beide Aspekte verbinden sich in der Art des Suizids, bei dem Moritz infolge des schulischen Leistungsdrucks seinen Schädel vom Körper abtrennt und damit jene Kopflosigkeit herstellt, die zuvor im Drama metaphorisch bereits auf die Gefahren einer ruinösen Subjektivierung verwiesen hatte. Diese geschickte Zusammenführung von Handlung und auf die Handlung verweisender Bildlichkeit im Suizid des Protagonisten wird in Frühlings Erwachen allerdings noch einen Schritt weitergeführt, indem Wedekind Moritz in der Schlussszene seines Dramas als kopflosen Wiedergänger auftreten lässt. Die Möglichkeit, Moritz am Ende als kopflose Figur auf die Bühne zu bringen, begründet sich kausal aus der Art seines Suizids, was im Text auch explizit ausgewiesen wird: »DER VERMUMMTE HERR: [...] Warum haben Sie denn den Kopf nicht auf? MORITZ: Ich habe mich erschossen.« (FE 82) Gewiss wird diese Art des Transfers der Kopflosigkeit in die erzählte Welt hinein nur möglich durch einen Wechsel in den Modus des Phantastischen.146 Das ändert aber nichts daran, dass die Kopflosigkeit in der letzten Szene ein kausal motiviertes Element der erzählten Welt ist, auch wenn sich die Parameter dieser Welt im Vergleich zum Dramenbeginn verschoben haben. Damit aber kommt der im Wesentlichen kompositorischen Suizidmethode auch die Funktion einer Gelenkstelle zu: Die

144 Diese Funktion der Suizidmethode ist deshalb nicht kausal motiviert, weil sie nicht von Moritz intendiert ist und über den Horizont der handelnden Figuren hinausgeht. Zwar erzählt Moritz das Märchen von der kopflosen Königin, doch von einer das ganze Drama durchziehenden Motivkette hat diese Figur logisch keine Kenntnis, weil die metaphorische Bedeutung des Motivs nicht auf der Ebene der erzählten Welt situiert ist, sondern die Komposition des Textes betrifft. 145 Der Bezugspunkt dieses Motiv liegt allerdings wiederum auf der Ebene der erzählten Welt, womit die Bedeutung der Kopflosigkeit ihrerseits nur im Zusammenhang mit der Handlung verstehbar wird. 146 Zutreffend bemerkt Splitter über die Schlussszene: »Völlig jenseits aller realistischen Darstellung liegt die Schlussszene des Dramas.« (Splitter 1999, 59)

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besondere und mit einer Zerstörung des Schädels verbundene Suizidmethode ermöglicht es dem Drama, die auf der Ebene der Komposition situierte metaphorische Kopflosigkeit in eine auf der Handlungsebene situierte buchstäbliche Kopflosigkeit zu überführen und diese auf die Bühne zu bringen.

4.6 D ER T OPOS VOM HEROISCHEN S UIZID (Z WISCHENFAZIT ) Die im 19. Jahrhundert in Kultur und Wissenschaft verbreitete Vorstellung, der Pistolensuizid sei der Militärtod (Vgl. Osiander 1813, 138) und »Privilegium der besitzenden Classe« (Rehfisch 1893, 115) findet sich auch in literarischen Texten der letzten Jahrhundertwende wieder. Schach von Wuthenow, General Brandenberg, Lieutenant Gustl – die Liste der adeligen und/oder zum Offiziersstand gehörenden Figuren, die sich erschießen, ließe sich beliebig verlängern, etwa um Adam Petöfy, den Titelhelden in Fontanes Roman Graf Petöfy, oder um Dietz von Egloff, den Protagonisten aus von Keyserlings Abendliche Häuser, oder auch um Lieutenant Wilhelm Kasda in Schnitzlers Erzählung Spiel im Morgengrauen. Wenn sich adelige Offiziere in literarischen Texten erschießen, so bedurfte dies im zeitgenössischen Kontext offenbar keiner weiteren Begründung. Denn die Auswahl dieser Todesart war in aller Regel kausal motiviert und ahmte in einem impliziten Rückgriff auf die außerliterarische Wirklichkeit jenes suizidale Verhalten nach, welches für Offiziere und für adelige Männer dieser Zeit als typisch galt und tatsächlich auch typisch war. Als einer Thematisierung bedürftig erschien es im Gegenteil eher, wenn sich wie in Stine eine Figur adeliger Herkunft auf eine andere Weise als durch den explizit als standesgemäß ausgeflaggten Pistolensuizid das Leben nahm. Gerade in diesem mit einem Giftsuizid endenden Text Fontanes erscheint nicht der Geburtsstand der Figur als entscheidender Faktor für die Art ihres Ablebens, sondern ihr Selbstverständnis. Denn Waldemar von Haldern wird dezidiert als eine Figur geschildert, die keine adelige Identität ausgeprägt hat und deren adelige Subjektivierung insgesamt misslingt. Dementgegen handelt es sich im Schach von Wuthenow, Vae Victis! und Lieutenant Gustl um Protagonisten, die sich einiger Unterschiede zum Trotz doch in wesentlichen Punkten gleichen. Es handelt sich jeweils um die Darstellung von zeitgenössischen Offizieren, die sich an den gleichen Prinzipien von Ehre und Haltung orientieren und sich auch ihrem geschilderten Selbstverständnis nach als Offiziere begreifen. Auch die Ursachen ihrer Suizide sind anders gelagert als in Stine. Waldemar von Haldern tötet sich deshalb, weil es ihm nicht gelingt, für sich eine als akzeptabel empfundene Existenzweise zu finden. Die

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Offiziersfiguren hingegen nehmen sich das Leben, weil ihnen desperate äußere Umstände die Fortführung ihrer bisherigen Subjektivierung unmöglich erscheinen lassen. Im Zusammenhang mit dieser spezifischen Ursache der Selbsterschießung hat sich zudem die Möglichkeit eines tieferen Einblicks in die implizite Logik dieser literarisch repräsentierten Selbsttötungsart ergeben. Der Pistolensuizid stellt sich als eine Praktik dar, mit der das Subjekt einer erzwungenen De-Subjektivierung, beispielsweise durch ein Ausscheiden aus dem Offizierskorps, zuvorkommt. Diese De-Subjektivierung droht im Lieutenant Gustl und in Vae Victis! durch den Verlust der Ehre und im Schach von Wuthenow vor allem durch die Beschädigung der äußeren Form und Haltung. Entscheidend am Pistolensuizid ist vor allem, dass dieser Todesart eine bestimmte symbolische Bedeutung inhärent ist, mit der das suizidale Subjekt die Nachwelt adressiert. Weil diese Art des Suizids augenblicklich unumkehrbare Tatsachen schafft und keinen Spielraum für eine Rettung in letzter Sekunde eröffnet, galt sie als Ausdruck von Entschlossenheit, Mut und Todesverachtung. Gerade in einer adeligen und militärischen Subjektkultur aber, in der Ehre »auf weite Strecken identisch war mit der Anerkennung von Mut und Lebensverachtung« (Frevert 1991, 219), zielte der Vollzug dieser Praktik implizit darauf ab, jene männlich-militärischen Tugenden und Charaktereigenschaften in einem radikalen Akt der Verachtung eigenen Lebens unter Beweis zu stellen, welche bei einem Ehrverlust in Frage standen. An diesem für Adel und Offizierstum gleichermaßen verbindlichen Ehrbegriff, der historisch gesehen von der Aristokratie auf den gesamten Soldatenstand übergegangen war (vgl. Kühnel 2013, 200), orientieren sich sowohl Schach, als auch von Brandenberg als auch Lieutenant Gustl. Damit ist allerdings noch nicht gesagt, dass durch diese Art der Selbsttötung die bereits verlorene Ehre gerettet werden konnte. Wohl aber erscheint der Pistolensuizid etwa im Lieutenant Gustl als Möglichkeit, einerseits dem Bekanntwerden des Ehrverlusts zuvorzukommen und andererseits durch den Beweis von Mut, Entschlossenheit und Todesverachtung das Urteil der Nachwelt über den Suizidenten auch dann positiv zu beeinflussen, wenn dieser zuvor seine Ehre verloren hatte. Als Beleg dafür mag auch der unter anderem bei Minois zitierte Ausspruch eines englischen Edelmanns gelten, der über den Suizid eines Standesgenossen kommentierte: »Ich hätte ihm verziehen, wenn er sich eine Kugel in den Kopf gejagt hätte.« (Minois 1996, 274) Dieses Ergebnis steht allerdings in einer gewissen Spannung zu den Erkenntnissen, die unlängst Florian Kühnel in seiner Untersuchung der Selbsttötung von Adeligen am Ende der frühen Neuzeit gewonnen hat. Kühnel kam zu dem Ergebnis: »Niemals tötete sich ein Adeliger, um damit seine verlorene Ehre zurück zu gewinnen, und niemals wurde eine vollzogene Selbsttötung von den Standesgenossen als eine dem Ehrenkodex angemessene Hand-

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lung gewürdigt.« (Kühnel 2013, 197) Bei genauerer Betrachtung relativiert sich diese Spannung allerdings. Grundsätzlich konstatiert auch Kühnel in Übereinstimmung mit den hier gewonnen Ergebnissen, die Selbsterschießung sei eine Suizidart, die typisch für den Adel war und eine symbolische Bedeutung besaß (vgl. ebd. 199).147 Zudem bestreitet Kühnel auch nicht grundsätzlich den Zusammenhang zwischen Ehre, Ehrenrettung und Waffensuizid. Allerdings lokalisiert er diesen Zusammenhang ausschließlich auf der Ebene der kulturellen Vorstellungen im »Topos heroischer Suizid« (Kühnel 2013, 201), während er gleichzeitig bestreitet, »dass heroische Suizide auch in der kulturellen Praxis vorkamen« (ebd.).148 Wenn Kühnel damit Recht hat, so beträfe die in den Textanalysen herausgearbeitete Semantik des Pistolensuizids also nur die verbreitete kulturelle Vorstellung über diese Todesart, nicht aber ihren tatsächlichen praktischen Vollzug durch die zeitgenössischen Subjekte. Gleichwohl aber müsste erst noch überprüft werden, ob sich Kühnels zum Teil an Fallstudien aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts gewonnenen Erkenntnisse auch auf die empirische Suizidpraxis um 1900 übertragen lassen, in der beispielsweise die moralische Entpönalisierung des Suizids viel weiter vorangeschritten war (vgl. Schreiner 2003, 280). Ein Aspekt an den bisher untersuchten literarischen Suiziden, der recht deutlich eher am Topos vom heroischen Suizid orientiert ist denn an der realistischen Suizidpraxis, betrifft die Todesdarstellung der Figuren. Die erschossenen Protagonisten werden in der Regel aufrecht sitzend geschildert,149 wobei die Beschreibung klaffender Schusswunden oder die Anzeichen einer vorangegangenen Agonie dezidiert aus der Darstellung ausgeschlossen sind. Durch diese nicht nach realistischen Maßgaben gestaltete Stilisierung der Leichname wird den literarischen Figuren auch im Tod ein Mindestmaß an Würde und Haltung zugeschrieben. Das Aufgreifen des Topos vom heroischen und ehrenvollen Suizid bedeutet im Übrigen nicht automatisch, dass die Texte gegenüber dieser Art des

147 In Kühnels Interpretation beschränkt sich diese symbolische Bedeutung des Waffensuizids allerdings darauf, »ständisches Distinktionsmerkmal« (Kühnel 2013, 202) zu sein. Aus einer praxistheoretischen Perspektive wäre hier zu fragen, ob nicht die implizite Logik dieser Suizidpraktik und ihr symbolischer Gehalt über eine bloße Demonstration des Standesbewusstseins hinausgehen. 148 Grundsätzlich wäre hier zudem kritisch zu fragen, ob Kühnel in dieser apodiktischen Formulierung die Reichweite seiner an sechs Fallstudien gewonnenen Erkenntnisse nicht etwas überstrapaziert. 149 Vgl. über Schach von Wuthenow und Vae Victis! hinaus auch die Darstellung in Graf Petöfy oder Spiel im Morgengrauen.

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Todes eine unkritische oder gar apologetische Haltung einnehmen würden. Dieser Topos wurde schon im 18. Jahrhundert auch von den Kritikern der Aristokratie aufgegriffen, »die dem Adel damit […] eine krankhafte Ehrfixierung vorwarfen« (Kühnel 2013, 312). Diese kritische Position wurde oben insbesondere in den Analysen zu Schach von Wuthenow und Lieutenant Gustl herausgearbeitet. In keiner Beziehung zum Topos des heroischen Suizids steht die Selbsterschießung des Protagonisten in Wedekinds Drama Frühlings Erwachen. Die Selbsttötung in diesem Text unterscheidet sich in jeder Hinsicht von den zuvor untersuchten Fällen. Die Differenz besteht nicht nur in den Ursachen und der Stilisierung des Suizids oder dem gänzlich anders figurierten Protagonisten, sondern auch in der unterschiedlichen Art der Motivierung der Suizidmethode. Die nicht zu einer kausalen, sondern zu einer kompositorisch motivierten Geschehensdarstellung gehörende Suizidart bei Wedekind erfüllt vor allem die ästhetische Funktion, die Selbsttötung des Protagonisten bildlich mit dem für den Text zentralen Motiv der Kopflosigkeit zu verknüpfen. Daran wird bereits an diesem Punkt der Arbeit deutlich, dass sich das Potenzial literarischer Suiziddarstellungen längst nicht darin erschöpft, die Realität nachzuahmen.

5. Ophelias Brüder: Männlicher Wassersuizid

5.1 »L IEBER DER M ÜGGELSEE «: D IE K RISE DER BÜRGERLICHEN M ÄNNLICHKEIT IN H AUPTMANNS E INSAME M ENSCHEN In Gerhart Hauptmanns zuerst 1890/91 in der Zeitschrift Freie Bühne für modernes Leben veröffentlichtem Schauspiel Einsame Menschen wird der dramatische Konflikt auf eine Weise aufgelöst, die bis dato ungewöhnlich war und dadurch bemerkenswert erscheint: Zwar haben Suizide an und für sich seit jeher einen festen Platz im Repertoire der Tragödie. Für die Selbstertränkung einer männlichen Figur aber gab es vor Einsame Menschen in der deutschsprachigen Literatur im Allgemeinen und im deutschsprachigen Drama im Speziellen praktisch keine Vorbilder.1 Hauptmanns Protagonist Johannes Vockerat, der sich am Ende des Textes im Müggelsee ertränkt, ist also in gewisser Weise der Wegbereiter für das Motiv der männlichen Selbstertränkung, das nach 1891 von Hauptmann und anderen Autoren vermehrt aufgegriffen wurde. Dabei wird das Ertrinken der Hauptfigur, wohl auch oder sogar vor allem aus aufführungspraktischen Gründen, nicht direkt auf der Bühne dargestellt. Vielmehr bedient sich das Drama einer indirekten Art der Inszenierung des Suizids, bei der das Zusammenspiel aus dramatischem Nebentext, Botenbericht und den sich im Reden und Handeln der Figuren manifestierenden Symptomen des nahenden Todes2 recht eindeutig den Eindruck einer Selbstertränkung des Protagonisten evoziert. Nachdem Johannes bereits mehrfach seinen Suizid angedroht 1

Eine Ausnahme stellt lediglich Storms Novelle Der Schimmelreiter dar, bei dem das Ertrinken des Protagonisten Hauke Haien aber gänzlich anders gelagert ist, weil der Tod dort unmittelbar in den Themenkomplex des Kampfes zwischen dem Mensch und der Naturgewalt des Meeres eingebunden ist.

2

Vgl. zu den Symptome des nahenden Todes das Kapitel 4.4.1.

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hat, kündigt er kurz vor dem Ende des letzten Aktes an: »Dann machʼ ich einen Strich unter die Rechnung und – schließe – ab.« (EM 117) Nachdem Anna Mahr daraufhin trotzdem gegen seinen Willen abreist, tritt Johannes wenig später ein letztes Mal »totenblaß« (EM 121) auf der Bühne auf. Er »schreibt ein paar Worte, springt auf, wirft die Feder weg, stürzt davon« (ebd.). Als der zu Besuch kommende Braun kurz darauf schildert, wie er jemanden auf den Müggelsee hat hinausrudern sehen, lässt sich die nahende Katastrophe vor allem an der Reaktion der übrigen Figuren ablesen. Nachdem Johannesʼ Frau Käthe in Panik ausbricht (»Laufen Sie! Rennen Sie, um Gottes willen, so schnell sie können […] Ich fühlʼs ja doch! Er kann ja nicht mehr leben« (EM 124f.)) eilen die übrigen Figuren unter lautem Rufen von der Bühne. Käthe entdeckt Johannesʼ Abschiedsnachricht, liest diese »und bricht zusammen« (ebd.). Das Letzte, was bei diesem durch und durch dramatischen Ende des Schauspiels für den Zuschauer noch vernehmbar bleibt, ist das »Draußen noch immer [erklingende] Rufen« (ebd.) der Figuren. Diese Art der Darstellung am Ende des letzten Aktes ist offenbar so deutlich, dass nicht nur die meisten Interpreten,3 sondern auch einschlägige Fachlexika das Schicksal Johannes Vockerats auf die gleiche Weise deuten: »[E]r ertränkt sich im Müggelsee.« (Kindler 1988, 387) Im Kontext dieser Lesart vertreten Requardt und Machatzke die Ansicht, mit dem zuvor im Drama bereits erwähnten »See und Kahn [werde] in Leitmotivtechnik auf das Ende verwiesen« (Requardt/Machatzke 1980, 170), was impliziert, dass die Selbstertränkung des Protagonisten von vornherein im Dramentext angelegt ist. Diese Position4 ist insofern plausibel, als der Müggelsee im Text zuvor mehrfach erwähnt wird und an zwei Stellen in direktem Zusammenhang mit der Todes- und Suizidthematik steht. So orakelt Johannes bereits im zweiten Akt: »Wirklich, ehe ich solche Zeiten wieder durchmachte, lieber… – Ja wahrhaftig! – lieber der Müggelsee.« (EM 56) Im vierten Akt bemerkt die Hauptfigur dann vielsagend über den See: »Hier kommt oft genug was vor. Das ist ein gefährliches Wasser.« (EM 94) Bei genauerer Betrachtung erscheint der Wassersuizid allerdings keineswegs als die einzig denkbare Todesart der Hauptfigur. Vielmehr wird im Verlauf der Handlung mit dem Pistolensuizid eine weitere Methode ins Spiel gebracht, die von Johannes zwei Mal direkt thematisiert wird.

3

Den Forschungsstand bilanzierend konstatiert Meier 2005 hierzu, dass »die meisten Interpreten davon ausgehen, dass Vockerat ins Wasser geht« (Meier 2005, FN 576, S. 376). Dies gilt beispielsweise für Weber 2002, 179; Marx 1998, 60; Gjestvang 1998, 122; Langeberg-Pelzer 1995, 78; Requardt/Machatzke 1980, 170; Feise 1935, 158.

4

Vgl. hierzu auch Meier 2005, 373.

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│ 173

Zunächst bemerkt er im dritten Akt: »Mutter, du verlangst Unmögliches. […] Lieber erschießʼ ich mich.« (EM 85) Zu Beginn des fünften Aktes geht der Protagonist noch einen Schritt weiter, indem er einen Revolver aus dem Schrank nimmt, ihn sich gegen den Kopf hält und seiner Familie droht: »Ich nehme den Revolver […] hier! – halte mir ihn vor den Kopf und wenn sie geht, dann drücke ich los, so wahr ich lebe!« (EM 110) Innerhalb des Dramas wird damit ein Möglichkeitshorizont eröffnet, in dem zwei unterschiedliche Arten der Selbsttötung als realistische, aber miteinander unvereinbare Alternativen nebeneinanderstehen. Wenn Johannes am Ende aus dem Haus stürzt, um sich zu ertränken, so ist die kausale Motivierung dieses Geschehens handlungslogisch nicht unmittelbar zwingend. Es wäre nicht weniger plausibel und nicht weniger kausal motiviert, wenn sich der Protagonist auf die andere, bereits in die erzählte Welt eingeführte Art das Leben nehmen würde, welche überdies viel leichter auf die Bühne zu bringen ist. Man kann daher bei Einsame Menschen von einem teilweise kausal untermotivierten Suizidgeschehen sprechen: Zwar ist plausibel, warum sich Johannes am Ende das Leben nimmt, aber warum er es auf die eine und nicht auf die andere Weise tut, wird aus dem vorangegangenen Geschehen nicht unmittelbar ersichtlich. Gerade diese kausale Untermotivierung aber lenkt die Aufmerksamkeit des Interpreten auf eine mögliche kompositorische Motivierung des Geschehens. Im Folgenden ist nicht nur danach zu fragen, was es bedeutet, dass der Protagonist sich ertränkt, sondern auch danach, was es heißt, dass er sich nicht erschießt, obwohl der Text auch diese Möglichkeit in Aussicht stellt. Wie ich im Folgenden argumentieren werde, rekurriert Hauptmanns Drama implizit auf die kulturellen Vorstellungen, die mit den beiden Selbsttötungsmethoden verknüpft sind. Wie bereits in Kapitel 4.6 ausgeführt, gehörte die Selbsterschießung zum Topos des heroischen Suizids und galt dementsprechend tendenziell als heldenhafte und männliche Todesart. Das Ertrinken hingegen war traditionell eine weiblich konnotierte Todesart, deren geschlechtliche Zuordnung in der europäischen Kulturgeschichte vor allem durch die Rezeption des Ophelia-Motivs gefestigt wurde.5 Wenn sich nun Johannes Vockerat nicht auf die männlich codierte, sondern auf die weiblich konnotierte Weise das Leben nimmt, so symbolisiert dies meiner im Folgenden vertretenen These nach das im Drama geschilderte Scheitern der Hauptfigur an den Anforderungen, die an das

5

Einen Bezug zwischen Shakespeares Hamlet und Einsame Menschen stellt Whitinger her, der sich mit Blick auf Johannesʼ Suizid an »Ophelia’s desperate way out« (Whitinger 1993, 248) erinnert fühlt. Da sich Whitinger allerdings in seiner Analyse vor allem für die Frauenfiguren des Dramas interessiert, führt er seine Überlegungen zum Suizid des Protagonisten nicht weiter aus.

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männlich-bürgerliche Subjekt gerichtet werden. Die Todesart des Ertrinkens fungiert in dieser Lesart als eine Art Textkommentar zur Hauptfigur, durch welchen dem Protagonisten sein Status als männlich-bürgerliches Subjekt aberkannt wird. 5.1.1 Vorbemerkung: Zur Situierung der Handlung im bürgerlich-protestantischen Milieu Anders als die meisten der in Abschnitt 4 untersuchten Texte spielt Hauptmanns Drama in einem bürgerlichen Milieu. Deutlich wird dies bereits an der ersten Regieanweisung des Dramas, welche unter anderem Hinweise zur Gestaltung des Bühnenbilds enthält. Hier heißt es, das den Schauplatz bildende, saalartige Zimmer sei »gutbürgerlich eingerichtet« (EM 6) und mit Bücherschrank und Piano ausgestattet (vgl. ebd.). Beide Requisiten waren zur Handlungszeit des Dramas6 für den Zuschauer im Theater als typisch bürgerliche Einrichtungsgegenstände erkennbar, denn das Sammeln von Büchern und das »Anlegen einer hauseigenen Bibliothek« (Budde 1994, 124) galt als ebenso typisch für das Bürgertum wie die Anschaffung eines Klaviers, das um 1900 zur »Standardeinrichtung einer gehobenen bürgerlichen Wohnung« (Schulz 2005, 20f.) zählte. In dieser Wohnung residiert der achtundzwanzigjährige Privatgelehrte Johannes Vockerat zusammen mit seinen Eltern und seiner Ehefrau Käthe. Johannesʼ Vater ist ein »Oberamtmann« (EM 17), das heißt ein höherer Verwaltungsbeamter, der als »Rittergutspächter« (EM 27) eingesetzt ist. Diese Tätigkeit war um 1900 für höhere Beamte nicht ungewöhnlich. Beide Eltern werden noch im ersten Akt als »fromme, strenggläubige Menschen« (EM 14) vorgestellt, worauf bereits die zur Einrichtung zählenden »biblische[n] Bilder nach Schnorr von Carolsfeld« (EM 6) und ein über der Tür hängendes Ölgemälde, auf dem ein »Pastor im Ornat« (ebd.) zu sehen ist, verweisen. Innerhalb dieses hier knapp als protestantisch und bürgerlich skizzierten Milieus ist der im Drama geschilderte Konflikt situiert. Dieser entfaltet sich, nachdem mit Anna Mahr von außen eine weitere Figur in dieses geschlossene Setting hineingelangt,7 woraufhin die dort latent schwelen-

6

Die Handlungszeit des Dramas ist in der Regiebemerkung ausdrücklich als »Gegenwart« (EM 6) angegeben, d.h., das Drama spielt zu seiner Entstehungszeit im ausgehenden 19. Jahrhundert. Dies wird noch einmal deutlich, wenn Anna Mahr im vierten Akt über die »Zeit, in der wir leben« (EM 96) spricht, in welcher sich bereits der frische »Luftstrom […] aus dem zwanzigsten Jahrhundert« (ebd.) bemerkbar mache.

7

Vgl. zur Funktion der Anna-Figur auch Stephan 1979, 194.

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den Konflikte offen ausbrechen. Im Zusammenhang mit der Hauptfigur kreisen die Auseinandersetzungen vor allem um zwei Aspekte. Der erste betrifft die berufliche Arbeit und das damit verbundene genuin bürgerliche Leistungsethos. Der zweite und wichtigere Aspekt bezieht sich auf die »Liebes, Ehe- und Familienproblematik« (Requardt/Machatzke 1980, 168). Die im Drama verhandelten Konflikte haben ursächlich damit zu tun, dass sich der Protagonist in beiden Bereichen in einer Weise verhält, die nicht den an das bürgerlich-männliche Subjekt gestellten Anforderungen entspricht. 5.1.2 »Er kommt nicht vorwärts« – Kriselndes Wunderkind und bürgerliches Arbeitsethos Die oben genannten Konfliktherde werden bereits in der Exposition des Dramas eingeführt. Im Folgenden konzentriere ich mich zunächst auf die Untersuchung der beruflichen Krise des Protagonisten, auf welcher die im zweiten Analyseschritt betrachtete Ehe- und Familienproblematik in gewisser Weise aufbaut. Johannes Vockerat ist von Beruf Privatgelehrter und damit intellektueller Bildungsbürger, worauf nicht nur die in der einleitenden Regieanweisung erwähnten Bilder von »Darwin und Hackel« (EM 6) über seiner Tür hindeuten, sondern physiognomisch auch das bei seinem ersten Auftritt im Nebentext erwähnte »geistvolle Gesicht« (EM 11). Er definiert sich maßgeblich über seine »philosophische Arbeit« (EM 53), im Zuge derer er an einem Manuskript arbeitet, auf welches er bereits im ersten Akt gegenüber seinem Freund Braun zu sprechen kommt: »Sieh mal: dies Manuskript!« (EM 20) Im weiteren Verlauf des Textes stellt Johannes den Stellenwert, den diese Arbeit für ihn besitzt, unmissverständlich klar: »[M]eine Arbeit geht vor! Sie kommt zuerst und zuzweit und zudritt.« (EM 59) Diese Einstellung scheint auf den ersten Blick durchaus dem Arbeitsethos des Bürgertums zu entsprechen, welches sich durch eine »positive Grundhaltung gegenüber selbstbestimmter, eigenverantwortlicher, regelmäßiger Arbeit« (Budde 2009, 13) auszeichnete. Das männlich-bürgerliche Subjekt war »primär ein Arbeitssubjekt« (Reckwitz 2010, 109), welches in der beruflichen Tätigkeit »seine Autonomie und Selbsterhaltung« (ebd., 114) herstellt und das seinen »materiellen Wohlstand und sein Eigentum selber schafft und sich damit von Abhängigkeiten befreit« (ebd.). Dementsprechend bestimmte maßgeblich »die erbrachte Leistung […] das Selbstwertgefühl des Bürgers« (Döcker 1994, 14). In diesem Zusammenhang lässt sich von einem spezifisch bürgerlichen »Leistungsprimat« (Budde 1994, 113) sprechen, dem bereits die Erziehung der bürgerlichen Söhne im 19. Jahrhundert unterworfen war (vgl. ebd., 113ff.). Wenn nun Johannes im ersten Akt den Stellenwert seiner berufli-

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chen Tätigkeit nachdrücklich betont und an späterer Stelle bekundet, vor allem »in den vier Wänden [m]einer wissenschaftlichen Aufgabe« (EM 53) zu leben, so scheint die dahinter stehende Haltung zunächst absolut dem bürgerlichen Arbeitsethos zu entsprechen. Allerdings wird dieser Eindruck bereits in der Exposition wieder unterlaufen, denn dem Zuschauer/Leser wird frühzeitig angedeutet, Johannesʼ soziales Umfeld stehe dem beruflichen Schaffen des Protagonisten mit Desinteresse oder gar Geringschätzung gegenüber. So moniert Johannes im ersten Akt: »Wenn nur ein Mensch in der weiten Welt etwas für mich übrig hätte. Es braucht ja nicht viel zu sein. ʼn klein bissel guter Wille. ʼn klein bissel Verständnis für meine Arbeit.« (EM 20) Die im Laufe des Dramas mehrfach wiederholte Beschwerde über den mangelnden »Beistand« (ebd.) bei seiner Arbeit8 erzeugt einerseits den Eindruck, bei Johannes handle es sich um eine empfindliche, beinahe weinerliche Figur. Dazu trägt unter anderem die zu Beginn des Dramas am Protagonisten geäußerte Kritik Brauns bei, der zunächst Johannes ewiges »Seufzen und Seufzen« (EM 13) kritisiert und diesen dann ermahnt, er solle nicht »ewig heulen und flennen« (EM 19). Andererseits wird im Fortgang der Handlung auch deutlich, dass die Familienangehörigen und Freunde des Protagonisten tatsächlich mit Skepsis auf dessen wissenschaftliche Arbeit blicken. So beklagt Johannesʼ Mutter im zweiten Akt seinen mangelnden Erfolg, wobei sie implizit die von ihrem Sohn erbrachte Leistung in Frage stellt: »Es liegt kein Segen über seiner Tätigkeit. Immer und ewig Unruhe und Hast. [...] Und wenn noch was dabei rauskäme. Aber man siehtʼs ja, er kommt nicht vorwärts. – Wie war der Junge bloß früher! Ein Kind...ein reines Wunderkind war er. [...] Mit dreizehn Jahren Sekundaner. Mit siebzehn hattʼ erʼs Gymnasium durch – und heut? Heute haben sie ihn fast alle überholt. Heut sind welche, die nicht halb so begabt waren, längst im Amt.« (EM 41)

Im Kern zielt die Kritik der Mutter darauf ab, dass Johannes trotz hervorragender Voraussetzungen keine dem bürgerlichen Leistungsanspruch genügende Karriere gemacht und aus seinen Fähigkeiten insgesamt zu wenig Kapital geschlagen hat. Wenn Johannes hier von seiner Mutter rückblickend den Status eines »Wunderkinds« zugesprochen bekommt, so baut der Text damit im Übrigen eine gewisse Fallhöhe für den Protagonisten auf.

8

So beschwert sich Johannes, sein Freund Braun halte seine Arbeit »für etwas Nichtsnutziges« (EM 53), später heißt es: »Von meiner Familie habe ich nur Hemmnisse zu erwarten – was das anbelangt.« (EM 54)

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Aus dieser Passage lässt sich zunächst nur schwer entscheiden, in wie weit die Kritik der Mutter an Johannes beruflichem Fortgang berechtigt ist. Denn dem Urteilsvermögen der Mutter kann der Leser nur bedingt vertrauen, da diese Figur in ihrer »naiven Frömmigkeit« (Marx 1998, 61) bisweilen in einer ironisierenden und zuweilen fast karikierenden Weise dargestellt wird. Über die Dramenhandlung verteilt summieren sich allerdings die Hinweise, welche die Kritik der Mutter am beruflichen Fortkommen ihres Sohnes untermauern. So ist es Johannes selbst, der en passant Schwierigkeiten im Fortgang seines Arbeitsprozesses einräumt: »Und meine Arbeit liegt mir auch auf der Seele. Jetzt habʼ ich wieder über vierzehn Tage nichts tun können.« (EM 19) Durch die Verwendung des Adverbs ›wieder‹ evoziert die gewählte Formulierung erstens eine gewisse Störanfälligkeit der Arbeitspraxis des Protagonisten, welche offenbar häufiger unterbrochen wird. Zweitens suggeriert der Rekurs auf die Seele an dieser Stelle im Zusammenhang mit der unmittelbar zuvor thematisierten Gemütslage der Hauptfigur, dass Johannes Schreibpraxis befindlichkeitsabhängig ist. Das allerdings widerspricht deutlich dem zeitgenössisch-bürgerlichen Arbeitsethos. Diesem lag gerade die Vorstellung zu Grunde, in der Arbeit würden »Körper und Geist diszipliniert« (Reckwitz 2010, 112), weshalb das bürgerliche Subjekt unabhängig von seiner Befindlichkeit oder Stimmung auf Basis einer »souveränen Selbstregierung« (ebd,, 111) diszipliniert seine Leistung erbringen könne. Noch deutlicher als die Mutter stellt Braun Johannesʼ Arbeitsleistung in Frage. Bereits im ersten Akt hält er dem Protagonisten in Bezug auf dessen Manuskript vor, er gestehe sich »nicht ein, wie miserabel es ist« (EM 19). Nachdem Johannes diesen Kommentar zunächst wortwörtlich überhört (vgl. EM 19), wiederholt Braun im zweiten Akt den Vorwurf und erklärt die »ganze Schreiberei« (EM 50) des Freundes für »zwecklos« (ebd.). Da Braun seinerseits malender Künstler und überdies Anhänger »sozial-ethische[r] Ideen« (EM 55) ist, 9 steht er nicht im Verdacht, als Advokat eines wertkonservativen Bürgertums aufzutreten, wie dies bei Frau Vockerat der Fall ist. Wenn aber diese beiden Figuren, die ansonsten gänzlich unterschiedliche Standpunkte vertreten,10 in Bezug auf Johannes Arbeit

9

Die in Zusammenhang mit Braun erwähnten »radikale[n] Phrasen« (EM 50) und Johannesʼ Bezugnahme auf die Arbeiterfrage (vgl. EM 55) legen sogar die Vermutung nahe, Braun vertrete sozial-demokratische oder sogar kommunistische Ideen.

10

Frau Vockerat steht Braun ansonsten distanziert bis ablehnend gegenüber und formuliert dies auch: »Ich muß ehrlich sagen: ich hab’n nicht sehr gern.« (EM 51) Das hat auch mit Brauns antireligiöser Haltung zu tun, die ihm Frau Vockerat explizit vorhält: »Sie sind auch so ein Gottloser.« (EM 83)

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einer Meinung sind, so verleiht diese ihrem einhelligen Urteil ein gewisses Gewicht. Neben Johannesʼ beruflicher Leistung wird im Verlauf des Dramas im Zusammenhang mit der häuslichen Ökonomie auch seine Eignung als »Haushalter anvertrauter Güter« (Habermas 2000a, 135) in Frage gestellt. Seine finanzielle Situation entpuppt sich als angespannt, weil er über seine Verhältnisse lebt. »Du gibst zu viel fort, Hannes. Da schmilzt es eben zusammen, das Kapital« (EM 63), ermahnt ihn seine Ehefrau Käthe. Johannes aber verweigert es, sich mit diesem Problem auseinanderzusetzen: »Ach komm mir jetzt nicht damit, um Gottes Willen!« (EM 58) und fordert von seiner Frau stattdessen: »[S]ag mir gar nichts vom Praktischen! Besorg das auf deine Faust!« (EM 59) In dreifacher Hinsicht widerspricht das Verhalten des Protagonisten hier dem männlich-bürgerlichen Subjekt-Ideal: Erstens steht Johannesʼ Lebensstil im Widerspruch zur Vorstellung einer »sparsame[n] Lebensführung« (Schulz 2005, 8), die innerhalb des Bürgertums als Tugend galt (vgl. Budde 1994, 64). Indem er es ablehnt, die von seiner Ehefrau eingeforderte Entscheidung bezüglich der anstehenden finanziellen Fragen zu treffen, verweigert Johannes zweitens die Übernahme wirtschaftlicher Aufgaben, die zumindest dann, wenn Probleme auftraten, zu einer Angelegenheit des Familienpatriarchen wurden.11 Drittens wird in dieser Passage auch deutlich, dass Johannes nicht etwa von den Erträgen seiner eigenen Arbeit lebt, sondern seinen Unterhalt im Wesentlichen aus den Zinsen und Aktienerträgen (vgl. EM 63) eines offenbar ererbten Vermögens bezieht. Auch dies war mit dem bürgerlichen Leistungsethos nur sehr bedingt vereinbar. Denn dem eigenen Selbstverständnis nach kam der bürgerliche Mann »kraft Leistung, und nicht qua Geburt oder Beziehungen, zu Geld und Ansehen« (Habermas 2000a, 396), weshalb »Vermögen und Einkommen, das nicht auf selbstständiger Arbeit, sondern auf der Arbeit anderer oder auf Vererbung beruht, parasitär« (Reckwitz 2010, 116) erschien. Das bisher Ausgeführte zusammengenommen betrachtet hat es der Leser bei Johannes Vockerat also mit einer Figur zu tun, die gemessen am bürgerlichen Arbeitsethos beruflich nicht vorankommt und welche überdies in wirtschaftlicher Hinsicht ihre Pflichten als männlich-bürgerliches Subjekt nicht erfüllt.

11

Budde bemerkt zur Regelung bei solch wichtigen wirtschaftlichen Fragen: »Immer, wenn es um Geld und Ehre ging, wurden Krisen und Konflikte ausschließlich von den Bürgermännern ausgetragen.« (Budde 1994, 99) In Einsame Menschen aber ist es Johannesʼ Ehefrau Käthe, welche schließlich die Korrespondenz mit der Bank übernimmt und die Regelung der drängenden finanziellen Fragen übernimmt. Vgl. EM 63.

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Wenn sich Johannes dem ungeachtet im Verlauf der Handlung mehrfach über die mangelnde Anerkennung seiner Leistung und die ihm angebliche versagte Unterstützung durch seine Familie beklagt,12 so erscheint dies zunächst vor allem als Ausdruck eines überempfindlichen Charakters. Teile der Forschungsliteratur haben in dem sich regelrecht durch das Drama seufzenden Protagonisten13 dann auch nicht ganz zu Unrecht einen »Angehörigen des nervösen Zeitalters« (Marx 1998, 58) ausgemacht.14 Darüber hinaus entsteht zudem der Eindruck einer Diskrepanz zwischen dem Anspruch des Protagonisten auf Wertschätzung und der diesem Anspruch entgegenstehenden, tatsächlichen Leistung. Im zweiten Akt wird ferner deutlich, dass Johannesʼ Klage über mangelnde Anerkennung nicht zuletzt auf dem eitlen Wunsch basiert, von seiner Umwelt weiterhin als Wunderkind verehrt zu werden: »Man ist aufgewachsen mit seinen Freunden. Man hat sich daran gewöhnt von ihnen ein wenig geschätzt zu werden. – Und wenn man diese Schätzung nun nicht mehr spürt, da istʼs einem, als ob man plötzlich in einem luftleeren Raum atmen sollte.« (EM 54) Das hier verwendete Bild der fehlenden Atemluft pointiert die immense Wichtigkeit, die die bewundernde Anerkennung durch sein Umfeld für Johannes besitzt. Treffend stellte bereits Weber fest: »Motivation und Selbstwertgefühl bezieht er einzig aus der Zustimmung anderer.« (Weber 2002, 181) Dementsprechend brüstet sich Johannes bei der Abfassung der wissenschaftlichen Arbeit auch nicht etwa mit der Besonderheit seiner Ideen, sondern mit dem Umfang seiner Quellenangabe, in Anbetracht derer »die Perücken wackeln [werden]« (EM 20). Die hier imaginierte Reaktion der Wissenschaftswelt auf seine Arbeit nährt sein Gefühl »omnipotenter Größe« (Weber 2002, 181), das ihm sein Umfeld nicht mehr zu vermitteln im Stande ist. Der zentrale und um die Ehebruchsproblematik kreisende Konflikt

12

So beklagt er beispielsweise gegenüber Käthe, als diese ihn auf die drängenden finanziellen Angelegenheiten anspricht: »Wenn sich’s nur mal’n bißchen in mir geordnet hat, – da kommst du – und da greifst du hinein – mit Fuhrmannshänden geradezu« (EM 58), woraufhin er fordert: »Unterstütz mich doch mal’n bissel!« (EM 59)

13

Schon beim ersten Auftritt heißt es: »JOHANNES seufzt« (EM 12). Dieses Seufzen setzt sich fort: »Er geht umher, seufzt« (EM 18); »Er legt seufzend das Manuskript in den Bücherschrank zurück« (EM 20); »JOHANNES seufzt« (EM 71); »JOHANNES seufzt tief, erhebt sich dann und geht langsam umher« (EM 97); »JOHANNES richtet sich auf, seufzt. Ach, Fräulein Anna!« (EM 116); »JOHANNES steht einen Augenblick wie betäubt [...], seufzt, seufzt stärker, bleibt stehen, lauscht« (EM 120).

14

In eine ähnliche Richtung argumentiert auch Meier 2005, 373.

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des Dramas, der mit dem Auftreten Anna Mahrs beginnt, ist mit diesem Problem der (ausbleibenden) Anerkennung des Protagonisten eng verknüpft. 5.1.3 Die Illusion eines »neuen, höheren Zustandes« als Movens des dramatischen Konflikts Zu Beginn des Dramas erwecken verschiedene Figuren den Eindruck, Johannesʼ Faszination für die junge Philosophiestudentin Anna Mahr, die im Haus der Vockerats zu Gast ist, resultiere primär aus dem Interesse, mit dem Anna Johannesʼ philosophischer Arbeit begegnet. Dieses Deutungsschema wird schon bei Annas erstem Auftritt von Braun in Anschlag gebracht, wenn dieser bemerkt: »Na Fräulein! Da kommen Sie nicht so bald fort. Wenn Sie für seine Arbeit sich interessieren, das freut ihn ja namenlos.« (EM 31) In die gleiche Richtung zielt auch der Kommentar von Johannesʼ Mutter, welche die ausgelassene Stimmung ihres Sohnes damit erklärt, dass er »nun jemanden hat, […] vor dem er seine gelehrten Sachen auskramen kann« (EM 43). Am deutlichsten evoziert allerdings Johannes selbst diesen Eindruck. Begeistert setzt er am Ende des ersten Aktes gegenüber seiner Frau zu einer förmlichen Lobrede auf Anna an: »Das istʼn ganz wundervolles Geschöpf. Dieses [Hervorhebung im Orig.] Wissen! Die Selbstständigkeit im Urteil! […] Von so einem Wesen kannst du noch sehr viel lernen.« (EM 36) Tatsächlich resultiert seine Freude über den neuen Gast nicht so sehr aus der eigenen intellektuellen Anregung durch Anna Mahr, sondern stärker aus der Wertschätzung, die diese seiner Arbeit entgegenbringt: »Das passiert mir ja das erstemal im Leben, daß jemand für meine Arbeit, für das, was ich zu leisten imstande bin, ein sachliches Interesse hat. Das macht mich ja wieder frisch.« (EM 54) Am Ende des dritten Aktes erklärt Johannes Anna gar zur »Bedingung meiner Entfaltung« (EM 87). Anna bringt ihm und seiner Arbeit also jene, seiner Eitelkeit schmeichelnde, Wertschätzung entgegen, deren Fehlen Johannes bei seiner Familie beklagt. Nicht zuletzt deshalb versucht er im Fortgang der Handlung mehrfach, Annas Rückkehr in die Schweiz zu verhindern. Daneben beharrt Johannes allerdings noch aus einem anderen Grund auf Annas Anwesenheit, welcher sich als der tieferliegende Kern des dramatischen Konflikts herauskristallisiert. Dieser Konflikt besteht vor allem darin, dass die Beziehung zwischen Anna und Johannes von Beginn an latent sexuell aufgeladen ist. Zwischen den beiden Figuren besteht eben nicht nur eine freundschaftliche Beziehung auf Basis geistig ähnlicher Veranlagung, wie Johannes hartnäckig behauptet (vgl. EM 86). Ein erster Hinweis hierauf versteckt sich im Nebentext bei der ersten Begegnung zwischen Anna und Johannes. Als Braun die beiden einander vorstellt, heißt es:

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»Johannes kommt, errötet.« (EM 30) Diese körperliche Reaktion, die sich schauspielerisch nahezu nicht auf die Bühne bringen lässt, wird, wie Ditmar Skrotzi schon 1971 am Beispiel Heinrich von Kleists herausgearbeitet hat, in literarischen Texten oft als ein Signal für die Regung des Schamgefühls im Zusammenhang mit der Sexualität verwendet.15 Auch in Einsame Menschen lässt sich das Erröten als ein erster subtiler Hinweis des Textes auf eine zunächst noch unterschwellige Sexualisierung der Beziehung zwischen Johannes und Anna begreifen. Dieser Eindruck wird im Laufe des Dramas sukzessive von allen Nebenfiguren auf die eine oder andere Weise artikuliert und zunehmend deutlicher in den Zusammenhang der Ehebruchsproblematik gerückt. Eine frühe Idee von der Relevanz dieses Aspekts bekommt der Leser zunächst indirekt durch die Reaktionen Käthe Vockerats auf Anna Mahr vermittelt. Eine aufschlussreiche Passage findet sich im Nebentext zu Beginn des zweiten Aktes. Käthe sitzt am Frühstückstisch. »Plötzlich gehen draußen Johannes und Fräulein Anna laut redend und lachend vorüber. Frau Käthe schrickt zusammen, zittert und erhebt sich, um mit den Augen das Paar verfolgen zu können. Ihr Blick ist voll Angst, sie atmet schwer.« (EM 44) Das ansonsten nicht weiter kommentierte Verhalten Käthes lässt sich – auch im Zusammenhang mit einigen vorangehenden Passagen16 – als die Sorge einer Ehefrau verstehen, der an dem Umgang ihres Mannes mit einer anderen Frau etwas derart verdächtig ist, dass es ihren Blick mit Angst erfüllt und ihre Atmung beschleunigt. Käthes Verhalten fungiert hier als eine Art Seismograph, durch den etwas erkennbar wird, das zu diesem Zeitpunkt im Drama noch nicht explizit formuliert wurde. Offen zur Sprache kommt das Ehebruchsproblem erst auf dem Höhepunkt des Dramas im dritten Akt. Nachdem Johannesʼ Mutter zunächst über den Damenbesuch im Hause Vockerat andeutungsweise bemerkt, »die Leute reden ja auch drüber« (EM 71), warnt sie ihren Sohn

15

Skrotzki zufolge »reagiert die Scham im sexuellen Bereich auch besonders häufig und regelmäßig« (Skortzki 1971, 151), wobei er aber die sexuelle Scham nicht grundsätzlich von anderen Arten der Scham unterscheidet, sondern diese in der »gleichen Weise wie jede andere, graduell unterschiedene Variation« (ebd.) bestimmt wissen möchte.

16

Am Ende des ersten Aktes stellt Käthe bei Braun verschiedene Erkundigungen über Anna Mahr an, wobei sie auch ihre Angst formuliert, »solchen gebildeten Wesen gegenüber eine etwas armselige Rolle« (EM 33) zu spielen. Die für Braun in diesem Kontext etwas irritierende Frage, ob Anna Mahr jung sei, (vgl. ebd.) lässt sich auch als Zeichen der Befürchtung verstehen, von einer jüngeren Konkurrentin ausgestochen zu werden. Vgl. allgemein zu den Frauenfiguren im Drama Stephan 1979 sowie Gjestvang 1998.

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kurz darauf vor dem Ehebruch: »Junge, Junge! Es sind schon Stärkere in die Schlinge gefallen. Man merktʼs oft erst, wennʼs zu spät ist.« (EM 81) Wenn Johannes erwidert, »treibt mich nicht in Verhältnisse, die mir fernliegen« (ebd.), so zeigt sich daran, dass er den Vorwurf durchaus verstanden hat, auch wenn er diesen zurückweist. Kurz darauf greift auch Braun die mahnenden Worte der Mutter auf und reformuliert die Warnung in ähnlicher Deutlichkeit: »Du mußt zugeben, daß du mit dem Feuer spielst.« (EM 86) Dabei führt Braun seinem Freund die möglichen Konsequenzen und den Ernst der Lage unmissverständlich vor Augen: »Es geht hier darum: entweder Anna oder deine Familie.«(EM 86) Spätestens an der Stelle, an der Johannesʼ Vater explizit mahnt, »wer ein Weib ansieht, um ihrer zu begehren, sagt Christus« (EM 111), tritt die Ehebruchsproblematik als Kern des dramatischen Konflikts deutlich zu Tage. Für den Leser bleibt aufgrund der widersprüchlichen Informationsvergabe allerdings fast bis zum Schluss unklar, inwiefern die Vorwürfe an Johannes begründet sind. Der Protagonist selbst postuliert nämlich weiterhin hartnäckig einen anderen Gehalt seiner Beziehung zu Anna Mahr. Dabei beruft er sich auf seinen elitären Bildungsstand und wirft seinen Kritikern vor, sie urteilten nach einer »kläglichen Schablone« (EM 87), die er sich »an den Füßen abgelaufen habe« (ebd.). Dahinter steht weit mehr als nur der »Bildungshochmut« (EM 50), den Braun ihm schon zuvor unterstellt hat. Vielmehr entwirft Johannes hier auf der Basis seiner Intellektualität eine Art elitäre Selbsthermeneutik. Er wähnt sich und Anna in einen über den Horizont der Normalsterblichen hinausgehenden, »neuen, höheren Zustand[s] der Gemeinschaft zwischen Mann und Frau« (EM 98) versetzt. Bei diesem werde nicht mehr das Tierische, mithin das Sexuelle, sondern das Menschliche »die erste Stelle einnehmen« (ebd.). Diese Vorstellung, die entfernt an Nietzsches Idee des Übermenschen erinnert,17 ermöglicht es Johannes, die Beziehung zu Anna und die Ehe mit Käthe nicht als Widerspruch zu begreifen. Im Gegenteil erachtet er diese Situation als einen Zustand, »in welchem beide Teile nur gewinnen« (EM 97), da sein Gefühl für Käthe dadurch

17

Auf die Bezüge des Dramas zur Philosophie Nietzsches weist bereits Sørensen in seinem Aufsatz hin, wobei er es bedauerlicherweise versäumt, seine These, »daß sich Nietzsches Spuren in diesem Drama nachweisen lassen« (Sørensen 1997, 371) mit Belegen zu untermauern. Eine mögliche Replik auf Nietzsche findet sich im ersten Akt, wenn Mutter Vockerat darauf beharrt: »[D]a mögen meinetwegen die Gelehrten sagen, was sie wollen – : es gibt einen Gott.« (EM 10) Dies kann allerdings ebenso als Anspielung auf Nietzsches Diktum vom Tod Gottes gelesen werden, wie auch als ein Verweis auf die Lehren Darwins, der immerhin als Gemälde im Wohnzimmer der Vockerats im Text präsent ist. Vgl. EM 6.

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»tiefer und voller geworden« (EM 99) sei. Bis zum Schluss beharrt Johannes darauf, seine Beziehung zu Anna sei rein geistig-intellektuell und gleiche in der Befreiung vom Sexuellen der Beziehung von Bruder und Schwester (vgl. EM 119). Dieser Anspruch an eine edlere und von allen triebhaften Elementen befreite Form der Verbindung zwischen den beiden Protagonisten wird allerdings in der finalen Abschiedskussszene vollständig desavouiert. »Er umschlingt sie, und beider Lippen finden sich in einem einzigen, langen, inbrünstigen Kusse, dann reißt Anna sich los und verschwindet.« (EM 119f.) Was hier im dramatischen Nebentext geschildert wird, ist nicht die Regieanweisung für den Bruderkuss, den sich Johannes vorzulügen versucht, wenn er fragt: »Soll ein Bruder – seine Schwester nicht küssen dürfen?« (EM 119)18 Vielmehr bricht an dieser Stelle die schnöde Sexualität in sein Konzept »eines neuen, freien Zustandes« (EM 118) ein und überführt dieses dadurch seiner ganzen Scheinhaftigkeit (vgl. Guthke 1980, 82). Einer Scheinhaftigkeit, die im Übrigen Anna Mahr selbst im Drama zuvor mehrfach angedeutet hat.19 Dieses entlarvende Ende hat Konsequenzen für die Deutung der Hauptfigur. Johannes erscheint nicht als Opfer einer engstirnigen Umgebung, die seine philosophischen Ideen verkennt, die ihn zu Unrecht an seine Pflichten als Ehemann erinnert und ihn unbegründet mit ihrer bürgerlichen Moral drangsaliert. Vielmehr ist hier Alfred Polgar zuzustimmen, der pointiert formulierte: »Wie Johannes Vockerath, der sich selbst betrügende Betrüger, dieses erotische Problem in ein soziales umzudenken versucht, […] wie er, halb unbewußt, seine Liebe als Freundschaft verkleidet und die Konterbande in sein Heim zu schmuggeln trachtet: das ist der eigentliche, tragikomische Gehalt des Stückes.« (Polgar 1985, 54)

18

Vgl. zur Deutung dieser Passage auch Feise 1935, 158.

19

So bemerkt Anna im letzten Akt über diese Beziehung skeptisch: »Nehmen wir aber einmal an: es hätte wirklich etwas Neues, Höheres gelebt – in unseren Beziehungen« (EM 99). Kurz darauf konstatiert sie: »In uns ist etwas, was den geläuterten Beziehungen, die uns dämmern, feindlich ist, auf die Dauer auch überlegen.« (EM 100) Mit diesem ominöse ›Etwas‹ ist offenbar die Sexualität gemeint.

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5.1.4 Der Störenfried des bürgerlichen Familienfriedens Johannes erscheint allerdings nicht nur wegen dieses von Polgar konstatierten Selbstbetrugs als Verursacher der familiären Konflikte. Vielmehr wird er von Beginn an als Störenfried des häuslichen Friedens dargestellt, welcher sich als Hemmnis für die Verwirklichung des insbesondere von seinen Eltern vertretenen bürgerlichen Familien-Ideals erweist. Die bürgerliche Familie in ihrer idealtypischen Gestalt wurde zeitgenössisch entworfen als eine »harmonische Gegenwelt zur fordernden Außenwelt« (Budde 2009, 25), innerhalb derer sich das bürgerliche Subjekt (beiderlei Geschlechts) darauf trainierte, »in einer Hermeneutik des Anderen dessen Innenwelt, dessen Ansichten, Motive, Gefühle, Charaktereigenschaften zu ›verstehen‹« (Reckwitz 2010, 139), mithin also die Fähigkeit zur Empathie für die Empfindungen des Anderen zu entwickeln. Der Sinn von Familie und Ehe bestand nicht allein darin, »nur das eigene Glück zu befördern[…], sondern in erster Linie das Glück des anderen zu steigern« (ebd. 143). Ehe und Familie waren in der bürgerlichen Gesellschaft der Ort, an dem das bürgerliche Subjekt eine »emotional-reflexive Innenwelt« (ebd., 153) ausprägte, welche zum »Gefühl der Rührung« (ebd., 140) gegenüber den Handlungen der anderen Familienmitgliedern befähigte. In diesem Zusammenhang ist auch die von Rebekka Habermas beschriebene »Familiarisierung der Religion« (Habermas 2000b, 174) des protestantischen Bürgertums im 19. Jahrhundert zu verstehen. Dieses Bürgertum prägte zunehmend eine »Religiosität der Tugend im Einklang mit bürgerlichen Werten des vernunftgeleiteten, individuell selbstverantwortlichen, gewissenhaften Handelns, […] eben einen Moralprotestantismus« (ebd.) aus, dessen Rituale sich von der Öffentlichkeit in den privaten Raum verlagerten. Dies trugt dazu bei, »den Privatraum zu sakralisieren [und] in einen Hort reiner Sittlichkeit und gefühlsintensiver Moralität umzugestalten« (ebd., 175). Dieses Verständnis von Familie im Allgemeinen und der Verknüpfung von Religion und Familie im Speziellen findet sich auch im Drama. Die zu Beginn des Schauspiels geschilderte Taufe des neugeborenen Sohnes markiert eine der innerhäuslichen religiösen Praktiken, mit denen innerhalb der bürgerlichen Familie eine Atmosphäre harmonischer Rührseligkeit hergestellt wurde. Diese Emotionalisierung des familiären Raumes schlägt sich unmittelbar im Verhalten der handelnden Figuren nieder. So kommt Johannesʼ Vater bei seinem ersten Auftritt aus dem Taufzimmer, »geht auf Käthe zu, umarmt und küßt sie herzhaft« (EM 15), begrüßt seinen »Herzens-Johannes« (ebd.) und umarmt diesen, »fast lachend vor Rührung« (ebd.). Selbst Braun, der als Atheist religiösen Praktiken distanziert gegenübersteht, erkennt deren emotionalen Gehalt und konstatiert dazu lakonisch: »Gefühlsduselei« (EM 13). Diese Emotionalität der familiä-

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ren Beziehung bleibt indes nicht auf den religiösen Kontext beschränkt, sondern tritt bei der Rückkehr des Vaters am Ende des Dramas noch deutlicher zu Tage. Er präsentiert sich hier »lachend und weinend zugleich […] Er umarmt und küßt Käthe wiederholt. Tochter! Herzenskäthe! Kuß.« (EM 107) Käthe, »ihre Bewegung schwer verbergend« (ebd.) ist »von Rührung überwältigt« (EM 108). Der alte Vockerat erblickt seine Frau, sein »altes, treues Herz« (ebd.), die beiden »fliegen einander stumm in die Arme. Weinen und Lachen« (ebd.). Insbesondere Johannesʼ Eltern pflegen und vertreten also eine Auffassung von Familie als einem Hort von Harmonie und Emotionalität, welche die historische Forschung als den Idealtypus der bürgerlichen Familie identifiziert hat. Zu diesem Idealtypus steht allerdings das im Drama geschilderte Verhalten des Protagonisten in einem Verhältnis der Nicht-Passung. Die ablehnende Haltung gegenüber den religiösen Praktiken seiner Eltern, an denen Johannes bestenfalls aus »Pietät« (EM 13) teilhat, ist nur der erste und tendenziell weniger bedeutsame Aspekt.20 Gravierender tritt der Bruch mit den Prinzipien der Eheund Familienführungen in der Interaktion zwischen Johannes und seiner Frau zu Tage. Käthe erscheint schon am Anfang des Dramas als eine Figur mit emotionalen Problemen, die bereits in der Exposition unvermittelt in Tränen ausbricht (vgl. EM 8). Ihre Schwiegermutter zeigt sich zunächst »erschrocken« (ebd.), deutet aber unmittelbar darauf die Ursache des Problems an: »Jetzt habt ihr den Jungen, nu wird alles anders werden. Johannes wird ruhiger werden…« (EM 9) Indirekt wird also Johannes bereits zu Beginn als Auslöser innerfamiliärer Probleme geschildert, von denen Frau Vockerat vorerst noch annimmt, dass sich diese durch die Geburt des Kindes von alleine lösen werden. In den späteren Dialogen zwischen Johannes und Käthe wird die Ursache dieser Schwierigkeiten für den Leser alsbald deutlicher erkennbar. So lässt der Protagonist beispielsweise im Gespräch über Anna Mahr erkennbar jedwedes Einfühlungsvermögen in die emotionale Befindlichkeit seiner Ehefrau vermissen. Ihr gegenüber preist er unverhohlen so lange die Vorzüge Anna Mahrs, dieses »wundervolle[n] Geschöpf[s]« (EM 36), von dem seine Gattin »noch sehr viel lernen« (ebd.) könne, bis Käthe in Tränen ausbricht (vgl. EM 37). Noch klarer kristallisiert sich Johannesʼ Mangel an Empathiefähigkeit wenige Seiten später beim Streit um die finanzielle Situation der Familie heraus. »Und da hat man seine Ideale von der

20

Aus der Figurenperspektive von Johannesʼ Eltern erscheint Johannesʼ Abkehr »von Gott und dem rechten Weg« (EM 109) als das Hauptproblem. Allerdings ist der vom Text nahegelegte »Identifikationsgrad« (Pfister 1997, 144) mit dieser Perspektive für den Zuschauer eingeschränkt, da die Religiosität der Eltern im Drama an verschiedenen Stellen subtil ironisiert wird. Vgl. EM 106.

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Frau gehabt…Was soll man denn schließlich noch lieben« (EM 60), hält er Käthe vor. Als diese daraufhin in Tränen ausbricht und sich über Johannes Worte beklagt, reagiert dieser mit Unverständnis: »FRAU KÄTHE, in Tränen, leidenschaftlich. Nein, Hannes…SO gut wie du auch bist – manchmal…manchmal bist du so kalt, so grausam, so herzlos. JOHANNES, ein wenig abgekühlt. Da bin ich nun wieder herzlos. Wieso denn nur, Käthe? FRAU KÄTHE, schluchzend. Weil du mich – quälst – du weißt recht gut… JOHANNES. Was weiß ich denn, Käthchen? FRAU KÄTHE. Du weißt, wie wenig ich selbst zufrieden bin mit mir. – Du weißt es – aber…aber du hast keine Spur von Mitleid. Immer wird mir alles aufgemutzt. JOHANNES. Aber Käthchen, wieso denn?« (EM 61)

Die sich an die Aussage »[da] bin ich nun wieder herzlos« anschließende Frage »Wieso denn nur, Käthe?« trägt beinahe schon Züge dramatischer Ironie, denn für den Leser/Zuschauer tritt das abnormale Sozialverhalten des Protagonisten deutlich erkennbar zu Tage. Nur Johannes selbst versteht den verletzenden Charakter seiner Worte nicht. Die wiederholte Frage nach dem ›Wieso‹ ist daher auch nicht als rhetorische Frage zu verstehen. Offenkundig ist Johannes als eine Figur mit einem Mangel an Empathiefähigkeit entworfen, die folglich nicht in der Lage ist, ein Verständnis für die emotionale Befindlichkeit seiner Ehefrau im Sinne jener Hermeneutik des Anderen zu entwickeln, die für die Verwirklichung der bürgerlichen Familie und Ehe als harmonisches Idyll zentral war.21 Wenn oben bemerkt wurde, das bürgerliche Subjekt versuche in den familiären und ehelichen Beziehungen auch, das Glück des Anderen zu mehren, so steht Johannes eigener, unmissverständlich formulierter Anspruch diesem Impetus diametral entgegen: »Die Hauptsache ist für mich, daß ich das, was in mir ist, rausstelle« (EM 60) postuliert er und verneint im gleichen Atemzug seine soziale Funktion als Familienvater: »Ich bin überhaupt kein Familienvater!« (ebd.) Ein derartig selbstbezügliches, gar egozentrisches22 Verhalten ist mit dem idealtypischen

21

Stattdessen führt Johannesʼ gänzlich mitleids- und empathielose Drangsalierung seiner Ehefrau an einen Punkt, an dem Käthe »mit einer Ohnmacht kämpfend« (EM 79), klagt: »Mit mir allein ist er nie zufrieden gewesen. Ich verfluche mein Leben. Ich habe es satt, das verfluchte Dasein (ebd.)« und nach Amerika auswandern will.

22

Diese Egozentrik zeigt sich – daran sei hier noch einmal erinnert – auch in Johannes Interpretation freundschaftlicher Beziehungen, die für ihn vor allem insoweit rele-

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Konzept der bürgerlichen Familie dieser Zeit unvereinbar und geziemte sich nicht für den bürgerlichen Mann. Teile der Forschungsliteratur kommen mit Blick auf das Verhalten des Protagonisten zu dem durchaus plausiblen Schluss, Johannes sei als eine Figur konstruiert, welche in ihrem Verhalten erkennbar nicht über den Status der infantilen Selbstbezüglichkeit hinausgelangt sei.23 Einen schlagenden Beleg für diese These liefert nicht zuletzt Anna Mahr, die Johannes Verhalten mit den Worten kommentiert: »Tun Sie nur, was Sie müssen, Sie großes Kind Sie!« (EM 56) In ihrem abschließenden Urteil über die Hauptfigur geht Weber noch einen Schritt weiter, wenn sie mit einer gewissen Berechtigung über Johannes bemerkt: »Im Grunde verhält er sich asozial.« (Weber 2002, 183) Asozial ist sein Verhalten insoweit, als Johannesʼ Widerstand gegen alle mit der männlich-bürgerlichen Subjektform verbundenen Erwartungen den Fortbestand seines familiären Sozialverbandes gefährdet. Explizit ausformuliert wird diese Bedrohung wiederum von Braun, der gegenüber Anna Mahr anmahnt: »Sie müssen doch auch sehen – daß es sich hier um Leben und Tod einer ganzen Familie handelt.« (EM 56) Brauns Urteil muss dem Leser/Zuschauer durchaus objektiv erscheinen, da diese Figur erstens ein Außenstehender ist und zweitens als Johannes Freund und insgesamt bürgertumskritische Figur nicht verdächtigt werden kann, normativ und ideologisch auf der Seite der Eltern Vockerat zu stehen. Zudem verdeutlicht gegen Ende des Dramas selbst Anna Mahr Johannes die Konsequenzen der angestrebten Beziehung, indem sie mit Bezug auf die Idee einer andersartigen Beziehungen zwischen Mann und Frau kritisch anmerkt: »Und wird Frau Käthe deshalb weniger zugrunde gehen?« (EM 99) Dem Leser wird an dieser Stelle vor Augen geführt, dass sich mit einer Ausnahme alle Figuren der Problematik der vom Protagonisten angestrebten Doppel-Beziehung mit Käthe und Anna bewusst sind. Nur Johannes selbst weigert sich bis zum Ende hartnäckig, die damit verbundenen Schwierigkeiten anzuerkennen. Dabei beruft er sich auf seine Intellektualität, die

vant sind, wie ihm in ihnen die auf seine Person konzentrierte Anerkennung und Huldigung als Wunderkind zu Teil wird. 23

Weber spricht davon, »dass Johannes aufgrund seines kindlich gebliebenen Ichs sich sozialer Interaktion verweigert« (Weber 2002, 183) und auch Whitinger stellt Johannes betreffend fest: »He cannot break the bonds of childhood.« (Whitinger 1993, 236) Für diese Deutung liefert das Drama durchaus Argumente. Wenn Johannes beispielsweise im Streitgespräch mit seinem Vater »eine Gebärde [macht], als ob er sich die Ohren zuhalten wolle« (EM 112), so markiert dies in der Tat ein unerwachsenes Verhalten, das von einer kindlichen Unfähigkeit zeugt, sich ernsthaft mit den Positionen seines Gegenübers auseinanderzusetzen und Kritik zu ertragen.

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er als einen über die gewöhnlichen Ansichten erhabenen Standpunkt ausflaggt, von dem aus er die Ansichten seiner Angehörigen als Denkart der »Philister« (EM 77) und Resultat der »verfluchten Konvention« (EM 97) geißelt. Wenn das Drama indes am Ende die Idee einer neuen Gemeinschaft von Mann und Frau durch den leidenschaftlichen Abschiedskuss als Chimäre entlarvt, so wird dadurch zugleich die elitäre Haltung des Protagonisten als gleichermaßen weltfremd wie borniert desavouiert. 5.1.5 Der antiheroische und unmännliche Suizid des Protagonisten Schlussendlich erscheint der Protagonist also nicht etwa als ein von seinem sozialen Umfeld oder der bürgerlichen Gesellschaft missverstandenes Wunderkind, das mit seinen philosophischen Ideen seiner Zeit schlicht voraus wäre.24 Vielmehr ist die Handlung von Beginn an darauf ausgerichtet, Johannes als einen Protagonisten zu entlarven, der sich qua intellektueller Selbstermächtigung über verschiedene Normen und Erwartungen der bürgerlichen Gesellschaft hinwegsetzt und der sich als erhaben über jede Form von Kritik betrachtet, welche er als das Resultat kläglicher Denkschablonen abqualifiziert. Im Laufe des Dramas entpuppt sich Johannes zudem als eine Figur, die ihrer Intellektualität zum Trotz beruflich nicht »vorwärts kommt« (EM 41) und die ferner im Begriff ist, wirtschaftlich zu scheitern. Die Verantwortung dafür sucht der ewig seufzende und insgesamt als wehleidig dargestellte Protagonist nicht bei sich, sondern bei seinen Mitmenschen, die ihm angeblich die Unterstützung versagen (vgl. EM 20). Überdies wird er als eine egozentrische und weitgehend empathielose Figur geschildert, deren phasenweise asoziales Verhalten nicht nur die familiären und freundschaftlichen Beziehungen gefährdet, sondern unter dem vor allem Käthe als Ehefrau massiv leidet. Dementsprechend kann Meier zugestimmt werden, wenn diese konstatiert, Johannes sei »keineswegs der primäre Sympathieträger des Stückes […], [w]ährend man mit Käthe uneingeschränkt Mitleid haben kann« (Meier 2005, 378f.). Zu einem ähnlichen Urteil kommt auch Sørensen, der den Protagonisten als die Darstellung eines »egoistischen Mannes von fast pa-

24

Damit muss der Einschätzung Hildebrandts, Johannes bringe sich um, weil er merke, »daß er die Enge überkommener Anschauungen nicht zu verlassen mag« (Hildebrandt 1983, 24) entschieden widersprochen werden. Diese Deutung sitzt Johannesʼ Kritik an der angeblichen Beengtheit der herrschenden Anschauungen auf und verkennt, dass seine gesamte Position am Ende des Dramas als intellektueller Selbstbetrug desavouiert wird.

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thologischer Schwäche des Charakters« (Sørensen 1997, 375) auffasst. Alles in allem ist das Drama deutlich darum bemüht, das Publikum bzw. den Leser gegen diese Hauptfigur einzunehmen, die ihr Scheitern an den Normen der bürgerlichen Subjektkultur hinter ihrem »Bildungshochmut« (EM 50) zu verstecken sucht. In seinem deutlichen Abweichen vom Subjekt-Ideal des bürgerlichen Mannes dürfte Johannes Vockerat damit für die zeitgenössischen Leser und Zuschauer Hauptmanns erkennbar geworden sein als eines jener »schwarzen Schafe, deren unangepasste ›Unbürgerlichkeit` in nahezu jeder Bürgerfamilie […] die Stimmung verdüsterte« (Budde 1994, 14) und die ihrer eigenen sozialen Schicht als »Versager« (Schulz 2005, 22) galten. Damit komme ich zurück zur Suizidmethode und zu der Frage, was es bedeutet, wenn sich die Hauptfigur ertränkt und nicht erschießt. Nach wie vor scheint mir die kausale Motivierung des ganzen Suizidgeschehens nicht zwingend auf eine Selbsttötung des Protagonisten im Wasser hinauszulaufen. Aus der Agentenperspektive der innerhalb der erzählten Welt agierenden Figuren betrachtet wäre es nicht mehr und nicht weniger logisch, würde sich Johannes am Ende erschießen. Das Suizidgeschehen ist folglich offenbar vor allem kompositorisch motiviert. Die Realisierung der einen und die Zurückweisung der anderen Suizidmethode fungiert als eine Art abschließender Kommentar zur Hauptfigur, welcher auf den kulturellen Vorstellungen aufbaut, die mit dem Pistolen- und dem Wassersuizid verbunden sind. Wenn Johannes, obwohl er zuvor bereits den Revolver in der Hand hielt, letztlich nicht den mit dem Topos des heroischen Suizids verbundenen Tod durch Erschießen stirbt, so verweist Hauptmanns Drama damit indirekt auf die absolut unheroischen Beweggründe dieses Suizids. Denn die Selbsttötung des Protagonisten ist weder ein Akt der Selbstaufopferung noch eine Selbstentleibung im Namen eines höheren Ideals wie beispielsweise der Ehre. Vielmehr nimmt sich Johannes am Ende vor allem deshalb das Leben, weil er – salopp formuliert – seinen Willen nicht bekommt. Der Suizid dieser Figur, auf deren infantiles Verhalten bereits hingewiesen wurde, ist letztlich kaum mehr als ein besonders radikaler Akt kindlichen Trotzes und damit alles andere als heldenhaft. Während die Zurückweisung der Todesart des Erschießens damit auf die Beweggründe und den Gehalt des Suizids rekurriert, verweist die Realisierung der Selbstertränkung in allgemeiner Weise auf die Beschaffenheit der Hauptfigur. Wie ich zurückliegend argumentiert habe, scheitert nicht nur Johannesʼ Subjektivierung als Bürger, sondern insbesondere seine Subjektivierung als bürgerlicher Mann, der zugleich Ehegatte und Familienvater ist. Wenn der Protagonist zur unumkehrbaren Besiegelung dieses Scheiterns den kulturell eindeutig weiblich codierten Tod im Wasser findet, so weist ihn das vor dem Hintergrund der binären Geschlechterordnung zugleich als eine Figur aus, welche den

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geschlechtsspezifischen Erwartungen an den bürgerlichen Mann nicht zu entsprechen vermag. Anders formuliert: Durch den Tod im Müggelsee erkennt der Text dem als infantil geschilderten Protagonisten die Männlichkeit ab, welche in diesem Fall dezidiert eine bürgerliche Männlichkeit ist.

5.2 D ER DEKADENTE ASKET IM BÜRGERLICHEN G EWAND : T HOMAS M ANNS D ER KLEINE H ERR F RIEDEMANN Als im Mai 1897 die Novelle Der kleine Herr Friedemann in der Neuen deutschen Rundschau publiziert wurde, war der zu diesem Zeitpunkt 22-jährige Autor Thomas Mann im literarischen Betrieb des wilhelminischen Kaiserreichs noch ein unbeschriebenes Blatt. Im darauffolgenden Jahr war der gleiche Text titelgebend für Thomas Manns ersten Novellenband, den er im Fischer-Verlag veröffentlichte. Der kleine Herr Friedemann markierte damit den literarischen Durchbruch des späteren Nobelpreisträgers, an den sich eine mehr als 50-jährige Schaffensperiode anschließen sollte. Neben dieser besonderen Stellung des Textes im Werk seines Autors ist auch das Ende der Novelle bemerkenswert. Von der umworbenen Gerda von Rinnlingen barsch zurückgewiesen, nimmt sich die Hauptfigur Johannes Friedemann das Leben. Anders als in Gerhart Hauptmanns wenige Jahre zuvor uraufgeführtem Drama Einsame Menschen wird die Selbstertränkung des Protagonisten im Kleinen Herrn Friedemann zum Gegenstand der literarischen Darstellung: »Er lag da, das Gesicht im Grase, betäubt, außer sich, und ein Zucken lief jeden Augenblick durch seinen Körper. Er raffte sich auf, tat zwei Schritte und stürzte wieder zu Boden. Er lag am Wasser. Was ging eigentlich in ihm vor, bei dem, was nun geschah? Vielleicht war es dieser wollüstige Hass, den er empfunden hatte, wenn sie ihn mit ihrem Blicke demütigte, der jetzt, wo er, behandelt von ihr wie ein Hund, am Boden lag, in eine irrsinnige Wut ausartete, die er betätigen musste, sei es auch gegen sich selbst…ein Ekel, vielleicht vor sich selbst, der ihn mit einem Durst erfüllte, sich zu vernichten, sich in Stücke zu zerreißen, sich auszulöschen… Auf dem Bauche schob er sich noch weiter vorwärts, erhoben den Oberkörper und ließ ihn ins Wasser fallen. Er hob den Kopf nicht wieder; nicht einmal die Beine, die am Ufer lagen, bewegte er mehr.« (KF, 94)

Buchstäblich auf allen Vieren kriecht die Hauptfigur in den Tod. Augenscheinlich ist die Sterbeszene nicht nach realistischen Maßgaben gestaltet, denn eine

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solche Durchführung der Selbsttötung ist in der Realität nahezu unmöglich.25 Stattdessen liegt hier eine künstlerische Stilisierung der Darstellung des Suizids vor. Es ist sicher richtig, dass die Selbstertränkung lange Zeit eine weiblich konnotierte Art der Selbsttötung markierte. Dennoch scheinen solche Interpretationen wenig plausibel, die eine auf dem »passiven Hineingleiten ins Wasser« (Lange-Kirchheim 2008, 192) beruhende Analogie zwischen dieser Szene und dem »Topos von der Frau als schöner Leiche« (ebd.) herstellen.26 Eine solche Lesart des Suizids verkennt, dass die Schlussszene mit der Akzentuierung des Kriechens, der »Demütigung«, des »Ekels« und der »irrsinnigen Wut« gerade auf das erniedrigende und aggressive Moment in der Darstellung der Selbsttötung abzielt. Schlüssiger sind stattdessen jene Deutungen, die das Entwürdigende und Demütigende des Todes der Hauptfigur in den Vordergrund rücken.27 Es stellt sich für die nachfolgende Analyse nun die Frage, was es mit der Figur auf sich hat, der ein derart entwürdigender Tod zugeschrieben wird. Ausgehend von den Überlegungen Jaak de Vosʼ, der in Friedemann einen Vertreter des »dekadenten Bürgertums« (de Vos 2008, 137) ausmacht, werde ich diese These im Folgenden aufgreifen und spezifizieren. Meines Erachtens geht die Subjektivierung der Hauptfigur nämlich nicht vollständig in der Ausfüllung der »bürgerliche Existenzform« (ebd., 121) auf. Vielmehr handelt es sich, wie ich im Folgenden argumentieren werde, bei Johannes Friedemann um eine Figur, die bei

25

Sich nur mit dem Oberkörper am Rande eines flachen Gewässers liegend zu ertränken, würde voraussetzen, dass man in der Lage wäre, den eigenen Atemreflex zu unterdrücken und durch reine Willenskraft den Kopf unter Wasser zu halten. In der Realität ist dies nahezu unmöglich. Zur Durchführungsproblematik bei Wassersuiziden in der Realität vgl. Verzele 2006, 65.

26

Lange-Kirchheim dient diese Lesart der Schlussszene zur Untermauerung ihrer These, Johannes Friedemann sei eine feminisierte und homosexuelle Figur, die als eine »Maske für den auf Grund seiner sexuellen Orientierung Ausgeschlossenen« (Lange-Kirchheim 2008, 205) empirischen Autor Thomas Mann fungiere. Diese Deutung des Textes stützt sich auf die Herstellung einer Analogie zwischen dem angeblich homosexuellen Autor Thomas Mann und der fiktiven Figur Johannes Friedemann. Allerdings lässt sich weder aus den Selbstzeugnissen Thomas Manns noch aus der Novelle selbst glaubhaft belegen, dass es in dem Text wirklich um das Thema der Homosexualität geht (anders als beispielsweise in Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig (1911)).

27

Bei Werner Hickel heißt es: »Friedemanns Tod ist entwürdigend, elendlich schiebt er sich auf dem Bauch vorwärts.« (Hickel 1997, 149) Dem schließt sich Borge Kristiansen an. Vgl. Kristiansen 2003, 426. Vgl. hierzu auch Pütz 1996, 214.

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ihrer Selbstbildung die bürgerliche Subjektivierungsweise zwar aufgreift, diese aber entscheidend in Richtung eines asketischen Ästhetizismus modifiziert. Die Subjektform, in die sich der Protagonist bringt, widerspricht in zentralen Punkten dem bürgerlichen Subjekt-Ideal und wird am Ende des Textes als ein dekadentes und nicht existenzfähiges Konstrukt desavouiert. 5.2.1 Vorbemerkung: Der »unglückliche Krüppel« und sein Außenseiter-Status Um die Spezifik der Selbstbildung Friedemanns analysieren zu können, ist es zunächst nötig, die äußeren Bedingungen zu erläutern, unter denen sich diese Subjektivierung vollzieht. Der wichtigste Aspekt des auf knapp dreißig Seiten geschilderten Lebens Friedemanns wird bereits im ersten Satz der Novelle angesprochen: »Die Amme hatte die Schuld.« (KF 66) Diese schon auf das tragische Ende des Textes hinausdeutende Schuldzuweisung des heterodiegetischen Erzählers bezieht sich auf die folgenreiche körperliche Beeinträchtigung des Protagonisten. Seit die betrunkene Amme Johannes Friedemann als Kleinkind vom Wickeltisch fallengelassen hat, leidet er unter einer schwächlichen Konstitution mit einer »spitzen und hohen Brust, seinem weit ausladenden Rücken und seinen viel zu langen, mageren Armen« (KF 67f.). In der Darstellung des Erzählers ist der Protagonist ein »gänzlich verwachsene[r] Mensch« (KF 93), der von seinen Mitmenschen als »unglückliche[r] Krüppel« (KF 71) wahrgenommen wird. Die Beeinträchtigung der Hauptfigur stellt sowohl ein soziales wie auch ein medizinisches Problem dar, aus welchem sich schon im Kindesalter Konsequenzen für die zwischenmenschliche Interaktion und die Subjektivierung Friedemanns ergeben. Dieser ist einerseits körperlich unfähig, an den Spielen seiner Klassenkameraden (vgl. KF 68) teilzunehmen. Auf der anderen Seite bewahren die Altersgenossen auch ihrerseits gegenüber dem Verwachsenen eine »befangene Zurückhaltung« (ebd.). Dementsprechend gelingt es dem Protagonisten nicht, Freundschaften zu knüpfen, womit ihm früh jener »Outsider-Status« (Kristiansen 2003, 392) zufällt, den er auch als Erwachsener behält. Seit seiner Kindheit ist Friedemann »daran gewöhnt, für sich zu stehen und die Interessen der anderen nicht zu teilen« (KF 69). Was hier zunächst am Beispiel der Freundschaft skizziert wurde, gilt genauso auch für jede Form der intimen geschlechtlichen Beziehungen, aus denen sich der Protagonist, wie an späterer Stelle zu zeigen ist, ebenfalls ausgeschlossen wähnt. Beeinflusst von den aufgrund seiner Missbildung erfahrenen Zurückweisungen ist die Weltwahrnehmung der Hauptfigur geprägt von dem Eindruck der ei-

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genen Andersartigkeit.28 Dennoch vollzieht sich Friedemanns Subjektivierung nicht von der Gesellschaft losgelöst und damit gewissermaßen im luftleeren Raum, sondern sie ist erkennbar beeinflusst von der Subjektivierungsweise, die für das Herkunftsmilieu des Protagonisten typisch ist. Dieses Milieu ist ein dezidiert bürgerliches, denn als Sohn des niederländischen Konsuls entstammt Friedemann einer Kaufmanns-Familie, die vom Erzähler »zu den ersten Kreisen der Stadt« (KF 68) gezählt wird. In seiner vor allem im ersten Teil der Novelle29 geschilderten Selbstbildung greift der Protagonist die für dieses Milieu typischen Subjektivierungspraktiken auf und eignet sie in einer spezifischen Weise an, welche mit den bürgerlichen Konventionen nicht in Einklang zu bringen ist. 5.2.2 Ein Asket in Bürger-Uniform: Die Modellierung der bürgerlichen Subjektivierung Kleidung und Haltung

Ein erster Bereich, in dem die Orientierung der Hauptfigur an der bürgerlichen Subjektivierungsweise erkennbar wird, betrifft die Praktiken des Sich-Kleidens. Mehrfach thematisiert der Erzähler die Kleidung des Protagonisten,30 der adrett gewandet in dunklem Frack oder »tadellosem schwarzen Anzug« (KF 77) und hellem Überzieher geschildert wird und der überdies die für das Bürgertum typischen Modeartefakte Zylinder und Spazierstock mit sich führt. Mit Blick auf die Ergebnisse der historischen Erforschung der bürgerlichen Mode31 ist hier de Vos zuzustimmen, wenn er bei Friedemanns Kleidung von einer »Bürger-Uniform«

28

»Diese Dinge, sagte er sich, von denen die Anderen ersichtlich ganz erfüllt waren, gehörten zu denen, für die er sich nicht eignete.« (KF 68) »Den Anderen gewährt es Glück und Freude, mir aber vermag es immer nur Gram und Leid zu bringen.« (KF 69) Hervorhebungen durch G.V.

29

Die Novelle besteht aus zwei unterschiedlich langen Teilen, in denen verschiedene Abschnitte aus dem Leben der Hauptfigur erzählt werden. Die ersten sechs Kapitel schildern in stark zeitraffender Darstellung die ersten 30 Lebensjahre Friedemanns samt seiner Lebensroutinen und Gewohnheiten. Die übrigen neun Kapitel haben die letzten zwei Wochen im Leben der Hauptfigur zum Inhalt. Den ereignishaften Bruch zwischen diesen beiden Abschnitten markiert das Auftreten Gerda Rinnlingens, das am Ende zur Katastrophe führt.

30

Vgl. bei den folgenden Ausführungen zur Kleidung KF 71, 74, 77, 79, 82, 90.

31

Vgl. hier vor allem Döcker 1994, 151-158; Brändli 1996, 103-106; Budde 2009, 87 sowie, speziell zur Bedeutung des Hutes als kulturelles Artefakt des Bürgertums, Bausinger 1987, 125-127.

194 │ VON DER T ORHEIT , WÄHLERISCH ZU STERBEN

(de Vos 2008, 126) spricht. In den Praktiken des Sich-Kleidens folgt der Protagonist dem leitenden Prinzip der »demonstrativen Schlichtheit« (Brändli 1996, 105), bei welchem sich der bürgerliche Mann durch seine Garderobe als zurückhaltend und seriös gerierte. Die Kleidung war Teil eines größeren Komplexes von Praktiken, die allesamt das öffentliche In-Erscheinung-Treten des männlich-bürgerlichen Subjekts betrafen und die auf die Herstellung der sozialen Mitspielfähigkeit in der gesellschaftlichen Interaktion zielten. Gemäß der zeitgenössischen Vorstellung, dass sich ein »moderater ›innerer‹ Charakter im Außen ausdrückt« (Reckwitz 2010, 192), waren neben der korrekten Kleidung auch »Gestik, Mimik, Körperhalten (beim Stehen, Gehen, Sitzen, Reden, etc.)« (ebd.) Gegenstand der Sorge des bürgerlichen Subjekts um sich und sein Äußeres. Das ganze Auftreten war dem »Code einer souverän-reflexiven Selbstregulierung« (ebd., 198) und dem Grundsatz des »Maßhalten und Sich-Bescheiden« (Budde 2009, 92) verpflichtet. Allerdings wird in der Novelle mehrfach ein körperliches Verhalten Friedemanns geschildert, das diesen Grundsätzen zuwider läuft. Es handelt sich um die Gangart des Protagonisten. Der Leser erfährt, die Hauptfigur spaziere »mit der komisch wichtigen Gangart, die Verwachsenen manchmal eigen ist« (KF 68) und einer »putzigen Wichtigkeit« (KF 71) durch die Straßen, was der Erzähler mit dem Umstand erklärt, dass Friedemann »seltsamerweise ein wenig eitel« (ebd.) sei. Was der Text hier mit anderen Worten schildert, ist ein regelrechtes Stolzieren des Protagonisten. Rhetorisch besonders prägnant eingefangen wird dieses eitle Stolzieren im siebten Kapitel. Dort heißt es, Friedemann spaziere »winzig und wichtig, neben dem Großkaufmann Stephens« (KF 74). Wenn an dieser Stelle der Geltungsanspruch des Protagonisten durch das contradictio in adiecto (winzig und wichtig) gleichermaßen betont wie unterminiert wird, so ist dies im Übrigen Ausdruck jener ironischen Distanz, die große Teile der Forschung als Grundhaltung des Erzählers gegenüber der Hauptfigur ausgemacht haben.32 In jedem Fall aber widerstrebt die sich in der stolzierenden Gangart niederschlagende Eitelkeit Friedemanns dem zeitgenössisch-bürgerlichen Ideal eines Sub-

32

Vgl. exemplarisch Kluge 1967, 490; Vaget 1984, 56; de Vos 2008, 127; Von der Lühe 2005, 3. Diese ironische Distanz des Erzählers zur Hauptfigur schlägt sich unter anderem in der Bezeichnung des Protagonisten nieder. Obwohl der Vorname der Hauptfigur bereits früh im Text genannt wird, spricht der Erzähler vorwiegend vom ›kleinen Herrn Friedemann‹. Qua verniedlichender Bezeichnung wird auf diese Weise die komplette Novelle hindurch der Geltungsanspruch des Protagonisten fortwährend unterminiert.

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jekts, das sich »exzessiv uneitel« (Budde 2009, 87) geben und moderat auftreten sollte. Ähnlich wie sein Gang, so widerspricht auch Friedemanns Körperhaltung den bürgerlichen Vorstellungen. Mehrfach beschreibt der Erzähler erstens die gebeugte Körperhaltung des Protagonisten33 und zweitens den tief zwischen den Schultern sitzenden Kopf.34 Nun ist es aber gerade diese zum Ende der Novelle immer stärker thematisierte Gebeugtheit der Hauptfigur, die der Vorstellung von der korrekten bürgerlichen Körperhaltung diametral entgegensteht. Auf die »Selbstdisziplinierung des Körpers« (Reckwitz 2010, 119) bedacht, trainierte sich das bürgerliche Subjekt darin, »die Schultern […] nach rückwärts »gedrückt« und das Rückgrat durchgestreckt, […] den Kopf erhoben« (Döcker 1994, 95) zu halten. Unklar bleibt, ob es sich bei Friedemanns Körperhaltung um ein medizinisches Problem handelt oder ob die Gebeugtheit eher eine Angewohnheit ist. In beiden Fällen aber steht die Körperhaltung der Hauptfigur in einem Verhältnis der Nicht-Passung zum bürgerlichen Subjekt-Ideal. Zusammengefasst wird also bereits an den äußerlichen Aspekten eine Diskrepanz zwischen Friedemanns Subjektivierung und dem bürgerlichen Subjekt-Ideal erkennbar. Zwar ist der Protagonist bürgerlich gekleidet, er beherrscht es aber nicht, sich wie ein Bürger zu bewegen oder die entsprechende Körperhaltung anzunehmen. Diese Kluft zeigt sich auch in Friedemanns Aneignung weiterer zentraler Praktiken der bürgerlichen Subjektivierungsweise. Praktiken des Arbeitens

Einer der wichtigsten Komplexe, in denen sich die Subjektivierung des männlichen Bürgers vollzog, betraf die Praktiken des beruflichen Arbeitens. In Übereinstimmung mit den Ergebnissen der historischen Bürgertumsforschung35 räumt Andreas Reckwitz diesem Praktikenkomplex eine herausgehobene Stellung ein: »Das bürgerliche Subjekt ist primär ein Arbeitssubjekt: Die körperlich mentalen Dispositionen, aus denen es sich zusammensetzt, sind zu großen Teilen solche, die sich in der Arbeitspraxis ausbilden.« (Reckwitz 2010, 109) Der bürgerliche Mann verstand sich dementsprechend als ein Subjekt, das »stolz auf seine eige-

33

»Er blieb zum zweiten Male stehen, beugte den verwachsenen Oberkörper zurück.« (KF 80) »Er saß vorgebeugt und hielt den Hut.« (KF 84) »Er saß vornüber gebeugt.« (KF 88)

34

»Sein Kopf saß tiefer denn je zwischen seinen Schultern.« (KF 69) »Friedemann saß, unbeweglich, blaß und still, den Kopf tief zwischen den Schultern.« (KF 78) »Außer sich ließ er seinen Kopf ganz zwischen die Schultern sinken.« (KF 85)

35

Vgl. Döcker 1994; Habermas 2000a; Hettling/Hoffmann 2000, Budde 2009.

196 │ VON DER T ORHEIT , WÄHLERISCH ZU STERBEN

nen Leistungen war und sich und seine Arbeit als Apostel in göttlichem Auftrag sah« (Habermas 2000a, 135). Betrachtet man nun die Novelle im Hinblick auf die Frage, welche Rolle die Arbeit für den Protagonisten spielt, so fällt zunächst auf, dass die Schilderung der beruflichen Praktiken insbesondere im Vergleich zu anderen Praktiken wenig Raum einnimmt. Der Erzähler berichtet immerhin, Friedemann sei nach der Schule mit siebzehn als Lehrling in das Geschäft eines Holzhändlers eingetreten, »um Kaufmann zu werden, wie in seinen Kreisen alle Welt es war« (KF 70). Diese Berufswahl Friedemanns folgt grundsätzlich zunächst den Gepflogenheiten des Bürgertums, denn die Tätigkeit als Kaufmann zählt zu den typisch wirtschaftsbürgerlichen Berufen, worauf nicht zuletzt die Bemerkung »wie in seinen Kreisen alle Welt es war« rekurriert. Aufschlussreich ist aber eine Bemerkung des Erzählers über Friedemanns beruflichen Ehrgeiz. Der Leser erfährt, dass der Protagonist nach der Lehre »irgend ein kleines Geschäft übernahm, eine Agentur oder dergleichen, was nicht allzuviel Arbeit in Anspruch nahm« (KF 72). Es wäre nicht plausibel, die an dieser Stelle unpräzise Informationsvergabe über die Art der beruflichen Beschäftigung mit einer Unwissenheit des durchgängig intern fokalisierenden Erzählers zu erklären, der ansonsten genauestens über die biographischen Umstände und das Innenleben der Hauptfigur Bescheid weiß. Vielmehr suggeriert die vage Formulierung, Friedemann habe »irgend ein Geschäft« oder »dergleichen« eröffnet, dass die berufliche Praxis des Protagonisten offenbar keine Rolle spielt und daher auch keiner präziseren Erläuterung bedarf. Der Eindruck der Nachrangigkeit des Beruflichen wird in der gleichen Passage noch verstärkt, wenn der Erzähler bemerkt, Friedemann habe die Auswahl der Räumlichkeiten für seine Agentur im elterlichen Haus nicht etwa unter geschäftlich-strategischen Aspekten getroffen, sondern »damit er nur zu den Mahlzeiten die Treppe hinaufzusteigen brauchte« (KF 72). Wenn der Erzähler danach nicht wieder auf Friedemanns berufliche Arbeit zu sprechen kommt, so kann also beileibe nicht die Rede davon sein, der Protagonist repräsentiere das typisch bürgerliche Subjekt, welches sich »in seiner Arbeitsleistung […] seiner souveränen Selbsterhaltung und moralischen Disziplin, seines vollwertigen Subjektseins« (Reckwitz 2010, 109) versichere. Das zum bürgerlichen Subjekt-Ideal gehörende Arbeitsethos, bei dem »Leistung die zentrale Kategorie« (Döcker 1994, 14) markierte und »Tugenden wie Fleiß und Sorgfalt« (Budde 2009, 13) geschätzt wurden, findet sich in der beruflichen Praxis der Hauptfigur nicht wieder. Vielmehr geht es Friedemann im Gegenteil gerade darum, dass das Geschäft nicht »allzu-

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│ 197

viel Arbeit« (KF 72) in Anspruch nimmt.36 Denn ihre Zeit und Aufmerksamkeit verwendet die Hauptfigur vor allem auf die Aneignung der Praktiken des Kulturerwerbs, deren Darstellung in der Novelle sehr viel mehr Platz eingeräumt wird. Praktiken des Kulturerwerbs

Eine erste, für die Subjektivierung der Hauptfigur relevante Praktik des Kulturerwerbs ist das Lesen literarischer Werke. Der Stellenwert, den die Lektüre für die Lebensführung des Protagonisten besitzt, wird auf zwei unterschiedliche Arten herausgestellt. Zum einen wird der Vollzug dieser Praktik in actu dargestellt, indem in der Novelle mehrfach Situationen geschildert werden, in denen Friedemann ein Buch zur Hand hat.37 Zum anderen wird die Bedeutung des Lesens und anderer Praktiken des Kulturerwerbs auch vom Erzähler betont: »Und dass zur Genussfähigkeit Bildung gehört, ja, dass Bildung immer nur gleich Genussfähigkeit ist, – auch das verstand er: und er bildete sich. Er liebte die Musik und besuchte alle Konzerte, die etwa in der Stadt veranstaltet wurden. Er spielte selbst allmählich, obgleich er sich ungemein merkwürdig dabei ausnahm, die Geige nicht übel und freute sich an jedem schönen und weichen Ton, der ihm gelang. Auch hatte er sich durch viel Lektüre mit der Zeit einen literarischen Geschmack angeeignet, den er wohl in der Stadt mit niemandem teilte.« (KF 70)

Aus dieser Passage wird nicht nur der besondere Stellenwert dieser Praktiken deutlich, sondern auch die implizite Logik ihrer Aneignung, die vorrangig auf die Ausprägung einer ästhetischen Genussfähigkeit zielt. Dabei lässt sich zunächst konstatieren, dass sich Friedemann mit seiner Literaturbegeisterung grundsätzlich an der bürgerlichen Subjektkultur orientiert, innerhalb derer das Lesen literarischer Werke eine wichtige Praktik markierte. Belesenheit galt »als untrügliches Zeichen von gebildeter Bürgerlichkeit« (Budde 2009, 61) und die

36

Gehrke/Thunich sprechen pointiert davon, Friedemann fliehe »engagierter Geschäftigkeit, indem er sich die Tarnkappe einer in seinen Kreisen üblichen Kaufmannsexistenz überstreift« (Gehrke/Thunich 1987, 32).

37

So wird beispielsweise geschildert, wie Friedemann an seinem dreißigsten Geburtstage mit »einer guten Cigarre im Mund und einem guten Buche in der Hand« (KF 72) nach dem Mittagessen im Garten saß. Darüber hinaus rekurriert der Text noch mehrfach auf die Lektüre des Protagonisten. Vgl. KF 68, 69 und 82.

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Lektüre literarischer Werke markierte das, was Reckwitz als zentrale »bürgerliche Praktik des Selbst« (Reckwitz 2010, 165) bezeichnet.38 Allerdings weicht Friedemann in zwei Aspekten von der bürgerlichen Lesepraxis ab. Der erste betrifft die Funktion der Lektüre und die implizite Logik dieser Praktik. Durch das Lesen literarischer Texte sollte das bürgerliche Subjekt vor allem »eine Sensibilität für moralische Dilemmata und Identitätskonflikte einschließlich ihrer bürgerlich angemessen erscheinenden Auflösung« (ebd.) ausprägen. Relevant waren vor allem solche Texte, »die lebenspraktische Exemplarität« (ebd., 156) beanspruchten und durch deren Lektüre das bürgerliche Subjekt eine »Bildung des Selbst« (Hettling/Hoffmann 2000, 14) als ein moralisches Subjekt forcierte.39 Friedemanns Zugang zur Literatur hingegen ist ein rein ästhetischer und genussvoller, der aber nicht darauf zielt, zur Charakterbildung oder zur moralischen Erziehung beizutragen.40 Der zweite abweichende Aspekt betrifft den Stellenwert der Lektüre im Gesamtensemble der bürgerlichen Subjektivierungspraktiken. Die Lektüre war zweifelsohne von Bedeutung, sie durfte allerdings nicht zur Obsession werden. Literatur und Kunst allgemein bildeten eine »Gegenwelt zur Arbeitswelt« (Budde 2009, 61), welche zeitweise über den beruflichen Alltag erheben konnte, »aber Erlösungs- und Sinnstiftungsqualitäten besaß sie nicht« (Groppe 2007, 68). Das bürgerliche Subjekt sollte bei aller Hochschätzung von Bildung und Kultur dennoch »nicht zu tief in die Welt

38

Malinowski konstatiert allgemein: »Bildung und Bildungswissen sind im Bürgertum das Ideal, dem wichtige Bereiche des alltäglichen Lebens untergeordnet werden.« (Malinowski 2003, 76) Vgl. darüber hinaus zur Bedeutung literarischen Lesens im Bürgertum Gall 1999, 95f.; Groppe 2007, 68; Budde 1994, 124f.

39

Daneben sei die »Praktik des bürgerlichen Lesens« (Reckwitz 2010a, 160) auch ein Art körperliches und mentales Training gewesen, bei dem das Subjekt »eine unbewusste Selbstregulierung körperlicher Bewegungen, eine dauerhafte Konzentration der Aufmerksamkeit« (ebd.) eingeübt habe. Das Lesen stellte sich demzufolge als eine »körperlich immobile Aktivität dar, die sich in einer körperlichen ›Arbeitshaltung‹ am Schreibtisch« (ebd.) vollzog. Auch von einem solchen Training der dauerhaften Konzentration oder eines Lesens in Arbeitshaltung am Schreibtisch weicht Friedemanns Lesepraxis eher ab, etwa wenn geschildert wird, wie er im Garten sitzend das Buch weglegt, um dem »vergnügte[n] Zwitschern der Sperrlinge« (KF 72) zu lauschen.

40

So bemerkt der Erzähler über Friedemanns ästhetischen Zugang zu Literatur: »Er wußte den rhythmischen Reiz eines Gedichtes voll auszukosten, die intime Stimmung einer fein geschriebenen Novelle auf sich wirken zu lassen.« (KF 70)

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│ 199

der Kunst eintauchen, um sich nicht in ihr zu verlieren« (Budde 2009, 63).41 Bei Friedemann aber ist dies in gewisser Weise der Fall. Denn der als randständig dargestellte Arbeitsalltag des Protagonisten spielt eine deutlich untergeordnete Rolle gegenüber der Beschäftigung mit den Praktiken des Kulturerwerbs. Kunst und Kultur fungieren für die Hauptfigur nicht nur als »Kompensation und Rekreation gegen die Forderungen des Bürgeralltags« (ebd., 61), sondern sie erscheinen als eigentlicher Lebensinhalt. Was obenstehend für die Praktik der Lektüre ausgeführt wurde, gilt in gleicher Weise auch für das Musizieren und den Theaterbesuch. So steht auch bei Friedemanns Violinenspiel das ästhetische Erleben, die Freude an »jedem schönen und weichen Ton« (KF 70) im Vordergrund und nicht etwa die Disziplinierung des Körpers oder die Selbstbildung als moralisches Subjekt. Ähnlich stellt sich dies beim Theaterbesuch dar, über den der Erzähler bemerkt, dieser sei Friedemanns »Hauptneigung, […] seine eigentliche Leidenschaft« (KF 71). Auch hier geht es für den Protagonisten nicht darum, sich kathartisch von bestimmten Affekten zu befreien oder sich durch die Auseinandersetzung mit den dramatisch vermittelten Konflikten in seinem sittlichen Empfinden zu trainieren. Vielmehr fungiert der Theaterbesuch als eine »mit Regelmäßigkeit« (ebd.) vollzogene Praktik, durch welche der Protagonist sein Bedürfnis nach ästhetischem Erleben oder – mit den Worten des Erzählers – sein »dramatisches Empfinden« (ebd.) befriedigt. Dabei wird die somatische Dimension beim Vollzug dieser Praktik dezidiert miterzählt: »Bei einer wuchtigen Bühnenwirkung, der Katastrophe eines Trauerspiels, konnte sein ganzer kleiner Körper ins Zittern geraten.« (ebd.) Das ästhetische Potenzial eines Theaterbesuchs beschränkt sich also nicht auf eine rein geistige Stimulanz, sondern es verschafft dem Protagonisten buchstäblich auch ein körperliches Vergnügen. Bereits an dieser Stelle lässt sich mit Blick auf obenstehende Ausführungen der in der Forschungsliteratur vertretenen Ansicht zustimmen, bei Friedemann handle es sich um eine »ästhetizistische Lebensform« (Kristiansen 2003, 399).42 Gleichwohl geht die Ästhetisierung

41

Reckwitz bemerkt hierzu: »Die grundsätzliche Bruchstelle besteht darin, dass die reflexive, emotionale und imaginative Innenwelt, die sich in der Praxis des Lesens und auch der des Schreibens im Subjekt ausbildet, in ihrer Tendenz eine Form annehmen kann, welche die Kriterien der bürgerlichen Bildung, Kognitivität und Moralität überschreitet. Insbesondere das Lesen fiktionaler Literatur stellt sich für die Stabilität bürgerlicher Subjekthaftigkeit als ein Risiko potentieller affektiver Exzessivität dar.« (Reckwitz 2010a, 172)

42

Vgl. auch Kluge 1967, 492; Hickel 1997, 140; von der Lühe 2005, 43.

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der Lebensführung des Protagonisten noch weiter und umfasst verschiedene Selbsttechniken. Selbsttechnik I: Affektumwertung

Ein ästhetischer Weltzugang ist nicht nur kennzeichnend für Friedemanns Auseinandersetzung mit Literatur, Musik und Theater, sondern er avanciert zu einer Art lebensphilosophischem Programm, mit dem der Protagonist die Krisen seines Alltags bewältigt. Der Erzähler thematisiert dieses Programm zuerst im Zusammenhang mit dem Ableben von Friedemanns Mutter: »Das war ein großer Schmerz für Johannes Friedemann, den er sich lange bewahrte. Er genoß ihn, diesen Schmerz, er gab sich ihm hin, wie man sich einem großen Glücke hingibt, er pflegte ihn mit tausend Kindheitserinnerungen und beutete ihn aus als sein erstes starkes Erlebnis.« (KF 70)

Die Auseinandersetzung der Hauptfigur mit dem Tod ihrer Mutter wird in dieser Passage nicht als etwas geschildert, das dem Protagonist lediglich widerfährt und dem dieser passiv ausgeliefert wäre. Wenn es heißt, Friedemann »bewahrt« den Schmerz, »pflegt« ihn und »beutet ihn aus«, so evozieren diese Verben vielmehr einen aktiven Umgang mit dem Erlebten. Friedemann setzt sich in ein bestimmtes Verhältnis zu einem spezifischen Typ sozialer Erfahrung, bei dem negative Affekte qua geistiger Arbeit in einen beinahe lustvollen Gemütszustand überführt werden. Das philosophische Programm dahinter wird noch im gleichen Kapitel der Novelle vom Erzähler erläutert: »[M]an konnte beinahe sagen, daß er ein Epikuräer war. Er lernte begreifen, daß alles genießenswert, und daß es beinahe töricht ist, zwischen glücklichen und unglücklichen Erlebnissen zu unterscheiden. Er nahm alle seine Empfindungen auf und pflegte sie, die trüben so gut wie die heiteren: auch die unerfüllten Wünsche, – die Sehnsüchte. Er liebte sie um ihrer selbst willen und sagte sich, daß mit der Erfüllung das Beste vorbei sein würde […] Ja, er war ein Epikuräer, der kleine Herr Friedemann!« (KF 70f.)

Wichtiger als die Frage, ob die vom Erzähler dargestellte Haltung des Protagonisten tatsächlich den Lehren des Epikureismus entspricht,43 scheint mir die Frage nach Wesen und Funktion dessen, was ich hier zunächst notdürftig als Hal-

43

Wie bereits Geldszus bemerkte, scheint die Novelle eher von einer Vorstellung vom Epikureismus auszugehen, die stark an Nietzsches Lesart dieser philosophischen Schule orientiert ist. Vgl. Geldszus 1999, 60.

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│ 201

tung bezeichnet habe. Wie oben bereits bemerkt, handelt es sich um ein aktives Verhalten des Protagonisten, der eine Reihe von gedanklichen Operationen vornimmt, die darauf abzielen, sich selbst in ein Verhältnis zur Umwelt zu setzen und bestimmte soziale Erfahrungen in einer spezifischen Weise zu verarbeiten. Diese Arbeit am eigenen Selbst entspricht dem, was Foucault als Selbsttechnik bezeichnet.44 Einzelne Übungen, die zu dieser Selbsttechnik gehören, sind etwas die vom Erzähler erwähnte Vergegenwärtigung von »Kindheitserinnerungen« (KF 70) oder die Reflektion darüber, dass die gehegten Sehnsüchte durch ihre Erfüllung ihren Reiz verlieren. Die Funktion dieser Praktik besteht darin, qua geistiger Arbeit eine Umwertung negativer Affekte in lustvolle und im weitesten Sinne ästhetisch genießbare Empfindungen zu vollziehen. Über die oben zitierte Passage hinaus, in der diese Selbsttechnik vorgestellt wird, kann der Leser die Auswirkungen der Affektumwertung Friedemanns im Verlauf der Geschichte auch in actu beobachten. So heißt es beispielsweise im neunten Kapitel beim ersten Aufeinandertreffen von Friedemann und Gerda Rinnlingen: »Ein seltsamer, süßlich beizender Zorn stieg in ihm auf.« (KF 78) Kurz darauf fühlt er einen »ohnmächtigen, wollüstigen Haß in sich aufsteigen« (KF 80), später erfasst ihn eine »ohnmächtige, süßlich peinigende Wut« (KF 85). Sprachlich zeichnen sich diese wie auch weitere ähnliche Textpassagen45 durch die Verwendung von contradictiones in adiecto aus. Stets wird die Schilderung negativer Empfindungen der Hauptfigur mit positiven Attributen verstehen, die zum Teil auch im Wortfeld der Sexualität vorkommen (süßlich, wollüstig). Diese zunächst paradox anmutende Kombination negativer Empfindungen mit positiven Zuschreibungen ist ein Charakteristikum der intern fokalisierten Passagen, in denen die Innensicht der Hauptfigur wiedergegeben wird. Vergegenwärtigt man sich, in welchen Kontexten diese Selbsttechnik thematisiert wird, so wird deutlich, dass die Affektumwertung vor allem auf die Bewältigung eines speziellen Typus sozialer Erfahrungen zielt. Sie wird zumeist dann geschildert, wenn der Protagonist bei seinem

44

Darunter versteht Foucault »reflektierte und willentliche Praktiken[…], durch die die Menschen nicht nur Verhaltensregeln für sich festlegen, sondern sich auch selbst zu verwandeln, sich in ihrem einzigartigen Sein zu modifizieren und aus ihrem Leben ein Werk zu machen suchen, das gewisse ästhetische Werte beinhaltet« (Foucault 2005, 666). Siehe auch Kapitel 3.3.1.

45

Friedemann sieht sich einer »peinigend süßen Macht« (KF 88) ausgesetzt, er wird von einem »süßen Schrecken« (KF 82) erfasst und erinnert sich am Ende an den empfundenen »wollüstige[n] Hass« (KF 94).

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Gegenüber Anzeichen von Ablehnung oder Zurückweisung wahrnimmt.46 Diese Selbsttechnik ist also nicht nur allgemein eine »Schmerzvermeidungsstrategie« (von der Lühe 2005, 43), sondern sie markiert insbesondere eine Technik zur Bewältigung des für Friedemanns Existenz zentralen Eindrucks von Andersartigkeit und sozialer Ausgrenzung. Die Bedeutung dieser Erfahrung werde ich nachfolgend im Zusammenhang mit der asketischen Praxis des Protagonisten genauer untersuchen. Selbsttechnik II: Askese

Ein wichtiges Merkmal der Existenzweise Friedemanns ist seine soziale Zurückgezogenheit. Wie bereits erwähnt, pflegt Friedemann keinerlei Freundschaften und auch um seine drei Schwestern »kümmerte er sich nicht viel« (KF 72). Vor allem verzichtet er bewusst darauf, die Ehe oder andere Formen intimer Beziehungen einzugehen. Der Erzähler schildert vergleichsweise ausführlich, wie der Protagonist diesen Entschluss zur sexuellen Enthaltsamkeit fasst, als er im jugendlichen Alter die angehimmelte Schwester eines Klassenkameraden dabei beobachtet, wie sie einen anderen Jungen küsst: »›Gut‹ sagte er zu sich, ›das ist zu Ende. Ich will mich niemals wieder um dies alles bekümmern. Den anderen gewährt es Glück und Freude, mir aber vermag es immer nur Gram und Leid zu bringen. Ich bin fertig damit. Es ist für mich abgetan. Nie wieder. – ‹ Der Entschluss tat ihm wohl. Er verzichtete, verzichtete auf immer.« (KF 69)

Den hier gefällten Entschluss47 überführt der Protagonist konsequent in ein auch im Erwachsenenalter fortgesetztes Programm des Verzichts auf intime Beziehungen, welches von der Forschungsliteratur weitgehend einvernehmlich auf den Begriff der Askese gebracht wird.48 Doch welche Form der Askese liegt hier eigentlich vor? Zunächst lässt sich feststellen, dass es sich lediglich um eine Aske-

46

Konkret erfährt er diese Zurückweisung durch Gerda, die Friedemann »mit ihrem Blick demütigt« (KF 80) und in deren Gesicht er einen »grausamen Spott« (KF 85) erkennt und die ihn am Ende mit »verächtlichem Lachen« (KF 93) zu Boden stößt.

47

Nur am Rande sei hier angemerkt, dass diese Passage auch Teil einer ironisierenden und desavouierenden Darstellung des Protagonisten ist. Denn wenn ein zu diesem Zeitpunkt »sechzehn Jahre« (KF 69) alter Junge beim ersten kleineren Rückschlag beschließt, ihm brächten Liebesangelegenheiten »immer nur Gram und Leid« (KF 69), so erscheint dies eher komisch als tragisch.

48

Vgl. Kluge 1967, 492; Hickel 1997, 133; Heftrich 1998, 2005; Kristiansen 2003, 399; von der Lühe 2005, 46f.

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se in Bezug auf Sexualität und Intimität handelt. Von einem Verzicht als allgemeinem Prinzip, das auch Praktiken des Konsumierens einschließt, ist Friedemann weit entfernt. Darauf rekurriert der Erzähler, wenn er bemerkt, der Protagonist habe »auf das größte Glück, das es [das Leben, G.V.] uns zu bieten vermag, Verzicht geleistet« (KF 70), während er aber »die Freuden, die ihm zugänglich waren, zu genießen wusste« (ebd.). Ferner praktiziert Friedemann nicht das christliche Modell der Askese. Dessen vorrangige Funktion besteht nach Foucault gerade darin, »das Subjekt einem Gesetz zu unterwerfen« (Foucault 2009, 389), welches diesem äußerlich ist. Auf Basis eines Glaubensbekenntnisses werde die christliche Askese so »zum fortschreitenden Opfer von Teilen seiner selbst und schließlich der Verzicht auf sich selbst. […] Askese, in der im Namen des von einem Anderen ausgesprochenen wahren Wortes Selbstverzicht geleistet wird« (ebd., 401). Anders als beispielsweise im Falle des priesterlichen Zölibats bedeutet Friedemanns Enthaltsamkeit nicht die Unterwerfung unter ein kirchliches Gesetz. Es handelt sich bei ihr weder um einen Dienst an Gott oder einer anderen höheren Sache noch um den Ausdruck eines lebensverneinenden Prinzips, bei dem das Subjekt aus Trotz gegen die feindliche Umwelt eine Selbstzerstörung auf Raten betreibt. Im Gegenteil hebt der Erzähler Friedemanns »zärtliche Liebe zum Leben« (KF 87) hervor. Vielmehr weist die Askese des Protagonisten in ihrer subjektivierenden Funktion eine Ähnlichkeit zu der von Foucault beschriebenen hellenistischen askesis auf. Obwohl auch diese Elemente des Verzichts beinhaltet, zielte sie gerade nicht auf die Selbstaufgabe. »Es ging im Gegenteil darum, durch die askesis sich selbst zu konstituieren. Genauer gesagt: es ging darum, ein bestimmtes Selbstverhältnis auszubilden, das erfüllt, vollkommen, selbstgenügsam« (Foucault 2009, 392) war. Die askesis war eine Art Trainingsprogramm in dem eine »Übereinstimmung zwischen Subjekt des Aussagens und Subjekt seiner Handlung« (ebd., 499) hergestellt werden sollte. Diese Aufgabe erfüllt die Selbsttechnik der Askese auch für die Hauptfigur. In seiner asketischen Praxis versucht Friedemann, jene tatsächliche Befreiung von Sexualität und dem Bedürfnis nach Intimität zu erzeugen, welche in der oben zitierten Formulierung »ich bin fertig damit« als Sprechen dem Handeln zunächst noch vorgängig war. Im Zusammenhang mit der Askese werden auch Friedemanns ästhetische Lebenshaltung und seine besondere Aneignungsweise der Praktiken des Kulturerwerbs verständlich. Durch seine Enthaltsamkeit partizipiert er nicht an den bürgerlichen Intimbeziehungen, zu denen zuvorderst die Ehe zählte. Allerdings waren es gerade die freundschaftlichen und familiären Beziehungen, die in der bürgerlichen Welt »den Einzelnen zur vollwertigen Subjekthaftigkeit« (Reckwitz 2010, 146) befähigten und in denen im Austausch zwischen Ehepartnern oder

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Freunden die »Ausbildung einer differenzierten emotional-reflexiven Innenwelt« (ebd., 153) vorangetrieben wurde. Die Erzeugung dieser Innenwelt inklusive der Fähigkeit zu einem emotional-affektiven Erleben vollzieht Friedemann ersatzweise in seiner Auseinandersetzung mit Kunst, Theater und Literatur.49 Die Erregungszustände, die das bürgerliche Subjekt in der Intimität und Sexualität erlebt, sind für Friedemann lediglich im Theater erfahrbar. Nur hier kann und darf als Ersatz für die verbannte Intimität und Sexualität Friedemanns »kleiner Körper ins Zittern« (KF 71) geraten. Friedemanns Selbstbildung zielt damit weniger auf eine »Gesamt-Dämpfung des ganzen Lebens« (Kristiansen 2003, 400)50 ab, sondern eher auf eine Kanalisierung der Affekte. Das affektive Erleben wird zwar in bestimmten Bereichen des Lebens eingeschränkt bzw. werden diese Bereiche, wie die Intimität, gleich ganz bei Seite geschoben. Im Zusammenhang mit anderen Aspekten wie dem Theater aber lebt Friedemann die Erregungszustände und Affekte in einer Weise aus, die nach bürgerlichen Maßstäben eher ungezügelt und übertrieben denn ›gedämpft‹ erscheint. Als problematisch erweist sich im Fortgang des Textes gerade die Transgression dieser Grenze, etwa wenn im zweiten Teil der Novelle Friedemanns leitmotivisches51 Zittern auch außerhalb des Theaters zu einem Dauerzustand und zum Symptom der wiedererwachenden und auf ihr Recht pochenden Sexualität avanciert. Bevor sich der Blick allerdings auf die damit verbundene Krise des Protagonisten richtet, fasse ich die bisherigen Analyseergebnisse noch einmal kurz zusammen: Friedemann wird als eine Figur dargestellt, welche die bürgerliche Subjektivierungsweise aufgreift und in einer Weise modifiziert, die es ihr zunächst scheinbar ermöglicht, der körperlichen Beeinträchtigung zum Trotz eine stabile, aber sozial isolierte Existenz als ästhetisch-asketisches Subjekt zu führen. Mit seinem Status als Außenseiter nicht etwa am Rande, sondern inmitten der bürgerlichen Gesellschaft zeigt sich der Protagonist am Ende des ersten Teils der Novelle gleichwohl zufrieden und so erwartet er an seinem dreißigsten Geburtstag die kommenden Jahre »mit Seelenfrieden« (KF 72). Der Leser hat aller-

49

Dieser Kompensationscharakter wird auch deutlich an der ersten Handlung, die Friedemann nach dem Entschluss zur Enthaltsamkeit vollzieht: »Er ging nach Hause und nahm ein Buch zur Hand.« (KF 69)

50

Kristiansens gewinnt seine Deutung im Rekurs auf Nietzsche, dessen Überlegungen zur Askese an späterer Stelle noch relevant sind. Gleichwohl aber scheint mir aus den angeführten Gründen die Übertragung von Nietzsches Idee der »GesamtDämpfung des Lebensgefühls« (Nietzsche 1980) auf die Novelle Thomas Manns nicht ohne Einschränkungen sinnvoll.

51

Zur Bedeutung des Zitterns als Leitmotiv der Novelle vgl. Kluge 1967.

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dings Anlass, dem hier beschworenen Frieden nicht allzu viel Vertrauen zu schenken. Denn das Ringen des Protagonisten um eine adäquate Existenz vollzieht sich von Beginn an vor dem Hintergrund einer »ominöse[n] Spannung […], die Schlimmes befürchten lässt und implizit den tragischen Ausgang schon antizipiert« (de Vos 2008, 122). Der frühe Tod des Vaters, die verblichenen Tapeten im Elternhaus (vgl. KF 67), der »wehmütige« (ebd.) Blick der Mutter auf ihren verwachsenen Sohn und das in den Beschreibungen des Erzählers dominierende Grau erzeugen bereits von Beginn des Textes an eine Atmosphäre des Verfalls und der Dekadenz. Latent schwebt von Anfang an das Menetekel eines drohenden Untergangs über der Geschichte des kleinen Herrn Friedemann. 5.2.3 Die Krise des Asketen und der Weg in den Tod In der Art, wie sich dann dieser Untergang im zweiten Teil der Novelle vollzieht, erkennt Eckart Heftrich eine Variation von Thomas Manns »Grundmotiv der Heimsuchung« (Heftrich 1998, 206). Der Begriff der Heimsuchung ist insofern angemessen, als er impliziert, dass das Subjekt mit etwas konfrontiert wird, das von außen über es hereinbricht. Genau so stellt sich dies auch im Kleinen Herrn Friedemann dar, wo sich die tödliche Krise des Protagonisten nicht etwa sukzessive aus der Schilderung seines Alltags entwickelt, sondern durch das plötzliche Auftreten einer neuen Figur ausgelöst wird. Gerda von Rinnlingens Einführung in die Geschichte führt zu einem Konflikt, den Thomas Mann als Interpret seines eigenen Textes als »the invasion of passion into this guarded life, which upsets the whole structure« (Mann 1996, 33) beschrieben hat. Der buchstäbliche Einbruch der Leidenschaft stellt nicht nur die asketische Praxis des Protagonisten in Frage, sondern sie löst auch eine Identitätskrise aus, an deren Ende Friedemanns gesamte Existenzweise zusammenbricht. Nachdem das Aufeinandertreffen der beiden Figuren bereits vorbereitet wurde,52 ereignet sich die erste relevante Konfrontation zwischen Friedemann und Rinnlingen im städtischen Theater in der schon qua Zahlensymbolik Unheil verkünden Loge Nummer 13. Diese Begegnung findet damit in einem jener Räume

52

Der Erzähler schildert zunächst die flüchtige Begegnung der beiden Figuren auf der Hauptstraße. Dabei deutet bereits die geistesabwende Reaktion Friedemanns (vgl. KF 75) an, dass bereits der erste Blickkontakt mit seiner Gegenspielerin durchaus Eindruck auf ihn gemacht hat. Im darauffolgenden Kapitel verpassen sich die beiden Figuren bei der Antrittsvisite der Rinnlingens, weil Friedemann an dieser Stelle im Text noch vor der direkten Begegnung zurückschreckt: »Nein. Lieber nicht.« (KF 76)

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statt, die eine wichtige Rolle für die Subjektivierung Friedemanns spielen und welche dieser als sein Territorium betrachtet, was an der Formulierung des Erzählers, dies sei »seine Loge – Loge 13« (KF 77), deutlich wird. Rinnlingens buchstäbliches Eindringen in diesen Raum erscheint als Störung und Bedrohung für die Subjektivierung des Protagonisten. Bereits ihre bloße Anwesenheit in der Loge ruft bei Friedemann umgehend eine heftige körperliche Reaktion hervor. Sobald er beim Eintreten der fremden Frau gewahr wird, »zuckt er in der Tür zurück, wobei er eine Bewegung mit der Hand nach der Stirn macht und seine Nasenflügel sich einen Augenblick krampfhaft öffne[n]« (ebd.). Dieses Verhalten ist der Attraktivität der Offiziersgattin geschuldet, die in der Darstellung des Erzählers stark sexualisiert wird. Sie ist »als einzige der anwesenden Damen, sogar etwas dekolletiert« (ebd.). Ihre Gestalt hat »etwas Üppiges, […] Ihr Busen hob und senkte sich langsam, und der Knoten des rotblonden Haares fiel tief und schwer in den Nacken.« (ebd.) Durch die Präsenz einer sexuell attraktiven Frau verliert die Theaterloge ihre Funktion als Refugium und Konstitutionsraum eines Subjekts, welches alles Sexuelle aus seinem Leben verbannt hat und das seine Affekte ersatzweise in der Auseinandersetzung mit der Kunst auslebt. Nun aber stehen Friedemann »Tropfen auf seiner Stirn« (KF 78) und er vermag es kaum, sich auf die Oper konzentrieren, weil er permanent auf den auf der Brüstung liegenden Arm Rinnlingens blicken muss (vgl. ebd.). Allein die Anwesenheit seiner Gegenspielerin stört die Aneignung der Praktiken des Kulturerwerbs. Dieses Problem wird noch dadurch verstärkt, dass sich Rinnlingen ihrerseits nicht etwa passiv verhält, sondern sich stattdessen aktiv in ihrem Verhalten auf Friedemann bezieht.53 Das geschieht vor allem über die Augen: Schon beim Hereinkommen sieht sie die Hauptfigur »eine Weile aufmerksam an« (KF 77). Während der Vorstellung spürt der Protagonist ihre Augen auf sich ruhen. Als er sie anblickt, schaut sie »durchaus nicht beiseite« (KF 78), sondern fährt fort »ihn ohne eine Spur von Verlegenheit aufmerksam zu betrachten« (ebd.), bis er selbst, »bezwungen und gedemütigt« (ebd.) die Augen niederschlägt. Daneben adressiert sie ihn in ihrem Verhalten noch auf eine andere Weise: Scheinbar zufällig fällt Rinnlingens Fächer neben der Hauptfigur zu Boden.54 Doch anstatt den sich bü-

53

Die Motive für dieses Verhalten Gerda Rinnlingens werden aus der Novelle nicht einwandfrei ersichtlich und sind Gegenstand der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Text. Vgl. hierzu etwa Kristiansen 2003, 412ff. Für die hier angestellten Überlegungen besitzen Rinnlingens Motive allerdings keine Relevanz.

54

Die grammatikalisch eigenwillige Formulierung des Erzählers, dass »Frau Rinnlingen sich ihren Fächer entgleiten ließ« (KF 78) evoziert durch die Verwendung des transitiven Verbs ›lassen‹ in Verbindung mit dem (an dieser Stelle grammatikalisch

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ckenden Friedemann den Fächer aufheben zu lassen, wie es die bürgerlichen Höflichkeitskonventionen vorsähen, kommt sie ihm zuvor, wobei der Protagonist gezwungen ist, »den warmen Duft ihrer Brust [zu] atmen« (ebd.). Anschließend bedankt sie sich »mit einem Lächeln, das spöttisch« (KF 79) ist. In gewisser Hinsicht treibt Rinnlingen in dieser Passage ein kokettes Spiel mit der Adressierung und Zurückweisung des Protagonisten, auf den sie sich einerseits in ihrem Verhalten bezieht, während sie ihm andererseits wiederum spöttische Ablehnung signalisiert. Friedemann aber, dessen Subjektivierung gerade auf die Vermeidung solcher Formen der Interaktion zielt, fehlt zur Bewältigung einer solchen Situation jedweder Modus Operandi. Die Angelegenheit wird für ihn schließlich derart unerträglich, dass er die Flucht ergreift und das Theater noch vor dem Ende der Vorstellung verlässt. Neben der Vertreibung aus dem für seine Subjektivierung so wichtigen Ort hat dieses Aufeinandertreffen der beiden Figuren ernsthafte Auswirkungen auf Friedemanns asketische Praxis, die durch diese Begegnung unmittelbar irritiert wird. Friedemanns gesamte Subjektivierung gerät buchstäblich aus den Fugen, was sich zunächst vor allem an seinen körperlichen Reaktionen ablesen lässt: Bereits während der Aufführung war sein Gesicht »verzerrt, sein ganzer Körper zog sich zusammen, sein Herz klopfte so gräßlich schwer und wichtig, daß ihm der Atem verging« (ebd.). Nachdem er das Theater verlassen hat, läuft er zitternd und schwer atmend (vgl. ebd.) durch die Straßen und befindet sich in einem »Zustand von Schwindel, Trunkenheit, Sehnsucht und Qual« (ebd.). Selbst im Bett kommt er noch nicht zur Ruhe, sondern verfällt unter dem Eindruck des Zusammentreffens in einen unruhigen »fieberdumpfen Schlaf« (KF 80). Über Friedemanns Zustand am nächsten Morgen berichtet der Erzähler, sein »Kopf war dumpf und die Augen brannten ihm« (KF 81). Nur kurzzeitig erweckt der Fortgang der Geschichte danach den Eindruck, der Protagonist würde die körperlichen Ausfallerscheinungen in den Griff bekommen. Denn kaum, dass sich die Hauptfigur auf den Weg zu seinem Besuch bei Rinnlingens aufmacht, beginnen diese von neuem. »Schnell und hastig atmend« (KF 82) und »ganz in einem abwesenden, exaltierten Zustand befangen« (ebd.) begibt er sich zum Haus der Rinnlingens, wo ihn wieder das »Zittern« (KF 83) befällt und ihm das Herz »krampfhaft und schwer gegen die Brust« (ebd.) pocht. Während des Gesprächs mit seiner Gegenspielerin »stammelt« (ebd.) und zittert er unaufhaltsam. Unmittelbar nach seinem Besuch geht der Protagonist »ohne es zu wollen […] schnell

falschen) Reflexivpronomen ›sich‹ eine Irritation, die zumindest eine Unsicherheit darüber erzeugt, ob das Fallenlassen des Fächers hier als eine intentionale Handlung zu verstehen ist. Einwandfrei zu klären ist dieser Sachverhalt nicht.

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und besinnungslos« (KF 86) zum Fluss hinunter, während es in seinem Kopf »unerbittlich pocht« (KF 87). Die Auflistung der vom Erzähler geschilderten körperlichen Reaktionen ließe sich bis zum Ende der Novelle fortsetzen, doch es sollte bereits deutlich geworden sein, worauf es mir ankommt: Durchgängig wird hier ein nicht intendiertes, affektives Verhalten des Protagonisten geschildert, welcher augenscheinlich vollständig die Kontrolle über seine körperlichen Reaktionen verliert (»ohne es zu wollen«, vgl. KF 78, 86). Friedemann schwitzt, erbleicht, stammelt, krampft und zittert sich regelrecht durch die zweite Hälfte der Geschichte; die oben skizzierte Kanalisierung der Affekte und Regungen misslingt zum Ende hin mehr und mehr. Diese somatische Unruhe, in die sich der Protagonist durch die Begegnung mit seiner Gegenspielerin versetzt sieht, markiert das körperliche Symptom für die Regung jener Triebe, die Thomas Mann an anderer Stelle auf die Metapher der »Hunde im Souterrain« (Mann 1975, 68) brachte. Die unterdrückten, verdrängten und durch die Askese sedierten Leidenschaften und Begierden des Protagonisten erwachen in der zweiten Hälfte der Geschichte und pochen auf ihr Recht. In dem Maße aber, in dem Friedemann diese Erkenntnis am Ende der Novelle zunehmend klarer vor Augen steht, erscheint eine Aufrechterhaltung seiner bisherigen Existenzform als unmöglich. 5.2.4 Selbsterkenntnis und Geständnis Im zweiten Teil der Novelle gelangt der Protagonist zunehmend zu einem Bewusstsein über das Erwachen seiner Lüste und Begierden und die Fragilität seiner bisherigen Lebensweise. Besonders deutlich ist eine Passage im 13. Kapitel des Textes, in welcher der Erzähler Friedemanns Reflektion über die Ausweglosigkeit seiner Situation schildert: »Da war diese Frau gekommen, sie mußte kommen, es war sein Schicksal, sie selbst war sein Schicksal, sie allein! Hatte er das nicht gefühlt vom ersten Augenblicke an? Sie war gekommen, und ob er auch versucht hatte, seinen Frieden zu verteidigen – für sie mußte sich alles in ihm empören, was er von Jugend auf in sich unterdrückt hatte, weil er fühlte, daß es für ihn Qual und Untergang bedeutete; es hatte ihn mit furchtbarer, unwiderstehlicher Gewalt ergriffen und richtete ihn zu Grunde! […] Aber wozu noch kämpfen und sich quälen? Mochte alles seinen Lauf nehmen!« (KF 88)

Zwei Aspekte erscheinen mir an dieser Passage bemerkenswert. Erstens wird durch diese Stelle der weitere Verlauf der Geschichte, bei dem sich Friedemann willfährig in sein Schicksal ergibt, kausal motiviert. Der Widerstand des Prota-

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gonisten gegen das, was oben als Heimsuchung bezeichnet wurde, erlischt. Der Wille, seine bisherige Lebensweise zu verteidigen, ist gebrochen und der Weg in die Katastrophe vorgezeichnet: »Mochte alles seinen Lauf nehmen!« Zweitens erkennt Friedemann in dieser Passage, dass seine Existenzweise im Allgemeinen und seine asketische Praxis im Speziellen von Beginn an auf einer Illusion fußten. Der Trugschluss bestand darin, zu glauben, es sei möglich, seine Triebe und Begierden, die ihm »Qual und Untergang« bescheren, dauerhaft zu unterdrücken oder sich gar von diesen zu reinigen. Wenn er hier aber Rinnlingen zu seinem »Schicksal« erklärt, zu etwas, das »kommen musste«, so wird damit das Scheitern seiner Lebensweise als etwas Unvermeidliches ausgewiesen und nicht etwa als unglücklicher Zufall, als schieres Pech. Die an dieser Stelle begonnene Desavouierung von Friedemanns asketischem Ästhetizismus findet ihren Höhepunkt im Schlusskapitel. Dort kommt es im Rahmen eines Gesellschaftsempfangs im Hause Rinnlingen, bei dem Friedemann als geistig »vollkommen abwesend« (KF 89) und in einem körperlich desolaten Zustand geschildert wird,55 zur finalen Konfrontation mit seiner Gegenspielerin. Am Flussufer führen die beiden Protagonisten einen letzten Dialog, in welchem Rinnlingen Friedemann unumwunden als körperlich beeinträchtigtes Subjekt anruft: »›Seit wann haben Sie Ihr Gebrechen, Herr Friedemann?‹ fragte sie. ›Sind Sie damit geboren?‹ […] ›Nein, gnädige Frau. Als kleines Kind ließ man mich zu Boden fallen; daher stammt es.‹ ›Und wie alt sind Sie nun?‹ fragte sie weiter. ›Dreißig Jahre, gnädige Frau.‹ ›Dreißig Jahre‹, wiederholte sie. ›Und Sie waren nicht glücklich, diese dreißig Jahre?‹ […] ›Nein‹, sagte er, ›das war Lüge und Einbildung.‹ ›Sie haben also geglaubt, glücklich zu sein?‹ fragte sie, ›Ich habe es versucht.‹« (KF 92f.)

Die Positionen innerhalb dieses Dialogs sind klar verteilt. Rinnlingen stellt wie bei einem Verhör die Fragen, während Friedemann über sich und sein Leben Rechenschaft ablegt. Dabei nimmt das Gespräch jene Form an, die Foucault als eine der »höchstbewerteten Techniken der Wahrheitsproduktion« (Foucault 2008b, 1072) des Abendlandes bezeichnet hat: die des Geständnisses. Innerhalb der Novelle stellt diese kulturell so gewichtige Technik den letzten Schritt zur

55

Friedemanns Gesicht war »erschreckend bleich […]; seine Wangen waren eingefallen, seine geröteten und dunkel umschatteten Augen zeigten einen unsäglich traurigen Schimmer, und es sah aus, als sei seine Gestalt verkrüppelter als je« (KF 89).

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Produktion einer Wahrheit dar, bei welcher der Protagonist als »das sprechende Subjekt mit dem Objekt der Aussage zusammenfällt« (ebd., 1075). Wo Friedemann die Wahrheit über sich selbst zuvor nur erkannt hat, wird diese jetzt in »Gegenwart eines Partners, der nicht einfach Gesprächspartner, sondern Instanz ist« (ebd.), explizit bekannt, damit authentifiziert und unumkehrbar gemacht. Die Wahrheit aber, die hier in der Technik des Geständnisses endgültig ans Licht gezerrt wird, ist in der Tat eine »Bankrotterklärung« (von der Lühe 2005, 44) des Protagonisten. Hinter der Entlarvung von Friedemanns Lebensweise und insbesondere seiner asketischen Praxis als »Lüge und Einbildung« lässt der Text ein Verständnis von Askese erkennen, das Nietzsches negativem Modell des Asketismus entspricht. Nietzsche zufolge entspringt das asketische Ideal aus nichts anderem, denn »dem Schutz- und Heil-Instinkte eines degenerierenden Lebens, welches sich mit allen Mitteln zu halten sucht und um sein Dasein kämpft« (Nietzsche 1980, 861).56 Der gleiche Sachverhalt, beglaubigt durch Friedemanns Geständnis, offenbart sich am Ende der Novelle auch im Zusammenhang mit der asketischen Praxis des Protagonisten. Keineswegs hat dieser mit der Intimität und Sexualität in dem Maße abgeschlossen, wie es dem Leser anfangs suggeriert wird (vgl. KF 69). Seine Askese erscheint schlussendlich, wie bereits Kristiansen bemerkte, vor allem als »Schutzform eines beschädigten Lebens […], der eine verborgene Sehnsucht nach und ein verdrängter Wille zum Leben zugrunde« (Kristiansen 2003, 409) liegen. Indem Friedemann am Ende allerdings regelrecht gezwungen wird, das Chimärenhafte seiner bisherigen Existenzweise zu bekennen, verliert er als ästhetisch-asketisches Subjekt zugleich seine Identität.

56

Der Bezug der Novelle zu Nietzsches »negative[m] Asketismus« (Caysa 2001, 196) ist von der Forschung vielfach betont worden. Vgl. exemplarisch Kluge 1967, Hickel 1997, Kristiansen 2003, von der Lühe 2005. Die Herstellung eines Bezugs zwischen der Enthaltsamkeit Friedemanns und Nietzsches negativem Modell des asketischen Ideals ist absolut plausibel. Allerdings betonen die meisten der hier genannten Interpretationen m.E. zu wenig, dass die Desavouierung von Friedemanns Asketismus als Entsprechung zu Nietzsches asketischem Ideal erst die Pointe des Textes markiert und nicht schon von Beginn an völlig ersichtlich ist.

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5.2.5 Der Triumph der bürgerlichen Literatur über die Dekadenz Letztlich läuft die Geschichte des kleinen Herr Friedemann damit von Beginn an auf den Untergang des Protagonisten hinaus, was schon Kluge feststellte, als er bemerkte, die Novelle sei »vom Ende her konzipiert« (Kluge 1967, 512). Was sich bereits durch die in den ersten Kapiteln heraufbeschworene Atmosphäre des Verfalls und des Niedergangs ankündigt, realisiert sich vollends nach dem Auftreten Gerda Rinnlingens: Die Existenzform Johannes Friedemanns, dieses ästhetizistischen Asketen im adretten schwarzen Anzug, der mühsam darum ringt, die bürgerliche Lebensweise für sich so anzupassen und umzuformen, dass auch ihm, dem verwachsenen Außenseiter, die Aussicht auf ein wenig »Seelenfrieden« (KF 72) beschieden ist, bricht vollständig zusammen. Wenn Friedemann am Ende, nachdem er sein Scheitern gestanden und von seiner Gegenspielerin mit einem »verächtlichen Lachen […] zu Boden geschleudert« (KF 93) wurde, auf dem Bauch ins Wasser kriecht, so ist dieses Suizidgeschehen und die darin beinhaltete Todesart zunächst (auch) kausal motiviert. Dies ist es insofern, als der Tod im Wasser handlungslogisch gesehen für den Protagonisten die buchstäblich nächstliegende Möglichkeit zum Suizid bietet, da sich die beiden Figuren bei ihrem letzten Gespräch bereits am Flussufer befinden. Dadurch aber, dass die Art und Weise des im Text realisierten Suizids sehr unrealistisch erscheint, wird in dieser Passage die Aufmerksamkeit des Lesers umso stärker auf die Stilisierung des Todes und auf eine damit verbundene kompositorische Motivierung des Geschehens gelenkt. Bemerkenswert, aber nicht zentral, ist zunächst die Position des Toten: Friedemanns Oberkörper liegt im Fluss, die Beine hingegen befinden sich noch am Ufer (vgl. KF 94). Wenn der Oberkörper des Protagonisten, dessen Verkrümmung die in der Novelle verhandelten Schwierigkeiten erst hervorruft, im todbringenden Wasser liegt, so wird damit auf einer symbolischen Ebene ein Bezug hergestellt zwischen der Lebensproblematik des Protagonisten und seinem Sterben. Ungleich wichtiger aber erscheint mir an dieser Stilisierung des Suizids der bereits eingangs ausgeführte Aspekt der Demütigung und Entwürdigung der Hauptfigur. Mit Blick auf diese Art der Suiziddarstellung stimme ich vollständig mit Peter Pütz überein, der die Ansicht vertritt, Friedemanns Ende erreiche »einen Grad der Erniedrigung, dass es nicht einmal tragisch zu nennen ist« (Pütz 1996, 214). Mit einer pietätvollen Schilderung des Suizids, wie sie sich beispielsweise in Fontanes Schach von Wuthenow findet, hat der Suizid Friedemanns nicht das Mindeste gemein. Die Schilderung seines Todes ist vielmehr drastisch, sie ist brutal und sie setzt den Tod der Hauptfigur in einer Weise in Szene, die man schon fast genussvoll nennen muss. Zurückliegend habe ich ar-

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gumentiert, dass es sich bei der Figur, die einen derart entwürdigenden literarischen Tod sterben muss, gerade nicht um die Repräsentation eines bürgerlichen Subjekts handelt, wie dies zum Teil behauptet wurde.57 Vielmehr ist Friedemann ein Außenseiter, der die bürgerliche Subjektform aufgreift, modifiziert und in einer Weise aushöhlt, welche durch die am Ende der Novelle stattfindende Entlarvung als dekadent und degeneriert im Sinne Nietzsches dargestellt wird. Aus der in diesem Punkt zweifelsohne hochproblematischen Perspektive des Philosophen aber stellen die »Kranken […] die größte Gefahr für die Gesunden« (Nietzsche 1980, 863) dar. Die mit dieser Idee Nietzsches korrespondierende Novelle lässt mit Friedemann am Ende nicht etwa einen prototypischen Vertreter des Bürgertums ertrinken, sondern einen jener »von vornherein Verunglückten, Niedergeworfenen, Zerbrochenen, […] welche am meisten das Leben unter Menschen unterminieren, welche unser Vertrauen zum Leben, zum Menschen […] vergiften und in Frage stellen« (Nietzsche 1980, 863) Was der »bürgerliche Autor« (Rohrmoser 2005, 83) Thomas Mann58 am Beginn seiner Karriere mit dem kleinen Herrn Friedemann vorgelegt hat, ist ein Text, in welchem in Anlehnung an die philosophischen Ideen Nietzsches mit den angeblich gefährlichen Dekadenzund Degenerationserscheinungen der bürgerlichen Gesellschaft abgerechnet wird. In der Art, wie diese Novelle am Ende den schon zuvor ironisch-distanziert geschilderten, ›degenerierten‹ Abweichler von der bürgerlichen Norm einen entwürdigenden Tod sterben lässt, verhält sie sich tendenziell affirmativ zur bürgerlichen Subjektkultur. Zugespitzt ließe sich formulieren: Das erniedrigende Ende des kleinen Herrn Friedemann markiert den Triumph der bürgerlichen Kultur über die Gefahr ihrer eigenen Degenerierung.

57

Vgl. De Vos 2008, 121 und Vaget 1990, 541.

58

Thomas Manns Beziehung zum Bürgertum wurde bereits umfassend erforscht. Bollenbeck bezeichnet insbesondere den frühen Thomas Mann als »Bürgerkünstler« (Bollenbeck 1993, 393), der lange »ein tiefes Mißtrauen gegen den Bruch mit der bürgerlichen Gesellschaft« (ebd., 394) gehegt hat. Hermand attestiert Thomas Mann in dieser Phase ein »noch im wilhelminischen System verankerter Bildungsbürger, dem es in erster Linie um die soziale und kulturelle Vormachtstellung seiner Klasse ging« (Hermand 2007, 244), gewesen zu sein. Und Loewy bemerkt, der frühe Thomas Mann sei »weit entfernt davon [gewesen], gegen eine Ordnung zu protestieren, in der er selbst ökonomisch und kulturell verwurzelt war« (Loewy 1995 129).

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5.3 D ER TÖDLICHE E HRGEIZ DER E RZIEHER : H ERMANN H ESSES U NTERM R AD Der Tod des jugendlichen Protagonisten Hans Giebenrath in Hermann Hesses 1905 erschienenem Roman59 Unterm Rad provozierte bei seinem Erscheinen »heftigste Proteste der württembergischen Lehrerschaft« (Wende 2004, 205). Allzu deutlich schien es sich bei dem Text um eine drastische Anklage des Bildungssystems im Allgemeinen und der Verhältnisse im von Hesse seinerzeit selbst besuchten Maulbronner Seminar60 im Speziellen zu handeln, welche den Protagonisten in den Suizid treiben. Diese Anklage führte bei verschiedenen württembergischen Pädagogen zu derart ablehnenden Reaktionen, dass die konservative Zeitschrift Merkur die Veröffentlichung des Textes nach nur wenigen Folgen einstellte (vgl. ebd. 205). In der gegenwärtigen Forschungsdiskussion ist es mittlerweile allerdings umstritten, ob die Darstellung des Romans wirklich das Bildungswesen für die Selbsttötung des Protagonisten verantwortlich macht. Einzelne Autoren bezweifeln gar, dass es sich bei dem Tod Hans Giebenraths überhaupt um einen Suizid handelt. Sie berufen sich auf die »unentschiedene Todesdarstellung des Erzählers« (Solbach 2005, 73), die es auch ermögliche, den Tod der Hauptfigur als einen Unfall zu begreifen.61 Die Kontroverse über die Suizidfrage entzündet sich an folgender Textstelle:

59

In der Forschungsliteratur ist die Zuordnung von Unterm Rad zu einer bestimmten Textsorte uneinheitlich. Uneinigkeit besteht in der Frage, ob es sich bei dem Text um einen Roman oder um eine Erzählung handelt. Selbst der die Rechte am Werk haltende Suhrkamp-Verlag legt sich nicht fest und deklariert Unterm Rad uneinheitlich in verschiedenen Fassungen sowohl als Erzählung als auch als Roman. Tatsächlich ist eine eindeutige Zuordnung des Textes zu einer Gattung schwierig, zumal der Text auch bei seiner Erstveröffentlichung ohne Gattungsangabe erschien. Wenn ich mich im Folgenden für die Bezeichnung des Textes als Roman entscheide, so deshalb, weil Hesse Unterm Rad später selbst als ›Schülerroman‹ verstanden wissen wollte. Zu einer ausführlicheren Erörterung der Gattungsfrage vgl. Kuhn 2002, 245.

60

Die autobiographischen Bezüge des Werkes zur Lebensgeschichte Hesses sind in den zurückliegenden Jahrzehnten zum Gegenstand verschiedener literaturwissenschaftlicher Arbeiten geworden oder wurden von diesen zumindest mit berücksichtigt. Vgl. exemplarisch Wende 2003, Noob 1998, Esselborn-Krumbiegel 1998, Müller 1994, Orlik 1992.

61

Neben Solbach zeigt sich auch Gansel 2006 skeptisch, ob man Hansʼ Tod als Suizid deuten soll. Zudem vertritt insbesondere Gansel die Position, man dürfe »Hansʼ Scheitern nicht einzig bei der Instanz der Schule oder unsensiblen Lehrern […] ent-

214 │ VON DER T ORHEIT , WÄHLERISCH ZU STERBEN »Zu derselben Zeit trieb der so bedrohte Hans schon kühl und still und langsam im dunklen Flusse talabwärts. […] Niemand sah ihn, wenn nicht etwa der vor Tagesanbruch auf Jagd ziehende scheue Fischotter, der ihn listig beäugte und lautlos an ihm vorbeiglitt. Niemand wusste auch, wie er ins Wasser geraten sei. Er war vielleicht verirrt und an einer abschüssigen Stelle ausgeglitten; er hatte vielleicht trinken wollen und das Gleichgewicht verloren. Vielleicht […] trieb ihn Müdigkeit und Angst mit stillem Zwang in die Schatten des Todes.« (UR 164)

Über die Todesart des Protagonisten kann kein Zweifel bestehen; allerdings wird in dieser Passage tatsächlich nicht auf den ersten Blick deutlich, ob es sich bei dem Ableben des Protagonisten um einen Suizid oder einen Unfall handelt. Dies ist zunächst verwunderlich, da es der Leser im Roman mit einem nullfokalisierenden Erzähler zu tun hat, dessen Informationsvergabe zuvor stets weit über den Kenntnisstand einzelner Figuren hinausgeht. So gibt der Erzähler, als in der Mitte des Romans ein Mitschüler Giebenraths unbeobachtet ertrinkt, über die Umstände dieses Unglücks genau Auskunft, wobei er viel mehr weiß, als die einzelnen Figuren wissen können.62 Bei der Darstellung der Todesumstände der Hauptfigur aber hält sich der Erzähler mit der Informationsvergabe auffallend zurück, woraus sich allerdings noch nicht ableiten lässt, dass die Todesumstände Giebenraths vollständig unklar sein. Denn wenn der Erzähler bemerkt, »niemand wußte auch, wie er ins Wasser geraten sei« (UR 164), so schließt dieses ›niemand‹ nicht etwa den Erzähler selbst mit ein, sondern es rekurriert ausschließlich auf die Agentenperspektive der Figuren innerhalb der erzählten Welt. Angezeigt wird dies vor allem durch die Verwendung des Konjunktivs (»ins Wasser geraten sei« [Hervorhebung G.V.])63 Der Erzähler sagt an dieser Stelle also

sorgen. Es ist der sich abzeichnende moderne Wandel« (Gansel 2006, 96), der für den Tod der Hauptfigur verantwortlich sei. 62

Deutlich wird diese Nullfokalisierung in der entsprechenden Passage, wenn es dort über den verunglückten Mitschüler heißt, er »schrie noch eine kleine Weile und sank dann unbemerkt in die dunkle Kühle hinunter« (UR 83f.) – eine Information, über die logischerweise keine der Figuren der erzählten Welt verfügen kann, da der Verunglückte ja ausdrücklich unbemerkt geblieben ist.

63

Ferner bezieht sich in der entsprechenden und mit einer Anapher gestalteten Passage (»niemand sah ihn [...], niemand wußte auch«) das erste »niemand« noch wesentlich deutlicher auf die in der erzählten Welt agierenden Figuren und schließt erkennbar den Erzähler nicht mit ein. Denn dieser weiß sehr wohl um den toten Hans Giebenrath, dessen im Wasser treibenden Leichnam der Erzähler ausführlich beschreibt.

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nicht, es sei absolut unbekannt, wie Hans Giebenrath ins Wasser gelangt sei. Er stellt vielmehr dar, dass die Umstände lediglich aus der Perspektive der übrigen Figuren nicht eindeutig erscheinen. Wenn der Erzähler also in dieser Passage die Umstände des Todes nicht genauer ausführt, dann entweder, weil diese ohnehin offensichtlich sind64 oder aber, weil dem Erzähler daran gelegen ist, »den eigentlichen Sachverhalt zu verschleiern, statt ihn zu erleuchten« (Noob 1998, 200). In beiden Fällen aber ist die von der großen Mehrzahl der Forscher vertretene Position, es handle sich um einen Suizid,65 die einzige, die auch mit Blick auf die Komposition des Textes plausibel scheint, wie weiter unten noch auszuführen ist. Geht man nun von diesem Suizid im Wasser aus, so findet sich in Hesses Roman ein Element, welches bereits einige der vorherigen Textanalysen zu Tage gefördert haben: Auch in Unterm Rad wird dem Leser zunächst eine andere als die schlussendlich realisierte Todesart in Aussicht gestellt, welche im Fortgang des Geschichte aber wieder verworfen wird. In diesem Fall ist das der Tod durch Erhängen. So erfährt der Leser im letzten Drittel des Textes: »Der Ast für den Strick war bestimmt und auf seine Stärke geprüft, keine Schwierigkeiten standen mehr im Wege. [...] sein Tod war eine beschlossene Sache.« (UR 114f.) Wiede-

64

Kurz vor der Darstellung des tot im Wasser treibenden Protagonisten liefert der Text eine Reihe von Hinweisen, die vorausdeutend auf den bevorstehenden Suizid verweisen. Hans ist in einer niedergeschlagenen Stimmung, er sieht »allerlei Unheil ihn erwarten« (UR 162), wird von »widerlichen Gefühlen, quälenden Befürchtungen« umgetrieben und hat das Gefühl, »als müsse er nun eine Ewigkeit ruhen« (UR 163), wobei in der ewigen Ruhe der Tod bereits vorweggenommen ist. Daraufhin singt die Hauptfigur ein Lied, das sie mit den Worten »Alles ist hin« (ebd.) beschließt, was sich symbolisch auch als eine Art Abschluss mit dem Leben verstehen lässt. Darüber hinaus deutet der Roman Hansʼ Suizid bereits zuvor an, etwa wenn es im Anschluss an seine Vorbereitungen zur Selbsterhängung heißt: »Das Schicksal ließ ihn sich seiner finsteren Absichten erfreuen und schaute zu, wie er aus dem Kelch des Todes täglich ein paar Tropfen der Lust und Lebenskraft genoß. […] Aber seinen Kreis sollte es doch erst vollenden und nicht vom Plan verschwinden, ehe es noch ein wenig von der bitteren Süße des Lebens geschmeckt hätte.« (UR 115)

65

Besonders apodiktisch formuliert dies Mog, der bemerkt: »Man wird sich von den folgenden ›Vielleicht‹ – Sätzen nicht täuschen lassen, die eine Unbestimmtheit erzeugen, warum er wohl ins Wasser geraten war. Es gilt die letzte Möglichkeit.« (Mog 2003, 23) Dieser Position folgen uneingeschränkt unter anderem Noob 1998, Esselborn-Krummbiegel 1998, Marquardt 1997, Mix 1994.

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rum wird also in einem literarischen Text ein Möglichkeitsraum eröffnet, innerhalb dessen zwei alternative Todesarten miteinander konkurrieren. Dementsprechend ist in der folgenden Analyse nicht nur nach der Funktion und Bedeutung der realisierten Suizidart zu fragen, sondern auch danach, welche Bedeutung dem Verwerfen der alternativen Selbsttötungsmethode beigemessen werden kann. 5.3.1 Subjektivierungsregime I: Der »barbarische Ehrgeiz eines Vaters und einiger Lehrer« In den ersten beiden Kapiteln des Romans werden die letzten Monate Hans Giebenraths als Lateinschüler in einem kleinen »Schwarzwaldnest« (UR 8) geschildert, eine Zeit, die durch das bestandene Landexamen in Stuttgart und den Wechsel auf das Klosterseminar in Maulbronn beendet wird. Das Herkunftsmilieu des Protagonisten ist ein protestantisches und kleinbürgerliches.66 Hansʼ Vater Joseph wird bereits auf der ersten Seite als Mann von begrenzter Bildung und bescheidenem Verstand charakterisiert, dessen ganzes »inneres Leben [...] das des Philister« (UR 7) war. Als »Zwischenhändler und Agent« (ebd.) übt er zwar keinen typisch kleinbürgerlichen Beruf aus.67 Dafür aber ist sein Lebensstil mit »Kegelschieben« (ebd.), »billige[n] Zigarren« (ebd.), gelegentlichen Zirkusbesuchen und »kleinem Wohnhaus mit Gärtchen« (ebd.) ebenso deutlich als Merkmal des kleinbürgerlichen Subjekts zu erkennen wie Joseph Giebenraths ganze Geisteshaltung, welche sich durch »angemessenen Respekt vor Gott und der Obrigkeit« und »blinde Unterwürfigkeit gegen die ehernen Gebote der bürgerlichen Wohlanständigkeit« (ebd.) auszeichnet. Damit steht Hansʼ Vater pars pro toto für die gesamte Dorfgemeinschaft, denn wie der Erzähler bemerkt, hätte er »mit jedem beliebigen Nachbarn Namen und Wohnung tauschen können, ohne daß irgend etwas anders geworden wäre« (ebd.). In diesem Milieu wächst Hans mutterlos auf. Zum Verhängnis wird ihm, dass er als »begabtes Kind« (UR 8) und »feiner Kopf« (ebd.) ein wenig über die Mittelmäßigkeit der übrigen Dorfbewohner hinausgeht. Infolge seiner überdurchschnittlichen Begabung richtet sich der Ehrgeiz sowohl seines Vaters als auch seiner Lehrer auf Hans, die danach trachten, aus dem Protagonisten »was Besonderes« (UR 21) zu machen. Die Möglichkeiten dafür sind begrenzt, denn für eine Karriere jenseits des kleinbürgerlichen Milieus gibt es nur einen »einzi-

66

Zur kleinbürgerlichen Herkunft vgl. auch Marquardt 1997, 281.

67

Zum Kleinbürgertum vgl. die einschlägige Studie von Haupt und Crossick 1998 sowie Schilling 2003.

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gen schmalen Pfad: durchs Landexamen ins Seminar, von da ins Tübinger Stift und von dort entweder auf die Kanzel oder aufs Katheder« (UR 9). Kanzel oder Katheder – beides ist gleichbedeutend mit dem sozialen Aufstieg ins (Bildungs)Bürgertum. Der über das Maulbronner Seminar führende Weg dorthin wird im Roman als ein seltenes Privileg dargestellt, welches jedes Jahr nur »drei bis vier Dutzend Landessöhne[n]«(ebd.) genießen. Der Blick auf den sozialhistorischen Kontext macht deutlich, dass derartige Aufstiegschancen für die Kinder des Kleinbürgertums tatsächlich rar gesät waren. Denn entgegen der Ansicht mancher Zeitgenossen, »die das Kleinbürgertum als Sprungbrett für den sozialen Aufstieg gepriesen haben« (Haupt/Crossick 1998, 114), war die soziale Mobilität dieser Schicht nur gegeben »im Hinblick auf die Klassen unter ihm, nicht nach oben« (ebd. 112).68 Für Kinder kleinbürgerlicher Herkunft waren die Chancen auf einen Aufstieg ins Bürgertum also sehr gering, was den Ehrgeiz plausibel macht, mit dem Hansʼ Lehrer und sein Vater versuchen, ihrem Schützling diese seltene Gelegenheit eines sozialen Aufstiegs zu ermöglichen. Allerdings desavouiert der Roman dieses Bestreben der Erzieher bereits in den ersten Kapiteln als Resultat der wenig altruistischen Hoffnung, im Karrierefall als Hansʼ Förderer und Entdecker zu gelten und daraus gegebenenfalls einen Vorteil zu ziehen.69 Hansʼ Lehrer und sein Vater treten im Roman als Vertreter des gleichen Subjektivierungsregimes in Erscheinung. Dieses Regime subjektiviert den Protagonisten in einer sich als Unterwerfung darstellenden Weise, wobei es im Wesentlichen auf drei verschiedene Disziplinar-Techniken zurückgreift. Bei der ersten handelt es sich um die rein restriktive Technik des Verbots. Hansʼ Erzieher untersagen ihm verschiedene Praktiken, die für Kinder aus einem ländlichkleinbürgerlichen Milieu alltäglich sind. Man verbietet ihm »der Examensarbeit wegen« (UR 12) das Angeln. Da er »keine Zeit mehr für Zerstreuungen« (UR

68

In diesem Zusammenhang entlarven Haupt und Crossick auch den angeblich weitverbreiteten kleinbürgerlichen Aufstiegsehrgeiz als Gerücht, ohne jedoch zu bestreiten, dass es diesen in einzelnen Fällen durchaus gegeben hat. Vgl. Haupt/Crossick 1998, 111.

69

So macht der Stadtpfarrer im Gespräch mit seiner Frau aus seinem eigennützigen Interesse am Erfolg Giebenraths keinen Hehl: »Aus dem wird noch was Besonderes; man wird schon auf ihn aufmerksam werden, und dann schadet es nichts, daß ich ihm mit den Lateinstunden beigesprungen bin.« (UR 21) Hansʼ Vater wiederum folgt dem »Ideal so vieler beschränkter Leute, aus seinem Stamme einen Zweig über sich hinaus in die Höhe wachsen zu sehen« (UR 50). Noob bemerkt treffend zu diesem Ehrgeiz des Vaters: »Was er in seinem Leben nicht erreichen konnte, möchte er mit Hilfe der Begabung seines einzigen Sohnes erlangen.« (Noob 1998, 167)

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15) haben soll, nimmt man ihm zudem seine Kaninchen weg und gewöhnt ihm neben der Gärtnerei auch das »Strolchen und Spielen« (UR 47) ab. Das Subjektivierungsregime bekämpft und verbietet damit all jene Praktiken, die nicht dem »Ernst der Arbeit« (UR 46) verpflichtet sind, sondern im Verdacht stehen, Müßiggang und Ablenkung zu bieten. Der zweite Typus von Disziplinartechniken hingegen ist nicht restriktiv, sondern produktiv im Sinne Foucaults und zwar in der Art, dass diese Techniken das Subjekt mental und körperlich umformen. Beide Arten von Disziplinartechniken zielen in die gleiche Richtung. Sie versuchen, den Protagonisten jener positiven Ökonomie zu unterwerfen, die bereits im Kapitel zu Frühlings Erwachen als das »Prinzip einer theoretisch endlos wachsenden Zeitnutzung« (Foucault 2008a, 857) identifiziert wurde. Auch der zweite Typus dieser unterwerfenden Praktiken wird bereits früh im Roman thematisiert: »An die Schulstunden, die täglich bis vier Uhr dauerten, schloß sich die griechische Extralektion beim Rektor an, um sechs war dann der Herr Stadtpfarrer so freundlich, eine Repetitionsstunde in Latein und Religion zu geben, und zweimal in der Woche fand nach dem Abendessen noch eine einstündige Unterweisung beim Mathematiklehrer statt.« (UR 9)

Dem Protagonisten wird ein rigides Arbeitspensum auferlegt, welches in erster Linie aus geistigen Techniken wie Repetitionsübungen besteht. Diese Übungen sind weder örtlich noch zeitlich beschränkt. Vielmehr wird das Exerzitium über den Schulunterricht und die zusätzlichen Übungsstunden bei verschiedenen Lehrern hinaus bis in die häusliche Sphäre hinein ausgedehnt. Die Aufgaben, die sich »tagsüber von Lektion zu Lektion« (UR 10) ansammeln, müssen »am späten Abend bei traulichem Lampenlicht zu Hause erledigt werden« (UR 10), wobei Hans »gewöhnlich bis zehn Uhr, sonst aber bis elf, bis zwölf und gelegentlich noch darüber« (UR 11) am Schreibtisch sitzt. Wie im Laufe des Romans deutlich wird, erschöpft sich die Funktion dieser Techniken nicht darin, den Protagonisten durch die Vermittlung von Wissen auf das Aufnahmeexamen für das Maulbronner Klostersemiar vorzubereiten. Vielmehr zielen diese zunächst geistigen Übungen zusätzlich auf eine Disziplinierung des Körpers ab. Das stundenlange, körperlich immobile Lernen ist auch eine »Selbstregulierung körperlicher Bewegung« (Reckwitz 2010, 160), im Zuge derer Hans die leiblichen Ausfallerscheinungen »Ermüdung, Schlaf und Kopfweh […] trotzig und ehrgeizig« (UR 17) bezwingen lernt. Im Roman verdichtet sich die dargestellte Disziplinierung im Bild von der Kultivierung der Natur. Demnach begreifen Hansʼ verschiedene Erzieher den Schüler als »etwas Wildes, Regelloses, Kulturloses. […] Und wie ein Urwald gelichtet und gereinigt und gewaltsam eingeschränkt werden muß, so

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muß die Schule den natürlichen Menschen zerbrechen, besiegen und gewaltsam einschränken.« (UR 46f.) Das Ziel besteht darin, das einzelne Subjekt zu einem »nützlichen Gliede der Gesellschaft« (UR 47) zu machen. In diesem Zusammenhang dienen die Techniken des Exerzitiums und des Verbots nicht nur dazu, Hans auf das Examen vorzubereiten, sondern sie trainieren den Protagonisten in einer »Selbstdisziplinierung des Körpers« (Reckwitz 2010, 119), durch welche die »rohen Kräfte und Begierden der Natur« (UR 46) gebändigt werden sollen. Durch diese Praktiken übt Hans jene »systematische Selbstkontrolle des Körpers und des Geistes« (Reckwitz 2010, 120) ein, die typisch für das bürgerliche Subjekt und dessen Arbeits- und Leistungsethos war;70 ein Leistungsethos, das der Erzähler im Roman mit unverhohlener Kritik auf den Begriff der »Streberei« (UR 15) bringt. Zur Etablierung dieses genuin bürgerlichen Leistungsethos71 kombinieren Hansʼ Erzieher die Technik der geistigen Übung mit einem dritten, rein sprachlich-kommunikativem Typ von Disziplinartechnik, welchen man als AngstErzeugung bezeichnen könnte. Nicht nur wird Hans durch seine Erzieher verbal »angespornt und gestachelt und in Atem gehalten« (UR 41f.). Diese Anspornungen werden vielmehr immer auch mit dem Verweis auf eine konkrete Bedrohung verbunden. Die so erzeugte Furcht richtet sich am Anfang des Romans auf die Konsequenzen eines Durchfallens im Examen72 und wird vor allem während der Darstellung des Prüfungsaufenthalts in Stuttgart im Text mehrfach erwähnt.73 Doch auch nachdem Hans das Examen als Zweitbester bestanden hat, wenden die Vertreter des Subjektivierungsregimes die Technik der Angst-Erzeugung

70

Wie Reckwitz ausführt, zielte die systematische Selbstkontrolle des bürgerlichen Subjekts auf eine Optimierung der Arbeitsleistung ab, indem »einerseits die Arbeitszeit quantitativ – auf Kosten des Schlafes und der ›Freizeit‹ – ausgeweitet wird und sie andererseits durch Eliminierung von Ablenkungen […] in ihrem Gebrauch intensiviert wird« (Reckwitz 2010a, 121). Das gleiche Telos ist in Hesses Roman auch den Erziehungsanstrengungen von Hansʼ Erziehern implizit.

71

Vgl. zum bürgerlichen Leistungsethos das Kapitel 5.1.2.

72

Hansʼ »Examensangst« (UR 42) wird maßgeblich dadurch bestärkt, dass seine Erzieher ihm die Möglichkeit eines Scheiterns im Examen nicht zugestehen. So bemerkt der Stadtpfarrer, obwohl von den 118 Kandidaten nur ein Drittel das Examen bestehen kann (vgl. UR 20): »Durchfallen ist einfach unmöglich.« (UR 15) Und Hans Vater weigert sich, seinen Sohn im Fall des Scheiterns im Examen auf das Gymnasium zu schicken (vgl. UR 28).

73

Vgl. UR 18, 20, 23, 24. Die Betonung der beim Examen empfundenen Angst des Protagonisten ist auch Hertling aufgefallen. Vgl. Hertling 1997, 313.

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weiterhin an. Nun wird Hans durch seine Erzieher mit der Bedrohung konfrontiert, seinen exponierten Status nicht sichern zu können und hinter der Leistung seiner neuen Schulkameraden im Seminar zurückzubleiben.74 Diese von den Erziehern überhaupt erst produzierte Angst wird dann wiederum als Argument und Begründung dafür verwendet, auch in den Ferien mit dem Exerzitium fortzufahren und dadurch die eigentliche Freizeit ihres Schützlings mit weiteren umfassenden Übungen auszufüllen (vgl. UR 51). Betrachtet man die Folgen dieser Subjektivierung, so fällt auf, dass Hans das ihm angetragene Leistungsethos zunächst durchaus verinnerlicht. In den Jahren als »unbestrittener Primus […] hatte er allmählich selber seinen Stolz darein gesetzt, obenan zu sein und keinen neben sich zu dulden« (UR 42). Wenn er, wie der Erzähler in Form eines Bewusstseinsberichts vermittelt, selbst nicht weiß, wie er diesen Ehrgeiz entwickelt hat,75 so ist dies ein Indiz dafür, dass er ein Leistungsethos internalisiert hat, welches ihm durch seine Erzieher extrinsischvermittelt wurde. Die in der Subjektivierung vollzogene Verinnerlichung dieses Leistungsethos schürt allerdings nicht nur Hansʼ Ehrgeiz, sondern es macht ihn auch »hochmütig« (UR 14). Der Protagonist will nicht zeitlebens einer von den »gewöhnlichen, armseligen Leuten sein, die er verachtete und über die er absolut hinaus« (UR 28) möchte. Vielmehr verleihen ihm seine exponierte Stellung bei den Lehrern und sein Erfolg im Examen das Gefühl, »daß er wirklich etwas Besseres sei als die dickbackigen, gutmütigen Kameraden und auf sie vielleicht einmal aus entrückter Höhe herabsehen dürfe« (UR 17). Mit Blick auf diese Passagen folgert Solbach, der Erzähler entwerfe von Hans »das Bild eines selbstgewählten Strebertums aus persönlichem Hochmut und intellektueller Überheblichkeit, das geeignet ist, unser Urteil über den Helden negativ zu färben« (Solbach 2005, 72). Eine solche Deutung geht mit der Hauptfigur allerdings allzu hart ins Gericht, weil sie unterschlägt, dass Hochmut und Strebertum

74

Eindringlich mahnt der Rektor Hans: »[D]ie Sache liegt so. Es ist eine alte Erfahrung, daß gerade auf ein sehr gutes Examen oft ein plötzlicher Rückschlag folgt. Im Seminar gilt es, sich in mehrere neue Fächer einzuarbeiten. Da kommt nun immer eine Anzahl von Schülern, die in den Ferien vorgearbeitet haben – oft gerade solche, denen es im Examen weniger gut gegangen war. Die rücken dann plötzlich in die Höhe auf Kosten von solchen, die während der Vakanz auf ihren Lorbeeren ausgeruht haben.« (UR 48)

75

Mit Bezug auf seinen Ehrgeiz, alle Kameraden hinter sich zu lassen, heißt es: »Und das wollte er entschieden. Warum eigentlich? Das wusste er selber nicht.« (UR 41)

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nur das Resultat der Unterwerfung unter das von seinen Erziehern vertretene Subjektivierungsregime sind und nicht die Ursache für diese Unterwerfung.76 Diese Subjektivierung bewirkt zudem eine Reihe körperlicher bzw. gesundheitlicher Folgen, die allesamt negativ ausfallen. Der Protagonist ist von schwächlicher Konstitution, in seinem Gesicht brennen »tiefliegende, unruhige Augen mit trüber Glut« (UR 11), auf seiner Stirn zeichnen sich »Geist verratende Falten« (ebd.) ab und seine »dünnen und hageren Arme und Hände [hängen] mit einer müden Grazie« (ebd.) herab.77 Mehrfach thematisiert der Erzähler zudem die Müdigkeit des Protagonisten und insbesondere die permanenten Kopfschmerzen, deren Schilderung den Text, wie schon Müller bemerkte, leitmotivisch durchzieht (vgl. Müller 1994, 23). Wenn an dieser Stelle auf eine ausführliche Besprechung des gesundheitlichen Zustands des Protagonisten verzichtet wird, so deshalb, weil der Erzähler bei Hans Giebenrath im Wesentlichen die gleichen körperlichen Symptome schildert, die auch Moritz Stiefel in Frühlings Erwachen aufweist. In beiden Texten werden an den jugendlichen Protagonisten jene gesundheitlichen Probleme wie Kopfschmerzen, Müdigkeit und eine schwächliche Konstitution beschrieben, welche in den Vorstellungen der Zeit als untrügliche körperliche Symptome der Schülerüberbürdung galten.78 Wenn Hans, angespornt von seinen Erziehern, einerseits in den Ferien mit nochmals »gesteigerte[m] Arbeitsfieber« (UR 46) derart verbissen für die Schule lernt, dass ihm jede Stunde Müßiggang ein »schlechtes Gewissen« (UR 49) bereitet, während er andererseits nur noch aus »Haut und Knochen« (UR 52) besteht und selbst für Spaziergänge zu müde ist,79 so wird der Bezug zur ÜberbürdungsDebatte deutlich. Vor allem für Hesses zeitgenössische Leser dürfte Hans Gie-

76

Zudem schildert der Erzähler gegen Ende des Romans, wie Hans seinen alten Hochmut ablegt. Dort heißt es: »Hans begriff jetzt die Metzger und Gerber, Bäcker und Schmiede […] und er betrachtete sie nicht mehr als elende Banausen.« (UR 154)

77

Auf die schwächliche Konstitution des Protagonisten und dessen »schmächtigen Körper« (UR 164) geht der Erzähler im Laufe des Romans mehrfach ein. Vgl. exemplarisch UR 17, 51, 96.

78

Zu den Symptomen der Schülerüberbürdung vgl. das Kapitel 4.4.4.

79

»Es fing ihn selber an zu wundern, daß er so müde war. Früher war ihm ein Gang von drei, vier Stunden doch gar nichts gewesen. Er beschloß, sich aufzuraffen und ein tüchtiges Stück zu marschieren. Und er ging ein paar hundert Schritte. Da lag er schon wieder, er wußte nicht, wie es kam, im Moos und ruhte.« (UR 42) Die Schilderung dieses Schwächeanfalls folgt bezeichnenderweise auf das Gespräch mit dem Stadtpfarrer, der Hans auch in den Ferien zur Arbeit anhält.

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benrath früh im Roman als Typus des überbürdeten Schülers erkennbar gewesen sein. Im Zusammenhang mit dieser Debatte und den körperlichen Ausfallerscheinungen des Protagonisten kommt der sich im Fortgang des Textes ereignende Zusammenbruch der Hauptfigur letztlich wenig überraschend. Dies gilt umso mehr, als Hansʼ Erziehern im Roman mit dem pietistischen Schuster Flaig eine Figur entgegengestellt ist, die schon früh die Gefahren und Folgen dieser ruinösen Subjektivierung anmahnt.80 Die Überbürdung als Resultat einer Überbelastung der Schüler mit Bildungsinhalten galt im zeitgenössischen Kontext als ein Problem, mit dem hauptsächlich Gymnasiasten und damit vor allem die Kinder des Bürgertums konfrontiert waren. Wenn nun der Protagonist in Unterm Rad von diesem bürgerlichen Problem ebenfalls betroffen ist, so deshalb, weil er seinerseits bürgerlich subjektiviert wird. Unabhängig von Hansʼ kleinbürgerlicher Herkunft sind die Anstrengungen des ihn unterwerfenden Subjektivierungsregimes darauf gerichtet, Hans in genau jenem bildungs- und leistungsorientierten Geiste zu erziehen, der schon in Frühlings Erwachen kritisiert wurde. Als Ziel dieser Subjektivierung soll aus Hans schlussendlich ein »zufriedener Bürger und strebsamer Beamter« (UR 46) werden. Dass diese Art der Subjektivierung im Unglück enden wird, kann der Leser mit Blick auf die angedeuteten, gesundheitlichen Probleme des Protagonisten bereits erahnen, lange bevor der Erzähler diese Subjektivierung als Resultat des »barbarische[n] Ehrgeiz[es] eines Vaters und einiger Lehrer« (UR 109) anklagen wird.

80

Mit Bezug auf die zusätzlichen Übungsstunden in den Ferien bemerkt Flaig: »ʼs ist ein Unsinn, Hans, und eine Sünde dazu. In deinem Alter muß man ordentlich Luft und Bewegung und sein richtiges Ausruhen habe. Zu was gibt man euch denn Ferien?« (UR 51) Zur Deutung der Figur des Schusters Flaig insgesamt vgl. den Aufsatz von Orlik 1992.

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5.3.2 Die Entfremdung von der Natur als Betrug an der Kindheit Als Gegenentwurf zu der mit Zivilisierung gleichgesetzten, bürgerlichen Subjektivierung fungiert innerhalb des Romans die Natur. Auf bildsprachlicher Ebene wird der Prozess der Subjektivierung als ein Kampf geschildert, bei welchem die Erzieher versuchen, »in dem jungen Knaben die rohen Kräfte und Begierden der Natur zu bändigen und auszurotten und an ihre Stelle stille, mäßige und staatlich anerkannte Ideale zu pflanzen« (UR 46). Die Schule trachtet danach, den jungen Knaben, der »wie ein Urwald gelichtet und gereinigt und gewaltsam eingeschränkt« (UR 47) werden müsse, zu domestizieren und in ihm »den natürlichen Menschen [zu] zerbrechen« (UR 47). Mit diesem Bild der gewaltsamen Zivilisierung des Kindes durch seine Erzieher korrespondieren im Text die ausführlichen Naturdarstellungen im Allgemeinen und die Schilderung des Flusses im Speziellen. Fluss und Flussufer erscheinen im Roman als die Orte der Kindheit schlechthin;81 der Fluss avanciert zu einer Metonymie für den kindlichen Naturzustand des Protagonisten. Nach seiner Rückkehr vom Examen in Stuttgart begibt sich Hans sofort ans Wasser. Sein Eintauchen in den Fluss wird als ein reinigender und befreiender Akt geschildert. Im Wasser fühlt Hans »Schweiß und Angst dieser letzten Tage von sich gleiten, und während seinen schmächtigen Leib der Fluß kühlend umarmte, nahm seine Seele mit neuer Lust von der schönen Heimat Besitz« (UR 26). Wie Esselborn-Krumbiegel bemerkt, wird die Natur nicht nur als harmonische Gegenwelt zum Lernalltag aufgefasst, sondern sie erscheint als »elementare Kraft, als vitale Lebensquelle« (Esselborn-Krumbiegel 1989, 71).82 Den Zugang zu dieser Lebensquelle erbittet Hans vom Vater als Belohnung für das bestandene Examen: Der Protagonist will seine Ferien am Flussufer verbringen, um zu angeln und zu schwimmen (vgl. UR 27) – eine Bitte, die ihm zunächst gewährt wird. Diese Rückkehr in die Natur ist für die Hauptfigur zugleich eine Rückkehr in den Zustand einer unbeschwerten Kindheit: »Er tat große

81

Schon früh im Roman kommen Hans beim Anblick des Flusses Erinnerungen an seine Kindheit: »Wie viele halbe und ganze Tage er hier verbracht, wie oft er hier geschwommen und getaucht und gerudert und geangelt hatte.« (UR 12) Später wird das Flussufer als Treffpunkt der Schüler dargestellt. Vgl. UR 37f.

82

Gleichzeitig kann man diese Textstelle bereits als einen vorausdeutenden Verweis darauf verstehen, dass Hansʼ »erneute Rückkehr in die Natur tödlich sein wird« (Mog 2003, 20). Ähnlich sieht dies auch Müller, der in dem Motiv des Flusses die »Vorstellung von einem Aufgehen in diesem Element, im Sinne eines Untergehens und Sterbens« (Müller 1994, 17) mitschwingen sieht.

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Atemzüge, als wollte er die verlorene schöne Zeit nun doppelt einholen und noch einmal recht ungeniert und sorgenlos ein kleiner Knabe sein.« (UR 33) Der positive Effekt, den diese Rückbesinnung auf Kindheit und Natur für den Protagonisten hat, lässt sich unmittelbar an seinem Gesundheitszustand ablesen. Die ihn dauerhaft begleitenden Kopfschmerzen verschwinden zwar nicht gänzlich, sind »aber nicht so stark wie sonst« (UR 35). Auch die zuvor als quälend empfundene Erschöpfung erscheint nun vorübergehend nicht als Belastung und Anzeichen geistiger Überanstrengung, sondern als eine gesunde und wohltuende Müdigkeit: »Als Hans um zehn Uhr in sein Bett stieg, war er in Kopf und Gliedern so angenehm müde und schläfrig, wie schon lange nicht mehr.« (UR 39)83 Gleichwohl aber ist diese unbeschwerte Rückkehr des Protagonisten in den sorgenfreien und mit der Kindheit assoziierten Naturzustand innerhalb des Romans kaum mehr als ein Intermezzo. Denn alsbald pochen Hansʼ Erzieher auf die Dringlichkeit weiterer Unterrichtslektionen, die dem Protagonisten das Vergnügen an dem Rückzug in die Natur verleiden. Nachdem seine Lehrer ihn von der Notwendigkeit zusätzlicher Lernanstrengungen überzeugt haben, plagt Hans ein »schlechtes Gewissen« (UR 49), wenn er »je und je doch wieder eine Stunde angelte oder spazierenlief« (ebd.). Auch zum Schwimmen kommt die Hauptfigur kaum noch, weil der Mathematiklehrer die »gewohnte Badestunde« (ebd.) für seinen Unterricht nutzt. Nur noch gelegentlich findet Hans Zeit zum Angeln, wobei er »ohne rechte Aufmerksamkeit am Ufer des Flusses« (UR 50) sitzt und wieder von den Kopfschmerzen gepeinigt wird, die pars pro toto für seine körperliches Unwohlsein stehen. Wenn zu Beginn des zweiten Romankapitels die Rückkehr zur Natur als eine Möglichkeit zur Genesung des Protagonisten in Aussicht gestellt wird, so schildert das Ende des gleichen Kapitels, wie Hans dieses Auswegs aus einer krankmachenden Existenz durch seine Erzieher wieder beraubt wird. Esselborn-Krumbiegel kann also zugestimmt werden, wenn diese konstatiert: »Die Natur bietet dem gehetzten Jungen Hans Giebenrath vorübergehende Zuflucht, eine Geborgenheit, aus der ihn seine Erzieher schon bald rücksichtslos herausreißen.« (Esselborn-Krumbiegel 1989, 70) Hansʼ als Disziplinierung und Unterwerfung erscheinende Subjektivierung geht einher mit einer vorzeitigen Beendigung der Kindheit, die in den Worten des Erzählers eine »betrogene und vergewaltigte Kindheit« (UR 118) ist.84 Damit verbunden ist ei-

83

Die Temporalangabe »um zehn Uhr« verweist hier zudem darauf, dass Hans im Gegensatz zur Examensvorbereitung, in welcher er »bis zwölf und gelegentlich noch darüber« (UR 11) arbeiten musste, nun zu einer ›gesunden‹ Uhrzeit ins Bett geht.

84

Auch Hans hat schon zu Beginn des Romans eine Ahnung von seiner betrogenen Kindheit, denn beim Gedanken an seine früheren Spiele empfindet er »dunkel, daß

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│ 225

ne Entfremdung des Protagonisten von der Natur, als deren zentrales Element im Roman das Wasser erscheint. Diese in Unterm Rad vollzogene Entgegensetzung von Natur und Zivilisierung rekurriert auf eine bestimmte genuin bürgerliche Vorstellung, nach der sich Subjektwerdung als ein Prozess der Domestizierung des rohen Naturzustandes des Menschen darstellte. Da insbesondere »der Körper in seiner angenommenen vorkulturellen ›Natürlichkeitʼ besonders anfällig für die Risiken des Primitiven, auch des Unreinen erscheint, ist ein Interesse an seiner Zivilisierung konsequent« (Reckwitz 2010, 253). Die von Hansʼ Erziehern forcierte Entfremdung des Protagonisten von der mit Kindheit assoziierten Natur ist dementsprechend Ausdruck eines bestimmten bürgerlichen Verständnisses von Erziehung.85 5.3.3 Subjektivierungsregime II: Das Internat in Maulbronn Auch Hansʼ Subjektivierung in seiner Zeit im Maulbronner Klosterstift, deren Schilderung das »Kernstück« (Müller 1994, 18) des Romans ausmacht, wird vom Erzähler als eine Unterwerfung des Protagonisten durch eine disziplinierende Erziehungsanstalt geschildert. Das Internat in Maulbronn zeichnet sich »vor allem durch strikte Disziplinierung und ein hohes Maß an sozialer Kontrolle« (Wende 2004, 211) aus;86 es wird vom Text als ein »Machtapparat« (Noob 1998, 170) dargestellt, in welchem eine »scharfe, strenge Zucht« (UR 79) herrscht.87 Diese literarische Darstellung des Internats bei Hesse entspricht dem Bild, das Foucault vom historischen Modell des Internats entworfen hat und welches er mit Blick auf dessen Fähigkeit zur Disziplinierung als die »vollkommenste Erziehungsform« (Foucault 2008a, 844) bezeichnete. Hansʼ Subjektivierung im Klosterstift setzt sich in der gleichen Weise fort, in der diese von den Erziehern

diese obskure, kleine Gassenwelt ihm verlorengegangen war, ohne daß etwas Lebendiges und Erlebenswertes statt dessen gekommen wäre« (UR 27). 85

Dieses Verständnis war gleichwohl um 1900 durchaus umstritten, wovon nicht nur die zeitgenössischen schulkritischen Debatten (vgl. Mix 1995, 104), sondern beispielsweise auch die Wandervogelbewegung zeugen.

86

Von »strikter Disziplinierung« spricht auch Kolk 2000, 243.

87

Konträr zu dieser Position versteht Gansel das Internat als einen »Ort, der Chancen für eine adoleszente Individuierung im Zeichen der Moderne bietet« (Gansel 2006, 103). Dieser Lesart Gansels steht allerdings die Position des Erzählers entgegen, der mit Blick auf die Eltern der Internatskinder kritisch bemerkt, dass ein jeder »sein Kind gegen einen Geldvorteil verkaufe« (UR 60), indem er es auf das Internat schicke.

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des Protagonisten im Heimatdorf begonnen wurde. Auch im Internat herrscht ein strikter Leistungsimperativ, der am pointiertesten in der titelgebenden Aufforderung des Ephorus zu Tage tritt: »Nur nicht matt werden, sonst kommt man unters Rad.« (UR 93) Auch die Internatspädagogen, die an anderer Position das gleiche bürgerliche Subjektivierungsregime vertreten wie schon die Dorfschullehrer, greifen auf die an die Vermittlung von theoretischem Bildungswissen gekoppelte Technik der geistigen Übung zurück. Diese wird so weit ausgedehnt, dass es gelingt, »den Jünglingen jahrelang das Studium der hebräischen und griechischen Sprache samt Nebenfächern allen Ernstes als Lebensziel erscheinen zu lassen« (UR 54).88 Daneben kommen im Internat noch drei weitere Techniken der Disziplinierung zur Anwendung. Hier wäre erstens die Aufhebung der Privatsphäre zu nennen. Die Schüler teilen sich mit mehreren Personen eine Stube, wobei das Zusammenleben auf engem Raum eine »Nötigung zur Selbsterziehung« (UR 54) impliziert, bei welcher sich die Schüler gegenseitig disziplinieren.89 Zweitens operiert das Subjektivierungsregime mit Techniken der Bestrafung. Der Erzähler nennt vor allem die »schwere Karzerstrafe« (UR 78), die einer Art Einzelhaft gleichkommt, welche Hansʼ Freund Hermann Heilner auferlegt wird. Die dritte Technik besteht in der Zurechtweisung unter vier Augen. Durch Disziplinlosigkeit auffällig gewordene Schüler werden ins Amtszimmer der Pädagogen zitiert (vgl. UR 91, 100, 104), wo sie Rechenschaft über ihr Verhalten ablegen müssen und zur Besserung angehalten werden. Dem mit derartigen Erziehungstechniken operierendem Maulbronner Internat und dem Bildungswesen als Ganzem steht der Erzähler im Roman unverhohlen kritisch gegenüber. Wenn er diesem System vorhält, ein Schulmeister habe »lieber einige Esel als ein Genie in seiner Klasse« (UR 90), so zielt dieser Vorwurf auf den impliziten Normierungsanspruch der Bildungsinstitutionen, durch welchen »die alljährlich auftauchenden paar tieferen und wertvolleren Geister an der Wurzel« (UR 91) geknickt würden. Das Ziel dieser Art von Subjektivierung bestehe nicht darin, die freie Entfaltung der Persönlichkeit zu fördern (vgl. Wende 2004, 215), sondern aus den Schülern angepasste »Biedermänner« (UR 90) zu machen, die sich nahtlos in eine vorgesehene

88

Während sich die Kritik des Erzählers an den Lehrinhalten des Internats vor allem durch eine subtile Ironisierung entfaltet, prangert Hans rebellischer Internatsfreund Hermann Heilner Inhalt und Didaktik des Unterrichts offen als »Tagelöhnerei« (UR 75) an: »Da lesen wir Homer, […] wie wenn die Odyssee ein Kochbuch wäre. Zwei Verse in der Stunde, und dann wird Wort für Wort wiedergekäut und untersucht, bis es einem zum Ekel wird.« (UR 68f.)

89

In diesem Zusammenhang erwähnt der Erzähler, Hans tue es »um die stille kleine Kammer leid, die er zu Hause« (UR 59) bewohnt habe.

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und bürgerlichen Vorstellungen entsprechende Subjektform einpassen lassen. Dergestalt wird speziell das Klosterstift als eine EntindividualisierungsMaschine dargestellt, welche ihre Schüler so nachhaltig formt, dass man »jeden schwäbischen Seminaristen sein Leben lang als solchen erkennen« (UR 54) kann. Aus Hans Giebenrath aber wird am Ende des Romans weder ein Biedermann noch ein auf »Kanzel oder Katheder« (UR 9) stehender Bürger. Nachdem er anfangs auch im Internat mit großem Fleiß arbeitet und sich dadurch einen Ruf als »Musterknabe« (UR 73) und »Lieblingsschüler« (UR 95) des Ephorus erarbeitet, beginnt in der Mitte des Romans der schleichende Niedergang des Protagonisten. Seine Leistungen in der Schule werden zunehmend schlechter (vgl. UR 103), denn »beim Lesen und Arbeiten hatte Hans große Mühe, aufmerksam zu sein. Was ihn nicht interessierte, glitt ihm schattenhaft unter den Händen weg.« (UR 102) Sein Gedächtnis wird »fast täglich lahmer und unsicherer« (ebd.) und Hans kann nur zusehen, wie sein guter Ruf bei den Lehrern stufenweise immer weiter herabsinkt, »von gut auf ziemlich, von ziemlich auf mittelmäßig und endlich auf null« (UR 108). Am Ende seiner Internatszeit treten die körperlichen und mentalen Ausfallerscheinungen des Protagonisten immer deutlicher zu Tage,90 bis sein Körper ihm schlussendlich völlig den Dienst versagt: Als die Hauptfigur an die Tafel gerufen wird, um eine geometrische Figur zu zeichnen, tritt Hans nach vorne. »Aber vor der Tafel wurde ihm schwindelig; er fuhr mit Kreide und Lineal sinnlos in der Fläche herum, ließ beides fallen, und als er sich danach bückte, blieb er selbst am Boden knien und konnte nicht wieder aufstehen.« (UR 110) Am Ende der Internatszeit sperrt sich der Leib des Protagonisten buchstäblich gegen die Praktiken der Subjektivierung; der Körper ist dem willentlichen Zugriff der Hauptfigur entzogen.91 Wenn sich seine Erzieher diese Ausfälle als Ausdruck eines Nervenleidens erklären, so stellt der Roman damit einen Bezug

90

Neben den bereits geschilderten Symptomen der Müdigkeit und der Kopfschmerzen, die auch im Internat anhalten (vgl. exemplarisch UR 101 und UR 108), bricht Hans am Ende auch in einen »lang andauernden Weinkrampf« (UR 109) aus, infolgedessen er einen halben Tag lang das Bett hüten muss.

91

Deutlich wird dies vor allem in der Episode, in welcher Hans der Aufforderung des Latein-Lehrers, aufzustehen und eine Textstelle zu übersetzen, nicht nachkommen kann, obwohl er später glaubhaft versichert: »Ich wollte schon aufstehen.« (UR 100) Dabei kann Hans sich nicht erklären, warum er trotzdem sitzen geblieben ist. Ratlos bemerkt er: »Ich weiß nicht, was es war.« (ebd.) Wende bemerkt hierzu: »Der Leib rebelliert gegen den theologischen Geist-Diskurs.« (Wende 2004, 212)

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zu den Debatten über Neurasthenie und Nervenschwäche her.92 Zugleich wird die Deklarierung als Nervenleiden auch als bequeme Ausrede der Erzieher desavouiert, mit der diese jeden Zweifel darüber niederkämpfen, ob nicht auch sie »vielleicht doch ein Teil der Schuld treffen möge« (UR 110). In jedem Fall aber steht Hans in seinen letzten Internatswochen seinem Niedergang hilflos und passiv gegenüber. Er unterlässt es, »sich nutzlos zu plagen« (UR 108) und sieht »ohne Aufregung zu« (ebd.), wie er schließlich aus dem Internat ausgeschlossen wird. Sicherlich trägt zu diesem »Scheitern des Helden« (Solbach 2005, 82),93 das vor allem ein Scheitern seiner bürgerlichen Subjektivierung ist, auch Hansʼ Bekanntschaft mit Hermann Heilner bei. Doch ist die Freundschaft des Protagonisten zum rebellischen Heilner und vor allem dessen plötzliches Verschwinden nur der Auslöser dieses Scheiterns, nicht aber die Ursache desselben.94 Vielmehr lässt der Erzähler in einer anklagenden Passage keinen Zweifel darüber aufkommen, wer für den Untergang des Protagonisten verantwortlich ist:

92

Aus der Perspektive des Historikers bemerkt Joachim Radkau, Hesses Roman schildere, »wie nach einem Neurastheniebuch [verfasst], wie ein Schüler durch die Schule […] in den nervlich-seelischen Ruin getrieben wird« (Radkau 1998, 319).

93

Vom ›Scheitern‹ der Hauptfigur sprechen ferner Gansel 2006, 92 und Esselborn-

94

In der Forschungsliteratur wurde vereinzelt darauf hingewiesen, dass es sich bei

Krumbiegel 1998, 75. Heilner nicht nur um eine »Kontrastfigur« (Marquardt 1997, 298) Giebenraths handle, sondern auch um eine Figur mit fragwürdigem Charakter. Vgl. Solbach 2005, 76. Gleichwohl aber wäre es wenig plausibel, wollte man Heilner als einen von außen einwirkenden, zerstörerischen Einfluss begreifen, welcher ungefragt das bis dahin funktionierende Weltbild der Hauptfigur auf den Kopf stellt. Vielmehr erscheint die Subjektivierung Hans Giebenraths bereits vor dem ersten Auftreten Heilners als problematisch, was nicht zuletzt durch die permanenten Kopfschmerzen der Hauptfigur angedeutet wird. Wenn sich also Hans nach dem ersten Streit mit Heilner (vgl. UR 79) von sich aus wieder seinem Freund mit den Worten »Ich will lieber Letzter werden, als noch länger so um dich herumzulaufen« (UR 89) zuwendet, so gerade deshalb, weil er sich von seinen alten, auf reiner Strebsamkeit beruhenden und auf Dauer krankmachenden Lebensmaximen distanziert hat. Dementgegen ist dem Dichter und Genie Heilner (vgl. UR 73) als Personifikation eines anderen Weltbilds bereits im Namen das Versprechen auf eine Heilung inhärent, welches durch das Vorzeitige Verschwinden Heilners letztlich uneingelöst bleibt. Zurück bleibt Hans, der nach dem Verlust seines einzigen Freundes aber nicht zu seiner alten und überwundenen Strebsamkeit zurückkehren kann.

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»Keiner dachte daran, daß die Schule und der barbarische Ehrgeiz eines Vaters und einiger Lehrer dieses gebrechliche Wesen so weit gebracht hatten. Warum hatte er in den empfindlichsten und gefährlichsten Knabenjahren täglich bis in die Nacht hinein arbeiten müssen? Warum hatte man ihm seine Kaninchen weggenommen, […], ihm Angeln und Bummeln verboten und ihm das hohle, gemeine Ideal eines schäbigen, aufreibenden Ehrgeizes eingeimpft? Warum hatte man ihm selbst nach dem Examen die wohlverdienten Ferien nicht gegönnt? Nun lag das überhetzte Rößlein am Wege und war nicht mehr zu gebrauchen.« (UR 109)

Letzten Endes sind es die skizzierten Prinzipien und Techniken der durch die dörflichen Erzieher begonnenen und im Internat fortgeführten Subjektivierung, an denen der Protagonist schließlich zu Grunde geht. Bevor aber mit dem Suizid im Wasser der Schlusspunkt dieses Scheiterns im Roman erreicht ist, kommt es im Text zunächst noch zu einer Art Retardation. 5.3.4 Das »peinliche Darben« (UR 108) – Die Retardation vor dem Untergang Im letzten Drittel des Romans schildert der Erzähler die zaghaften Bemühungen des Protagonisten, nach seinem körperlichen und psychischen Zusammenbruch und den dadurch besiegelten Ausschluss aus dem Seminar zu einem geregelten Leben zurückzufinden. Inhaltlich werden zwei Aspekte verhandelt: einerseits Hansʼ zögerliche Versuche, als Schlosser im kleinbürgerlichen Berufsleben Fuß zu fassen; andererseits den ersten Kontakt des Protagonisten mit Liebe und Sexualität. In beiden Bereichen macht Hans vor allem negative Erfahrungen95 oder wie Müller formuliert: »Beiden Begegnungen ist der Erschöpfte nicht gewachsen.« (Müller 1994, 24) Diesem Teil des Romans kommen vor allem zwei Funktionen zu. Erstens illustriert die, trotz des guten Willens seiner Mitmenschen, nicht gelingende »Reintegration in die Sozialordnung« (Wende 2004, 214), wie sehr Hans durch die ihn unterwerfenden Techniken geschädigt wurde. Nicht nur

95

Obwohl ihn seine Kollegen mit Nachsicht behandeln, ihm aufmunternd zureden und sich darum bemühen, ihn in ihre Gemeinschaft zu integrieren, fühlt sich Hans in der Werkstatt »todunglücklich« (UR 153). Der schwächliche Protagonist ist den körperlichen Strapazen dieses Berufs schlicht nicht gewachsen (vgl. ebd.). Auch seine erste Erfahrung mit Liebe und Sexualität enthält für die Hauptfigur »wenig Süßes und viel Bitteres« (UR 147), denn das von Hans angehimmelte Mädchen verlässt über Nacht die Stadt. Zurück bleibt der Protagonist, der »Sehnsucht nach seinem Mädchen« (ebd.) leidet und sich »stöhnend ins verweinte Kissen« (ebd.) presst.

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ist seine auf Kanzel oder Katheder orientierte bürgerliche Subjektivierung im Seminar gescheitert; auch eine Rückkehr zu einer Existenz in seinem kleinbürgerlichen Herkunftsmilieu ist durch die von seinen Erziehern verursachten Schäden unmöglich geworden. Hans ist am Ende des Romans buchstäblich lebensuntauglich. Zweitens dienen die in Liebe und Beruf durchlebten Enttäuschungen ferner dazu, den Weg des Protagonisten in den Suizid psychologisch zu plausibilisieren. Relevant im Hinblick auf die Suizidmethode ist an diesem Teil des Romans vor allem die Darstellung der Passivität des Protagonisten. Schon am Ende der Seminaristenzeit schildert der Erzähler Hansʼ Zustand als ein »peinliches Darben« (UR 108), bei welchem er hilf- und teilnahmslos seinem Niedergang beiwohnt. Diese als »müde[s] Sichgehenlassen« (UR 115) beschriebene Teilnahmslosigkeit des Protagonisten setzt sich auch nach seiner Rückkehr in sein Heimatdorf fort. Hans liegt hier zumeist »träge im Moos« (UR 112) und versinkt »langsam und wehrlos wie in einem weichen Schlammboden« (UR 126) in Melancholie und Passivität.96 Nur aufgrund dieser Passivität erhängt sich Hans auch nicht an dem bereits ausgesuchten Baum. Sein vorläufiger Verzicht auf den Suizid fußt nicht etwa auf einer aktiven Lebensbejahung, sondern allein darauf, dass er vor lauter Antriebslosigkeit »noch immer nicht dazu [kam], den Strick mitzunehmen und von jenem starken Aste Gebrauch zu machen« (UR 116). Die Todesart des Erhängens setzt eine aktive Handlung voraus, zu welcher der Protagonist nicht mehr fähig ist.

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Diese Passivität bleibt ebenso symptomatisch für Hans Versuch, einen Beruf zu ergreifen, wie für seine kurze Liaison mit Emma. Hans beginnt nicht etwa aus eigenem Antrieb eine Lehre, sondern nur auf Drängen des Vaters, der ihn vor die Wahl stellt, Mechaniker oder Schreiber zu werden (vgl. UR 136). Noch deutlicher wird seine auch mit sexueller Unerfahrenheit verbundene Passivität beim abendlichen Techtelmechtel mit Emma. »Schlaff und willenlos« (UR 143) ist Hans den körperlichen Annäherungen Emmas förmlich ausgeliefert, die daraufhin bemerkt: »Du traust dich ja gar nix.« (ebd.) Bei dieser Liebesszene übernimmt Emma den aktiven Part. Hans hingegen ist mit dieser körperlichen Annäherung so überfordert, dass er »glaubte sterben zu müssen« (UR 144), weshalb er schlussendlich regelrecht flüchtet.

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5.3.5 Die mehrfache Motivierung des Suizidgeschehens Nimmt man die angestellten Überlegungen zusammen, so stellt sich Unterm Rad dar als die Geschichte eines Jungen kleinbürgerlicher Herkunft, den der »barbarischen Ehrgeiz eines Vaters« (UR 109) und einiger Erzieher sukzessive zugrunde richtet. Bei genauer Lektüre des Textes scheint es im Fortgang des Romans zu keiner Zeit wahrscheinlich, dass die Hans aufgezwungene, bürgerliche Subjektivierung zu einem anderen Ende als einer Katastrophe führen könnte. Allzu deutlich sind dafür im Text die Hinweise auf den sich zunehmend verschlechternden körperlichen Zustand des Protagonisten, dessen Symptome den um 1900 breit diskutierten negativen Folgen der Schülerüberbürdung entsprechen. Allzu eindeutig sind dafür auch die kritischen Kommentare des Erzählers, der schon auf der zweiten Romanseite die »Tragik« (UR 8) der Geschichte in Aussicht stellt, der sich mehrfach deutlich kritisch gegen Hansʼ verschiedene Erzieher positioniert (vgl. UR 46, 91, 109) und der schließlich den Tod des Protagonisten weit vor dem Ende der Geschichte ankündigt (vgl. UR 115). Der gesamte Roman ist auf den Untergang des Protagonisten hin ausgerichtet und muss daher auch von seinem Ende her gedacht werden. Dieses Ende integriert aber nur dann das vorangehende Geschehen innerhalb der erzählten Welt zu einer sinnvollen Gesamtkomposition, wenn man Hansʼ Tod nicht als Unfall missversteht, wie dies wenige Autoren tun.97 Der Roman schildert eben nicht, wie eine Figur durch ein zufälliges Unglück ums Leben kommt, sondern wie sie von Anfang an Einflüssen unterworfen ist, die sie sukzessive in den Suizid treiben. Diese Deutung forciert der Text abschließend noch einmal, indem die Figur des Schusters Flaig bei Hansʼ Beerdigung als Schlusswort die Verantwortung der verschiedenen Erzieher für den Tod des Protagonisten thematisiert: »Dort laufen ein paar Herren, […], die haben auch mitgeholfen, ihn soweit zu bringen.« (UR 166) Dieser Kommentar des Schusters macht im Gesamtzusammenhang des Romans aber

97

Wie Eingangs ausgeführt wurde, legt der Erzähler diese Deutung auch keinesfalls nahe, sondern er referiert nur den unsicheren Informationsstand der übrigen Figuren. Eine plausible Erklärung dafür, dass einige dieser Figuren von einem Unfall ausgehen, liefert Noob 1998: »Indem man Hansʼ Tod einfach als Unfall deklariert, strebt man nicht nur die bequemere Lösung an, sondern weist gleichzeitig jegliche persönliche Mitschuld an dem Unglück zurück. Man ist nicht für Konflikte dieser Art.« (Noob 1998, 172) Das Leugnen des Suizids wäre demnach ein Zurückweisen eigener Verantwortung durch Hansʼ Erzieher, wie dies auch schon zuvor im Roman vom Erzähler am Beispiel des Ephorus ironisierend dargestellt wurde (vgl. UR 110).

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nur dann Sinn, wenn man Hansʼ Tod als das Resultat eines UrsacheWirkungszusammenhangs versteht und nicht als schicksalhaften Unfall. Die Frage, warum sich Hans Giebenrath das Leben nimmt, ist damit beantwortet. Offen ist hingegen noch, warum diese Figur das Ertränken als Todesart wählt. Die auf den vorangegangenen Seiten angestellten Überlegungen führen zu dem Schluss, dass in Unterm Rad eine komplexe Motivierung des Figurenablebens vorliegt, bei welcher drei verschiedene Aspekte zusammenkommen. Erstens befindet sich der Protagonist am Ende des Romans in einem Zustand von Passivität, der maßgeblich dafür sorgt, dass Hans seinen Plan zur Selbsterhängung nicht in die Tat umsetzt. Er kommt schlicht und ergreifend nicht dazu, ein solchen, in den kulturellen Vorstellungen als aktiv geltenden Suizid in die Tat umzusetzen. Der Tod durch Ertrinken hingegen galt und gilt als die passive Todesart schlechthin, weil man sich bei dieser Methode nicht durch eine aktive Handlung selbst tödlich verletzen muss.98 Dementsprechend trägt die Wahl der Suizidmethode der Antriebslosigkeit des Protagonisten am Ende des Romans Rechnung. Da diese Antriebslosigkeit ein auch aus der Agentenperspektive erkennbares Moment der erzählten Welt ist, liegt in diesem Fall eine kausale Motivierung des Suizidgeschehens vor. Dieses Geschehen und die damit verbundene Art der Selbsttötung sind darüber hinaus auch kompositorisch motiviert. Wie erörtert wurde, steht das Wasser im Roman auf einer der erzählten Welt übergeordneten, symbolischen Ebene für den natürlichen Urzustand kindlicher Unbeschwertheit. Aus diesem Zustand wird der Protagonist durch die ihm aufgezwungene Subjektivierung vorzeitig und gewaltsam herausgerissen, was vor allem an der Ferien-Episode nach dem Examen deutlich wird. Wenn sich Hans schlussendlich in demselben Fluss ertränkt, an dem er seine Kindheit verbracht hat, so ist dies auf symbolischer Ebene eine Rückkehr des Protagonisten in den unbeschwerten und friedlichen Naturzustand seiner Kindheit, welche allerdings nur noch um den Preis des eigenen Todes zu erreichen ist.99 Diesem erlösenden Charakter des Wassersuizids trägt die Schilderung der Leiche Rechnung, die »still und langsam« (UR 164) talabwärts treibt und von der »Ekel, Scham und

98

Vgl. zu der kulturellen Vorstellung von der Passivität des Ertrinkens vor allem Lind 1999, 331 und Fenske 2012. Letztere geht im Vergleich auf die beiden in Unterm Rad relevanten Suizidmethoden ein: »Das Ins-Wasser-Gehen, der Sprung ins Meer oder einen Fluss [wird] als passive Tötungsart angesehen […], anders als beispielsweise der Tod durch Erhängen.« (Fenske 2012, 230)

99

Ähnlich sieht dies Esselborn-Krumbiegel, die von einer »Rückkehr der Kreatur in ihren eigentlichen Lebensraum« (Esselborn-Krumbiegel 1998, 73) und der »Erlösung des Verzweifelten durch die Natur« (ebd.) spricht.

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Leid« (ebd.) genommen wurden. Drittens spielt schließlich auch in Unterm Rad die kulturelle Bedeutung des Ertrinkens als weiblicher Todesart, die wiederum die kompositorische Motivierung des Suizidgeschehens betrifft, eine Rolle.100 Die scheiternde Subjektivierung des Protagonisten, die in Hesses Roman in der Form einer erzwungenen Unterwerfung durch ein rigides Subjektivierungsregime erscheint, ist nicht nur eine Subjektivierung zum Bürger, sondern vor allem zum bürgerlichen Mann. Diesem bürgerlichen und »männlichen Formungsprozess« (Kuhn 2002, 221), dem Hans unterworfen ist, ist die Kategorie des Geschlechts immer schon inhärent. Das Seminar in Maulbronn ist dezidiert ein Jungeninternat, das ausschließlich brave, bürgerliche »Biedermänner« (UR 90) hervorbringen soll und keine Bürgerfrauen. Wie schon in den beiden zuvor untersuchten Texten hat der Leser es also auch in Unterm Rad mit einer Figur zu tun, die bei dem Versuch einer Subjektwerdung zum bürgerlicher Mann scheitert und die sich infolgedessen auf eine als weiblich geltende Art das Leben nimmt. Dieses Scheitern stellt sich allerdings nicht in erster Linie als individuelles Versagen des Protagonisten dar, sondern als das Resultat desparater sozialer Verhältnisse. Anders als im Kleinen Herrn Friedemann oder in Einsame Menschen wird die Verantwortung für das Ertrinken der männlichen Hauptfigur der bürgerlichen Gesellschaft im Allgemeinen und dem wilhelminischen Bildungssystem im Speziellen überantwortet.

5.4 D IE U MKEHRUNG DER V ORZEICHEN : D IE B EZUGNAHME AUF DAS P HÄNOMEN DES MÄNNLICHEN W ASSERSUIZIDS IN F RANZ K AFKAS D AS U RTEIL Die Entstehungsgeschichte des Textes ist Legende: In der Nacht vom 22. auf den 23. September 1912 fasst der bis dahin unbekannte Autor Franz Kafka zwischen zehn Uhr abends und sechs Uhr morgens seine Erzählung Das Urteil ab, mit der ihm der literarische Durchbruch gelingen wird. Acht Stunden, über die Peter von Matt später titeln sollte: »Eine Nacht verändert die Weltliteratur.« (von Matt 2006, 102) Ob das Prosastück tatsächlich die Weltliteratur verändert hat, steht an dieser Stelle nicht zur Diskussion. Zweifelsohne aber zählt Das Urteil noch heute »zu den meist interpretierten Kurztexten Kafkas« (Gray 1994, 11), an dessen Deutung sich bis dato mehr als 200 InterpretInnen versucht haben (vgl. Scheffel

100 Vor allem Kuhn und Esselborn-Krumbiegel machen diese Lesart des Suizids als »weibliche Form der Selbsttötung par excellence« (Kuhn 2002, 216) stark.

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2003, 59). Diese hohe Zahl an wissenschaftlichen Untersuchungen ist nicht zuletzt der enormen Komplexität der Erzählung geschuldet, welche sich als »auffallend resistent gegenüber einem breiten Spektrum an Methoden der Textanalyse« (Knapp 2009, 105) erwiesen hat. Der Text mit seiner »sprunghaft[en] und von unerklärlichen Rissen durchzogen[en]« (Gray 1994, 13) Handlung erweckte zuweilen den Eindruck, er sei darauf angelegt, den Leser irrezuführen, wenn er »ihn zu Interpretationen verleitet und diese zugleich niemals bestätigt« (Zeller 1986, 174). Manche Autoren gelangten gar zu der Schlussfolgerung, jeder Interpret müsse sich zwangsläufig »bei seiner Sinnsuche verlaufen« (Selbmann 2003, 41), weil es sich bei der Erzählung schlicht um »die Negation von Sinn selbst« (Jahraus 2003, 245) handle. Die Voraussetzungen für eine sozial-historische Analyse des Urteils scheinen auf den ersten Blick also nicht günstig, da eine solche Art der Untersuchung bis zu einem gewissen Grad auf das Vorhandensein einer stabilen und möglichst weitgehend nach dem Realitätsprinzip organisierten erzählten Welt angewiesen ist.101 Trotzdem gibt es keinen Anlass, allzu vorschnell die sozialhistorischen Analyse-Segel zu streichen und vor der scheinbaren Sinnlosigkeit der Erzählung zu kapitulieren. Denn zumindest der erste Teil des im »Stil einer realistischen Erzählung des 19. Jahrhunderts« (Scheffel 2003, 61) beginnenden Textes, welcher noch nicht die später gehäuft auftretenden Unwahrscheinlichkeiten und Inkohärenzen offenbart, kann mit dem bis hierher erprobten theoretischen Apparat durchaus untersucht werden. Sollte der sozialhistorische Zugang im weiteren Verlauf der Analyse an die Grenzen der Durchführbarkeit stoßen, so gilt es, diese Grenzen kenntlich zu machen und zu reflektieren. Grundsätzlich gehe ich aber davon aus, dass sich mit dem gewählten Zugang auch fundierte Aussagen über die Funktion und Bedeutung der Suizidmethode in Kafkas Urteil treffen lassen. Diese Hoffnung nährt der Umstand, dass die Grundkonstellation in Kafkas Erzählung den bereits untersuchten literarischen Selbstertränkungen in mindestens einem Punkt ähnelt. Der als »junger Kaufmann« (DU 13) vorgestellte Protagonist Georg Bendemann wird nach einer Auseinandersetzung mit seinem Vater von diesem zum »Tode des Ertrinkens« (DU 25) verurteilt, woraufhin sich Georg am Ende der Erzählung von einer Brücke in einen Fluss stürzt.102 Wiede-

101 Das Vorhandensein einer solchen stellt beispielsweise Palmier in Frage, wenn er unter Rekurs auf die Erzähltheorie von Martinez/Scheffel konstatiert, in Kafkas Text sei »hinter der Rede des Erzählers keine stabile und eindeutig bestimmbare erzählte Welt erkennbar« (Palmier 2011, 202). 102 Allgemein betrachte ich gemäß meiner eingangs festgelegten Definition (vgl. Kapitel 1) eine Selbsttötung auch dann als Suizid, wenn diese im Namen des Urteils ei-

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rum resultiert der Wassersuizid eines männlichen Protagonisten aus einem Konflikt, welcher – wie es im Folgenden zu zeigen gilt – genuin ein Konflikt innerhalb der bürgerlichen Subjektkultur ist. Während es aber in den zuvor untersuchten Texten stets die ›missratenen‹, d.h. die dem bürgerlichen Subjekt-Ideal nicht entsprechenden Söhne des Bürgertums waren, die den Tod im Wasser fanden, so wird dieser Sachverhalt im Urteil auf den Kopf gestellt: Meiner im Folgenden vertretenen These nach ist es in Kafkas Erzählung paradoxerweise gerade das von Georg Bendemann verkörperte bürgerliche Subjekt-Ideal, das zum Tod durch Ertrinken verurteilt wird, während demgegenüber ein durch den Freund in Russland repräsentierter und dem bürgerlichen Leistungsethos widerstrebender Lebensentwurf verteidigt wird. Dabei scheint mir im Urteil eine Bezugnahme auf das literarische Phänomen des männlichen Wassersuizids vorzuliegen, welche gerade in der vollständigen und spiegelbildlichen Umkehrung des zur Selbsttötung führenden, sozialen Konflikts besteht. 5.4.1 Das bürgerliche Subjekt-Ideal und seine Antipode: Georg und der Freund in Russland Bereits der zweite Satz der Erzählung verortet die Hauptfigur des Urteils im Kontext der bürgerlichen Subjektkultur: »Georg Bendemann, ein junger Kaufmann, saß in seinem Privatzimmer.« (DU 13) Seit sich das Bürgertum und mit ihm eine spezifische Subjektkultur in der frühen Neuzeit herausgebildet hat, zählt der Beruf des Kaufmanns zu den traditionell wirtschaftsbürgerlichen Berufen.103 Wenn Georg als Kaufmann in die Erzählung eingeführt wird, so wird er schon über die Nennung des Berufes für den zeitgenössischen Leser als Repräsentation eines bürgerlichen Subjekts markiert. Die Konturierung der Bürgerlichkeit wird über die Berufsbezeichnung hinaus stabilisiert, indem Georg in ei-

ner höheren Instanz vollstreckt wird. Ähnliches ist im Grunde auch bei einem Suizid aus Ehrengründen, wie dieser beispielsweise im Lieutenant Gustl thematisiert wird, der Fall. Die Besonderheit an Kafkas Erzählung besteht erstens darin, dass diese höhere Instanz durch die Figur des Vaters, welcher das Todesurteil ausspricht, personalisiert und damit sehr konkret repräsentiert wird. Zweitens erscheint es besonders rätselhaft und psychologisch schwer nachvollziehbar, warum und im Namen welcher Fügsamkeit Georg dieses Urteil an sich vollstreckt. Insbesondere der letzte Punkt ist weiter unten im Zusammenhang mit der Abkehr des Textes vom Realitätsprinzip noch zu erörtern. 103 Vgl. zum Kaufmannsberuf und seiner Entwicklung im 19 Jahrhundert Habermas 2000a, 95-98.

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ner spezifischen Körperhaltung bei der Aneignung einer typisch kaufmännischen Praktik geschildet wird. Am Schreibtisch sitzend hat Georg gerade »einen Brief an einen sich im Ausland befindenden Jugendfreund beendet« (DA 13). Durch die Erwähnung weiterer Briefe Georgs an seinen Freund (vgl. DA 15, 16, 25) wird der Eindruck einer kontinuierlichen brieflichen Korrespondenz evoziert. Ein solches regelmäßiges Führen brieflicher Korrespondenz war eine zentrale Praktik von Kaufleuten104 und zugleich auf einer allgemeineren Ebene eine jener bürgerlichen Selbsttechnologien, die vor allem auf einem »Umgang mit der Schrift: Praktiken des Schreibens – vor allem von Tagebüchern und Briefen – sowie des Lesens« (Reckwitz 2010, 155) fußte. Dort, wo das Schreiben von Briefen nicht nur dem Informationsaustausch oder einer geschäftlichen Korrespondenz diente, erfüllte diese Praktik vor allem zwei Funktionen. Einerseits übte das bürgerliche Subjekt durch die Lektüre und das Verfassen von Briefen seine Fähigkeit zu einer »durch keine sinnlichen Nebenaktivitäten gestörten kognitiven Konzentration« (ebd., 160). Das Schreiben von Briefen wurde, wie im Urteil geschildert, in einer »körperliche immobile[n] ›Arbeitshaltung‹ am Schreibtisch« (ebd.) vollzogen. Andererseits trainierte das bürgerliche Subjekt durch diese Praktik seine Kompetenz zur Fremd- und Selbsthermeneutik, das heißt seine Fähigkeit zu »beständiger Fremd- und Selbstpsychologisierung« (ebd., 143). Insbesondere der Aspekt der Fremdpsychologisierung des brieflichen Gegenübers lässt sich am Urteil nachvollziehen. Kafkas Erzählung ist intern auf Georg fokalisiert. So erfährt der Leser in Mitsicht mit der Hauptfigur, wie Georg, ausgehend von der Frage »Was sollte man einem solchen Manne schreiben, der sich offenbar verrannt hatte« (DU 13), die Situation seines Freundes und die Wirkung des geplanten Briefes unter psychologischen Gesichtspunkten analysiert und daran den Inhalt der brieflichen Mitteilung ausrichtet.105 Die Betrachtung des Freundes

104 Habermas konstatiert hierzu: »Der Kaufmannsberuf bestand in hohem Maße aus der souveränen Beherrschung des schriftlichen Ausdrucks in all seinen Varianten« (Habermas 2000a, 100), wobei sie insbesondere die Bedeutung des Briefes herausstellt. Vgl. ebd. 23-27. Vgl. ferner zur kaufmännischen Briefpraxis auch den Aufsatz von Haasis 2015. 105 Sollte man ihm vielleicht raten, wieder nach Hause zu kommen, seine Existenz hierher zu verlegen […] und im übrigen auf die Hilfe der Freunde zu vertrauen? Das bedeutete aber nichts anderes, als daß man ihm gleichzeitig, je schonender, desto kränkender, sagte, daß seine bisherigen Versuche mißlungen seien, daß er endlich von ihnen ablassen solle, daß er zurückkehren und sich als ein für immer Zurückgekehrter von allen mit großen Augen anstaunen lassen müsse […]. Vielleicht gelang es nicht einmal, ihn überhaupt nach Hause zu bringen […] und so bliebe er dann

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unter psychologischen Aspekten erscheint im ersten Teil der Erzählung auch als Grund dafür, dass Georg diesem seine Verlobung verschweigt.106 In Verbindung mit dem Nachdenken über den Inhalt der Briefe wird an Georgs Überlegungen zugleich ein spezifisch bürgerlicher Entwurf von Freundschaft deutlich. Wie Reckwitz bemerkt, war neben der Ehe auch die Freundschaft eine soziale Beziehung, innerhalb derer »geistig-seelische Ähnlichkeiten verarbeitet werden« (Reckwitz 2010, 138) und in der sich durch die beständige Fremd- und Selbstpsychologisierung »eine spezifische ›Innerlichkeit‹ von Charaktereigenschaften und Emotionen ausbildet« (ebd.). Dieses auf seelischer Ähnlichkeit und emotionaler Reflexivität fußende Freundschaftskonzept wird implizit aufgerufen, wenn Georg gegenüber seinem Vater formuliert: »Wenn er mein guter Freund ist, sagte ich mir, dann ist meine glückliche Verlobung auch für ihn ein Glück.« (DU 19) Sicherlich kann die Beziehung zwischen Georg und seinem Freund mit dem Wissen um das Ende der Erzählung auch anders verstanden werden als eine typische bürgerliche Konzeption von Freundschaft.107 Insbesondere aber bei einer Erstlektüre der Erzählung, bei welcher der Leser zu Beginn noch von einer stabilen, dem Realitätsprinzip108 unterworfenen erzählten Welt ausgehen kann, erscheinen anfangs sowohl Georgs Beruf als Kaufmann als auch seine spezifische Aneignungsweise der Praktik des Briefeschreibens sowie das damit verbundene Freundschaftskonzept als Ausweis der Bürgerlichkeit des Protagonisten. Kurz-

trotz allem in seiner Fremde, verbittert durch die Ratschläge und den Freunden noch ein Stück mehr entfremdet. Folgte er aber wirklich dem Rat und würde hier – natürlich nicht mit Absicht, aber durch die Tatsachen – niedergedrückt, fände sich nicht in seinen Freunden und nicht ohne sie zurecht, litte an Beschämung, hätte jetzt wirklich keine Heimat und keine Freunde mehr; war es da nicht viel besser für ihn, er bliebe in der Fremde, so wie er war?« (DU 14) 106 Georg befürchtet, wenn der unverheiratete Freund davon erführe und zur Hochzeit eingeladen würde, würde er zwar anreisen, sich aber »gezwungen und geschädigt fühlen, vielleicht mich zu beneiden und sicher unzufrieden und unfähig, diese Unzufriedenheit jemals zu beseitigen« (DU 16). Dieser Denkbewegung ist wiederum eine Fremdpsychologisierung des Freundes inhärent. 107 Vor allem psychoanalytisch orientierte Interpretationen vertreten hier andere Deutungen, wie etwa die, dass es sich bei Georg und seinem Freund um »Partial-Ichs einer Sohnfigur« (Anz 2003, 132) bzw. um Alter und Ego (vgl. Hiebel 1999, 39; Kurz 1980, 168) handelt. 108 Der Begriff ›Realitätsprinzip‹ wird hier im literaturtheoretischen Sinne (vgl. Kapitel 3.4.1) gebraucht und nicht in der Weise, wie Freud den Terminus verwendet.

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um: Georg Bendemann wird für den Leser rasch als Darstellung eines bürgerlichen Subjekts erkennbar, dessen Existenzweise dem bürgerlichen Ideal einer zielstrebigen und erfolgreichen Lebensführung entspricht. Letzteres wird in der Erzählung an zwei unterschiedlichen Aspekten deutlich. Zunächst erfährt der Leser von den »geschäftlichen Erfolgen« (DU 15) Georg Bendemanns, der in den zurückliegenden Jahren das »Geschäft mit größerer Entschlossenheit angepackt« (ebd.) und entscheidend vorangebracht hat: »Das Personal hatte man verdoppeln müssen, der Umsatz sich verfünffacht, ein weiterer Fortschritt stand zweifellos bevor.« (ebd.) Was dem Protagonisten mit anderen Worten zugeschrieben wird, ist eine erbrachte berufliche Leistung, welche »die zentrale Kategorie des bürgerlichen Berufsethos« (Döcker 1994, 14) darstellte. Leistung war aus der Perspektive der Zeitgenossen nicht ein bloßer Selbstzweck, sondern sie wurde gleichzeitig zum Ausweis einer spezifischen bürgerlichen Moralität. Das »bürgerliche Berufssubjekt [modellierte] sich als moralisches, das in der Arbeit Körper und Geist diszipliniert und Werte schafft« (Reckwitz 2010, 112), welche beispielsweise dem Adelssubjekt abgesprochen wurden. Mit den Worten von Rebekka Habermas: Der Bürger gefiel sich »in der Rolle des Mannes, der kraft Leistung, und nicht qua Geburt oder Beziehungen, zu Geld und Ansehen kommt« (Habermas 2000a, 100). Komplementär zur erbrachten Arbeitsleistung sollte ein »erfülltes Familien- und Privatleben […] den beruflichen Erfolg« (Döcker 1994, 14) des männlich-bürgerlichen Subjekts ergänzen. Auch auf dieser privaten Ebene ist Georg Bendemann der Erfolg beschieden, denn er hat sich »vor einem Monat mit einem Fräulein Frieda Brandenfeld, einem Mädchen aus wohlhabender Familie«, (DU 16) verlobt. Zwei Aspekte sind an dieser Verlobung bedeutsam: Einerseits entspricht das in der Erzählung geschilderte harmonische Miteinander der zukünftigen Ehepartner (vgl. DU 16) dem als Grundlage der Ehe postuliertem »Ideal der Seelenverwandtschaft, die auf Zuneigung, Geistesbildung und ›Gefährtenschaft‹ beruhte« (Budde 1994, 6). Andererseits trägt der wiederholte Hinweis, Frieda Brandenfeld stamme aus wohlhabender Familie (vgl. DU 17), den jenseits aller postulierten Ideale nach wie vor wirkmächtigen, strategischen Dimensionen der Eheanbahnung Rechnung: Nicht »zwei Individuen und ihre Liebe, wie viele Zeitgenossen und Zeitgenossinnen […] glauben machen wollen, entschieden über die Eheschließung, sondern die ökonomische und soziale Potenz der Familie und das Geschick einzelner« (Habermas 2000a, 303). Durch die Kombination aus Georgs beruflichem Erfolg und einer dem bürgerlichen Liebesideal entsprechenden Verlobung mit einer Frau, die einen finanziell potenten Hintergrund hat, erzeugt die Erzählung ein fast klischeehaftes Bild je-

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ner »glücklichen bürgerlichen Existenz« (Scheffel 2003, 73), die schon Scheffel der Hauptfigur attestierte.109 Dem durch Georg repräsentierten bürgerlichen Subjekt-Ideal wird kontrastiv und als Antipode das Schicksal des Freundes in Petersburg entgegengestellt.110 Wo der Erzähler Georgs beruflichen und wirtschaftlichen Erfolg hervorhebt, erfährt der Leser über den Freund, dieser habe »mit seinem Fortkommen zu Hause unzufrieden, sich nach Rußland förmlich geflüchtet« (DU 13). Doch auch das in Petersburg eröffnete und nicht näher spezifizierte »Geschäft« (ebd.) bringt nicht den anvisierten Erfolg, sondern scheint »seit langem […] schon zu stocken« (ebd.). Aus der Perspektive Georgs, die der Darstellung des intern fokalisierenden Erzählers zu Grunde liegt, arbeitet sich der Freund »in der Fremde nutzlos ab« (DU 13) und habe sich, da »seine bisherigen Versuche mißlungen seien« (DU 14), in seinem beruflichen Fortkommen »offenbar verrannt« (DU 13). Analog zum wirtschaftlichen Scheitern steht beim Freund auch der private Misserfolg dem sich anbahnenden Eheglück Georgs gegenüber. So erfährt der Leser, der Freund in Petersburg sei sozial isoliert, denn er habe »keine rechte Verbindung mit der dortigen Kolonie seiner Landsleute, aber auch fast keinen gesellschaftlichen Verkehr mit einheimischen Familien« (DU 13). Eine Ehefrau zu finden und eine Familie zu gründen erscheine unter diesen Umständen unmöglich und so richte sich der Freund »für ein endgültiges Junggesellentum ein« (DU 13). Wenn sich das bürgerliche Subjekt, wie Reckwitz konstatiert, erstens in seiner Arbeitsleistung »seiner souveränen Selbsterhaltung und moralischen Disziplin, seines vollwertigen Subjektseins« (Reckwitz 2010, 109) versichert und wenn zweitens erst die »Partizipation an Intimbeziehungen im bürgerlichen Sinne […] den Einzelnen zur vollwertigen Subjekthaftigkeit« (ebd., 146) befähigt, dann ist Georgs Freund in Russland in der Tat im Begriff, als bürgerliches Subjekt zu scheitern. Allerdings finden sich bereits in der ersten Hälfte der Erzählung auch einige Aspekte, die eine Lesart des Freundes nahelegt, welche sich nicht in dessen Funktion als »glückloses Gegenbild ex negativo« (Knapp 2009, 113) zu Georg und als Repräsentant einer misslingenden bürgerlichen Existenz erschöpft. Denn wenn es über den Freund heißt, er wolle seinerseits Georg »zur Auswanderung nach Rußland überreden« (DU 15), womit er diesem implizit seinen eigenen Le-

109 Auf die »Entwicklung Georgs als bürgerliches Subjekt« (Gray 1994, 26) haben überdies neben Gray 1994 und Scheffel 2003 unter anderem auch Neumann 1981 und Knapp 2009 hingewiesen. 110 Diese Gegensätzlichkeit wurde unter anderem bereits herausgestellt von Gray 1994, 25, Born 2000, 127 und Knapp 2009, 113.

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bensentwurf anempfiehlt, so spricht dies dafür, dass sich diese Figur selbst grundsätzlich nicht als scheiternd begreift. Wenn überdies in diesem Zusammenhang wiederholt die Rede von einer spezifischen »Lebensweise« (DU 16, 19) des Freundes ist, so lässt dies durchaus den Schluss zu, der Leser habe es hier weniger mit einer lediglich scheiternden bürgerlichen Subjektivierung zu tun als vielmehr mit einem alternativen Lebensentwurf zur bürgerlichen Existenz. In diesem Fall gewinnt die Deutung von Richard Gray an Plausibilität, der Freund habe sich in die Fremde geflüchtet, weil er »vor diesem restlosen Aufgehen im bürgerlichen Leben zurückschreckt« (Gray 1994, 16). Es ist der Widerstreit dieser beiden divergenten Lebensweisen, an dem sich in der zweiten Hälfte der Erzählung der Konflikt zwischen Georg und seinem Vater entzündet. Überdies lässt sich an diesem Konflikt genauer festmachen, was an Kafkas Text bei so vielen Lesern und Interpreten den Eindruck von Unverständlichkeit und fehlender Kohärenz erzeugt. 5.4.2 Der Konflikt mit dem Vater und die Abkehr vom Realitätsprinzip Nachdem der Anfang des Urteils den biographischen Hintergrund eröffnet hat, vor dem der in der Erzählung verhandelte Konflikt stattfindet, schildert der zweite Teil die im Zentrum des Textes stehende Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn, an welcher sich auch der von vielen Interpreten konstatierte Eindruck von Unverständlichkeit und fehlender Kohärenz festmachen lässt. Zu Beginn der Auseinandersetzung sucht Georg seinen Vater auf, weil er ihn davon in Kenntnis setzen will, »daß ich nun doch nach Petersburg meine Verlobung angezeigt habe« (DU 18). Wenn sich an dieser zunächst beiläufig scheinenden Mitteilung nachfolgend der Konflikt zwischen Vater und Sohn entzündet, so deshalb, weil dieser Entschluss nicht bloß eine Belanglosigkeit darstellt, sondern weil sich Georg damit performativ »zu einer glücklichen bürgerlichen Existenz bekenn[t]« (Scheffel 2003, 73). Der brieflich angezeigte Entschluss zur Heirat markiert eine endgültige Absage an die Versuche des Freundes, Georg zu einer Auswanderung nach Russland zu überreden. Denn verbunden mit Heirat und Familiengründung ist die Übernahme der Position des »bürgerlichen Patriarchen« (Gray 1994, 32), mit der Georg in die »Fußstapfen seines Vaters« (ebd., 26) zu treten gedenkt. Die Übernahme von dessen Position wird zum einen versinnbildlicht in dem angekündigten Tausch der Arbeitszimmer.111 Zum anderen drückt sich dieser Posi-

111 »Die Zimmer werden wir wechseln, du wirst ins Vorderzimmer ziehen, ich hierher.« (DU 20)

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tionstausch darin aus, dass Georg die Fürsorgepflicht für seinen Vater übernimmt,112 was mit einer gewissen Entmündigung des ehemaligen Familienpatriarchen einhergeht. Wenn Georg sich »kurz mit aller Bestimmtheit« (DU 21) entschließt, den Vater »in seinen künftigen Haushalt mitzunehmen« (ebd.), so plant er damit offenkundig die »Zukunft des Vaters« (ebd.) über dessen Kopf hinweg. Anders formuliert imaginiert sich Georg bereits als neues Familienoberhaupt seines »künftigen Haushalts« (ebd.), in welchem der Vater die Position des Hilfsbedürftigen und Unmündigen besetzt und Georg die Rolle des Verantwortlichen einnimmt. Dieses Vertauschen der Positionen kommt nicht zuletzt in der Passage zum Ausdruck, in der Georg den Vater »auf seinen Armen […] ins Bett« (DU 22) bringt und damit ein Verhalten zeigt, das Eltern gegenüber ihren Kindern an den Tag legen. Nun ist es allerdings nicht die im Grunde typische Übernahme des Familienpatriarchats durch den Sohn, welche den Leser vor die von Selbmann konstatierte, »hermeneutische Herausforderung« (Selbmann 2003, 42) stellt. Die Verstöße gegen die »Regeln von Wahrscheinlichkeit und Kohärenz« (Zeller 1986, 181) deuten sich vielmehr ein erstes Mal an jener Stelle an, an der Georg auf die Frage des Vaters, ob er »wirklich diesen Freund in Petersburg« habe (DU 20), ohne zu antworten »verlegen« (ebd.) aufsteht. Warum diese Frage den Protagonisten verlegen macht, darüber gibt der Erzähler keine Auskunft. Im Anschluss an diese erste kleinere Irritation des Lesers folgt eine weitere, die in der Anzweifelung der Existenz des im Text zuvor ausführlich besprochenen Freundes durch den Vater besteht: »Du hast keinen Freund in Petersburg.« (DU 20) Die Widersprüchlichkeit zwischen dieser Behauptung des Vaters und der zuvor im Text ausführlich geschilderten Beziehung zwischen Georg und seinem Freund wird zunächst noch einmal repariert. Dies gelingt durch die von Georg erzählte Anekdote über den letzten Besuch des Freundes113 in Verbindung mit der Schilderung des leicht verwahrlosten Zustandes des Vaters, wodurch der Eindruck erzeugt

112 So erfährt der Leser in Mitsicht mit dem Protagonisten, wie dieser es bereits als seine Pflicht ansieht, über den geregelten Tagesablauf des Vater zu gewährleisten: »Beim Anblick der nicht besonders reinen Wäsche machte er sich Vorwürfe, den Vater vernachlässigt zu haben. Es wäre sicherlich auch seine Pflicht gewesen, über den Wäschewechsel seines Vaters zu wachen.« (DU 21) 113 »›Denk doch noch einmal nach, Vater‹, sagte Georg, […] jetzt wird es bald drei Jahre her sein, da war ja mein Freund bei uns zu besuch.‹« (DU 21)

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wird, der Vater könne sich altersbedingt bloß nicht mehr an den Freund erinnern.114 Nachdem dem Leser in dieser Passage noch einmal die Möglichkeit einer kohärenten Deutung angeboten wird, schlägt das dargestellte Geschehen nachfolgend auf eine Weise um, bei welcher der Fortgang der Ereignisse »handlungslogisch nicht zu erklären« (Palmier 2011, 207) ist. Dabei lässt sich der Punkt, an dem die Erzählung endgültig kippt, genau bestimmen. Es handelt sich um die Passage, in der Georg seinen Vater mit den Worten »Sei nur ruhig, du bist gut zugedeckt« (DU 22) ins Bett legt. Die Reaktion des bereits zugedeckt im Bett liegenden und zuvor als schwächlich-kindlich115 dargestellten Vaters erfolgt unvermittelt und steht im Gegensatz zu seiner vorherigen Fügsamkeit: »›Nein!‹, rief der Vater, daß die Antwort an die Frage stieß, warf die Decke zurück mit einer Kraft, daß sie einen Augenblick im Fluge sich ganz entfaltete, und stand aufrecht im Bett.[…] ›Du wolltest mich zudecken, daß weiß ich, mein Früchtchen, aber zugedeckt bin ich noch nicht. Und es ist auch die letzte Kraft, genug für dich, zuviel für dich! Wohl kenne ich deinen Freund. Er wäre ein Sohn nach meinem Herzen.‹« (ebd.)

Von diesem Punkt an wirft der Text mehr Fragen auf, als er beantwortet. Warum erklärt sich der Vater, nachdem er zunächst die Existenz des Freundes geleugnet hat, plötzlich zu dessen »Vertreter hier am Ort« (DU 23)? Wieso bekundet er, Georg habe den Freund verraten und durch seine Verlobung »unser Mutter Andenken geschändet« (ebd.)? Wie kann er bereits seit Jahren auf die Frage, ob Georg seine Verlobung nach Russland anzeigen solle, gewartet haben, wenn Georg sich erst »vor einem Monat« (DU 16) verlobt hat? Wieso steht der Vater Georgs beruflichem Erfolg ablehnend gegenüber (vgl. DU 24), hält diesem vor, er sei ein »teuflischer Mensch« (DU 25) und verurteilt ihn zum Tod? Und warum schließlich befolgt Georg dieses Urteil widerspruchslos, obwohl es innerhalb der erzählten Welt, wie schon Scheffel bemerkte, »keine konsistente Begründung für das Urteil des Vaters [gibt], aus der sich eine Schuld des Sohnes

114 Dieser implizit erzeugte Eindruck wird von Georg am Ende der Passage auch expliziert, wenn er dem zugedeckten Vater suggestiv die Erinnerung an den Freund in den Mund zu legen versucht: »›Nicht wahr, du erinnerst dich schon an ihn?‹ fragte Georg und nickte ihm aufmunternd zu.« (DU 22) 115 Der Eindruck der Kindlichkeit des Vaters wird unter anderem dadurch evoziert, dass dieser, als Georg ihn ins Bett trägt, wie ein Kleinkind mit der an Georgs Brust hängenden Uhrkette spielt. Vgl. DU 22.

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ableiten ließe« (Scheffel 2003, 76)?116 Mit dem dieser Arbeit zugrunde gelegten methodisch-theoretischen Zugang lassen sich auf die durch die Erzählung aufgeworfenen Fragen keine befriedigenden Antworten finden. Gleichwohl aber kann zumindest näher umrissen werden, warum das erzählte Geschehen nicht nur bei vielen Zeitgenossen den Eindruck von Inkohärenz erzeugte. Anknüpfen lässt sich an Hiebel, der über das Urteil bemerkt: »An der Stelle des Umschlags verwandelt sich der realistische Text in einen phantastischen.« (Hiebel 1999, 43) Das wesentliche Merkmal phantastischer Texte ist, wie im Metzler Lexikon Literatur nachzulesen, eine »Abweichung von der normierten Wirklichkeitsvorstellung« (MLL 2007, 581), bei der auf der Ebene der erzählten Welt Ereignisse dargestellt werden, die innerhalb der »Normwirklichkeit« (ebd.) als unmöglich gelten. Die gleiche Überlegung findet sich auch im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, wo genauer ausgeführt wird, eine erzählte Welt erscheine im Vergleich zur Wirklichkeit immer dann »als unmöglich, wenn sie die (logischen, physikalischen, biologischen, weltanschaulichen) Basispostulate der jeweils dominierenden Realitätskonzeption verletzt« (RLW 2007, 71).117 Was mit anderen Worten in phantastischen Texten aufgehoben wird, ist das im Theorieteil dieser Arbeit angeführte Realitätsprinzip bzw. Prinzip der allgemeinen Überzeugung. Doch welche Basispostulate des Realitätsprinzips werden im Urteil überhaupt verletzt? Anders als beispielsweise in Kafkas Verwandlung, wo sich der Protagonist in einen Käfer verwandelt, sind es hier nicht die biologischen oder physikalischen Gesetzmäßigkeiten, die innerhalb der erzählten Welt aufgehoben werden. Was als ›unmöglich‹, ›phantastisch‹ oder schlicht ›unverständlich‹ erscheint, ist das (soziale) Verhalten der Figuren, insbesondere das des Vaters. Indem sich dieser entschieden gegen Georgs Entschluss für eine solide Kaufmannsexistenz und die Heirat positioniert, verurteilt er nicht nur das hegemoniale bürgerliche Lebensmodell, sondern gleichzeitig auch jene Lebensweise, die er selbst praktiziert hat. Denn mit der Übernahme des väterlichen Geschäfts

116 Ähnlich konstatiert auch Sabine Kyora, die Verurteilung des Sohnes sei »weder aus der vorhergehenden Handlung kausal abzuleiten, noch begründet sie der Vater« (Kyora 2007, 51). 117 Die hier thematisierte Unmöglichkeit im Vergleich zur »Normwirklichkeit« unterscheidet sich von dem, was Martinez und Scheffel als logisch unmögliche Welten bezeichnen. Bei Martinez/Scheffel ist eine Welt dann unmöglich, wenn auf der »erzähllogisch privilegierten Ebene der Erzählerrede […] mimetische Behauptungen aufgestellt werden, welche miteinander nicht vereinbar sind« (Martinez/Scheffel 2003, 130f.). Die Widersprüchlichkeiten im Urteil aber betreffen ausschließlich das Reden und Tun der Figuren und nicht die mimetische Rede des Erzählers.

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und der Heirat tritt Georg in die Fußstapfen des Vaters und führt dessen Lebensweise fort, ein Umstand, auf den auch Gray hinweist, wenn er bemerkt, es sei unklar, »warum es ausgerechnet dem Vater, dem Georg am meisten ähnelt, zufällt, dieses Todesurteil auszusprechen« (Gray 1994, 35). Tatsächlich waren es im Bürgertum vor allem die Väter, die, ausgehend von einer »Hochschätzung des eigenen Berufs« (Budde 1994, 161), stark darum bemüht waren, ihren Kindern »Leidenschaft und Leistungsstärke für den erlernten Beruf und die ›natürliche‹ Berufung vorzuleben« (ebd., 113) und die sich im Allgemeinen als Vorbild gerierten, welchem die Kinder nachzueifern hatten. Mit anderen Worten waren es neben den Müttern auch die Väter, die als Vertreter eines bürgerlichen Subjektivierungsregimes auftraten und welche dementsprechend eine bürgerliche Subjektivierungsweise forcierten.118 Eine Ablehnung von Georgs Lebensweise ist damit ebenso eine Verletzung weltanschaulicher Basispostulate der dominierenden Realitätskonzeption wie die Parteiergreifung des Vaters für den Freund in Russland. Dieser repräsentiert gerade jene bürgerlichen »Außenseiter und Sorgenkinder, [deren] Unregelmäßigkeit und fehlende Solidität ihres Lebens- und Arbeitsstils« (ebd., 98) den bürgerlichen Autoritäten Sorgen bereitete. Bei einer Gültigkeit des Realitätsprinzips müsste also die Parteinahme des Vaters genau andersherum ausfallen, nämlich zu Gunsten des von Georg verkörperten bürgerlichen Subjekt-Ideals.119 Hierzu ein kleines Gedankenexperiment: Man stelle sich vor, die Lebensweisen von Georg und dem Freund wären in Kafkas Erzählung vertauscht; es wäre nun der Freund, der eine erfolgreiche Kaufmannsexistenz führt und die Heirat mit einer Frau aus wohlhabender Familie plant, während Georg unverheiratet, sozial isoliert und in wirtschaftlich prekären Verhältnissen in Russland lebt. Würde Georg vor diesem Hintergrund zu seinem Vater kommen, um sich endgültig zu seiner Lebensweise zu bekennen, so wäre der gleiche Fortgang des Geschehens – der Konflikt mit dem Vater, dessen Parteinahme für den Freund, selbst noch die Verurteilung Georgs – entschieden nachvollziehbarer. In diesem Fall würde der Text nämlich einen Konflikt schildern,

118 »Bei kritischen und entscheidenden Situationen traten indessen meist die Väter in Aktion. Sie entschieden über die Schule, verhandelten mit den Lehrern und riefen die Söhne vor den ›Richterstuhl‹ in ihrem Arbeitszimmer, wenn die Zeugnisse nicht zur Zufriedenheit ausfielen. Verstießen die Söhne gegen das Leistungsprimat gar in Form von Nicht-Versetzung, mussten sie mit harten Pressionen rechnen.« (Budde 1994, 119) 119 So zeigten sich dann auch viele von Kafkas zeitgenössischen Lesern irritiert von der Vaterfigur, in deren Verhalten sie »Züge von Verrücktheit gesehen [haben]« (Zeller 1986, 179).

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der nach zeitgenössischen Maßstäben als realistisch angesehen werden kann. Denn für eine Auseinandersetzung zwischen einem auf der bürgerlichen Subjektivierungsweise beharrenden Vater und einem von den Normen bürgerlicher Lebensführung abweichenden Sohn lassen sich um 1900 außer- wie innerliterarisch zahlreiche Entsprechungen finden. Ein lebensweltliches Beispiel, das in diesem Zusammenhang förmlich auf der Hand liegt, ist sicherlich Kafkas eigene Biographie und insbesondere der hinreichend erforschte Konflikt mit seinem Vater, der die berufsschriftstellerischen Ambitionen seines Sohnes entschieden ablehnte. Interessanter im Hinblick auf die Todesart sind allerdings die literarischen Thematisierungen solcher Vater-Sohn Konflikte, die sich um die Frage einer angemessenen bürgerlichen Lebensweise drehen. Ein in dieser Arbeit bereits untersuchtes Beispiel ist das Drama Einsame Menschen, in dem eine ähnliche gelagerte Auseinandersetzung zwischen Vater bzw. Eltern und Sohn mit dem Wassersuizid des Protagonisten Johannes Vockerat endet. Noch deutlicher konturiert wird ein derartiger Konflikt aber in einem anderen Text Hauptmanns, nämlich in Michael Kramer.120 In diesem Drama nimmt sich am Ende der Sohn ebenfalls das Leben, wobei auch hier der Tod durch Ertrinken zumindest angedeutet wird.121 Im Prinzip wird auch im Urteil der gleiche Konflikt verhandelt, allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass die Positionen zwischen Vater und Sohn paradoxerweise vertauscht sind. In Kafkas Erzählung ist der Sohn der Repräsentant einer gelungenen bürgerlichen Subjektivierung, während sich der Vater zum Anwalt des eine alternative Lebensweise verkörpernden Freundes in Russland macht. Das Ergebnis aber ist in allen drei Texten nahezu identisch: Am Ende nimmt sich der unterliegende Sohn das Leben. Mit dem Tod im Wasser ereilt Georg Bendemann unter allerdings umgekehrten Vorzeichen das gleiche Schicksal, das auch viele andere literarische Suizidenten – von Johannes Vockerath über Johannes Friedemann und Arnold Kramer bis hin zu Hans Giebenrath – erleiden. Im Urteil wird also das bestehende Phänomen des sich selbst ertränkenden Mannes wieder aufgegriffen, dabei allerdings entscheidend gewendet. Denn in Kafkas Erzählung ist es nicht mehr der im Verlauf seiner bürgerli-

120 Zum Bezug des Urteils zum Michael Kramer vgl. Nerad 2003, 63. 121 Zwar wird im Michael Kramer die Suizidart von Arnold Kramer nicht eindeutig benannt. Allerdings wird dem Leser durch die Information, der später Tod auf die Bühne getragene Arnold sei als letztes lebend auf einem Geländer an der Oder sitzend gesehen worden (vgl. Hauptmann 1973, 65), zumindest deutlich suggeriert, der Protagonist habe, wie es in Kindlers Neues Literatur Lexikon heißt, den »Tod im Wasser« (Kindler 1988, 400) gesucht.

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chen Subjektivierung strauchelnde männliche Protagonist, der am Ende ins Wasser muss, sondern gerade das prototypische männlich-bürgerliche Subjekt selbst. Die bis zur Veröffentlichung von Kafkas Erzählung bestehende Tradition des männlichen Wassersuizids wird damit praktisch invertiert. Welche Funktion oder Bedeutung aber kommt dieser Umkehrung der Motivtradition zu? Beim Versuch, eine Antwort auf diese Frage zu finden, stößt der dieser Arbeit zugrunde liegende, methodisch-theoretische Zugang an seine Grenze. Kurz gesagt lässt sich aus der Erzählung und ihrer Situierung im historischen Kontext allein keine vollständige Erklärung dafür ableiten, warum im Urteil das literarische Phänomen des männlichen Wassersuizids in der vorliegenden Weise aufgegriffen und gewendet wird. Wollte man diese Umkehrung der Motivtradition nicht nur konstatieren, sondern auch plausibel erklären, so bedürfte es dazu einiger über den Text hinausgehender Zusatzannahmen, wie dies beispielsweise in psychoanalytischen und biographischen Interpretationen des Urteils gemacht wird.122 Allerdings scheint dieser weiterführende Analyseschritt für

122 Gerade die psychoanalytischen Arbeiten können sich auf eine Tagebuchnotiz Kafkas vom 23. September 1912 berufen, in welcher der Autor über die hinter ihm liegende Entstehungsnacht seiner Erzählung notierte: »Gedanken an Freud natürlich.« (Kafka 1983, 215) Im Hinblick auf eine mögliche Erklärung für die Umkehr der Motivtradition des männlichen Wassersuizids erscheinen insbesondere jene psychoanalytischen Interpretationen zielführend, welche von den »traumähnlichen Merkmale[n]« (Anz 2003, 132) der Erzählungen ausgehen. Vgl. Beharriel 1973 und Kaus 1998. Mit Blick auf Freuds These, dass jeder Traum eine Wunscherfüllung zum Inhalt habe (vgl. Freud 2007, 132), gelangen diese Untersuchungen dann zu dem durchaus plausiblen Schluss, dass »Kafkas literarische Phantasie den Berufstätigen und den potenziellen Ehemann in sich gleichsam erledigt und die Wünsche nach einer reinen Schriftstellerexistenz überleben« (Anz 2003, 144) lasse. Diese These ist grundsätzlich kompatibel mit der Position vieler biographischer Textzugänge, welche für den empirischen Autor Kafka den »Konflikt zwischen seinem Beruf und seinem Schriftstellerdasein« (Demmer 1973, 124) betonen. Dieser knapp skizierten Lesart nach würde der Text also eine Art literarisch erträumte Gegenwirklichkeit imaginieren, in welcher bestimmte Regeln der bürgerlichen Welt auf den Kopf gestellt sind und die Väter sich nicht zum Anwalt des traditionellen bürgerlichen Lebensstils, sondern der künstlerischen Ambitionen ihrer Söhne machen. Der Wassersuizid wäre dementsprechend als die Erfüllung des Wunsches zu deuten, dass das literarische Schicksal der missratenen bürgerlichen Söhne einmal jene treffen möge, die sich dem bürgerlichen Lebensmodell gegenüber konform zeigen.

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eine Erörterung der Frage nach der Funktion und Bedeutung der Suizidmethode ohnehin verzichtbar. 5.4.3 Die Krise des bürgerlichen Subjekts unter veränderten Vorzeichen Relevant im Gesamtzusammenhang der Arbeit bleibt vor allem die Feststellung, dass Kafkas Erzählung unter veränderten Vorzeichen den gleichen Konflikt um die Frage nach der Kontinuität der männlich-bürgerlichen Subjektivierungsweise um 1900 thematisiert, der auch zentral für die anderen, in diesem Abschnitt der Arbeit untersuchten Texte ist. Während sich in den übrigen Werken aber vor allem die auf die eine oder andere Weise missratenen Söhne des Bürgertums im Wasser das Leben nehmen, ist es bei Kafka ein aus der gleichen Generation stammender Repräsentant des bürgerlichen Subjekt-Ideals. Allerdings muss an dieser Stelle auch auf eine Gemeinsamkeit zwischen dem Urteil und einigen der bereits zuvor untersuchten Texten aufmerksam gemacht werden: Auch in Kafkas zweifelsohne polysemer und nicht auf eine vereinheitlichende Lesart ausgerichteter Erzählung finden sich Hinweise, die es ermöglichen, den Suizid des Protagonisten im Kontext eines bürgerlichen Krisenbewusstseins zu verorten. Eine ähnliche Interpretation hat bereits Richard Gray vorgelegt, der zu dem Schluss kam, das Urteil sei »eine Art Zeitdokument […], das Aufschluss zu geben vermag über eine historisch verankerte Krise des bürgerlichen Selbstverständnisses« (Gray 1994, 17). Stützen kann sich eine solche Deutung zunächst auf die im Text erwähnte »unglaubliche Geschichte von der russischen Revolution« (DU 21). Bei diesem von Georg geschilderten Ereignis handelt es sich wahrscheinlich um einen Verweis auf die »Oktoberrevolution des Jahres 1905« (Gray 1994, 25), in der sich vor allem die unterbürgerlichen Schichten gegen den Zar erhoben. Was in der Erwähnung der Revolution und der expliziten Thematisierung der »Unsicherheit der politischen Verhältnisse in Rußland« (DU 14) am geographischen Rand der erzählten Welt aufscheint, ist die Gefahr einer Destabilisierung der bürgerlichen Ordnung durch die sozialistische Bewegung. Als Ausdruck der Angst vor dieser Bewegung, die zeitgenössisch als »Bedrohung für die bürgerliche Kultur« (Reckwitz 2010, 244) erschien,123 lässt sich Georgs Vision vom Freund deuten, der in den Überresten ei-

123 Vgl. hierzu auch die Ausführungen bei Mosse, der im Zusammenhang mit den Krisenerscheinungen der Zeit um 1900 konstatierte: »Mit Sorge verfolgte das Bürgertum die Arbeiterunruhen zur Jahrhundertwende und den Aufstieg der sozialistischen Bewegung.« (Mosse 1997, 109)

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ner von revolutionären Wirren zerstörten Geschäftsexistenz steht: »Verloren im weiten Rußland sah er ihn. An der Türe des leeren, ausgeraubten Geschäfts sah er ihn. Zwischen den Trümmern der Regale, den zerfetzten Waren.« (DU 23) Ein anders gelagerter Hinweis auf die »Krise des bürgerlichen Zeitalters« (Reckwitz 2010, 275) findet sich in der Darstellung des Suizids am Ende der Erzählung. Sich nur noch mit den Händen am Geländer der Brücke festhaltend, erblickt Georg »zwischen den Geländerstangen einen Autoomnibus, der mit Leichtigkeit seinen Fall übertönen würde« (DU 26). Als sich der Protagonist fallen lässt, geht in »diesem Augenblick […] über die Brücke ein geradezu unendlicher Verkehr« (ebd.). Insbesondere dieser letzte Satz der Erzählung ist in der Forschungsliteratur kontrovers diskutiert und gedeutet worden.124 Aus sozialhistorischer Perspektive lässt sich mit Blick auf diese Passage feststellen, dass der Suizid des Protagonisten eingerahmt wird durch die Erwähnung einer genuin modernen Erscheinung wie dem Autoomnibus, dessen Erfindung Teil der »Artefakt-Revolution an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert« (Reckwitz 2010, 276) war. Diese Artefakt-Revolution125 aber zählt Reckwitz zu jenen Faktoren, durch welche die »Unterminierung der bürgerlichen Subjektordnung zu Beginn des 20. Jahrhunderts« (ebd., 275) vorangetrieben wurde. Der Suizid des traditionellen bürgerlichen Subjekts Georg wird am Ende der Erzählung also wortwörtlich übertönt von den technischen Errungenschaften einer bereits angebrochenen, neuen Zeit.126 Diese neue Epoche aber ist untrennbar verbunden mit dem Übergang in eine Phase der »nachbürgerlichen Kultur« (ebd., 378). Letztlich steht damit auch im Urteil der Wassersuizid eines männlichen Protagonisten im Zusammenhang mit den krisenhaften Erscheinungen der bürgerlichen Kultur, wie dies auch in den bereits zuvor untersuchten Texten der Fall war. Die Vorzeichen haben sich allerdings grundlegend geändert. Bei Gerhart Hauptmann und Thomas Mann lag das Krisenhafte darin begründet, dass die Bürgersöhne das alte und eine gewisse Stabilität versprechende Subjekt-Ideal

124 Vgl. die Deutungen bei Kurz 1980, 172; Gray 1994, 36f.; Speirs 1994, 105; Wagner 2006 223f. 125 Diese Revolution umfasste nach Reckwitz »mehrere Felder: Verkehrstechnologien (Eisenbahn, Automobil, Dampfschiff, Flugzeug), audiovisuelle Medien (Telegaph, Phonograph, Film, Telefon, Radio), elektrische statt mechanische Techniken der Produktion« (Reckwitz 2010a, 277) usw. 126 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen bei Radkau 1994, der sich insbesondere mit der Frage befasst, ob sich die krisenhaften Zeiterscheinungen wie Nervosität und Neurasthenie als »der psychische Preis des technisch-ökonomischen Wandels« (Radkau 1994, 227) verstehen lassen.

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nicht mehr einlösen konnten. Bei Kafka hingegen erscheint das traditionelle bürgerliche Subjekt-Ideal selbst als krisenhaft angesichts der sich bereits abzeichnenden kulturellen und politischen Umwälzungen. Wenn aber Georg Bendemann unter veränderten Voraussetzungen das gleiche (und in der deutschsprachigen Literatur vor 1890 unübliche) Schicksal ereilt wie den kleinen Herrn Friedemann oder Johannes Vockerat, so scheint mir hier kein Zufall vorzuliegen, sondern eine intertextuelle Bezugnahme auf jene bereits untersuchten Suizidtexte, die dem Urteil thematisch in gewisser Weise verwandt sind. Dies aber zeigt vor allem eines: Offenbar war der Gang ins Wasser im Jahr 1913 schon so weit als literarisches Schicksal einer krisenhaften bürgerlichen Männlichkeit etabliert, dass Kafka dieses Motiv aufgreifen und unter veränderten Vorzeichen fortschreiben konnte.

5.5 »I NS W ASSER GESPRUNGEN – IN DEN T OD GEGANGEN «: K RISENERZÄHLUNG DES B ÜRGERTUMS (Z WISCHENFAZIT ) Johannes Vockerat, Hans Giebenrath, Johannes Friedemann und schließlich Georg Bendemann: Diese und andere Figuren sterben mit der Selbstertränkung einen Tod, welcher vor 1890 für männliche Protagonisten sowohl im Drama als auch in der Prosa mehr als ungewöhnlich war. An der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert aber tauchen männliche Wassersuizide so plötzlich und so häufig im (deutschsprachigen) literarischen Diskurs auf,127 dass man mit einer gewissen Berechtigung von der Etablierung eines neuen Motivs sprechen kann. Die Etablierung dieses Motivs scheint mehr zu sein als ein vollständig kontingentes Ereignis, so als wären die Autoren um 1900 nur rein zufällig zeitgleich auf die Idee gekommen, ihre männlichen Protagonisten ins Wasser zu schicken. Meines Erachtens besteht hier vielmehr ein übergreifender Zusammenzusammenhang, eine Verbindung sowohl zwischen einzelnen Texten als auch zwischen den literarischen Werken und ihrem zeitgenössisch-kulturellen Kontext. Auf diese Spur führen vor allem die markanten Ähnlichkeiten der im vorangegangenen Abschnitt untersuchten Wassersuizide: Immer sind es die vergleichsweise jungen Söhne des Bürgertums128 – keiner älter als dreißig, manche noch Kinder – die

127 Außerhalb der untersuchten Texte finden sich Wassersuizide männlicher Figuren noch in Ebner-Eschenbachs Der Vorzugsschüler, in Hauptmanns Dramen Michael Kramer und Gabriel Schillings Flucht sowie in Storms Schimmelreiter. 128 Oder, wie im Fall von Unterm Rad, die Söhne auf dem Weg ins Bürgertum.

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diesen Tod finden. Das von Ebner-Eschenbach ausformulierte Schicksal »ins Wasser gesprungen – in den Tod gegangen« (Ebner-Eschenbach 1999, 55) erscheint in der Literatur dieser Zeit dezidiert nicht als das Los der adeligen, bäuerlichen oder proletarischen Männer. Überdies sind die zum Suizid führenden Konflikte in den untersuchten Texten allesamt verknüpft mit dem Problem der männlich-bürgerlichen Subjektivierung. Vereinfacht formuliert geht es immer um die Frage, was ein junger Mann auf dem Weg zum bürgerlichen Subjekt zu tun und zu lassen hat. Mit Ausnahme der ins Paradoxe gewendeten KafkaErzählung scheitern alle Protagonisten auf die eine oder andere Weise daran, die bürgerliche Subjektform so auszufüllen, wie dies noch für die Generation ihrer Eltern und Erzieher typisch war. Nicht zuletzt in Verbindung mit der beispielsweise im Kleinen Herrn Friedemann aufgerufenen Dekadenz-Thematik rücken dieser Bruch und die Diskontinuität zwischen den Generationen in den Kontext der »endgültige[n] Krise der bürgerlichen Subjektkultur« (Reckwitz 2010, 269). Nun ist die Rede von einer im Zeitalter der Nervosität (vgl. Radkau 1998) situierten Krise des Bürgertums, die zugleich als »Krise der Männlichkeit« (Erhart 2005, 221) erscheint, längst zu einem kultur- und geschichtswissenschaftlichen Gemeinplatz avanciert, auf den sich auch die Suizidforschung beruft.129 Wenn, wie George Mosse formuliert, die Maskulinität »der Felsen [war], auf dem die bürgerliche Gesellschaft ihr Selbstbild errichtete« (Mosse 1997, 137), so wird recht schnell ersichtlich, warum die konstatierte »Krise der maskulinen Identität« (ebd., 139) sich insbesondere als Krise einer spezifisch »bürgerlichen Männlichkeit« (Erhart 2005, 201) darstellte. Diese Männlichkeit befand sich um die Jahrhundertwende in der Defensive: »Die so genannten Dekadenten schienen an Boden zu gewinnen, während die Gesellschaft mit allen Mitteln versuchte, sich und ihr normatives männliches Ideal zu schützen.« (Mosse 1997, 132) Die sich über verschiedene Diskurse erstreckenden Debatten über Nervenschwäche, Überbürdung, Hysterie, Neurasthenie verbanden sich mit den Klagen über das wachsende Tempo des technischen Fortschritts und einem dauerhaften Kampf ums Dasein (vgl. Radkau 1994). Insbesondere das bürgerlich-männliche Subjekt galt als gefährdet, denn an allen Fronten schienen »die Feinde der normativen Maskulinität […] zum Angriff zu blasen« (Mosse 1997, 108). Wenn im Kontext dieser Bedrohung alle, »die dem männlichen Ideal nicht entsprachen, weil man sie auf irgendeine Weise für krank und unmännlich hielt« (ebd., 114) als Problem erschienen, so wird beispielsweise mit Blick auf den Kleinen Herrn Friede-

129 So formulierte beispielsweise Baumann in dem als ›Krisenstimmung‹ überschriebenen Kapitel: »Vom Ende der 1870er Jahre bis zum Ersten Weltkrieg wirkte der Suizid als Projektionsfläche für das Unbehagen in der Kultur.« (Baumann 2001, 228)

5. O PHELIAS B RÜDER : M ÄNNLICHER W ASSERSUIZID

│ 251

mann rasch ersichtlich, dass auch literarische Texte an solchen Krisendiskursen partizipierten. Nun sollen an dieser Stelle nicht die untersuchten literarischen Werke als Beleg für die Existenz dieser Krise ins Feld geführt werden, welche ohnehin mittlerweile »emblematische Gültigkeit für die Zeit um 1900« (Erhart 2005, 218) besitzt.130 Worauf ich hinaus will, ist vielmehr, dass es sich bei dem Auftauchen des Motivs der männlichen Selbstertränkung offenbar um eine spezifisch literarische Reaktion auf die zeitgenössisch geführte Rede von der Krise einer bürgerlichen Männlichkeit handelt.131 Das deckt sich grundsätzlich mit der Annahme Erharts, die Auswirkungen einer Krise müssten sich »vorrangig in Kunst und Literatur« (ebd., 221) zeigen, wobei er die Etablierung neuer Motive nicht ausdrücklich in Erwägung zieht. Zwei Punkte sind zu meiner Überlegung anzumerken: Wenn das Motiv des Wassersuizids erstens eine spezifisch literarische Reaktion auf die zeitgenössische Krisenstimmung ist, so wird die Verantwortlichkeit für diese Krise in den Texten unterschiedlichen Instanzen zugeschrieben. In Einsame Menschen, im Kleinen Herrn Friedemann und tendenziell auch in Michael Kramer ist es das einzelne Subjekt, welches aufgrund seiner defizitären Anlage außerstande ist, sich mit den an sich funktionierenden sozialen Verhältnissen zu arrangieren. In gewisser Hinsicht verhalten sich diese Texte damit affirmativ gegenüber der bürgerlichen Subjektkultur, welche nicht grundsätzlich problematisiert wird. Anders stellt sich dies im Vorzugsschüler und vor allem in Unterm Rad dar. Sicherlich auch bedingt durch die Thematik des Schülerselbstmords machen diese Texte für den Tod der kindlichen oder jugendlichen Protagonisten in erster Linie

130 Grundsätzlich kritisieren Erhart und andere die gegenwärtige Erforschung dieser Krise, weil sich diese in einer »Wiederholung der einmal erreichten Wissensbestände« (Erhart 2005, 218) erschöpfe und nur noch »die Selbstbeschreibungsmodelle der Epoche« (ebd.) fortführe. Im Prinzip zielt die Kritik darauf, dass es wenig Sinn mache, immer nur weitere Belege für einen längst als gesichert geltenden Sachverhalt zu erbringen. Vielmehr gelte es, nach den Funktionen und Effekten dieser »Krisenanrufung« (Krämer/Mackert 2010, 272) selbst zu fragen, eine Idee, die im Ansatz Foucaults Auseinandersetzung mit der Repressionshypothese entspricht (vgl. Foucault 2008b). Erhart vertritt die These, dass die »sogenannte Krise ein implizites Konzept der Männlichkeit selbst ist« (Erhart 2005, 222). 131 Dabei ist es vollkommen unwichtig, ob die Zeit wirklich krisenhaft und die bürgerlichen Männer tatsächlich neurasthenisch, hysterisch, nervenschwach waren und sich vom technisch-ökonomischen Wandel überfordert oder von den Sozialisten in Russland bedroht fühlten. Entscheidend ist lediglich, dass die Zeitgenossen selbst ihre Epoche als krisenhaft wahrgenommen haben.

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die Eltern, Erzieher, das Bildungssystem und mithin die Gesellschaft verantwortlich. Die Krise des bürgerlichen Subjekts erscheint hier nicht mehr als individuelles Versagen des Einzelnen, sondern als Resultat der sozialen Verhältnisse.132 Der zweite Punkt betrifft Erharts mit Blick auf Genres wie den Bildungsroman gewonnene Idee, die literarischen Männlichkeitsnarrationen würden mit einer »Dialektik von ›Krisen‹ und deren ›Überwindung‹« (ebd., 224) operieren. Zumindest innerfiktional ist diese Dialektik in den hier untersuchten Texten allerdings aufgehoben, denn der Suizid der Protagonisten stellt sich gerade nicht als erfolgreiche Bewältigung der Krise dar. An die Stelle der Überwindung und der damit verbundenen Restitution der bürgerlichen Männlichkeit tritt mit dem Ertrinken eine Todesart, die kulturell seit jeher weiblich konnotiert ist und die innerhalb einer binären Geschlechterordnung ex negativo das absolut Antimännliche repräsentiert. Wenn Erharts These zutrifft und die Krise und ihre Überwindung »ureigenster Bestandteil« (ebd., 233) von Männlichkeitsnarration sind, dann erkennen die zurückliegend untersuchten Texte den ertrinkenden Protagonisten die Maskulinität in zweifacher Weise ab: einerseits durch die innerfiktional nicht erfolgende Bewältigung der Krise und andererseits durch die Zuschreibung der prototypisch-weiblichen Todesart. Extrafiktional betrachtet kann man dies zugespitzt allerdings als einen symbolischen Triumph der Literatur über die Krisenstimmung dieser Zeit deuten: Die Angst vor der Erosion des männlichbürgerlichen Subjekts wird buchstäblich ertränkt.

132 Grundsätzlich gilt dies auch für Frühlings Erwachen, wobei sich der Protagonist hier wie ausgeführt nicht ertränkt, sondern erschießt.

6. Schöne Frauenleichen? Suizide weiblicher Figuren

6.1 D AS BÜRGERLICHE »B ILDUNGSWERK « G RENZEN : K ELLERS R EGINE

UND SEINE

Gottfried Kellers Novelle Regine zeichnet sich gegenüber den anderen in dieser Arbeit untersuchten Werken schon auf formaler Ebene durch eine Besonderheit aus: Als Teil des erstmals 1881 in der Deutschen Rundschau veröffentlichten Novellenzyklus Das Sinngedicht handelt es sich bei dem Text um eine metadiegetische Binnenerzählung, die in eine Rahmenerzählung eingebunden ist. Erzählt wird diese Metadiegese von der Hauptfigur des Sinngedichts, dem Gelehrten Reinhart, der auch als Figur in Regine auftritt. Der Leser hat es also mit einem intradiegetisch-homodiegetischem Erzähler zu tun. Dieser Erzähler stellt der Wiedergabe der Regine-Geschichte eine auf intradiegetischer Ebene situierte Erklärung voran, welche die von ihm nachfolgend berichteten Ereignisse bereits vorwegnehmend zusammenfasst und deutet. So kündigt Reinhart dem Leser und den übrigen innerdiegetischen Figuren (innerhalb der Rahmenhandlung) an, nun von dem Fall zu berichten, »daß ein sehr gebildeter junger Mann wirklich eine Magd vom Herde weggenommen und so lange glücklich mit ihr gelebt hat, bis sie richtig zur ebenbürtigen Weltdame geworden, worauf erst das Unheil eintraf« (RE 49). Dieser vorgreifenden Deutung der Regine-Novelle begegnen Teile der literaturwissenschaftlichen Forschung allerdings mit einer durchaus angebrachten Skepsis, welche vor allem dem letzten Halbsatz gilt. Denn entgegen Reinharts Ankündigung, das in Regines Suizid durch Erhängen kulminierende Unheil markiere eine sich erst am Ende der Novelle ereignende, tragische Wendung, argumentierte bereits Preisendanz: »Vielmehr liegt schon im Anfang das Ende.« (Preisendanz 1963, 134) Preisendanzʼ Argumentation fußt auf einer häufig geteilten und im Folgenden knapp referierten Lesart, die das Sinngedicht im All-

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gemeinen und die Regine-Novelle im Speziellen im Kontext des vor allem von Ovid überlieferten Pygmalion-Stoffes versteht.1 Dabei ist es durchaus naheliegend, Kellers Sinngedicht mit dem antiken Mythos des Bildhauers Pygmalion, der seine von der Göttin Venus belebte Frauenstatue zur Gefährtin nimmt, in Zusammenhang zu bringen. Die kulturelle Verbindungslinie verläuft über den Galatea-Sinnspruch Friedrich von Logaus, den Reinhart im Sinngedicht explizit zum Anlass nimmt, um in die Welt zu reisen und sich eine Gemahlin zu suchen (vgl. RE 8). Zwar ist die Episode über die Nereide Galatea bei Ovid eine eigenständige Geschichte, die zunächst mit dem Pygmalion-Mythos inhaltlich nicht verschränkt war. Allerdings hat sich in der europäischen Kulturgeschichte im 18. Jahrhundert und namentlich mit Rousseaus scène lyrique die Tradition etabliert, die in der Überlieferung Ovids auch nach ihrer Belebung namenlose Statue des Pygmalion Galatea zu nennen. Von diesem Hintergrundwissen ausgehend wird das Sinngedicht in der literaturwissenschaftlichen Forschung häufig als eine Sammlung von GalateaNovellen aufgefasst, für welche die »Pygmalion-Mythe als Generierungsformel« (Neumann 1997, 555) fungiere.2 Die einzelnen Erzählungen des Novellenzyklus bezögen sich dieser Lesart nach sämtlich in der ein oder anderen Weise auf das Logausche Epigramm und den antiken Mythenstoff, wobei »hinter allen männlichen Figuren Pygmalion zum Vorschein« (Amreim 2007 149) komme. In der Regine-Novelle vollziehe sich die Auseinandersetzung mit der antiken Geschichte in Form der »Realisation eines pädagogischen Pygmalionismus« (Neumann 1997, 563), welcher allerdings von vornherein auf sein Scheitern hin konzipiert sei. Nach dieser Lesart agiere Erwin Altenauer, der männliche Protagonist der Novelle, als Pygmalion, während der titelgebenden Hauptfigur Regine die Position der zu modellierenden Galatea zukomme. So wie der mythische Bildhauer eine Statuen-Frau nach seinen Vorstellungen kreiere, so versuche auch Erwin, sich eine ideale Ehefrau zu erschaffen, indem er die aus ärmlichen Verhältnissen stammende Dienstmagd Regine mittels seiner »Erziehungskunst« (RE 73) in eine »Dame« (RE 71) und allen bürgerlichen Ansprüchen genügenden Ehefrau verwandeln wolle. Wo dieses Unterfangen im ovidschen Original am Ende dank

1

Die Bedeutung des Pygmalion-Mythos für die Novelle machen unter anderem folgende Arbeiten stark: Ortheil 1956, Anton 1970, Kübler 1982, Pohlheim 1992, Neumann 1997, Bischoff 2003, Müller 2004, Stammen 2006, Amreim 2007, Lachmann 2009.

2

Diese Lesart gewann nicht zuletzt dadurch an Plausibilität, dass Gottfried Keller selbst in seinen Briefen und Notizen zum Sinngedicht direkt von Galatea-Novellen sprach. Vgl. hierzu Stammen 2006, 79

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göttlicher Intervention gelinge, sei Kellers Novelle indes von vornherein auf ein Scheitern des Pygmalion-Erwins an der »Künstlichkeit seines Werkes« (Bischoff 2003, 374)3 hin konstruiert. Aus dieser Perspektive erscheint Regine also nur »vordergründig [als] eine Geschichte über die Frage, ob ein Bürger eine Frau aus einfachstem Stande lieben, heiraten und zur Bürgerin machen kann« (Kaiser 1981, 517). Mit der Terminologie von Martinez ließe sich formulieren: Der Verlauf der Handlung und der Suizid Regines sind auf kompositorischer Ebene durch die spezifische Auseinandersetzung des Textes mit dem PygmalionThema von Beginn an vorgezeichnet. Auf der Ebene der erzählten Welt aber wird die Komposition durch eine kausale Geschehensmotivierung überdeckt, die auf Ereignissen aufbaut, welche für die Protagonisten und den Erzähler als unheilvolles »Spiel des Zufalls« (RE 96) und »Frage des Schicksals« (RE 114) erscheinen.4 Diese Lesart der Novelle als eine spezifische Variation des PygmalionStoffes ist nicht nur weit verbreitet, sondern auch plausibel. Die Bedeutung des antiken Mythos für die Komposition des Textes ist schlechterdings nicht von der Hand zu weisen. Allerdings – und das ist die Pointe meiner obenstehenden Ausführungen – lässt sich mit dem Pygmalion- bzw. Galatea-Bezug ausgerechnet die Frage nach der Funktion und Bedeutung der Suizidmethode nicht erklären. Denn weder in den ursprünglichen Mythen von Pygmalion und Galatea, noch in den neuzeitlichen Bearbeitungen des Themas durch Rousseau oder Eichendorff und auch nicht in der Regine thematisch verwandten Erzählung Die Frau Professorin von Auerbach5 kommt eine Selbsttötung vor, auf die sich Kellers Novelle inter-

3

Vgl. hierzu auch Pohlheim 1992.

4

Dieser »Kette der unglaublichsten Zufälle« (Pohlheim 1992, 297) widmet Pohlheim seine Aufmerksamkeit, wobei er konstatiert: »Das Ästhetische gewinnt an entscheidender Stelle das Übergewicht über das Realistische.« (ebd., 310) Pohlheim argumentiert mit anderen Worten, dass bei einigen Ereignissen der Novelle die kompositorische Motivierung dadurch erkennbar wird, dass die sie sozusagen überdeckende realistisch-kausale Motivierung für den Leser unglaubwürdig wird, weil die zur kausalen Erklärung des Geschehens bemühten Zufälle gemessen an den Spielregeln der Wirklichkeit unwahrscheinlich erscheinen.

5

Berthold Auerbachs Erzählung Die Frau Professorin wurde von der KellerForschung als weiterer wichtiger Bezugspunkt für die Regine-Novelle identifiziert. Sowohl Auerbachs Erzählung als auch Kellers Novelle sind wiederum von dem realen und überlieferten Fall Elise Egloffs inspiriert. Elise Egloff war eine Näherin aus einfachen Verhältnissen, die von dem Professor Jacob Henle geehelicht und – ähnlich wie bei Auerbach und Keller geschildert – buchstäblich zur bürgerlichen Dame

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textuell beziehen könnte. Vielmehr scheint es so, als sei die Art und Weise des Ablebens von Regine ganz durch die ›vordergründige‹ Bedeutung des Textes als Geschichte von der tragisch scheiternden Verwandlung einer Dienstmagd in eine »Weltdame« (RE 49) bestimmt. 6.1.1 Die Dienstmagd und ihre bürgerlichen Defizite Blendet man den vor allem auf der Ebene der Komposition situierten PygmalionHintergrund vorerst aus und betrachtet nur die erzählte Welt, so stellt sich die Novelle dar als die Geschichte eines jungen Amerikaners deutscher Abstammung, der nach Europa reist, um das Heimatland seiner Eltern kennenzulernen und überdies eine »mustergültige deutsche Frauengestalt über den Ozean zurückzubringen« (RE 51). Zurückversetzt in das »Urland« (ebd.) seiner Vorfahren sucht Erwin in den deutschen Bundesstaaten nach einer Ehefrau, die einem (vom Erzähler als typisch germanisch behaupteten) Idealbild »merkwürdiger Gemütstiefe und reicher Herzensbildung« (ebd.) entspricht. Als Sprössling eines »altangesehene[n] Haus[es]« (RE 50) bewegt sich Erwin bei seiner Suche in einem bestimmten Milieu, das in der Novelle als eine »veredelte bürgerliche Welt« (RE 53) geschildert wird. Erwin sucht mit anderen Worten nach einer dezidiert »bürgerlichen Gattin« (Pedde 2009, 158), die den »männlich bürgerlichen Vorstellungen, wie eine Frau, insbesondere eine bürgerliche Ehefrau zu sein habe« (ebd., 142) entspricht. Aus unterschiedlichen Gründen, die für meine Argumentation nicht weiter von Belang sind, gelingt es Erwin, obwohl er einige Male »an den Rand eines Verhältnisses« (RE 53) gerät, allerdings nicht, unter den Töchtern des Bürgertums eine Ehefrau zu finden. Da trifft er die Dienstmagd Regine. Angezogen durch ihre »gelassene Schönheit« (RE 55), welche dem Protagonisten in ihrer »ungebrochene[n] Leiblichkeit noch aus den Tiefen uralten Volkstumes hervorgegangen« (RE 61) zu sein scheint, beschließt er, Regine zu ehelichen. Dies bringt allerdings Schwierigkeiten mit sich: Regine fühlt sich als »Kind armer Bauersleute« (ebd.) einerseits dazu verpflichtet, ihre im Tagelohn tätige Familie, die auch aufgrund der Invalidität des Vaters wirtschaftliche Not

umerzogen wurde, bevor sie an Tuberkulose verstarb. Sowohl Auerbach als auch Keller lernten Elise Egloff persönlich kennen und erfuhren so aus erster Hand von der Geschichte, die sie dann literarisch umsetzten. Vom historischen Fall Egloff sind einige Originaldokumente wie der Briefwechsel zwischen Elise Egloff und Jacob Henle erhalten. Vgl. zu den Bezügen zwischen der Vorlage und den literarischen Bearbeitungen vor allem Schilling 1998, 189-191. Ferner Kaiser 1981, 517 sowie Pedde 2009, 135f.

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leidet, finanziell durch ihre Berufstätigkeit zu unterstützen. Andererseits lehnt sie Erwins Antrag zunächst auch deshalb ab, weil sie die prekäre Situation ihrer Familie nicht ihrem künftigen Ehemann aufbürden möchte (vgl. RE 66). Dieses Problem kann der vermögende Erwin allerdings rasch lösen, indem er Regines Familie mit einer für seine Verhältnisse kaum relevanten Geldsumme zu einem »ungewohnten kleinen Wohlstand« (RE 67) verhilft. Eine weitere Schwierigkeit deutet der Erzähler in den Passagen an, in denen er schildert, wie Erwin Regine beim Abfassen von Briefen beobachtet. Zunächst bemerkt der Protagonist, wie »das unwissende junge Weib sich scheute, eines von den kostbaren fremden Siegeln zu gebrauchen« (RE 60). Als Erwin in einer kurz darauf erzählten Sequenz einen von Regine verfassten Brief liest, fällt ihm auf, »daß die Sätze allerdings kurz und mager waren, wie eben das Volk schreibt« (RE 65). Überdies mangelt es der Dienstmagd an Fremdsprachenkenntnisse: Als Erwin ihr einige Worte auf Englisch vorspricht, reagiert sie, indem sie errötet und lacht (vgl. ebd.), was hier als Ausdruck von Verlegenheit interpretiert werden kann. Kurz gesagt: Regine ist als Ehefrau für den Protagonisten zunächst trotz aller Schönheit und Natürlichkeit inadäquat. Sie weist nicht nur ein Bildungsdefizit auf, sondern sie ist auch mit einer Reihe von für das Bürgertum wichtigen kulturellen Praktiken nicht vertraut. Das betrifft neben einem bestimmten Sprachgebrauch beispielsweise auch die Frage, wie sich eine bürgerliche Frau adäquat zu kleiden hat. Um aus der Dienstmagd eine passende Ehefrau zu machen, bedarf es also nicht nur der abendlichen, »förmliche[n] Unterrichtsstunde« (RE 66), sondern eines umfassenden »Bildungswerkes« (RE 76), von dem der gesamte mittlere Teil der Novelle handelt. Der Begriff der Bildung bezeichnet mehr als nur die Ausprägung kognitiver Fähigkeiten und den Erwerb intellektuellen Wissens. In einer Art bürgerlichem Trainingsprogramm, das mit unterschiedlichen Formen der »Erziehungskunst« (RE 73) operiert, soll Regine auch eine Reihe der zur weiblich bürgerlichen Subjektform gehörenden sozialen und (im weitesten Sinne) körperlichen Fähigkeiten erlernen. Im Mittelpunkt dieser in der Novelle geschilderten Subjektivierung stehen vor allem solche Praktiken, die dazu dienen, Bürgerlichkeit nach außen zu repräsentieren und »Sicherheit auf dem gesellschaftlichen Parkett zu erlangen« (Budde 1994, 121). 6.1.2 Die Umgestaltung der äußeren Erscheinung Der erste Schritt bei Regines »Umwandlung zur bürgerlichen Gattin« (Pedde 2009, 145) besteht darin, sie äußerlich und körperlich umzugestalten. Dazu gibt Erwin seine Ehefrau in die Obhut einer Gelehrtenwitwe, damit Regine bei dieser »gute Kleider tragen lernte und die von der Arbeit rauhen Hände weiß werden

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konnten« (RE 68). Innerhalb der bürgerlichen Kultur spielte die Kleidung als »soziales Distinktionsmedium« (Budde 1994, 309) eine wichtige Rolle, denn vor allem den Bürgerfrauen wurde die Aufgabe einer »Repräsentation von Wohlhabenheit und Geschmack« (Döcker 1994, 150) überantwortet. Im dazu nötigen, sicheren Umgang mit den Praktiken des Sich-Kleidens bedurfte es tatsächlich, wie im Text angedeutet, einer gewissen Übung. Denn im Gegensatz zur männlichen ›Bürgeruniform‹6 fand bei der weiblichen Mode im 19. Jahrhundert eine »zunehmende Ausdifferenzierung« (Budde 1994, 314) statt, die den Bürgerfrauen einen sicheren Umgang mit einem »immer größer werdende[n] Variantenreichtum an Schnitt, Stoff und Farbe« (ebd. 310) abverlangte.7 Zum stilsicheren Auftreten der Bürgerfrau auf dem gesellschaftlichen Parkett zählte auch ein gepflegtes Äußeres jenseits der Kleidung; die Prinzipien von »Sauberkeit und Ordnung« (Döcker 1994, 150) galten auch für die Körperpflege und die Frisur. Diese Prinzipien korrelieren in der Novelle mit dem Bestreben, alle Spuren der Arbeit von Regines Händen zu tilgen,8 was zugleich einhergeht mit einem Verwischen der ärmlichen Herkunft der Protagonistin. Den Erfolg dieser äußerlichen Umwandlung der Protagonistin beglaubigt der homodiegetische Erzähler Reinhart, indem er berichtet, er habe Regine, die er vor ihrer Heirat schon einmal getroffen hatte, nicht wiedererkannt, als sie ihm anderthalb Jahre später als Erwins Frau vorgestellt worden sei. Statt einer Dienstmagd sei er nun »einer vornehm gekleideten, allerschönsten Dame von herrlicher Gestalt [vorgestellt worden]. Das reiche Haar war modisch geordnet, die nicht zu kleine, aber wohlgeformte Hand ganz weiß und mit altertümlichen bunten Ringen geschmückt.« (RE 71)

6

Vgl. hierzu das Kapitel 5.2.2 dieser Arbeit.

7

Wie komplex die Konventionen für die Kleidung der Bürgerfrauen im 19. Jahrhundert waren, hat Ulrike Döcker herausgearbeitete. Demnach sah der »propagierte Modeaufwand« (Döcker 1994, 156) für die Garderobe der bürgerlichen Frau am Ende des Jahrhunderts unter anderem vor: »Drei Trotteurkostüme, drei Robes habillés, drei Abendkleider, zwei Abendmäntel, eine Pelzcharpe, zwei Hauskleider und ein Nachmittagskleid, ein Pelzmantel, ein Sportkostüm, ein Reitkleid« (ebd.) und dergleichen mehr. Ähnliche Anforderungen fanden sich auch schon in der Manierenliteratur der 1870er Jahren und in den Jahrzehnten davor (vgl. ebd. 150).

8

Zum Zusammenhang zwischen bürgerlicher Frauenmode und der Freistellung der Bürgerfrauen von Erwerbsarbeit konstatiert Sabina Brändli: »Die Frauenmode trug im 19. Jahrhundert erneut die Zeichen des demonstrativen Müßigganges und des demonstrativen Konsums. Sie illustriert, daß die Frau gemäß der bürgerlichen Ideologie von Erwerbsarbeit freigestellt war, um stellvertretend die Position ihres Ernährers zu repräsentieren.« (Brändli 1996, 106)

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An diesem Punkt der Geschichte lassen nur die körperlichen Bewegungen Regines den Erzähler eine noch nicht vollendete Einpassung in die bürgerliche Subjektform erkennen. Denn in diesen ist noch ein »Anflug von Schwerfälligkeit, der sich erst mit der eleganten Bekleidung eingestellt« (RE 71) hat, feststellbar. Doch auch hier sind die Nebenerscheinungen der veränderten und ungewohnten Bekleidungs-Praktiken bereits »im Verschwinden begriffen« (ebd.). 6.1.3 Das Bildungs-Curriculum der Bürgerfrauen Ein zweiter Komplex der bürgerlichen Subjektivierung Regines umfasst eine Reihe von Praktiken, die der geistigen Bildung und der Ausprägung sozialer Kompetenzen dienen. Der Erzähler erwähnt hier zunächst die Bildungsreise, die Erwin und Regine zuerst nach London und dann nach Paris führt (vgl. RE 72). Das mit diesen Reisen verfolgte Anliegen wird deutlich, wenn der Erzähler bekundet, Erwin sei es »zuerst um die englische Sprache zu tun gewesen« (ebd.). Der Auslandsaufenthalt dient vorrangig dazu, Regine mehrere Fremdsprachen beizubringen. Mit Blick auf die langfristig geplante Übersiedlung der Eheleute nach Amerika (vgl. RE 65) mag der Erwerb der englischen Sprache noch als eine praktische Notwendigkeit für die Bewältigung des zukünftigen Alltags erscheinen. Wenn Erwin mit Regine allerdings nach Paris geht, damit sie dort das Französische erlernt, so geschieht dies sicher nicht im Hinblick auf ein zukünftiges Leben in Übersee. Vielmehr ist der Erwerb von Fremdsprachen Teil eines bürgerlichen »Curriculum der idealen Töchterausbildung« (Budde 2009, 36). Gunilla Budde zitiert in diesem Zusammenhang die Aufzeichnungen einer Gouvernante aus dem Jahr 1877, die folgende Ziele der bürgerlichen MädchenAusbildung formulierte: »Drei neue Sprachen fließend und elegant sprechen, brillant Clavier spielen, mit Ausdruck singen, in der Literatur dreier Nationen zu Hause sein, geistreiche Briefe, Reisebeschreibungen, Tagebücher schreiben können, außerdem viel Bildendes in mehreren Sprachen gelesen haben.« (ebd.) Anders als im Falle der Männer, für die Bildung zumindest in der frühbürgerlichen Phase noch als Grundlage des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erfolgs und als »Medium sozialen Aufstiegs« (Budde 1994, 209) galt, hatten die Sprachkenntnisse der Frauen in der Regel keinen direkten wirtschaftlichen Nutzen, wie etwa die Möglichkeit einer Verständigung mit ausländischen Geschäftspartnern.9 Vielmehr galten Sprachkenntnisse und ein bestimmtes Maß an Bildung insgesamt nicht zuletzt als eine für ein »geschliffenes Auftreten« (Bud-

9

Vgl. zur Bedeutung der Sprachkompetenzen insbesondere bei Kaufleuten Habermas 2000a, 100.

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de 2009, 111) auf dem gesellschaftlichen Parkett nötige soziale Kompetenz. Mittels dieser Kompetenz konnten die unverheirateten bürgerlichen Töchter »die Aufmerksamkeit der Männerwelt auf sich ziehen« (ebd.) und die verheiraten Frauen angemessen Bildung und Stand ihrer Familie repräsentieren. Eine Teilnahme Regines an derartigen gesellschaftlichen Veranstaltungen wird auch in Kellers Novelle mehrfach dargestellt, wobei der Text auf die Bedeutung fremdsprachlicher Kenntnisse vor allem im Zusammenhang mit der geschilderten »Landpartie« (RE 82) rekurriert. An dieser nimmt auch ein Herr der »brasilianischen Gesandtschaft« teil, mit dem sich Regine nur »auf Französisch« (RE 89) unterhalten kann. Neben solchen und in erster Linie sozialen Kompetenzen vermittelt Erwin in den für das Bürgertum typischen Praktiken10 Regine auch Bildungsinhalte im Sinne eines kulturellen Wissens. Im Text wird beispielsweise der regelmäßige Opernbesuch (vgl. RE 73) geschildert; ferner das Aufsuchen »geistvoller Vorträge« (RE 79) und insbesondere die gemeinsame Lektüre literarischer Werke.11 Für letztgenannte Praktik benennt der Erzähler die gelesenen Texte genauer: Zunächst hält Erwin seine Frau zum Lesen der von Brentano und von Arnim veröffentlichten »bekannten Sammlung, welche Des Knaben Wunderhorn heißt« (RE 74) an; darauf folgt die Lektüre der »Goethenschen Jugendlieder« (ebd.). Dreierlei ist dazu anzumerken: Erstens zählen sowohl Goethe als auch Brentano im 19. Jahrhundert bereits zu den Klassikern des bürgerlichen Lektürekanons (vgl. Budde 1994, 127). Zweitens produziert die von Erwin angeleitete, gemeinsame Lektüre exakt jene »Geschlechterordnung, […] die Männer zu Lehrmeistern ihrer Frauen machte« (Habermas 2000a, 339), welche dezidiert »zum Ausweis von Bürgerlichkeit« (ebd.) wurde. Drittens beginnt die literarische Bildung Regines mit dem Wunderhorn bei einer Sammlung von Volksliedern, die in einer Sprache verfasst sind, »die das Bürgertum für die Sprache des Volkes hält« (Kaiser 1981, 519). Indem er mit dem Wunderhorn anfängt, setzt Erwin an Regines bereits vorhandenem, volkstümlichem Kulturwissen an, um von dort ausgehend sein Bildungswerk zu entfalten und Regine den bürgerlichen Bildungskanon zu erschließen. Wenn der Erzähler in diesem Kontext bemerkt, es könne »natürlich

10

Zu den rund um den Bereich von Bildung und Kultur (im engeren Sinne) gruppierten Praktiken des Bürgertums, vgl. exemplarisch Gall 1999, 96; Budde 2009, 6171; Schulz 2005, 20f.

11

Zum typisch bürgerlichen Charakter dieser Praktik bemerkt Budde: »Die bürgerliche Freizeitkultur des 19. Jahrhunderts war wie nie zuvor und auch nie wieder danach von der individuellen oder gemeinschaftlichen Lektüre bestimmt.« (Budde 1994, 126)

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nicht jeder Pfad und jedes Brücklein aufgezeigt werden, auf denen Altenauer nun dem holden Weibe das Bewußtsein zuführte« (RE 75), so beansprucht er damit gleichzeitig für die von ihm genannten Elemente bei der Umformung Regines zur Bürgerfrau einen nur exemplarischen Status. An den bisher aufgezählten Praktiken12 sollte allerdings bereits deutlich geworden sein, dass das von Erwin an Regine vollzogene Bildungswerk deutlich die Züge einer weiblichbürgerlichen Subjektivierung trägt und inhaltliche Schnittmengen mit dem oben zitierten Curriculum der bürgerlichen Töchter-Erziehung aufweist. Überdies rekurrieren die im Text geschilderten Praktiken nicht bloß auf die historischen Gepflogenheiten weiblich-bürgerlicher Subjektivierung, sondern sie orientieren sich, wie Diana Schilling (vgl. Schilling 1998, 189f.) herausgearbeitet hat, auch an dem realhistorischen Vorbild der Novelle, der gelernten Näherin und späteren Professorengattin Elise Egloff.13 Das in Regine auf der Ebene der erzählten Welt geschilderte Geschehen ist bis hierher also lückenlos kausal motiviert und verletzt im Sinne einer durchaus zeitgenössisch-lebensweltlichen Darstellung nicht das Realitätsprinzip. Im Folgenden werde ich nun untersuchen, wie die zum Suizid Regines führenden Ereignisse im zweiten Teil der Novelle kausal motiviert werden und welche Bedeutung in diesem Zusammenhang Suizidmethode und Todesdarstellung zukommt.

12

Hinzufügen ließen sich noch Erwins Versuche, Regine geographische Grundkenntnisse wie »das Verständnis der Landkarte« (RE 75) und ein Wissen über »Geschichtliches« (ebd.) zu vermitteln, während es in Paris für Regine »durch das Auge zu lernen« (ebd.) gilt, was sich als Rekurs auf Architektur und Gegenstände der bildenden Kunst verstehen lässt.

13

Der Unterricht Elise Egloffs, dessen Ablauf diese in ihren eigenen Aufzeichnungen festgehalten hat, weist inhaltlich viele Übereinstimmungen mit der in Kellers Novelle geschilderten Subjektivierung auf. So heißt es in einem Brief Egloffs über ihren Unterricht: »So habe ich jetzt Montag Geographie […] Dienstag Weltgeschichte und deutsch Diktieren französische Stund und Schreibstund und Mittwoch Mithologie Religion und Schreibstunde. Donnerstag deutsch Sprache Geographie, französische Uebersetzung, Freitags wie am Dienstag aber noch Geschichte der neuern Zeit, Samstag Literatur, Deklamation und Schreiben.« (Egloff, zitiert nach Schilling 1998, 190)

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6.1.4 Folgenschwere Sprachverlassenheit Im zweiten Teil der Novelle kommt es im Verlauf der Geschichte zu der schon von Preisendanz und Pohlheim konstatierten Häufung von Ereignissen, für welche der Erzähler als innerdiegetische Erklärung den »Zufall« (RE 96) anführt. Wenngleich auch diese einzelnen Begebenheiten innerhalb der erzählten Welt jeweils kontingent erscheinen, so liegt in der Verknüpfung dieser auseinander folgenden Ereignisse zu einem Geschehen dennoch eine Form kausaler Motivierung vor. Das bedeutet, Regines Suizid ist in einen innerhalb der erzählten Welt entfalteten Ursache-Wirkungs-Zusammenhang eingebunden, welcher für den (zeitgenössischen) Leser insofern nachvollziehbar ist, als dass er den logischen und psychologischen Gesetzmäßigkeiten der ›Wirklichkeit‹, also dem Realitätsprinzip folgt. Dieser mit der Selbsttötung abgeschlossene UrsacheWirkungszusammenhang besteht im Wesentlichen aus der Verknüpfung von drei separaten Ereignissen: Das ist erstens Erwins plötzlicher Abreise nach Amerika (vgl. RE 76). Zweitens die Bekanntschaft Regines mit den drei Parzen (vgl. RE 77). Drittens das nächtliche Auftauchen des unbekannten Mannes (vgl. RE 72), bei dem sich erst am Schluss herausstellt, dass es sich um Regines polizeilich gesuchten Bruder handelt. In Folge einer dringenden Mitteilung aus Boston muss Erwin zur Regelung »gewisser Verhältnisse« (RE 76) vorübergehend nach Amerika zurückkehren. Seine Frau lässt er vorerst in Europa zurück, weil er ihr Leben nicht »den Gefahren der Meerfahrt« (ebd.) aussetzen will. Außerdem möchte er aber auch noch »letzte Hand an sein Bildungswerk legen« (RE 77), also Regines Umwandlung in einer Bürgerfrau vollenden, bevor er »die Gattin in das Vaterhaus mitbringe« (ebd.). Für die Zeit seiner Abwesenheit vertraut er seine Frau der Gesellschaft dreier Damen an, die er in Unkenntnis ihres schlechten Rufs als »die drei Parzen« (RE 77)14 als einen »bildend anregenden Verkehr« (RE 80) für Regine erachtet. Unabhängig davon, ob man diese weiblichen Figuren nun als eine gegen die männliche Ordnung aufbegehrende »Gruppe von ›Emanzipierten‹« (Kübler 1982, 32) lesen will oder nicht, so kann zweierlei festgestellt werden: Erstens steht Reinhart als homodiegetischer Erzähler den drei Parzen ablehnend gegenüber, weil er sie für »Renommistinnen« (ebd.) hält, die einen verderblichen Ein-

14

Diese Bezeichnungen tragen diese drei Frauenfiguren, weil man ihnen nachsagt, dass sie »jeder Sache, deren sie sich annahmen, schließlich den Lebensfaden abschnitten« (RE 77). Zugleich ist diese Titulierung auch ein weiterer Verweis auf den antik-mythologischen Hintergrund der Novelle.

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fluss auf Regine ausüben.15 Zweitens wird Regine von den Parzen dazu »beschwatzt« (RE 81), für einige Bilder Model zu stehen, welche sie als »phantastisch angeordneten Studienkopf« (ebd.) und als eine an der Skulptur von Milo orientierte, halb nackte »Venus im Saale« (RE 98) zeigen. Beide Bilder bekommt Erwin durch weitere Zufälle zu Gesicht. Während ihm bereits das Studienkopf-Gemälde als eine »Taktlosigkeit« (RE 97) erscheint, so wittert er in der Venus-Darstellung vollends eine Untergrabung seines Erziehungsprogramms.16 Überdies bekommt er in Verbindung mit dem dritten Ereignis – dem nächtlichen Männerbesuch bei seiner Frau, von welchem Erwin durch die Meldung einer Hausangestellten Kenntnis erlangt hat – den Eindruck, es bestehe hier »ein böser Zusammenhang« (RE 101). Denn als er zudem das Gemälde seiner Gattin im Haus des brasilianischen Diplomaten entdeckt, erweckt dies zusammen mit der Kunde vom nächtlichen Männerbesuch bei Erwin den Verdacht, seine Frau sei eine »Ehebrecherin« (RE 109). Diese einzelnen Ereignisse sind in der Novelle zu einem in Regines Suizid mündenden Geschehen verknüpft. Plausibel wird diese Verkettung allerdings erst dadurch, dass Regine ohne Erwins Anleitung und unter dem Einfluss der Parzen eine Reihe von zur Katastrophe führenden Entscheidungen trifft. Diese Entscheidungen erscheinen innerhalb der Novelle nicht etwa als charakterliches Defizit Regines, sondern als das Resultat ihrer Unsicherheit und »Unerfahren-

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Diese Deutung Reinharts besitzt allerdings keinen letztgültigen, »logisch privilegierten Status« (Martines/Scheffel 2003, 96) im Sinne einer »Stimme der absoluten Wahrheit« (ebd., 97). Denn innerhalb der Rahmenhandlung ist Reinhart ja nur seinerseits eine von einer übergeordneten Erzählinstanz geschilderte Figur, die mit ihren Erzählungen bestimmte Absichten verfolgt. So hat beispielsweise Kübler auf Reinharts besonderes »Argumentationsinteresse« (Kübler 1982, 33) beim Erzählen der Regine-Geschichte hingewiesen, welches es für den Leser durchaus möglich macht, verschiedenen Deutungen des Erzählers zu misstrauen.

16

Die im Gemälde abgebildete Pose und Kostümierung beobachtet Erwin an seiner Frau zunächst als realen Anblick seiner Frau, die in ihrem Schlafzimmer vorm Spiegel steht. In erlebter Rede schildert der Erzähler, wie Erwin diesen Anblick so gleich in Bezug zu seinem Erziehungsprogramm setzt: »Wie kommt die einfache Seele dazu, auf solche Weise die Schönheit zu spiegeln und die Venus im Saale nachzuäffen? Wer hat sie das gelehrt? […] Ist sie mittlerweile so weit in der Ausbildung gekommen […]?« (RE 98)

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heit« (RE 77) mit den in der bürgerlichen Welt geltenden Verhaltensweisen.17 Die Katastrophe resultiert letztlich aus dem Umstand, dass Erwin seine noch nicht vollständig zur Bürgerin subjektivierte Ehefrau verlässt, als diese noch keine Routine im Umgang mit den bürgerlichen Konventionen und Gepflogenheit besitzt. Auf diesen Sachverhalt rekurriert auch Regines Abschiedsbrief, in welchem sie mit Blick auf ihre Entscheidung, sich als Venus malen zu lassen, bekundet, »daß sie nicht die Sicherheit und Kenntnis des Leben besitze, die zur Erhaltung von Ehre und Vertrauen erforderlich sei« (RE 113). Diese Worte der Protagonistin sind abgefasst unter dem Eindruck der »stumme[n] Trennung« (RE 102), die durch diese Ereignisse zwischen die Eheleute tritt und die rasch in einen »Zustand von Unseligkeit« mündet (RE 105). Dazu trägt entscheidend bei, dass Erwin, ohne dies offen zu artikulieren, der Überzeugung ist, seine Ehefrau habe ihn betrogen, während Regine ihm aus Scham den nächtlichen Besuch ihres wegen Totschlags polizeilich verfolgten Bruders vorenthält. Wenn die Eheleuten in der Novelle diesen Zustand nicht überwinden können, so deshalb, weil sie sich nicht einander offenbaren, wie der Erzähler abschließend bemängelt.18 Dieses für den Ausgang der Novelle so folgenreiche Schweigen der Eheleute, das vom Erzähler als »wortkarge[s] einsilbige[s] Dahinleben« (RE 105) beschrieben wird,19 lässt sich auch als indirektes Resultat der Subjektivierung Regines lesen. Denn wie oben bereits angedeutet wurde, fußt das von Erwin gesteuerte Umbildungswerk vor allem auf solchen Praktiken, die für ein bürgerliches Auftreten und die Repräsentanz von gebildeter Bürgerlichkeit wichtig sind. Was hingegen in der Darstellung von Regines Subjektivierung völlig fehlt, ist ein ganzer Komplex von Praktiken, den Andreas Reckwitz als zentral für das bürgerliche Sub-

17

Diese fehlende Vertrautheit mit den bürgerlichen Gepflogenheiten zeigt sich auch daran, dass Regine »das Bedenkliche und Unzulässige des Vorfalls mit dem Bilde« (RE 102) erst nach Erwins Rückkehr bewusst wird.

18

So konstatiert der Erzähler, es wäre »alles anders gekommen« (RE 113) wenn sich die Eheleute nur einander anvertraut hätten. So aber kam es dazu, »daß die beiden Gatten, jedes mit einem andern Geheimnis, dasselbe aus Vorsorge und Schonung verbergend, an sich vorbeigingen und den einzigen Rettungsweg so verfehlten« (RE 114).

19

Die Sprachverlassenheit der beiden Eheleute drückt sich am Ende der Novelle in einer Reihe weiterer Formulierungen aus. So heißt es, Erwin spreche nur »das wenige mit Reginen […], was er zu besprechen hatte« (RE 104), während Regine »ängstlich […] ihre Zunge hütete« (RE 106). Nach ihrer Ankunft in Boston breitet sich in Folge des Zerwürfnisses eine »allgemeine Stille« (ebd.) im Haus ist, in welchem Regine in einer »einsilbigen Trauer« (RE 107) bis zu ihrem Tod lebt.

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jekt und die bürgerliche Ehe identifiziert. Dieser Komplex betrifft jene Praktiken und Verfahren, in denen bürgerliche Subjekte »nach ihren eigenen ›inneren‹ Eigenschaften fahnden, diese zu dechiffrieren suchen und im Sinne eines ›Sich Öffnens‹ dem Anderen mitteilen« (Reckwitz 2010, 139), in denen sie sich also mit anderen Worten in einer »Hermeneutik des Anderen« (ebd.) trainieren und sich gleichzeitig selbst eine »Innenwelt« (ebd.) schaffen.20 Natürlich ist es problematisch, von dem Umstand des Nicht-Erzählens solcher Praktiken auf ihr nicht Vorhandensein in der Diegese zu schließen, ohne dabei ins Spekulative zu verfallen. Die Sprachlosigkeit der Eheleute lässt sich aber zumindest als ein Symptom und damit als einen indirekten Hinweis auf das Fehlen solcher Praktiken deuten. In jedem Fall aber mangelt es Regine an einigen in ihrer Subjektivierung nicht erworbenen Kompetenzen, die für die Bewältigung der Sprachlosigkeit am Ende der Novelle nötig wären.21 Dieser Zustand erscheint als Resultat von Erwins defizitärem Bildungswerk, welches allzu einseitig auf solche Praktiken ausgerichtet ist, die allein die Herstellung ›äußerer‹ und repräsentativer Bürgerlichkeit anvisieren. Wenn die Novelle nun auch eine Kritik »an der bürgerlichen Ehe oder besser ihren Entartungserscheinungen«(Kaiser 1981, 517) formuliert, so zielt diese Kritik am ehesten auf die mangelnde Fähigkeit der Eheleute zur Einfühlung in die »Innerlichkeit« (Reckwitz 2010, 138) des Partners und zur Kommunikation der eigenen Innenwelt. Insgesamt ist Regines Subjektivierung in ihrer einseitigen Ausrichtung auf die Herstellung repräsentativer Bürgerlichkeit defizitär. Dies wird an prominenter Stelle am Ende der Novelle pointiert von Reinharts Zuhörerin Lucie formuliert, die auf Ebene der Rahmenhandlung treffend kommentiert, »daß es dem guten Herrn Altenauer eben unmöglich war, seiner Frauenausbildung den rechten Rückgrat zu geben« (RE 114).22 Was Erwins

20

Als zentrale Praktiken nennt Reckwitz hier das »intime Gespräch« (Reckwitz 2010a, 139) und das sich gegenseitige »Schreiben von Briefen« (ebd.). Bezeichnenderweise bringt letztgenannte Praktik in Kellers Novelle dann auch Klarheit über das, was Regine »bedrückt und ihr Leben verdorben« (RE 111) hat. Doch ist der von ihr verfasste Brief zugleich ihr Abschiedsbrief, den Erwin erst nach ihrem Tod findet.

21

Erwin wiederum schweigt aus einer fragwürdigen pädagogischen Erwägung heraus, denn er will sehen, ob Regine »Recht und Kraft zur freien Rede aus sich selber schöpfe« (RE 102), während ihr unterdessen durch seine Einsilbigkeit seine Verstimmung über die Ereignisse »nicht verborgen bleiben« (ebd.) soll.

22

In diesem Zusammenhang offenbart das Geschehen innerhalb der erzählten Welt eine Analogie zum für die Komposition des Textes relevanten Pygmalion-Mythos. Sowohl Pygmalion als auch Erwin Altenauer sind in der Lage, ihr Kunstwerk bzw.

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an Regine vollzogenem Bildungswerk schlussendlich fehlt, ist die Herstellung einer bürgerlichen Identität und Selbsthermeneutik. Dies drückt sich nicht zuletzt in Regines Todesumständen und der im Text gewählten Suizidmethode aus, deren Funktion meiner These zufolge darin besteht, den Rückfall der Protagonistin an den Ausgangspunkt ihrer gescheiterten bürgerlichen Subjektivierung zu inszenieren. 6.1.5 Der vulgäre Tod Die Todesdarstellung am Schluss der Novelle ist stark stilisiert und ästhetisiert. Die Umstände dieses Suizids evozieren zunächst den Eindruck, es handle sich um einen von Regine bewusst in einer bestimmten Weise inszenierten Akt der Selbstauslöschung. Bevor sich die Protagonistin mit der »starken seidenen Ziehschnüre« (RE 110) ihres Bettes erhängt, hat sie »das letzte Sonntagskleid angezogen, welches sie einst als arme Magd getragen, einen Rock von elendem braunen, mit irgendeinem unscheinbaren Muster bedruckten Baumwollzeuge« (ebd.). Unter diesem Kleid wiederum hat sie zwischen dem darunterliegenden »Hemde und der Brust« (ebd.) den Abschiedsbrief für Erwin platziert. Entscheidender als die Platzierung des Abschiedsbriefes in der symbolträchtigen Nähe ihres Herzens23 ist, dass sich Regine in ihrem alten Dienstmagd-Kleid tötet, in welchem sie zudem auch begraben zu werden wünscht (vgl. RE 113). Lachmann sieht in dieser Kleiderwahl das »Klassenbewusstsein« (Lachmann 2009, 218) der Protagonistin ausgedrückt. Diese Deutung müsste man dahingehend etwas relativieren, dass das Anlegen der Kleidung einer Dienstmagd hier nicht in erster Linie ein idealisiertes oder gar politisch aufgeladenes Bekenntnis Regines an ihr Herkunftsmilieu ist. Entscheidender ist hier vielmehr, dass sich Regine im Akt der Selbsttötung durch die Wahl ihrer Kleidung an den Ausgangspunkt des an ihr vollzogenen, bürgerlichen Bildungswerkes zurückversetzt.24 Die Auswahl der

Bildungswerk äußerlich perfekt zu gestalten. Die innere Belebung des Werkes gelingt allerdings weder Erwin, noch Pygmalion. Wo indes in Ovids Mythos Venus eingreift, bleibt in Kellers Novelle die göttliche Intervention aus. 23

Die Deutung hierfür liefert der vom Erzähler referierte Inhalt des Abschiedsbriefes direkt mit: »Die Stätte, an welcher man den Brief finden werde, solle beweisen, wie sie ihn bis in den Tod geliebt.« (RE 111)

24

Eine ähnlich Deutung mit leicht anderer Stoßrichtung vertritt Pedde, die konstatiert, Regine versetze sich »in einen Zustand der Vergangenheit, als sie merkt, dass ihre früheren Träume und Hoffnungen nichts mit ihrem gegenwärtigen Eheleben zu tun haben« (Pedde 2009, 163). Dieser Interpretation ergänzend hinzufügen muss man

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Kleidung fungiert also als eine von der Protagonistin vollzogene, symbolische Besiegelung des Scheiterns ihrer bürgerlichen Subjektivierung: Die Ursachen des Suizids werden in den äußeren Umständen der Selbsttötung sichtbar gemacht. Dazu muss man sich vor Augen führen, dass sich Regine nicht in erster Linie aus Trauer, Einsamkeit oder Enttäuschung das Leben nimmt. Vielmehr wird aus ihrem Abschiedsbrief deutlich, dass sie vor allem von Schuldgefühlen geplagt wurde, denn sie war »von dem einzigen Gedanken besessen, daß sie als die Schwester eines Raubmörders ihren Gatten Erwin in ein schmachvolles Dasein hineingezogen und des Elendes einer verdorbenen Familie teilhaftig gemacht habe« (RE 113). Gerade weil Regines Subjektivierung vor allem auf die makellose Repräsentation gebildeter Bürgerlichkeit ausgerichtet war, glaubt sie am Ende, als »Schwester eines hingerichteten Raubmörders« (ebd.) dem Ansehen der Familie zu schaden. Dazu kommt der »Vorfall mit der Malerin« (ebd.), welchen sie ebenfalls als einen Verrat an »Ehre und Vertrauen« (ebd.) der Familie und überdies als Nachweis ihrer Unzulänglichkeit als Bürgerfrau interpretiert. In dieser ausweglosen Situation scheint ihr der Suizid als der einzige Ausweg, wobei die Umstände ihres Todes als Eingeständnis des Scheiterns ihrer Einpassung in die weiblich-bürgerliche Subjektform verstanden werden können. An diesem Punkt kommt schließlich auch die Todesart ins Spiel, deren Funktion im Prinzip analog zu dem Anlegen der alten Dienstmagd-Kleidung ist. Keine andere Suizidmethode ist seit jeher geschlechtsübergreifend so eindeutig als »gewöhnliche Todesart gemeiner, […] desparater Leute« (Osiander 1813, 128) und als »Selbstmord des Bauerntölpels« (Minois 1996, 32) codiert, wie der Suizid durch den Strick: »Hanging had always been the way taken by the humble unskilled worker and above all the agricultural labourer.« (Anderson 1987, 373) Folgerichtig besaß diese Todesart über Jahrhunderte hinweg »im europäischen Kulturkreis die geringste Akzeptanz und galt als die unehrenhafteste Art zu sterben« (Lind 1999, 330).25 Genau wie das Anlegen ihres alten Kleides, so ist auch die Art und Weise ihres Todes eine Rückkehr zum Verhalten der unteren Bevölke-

indes noch, dass Regine nicht in erster Linie von der Ehe enttäuscht ist, sondern sich vor allem schuldig fühlt. Dieser Aspekt bleibt auch in der Deutung Küblers unberücksichtigt, die im Anziehen des alten Kleides einen »Protest Galathea-Reginens gegen ihren von Altenauer inszenierten Aufstieg« (Kübler 1982, 32) erkennt. 25

Die mit dieser Todesart verbundenen Wertungen und Zuschreibungen änderten indes nichts daran, dass das Erhängen die über viele Jahrhunderte hindurch gängigste Art des Suizids war, die tatsächlich vor allem bei dem (kulturell wenig bewanderten) sogenannten ›gemeinen Volk‹ häufig zur Anwendung kam. Vgl. hierzu ferner Baumann 2001, 170; Mischler 2000, 87; Macdonald/Murphy 1990, 185.

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rungsschichten, das symbolisch das Scheitern von Regines bürgerlicher Subjektivierung besiegelt und herausstellt. Ob es sich bei der Auswahl der Suizidmethode wie beim Anlegen des alten Kleides um einen bewussten inszenatorischen Akt Regines handelt oder ob die kulturelle Codierung der Selbsterhängung als unehrenhafte Todesart niederer Stände hier eher als eine Art Textkommentar fungiert, ist für den Leser nicht einwandfrei zu entscheiden. In jedem Fall aber bezieht sich die konkrete Todesart auf das innerhalb der erzählten Welt verhandelte »Deckthema« (Kaiser 1981, 516) der Verbürgerlichung einer Dienstmagd und nicht auf die Geschichte von Pygmalion. Gleichwohl finden sich in der Darstellung der toten Protagonistin andere Elemente, die sich als Bezugnahme auf den antiken Mythenstoff lesen lassen. Das betrifft zunächst allgemein die Analogie zwischen der Schönheit von Ovids Statue und der Schönheit Regines, deren »schöne und im Tode schwere Gestalt« (RE 110) vom Erzähler hervorgehoben wird. Zugleich ist diese Schilderung auch Teil einer ästhetisierten und sexualisierten Darstellung der Toten, deren Leichnam Erwin »wie eine Puppe« (EM 111) an sich drückt und der er »die Brust mit der Hand zu reiben« (ebd.) beginnt. Zugleich lässt sich insbesondere das zuletzt erwähnte Verhalten des Protagonisten als ein intertextueller Verweis auf Ovid lesen. Denn ähnlich eigenartig verfährt in der Gestaltung des römischen Dichters auch Pygmalion mit seiner Statue, freilich mit der Pointe, dass diese daraufhin zum Leben erwacht: »Wiederum naht ihr sein Mund, es betasten die Hände den Busen. Da erweicht sich die starre, die elfenbeinerne Schönheit.« (Ovid 1958, 687)26 Bei Keller aber misslingt die ovidsche Erweckungshandlung – Regine bleibt »kalt und leblos« (RE 110). Mit ihrem Suizid schafft sie am Ende vollendete Tatsachen, die das Scheitern des bürgerlichen Bildungswerkes unumstößlich besiegeln.

6.2 Z WISCHEN S EXUALISIERUNG UND P ATHOLOGISIERUNG : F ONTANES C ÉCILE Am Ende des von Theodor Fontane zuerst 1886 in der Zeitschrift Universum publizierten Romans Cécile hat es der Leser mit einer Suiziddarstellung zu tun, die auch (oder gerade) im Kontext dieser Arbeit bemerkenswert ist. In einem

26

Eine ausführliche Interpretation der Todesdarstellung findet sich bei Pedde 2009, wobei Pedde bei der Betrachtungen der »Handlungen, in denen Erwin mit der Leiche herumhantiert« (Pedde 2009, 162) auf den konkreten intertextuellen Bezug zu Ovid ebenso wenig eingeht, wie die übrige Sekundärliteratur.

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Brief schildert der Hofprediger Dörffel auf den letzten Seiten des Textes, wie er die für den Roman titelgebende Hauptfigur Cécile von St. Arnaud nach ihrer Selbsttötung leblos aufgefunden hat: »Als ich in das Zimmer trat, sah ich, was geschehen. Frau v. St. Arnaud lag auf dem Sofa, ein Batisttuch über Kinn und Mund. Es war mir nicht zweifelhaft, auf welche Weise sie sich den Tod gegeben; ihre Linke hielt das kleine Kreuz mit dem Christuskopf, das sie beständig trug. Der Ausdruck ihrer Züge war der Ausdruck derer, die dieser Zeitlichkeit müde sind. Auf dem Tisch neben ihr lag ihr Gebetbuch, in das sie, zusammengeknifft nach Art eines Lesezeichens, einen an mich adressierten Brief gelegt hatte.« (CE 190)

Zwei Aspekte scheinen mir an dieser Todesdarstellung besondere Aufmerksamkeit zu erfordern. Erstens ist die Schilderung des Leichnams stark stilisiert, wobei diese Stilisierung vor allem über die Nennung von verschiedenen kulturellen Artefakten funktioniert, die den toten Körper umgeben. Mit Blick auf diese Artefakte wird insbesondere nach der Bedeutung des Batisttuchs, aber auch nach der Rolle der religiösen Requisiten Kreuz und Gebetbuch zu fragen sein. Außerdem ist zu klären, welche Funktion der Bemerkung zukommt, in Céciles Zügen liege der Ausdruck derjenigen, »die dieser Zeitlichkeit müde sind«. Zweitens ist an der zitierten Passage bemerkenswert, dass Dörffel zwar einerseits bekundet, es sei unzweifelhaft, auf welche Weise Cécile aus dem Leben geschieden sei, während er aber andererseits die Todesart nicht nennt. Dieses ostentative Verschweigen der Suizidmethode stellt in Verbindung mit dem gleichzeitigen Hinweis auf ihre Unzweifelhaftigkeit geradezu eine Aufforderung an den Leser dar, seine eigenen Schlüsse über die Art des Ablebens von Cécile zu ziehen.27 Dieser impliziten Ermunterung zur interpretatorischen Entschlüsselung der Todesart sind dann auch zahlreiche Forschungsbeiträge gefolgt, die einhellig zu dem Ergebnis kamen, Cécile habe sich mit dem aus dem roten Fingerhut gewonnen Medikament Digitalis vergiftet.28 Wenngleich es notgedrungen über die im Text ver-

27

Es ließe sich sogar argumentieren, dass durch diesen rhetorischen Trick die Aufmerksamkeit des Lesers wesentlich stärker auf die Frage nach der Todesart gelenkt wird, als dies bei einer einfachen Erwähnung der Suizidmethode der Fall gewesen wäre.

28

Dieser Deutung folgen unter anderem Stephan 1981, Weber 1996; Tebben 2002, Kiefer 2003, Schenk 2009, Tresnak 2011, Haberer 2012. Gegen diese Ansicht steht lediglich der Beitrag von Eda Sagarra, die auf Grundlage von nicht näher erläuterten

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schwiegene Todesart keine letztgültige Gewissheit geben kann, so ist diese in der Forschung vielfach vertretene Deutung nicht nur die wahrscheinlichste, sondern im Grunde auch die einzig plausible. Dafür spricht zunächst die in zeitlicher Nähe zum Suizid erfolgende, aufschlussreiche Erwähnung der Gefahr einer Überdosierung von Digitalis durch die Protagonistin: »Sie werden besser tun, mir von meinen Tropfen zu geben. Da, das Fläschchen. […] Aber zählen Sie richtig, und bedenken Sie, welch ein kostbares Leben auf dem Spiele steht. Es ist Digitalis, Fingerhut. […] Fünf Tropfen, bitte; nicht mehr. Und nun etwas Wasser.‹ Gordon gab ihr das Glas. ›Es schmeckt nicht viel besser als der Tod.‹« (CE 163)

Neben der Möglichkeit, den letzten Satz bereits als Vorausdeutung auf das Ende des Romans zu verstehen, wird aus Céciles Verweis auf das Leben, das »auf dem Spiele steht«, deutlich, dass sie sich der tödlichen Wirkung einer Überdosis Digitalis bewusst ist. Daneben evoziert die Beschreibung von Position und Zustand der aufgefundenen Leiche eher den Eindruck eines gewaltfreien Sterbens ohne langen und qualvollen Todeskampf.29 Zum Handlungszeitpunkt des Romans gab es nur wenige bekannte Möglichkeiten, seinem Leben weitgehend schmerzfrei zu entschlafen. Als eine davon galt allerdings die Einnahme von Digitalis. Bereits im 19. Jahrhundert war bekannt, dass eine Überdosis dieses Medikaments zu einer Verlangsamung des Pulses, zu Ohnmacht, schließlich zu Herzstillstand, Koma und Tod führen konnte (vgl. Ackermann 1872, 409). Als ein solcher Tod, bei dem das Subjekt dem Leben entschläft, scheint auch das Ableben Céciles in Fontanes Roman konzipiert zu sein. Welche Bedeutung dieser Art Suizidmethode im Roman genau zukommt, ist damit freilich noch nicht geklärt. Bei der Annäherung an diese Frage werde ich im Folgenden die These vertreten, dass die Todesart in Cécile einerseits im Zusammenhang mit der Medikalisierung und Pathologisierung der Protagonistin als nervenkranke und hysterische Frau steht. Darüber hinaus lässt sich die Suiziddarstellung auch als ein Akt der Entsexuali-

Überlegungen zu dem meiner Ansicht nach nicht nachvollziehbaren Schluss gelangt, »Cécile erschießt sich.« (Sagarra 1999, 130) 29

Aufgrund der liegenden Position der Leiche scheiden Todesarten wie Erhängen, Ertrinken, Verbrennen und in den Tod stürzen kategorisch aus. Da bei der Schilderung der Leiche keine äußeren Verletzungen erwähnt werden, gibt es für den Leser keinen Anhaltspunkt, um von einem Suizid durch Erschießen oder Erstechen auszugehen. Zudem deutet auch das offenbar von Cécile selbst auf Kind und Mund platzierte Batisttuch auf ein vergleichsweise friedliches Ableben ohne größere Bewegung des sterbenden Körpers hin.

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sierung der Protagonistin verstehen, die aufgrund ihrer Vergangenheit als Mätresse sozial geächtet wird. Beide Aspekte sind im Roman miteinander verzahnt. 6.2.1 Die soziale Ächtung der ehemaligen Fürstengeliebten Wie in vielen der schon zuvor behandelten Werke ist auch in Cécile ein Verständnis der Todesart der Protagonistin nicht losgelöst von einer Betrachtung der Geschehnisse möglich, die zum Suizid führen. Der für den Roman zentrale Konflikt, der früh angedeutet wird30 und dessen Aufdeckung als Movens der gesamten ersten Romanhälfte fungiert,31 dreht sich wie so oft bei Fontane um Fragen zu Moral und Ehre. Nachdem sich das Geheimnis um die Biographie Céciles in der Mitte des Romans lüftet, wird für den Leser ersichtlich, wie sehr vor allem Cécile einer »unnachsichtigen gesellschaftlichen Ächtung« (Thomé 1993, 390) ausgesetzt ist. Als ehemalige »Fürstengeliebte, Favoritin in duplo, Erbschaftsstück von Onkel und Neffe!« (CE 154), die durch ihre Heirat mit St. Arnaud außerdem Anlass für ein Duell mit tödlichem Ausgang geliefert hat, ist Cécile von der besseren Berliner Gesellschaft mit einem »Bann« (CE 179) belegt worden. Bis auf einige »verkrachte Existenzen« (Sagarra 1999, 122) meiden die honorigen Mitglieder des Bürgertums und vor allem des Adels das Haus St. Arnaud (vgl. Sprengel 2000, 65f.), ein Zustand, der Cécile nicht verborgen bleibt und

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Der Erzähler schildert auf den ersten Seiten, wie der Oberst von St. Arnaud, ein augenscheinlich dem preußischen Schwertadel entstammender »alte[r] Militär« (CE 3), und seine Ehefrau Cécile zu einer Sommerfrische aufbrechen. Am Bahnhof treffen beide einen alten General, »der, als er Cécile ansichtig wurde, mit besonderer Artigkeit in das Coupé hinein grüßte, dann aber sofort vermied, abermals in die Nähe desselben zu kommen« (CE 5). An dieser nicht den üblichen Umgangsformen entsprechenden Reaktion deutet sich bereits früh die soziale Ächtung an, mit der Cécile von der ›besseren‹ Gesellschaft belegt wird. Die Aufmerksamkeit des Leser wird noch einmal auf diesen Zwischenfall gelenkt, wenn der heterodiegetische Erzähler an dieses Ereignis anschließend bemerkt: »Täuschte nicht alles, so lag eine ›Geschichte‹ zurück.« (ebd.)

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In der ersten Hälfte des Romans ist die Informationsvergabe stark an die Perspektive der Figur Leslie von Gordon gebunden. Dieser versucht hinter das Geheimnis der Lebensgeschichte Céciles zu kommen (»Was ist es mit dieser Frau?« (CE 110)) , weshalb in der Sekundärliteratur dieser Teil des Romans bisweilen auch als Form »detektivischen Erzählens« (Downes 2000, 565) bezeichnet wurde. Aufgelöst wird das Rätsel um die Biographie Céciles erst im 21. Kapitel durch einen erklärenden Brief von Gordons Schwester.

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den sie unbedingt aufheben will: »So lebe ich denn von der Gnade derer, die meinem Haus die Ehre antun. […] Ich habe nicht den Anspruch, den andre haben. Ich will ihn aber wieder haben.« (CE 179) In der Forschungsliteratur wurde diese soziale Exklusion Céciles zuweilen als Resultat eines Aufeinandertreffens der alten aristokratischen Lebensweise mit den »Grundsätze[n] der modernen bürgerlichen Welt« (Haberer 2012, 146) interpretiert, so als hätte sich Cécile bloß zur falschen Zeit in den falschen Verhältnissen befunden. Dagegen lässt sich mit Friedrich einwenden, dass es in diesem Roman viel weniger um das Bürgertum und die bürgerliche Gesellschaft geht, als zuweilen behauptet wurde. Bürgerliche Figuren tauchen in Cécile nur als Nebenfiguren auf. Im Zentrum des Romans steht vielmehr »die Darstellung des zeitgenössischen preußischen Adels« (Friedrich 1970, 520). Innerhalb dieser adeligen Kultur aber sind Fürstenmätressen wie Cécile »nach dem Tode ihrer Liebhaber von der feudalen Gesellschaft kaum je anders behandelt worden« (ebd., 536). Das Aufeinandertreffen von adeliger Lebensweise und bürgerlicher Gesellschaf trägt also nicht als Erklärung für die zum Suizid beitragende soziale Ächtung Céciles. Vielmehr ist ihre gesellschaftliche Exklusion das Resultat der durchaus nicht widerspruchsfreien, sozial-moralischen Logik der im Roman thematisierten preußischadeligen Subjektkultur. Die Darstellung des Adels umfasst in Cécile einige der Elemente, die typischer Bestandteil der bürgerlichen Adelskritik im 19. Jahrhundert waren. 6.2.2 Zur höfisch-adeligen Subjektivierung Céciles Gordons Schwester Clotho und deren Freundin Eva Liwinski zeichnen in ihren brieflichen Analepsen von der Lebensgeschichte Céciles ein Bild, das Gordon ein fast mitleidiges Resümee abringt: »Arme Cécile! Sie hat sich dies Leben nicht ausgesucht, sie war darin geboren, sie kanntʼ es nicht anders.« (CE 156) Folgt man der Schilderung dieser Briefe, so entspricht Céciles frühe Subjektivierung tatsächlich den schlimmsten Vorstellungen, die sich im 19. Jahrhundert vor allem das Bürgertum vom adeligen Lebensstil machte. Bereits Céciles Vater erscheint als Inbegriff der »parasitären Leistungsverweigerung« (Reckwitz 2010, 179), welche die bürgerlichen Adelskritik dem Junkertum vorhielt. Zum sogenannten Dienstadel zählend, »verstand [der Vater] nichts und tat nichts (was noch ein Glück war), gab aber die besten Frühstücke. Kavalier, schöner Mann und Anekdotenerzähler, war er allgemein beliebt, freilich noch mehr verschuldet, trotzdem er ein hohes Gehalt hatte.« (CE 154) Er entspricht damit jenem Bild des Adeligen, der seinem Wesen nach ganz auf Repräsentation und äußeren Schein eingestellt ist, aber auf Bildung, harte Arbeit und solide Wirtschaft kei-

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nen Wert legt. Infolge der hohen Verschuldung nimmt sich der Vater schließlich das Leben. Céciles Erziehung obliegt ab da ausschließlich der Mutter, deren verderblicher Einfluss auf die Subjektivierung ihrer Tochter im Roman deutlich betont wird: »An Erziehung war nicht zu denken. Frau von Zacha lachte, wenn sie hörte, daß ihre Töchter doch etwas lernen müßten.« (CE 155) Abgesehen davon, dass es Céciles Mutter ebenso wenig vermag, die Finanzen zusammenzuhalten, wie ihr verstorbener Ehemann,32 wird sie als eine Figur geschildert, die in verschiedenen weiteren Aspekten alle negativen Klischees über den Adel bedient. Dies betrifft vor allem ihren »Grad von Nichtbildung« (ebd.), der mit der Ansicht einhergeht, »daß eine junge schöne Dame nur dazu da sei, zu gefallen, und zu diesem Zweck sei wenig wissen besser als viel« (ebd.). Gleichzeitig wird an dieser Formulierung erkennbar, welche gewichtige Rolle Äußerlichkeiten in der Erziehung Céciles spielen. Das einzige, was in ihrer Subjektivierung relevant scheint, ist die von der Mutter angeleitete Repräsentation von Schönheit und eines standesgemäßes, adeligen Lebensstils, den sich die Familie allerdings nicht annähernd leisten kann. Von dem wenigen Geld aus der Pension des Vaters »gaben sie Festlichkeiten und schafften neue Rüschen und Bänder an, auch wohl Kleider« (ebd.) War das Geld dann aufgebraucht, »was keine Woche dauerte, so hatten sie zwölf Wochen lang nichts« (ebd.). Insbesondere den zeitgenössischbürgerlichen Lesern Fontanes muss es absurd und verwerflich erschienen sein, das geringe Vermögen für die Repräsentation adeligen Lebensstils mit Festen und Kleidern zu vergeuden, um dann wochenlang von Geborgtem und »Obst aus dem Garten« (ebd.) zu leben. Gleichwohl entsprach die im Roman geschilderte Alltagspraxis der Zachas den üblichen Vorurteilen, denenzufolge der adelige Lebensstil mit seinem Hang zu »kaum finanzierbare[m] Luxus« (Wienfort 2006, 15), mit einer »Ästhetisierung der Oberflächen« (Reckwitz 2010, 179) und einem bildungsfernen »Anti-Intellektualismus« (Mosse 1988, 306) als exzessiv, parasitär und insgesamt amoralisch erscheint (vgl. Reckwitz 2010, 176). Der Großteil der Aspekte bürgerlicher Adelskritik verdichtet sich in Fontanes Roman in der knappen Schilderung der Familienverhältnisse Céciles und in dem pointierten Resümee, das Gordon über die Kindheit Céciles formuliert: »Groß gezogen ohne Vorbild und ohne Schule und nichts gelernt, als sich im Spiegel zu sehen und eine Schleife zu stecken.« (CE 156) Diese Charakterisierung Céciles durch Gordon ist nicht von der Hand zu weisen, denn die Eigenarten ihrer Subjektivierung zeigen sich auch abseits der

32

Nachdem die Familie des verstorbenen Adeligen anfangs finanziell von einer jungen Herzogin unterstützt wurde, stellt diese ihre Hilfe bald ein, denn »die Wirtschaft war zu toll« (CE 155).

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brieflichen Analepse im Roman. Deutlich wird dies vor allem an zwei Aspekten. Der erste betrifft den speziell im ersten Teil des Textes mehrfach angedeuteten Bildungsmangel Céciles.33 Dieser wird zum einen durch die Figuren direkt betont, etwa wenn Gordon Cécile ein »naives Minimalmaß ihrer Bildung« (CE 52) attestiert oder wenn St. Arnaud seine Frau mahnt, sie müsse »vor allem mehr sehen, mehr lesen« (CE 33). Zum anderen wird der Bildungsmangel auch situativ vorgeführt, etwa wenn die Figuren bei einem Spaziergang das Klopstock-Haus erreichen und Cécile, die nach Gordons Eindruck den Namen Klopstock »zum ersten Male hört« (CE 53), dazu nichts anderes zu bemerken weiß als »es ist so grün« (CE 28). Die Naivität dieses Kommentars wird unmittelbar ersichtlich aus der Reaktion Rosas, die »lauter und herzlicher [lacht], als die Schicklichkeit gestattet« (ebd.). Die mangelnde Bildung Céciles wird ihr also nicht nur durch die übrigen Figuren zugeschrieben, sondern Fontanes Text lässt die Protagonistin, wie bereits Weber an einem anderen Beispiel überzeugend ausgeführt hat, »ihre mangelnde Bildung selbst verraten« (Weber 1996, 59). 6.2.3 Huldigungen und galantes Sprachspiel Der zweite Aspekt, an dem Céciles höfisch-adelige Subjektivierung erkennbar wird, bezieht sich auf die Rolle der im Text immer wieder erwähnten »Huldigungen« (CE 8) und Schmeicheleien. Schon früh im Roman bemerkt der Erzähler über eine körperliche Reaktion Céciles auf eine zweideutige Bemerkung, diese kläre den »sie scharf beobachtenden Gordon […] über ihre ganz auf Huldigung und Pikanterie gestellte Natur« (CE 39) auf. Für den Leser ist hier aus der gewählten Formulierung nicht eindeutig zu entscheiden, ob es sich bei dieser Charakterisierung Céciles um die Interpretation Gordons oder um eine Einschätzung des Erzählers handelt. Verschiedene andere Textstellen legen allerdings den Schluss nahe, dass Cécile in der Tat eine »beständig nach Huldigungen ausschauende Dame« (CE 133) ist, wie Gordon später konstatiert.34 So kommentiert der Erzähler Céciles Innenleben, nachdem diese auf Gordons Bericht über das herzliche Verhältnis zu seiner Schwester verstimmt reagiert: »Cécile war […]

33

Die Bedeutung dieses Bildungsmangels betonen unter anderem Müller-Seidel 1980,

34

An anderer Stelle bemerkt Gordon: »Was sie von mir erwartet, sind Umwerbungen,

193; Thome 1993, 347; Weber 1996, 59; Nottinger 2003, 123. Dienste, Huldigungen.« (CE 116) Friedrich folgt dieser Deutung Gordons uneingeschränkt, wenn er über Cécile urteilt: »Ihre Natur ist nicht nur auf Huldigungen gestellt, sondern auch auf Pikanterien, primitive Pikanterien, wie wir sagen dürfen, wenn wir uns Hedemeyer ansehen.« (Friedrich 1970, 526)

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auch verwöhnte Frau genug, um sich durch ein so betontes Hervorkehren verwandtschaftlicher Empfindungen und zwar in diesem Augenblick und an ihrer Seite wenig geschmeichelt zu fühlen.« (CE 83, Hervorhebungen i.O.) Bereits zuvor findet sich ein Dialog, an welchem deutlich wird, wie Cécile in der Konversation Huldigungen bzw. Schmeicheleien durch ihre Gesprächspartner, in diesem Fall St. Arnaud, regelrecht provoziert: »›Es schien mir vielmehr, als er sich für das plauderhafte Fräulein interessiere.‹ ›Nein, es schien mir umgekehrt, als ob er sich für die Dame interessierte, die wenig sprach und viel schwieg, wenigstens solange wir oben auf der Roßtrappe waren. Und ich kenne wen, dem es auch so schien und der es noch besser weiß als ich.‹ ›Glaubst du?‹ sagte Cécile, deren Züge sich plötzlich belebten, denn sie hatte nun gehört, was sie hören wollte.« (CE 34)

Céciles tatsächlich eher abwegige Behauptung über Gordons Interesse an Rosa35 dient, wie das Ende dieser Passage verdeutlicht, vor allem dazu, ihrem Ehemann Komplimente über ihre Attraktivität zu entlocken. An späterer Stelle bemerkt der Erzähler dann auch explizit, »Huldigungsworte taten ihr wohl, auch wenn sie von St. Arnaud kamen.« (CE 73) Wie aus solchen Passagen zudem deutlich wird, nehmen Teile der im Roman geschilderten Konversationen und vor allem einige der Dialoge zwischen Gordon und Cécile die Form eines Sprachspiels an,36 welches mindestens in die Nähe zur Galanterie rückt. In Form der Galanterie konnte, wie bereits Luhmann ausgeführt hat, »Werbung auch unter den Augen Dritter, gewissermaßen unverbindlich, durchgeführt werden« (Luhmann 1994, 97), wobei ein solches Verhalten »nach beiden Seiten, zur Intimität und zur Geselligkeit hin, anschlußfähig« (ebd.) war. Das im Roman vorgeführte und aus Huldigungen und Schmeicheleien bestehende Sprachspiel, an dem Cécile nicht nur teilnimmt, sondern welches sie auch initiiert und forciert, ist damit noch nicht per se eine unschickliche Werbung um Intimität, sondern vorerst nur eine bestimmte, höflich-gesellschaftliche Umgangsform. Konkret galt diese Art der galanten Konversation bereits weit vor dem 19. Jahrhundert als ein Merkmal der Aristokratie, insbesondere der höfischen Adelskultur. Dem Bürgertum allerdings war eine derartige Ausformung kommunikativer Praktiken hochgradig

35

Rosa wird im Roman im Gegensatz zu Cécile als unattraktive Frauenfigur gezeichnet, über die Gordon später eindeutig bemerkt: »Rosa! Mit Rosa könnte man um den Äquator fahren, und man landete genauso, wie man eingestiegen […]Ihr Charmantsein ist ohne Charme.« (CE 161)

36

Vgl. exemplarisch CE 39, 107, 161, 162.

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suspekt.37 Was diese Art des Sprachspiels so verdächtig machte, war gerade seine Undurchsichtigkeit und potentielle Doppeldeutigkeit. Huldigungen und Schmeicheleien konnten einerseits zu einem unverbindlichen gesellschaftlichen Umgangston zählen, während sie andererseits auch Elemente eines hintersinnigen, auf Intimität abzielenden Verführungsspiels sein konnte. Aus bürgerlicher Perspektive stellte sich die auf solchen kommunikativen Praktiken fußende adelige bzw. höfische Subjektkultur als eine »komplizierte Welt [dar] [...], in der mit dieser Differenz von Schein und Sein im doppelten Sinne von ›game‹ und ›play‹ ein soziales Spiel getrieben« (Reckwitz 2010, 180) wurde. Innerhalb der adeligen Subjektkultur, so der Vorwurf der bürgerlichen Adelskritik, zählten demnach »Unehrlichkeit, Lüge, Schmeichelei und Intrige […] zu Merkmalen der Interaktion« (ebd.),38 die ihrem Wesen nach artifiziell sei. Dieser Vorwurf galt auch für die Galanterie und solche Formen von Sprachspielen, wie sie in Fontanes Roman geschildert werden. Dieses Spiel mit Huldigungen und Schmeicheleien erschien aus bürgerlicher Perspektive nicht nur eitel, sondern auch fragwürdig im Hinblick auf die Sexualmoral. Der Vorwurf der Artifizialität der Konversation verband sich mit dem der Exzessivität, der sich auf die »vorgeblich unkontrollierte Verwendung des Körpers und des Begehrens in der Adelskultur« (ebd., 147) richtet. Speziell die höfische Welt galt dem Bürgertum als ein Hort der amoralischen Lüsternheit, in welcher Kommunikationsformen wie die Galanterie nur die Vorderseite sozialen Verhaltens darstellten, dessen dahinterliegende, »›Rückseite‹ ein unkontrolliertes sexuelles Begehren bildet« (ebd., 181). Die Vorstellung von der Gefahr dieses auf Huldigungen fußenden Sprachspiels, das jederzeit in eine Entfesselung sexuellen Begehrens umschlagen kann, trägt nicht nur zur Rekonstruktion des sozialhistorischen Kontextes bei, sondern ist von entscheidender Bedeutung für den zentralen Konflikt des Romans. Eine Einsicht in diese Problematik findet sich in der pointierten Bemerkung Gordons,

37

Vgl. zur bürgerlichen Galanteriekritik im 18. Jahrhundert den Aufsatz von Florack 2011.

38

Gegen diese artifizielle weil gespielte und die wahren Absichten verschleiernde Art der Konversation sahen die bürgerlichen Selbstentwürfe für eine moralische Art der Kommunikation eine »Aufhebung der Doppelstruktur des Selbst von Schein und Sein [vor]; das moralische Subjekt strebt nach Ernsthaftigkeit, nach ›Ehrlichkeit‹, Durchsichtigkeit in der Interaktion« (Reckwitz 2010a, 181). Ähnlich klingt dies bei Maurer: »Während dem Adel das Prinzip der Repräsentation zuzuordnen ist, gehörte zum Bürgertum das Reelle. Es definierte sein Wesen als Sein und das des Adels als Schein.« (Maurer 1996, 588)

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»Huldigungen sind wie Phosphorhölzer, eine zufällige Friktion und der Brand ist da.« (CE 116) Ein Bewusstsein für diese Gefahren lässt ferner Cécile selbst erkennen: »Und wenn ich auch durch all mein Leben hin in Eitelkeit befangen geblieben bin und der Huldigungen nicht entbehren kann, die meiner Eitelkeit Nahrung geben, so will ich doch […], daß diesen Huldigungen eine bestimmte Grenze gegeben werden.« (CE 165) Aus dieser spät im Roman erfolgenden Selbstthematisierung der Protagonistin wird zum einen deutlich, dass Céciles praktischer Vollzug der gesellschaftlichen Konversation in Form eines bestimmten Sprachspiels immer noch der gleichen Logik des Gefallen-Wollens folgt, die von Kindesalter an für ihre gesamte Subjektivierung grundlegend war (vgl. CE 155). Zum anderen aber wird Cécile im Roman damit als eine Figur gezeichnet, die aus eigener Erfahrung die mit solchen Praktiken verbundene Gefahr kennt. Das Risiko dieser Art von ›Konversationsspiel‹ besteht in dem oben angesprochenen schmalen Grat, der zwischen einer unverfänglich-höflichen Huldigung und einer sexuell eindeutigen Umwerbung verläuft,39 wobei die drohende Möglichkeit einer Grenzüberschreitung jederzeit virulent bleibt. Das von Gordon benutze Bild des Brandes aufgreifend ließe sich formulieren, dass es sich bei den im Roman geschilderten Konversationspraktiken um das redensartliche Spiel mit dem Feuer40 handelt. Geht dieses Sprachspiel über in die sexuell eindeutige Umwerbung und wird dieser Umwerbung nachgegeben, so ergeben sich daraus für die adelige Frau in der Regel erheblich weitreichendere Konsequenzen als für den adeligen Mann.

39

Ein Bewusstsein Céciles für diese Gefahr kommt in ihrem Gespräch mit ihrem Beichtvater Dörffel über Gordon zum Ausdruck. Hier schildert Cécile ein Erlebnis mit Gordon bei einem Spaziergang in Thale: »Und als ich aufsah, sah ich, daß es die niedergehende Sonne war, deren Glut durch eine drüben am andern Ufer stehende Blutbuche fiel. Und in der Glut stand Gordon und war wie davon übergossen. Und sehen Sie, das ist das Bild, von dem ich fühle, daß es mir eine Vorbedeutung war und wenn nicht eine Vorbedeutung, so doch zum mindesten eine Warnung.« (CE 131) Während Bontrup diese Szene vor allem als eine »Vorankündigung des Todes Gordons« (Bontrup 2000, 154) versteht, scheint es mir plausibler, die rote Glut hier in erster Linie als Symbol für die erotische Affiziertheit Gordons durch Cécile zu lesen. Diese Deutung stützt sich auch auf Céciles unmittelbar daran anschließendem Kommentar, Dörffel sei der einzige, »der es wohl mit mir meint, der einzige, der reinen Herzens ist« (ebd.), der ihr also ohne sexuelles Begehren entgegentrete.

40

Auf diese Redensart rekurriert auch Gordon, wenn er über die Möglichkeit einer Fortführung seiner Besuche bei Cécile im Selbstgespräch zu dem Schluss kommt: »Es bleibt ewig wahr, man soll nicht mit dem Feuer spielen.« (CE 168)

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6.2.4 Das Problem der weiblichen Ehre Diese Konsequenzen illustriert Fontanes Roman am Beispiel des Schicksals der gesellschaftlich geächteten Protagonistin, wobei sich die implizite Logik der im Text geschilderten sozialen Mechanismen nur durch einen Blick auf den historischen Kontext erhellen lässt. Kurz gesagt hat Cécile, obwohl zu diesem Zeitpunkt unverheiratet, durch ihre Vergangenheit als »Fürstengeliebte« und »Favoritin in duplo« (CE 154) ihre Ehre verloren. Die Ehre einer Frau beruhte den im 19. Jahrhundert gängigen Ansichten nach ausschließlich auf »ihrer ›geschlechtlichen Integrität‹, auf ihrem Verzicht auf vor und außereheliche sexuelle Beziehungen« (Frevert 1995, 188), worin sich die weibliche Ehre maßgeblich von der männlichen Ehre unterschied,41 der vor- oder außereheliche Affären nichts anhaben konnten. Bei Frauen aber fungierte die »weibliche Sexualität […] als ein Tauschobjekt, als ein Kapital oder Vermögen, das möglichst sicher und gewinnbringend angelegt und nicht vor der Zeit vergeudet, verschwendet werden sollte« (ebd., 198). Geschah dies dennoch, so verlor die Frau damit nicht nur ihre eigene Ehre, sondern sie beschädigte auch die ihres Ehemannes oder, falls sie unverheiratet war, die ihrer Familie. Während dieser Ehrverlust für die Frau unwiederbringlich war,42 weil Frauen ihre Ehre zwar verlieren, aber nicht verteidigen oder zurückgewinnen konnten (vgl. ebd., 216), bestand für den Mann die Möglichkeit, seine Ehre durch ein Duell mit dem Verführer wiederherzustellen. Insbesondere für Mitglieder des Offizierskorps, für welche die Ehre gemäß eines Ausspruchs Prinz Wilhelms von Preußen als »das erste Erfordernis, die erste und höchste Bedingung seines Berufs« (Frevert 1991, 93) galt, war das Duell allerdings nicht bloß eine Option, sondern geradezu eine Pflicht. Einem beleidigten

41

Zu dem Teil der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, für den das im Folgenden referierte Konzept der Ehre relevant war, gehörten nach Guttandin »der Adel, das Officierscorps und der ›Dienstadel‹, woran sich aus dem Bürgerstande noch der Geldadel und der Kunstadel anreiht« (Guttandin 1993, 265).

42

Die einzige Möglichkeit, mittels derer zumindest unverheiratete Frauen unbeschadet aus der Angelegenheit herauskommen konnten bestand in der Eheschließung mit dem Sexualpartner (vgl. Frevert 1996, 196f.), wie Fontane dies beispielsweise im Schach von Wuthenow durchspielt. In Cécile findet eine solche Eheschließung mit dem alten Fürsten oder seinem Neffen allerdings nicht statt; im Gegenteil wird ausdrücklich erwähnt, dass sich der Kammerherr, über den der Text suggeriert, dass er ebenfalls eine Liaison mit Cécile gehabt habe, einer Eheschließung verweigert habe. Vgl. CE 154.

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Offizier blieb mit anderen Worten »gar keine andere Wahl […], als die verletzte Ehre auf eine dem Sozialstatus entsprechende Weise zu verteidigen« (Ullrich 2001, 278). Eine solche, komplizierte Ehrenangelegenheit wird im Fortgang des Romans auch als Vorgeschichte der eigentlichen Handlung in Cécile enthüllt. So erfährt der Leser aus den Briefen von Gordons Schwester, St. Arnaud, der sich offenbar in Unkenntnis der Vergangenheit seiner zukünftigen Frau liiert hat, sei drei Tage nach seiner Verlobung mit Cécile von seinem Untergebenen Dzialinski darüber informiert worden, »daß diese Verlobung nicht wohl angänglich sei« (CE 151). Aus dieser Situation heraus »entstand eine Szene, die mit einem Duell endete« (ebd.), bei dem Dzialinski tödlich verwundet wurde. St. Arnaud wurde zu neun Monaten Festungshaft verurteilt und war gezwungen, seinen Abschied aus der Armee zu nehmen, hatte aber seine Ehre verteidigt. Für die Situation Céciles brachte dieses Duell hingegen keinerlei positive Effekte mit sich, ganz so, wie solche Duelle auch in der Realität den betroffenen Frauen niemals nutzten: »Ihre Ehre blieb verletzt, und das um so mehr, als der Kampf der Männer den Verlust zu einem öffentliche festgestellten und debattierten Faktum machte.« (Frevert 1995, 217) Vielmehr evoziert der Roman den Eindruck, das Duell habe Céciles Situation eher noch verschlimmert. Denn mit ihrer gesellschaftlicher Ächtung ist eine doppelte Stigmatisierung verbunden, deren Logik aus heutiger Perspektive paradox erscheint: Die Protagonistin hat nicht nur unwiederbringlich das soziale Kapital ihrer Ehre verloren, sondern sie hat auch – indem sie durch ihren vorehelichen Lebenswandel den Anlass dazu gegeben hat – Dzialinski und St. Arnaud zu einem Duell gezwungen, womit sie letztlich für den Tod eines Offiziers verantwortlich ist.43 Diese Perspektive wird in Fontanes Roman sogar von Cécile selbst geteilt, die im Gespräch mit Gordon das Bewusstsein einer Schuld am tödlichen Zweikampf erkennen lässt, wenn sie bekundet: »Als ich […] in das Haus schlich, wo der erschossene Dzialinski lag und mich mit seinen Totenaugen ansah, als ob er sagen wollte: ›Du bist schuld‹, da hab ichʼs mir in meine Seele hineingeschworen, nun, Sie wissen, was.« (CE 179) Nimmt man die angestellten Überlegungen zusammen, so erscheint die schwierige soziale Lage der Protagonistin als das spezifische Dilemma adeliger

43

Eine Frau, die ihre Ehre verloren und ein Duell verursacht hatte, bekam, wie Frevert ausführt, »die Folgen […] deutlich zu spüren. Darüber hinaus machte man sie für das Duell verantwortlich, und ihre Schuld wuchs ins Unermeßliche, wenn ein Beteiligter dabei zu Tode kam.« (Frevert 1995, 217) Ein von Frevert in diesem Zusammenhang genannter Fall war der Elisabeth von Ardennes, der als Vorlage für Fontanes Effi Briest diente.

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Frauen: Cécile wurde, beginnend mit der Erziehung durch ihre Mutter, in Praktiken und Umgangsformen wie dem galanten Sprachspiel subjektiviert, die im Prinzip permanent die sexuelle Umwerbung der Frau befördern und ihre Keuschheit auf die Probe stellen. Gibt das adelig-weibliche Subjekt allerdings dem eigenen Begehren und dem Werben der Männer in außerehelichen Sexualbeziehungen nach, so verliert es unwiederbringlich seine Ehre. In gewisser Weise kann man also sagen, dass die adelige Subjektkultur in diesem Punkte eine paradoxe Logik aufweist: Auf der einen Seite wird die adelige Frau einem gefährlich-doppeldeutigen Konversationsspiel ausgesetzt, das dauerhaft ihre sexuelle Integrität bedroht. Auf der anderen Seite wird der Verlust dieser sexuellen Integrität von der adeligen Gesellschaft mit Sanktionen belegt, die bis hin zur völligen sozialen Ächtung gehen können. Insofern beinhaltet Fontanes Roman also in der Tat eine Form der »Zeitanalyse und -kritik« (Grawe 2002, 271). Diese Kritik, die zunächst vor allem auf einen Widerspruch innerhalb der adeligen Subjektkultur zielt, verbindet sich dann allerdings mit einer allgemeiner gefassten Problematisierung bestimmter zeitgenössisch-medizinischer Ideen. 6.2.5 Die Positionierung der nervösen Frau: pathologisierende Adressierung Die unter anderem von Müller-Seidel vertretene Position, Cécile könne »über weite Strecken hin als eine Krankheitsgeschichte verstanden werden« (MüllerSeidel 1980, 186) ist in der Forschungsdebatte über den Roman oft aufgegriffen und aus verschiedenen Blickwinkeln diskutiert worden. Neben den Beiträgen, die den Text vor dem Hintergrund zeitgenössisch-medizinischer Diskurse über Hysterie und Nervenschwäche lesen,44 ist für meine Fragestellung insbesondere der Hinweis von Dirk Mende hilfreich, Fontanes Roman lasse sich als eine »Variante männlicher Abwehrstrategien [verstehen]: Die Frau wird für krank erklärt, so daß sie es am Ende auch ist.« (Mende 1980, 196) Mendes Position aufgreifend werde ich im Folgenden argumentieren, dass Fontanes Roman vorführt, wie Cécile als Reaktion auf ihren Normverstoß systematisch als ein krankes und behandlungsbedürftiges Subjekt positioniert wird. Dies geschieht durch ein aus männlichen Vertretern der Macht bestehendes Subjektivierungsregime und vermittels zweier verschiedener, das Subjekt unterwerfender Arten von Techniken: durch eine pathologisierende Adressierung einerseits und durch Praktiken der Therapierung und Medikalisierung andererseits.

44

Vgl. hierzu die Beiträge von Weber 1996, Bontrup 2000, Becker 2002, Tresnak 2011, Haberer 2012.

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Vor allem im ersten Teil des Romans adressiert St. Arnaud durch sein Verhalten und durch seine verbalen Äußerungen Cécile immer wieder als krankes und der Schonung bedürftiges Subjekt. Dies zeigt sich bereits bei der ersten Schilderung der beiden Figuren: St. Arnaud »reichte seiner Dame den Arm und ging in langsamen Tempo, wie man eine Rekonvaleszentin führt« (CE 3). Ob nun Cécile, wie schon Müller-Seidel fragte, »wirklich krank« (Müller-Seidel 1980, 187) ist, wird aus dieser Darstellung des Erzählers nicht ersichtlich. Was sich allerdings zeigt ist, dass St. Arnaud seine Frau wie eine Kranke behandelt, so etwa auch, wenn er kurz darauf die Notwendigkeit einer Gewichtszunahme Céciles mit den Worten »Zunehmen heißt Gesundwerden« (CE 6) kommentiert. Derartige Adressierungen Céciles finden sich mehrfach im Roman und sind oft verbunden mit St. Arnauds Hinweis auf die körperliche Schwäche und Ruhebedürftigkeit der Protagonistin. Die Krankheit wird von St. Arnaud nicht nur im privaten Raum, sondern im Gegenteil insbesondere in Gegenwart von bzw. im Gespräch mit den übrigen Figuren thematisiert.45 Die Zuweisung einer Position als krankes und einer besonderen Behandlung bedürftiges Subjekt wird also performativ vor Publikum vollzogen; Céciles Pathologisierung findet öffentlich statt und wird dadurch umso machtvoller. Auf das Schamgefühl seiner Ehefrau nimmt St. Arnaud wenig Rücksicht; er stellt sie vielmehr, wie Weber bemerkt, regelrecht »vor fremden Leuten mit ihrer Krankheit bloß« (Weber 1996, 77). Dies zeigt sich insbesondere an der Benennung der »Vertebrallinie« (CE 31) als eine von der Krankheit betroffene Körperregion. Es handelt sich dabei um eine Konkretisierung der gesundheitlichen Probleme, bei der es Cécile »peinlich berührte, den Schwächezustand ihres Körpers mit solchem Lokaldetail behandelt zu sehen« (ebd.). Diese Passage führt zugleich auf die Spur der im Roman lediglich behutsam angedeuteten und nur mit Blick auf den zeitgenössischdiskursiven Kontext rekonstruierbaren, impliziten Logik, der diese Pathologisierung Céciles folgt. Die Identifizierung der Wirbelsäule als besonders gefährdeter Körperteil entspricht nämlich »jener Annahme zeitgenössischer Forschung, nach der gerade Frauen aufgrund ihrer Sexualität bei Nervenkrankheiten von einer

45

So spricht der Oberst schon bei der ersten Begegnung mit Gordon die Krankheit seiner Frau unumwunden an: »Wir gedenken nämlich, sobald es das Befinden meiner Frau zuläßt, immer höher in die Berge hinaufzugehen […]. Es soll dort die beste Luft für Nervenkranke sein«. (CE 18) Später fragt St. Arnaud bei einem Ausflug Cécile in Gegenwart von Rosa und Gordon: »Werden auch deine Nerven ausreichen?« (CE 31) und einige Kapitel darauf thematisiert der Oberst die Müdigkeit Céciles wiederum in Gegenwart anderer Figuren: »Dein alter Fehler, Cécile! Wenn dich etwas lebhaft interessiert, […] überspannst du deine Kräfte.« (CE 71)

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Schwäche des Rückgrats betroffen waren« (Bontrup 2000, 137). Entscheidend ist hier der Hinweis auf den Aspekt der Sexualität, das bei der den Roman durchziehenden Thematisierung von Céciles Nervenschwäche immer im Hintergrund steht. In den medizinischen Diskursen des späten 19. Jahrhunderts kursierte die weitverbreitete Ansicht, dass nahezu alle Nervenkrankheiten der Frau in direktem Zusammenhang mit ihrer Sexualität standen.46 Diese Ansicht spiegelt sich bereits in der Bezeichnung der Hysterie, die als typisch weiblich Krankheit galt und die etymologisch vom altgriechischen Wort für Uterus abgeleitet ist: »Vom Wortsinn her war die Gebärmutter der Sitz des Leidens.« (Radkau 1998, 124) Diese kausale Verknüpfung zwischen Sexualität und Krankheit findet sich auch in Cécile, wobei die von Teilen der Forschungsliteratur geführte Debatte darüber, ob die Titelheldin nun unter Hysterie oder doch eher unter Nervenschwäche leide, wenig zielführend ist. Denn erstens waren die einzelnen Krankheiten in ihren Symptomen und Ätiologien eher diffus als trennscharf umrissen. So unterlag beispielsweise die Hysterie einer »Wandlungsfähigkeit« (Lamott 2001, 79), bei der die »Symptome sich mimetisch den jeweiligen Verhältnissen anschmiegen« (ebd.).47 Zweitens wurde »die Hysterie in die Reihe der funktionellen Nervenkrankheiten eingeordnet« (Schaps 1992, 64), weshalb eine Abgrenzung der Hysterie vom Oberbegriff der Nervenkrankheit wenig Sinn macht.48 Drittens gibt Fontanes Roman in diesem Punkt ohnehin widersprüchliche Signale, indem der Erzähler einerseits die »hysterischen Paroxismen« (CE 131) erwähnt, während er aber andererseits einige der als typisch geltenden Symptome der Hysterie wie beispielsweise das Auftreten von Krämpfen bei Cécile nicht schildert. Statt nun aber diesen scheinbaren Widerspruch mit inter-

46

So konstatiert Sabina Becker pointiert: »Das hysterische Leiden wird im Krankheitsdiskurs der Jahrhundertwende unzweifelhaft mit der weiblichen Sexualität in Verbindung gebracht.« (Becker 2002, 136) Diese Position steht im Einklang mit den Ergebnissen der historischen Arbeiten von unter anderem Schaps 1992, Lamott 2001, Foucault 2008b.

47

Auf die Schwierigkeit einer Unterscheidung geht auch Radkau ein, wenn er für die »Nachbarschaft zwischen Neurasthenie und Hysterie« (Radkau 1998, 134) konstatiert: »Je mehr die Reizbarkeit ins Zentrum des Neurastheniekonzepts rückte [...] desto fließender wurde die Grenze zur Hysterie.« (ebd.)

48

Diese Unterscheidung nimmt etwa Haberer vor: »Auch die Symptome, die Cécile aufweist, lassen weit mehr auf Nervenschwäche als auf Hysterie schließen.« (Haberer 2012, 144) Eine Unterscheidung wäre, wenn überhaupt, nur zwischen Neurasthenie und Hysterie möglich, ist aber auch hier aufgrund der mangelnden Trennschärfe dieser Krankheiten und ihrer sich wandelnden Symptome problematisch.

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pretatorischer Gewaltsamkeit auflösen zu wollen, sollte man ihn besser in seiner Funktion für den Text ernst nehmen. Offenbar ist das im Roman geschilderte Krankheitsbild Céciles genauso verworren und unscharf, wie auch die zeitgenössischen Vorstellungen über die weiblichen Nervenkrankheiten verworren und unscharf waren. Von dieser Beobachtung ausgehend ließe sich überlegen, ob Fontanes Text nicht möglicherweise auch eine Kritik an einer mit diffusen Krankheitsbildern operierenden Pathologisierung von Frauen im 19. Jahrhundert artikuliert. Die Evidenz dieser Pathologisierung ist von Foucault festgestellt und in Zusammenhang mit dem »Sexualitätsdispositiv« (Foucault 2008b, 1108) gebracht worden. Demnach zählte die Hysterisierung der Frauen zu den drei »Technologien des Sexes« (ebd., 1117), die als Instrumente gesellschaftlicher Bio-Politik fungierten: »Die Hysterisierung des weiblichen Körpers ist ein dreifacher Prozeß: der Körper der Frau wurde als ein gänzlich von Sexualität durchdrungener Körper analysiert – qualifiziert und disqualifiziert; aufgrund einer ihm innewohnenden Pathologie wurde dieser Körper in das Feld der medizinischen Praktiken integriert; und schließlich brachte man ihn in Verbindung mit dem Gesellschaftskörper.« (ebd., 1107)

In Cécile finden sich vor allem die ersten beiden Aspekte wieder. Die Verbindung von Sexualisierung und Pathologisierung, die St. Arnaud mit der Erwähnung der Vertebrallinie noch dezent andeutet, kommt am Ende des Romans in Gordons »leidenschaftliche[m]« (CE 162) Plädoyer zum Ausdruck: »Weg damit samt der ganzen Doktorensippe. […]. Was Ihnen fehlt, das ist nicht Luft, das ist Licht, Freiheit, Freude. Sie sind eingeschnürt und eingezwängt, deshalb wird Ihnen das Atmen schwer, deshalb tut Ihnen das Herz weh, und dies eingezwängte Herz, das heilen Sie nicht mit totem Fingerhutkraut. Sie müßten es wieder blühen sehen, rot und lebendig wie damals.« (CE 162)

Welche Freuden Gordons »leidenschaftlich forcierte, werbende Sprache« (Sommer 2011, 80) hier anmahnt, erschließt sich ebenso aus der Bedeutung des »rote[n] Fingerhut[s] als Sexualsymbol« (Weber 1996, 70) wie aus dem Gesamtzusammenhang des Textes: Gordon stellt Cécile nicht weniger als »die Heilung durch sexuelle Erfüllung in Aussicht« (Thomé 1993, 361),49 so, als könne man

49

Auch Tresnak ist der Ansicht, Gordon stelle mit diesen Worten »der Frauenfigur als ›Heilmittel‹ eine Affäre in Aussicht« (Tresnak 2011, 153). Vgl. ferner Weber 1996 und Bontrup 2000.

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ihre Krankheit durch den Geschlechtsakt kurieren. Was aus heutiger Perspektive absurd klingen mag, stand zu Fontanes Zeiten im Einklang mit jenen medizinischen Erklärungsmodellen, welche die Ursachen der Hysterie in der »Nichtbefriedigung des Geschlechtstriebs sahen« (Schaps 1992, 73). Der in dieser Passage geäußerte und aus einem reinen sexuellen Eigeninteresse resultierende Vorschlag Gordons folgt mit anderen Worten implizit der zeitgenössischen Annahme, »daß die Hysterie erotomanische und nymphomanische Züge annehmen konnte« (Lamott 2001, 86).50 Die Verbindung zwischen Céciles Pathologisierung und ihrer im Roman enthüllten Lebensgeschichte wird nun klarer: Als ehemalige Mätresse, als »Favoritin in duplo« (CE 154) und als Entsprechung des Klischees von der sinnlich verführerischen Polin51 avanciert Cécile in den Vorstellungen der männlich dominierte Gesellschaft zum Sinnbild der sexuell hyperaktiven Frau.52 Während diese Vorstellung Gordons sexuelles Interesse an Cécile noch steigert, wird die Protagonistin gerade ihrer angeblichen Lasterhaftigkeit wegen von einem aus ihrem Ehemann und der im Text erwähnten »Doktorensippe« (CE 162) bestehenden Subjektivierungsregime als pathologisches Subjekt positioniert. Das im Roman dargestellte Geschehen bildet damit durchaus die zeitgenössische medizinische Praxis ab, denn um 1900 wurde »jede Abweichung von der normalen Vita sexualis der Frau [...] vor dem Hintergrund der restriktiven Sexualmoral […] als spezifisches Symptom einer hysterischen Erkrankung gewertet« (Lamott 2001, 84).

50

Paradoxerweise wurde in den gleichen Diskursen, wenn auch von anderen Positionen aus, neben der Nymphomanie auch die Frigidität als Erklärung für die Hysterie angeführt. »Sowohl die Nymphomanin als auch die frigide Frau galten als dermaßen von erotischen Phantasien beherrscht, daß diese bisweilen ein zügelloses Ausmaß und die unerhörtesten Dimensionen annehmen konnte.« (Schaps 1992, 79)

51

»Die ›Polin‹ galt im 19. Jahrhundert als Inbegriff der sinnlichen, verführerischen und dabei leicht zu habenden Frau; die generell verbreiteten Klischeevorstellungen von ›slawischer Sinnlichkeit‹ werden vor allem in der Polin hypostasiert.« (Kiefer 2003, 174) Vgl. auch Stephan 1981, 131; Haberer 2012, 127.

52

Die Forschungsliteratur hat bereits hinreichend darauf hingewiesen, dass sich Cécile auch als eine Auseinandersetzung mit Weiblichkeitsimaginationen und Frauenbildern wie beispielsweise dem der femme fragile lesen lässt. Plett kommt gar zu dem Schluss, der Text sei vor allem »ein Roman über Frauenbilder« (Plett 2007, 235). Vgl. ferner Stephan 1981, Jung 1990, Kiefer 2003, Becker 2002, Durzak 2004.

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6.2.6 Therapierung und Medikalisierung Darüber hinaus findet sich in Cécile auch der von Foucault beschriebene Aspekt der Integrierung in das Feld medizinischer Praktiken, der zudem relevant für die Deutung der Suizidmethode ist. Die Protagonistin wird nicht nur als pathologisches Subjekt adressiert, sondern sie wird auch in medizinischen Praktiken therapiert und medikalisiert. So zählt bereits der in der ersten Romanhälfte geschilderte Aufenthalt im Harz zu diesen medizinischen Praktiken. Denn handelt es sich nicht um einen Urlaub oder eine Bildungsreise, sondern um einen Kuraufenthalt in Thale, das als »klimatischer Kurort« (CE 13) ausgewiesen wird. Entsprechend formuliert St. Arnaud auch als Ziel der Reise, Cécile solle »Gesundwerden« (CE 6), zuerst im Harz, später auf Norderney (vgl. CE 117). Beide Orte genießen den Vorzug einer guten »Luft für Nervenkranke« (CE 18). Die mehrfach erwähnte Bedeutung von »frischer Luft« (CE 102) für eine Genesung Céciles rekurriert in diesem Kontext auf die Vorstellung von der großen »Wirkung der Luftheilmethode« (CE 50), mittels derer die Krankheit der Protagonistin therapiert werden soll.53 Zu den medizinischen Praktiken zählt ferner die Ruhigstellung der Protagonistin, welche insbesondere durch Céciles Ehemann forciert wird. Exemplarisch deutlich wird dies, wenn St. Arnaud mahnt: »Du bist angegriffen, Cécile. Ruh dich.« (CE 47)54 Auch hier bildet Fontanes Roman adäquat die medizinischen Gepflogenheiten der Zeit ab, denn bei der Behandlung von Nervenkrankheiten bestand eine gängige Behandlungsmethode in »Isolierung und ununterbrochener Ruhe. Sie wurde bei einer ganzen Reihe von Beschwerden, die alle als ›Erkrankungen der Nerven‹ diagnostiziert wurden, angewandt.« (Ehrenreich/English 1976, 35)55 Die Beherrschung der (weiblichen) Subjekte war nicht der eigentli-

53

Vgl. hierzu die Ausführungen bei Bontrup 2000, 136.

54

Vgl. hierzu ferner: »›Du sollst dich erst ruhen‹«, sagte der Oberst.« (CE 68) Auf der gleichen Seite gibt der Erzähler sowohl Auskunft über die Regelmäßigkeit dieser Ruheforderung St. Arnauds als auch über eine gewisse Widerständigkeit Céciles gegenüber der ihr angetragenen Ruhigstellung: »Die schöne Frau, die regelmäßig anderen Sinnes war, wenn St. Arnaud auf ihr Ruhebedürfnis oder gar auf ihren Schwächezustand hinwies, widersprach auch diesmal.« (ebd.)

55

Was Ehrenreich und English am Beispiel der USA ausführen, lässt sich so auch auf das deutsche Kaiserreich übertragen, denn die europäische Diskussion über Neurasthenie und andere Nervenerkrankungen war stark von der Forschung aus den USA und insbesondere von den rasch übersetzten Arbeiten George Miller Beards beein-

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che Zweck dieser zeitgenössisch-medizinischen Praktiken.56 Dennoch hatte die »Hysterisierung des weiblichen Körpers« (Foucault 2008b, 1106), die den Kontext der Krankengeschichte in Cécile bildet, die Unterdrückung insbesondere der Frauen zur Folge. Wenn Gordon im Einklang mit der Darstellung des Erzählers bemerkt, St. Arnaud mache aus der Nervenkrankheit Céciles »unter Umständen mehr davon als nötig« (CE 53), so evoziert dies zudem den Eindruck, dass St. Arnaud den unterdrückenden Effekt nicht nur in Kauf nimmt, sondern ihn auch strategisch einsetzt. In gleicher Weise fungiert auch die Medikalisierung Céciles als eine im Wesentlichen unterwerfende Praktik. Das der Protagonistin verabreichte Medikament ist das am Ende als Suizidmittel genutzte Digitalis, das bereits im 19. Jahrhundert zur Behandlung von Herzbeschwerden eingesetzt wurde. Dessen Verschreibung kommentiert Cécile mit den Worten »seit gestern aber ist mir auch noch eine Herzkrankheit in aller Form und Feierlichkeit zudiktiert worden« (CE 161). Diagnostiziert wurde diese Beschwerde von dem später erwähnten, sie behandelnden Arzt (vgl. CE 190). Ähnlich wie im Fall der Hysterie ist auch hier die Frage irrelevant, ob Céciles die Krankheit nur zugeschrieben wird, wie es ihre Formulierung, die Krankheit sei ihr »zudiktiert« worden, suggeriert oder ob sie »wirklich krank« (CE 163) ist, wie sie kurz darauf betont.57 Entscheidend ist der durch die Medikalisierung erzeugte Effekt, der wie bei den zuvor genannten Praktiken in einer Positionierung Céciles als krankes und einer besonderen Be-

flusst. Zur Rezeption der amerikanischen Diskussion in Deutschland siehe Radkau 1998, 49-62. 56

Wie Foucault in Der Wille zum Wissen ausführt, bestand der Zweck des »Sexualitätsdispositivs« (2008b, 1119) gerade nicht darin, die Subjekte bloß zu unterdrücken. Vielmehr sei die gesellschaftliche Bio-Politik ein ihrem Wesen nach produktives Instrument der Bio-Macht gewesen, mit welchem die gesellschaftlich dominante Klasse des Bürgertums das Ziel verfolgt habe, »sich einen Körper und eine Sexualität zu geben und sich der Stärke, des Fortbestandes und der Fortpflanzung durch die Organisation eines Sexualiätsdispositivs auf Jahrhunderte hinaus zu versichern« (ebd., 1125). Nicht auf eine Unterdrückung der Lust, sondern auf die Steigerung der Gesundheit des »Klassenkörper[s]« (ebd., 1123) sei also das Sexualitätsdispositiv ausgerichtet gewesen. Dass dieses Dispositiv unterdrückende Effekte erzeugt hat, bestreitet Foucault allerdings nicht.

57

Bontrup geht in ihrer Interpretation noch einen Schritt weiter und deutet die Herzbeschwerden Céciles als eine »iatrogene, also vom Arzt selbst ausgelöste Herzkrankheit« (Bontrup 2000, 163), bei der »ein tatsächliches Herzleiden erst mit dem Medikament ausgelöst« (ebd.) werde.

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handlung bedürftiges Subjekt besteht. Zur Digitalis anzumerken ist, dass dieses Medikament spätestens ab der Mitte des 19. Jahrhunderts in dem Ruf stand, den Puls zu senken, »die Herzenergie zu schwächen« (Dornblüth 1849, 13) und folglich ein wirksames Mittel gegen eine erhöhte Herzfrequenz zu sein. Damit steht diese Art der Medikalisierung erstens im weiteren Kontext des Nervositätsdiskurses, denn das durch dieses Medikament therapierte ›Herzflattern‹ galt als Symptom sowohl der »nervösen Erregungen (Radkau 1998, 102) als auch der Hysterie (vgl. Schaps 1992, 58). Im Zusammenhang mit Hysteriediskurs rückt zweitens auch bei dieser Praktik die Sexualität der Protagonistin in den Fokus. In den zeitgenössischen Diskursen kursierte die Vorstellung, dass sich die sexuelle Überspanntheit der hysterischen Frau in Herzrasen und Herzklopfen äußere.58 Dementsprechend lässt sich Cécile Medikalisierung mit Digitalis also als eine Bekämpfung der Symptome der ihr unterstellten sexuellen Hyperaktivität begreifen, welche sich die Zeitgenossen möglicherweise gar als ein eine Art Sedierung des Geschlechtstriebs vorstellten.59 6.2.7 Der Giftsuizid als gesellschaftliche Anklage und die Entsexualisierung Céciles Nach diesen Betrachtungen zur Subjektivierung Céciles und zu ihrer sozialen Positionierung lässt sich nun genauer erklären, warum sich die Hauptfigur am Ende des Romans das Leben nimmt und auf welche Weise die Ursachen des Suizids die im Text realisierte Todesart beeinflussen. Das im Roman dargestellte Geschehen kulminiert in einem Punkt, an dem Gordons sexuelles eindeutiges und von »Eifersucht« (CE 172) geprägtes Werben um Cécile so offensiv wird, dass sein »unerhörte[s] Benehmen« (CE 175) einen »Affront« (CE 177) auslöst. Als Reaktion auf diese als »Beleidigung« (CE 182) empfundene »Effronterie« (ebd.) fordert der in Ehrenangelegenheiten unnachgiebige St. Arnaud seinen Nebenbuhler auf Pistolen und erschießt diesen. Wenn sich nun Cécile im Zuge dieses Geschehens das Leben nimmt, so geschieht dies nicht in erster Linie aus Trauer um den verstorbenen Gordon, sondern vor allem, weil diese neuerliche Duell-»Affaire« (CE 189) auch ihre eigene soziale Isolierung verfestigt. Wie

58

Vgl. Beard 1881, 62 und Berger 1886, 11.

59

Der auch in Deutschland rasch und breit rezipierte amerikanische Arzt George M. Beard führt Digitalis bei der Auflistung der »Sedativa« (Beard 1885, 151) auf und spricht diesem Mittel nicht nur eine Beruhigung der Herzfrequenz zu, sondern er konstatiert auch direkt eine »calmierende Wirkung auf das Urogenitalsystem« (ebd.).

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oben ausgeführt wurde, ist Céciles noch im letzten Gespräch mit Gordon artikuliertes Bestreben ganz darauf gerichtet, den gesellschaftlichen »Bann« (CE179), mit dem sie ihrer Vergangenheit wegen belegt wurde, aufzuheben. Sie will ihren früheren sozialen Anspruch zurückerlangen (»Ich will ihn aber wieder haben« (ebd.)) und in die adelige Gesellschaft reintegriert werden. Wenn die Protagonistin im Roman ihre gesellschaftlich prekäre Lage erträgt, so geschieht dies halb aus einer Einsicht in die eigene »[S]chuld« (ebd.) am Tod Dzialinskis und halb aus einem »Gefühl der Pflicht« (ebd.) heraus, aber immer in der Hoffnung, eine ihrem Geburtsstand angemessene gesellschaftliche Stellung zurückzuerlangen. Gordons öffentlich in den Zeitungen verkündeter Duell-Tod (vgl. CE 188) markiert mehr als nur einen Rückschlag bei Céciles Versuch, das Stigma ihrer Vergangenheit loszuwerden. Die Ereignisse führen ihr vielmehr auch die Vergeblichkeit ihrer Bemühungen um eine gesellschaftliche Reintegration in die Gesellschaft vor Augen, welche nicht zuletzt auch durch die Flucht St. Arnauds erschwert wird, der sich dauerhaft an die Riviera abgesetzt hat, um einer Festungshaft für das Duell zu entgehen (vgl. CE 189). Die im Roman entworfene Situation der Protagonistin stellt sich schlussendlich als im Grunde auswegloses Dilemma dar. Für ihre früheren Verfehlungen gegenüber den gesellschaftlichen Moralvorstellungen wird Cécile auf doppelte Weise sanktioniert: einerseits indem sie aus der Adelsgesellschaft exkludiert wird und andererseits, indem sie im Zusammenhang mit der Unterstellung einer zügellosen Sexualität als nervös diskreditiert und schließlich als krankes Subjekt positioniert wird. Doch obwohl sich Cécile den Anforderungen des sie als pathologisch adressierenden Subjektivierungsregimes unterwirft, folgt aus dieser Fügsamkeit nicht die angestrebte Reintegration in die adelige Gesellschaft. Im Gegenteil führt diese Pathologisierung in Verbindung mit der zeitgenössischen Vorstellung von der sexuell hyperaktiven Hysterikerin gerade dazu, dass sich Gordons Begehren verstärkt auf Cécile richtet. Ab dem Augenblick, wo er Kenntnis von der »Lebensgeschichte des armen Fräuleins von Zacha« (CE 179) erlangt, wird sein Werben um Cécile offensiv-pietätlos, weil er glaubt, die Vergangenheit der Protagonistin gebe ihm »ein Anrecht auf Forderungen und Rücksichtslosigkeiten« (ebd.). Wie schon Thomé bemerkte, trifft der Text damit »moralkritisch eine Form von Heuchelei« (Thomé 1993, 319). Die angeblich zügellose Sexualität der Hysterikerin wird einerseits pathologisiert und medizinisch bekämpft, während sie andererseits als Projektionsfläche für männliche Sexualphantasien dient. Im Roman wird vorgeführt, wie die Pathologisierung und Unterwerfung Céciles durch ein männliches Subjektivierungsregime letztlich die gleichen Konflikte hervorruft, welche die gesellschaftliche Sanktionierung der Protagonistin erst ausgelöst haben: Wieder ist Cécile der Anlass für einen Eh-

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renhandel, wieder erschießen sich die Männer ihretwillen gegenseitig. In der Tat gilt für Cécile das Dilemma, das bereits Fontane selbst als Interpret seines eigenen Textes auf den Punkt gebracht hat: »Wer mal drin sitzt, gleichviel mit oder ohne Schuld, kommt nicht wieder heraus.« (Fontane 1980, 539) Der einzige Ausweg für die Protagonistin scheint im Suizid zu bestehen. Wenn sich Cécile mit jenem Mittel das Leben nimmt, mit dem sie im Zusammenhang ihrer angeblichen Nervosität medikalisiert wird, so ist dieses Geschehen gleichermaßen kausal wie kompositorisch motiviert. Kausal motiviert erscheint der Tod durch eine Überdosis Digitalis vor dem Hintergrund des geschlossenen Möglichkeitshorizonts der erzählten Welt als die aus der Figurenperspektive Céciles naheliegendste Möglichkeit des Suizids. Das Gift markiert ein bereits in die erzählte Welt eingeführtes, potenziell tödliches Mittel, zu dem die Protagonistin uneingeschränkt Zugang hat. Außerdem war und ist die Vorstellung, Frauen würden beim Suizid die sogenannten weichen Suizidmethoden wie die Vergiftung wählen, weit verbreitet. Die Art und Weise der Selbsttötung steht damit im Einklang mit dem Prinzip der allgemeinen Überzeugung und dürfte bei den zeitgenössischen Lesern Fontanes als realistisch und psychologisch plausibel gegolten haben. Ferner wird durch die gewählte Todesart ein Bezug zwischen dem Tod der Protagonistin und ihrer im Roman geschilderten Pathologisierung hergestellt. Indem Cécile durch das gleiche Medikament stirbt, welches auch zu ihrer Unterwerfung durch ein sie als krank und behandlungsbedürftig adressierenden Subjektivierungsregime dient, wird implizit die Gesellschaft mit in die Verantwortung für ihren Tod genommen. Die Selbsttötung durch Digitalis legt es nahe, den Suizid als das Ergebnis gesellschaftlicher Unterdrückung und Cécile als ein »Opfer der Verhältnisse« (Thomé 1993, 334) zu verstehen. Diese Deutung wird gestützt durch eine Passage aus dem Abschiedsbrief der Protagonistin, in welchem sie die Gesellschaft anklagt und bemängelt, was ihr »die Welt verweigerte: Liebe und Freundschaft« (CE 190). Gleichwohl aber beschränkt sich die Bedeutung der Todesart nicht bloß darauf eine, »Kritik an der medizinischen Therapierung ihres Zustandes« (Bontrup 2000, 178) zu artikulieren. Vielmehr steht die Kritik an der Medikalisierung Céciles pars pro toto für die Kritik am gesellschaftlichen Umgang mit der ehemaligen Fürstenmätresse, denn die Verschreibung von Digitalis markiert nur eine von mehreren Praktiken, mit denen die Hauptfigur gesellschaftlich sanktioniert und als nervöse Hysterikerin sozial positioniert wird. Darüber hinaus realisiert sich in der Suizidmethode auch die in der Literatur traditionsreiche Verbindung von Tod und Eros. Digitalis wird aus dem roten Fingerhut gewonnen (vgl. CE 161), jener Pflanze also, die während des Aufenthalts in Thale mehrfach erwähnt wird und zu deren sexueller Bedeutung bereits

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oben angedeutet wurde, sie stehe bildlich für die erotische Anziehungskraft Céciles und sei ein »Symbol ihrer eigenen Sinnlichkeit« (Tresnak 2011, 210).60 Wenn sich Cécile nun mit dem aus dieser Pflanze gewonnenen Medikament den Tod gibt, so lässt sich diese Engführung von Tod und Eros auch als abschließender Kommentar zur Romanhandlung deuten. Denn es ist gerade das Eros in Form des auf die Protagonistin gerichteten sexuellen Begehrens, aus dem die in Cécile geschilderten Konflikte resultieren, welche schließlich zu Suizid und Duelltod führen.61 Auch die Funktion des eingangs erwähnten Batisttuchs, welches »Kind und Mund« (CE 190) der toten Cécile bedeckt lässt sich im Zusammenhang mit dem Problem des Eros entschlüsseln. Entgegen der Ansicht von Tresnak und Bontrup scheint mir die Funktion dieses Tuchs nicht in erster Linie darin zu bestehen, das »Organ oraler Textproduktion« (Bontrup 2000, 185) Céciles symbolisch zu verdecken und damit »bildhaft ihre Stimmlosigkeit« (Tresnak 2011, 212) zu akzentuieren. Vielmehr fungiert dieses Tuch in der Darstellung eher als eine Art Schleier,62 der Céciles Antlitz und damit ihre mehrfach erwähnte Schönheit (vgl. CE 8, 9) bedeckt, welche im Roman dezidiert mit ihrem »wundervoll geschnittene[n] Profil« (CE 51), also ihrem Gesicht in Verbindung gebracht wird. Es ist vor allem die äußere Attraktivität der Hauptfigur, die das Begehren der männlichen Figuren erweckt, welches Cécile letztlich zum Verhängnis wird. Die (Selbst-)Stilisierung als verschleierte Leiche kann als eine im Tod symbolisch vollzogene Absage Céciles an ihre Erotisierung durch die männlichen Protagonisten gelesen werden. Auf der Ebene der Textkomposition ver-

60

Insgesamt bedient sich Fontane in Cécile der im Grunde konventionellen Farbsymbolik, bei der die rote Farbe für das Eros steht. Zwei Textstellen, an denen dies exemplarisch deutlich wird, sind erstens die bereits erwähnte Vision Cécile, in der sie Gordon in einem »glührote[n] Schein« (CE 131) erblickt, was sich als eine Vorahnung der erotischen Affizierung Gordons durch Cécile deuten lässt. Zweitens fordert Gordon die Protagonistin bei seiner sexuell eindeutigen Umwerbung auf, diese müsse »es wieder blühen sehen, rot und lebendig wie damals« (CE 162).

61

Dieser Kommentar ginge allerdings über die Agentenperspektive der erzählten Welt hinaus und beträfe dementsprechend die kompositorische Motivierung des Suizidgeschehens.

62

Gegen eine Lesart des Tuchs als bloßer Abdeckung des Mundes spricht erstens, dass die immer wieder erwähnte Schönheit Céciles samt der daraus resultierenden Probleme für den Roman von größerer Bedeutung ist als die angebliche Stimmlosigkeit der Protagonistin. Zweitens bedeckt das Tuch nicht nur den Mund Céciles, sondern explizit auch ihr Kinn, was Bontrup und Tresnak in ihren Interpretationen ausblenden.

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weigert Fontanes Text damit zugleich ein Aufgreifen des Topos der schönen weiblichen Leiche.63 Die tote Hauptfigur wird zwar stark stilisiert, aber eben nicht erotisiert dargestellt. In diese Richtung deuten auch die bei der Schilderung des Leichnams erwähnten christlichen Insignien Kreuz und Gebetbuch. Wenn in der kulturellen Tradition die Hure und die Heilige als Gegenpole konstruiert sind, so verorten die religiösen Artefakte die tote Cécile eher auf der Seite der Heiligen.64 Kreuz, Gebetbuch und auch Schleier eignen mit anderen Worten also tendenziell dazu, die Darstellung der toten Cécile zu ent-sexualisieren. Zudem ist noch ein weiterer Punkt an der Schilderung der verstorbenen Hauptfigur bemerkenswert. Die beschriebene Position der Leiche suggeriert in Verbindung mit der zeitgenössischen Vorstellung über die Wirkung einer Überdosis Digitalis, dass Cécile dem Leben ohne größeren Todeskampf entschlafen sei. Diese Deutung fußt auf der Beschreibung ihrer Gesichtszüge, in denen sich »der Ausdruck derer, die dieser Zeitlichkeit müde sind« (CE 190) spiegelt. Diese hier sichtbare Verbindung von Suizid und Müdigkeit65 findet sich in Fontanes Werk in dem drei Jahre nach Cécile erschienenen Roman Stine wieder. Aus dem Vergleich der beiden Texte kann man den Eindruck gewinnen, der relativ sanfte Tod in Folge der Einnahme von Gift sei zumindest bei Fontane die Suizidarten solcher Figuren, die von den Kämpfen ihres Daseins zu Tode erschöpft sind. Die »Lebensmüdigkeit« (Friedrich 1970, 528) Céciles schlägt sich am Ende des Romans nieder in der Wahl einer Suizidart, bei welcher das Subjekt den Verhältnissen, die seine Kräfte aufzehren, buchstäblich entschläft.

63

Vgl. zum Topos der schönen weiblichen Leiche die einschlägige Studie von Bron-

64

Bontrup erkennt hinter der Stilisierung der Leiche Céciles »Intention, als Büßerin

fen 1996. nach dem Vorbild der Heiligen Maria-Magdalena gedeutet zu werden. Diese Heilige, die als Patronin der reuigen Sünderinnen, Verführten und Frauen allgemein gilt, wird in Bildnissen wie die Leiche der Frauenfigur mit den Insignien Kreuz und Buch präsentiert.« (Bontrup 2000, 180) Wenngleich diese Interpretation meine These stützen würde, so ist sie dennoch mit Vorsicht zu genießen. Bontrups Deutung fußt hier auf einer sehr einseitigen Lesart der Maria-Magdalena Ikonographie. Tatsächlich sind die typischen Insignien der Heiligen Totenkopf, Geißel und Salbgefäß (vgl. Wimmer 1982, 553), während ihr in künstlerischen Darstellungen das Kruzifix eher selten zugeordnet wurde. Vgl. Keller 1968, 363. Selten zeigen die Bilder die Heilige auch mit einer Bibel, aber praktisch nie mit einem Gebetbuch. 65

Der schon im ersten Kapitel erwähnte »Mattigkeitsausdruck ihrer Züge« (CE 5) und die Müdigkeit Céciles werden mehrfach thematisiert. Vgl. exemplarisch CE 55, 71.

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6.3 D IE V IRGINIA IM SCHLESISCHEN S ODOM : G ERHART H AUPTMANNS V OR S ONNENAUFGANG In der langen und an bemerkenswerten Ereignissen nicht armen Geschichte des deutschsprachigen Theaters ist wahrscheinlich kaum eine zweite Aufführung mit derartigen Tumulten im Zuschauerraum über die Bühne gegangen, wie die Premiere von Gerhart Hauptmanns Drama Vor Sonnenaufgang am 20. Oktober 1889 am Lessing-Theater zu Berlin. Die chaotischen Szenen dieser Aufführung, die geprägt war von permanenten Zwischenrufen, Getrampel mit den Füßen, höhnischem Gelächter, einer auf die Bühne geworfenen Geburtszange und einem unversöhnlich in zwei Lager gespaltenem Publikum, sind vielfach wissenschaftlich dokumentiert worden.66 Sie verfestigen den Eindruck, an diesem Tage habe sich einer der »größten Skandale der deutschen Theatergeschichte« (Bernhardt 1999, 120) ereignet,67 welcher zugleich den »entscheidenden Durchbruch des Naturalismus im Theater und [...] die feste Etablierung eines bis dahin fast unbekannten Autors als Dramatiker« (Bellmann 1988, 7) mit sich brachte. Vorweggenommen sei gesagt, dass es bei dieser Aufführung sicher nicht die am Ende des Dramas mit einem Hirschfänger vollzogene Selbsttötung der Protagonistin Helene Krause war, an der sich die Gemüter des bereits im zweiten Akt protestierenden, vorwiegend bürgerlichen Premierenpublikums (vgl. Baseler 1993, 84) erhitzten. Die moralische Entrüstung der Zuschauer über diesen dargebotenen »Faustschlag gegen die Gemütlichkeit des bürgerlichen Theatersessels« (Conrad 1990, 67) entzündete sich vielmehr an dem als »abstraktem Tugendbold« (Bernhardt 1999, 144) empfunden Protagonisten Loth und dessen offen artikulierten sozialistischen Ansichten; ferner an einigen poetologischen Kühnheiten Hauptmanns, der in seinem Dramentext vorsah, die Schreie in den Wehen liegender Frauen auf die Bühne zu bringen (vgl. VS 107) und dessen Figuren die fest im bürgerlich-literarischen Kanon verankerten Goethe und Schiller als »tumme Scheißkarle« (VA 36) beschimpfen. Insbesondere aber war es die Darstellung eines verlotterten, von Inzest und Alkoholismus geprägten Milieus,

66

Vgl. zur Darstellung der Ereignisse bei der Uraufführung exemplarisch Niewerth 1997, 214f.; Tschörtner 1986, 13ff.; Conrad 1990, 67ff. und insbesondere die ausführliche Schilderung bei Baseler 1993, 84ff.

67

In ähnlicher Würdigung der Ereignisse spricht Coupe von »one of the most famous nights in the history of the German stage« (Coupe 1977, 13), wobei er allerdings irrtümlich annimmt, die Veranstaltung hätte abends stattgefunden. Tatsächlich begann die Aufführung bereits mittags. Vgl. Baseler 1993, 84.

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welche einen »Sturm sittlicher Entrüstung« (Baseler 1993, 85) entfachte.68 Dass sich das in Vor Sonnenaufgang dargestellte Milieu im Verlauf des Dramas als ein »schlesische[s] Sodom und Gomorrha« (Beßlich 2008, 292) entpuppt, hätte wenigstens den bibelfesten Leser Hauptmanns eigentlich nicht überraschen dürfen. Denn bereits der Name des Protagonisten ›Alfred Loth‹ deutet an, dass der Leser es mit einer Allusion auf die in Genesis 19 erzählte Geschichte von der Vernichtung der sündigen Städte Sodom und Gomorrha zu tun hat. Anders als in der Bibel ist der Loth bei Hauptmann indes kein Einwohner der dem Untergang geweihten Städte. Er kommt vielmehr, wie es Beßlich in Anlehnung Szondis Überlegungen zum modernen Drama formulierte, als »nationalökonomische[r] Bote aus der Fremde« (ebd., 292) von außen ins dargestellte Milieu hinein, um »die hiesigen Verhältnisse« (VS 70) zu studieren. Loths Erscheinen bringt die Handlung des teilweise Züge eines analytischen Dramas annehmenden Schauspiels69 in Gang; sein fluchtartiges Verschwinden von der Bühne im letzten Akt hingegen besiegelt die Katastrophe und den Untergang der Protagonistin Helene, die im Mittelpunkt der nachfolgenden Betrachtungen stehen wird. Über die Bewertung der weiblichen Hauptfigur herrschte in der wissenschaftlichen Diskussion zuweilen Uneinigkeit. In der Rezeptionsgeschichte des Dramas war diese Figur, wie Bellmann abwertend bemerkt, zunächst das »Hätschelkind von Kritikern und Interpreten« (Bellmann 1988, 22). Es bestand längere Zeit ein weitegehender Konsens darüber, dass Helene als Opfer der Verhältnisse und der dogmatischen Ansichten des »bornierte[n] Rassenhygienikers« (Requardt/Machatzke 1980, 144) Loth gedeutet werden müsse. Erst im Zuge der interpretatorischen Rehabilitierung der insbesondere von Hauptmanns Zeitgenossen stark negativ beurteilten Loth-Figur70 wurde vor allem ab den 1980er Jahren das positive Bild der weiblichen Protagonistin teilweise relativiert. Nun galt Helene einigen Interpreten als eine Figur mit »einem geradezu stupenden Mangel an sozialer Aufgeschlossenheit und Sensibilität« (Bellmann 1988, 26) und einem »bornierten Standpunkt der Geistes- und Herzensbildung« (Mittler

68

Baseler zitiert in diesem Zusammenhang den entrüsteten Kommentar eines zeitgenössischen Kritikers: »Das Unsauberste und Ekelhafteste, das Unheiligste und Unkeuscheste wird da auf die Bühne gezerrt. Ein Vater, ein Säufer, der im Rausche seiner Tochter sich unzüchtig nähert, eine Tochter, die den Vater mit thierischen Schimpfnamen belegt, eine Mutter, die im Ehebruche mit dem Verlobten ihrer Tochter lebt.« (Baseler 1993, 103)

69

Zu den Elementen eines analytischen Dramas in Vor Sonnenaufgang vgl. Tempel

70

Vgl. zur zeitgenössischen Beurteilung Loths vor allem Baseler 1993, 106-115.

2010, 42 und Beßlich 2008, 292.

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1985, 218). Gleichwohl konstatierten auch die Vertreter dieser neuen Leseart eine gewisse Deutungsoffenheit dieser Figur. Eine »eindeutige Urteilsbildung über die Konzeption dieser Figur« (Bellmann 1988, 28) sei dementsprechend kaum möglich. Eine Beschäftigung mit der bisher stiefmütterlich behandelten Frage nach der Art und Weise von Helenes Ableben kann möglicherweise einen neuen Impuls für die Deutung dieser Protagonistin liefern. Dabei werde ich im Folgenden die These vertreten, dass die in Vor Sonnenaufgang gewählte Todesart des Erstechens dafür spricht, Helenes Suizid in der Motivtradition von Lucretia und Virginia als einen Akt der Selbstbehauptung des tugendhaften weiblichen Subjekts gegen eine drohende moralische Korrumpierung durch desperate äußere Umstände zu verstehen. 6.3.1 Das Handlungsmilieu zwischen Adelsimitation und »bäurischer Dürftigkeit« Worin aber besteht das Desperate der Umstände, denen die weibliche Hauptfigur ausgesetzt ist? Mit Bezug auf den Figurennamen Loth wurde bereits bemerkt, das Handlungsmilieu entpuppe sich im Laufe des Schauspiels als die Darstellung eines schlesischen Sodom und Gomorrha. Nun spielt die Handlung zweifelsohne im ländlichen »Schlesien« (VS 22). Was aber an den dargestellten sozialen Verhältnissen nicht zuletzt dem zeitgenössischen Theaterpublikum als sittenwidrig erschien, bedarf einer genaueren Erklärung. Grundsätzlich kann man zunächst nicht davon ausgehen, dass um 1900 die Kultur und der Lebensstil der Landbevölkerung bereits per se als moralisch fragwürdig galten. Im Gegenteil waren beispielsweise im Bürgertum neben Negativstereotypen auch Vorstellungen und »Visionen vom reinen schönen Landleben« (Weber-Kellermann 1987, 414) durchaus verbreitet.71 So fehlte es denn auch nicht an zeitgenössischen Stimmen, die Hauptmann vorwarfen, die schlesischen Bauern in seinem Drama in einem

71

Neben der »Negativstilisierung des Bauern als Narr, als tumber Tor, den Freuden der Sinne willfährig ergeben« (Krug-Richter 2001, 94) existierte auch ein »positiv gefärbter Topos« (Achilles 1994, 65), in welchem der Bauer zum »Repräsentanten der edlen aber armen Unterschicht« stilisiert wurde und in welchem das Landleben als eine »farbenfroh-friedliche Idylle« geschildert wurde, »die es in Wirklichkeit nie gab« (Könenkamp 1994, 193). Beide Stereotype bewiesen »im Verlauf von über zweitausend Jahren eine ungebrochene Lebenskraft« (Achilles 1994, 66) und koexistierten dementsprechend auch noch im 19. Jahrhundert.

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allzu schlechten Licht erscheinen zu lassen.72 Tatsächlich ist das rund um die Familie Krause geschilderte Milieu in Vor Sonnenaufgang alles andere als repräsentativ für die tatsächlichen Verhältnisse, unter denen die Mehrheit der schlesischen Landbevölkerung um 1900 zu leben hatte. Was Hauptmanns Drama in bisweilen ironischer Weise zur Darstellung bringt, ist vielmehr der Sonderfall eines durch plötzlichen Wohlstand korrumpierten Milieus, welches, wie schon Niewerth feststellte, »in hohem Maße künstlerisch gestaltet« (Niewerth 1997, 242) ist. Dieses Milieu ist auf kompositorischer Ebene von vornherein als ein Verweis auf Sodom und Gomorrha konzipiert. Wie ich im Folgenden darlegen werde, setzt sich der in diesem Milieu gepflegte Lebensstil zusammen aus Negativstereotypen über die Landbevölkerung einerseits sowie aus der Nachahmung bestimmter, aus bürgerlicher Perspektive als amoralisch erscheinender, Praktiken der Adelskultur andererseits. Zugespitzt formuliert: Was der Leser in Hauptmanns Drama mit der Familie Krause vorgeführt bekommt, sind ungebildete, trunksüchtige Bauern mit zweifelhafter Sexualmoral, die einen für adelig gehaltenen, maßlos-verschwenderischen Lebensstil pflegen. Diesen im Laufe des Dramas immer stärker konturierten Sachverhalt deutet bereits die erste Regieanweisung des Textes an, in der es über das Interieur des Bühnenbilds heißt, hier sei »moderner Luxus auf bäurische Dürftigkeit gepfropft« (VS 7). Das Dürftige an den bäurischen Verhältnissen entpuppt sich im Verlauf des Schauspiels nicht als materieller Mangel, sondern als die »psychische, geistige und moralische Zerrüttung« (Bellmann 1988, 37) einer ganzen Familie. Das komplette Ausmaß dieser Zerrüttung wird dem Leser wie auch Loth erst mit dem Bericht Dr. Schimmelpfennigs im fünften Akt vollends offenbart. Die Exposition hingegen dient – neben der Einführung der Figuren – zunächst vor allem der Darstellung des »moderne[n] Luxus«, in dem die Krauses leben. Dieser Luxus offenbart sich bei genauerer Betrachtung als Nachahmung eines aristokratischen bzw. für aristokratisch gehaltenen Lebensstils und der dazugehörigen Praktiken des Konsumierens, des Sich-Kleidens und des herrschaftlichen Umgangs mit dem Dienstpersonal. Die Orientierung an den Praktiken der

72

Exemplarisch sei hier auf Franz Mehring verwiesen, der aus marxistischer Perspektive Hauptmann vorwarf: »Gegenüber den Millionen von Bauern, die von der kapitalistischen Produktionsweise unmittelbar in den Abgrund geschleudert werden, gibt es nicht hundert Bauern, die von ihr in der von Hauptmann geschilderten Weise mittelbar zu Reichtum gekommen sind. […] Deshalb ist ›Vor Sonnenaufgang‹ ästhetisch ebenso unschön wie unwahr, wie man es aus gleichem Grunde nicht sowohl ein ›soziales‹ als ein ›antisoziales‹ Drama nennen muß.« (Mehring, zitiert nach Reqaurdt/Machatzke1980, 152)

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Adelskultur zeigt sich insbesondere an der Darstellung der für bäuerliche Verhältnisse geradezu phantastisch-extravaganten Konsumgewohnheiten. Das Vorbild für den mit »Delikatessen überladenen Abendtisch« (VS 26), zu welchem Hummer (vgl. VS 20), Sekt und Austern (vgl. VS 21) oder »Champagner aus dem Eiskübel« (VS 26) gehören, wird frühzeitig benannt: »Der Baron Klinkow haben genau dasselbe Buffet.« (VS 28) Mehrfach werden adelige Autoritäten wie »Beron Klinkow« (ebd.) oder »Herr Minister von Schadendorf« (VS 30 u. VS 32) als Orientierungs- und Bezugspunkte für die Ausrichtung des eigenen Lebensstils angeführt. Selbst der maßlose Alkoholkonsum wird von den Protagonisten der Krause-Familie als Nachahmung adeliger Gewohnheiten gerechtfertigt, denn »bei a Adlijen wird doch auch aso viel getrunkʼn« (VS 33). Wenn die Gesellschafterin Frau Spiller an dieser Stelle unter verunglückter Verwendung des geflügelten Wortes ›gentlemanlike‹ bekundet, es sei »Schentelmen leicht, viel Wein zu trinken« (ebd.), so ist dies zugleich ein Beispiel dafür, wie das Kopieren des adeligen Lebensstils durch den Text immer wieder ironisiert und als Dilettantismus entlarvt wird. In ähnlicher Weise desavouiert das Drama auch die Versuche der Figuren, den adeligen Lebensstil in den Praktiken des SichKleidens nachzuahmen. Es entbehrt nicht einer gewissen Komik, wenn Frau Krause, die bei ihrem ersten Auftreten »nicht viel besser als eine Waschfrau gekleidet« ist, zur Abendtafel »furchtbar aufgedonnert« in »Seide und kostbare[m] Schmuck« (VS 27) erscheint um dann im Versuch der Nachahmung vornehmer Etikette lediglich einen »undefinierbaren Knicks« (ebd.) zu Stande zu bringen. Im dramatischen Nebentext wird dieser Auftritt für Leser und Schauspieler in unmissverständlicher Weise als »Hoffart, Dummstolz, unsinnige Eitelkeit« (VS 27) gedeutet. Auch im weiteren Verlauf des Dramas finden sich solche Textstellen, in denen die Versuche einer Kopie des Kleidungsstils der besseren Gesellschaft durch die neureichen Bauern als Dilettantismus desavouiert werden.73 Die Nachahmung des aristokratischen Lebensstils setzt sich fort in der eigentlich nur im Adel üblichen Beschäftigung einer Gesellschafterin74 und gipfelt schließlich

73

So wird auch der als Schwiegersohn vorgesehene Kahl als »plumper Bauernbursch« (VS 27) vorgestellt, »dem man es ansieht, daß er soweit möglich gern den feinen, noch mehr aber den reichen Mann herausstecken möchte«. Ferner tritt Frau Krause im zweiten Akt erneut in unpassender Bekleidung und »überladener Morgentoilette, puterrot im Gesicht« (VS 58) auf.

74

Allerdings ist Frau Spiller eher als die Karikatur einer Gesellschafterin angelegt, was sich nicht nur an dem bereits erwähnten sprachlichen Fauxpas (»schentelman leicht«) zeigt. Schon die einführende Bemerkung im dramatischen Nebentext verleiht dieser Figur einen lächerlichen Anstrich. Frau Spiller ist »klein, schief und mit

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in der aus zeitgenössischer Perspektive geradezu anmaßenden Gewohnheit Frau Krauses, sich von allen Untergebenen als »gnädige Frau« (VS 31) anreden zu lassen. Denn diese Anrede war, wie Weber-Kellermann in ihrer Untersuchung über die Kultur der Landbevölkerung herausstellt, gemäß einer »ausgefeilte[n] Titularordnung« (Weber-Kellermann 1987, 25) ausschließlich den adeligen Gutsbesitzern vorbehalten.75 Die Art, in welcher der verschwenderische Luxus und das vornehme Gebaren der Figuren im Verlauf des Dramas immer wieder durch das tatsächlich völlig unkultiviertes Verhalten der ›plumpen Bauern‹ (vgl. VS 26) konterkariert wird,76 ist allerdings eher grotesk als sittlich anstößig. Was die Witzdorfer Verhältnisse indes nicht nur als komisch, sondern als moralisch korrumpiert erscheinen lässt, ist die Verknüpfung der Schilderung dieses verschwenderischen Lebensstils mit der Darstellung inzestuöser Sexualbeziehungen, exzessiven Alkoholkonsums und einer rücksichtslosen Ausbeutung der minderprivilegierten Landbevölkerung.77 Zwei Aspekte markieren den Reichtum der Krauses als besonders anrüchig. Das sind erstens die zweifelhaften Geschäftspraktiken, mit denen dieser Wohlstand zu Stande gekommen ist. Bereits im ersten Akt erhält der Leser die Infor-

den zurückgelegten Sachen der Frau Krause herausgestutzt. […] Ihr Ausatmen geschieht jedesmal mit einem leisen Stöhnen, welches auch, wenn sie redet, regelmäßig wie ›m‹ hörbar wird« (VS 28), wobei dieses nachgeschobene ›-m-› im Dramentext konsequent realisiert wird. 75

Adelige Gutsbesitzer wurden angesprochen als »›gnädiger Herr, gens Herr, gnädige Frau, gens Frau, gnädiges Fräulein, gnädiger Junger‹; für bürgerliche Rittergutsbesitzer ›hochgeehrter Herr, Madam, Mamsellchen, junger Herr‹; gegenüber den bäuerlichen Gutsbesitzern ›Herrke, Madamke, Mamsellke‹; bei bürgerlichen Hofbesitzern ›Herr, Hochgt, hochgeehrte Frau‹ und bei den gewöhnlichen Bauern ›Wirt, Wirtin‹« (Weber-Kellermann 1987, 25).

76

Zu diesen entlarvenden Darstellungsstrategien des Dramas zählt beispielsweise, dass Frau Krause bei Tisch »mit vollem Munde« (VS 29) spricht und grundsätzlich des Hochdeutschen nicht mächtig ist. Zudem flucht diese Figur mehrfach in schlesischer Mundart auf eine Weise, die von den Zeitgenossen als so anstößig (und entsprechend wenig vornehm) empfunden wurde, dass die entsprechenden Passagen (»Su ane Titte« (VS 37)) aus einigen Theaterausführungen gestrichen wurden. Ähnliche entlarvende Stellen finden sich auch für Kahl, etwa wenn dieser bei Tisch die »Zitrone mit den Zähnen auspreßt« (VS 29).

77

Martin spricht in diesem Zusammenhang von einer »letalen Mischung aus pekuniärem Überfluss, inhumanen Geschäftssinn und barem Stumpfsinn« (Martin 2003, 253).

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mation, Hoffman habe in betrügerischer Art »die hiesigen dummen Bauern beim Champagner überredet, einen Vertrag zu unterzeichnen, in welchem [ihm] der alleinige Verschleiß aller in ihren Gruben geförderten Kohle übertragen worden ist gegen eine Pachtsumme, die fabelhaft gering sein sollte« (VS 18).78 Zweitens korrespondiert dieser verschwenderische Lebensstil mit der Darstellung eines im Grunde tyrannischen und ausbeuterischen Verhaltens der neureichen Bauern gegenüber der minderprivilegierten Landbevölkerung und den eigenen Untergebenen. Was mit der drastischen Abweisung vermeintlicher Bettler im ersten Akt beginnt (vgl. VS 7f.), setzt sich fort mit dem Rauswurf der Magd (vgl. VS 58) sowie der Schilderung des Umgangs der reichen Bauern mit ihren Knechten79 und endet schließlich in der Darstellung des aus existenzieller Not begangenen Milchdiebstahls durch die Kutschenfrau im vierten Akt.80 All diese im Verlauf des Dramas vergebenen Informationen über den Umgang mit den Untergebenen lassen Dr. Schimmelpfennigs Einschätzung, die Witzdorfer Bauern seien »Himmelhunde alle miteinander« (VS 105), als zutreffend erscheinen. Wenn Dr. Schimmelpfennig die Situation in den Witzdorfer Familien überdies am Schluss pointiert als »Suff! Völlerei, Inzucht, und infolge davon – Degenerationen auf der ganzen Linie« (VS 109) zusammenfasst, so haben die vier

78

Die Verifizierung dieser Darstellung erfolgt durch die Reaktion Hoffmanns, der »sichtlich peinlich berührt« (VS 18) ist und daraufhin abrupt das Thema wechselt, wodurch der Leser keinen Anlass hat, den von Loth geschilderten Sachverhalt anzuzweifeln. Ferner wird im Drama angedeutet, dass Hoffmann regelmäßig – dem Motto »eine Hand wäscht die andere« (VS 76) folgend – die Bergbeamten besticht.

79

Helene berichtet von zwei Ereignissen, die dem Leser einen Eindruck vom Umgang der Bauern mit ihren Untergebenen vermitteln. Die erste betrifft die Figur des hinkenden Beibst, der von seinem Herrn, dem Vater von Kahl Wilhelm, verstümmelt wurde. Der alte Bauer »schoß hinter den Handwerksburschen her, die auf den Hof kamen, wenn auch nur in die Luft, um ihnen Schrecken einzujagen. Er war auch sehr jähzornig, wissen Sie; wenn er getrunken hatte, erst recht. Nu hat wohl der Beibst mal gemuckscht, […] und da hat der Bauer die Flinte zu packen gekriegt und ihm eine Ladung gegeben.« (ebd.) Unmittelbar darauf schildert Helene den Fall des Bauern Streckmann. Dieser »läßt seine Knechte hungern und füttert die Hunde mit Konditorzeug« (ebd.).

80

Die Mägde der Krauses vertuschen den Milchdiebstahl aus Verständnis für die als Ungerechtigkeit empfundene Notlage der Diebin: »BEIBST […]. Na! Doa lußt ock de Spillern nee ernt derzunekumma. […] LIESE. Asu a oarm Weib miit achta. AUGUSTE. Acht kleene Bälge! – die wulln laba. LIESE. Nee amool an Truppen Milch tun sʼ er ginn’n….meschant iis doas.« (VS 89)

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vorangegangen Akte dem Leser auch in diesem Punkte wenig Anlass gegeben, dem Urteil des Doktors zu misstrauen. Insbesondere die im Drama allgegenwärtige Trunksucht81 wurde in der Forschungsliteratur zu Vor Sonnenaufgang bereits umfassend untersucht und im Zusammenhang mit zeitgenössischen Vorstellungen über Sozialhygiene und die Vererbbarkeit von Alkoholismus diskutiert.82 Zweifelsohne ist dieses Motiv für das Schauspiel in so weit von Bedeutung, als der Alkoholismus ein wichtiges Element in der Darstellung der Witzdorfer Verhältnisse als schlesisches Sodom und Gomorrha markiert. Ferner hat die bis hin zur Erwähnung eines tödlichen Falls von Kindsalkoholismus (vgl. VS 117) reichende Radikalität dieser literarischen Darstellung von Trunksucht sicher auch ihren Teil zur zeitgenössischen Skandalisierung des Dramas beigetragen. Schließlich fungiert das Motiv der Trunksucht gewiss auch als »Motor des Dramas auf dem Weg in die Katastrophe« (Tempel 2010, 29), denn es sind die im Drama mehrfach angeschnittenen Überlegungen über die Vererbbarkeit von Alkoholismus, die Alfred Loth von einer Verbindung mit Helene Krause Abstand nehmen lassen. Doch wenngleich die Bedeutung dieses Motivs für das Drama insgesamt hier nicht bestritten werden soll, so scheint mir der Aspekt des Alkoholismus gerade für die Frage nach Funktion und Bedeutung der Suizidmethode nur eine untergeordnete Rolle zu spielen. Für die Todesart entscheidender ist die sittliche Gefährdung der Protagonistin, die vor allem im Zusammenhang mit den bereits erwähnten und in Vor Sonnenaufgang mehrfach thematisierten illegitiminzestuösen Sexualbeziehungen im Witzdorfer Milieu steht. Auf allgemeiner Ebene ist auch die Schilderung des seit jeher gesellschaftlich tabuierten Inzests zunächst nur ein weiteres Element, dessen sich Hauptmanns Drama zur Darstellung der sittlichen Verkommenheit des Handlungsmilieus bedient. Als Signum der moralisch korrumpierten Verhältnisse wird der Inzest insbesondere im zweiten Akt thematisiert. Wenn Kahl Wilhelm zu Beginn dieses Akts in Unterwäsche aus dem Haus der Krauses schleicht (vgl. VS 43) und den ihn beobachtenden Knecht Beibst für dessen Stillschweigen bezahlt (»Do hotʼr an Toaler...oaber haltʼt Eure Gusche!« (VS 44)), so kann der Leser an dieser Stelle bereits das Vorliegen eines illegitimen sexuellen Verhältnisses erahnen. Die entscheidenden Informationen zur vollständigen Enthüllung dieses Verhältnisses werden am Ende des gleichen Aktes vergeben, wenn Helene Frau Krause androht, ihre Affäre mit Kahl dem Vater zu entdecken: »Mit Kahl Wil-

81

Eine genaue Aufzählung und Betrachtung aller Passagen des Schauspiels, in denen

82

Vgl. exemplarisch Bellmann 1988, Zimmermann 1995, Bleitner 1999, Beßlich

der Alkoholismus der Figuren thematisiert wird, findet sich bei Tempel 2010, 27ff. 2008,Tempel 2010.

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helm, du! Dein Vetter...mein Bräutjam...Ich bringʼs herum.« (VS 59) Wie an dieser Stelle deutlich wird, hat Hauptmann das Verhältnis zwischen Kahl und Frau Krause als einen dreifachen Verstoß gegen die zeitgenössischen Sittlichkeitsvorstellungen angelegt. Erstens bricht Frau Krause die Ehe; zweitens tut sie dies ausgerechnet mit dem Verlobten ihrer Stieftochter, mit dem sie drittens zudem auch noch verwandt ist. Die Darstellung dieser unsittlichen Verhältnisse rekurriert auf die im Grunde sehr alte Vorstellung vom »groben, der Sinneslust sich freizügig hingebenden Bauern« (Krug-Richter 2001, 94), die bereits im Mittelalter Bestandteil der dörflichen Negativ-Stereotype war. Dieses Klischee gelangte im 19. Jahrhunderts im Zuge der Ausbreitung des Sexualitätsdispositivs, mit dem sich das Bürgertum einen sexuell regulierten, dem Ideal der Mäßigung unterworfenen »Klassenkörper« (Foucault 2008b, 1123) schaffte, zu neuer Konjunktur: »Je stärker die Abstinenz sexueller Sinnlichkeit das Ideal des bürgerlich-respektablen, weißen Mannes konstituierte, desto mehr wurde Triebhaftigkeit all jenen zugeschrieben, die in der modernen Vorstellungswelt dessen Gegenpol verkörperten.« (Planert 2000, 552) Dabei handelte es sich allgemein um Menschen »nicht-bürgerlicher Sozialzugehörigkeit« (ebd.) wobei neben dem Proletariat erneut die bäuerliche Welt als »Ort des Lasters« (Maurer 1996, 376) in die Kritik geriet. Die Klage über ein Ansteigen der Zahl der illegitimen, unehelichen Geburten auf dem Land wurde zur »stereotypen Formel« (Kaschuba/Lipp 1982, 363). Wenn in Vor Sonnenaufgang das Klischee des Bauern als allgemeinem »Sinnbild der geschöpflich-triebhaften Unruhe des entfesselten Menschen« (Martini 1944, 392) mit dem Motiv des Inzest verbunden wird, so war Hauptmann mit dieser Darstellung durchaus auf der Höhe seiner Zeit, in welcher der Inzest vor allem als Problem der unterbürgerlichen (ländlichen) Schichten diskutiert wurde.83 Dieses Stereotyp hatte zumindest insoweit einen Bezug zur Lebenswirklichkeit der Landbevölkerung, als im 19. Jahrhundert tatsächlich die Anzahl illegitimer Kinder auf dem Dorf stark zunahm.84 Darüber hinaus war bis zum Ende des 19. Jahrhunderts in den meisten ländlichen Regio-

83

Wie Foucault bemerkt, setzte am Ende des 19. Jahrhunderts im Zuge der staatlichen »Bio-Politik« (Foucault 2008b, 1123) eine »systematische Jagd auf inzestuöse Praktiken ein, wie sie auf dem Land oder in bestimmten städtischen Milieus üblich waren.« Das auf »die unteren Klassen gerichtete Sexualitätsregime [zielte] auf die Ausschließung der Inzestpraktiken oder zumindest auf ihre Verschiebung in andere Formen« (ebd., 1127f.)

84

Zur Zunahme der Zahl illegitimer Kinder auf dem Dorf vgl. Kaschuba/Lipp 1982, 398-410.

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nen lokale Endogamie an der Tagesordnung,85 d.h. die Heiratskreise blieben oft auf das eigene Dorf beschränkt und die Bevölkerung reproduzierte sich »biologisch im wesentlichen aus sich selbst« (Lipp 1982, 487). Das Motiv des Inzest fungiert in Vor Sonnenaufgang allerdings nicht nur als Illustration der moralisch verdorbenen Zustände in Witzdorf. Die an Helene gerichteten sexuellen Zudringlichkeiten aus der eigenen Familie dienen insbesondere auch dazu, die sittliche und moralische Gefährdung der Protagonistin innerhalb der »Sumpfatmosphäre des Vaterhauses« (Bellmann 1988, 28) darzustellen. Es ist diese moralisch-sittliche Gefährdung Helenes, die – wie ich im Folgenden ausführen werde – nicht nur maßgeblicher Bestandteil der kausalen Motivierung der Selbsttötung ist, sondern die überdies auch im Zusammenhang mit der Bedeutung der im Schauspiel realisierten Suizidmethode steht. 6.3.2 Der Aufstand der Tugend gegen die Verkehrtheit der Verhältnisse Bevor ich mit meinen Betrachtungen fortfahre, möchte ich zunächst das Wesentliche meiner bisherigen Ausführungen zusammenzufassen. Der vorangehende Abschnitt diente dazu, die in der Forschungsliteratur präsente These zu verifizieren, bei dem geschilderten Milieu handle es sich um eine auf Sodom und Gomorrha verweisende Darstellung »unheilbar korrumpierter sozialer Verhältnisse« (ebd., 37f.). Wie sich gezeigt hat, besteht das Charakteristische der Witzdorfer Gegebenheiten erstens in einer Nachahmung des aus bürgerlicher Perspektive als exzessiv-verschwenderisch und damit als amoralisch geltenden Lebensstils des Adels (vgl. Reckwitz 2010, 180), wobei diese versuchte Nachahmung mehrfach als bäurischer Dilettantismus desavouiert wird. Signifikant an dem geschilderten Milieu ist zweitens seine sittliche Verkommenheit, die sich in einem tyrannischen Verhalten gegenüber den Untergebenen, im allgegenwärtigen Alkoholismus und in den bis zum Inzest reichenden sexuellen Ausschweifungen niederschlägt. In dieses soziale Setting ist der zum Suizid Helenes füh-

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Carola Lipp bemerkt zur Logik dieser regionalen Endogamie: »Im Dorf zu bleiben, sich hier einen Partner zu suchen und Kinder zu zeugen, war aus bäuerlicher Sicht die ökonomisch wie sozial sicherste Form der ›Reproduktion‹. Der Grundbesitz blieb erhalten oder konnte sogar vergrößert werden, und auch die psychischen und sozialen Investitionen hielten sich in Grenzen. Man brauchte weder seine wirtschaftlichen noch seine Lebensgewohnheiten wesentlich zu verändern.« (Kaschuba/Lipp 1982, 479) Vgl. zur Üblichkeit der lokalen Endogamie auch Weber-Kellermann 1987, 75.

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rende Konflikt eingebettet. Dieser Konflikt lässt sich, wie ich im Folgenden argumentieren werde, als die Widerständigkeit der Protagonistin gegen die in dem Witzdorfer Milieu forcierte Subjektivierungsweise beschreiben und interpretieren. Bereits die Art, wie diese Figur ins Drama eingeführt wird, markiert Helene als atypisch für das bäurisch-ländliche Handlungsmilieu und hebt sie von den zuvor auftretenden weiblichen Figuren Miele und Frau Krause ab. Sowohl Miele, die »robuste Bauernmagd mit rotem, etwas stumpfsinnigen Gesicht« (VS 7), als auch Frau Krause, »ein Bauernweib […] nicht viel besser als eine Waschfrau gekleidet« (ebd.) werden dem Leser als Bauernfiguren vorgestellt, deren äußerliche Erscheinung in Physiognomie und Kleidung sie ebenso als Angehörige der ländlichen Subjektkultur ausweist, wie ihr Verhalten: Beide sprechen schlesische Mundart und insbesondere Frau Krause fällt durch ihre unhöflichen, dem Negativstereotyp vom ungehobelten, kulturlosen und ungebildeten Bauern86 entsprechenden, Umgangsformen auf. Diese offenbaren sich beispielsweise, wenn sie den als Gast in ihr Haus tretenden Loth als Bettler beschimpft und schreiend ihres Heimes verweisen will. Im Kontrast dazu betritt Helene die Bühne »lesend« (VS 9) und in »moderne[r] Kleidung« (ebd.). Sie spricht Hochdeutsch und zieht sich, als sie bemerkt, dass sich Hoffmann im Gespräch mit Loth befindet, um Verzeihung bittend zurück (vgl. ebd.), beherrscht also bestimmte, als höflichzivilisiert geltende Umgangsformen. Insbesondere im Gegensatz zu Frau Krause erscheint Helene damit zu Beginn des ersten Aktes als geradezu kultiviert. Der einzige schon eingangs gegebene Hinweis darauf, dass auch Helene diesem ländlichen Milieu entstammt, ist die Bemerkung im dramatischen Nebentext, Helenes Aussehen könne trotz der modischen Kleidung »das Bauermädchen nicht ganz [verleugnen]« (ebd.). Gleichwohl erscheint die Protagonistin schon zu Beginn des Dramas als eine Figur, die nicht so recht in dieses bäuerliche Milieu zu passen scheint. Dieser Eindruck wird noch dadurch verstärkt, dass Helene ihrerseits eine distanziert-ablehnende Haltung gegenüber den Verhältnissen in ihrem Heimatdorf erkennen lässt, etwa wenn sie halb ironisch, halb resigniert in einem

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Den Zeitgenossen wie Oswald Spengler galten die Bauern als »unabhängig von aller Kultur« (Uekötter 2010, 55) und schlichtweg dümmlich und ungebildet. Man müsse sich, wie es Carl Fraas 1865 formulierte, eingestehen, »daß es mit dem Denkvermögen von wenigstens der Hälfte unserer Landleute, und zwar der Landbebauer und Viehzüchter insbesondere, noch schlecht genug steht« (Fraas, zit. Nach Uetkötter 2010, 56). Baur bezeichnet dieses Negativstereotyp als das »grobianische Bild des Bauern« (Baur 1978, 69). Vgl. hierzu auch Krug-Richter 2001, 94.

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ihrer ersten gesprochenen Sätze sagt: »Was brauche ich auch unter gebildete Menschen zu kommen! Ich will nur ruhig weiter verbauern.« (VS 19) Eine plausible Erklärung für die hier bereits anklingende und später deutlicher formulierte Unzufriedenheit dieser Figur mit ihrem Dasein im ländlichen Witzdorf wird dem Leser früh angeboten, wenn dieser zeitgleich mit Loth die Information erhält, Helene sei »in Pension gewesen« (VS 25). Die Protagonistin ist nach dem Tod ihrer leiblichen Mutter außerhalb ihres familiären Umfelds aufgewachsen und in einem Mädchenpensionat in Herrnhut, einem der Zentren des Pietismus, erzogen worden. Die dort genossene Erziehung allerdings war eine Erziehung im Geiste der bürgerlichen Subjektkultur, denn die Mädchenpensionate waren Einrichtungen, in die ansonsten die »adligen oder gutsituierten bürgerlichen Töchter« (Wilkending 1999, 43) aufgenommen wurden. Diese Pensionate sollten einerseits die »Töchter des Bürgertums […] auf ihre häusliche Aufgabe in der Familie vorbereiten« (Jacobi 2013, 208) und gleichzeitig »die weibliche Geistes- und Geschmacksbildung« (ebd.) vorantreiben. Dementsprechend gingen die Lehrziele mit der Vermittlung von Kenntnissen beispielsweise in Geographie, Geschichte oder Literatur »in der Regel über den Elementarunterricht hinaus« (Küpper 1987, 182). Helene selbst benennt ihre frühere und für Bauerntöchter völlig untypische Subjektivierung im Pensionat als Ursache dafür, dass sie sich mit den moralisch-sittlichen Zuständen in Witzdorf nicht arrangieren kann: »Hätten sie – mich lieber…mich lieber zu Hause gelassen, dann hätte ich…hätte ich wenigstens – nichts anderes kennengelernt, wäre in dem Sumpf hier auf…aufgewachsen.« (VS 64) Die dergestalt angelegte Biographie der Protagonistin fungiert also als eine plausible Erklärung dafür, dass Helene erstens mit ihrer Situation in Witzdorf unzufrieden ist und sich zweitens als nonkonform mit dem im Elternhaus gepflegten Lebensstil erweist.87 Diese Widerständigkeit und die damit verbundenen Konflikte zeigen sich im Drama an unterschiedlichen Aspekten, die ich im Folgenden holzschnittartig umreißen werde. Ein erster Punkt, an dem die Widerständigkeit Helenes gegen die milieutypische Subjektivierung erkennbar wird, ist die Praktik des Lesens. Zur Lektüre der bereits mit einem Buch in der Hand ins Schauspiel eingeführten Figur zählen die im bürgerlichen Literaturkanon fest verankerten Goethe und Schiller, während ihr Autoren wie Zola und Ibsen zumindest ein Begriff sind. Die Lektüre von

87

Diese Einschätzung teilt Mittler, wenn er bemerkt, »Helene widersteht, weil sie in einem anderen Milieu, der Pension in Herrnhut, erzogen wurde« (Mittler 1985, 213). Auch Bellmann ist der Ansicht, die »außerfamiliäre Erziehung« im pietistisch geprägten Herrnhut erkläre, warum Helene »dem Alkohol nicht verfallen ist« (Bellmann 1988, 23).

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Dramen und Romanen war um 1900 eine Praktik, die in erster Linie für das Bürgertum von Bedeutung war, in dessen Geiste Helene im Mädchenpensionat erzogen wurde. In den ländlichen Subjektkulturen spielte die Praktik der Lektüre hingegen kaum eine Rolle. Der »Mangel an Bildung« (Weber-Kellermann 1987, 29) in der Landbevölkerung war nicht nur ein Gemeinplatz der zeitgenössischen Bauernstereotype, sondern er entsprach durchaus den tatsächlichen Gegebenheiten auf dem Land, wo die Schulverhältnisse noch bis weit nach 1850 gebietsweise verheerend waren (vgl. ebd., 107). Die in den Dorfschulen angeleitete Lektüre umfasste bestenfalls noch die Bibel, allerdings nicht die literarischen Werke der ›Hochkultur‹. Aus Perspektive des speziell durch Frau Krause vertretenen, ländlichen Subjektivierungsregimes sind diese bürgerlichen Lektürepraktiken Helenes nicht nur unnütz, sondern geradezu schädlich: »Oaber da Schillerich, oaber a Gethemoan, asu ›ne tumme Scheißkarle, die de nischt kinnʼn als lieja: vu danʼn läßt se sich a Kupp verdrehn« (VS 36). Die Ablehnung dieser als Ursache für Helenes Aufsässigkeit identifizierten, wortwörtlichen Selbstbildung reicht bis zur aktiven Unterbindung der Lektüre, etwa wenn Frau Krause ihrer Schwiegertochter »den ›Werther‹ aus der Hand« (VS 51) reißt. Die Divergenz zwischen Helene und den übrigen Figuren zeigt sich allerdings nicht nur an der Aneignung milieuuntypischer Praktiken wie der Lektüre von literarischen Werken, sondern andersherum auch daran, dass Helene in der Aneignung der in ihrem Elternhaus gängigen Praktiken noch irritierbar ist, wie am Beispiel des Alkoholkonsums deutlich wird. Während alle übrigen Familienmitglieder unbeirrbar und unbeeindruckt von Loths Vortrag über die Vererbbarkeit des Alkoholismus (vgl. VS 35) weiter ihre Gläser erheben und anstoßen (vgl. VS 37), zeigen seine wissenschaftlichen Ausführungen (vgl. VS 35) bei Helene Wirkung. Als einzige der Figuren setzt sie sich nachfragend mit Loths Position auseinander (»Ach! So etwas vererbt sich?« (VS 36)) und verbittet sich unter dem Eindruck des Vortrags schließlich ein Nachfüllen ihres Glases. Die Widerständigkeit Helenes gegen die im Witzdorfer Milieu üblichen Gepflogenheiten wird auch daran deutlich, dass sie sich offen gegen die als ungerecht empfundene Behandlung des Dienstpersonals auflehnt. Wiederum unter dem Eindruck eines Gesprächs mit Loth, das sich um die »Verkehrtheit unserer Verhältnisse« (VS 53) dreht, zwingt Helene Frau Krause dazu, von der Entlassung der bei einer Liaison mit dem Grußknecht ertappten Magd Abstand zu nehmen: »Gut! Dann will ich dem Vater erzählen, daß du mit Kahl Wilhelm die Nächte ebenso verbringst.« (VS 59) Zum Teil wurde in der Forschungsliteratur argumentiert, Helenes widerspenstige Haltung gegenüber ihrer Familie diene vor allem dazu, »to draw Lothʼs attention to her« (Coupe 1977, 16) und sei eine opportunistische Anbiederung an Loth. Zwei Aspekte sprechen allerdings dagegen.

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Erstens beklagt sie sich über ihr »verbauern« (VS 39) schon vor der eigentlichen Bekanntschaft mit Loth und zweitens lehnt sie sich auch dann gegen die Verhältnisse im Elternhaus auf, wenn Loth nicht als Zeuge zugegen ist. Letzteres gilt insbesondere für Helenes entschiedene Zurückweisung der intimen Annäherungsversuche ihres Schwagers Hoffmann im dritten Akt. Die Weigerung, mit Hoffmann den Ehebruch zu vollziehen, ist das hinsichtlich der Bedeutung der Suizidmethode wichtigste Beispiel für die Widerständigkeit der Protagonistin gegenüber den Witzdorfer Verhältnissen. Diese dargestellten Verhältnisse zeichnen sich im Hinblick auf die Sexualpraktiken gerade durch eine Abweichung von der bürgerlichen Normvorstellung aus, welche für die Auslebung der Sexualität das Modell der monogamen Ehe vorsah. Im Handlungsmilieu hingegen sind außereheliche und inzestuöse Sexualbeziehungen an der Tagesordnung, was der Leser spätestens am Ende des zweiten Aktes erahnen kann, wenn der Sachverhalt von der »ehebrecherische[n] Stiefmutter, die [Helene] an ihren Galan verkuppeln möchte« (VS 63), offengelegt wird. Das zunächst für sich stehende Beispiel der Krause-Familie wird am Ende des Schauspiels von Dr. Schimmelpfennig zum Normalfall innerhalb des Witzdorfer Milieu erklärt, wenn dieser zusammenfassend von »Inzucht […] auf der ganzen Linie spricht« (VS 117). Die Darstellung eines ländliche-Milieus, in dem außereheliche und inzestuöse Beziehungen zur normalen Sexualpraxis gehören, knüpft an das zeitgenössisch durchaus noch präsente Stereotyp des sexuell ungezügelten, »den Freuden der Sinne willfährig ergeben« (Krug-Richter 2001, 92) Bauern an. Diesem Stereotyp von der Triebhaftigkeit der Landbevölkerung korrespondiert in Vor Sonnenaufgang die Darstellung von Vätern, die »unzüchtig« (VS 43) nach ihren Töchtern greifen und von Ehemännern, die ihre Schwägerinnen zum Geschlechtsverkehr überreden wollen, während ihre Frauen hochschwanger das Bett hüten (vgl. VS 65). Innerhalb des dargestellten Milieus erscheinen derartige Ausprägungen der Sexualität als Normalfall. Dabei kann, wie nicht zuletzt die Reaktion des Premierenpublikums zeigt, kein Zweifel darüber bestehen, dass diese geschilderten Verhältnisse mindestens dem zeitgenössisch-bürgerlichen Publikum als in hohem Maße unsittlich gegolten haben. Wenn nun Helene diese Verhältnisse kritisiert und als »Sumpf« (VS 64) anprangert, wenn sie überdies die unsittlichen Annäherungsversuche ihres Schwagers zurückweist und ihm vorhält, er sei »der Schlechtʼste von allen hier! […] Gegen dich gehalten sind sie Lämmer, alle miteinander« (VS 66), so fungiert diese Widerständigkeit gegen die milieutypischen Gepflogenheiten gerade als Ausweis ihrer Tugendhaftigkeit. Gemessen an den zeitgenössischen Vorstellungen ist Helene die einzig sittliche und moralische Figur unter den Witzdorfer Bauern. Es ist gerade diese innerhalb

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des ländlichen Milieus gefährdete Tugendhaftigkeit der Protagonistin, die im Zentrum des suizidalen Konflikts steht. 6.3.3 Die Gefährdung des moralischen Subjekts Zutreffend formulierte Guthke bereits 1980, was innerhalb des Dramas auf dem Spiel stehe, sei die »Rettung der mädchenhaft unschuldigen […] Helene aus dem sicheren Verderben« (Guthke 1980, 73). Tatsächlich wird schon früh deutlich, dass Helene innerhalb dieses Milieus mit verschiedenen Zumutungen konfrontiert ist, die ihre Integrität als moralisches Subjekt in Frage stellen. Ihre Familie will sie mit dem dümmlichen und sadistischen Tierquäler Kahl verheiraten, für den Helene augenscheinlich keine Sympathie hegt (vgl. VS 39). Von ihrer Stiefmutter wird Helene gegängelt, von ihrem Vater mit unzüchtigen Griffen sexuell belästigt und ihr Schwager Hoffmann versucht, ihren Kummer auszunutzen, indem er sie verführt. Wie sehr Helene ihre Situation als unzumutbar empfindet, kommt in ihrer Klage zu Beginn des dritten Aktes zum Ausdruck: »Dieses ganze Dasein überhaupt. – Nein – ! ich sehe nicht ein, wer mich zwingen kann, durchaus schlecht zu werden. Ich gehe fort! Ich renne fort – und wenn ihr mich nicht loslaßt, dann…Strick, Messer, Revolver!...mir egal! – ich will nicht auch zum Branntwein greifen wie meine Schwester.« (VS 63)

Neben der Artikulation des Unmuts über ihre Situation werden in dieser Passage vor allem drei alternative Möglichkeiten für die Lösung des dramatischen Konflikts in Aussicht gestellt: Die Flucht aus Witzdorf, die Anpassung an das Milieu, für die der Griff zum Branntwein als pars pro toto steht, und schließlich die Selbsttötung. Alle Optionen aber implizieren eine radikale Veränderung des Status Quo. Auf Dauer erscheint es für Helene unmöglich, sich weiterhin innerhalb des Milieus als moralisches Subjekt zu behaupten, ohne von den dortigen Verhältnissen korrumpiert zu werden. Was im weiteren Verlauf des Dramas durchgespielt wird, ist die Möglichkeit einer Loslösung Helenes von ihrer Familie, welche als einzige der genannten Optionen einen glücklichen Ausgang der Handlung verheißt. Die Chance auf ein Entkommen aus den korrumpierenden Verhältnissen ist für Helene untrennbar geknüpft an eine gemeinsame Zukunft mit Loth, mit dem sie Witzdorf verlassen will. 88 Wenn sie ihm gegenüber zunächst bekundet, sie wäre sicher »umgekom-

88

Noch im fünften Akt bekräftigt Helene ihre Absicht, mit Loth aus Witzdorf abzureisen: »Dann sollten wir bald von hier fortgehen. Gleich! Auf der Stelle!« (VS 111),

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men ohne dich« (VS 96) und ihn später drängt: »Wir dürfen nicht warten! Es ist das Beste – für dich und mich. Wenn du mich nicht jetzt bald nimmst, […] dann…muß ich doch noch zugrunde gehen« (VS 111), so wird daran deutlich, dass sich Helene von Loth in der Tat nicht weniger als die »Errettung aus dem furchtbaren Milieu erhofft« (Tschörtner 1986, 11). Während dieser Fluchtplan aus der Agentenperspektive der handelnden Figuren umsetzbar erscheint, kann der Leser bereits frühzeitig erahnen, woran dieser in Aussicht gestellte, glückliche Ausgang des Schauspiels schlussendlich scheitern wird. Für Loth, der an die Vererbbarkeit des Alkoholismus glaubt, ist die Erbgesundheit seiner zukünftigen Braut »conditio sine qua non« (VS 74). Eine Liaison mit Helene kommt für ihn daher auch nur so lange in Frage, wie er keine Kenntnis davon hat, dass diese einer »Potatorenfamilie« (VS 118) entstammt. Der Leser hingegen erhält diese wichtige Information bereits frühzeitig. Wenn dementsprechend »zwar nicht Loth, aber der Zuschauer weiß, daß die Krauses in schwerster Form durch Trunksucht belastet sind« (Guthke 1980, 78), so liegt hier eine Form dramatischer Ironie vor.89 Loths Entscheidung, Helene zu verlassen, ist von Kritikern und Interpreten zum Teil als »unverständlich und verfehlt« (Szondi 1978, 63) bzw. als »aufgezwungen« (Osborne 1970, 123) und kausal ungenügend motiviert empfunden worden.90 Auch wurde argumentiert, Loth irre mit seiner Einschät-

während sie gleichzeitig keinen Hehl daraus macht, welche Konsequenzen eine Trennung von Loth hätte: »Alles ist aus, alles, wenn du einmal ohne mich von hier fortgehst.« (ebd.) 89

Zudem ist hier Zimmermann zuzustimmen, wenn dieser konstatiert, Helene verstricke sich in »tragische Schuld« (Zimmermann 1995, 507), welche darin besteht, dass sie im intimen Gespräch mit Loth die Trunksucht ihres Vaters aus Angst und Schamgefühl verschweigt: »Nein! Es geht nicht! Ich habe noch nicht die Kraft-esdir…[…] Ich schäme mich so bodenlos! – Du…du wirst mich fortstoßen, fortjagen…!« (VS 97)

90

Peter Szondi vertritt mit Blick auf das Ende des Dramas die These: »Was am Schluss die Züge Loths verzerrt, liegt in der Konsequenz nicht seines thematischen Charakters, sondern seiner formalen Funktion. […] Es verlangt die Form eines Dramas, das durch den Besuch eines Fremden ermöglicht wird, daß dieser zum Schluss wieder von der Bühne abtrete.« (Szondi 1978, 63f.) Was Szondi hier mit anderen Worten plausibel anmerkt ist, dass Loths Verschwinden aus Witzdorf in erster Linie kompositorisch motiviert und durch die Form des Dramas vorgegeben ist. Die Kritik an der Unverständlichkeit dieses Verschwindens bezieht sich dementsprechend dann darauf, dass diese kompositorische Motivierung nicht durch eine als genügend plausibel empfundene, kausale Motivierung überdeckt wird.

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zung und Helene sei selbst »nach den anfechtbaren theoretischen Anschauungen des Sozialhygienikers Loth völlig erbgesund« (Zimmermann 1995, 505). Für die Bedeutung der Suizidmethode ist dieser Diskussionszusammenhang aber weitgehend irrelevant, denn es zählt einzig das Ergebnis: Durch Loths abruptes Verschwinden zerrinnt Helenes »Zukunftsperspektive, dem drückenden Milieu zu entkommen« (Meier 2005, 65). Damit ist die kausale Motivierung für den kompositorisch von Beginn an angelegten und längst vorbereiteten91 Suizid der Protagonistin entfaltet. Helene steht auf der Handlungsebene der erzählten Welt nun nur noch vor der Wahl, sich entweder das Leben zu nehmen oder sich von den desperaten Verhältnissen im heimatlichen Milieu moralisch korrumpieren zu lassen. Enggeführt wird diese ausweglose Situation am Ende auf den Aspekt der sexuellen Bedrängung der Protagonistin. Nicht zufällig endet das Drama mit dem Ruf »Hoa iich nee a poar hibsche Töchter?« (VS 124) des sich lüstern nähernden, volltrunkenen Vaters, der die Protagonistin bereits im zweiten Akt unter Ausrufung der fast gleichen Worte92 unsittlich bedrängt hat. Die in der »unkommentierten Parallelschaltung von Selbstmordentschluss und Heimkehr« (Meier 2005, 61) des lüsternen Alkoholikers indirekt angedeutete Gefährdung Helenes wird auch explizit formuliert. Mit Blick auf Hoffmann, dem attestiert wird, er sei »zu allem […] fähig, wenn für ihn ein Vergnügen dabei herausspringt« (VS 119), sind sich Loth und Schimmelpfennig über die Bedrohung, die von ihm für Helenes sittliche Integrität ausgeht, einig: »Auf diese Weise wird sie doch unfehlbar seine Beute.« (VS 120) Mit der Bezeichnung Helenes als »Beute« erschließt sich zudem an dieser Stelle die Bedeutung des schon zuvor im Drama anklingenden Jagdmotivs,93 dessen Funktion in einer metaphorischen Positionierung der Protagonisten zueinander besteht. Gegenüber den männlichen Figuren des Witzdorfer Milieus, die wie der »passionierte, aber ganz und gar unwaidgerechte« (Delbrück 1995, 518) Kahl die Rolle der Jäger einnehmen, besetzt Helene die Position der zu erlegen-

91

Zur Frage, wie der Suizid im Verlauf des Dramas vorbereitet wird, vgl. Requardt/Machatzke 1980, 147, Bellmann 1988, 33 und insbesondere Meier 2005, 54ff.

92

»Hoa iich nee a poar hibsche Madel?« (VS 42)

93

Das Motiv taucht im Zusammenhang mit Kahl Wilhelm auf, dessen zweifelhafte Jagdpraktiken bei der Tischrunde im ersten Akt kontrovers diskutiert werden. Vgl. VS 30. Ein indirekter Bezug zwischen der Jagd auf Wild und der Jagd nach sexuellen Affären wird ebenfalls früh in dem zitierten Ausspruch »Wald, Wild, Weib« (ebd.) angedeutet. Zur Bedeutung des Jagdmotivs vgl. Meier 2005, 56 und Delbrück 1995, 518ff.

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den Jagdbeute. Dieser Beute stellen Kahl, Hoffmann und der trunksüchtige Bauer Krause nach, wobei sich die sinnbildliche Jagd auf Helene vor allem in den sexuellen Zudringlichkeiten manifestiert, denen die Protagonistin durch diese Figuren ausgesetzt ist. Zwischen dieser Hatz auf die Protagonistin und ihrem Suizid stellt der Text in der Darstellung der Selbsttötung einen Bezug her, indem sich Helene ausgerechnet mit einem Hirschfänger ersticht, also mit jener Waffe, mit dem der Jäger das Wild zur Strecke bringt. Gleichwohl aber erschöpft sich in dem Aufgreifen des Jagdmotivs noch nicht die ganze Funktion bzw. Bedeutung der Todesart. 6.3.4 Ein Suizid in der Tradition der tugendhaften Vorbilder Zusammenfassend betrachtet handelt es sich bei Helenes Suizid nicht vorrangig um einen Liebestod aus Kummer über den Abschied von Loth, sondern um einen Akt der Selbstbehauptung gegen desperate Umstände, der in dem Augenblick notwendig wird, in dem durch Loths Verschwinden ein Entkommen aus Witzdorf für Helene unmöglich geworden ist.94 Ihr Suizid ist damit, wie Niewerth es formuliert, ein »Akt der Befreiung aus den Verstrickungen des Milieus« (Niewerth 1997, 244), in welchem Helenes Perspektive lediglich noch darin besteht, zur »Beute« (VS 120) ihres lüsternen Schwagers und zur Ehefrau des sadistischtumben Wilhelm Kahl zu werden, um schließlich irgendwann »zum Branntwein [zu] greifen wie [ihre] Schwester« (VS 62). Mit anderen Worten: Innerhalb dieses als Sodom und Gomorrha dargestellten Milieus erscheint es für Helene unmöglich, nicht von den sozialen Verhältnissen korrumpiert zu werden. Sie kann nicht das moralische Subjekt bleiben, als das sie von Hauptmanns Zeitgenossen verstanden wurde. Der einzige Ausweg besteht in ihrer Selbsttötung, welche Sprengel mit einer gewissen Berechtigung als Darstellung eines Siegs der »Autonomie des Subjekts […] über den Zwang der Verhältnisse« (Sprengel 1984, 74) feiert. Diese Konfiguration, bei der eine weibliche Figur ihre durch desperate Umstände bedrohte (sittliche und moralische) Tugendhaftigkeit nur noch bewahren kann, indem sie bewusst ihren eigenen Tod herbeiführt, ist literarisch in den sich ähnelnden Motiven von Lucretia und Virginia95 vorgeprägt. Beiden Motiven macht Hauptmanns Drama eine Referenz, die allerdings in der Forschungslitera-

94

Ähnlich hierzu, Meier: »Sicher liegt in Helenes Selbstmord kein reiner Liebesselbstmord vor […], zur Selbsttötung führt weit mehr die […] zerronene Zukunftsperspektive, dem drückenden Milieu zu entkommen.« (Meier 2005, 65)

95

Zu den Stoffen von Lucretia und Virginia vgl. Frenzel 1998, 471-475 (Lucretia) sowie ebd., 814-817 (Virginia).

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tur bisher noch nicht gewürdigt wurde. Dabei ist der Bezug von Hauptmanns Drama zur wohl bekanntesten deutschsprachigen Umsetzung des VirginiaMotivs, zu Lessings Emilia Galotti,96 in der Forschung bereits vielfach angemerkt worden.97 Schon Osborne kam zu dem Schluss, »Heleneʼs situation vis à vis Hoffmann resembles that of Emilia Galotti vis à vis the Prince towards the end of Lessingʼ play« (Osborne 1970, 124) und Bellmann ergänzte, durch die »Erwähnung der Werther-Lektüre Helenes, drei Tage vor ihrem Tode [wird] der gleiche Verweiszusammenhang hergestellt […] wie durch den Hinweis auf Werthers Lektüre der Emilia Galotti« (Bellmann 1988, 31). Worin sich Hauptmanns Helene indes von Virginia unterscheidet und eher Lucretia ähnelt, ist der Umstand, dass sie sich eigenhändig das Leben nimmt und dies nicht, wie in Emilia Galotti, dem Vater überlässt. Der für die hier untersuchte Fragestellung entscheidende Punkt aber ist, dass in beiden Motivtraditionen der Tod jeweils auf die gleiche Weise herbeigeführt wird wie in Vor Sonnenaufgang: Die tugendhafte Frau, die den korrumpierenden Verhältnissen nur noch durch ihre eigene Selbstauslöschung entkommen kann, stirbt am Ende durch das Messer oder den Dolch. Dieser Tod durch die blanke Waffe galt im kulturellen Wissen des Okzidents seit der Antike als Suizidart mit einer »hohen Würde« (Minois 1996, 161), wie man sie über Jahrhunderte den als »heroischen Selbstmorde« (ebd., 86) gefeierten Selbsttötungen von Cato, Cassius und eben Lucretia attestierte. Wenn Minois für das Theater der Früh-Renaissance konstatiert, »der Tod durch Erhängen ist immer entehrend, der Selbstmord durch das Schwert dagegen edel« (ebd., 101), so gilt die heroisch-positive Konnotation dieser Suizidmethode auch für die wichtigsten Adaptionen des Lucretia-Motivs. Wenn sich die Heldin in Hauptmanns Schauspiel also am Ende nicht nur in einer ähnlichen Zwangslage befindet, wie Lucretia und Virginia, sondern sich auch auf die gleiche als edel geltende Weise den Tod gibt, so wird dadurch ein intertextueller Bezug zwischen Helene und den zum bewunderten Vorbild weiblicher Tugendhaftigkeit avancierten (vgl. Minois 1996, 123) Frauenfiguren hergestellt. Dieser Bezug, der über die Grenzen der erzählten Welt hinausgeht, ist kompositorisch motiviert und fungiert als eine Art finaler Textkommentar zur Protagonistin und zu ihrer suizidalen Tat. Anders formuliert erzeugt die Todesart der Hauptfigur einen semantischen Mehrwert, der dem Leser eine bestimmte

96

Zur Adaption des Virginia-Motivs in Lessings Emilia Galotti vgl. den Aufsatz von

97

Schon 1995 sprach Delbrück von einer »längst von der Forschung festgehaltenen

Müller 1987. Parallele zwischen Helenas [sic!] Tod und dem der Emilia Galotti« (Delbrück 1995, 519). Vgl. hierzu auch Whitinger 1990, 86.

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Deutung der Protagonisten und ihrer Selbsttötung anempfiehlt: Ihr Suizid durch den als edel geltenden Dolchstoß legt es nahe, Helene als die Darstellung einer tugendhaften Protagonistin in der Tradition Virginias und Lucretias zu verstehen. Dafür spricht nicht zuletzt die Tatsache, dass sich Hauptmanns Protagonistin vor ihrer Selbsttötung in einem vergleichbaren moralischen Dilemma befindet wie die antiken Vorbilder. Dieses Dilemma der von Männern verfolgten, tugendhaften Heldin wird durch die im Hirschfänger realisierte Verknüpfung des Suizids mit dem Motiv der Jagd zusätzlich betont. Diese Lesart wird am Schluss des Dramas noch gestärkt durch die Parallelführung des Suizidgeschehens mit der Heimkehr des betrunkenen und lüsternen Bauern Krause. Auf dessen mit sexuellen Implikationen versehenen Ruf »Dohie hä, biin iich nee a hibscher Moan?« (VS 123) hin springt Helene »wie auf ein Signal« (ebd.) auf und verschwindet von der Bühne, um sich das Leben zu nehmen. Dabei wird in Vor Sonnenaufgang nicht nur auf die direkte Darstellung der Selbsttötung verzichtet, sondern auch auf die Zurschaustellung des Leichnams. Obwohl das Erstechen ein absolut bühnentauglicher Tod mit langer Theatertradition ist, vermeidet es Hauptmanns Drama damit, Helene in ästhetisierter oder gar erotisierter Weise als schöne weibliche Leiche (vgl. Bronfen 1996) dem Blick des Publikums preiszugeben. Als Symptom für den Vollzug des Suizids fungiert am Ende des Textes insbesondere das Verhalten der Dienstmagd, welche mit den »Zeichen eines wahnsinnigen Schrecks« (VS 123) aus dem Raum kommt, in den Helene kurz zuvor mit dem Hirschfänger in der Hand verschwunden ist. Ferner heißt es im Nebentext, die Magd drehe sich nach der Entdeckung schreiend »zwei-drei mal um sich selber« (ebd.) bevor sie mit »ununterbrochene[m] Schreien« von der Bühne stürmt. Diese entsetze Reaktion legt es dem Leser/Zuschauer nahe, sich Helenes mit einer martialischen Waffe wie dem Hirschfänger vollzogenen Suizid als brutale und blutige Selbstentleibung vorzustellen, deren Ergebnis gerade nicht ein schöner weiblicher Leichnam wäre.98 Im Zusammenhang mit den Ursachen des Suizids lässt sich dies als Verweigerung einer sexualisierten Darstellung der toten Frau deuten,99 die ja nicht zuletzt deshalb Suizid begeht, weil sie von lüsternen Männerfiguren mit eindeutig sexuellen Absichten buchstäblich in

98

Die Reaktion der Dienstmagd evoziert eine Drastik des Suizids, die rein theaterpraktisch kaum in der gleichen Weise auf die Bühne zu bringen wäre: Gerade weil er die Selbsttötung nicht direkt zu Gesicht bekommt, ist es dem Leser/Zuschauer möglich, sich den Suizid als noch drastischer und brutaler Vorzustellen, als dieser auf der Bühne mit Kunstblut und Theaterdolch jemals dargestellt werden könnte.

99

Womit sich Hauptmanns Drama zum Beispiel von der Suiziddarstellung in Kellers Regine unterscheidet.

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den Tod getrieben wird. Wenn aber dieses brutale Ableben der Protagonistin zugleich auf die tugendhafte Vorbilder Lucretia und Virginia verweist, so scheint mir die eindeutige Bewertung dieser Figur nicht ganz so unmöglich zu sein, wie dies teilweise behauptet wurde (vgl. Bellmann 1988, 26). Zumindest das Ende Helenes ist eher dazu geeignet, die Sympathie des Lesers für die Protagonistin zu schüren denn die Abneigung.

6.4 »AUSSTERBEN IST VORNEHM «: D EKADENZ UND ÄSTHETIK IN K EYSERLINGS H ARMONIE Die 1905 in der Neuen Deutschen Rundschau veröffentlichte Novelle Harmonie zählt zu den sogenannten Schlossgeschichten Eduard von Keyserlings und damit zu jenen Texten, deren Handlung innerhalb eines adelig geprägten Milieus situiert ist. Während der Leser sich den Zeitpunkt der Handlung in Harmonie als ungefähr deckungsgleich mit der Entstehungszeit der Novelle vorstellen darf,100 ist eine präzise geographische Verortung der Geschichte nicht möglich. Zwar wird bei einigen Editionen – etwa der Insel Taschenbuchausgabe von 2001 – im Klappentext die teilweise auch in der Forschungsliteratur vertretene Behauptung aufgestellt, Harmonie würde »im Baltischen« spielen101 – eindeutig am Text belegen lässt sich dies allerdings nicht. Vielmehr gilt, was Bittrich insgesamt für die Schlossgeschichten konstatiert hat: »Der Autor meidet nach Möglichkeit topographisch festlegbare Namen und Begebenheiten, und schon gar nicht spricht er irgendwo direkt von Kurland oder Livland.« (Bittrich 2008, 156) Daher ist es auch nicht nötig, die nachfolgende Analyse vor dem Hintergrund der Geschichte der deutschen Adeligen im Baltikum durchzuführen.

100 Wenngleich sich auch aus der Novelle der Handlungszeitpunkt nicht exakt bestimmen lässt, so wird an Thilos Tätigkeit als Abgeordneter im Reichstag (vgl. HA 37) immerhin deutlich, dass die Geschichte auf jeden Fall nach der Reichsgründung 1870/71 spielt. Auch Thomé konstatierte für die Schlossgeschichten insgesamt eine »Koinzidenz des erzählenden und des erzählten Zeitpunkts« (Thomé 1993, 516). 101 So ist unter anderem Zimmer der Ansicht, Keyserlings Schlossgeschichten seien »überwiegend im baltischen Adelsmilieu angesiedelt« (Zimmer 2007, 133). Dieser Eindruck, der sich im Falle von Harmonie ebenso wenig wider- wie belegen lässt, resultiert nicht zuletzt aus der Herkunft des Autors, der als Spross eines bedeutenden kurländischen Adelsgeschlechts auch als »baltischer Fontane« (ebd., 131) rezipiert wurde.

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Wichtiger als die sozial-historische Dimension scheint im Hinblick auf die Suizidmethode in Harmonie ohnehin die literatur- bzw. kunstgeschichtliche Tradition, in der die Todesart steht. Keyserlings Novelle ist das erste im Rahmen der vorliegenden Arbeit untersuchte Werk, in dem sich die fast topoische Verbindung von Weiblichkeit und Wassertod realisiert: Wie so viele ihrer suizidalen literarischen Schwestern ertränkt sich auch Annemarie, die Protagonistin in Harmonie. Diesem besonderen Akt der Selbstauslöschung ist in der KeyserlingForschung viel Aufmerksamkeit geschenkt worden. Annemaries Tod im Wasser wurde gedeutet als »Ablehnung des für sie unschön gewordenen Lebens« (Peter 1999, 111), als »Befreiung von der durch den eigenen Ehemann erzwungenen Erotik« (Kollek 2011, 209), als »Liebestod« (Thomé 1993, 572) und als »Hingabe an das Element, das sie mit dem fernen Geliebten assoziiert« (Zaus 2008, 375). Wenn man in diesem Zusammenhang Zausʼ berechtigten Hinweis, eine »vereindeutigende Lektüre [sei] nicht vorgesehen« (ebd.) ernst nimmt, so kann es im Folgenden sicher nicht darum gehen, diese einzelnen Deutungen sämtlich zu negieren oder sie gegeneinander auszuspielen. Vielmehr möchte ich ergänzend auf einen weiteren Aspekt hinweisen, der bisher in der Forschungsliteratur zur Novelle noch keinerlei Beachtung gefunden hat. Die Todesart und die stark stilisierte Todesdarstellung scheinen mir auch oder sogar vor allem die Funktion eines Kunstzitats zu erfüllen. Konkret bezieht sich dieses Zitat auf ein Motiv, welches bei Analysen von Texten mit Wassersuiziden in der Regel rasch als Deutungsangebot in Betracht gezogen wird: auf Shakespeares Ophelia. Soweit ich sehen kann, wurde in der Keyserling-Forschung aber bisher noch nirgends der Bezug zwischen dem literarischen Tod Annemaries und der sich ertränkenden Geliebten Hamlets hergestellt. Dies ist insofern etwas verwunderlich, als – so meine im Folgenden vertretene These – die Referenzen an das Ophelia-Motiv in Harmonie sehr deutlich sind, vielleicht sogar deutlicher als in jedem anderen Suizidtext in der deutschsprachigen Literatur um 1900. Wie ich in einem ersten Schritt ausführen werde, bezieht sich Keyserlings Novelle allerdings nicht nur auf die literarische Vorlage Hamlet, sondern auch auf die im 19. Jahrhundert populären bildkünstlerischen Adaptionen des Ophelia-Motivs. In einem darauffolgenden zweiten Schritt gilt es dann, nach der Funktion dieses Kunstzitates für den Gesamtzusammenhang der Novelle zu fragen. Anschließend an die innerhalb der Keyserling-Forschung gewonnenen Erkenntnisse werde ich eine zweite These vertreten, nämlich die, dass der Ophelia-Tod Annemaries Ausdruck jener vollständig »ästehtisierte[n] Lebenshaltung« (Peter 1999, 111) ist, die in Harmonie als Erscheinungsform einer »bis zur Lebensunfähigkeit gesteigerten Décadence« (Rasch 1986, 227) des adeligen Lebensstils geschildert wird.

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6.4.1 Darstellung der Selbsttötung und Bezüge zum Ophelia-Motiv in Literatur und Kunst Im Unterschied zu Kellers Regine oder Fontanes Cécile, in denen zwar das Auffinden des toten Körpers der Protagonistinnen, nicht aber der eigentliche Akt der Selbsttötung dargestellt wird, schildert der Erzähler in Harmonie in einer spezifischen Weise auch den eigentlichen Suizidvorgang. Dazu bedient sich Keyserling des erzählerischen Kunstgriffs einer Kombination von Augen- und Ohrenzeugenbericht. Die Verknüpfung dieser beiden Darstellungsformen lässt sich erläutern, indem man zunächst die für die Erzähltheorie nicht ganz unwichtige Frage ›wer sieht?‹ beantwortet. Keyserlings Novelle ist weitgehend intern fokalisiert und zwar auf die Perspektive des männlichen Protagonisten Felix von Bassenow. In Mitsicht mit dieser Figur wird am Ende des Textes die Selbsttötung Annemaries erzählt. Zu Beginn der Suizidpassage sitzen Felix und Mila nachts in Sichtweise des verhängnisvollen Teichs im Park. Die darauf folgenden Ereignisse werden zum Teil als visuelle Beobachtungen und zum Teil als akustische Wahrnehmungen des männlichen Protagonisten geschildert. Felix beobachtet, wie Annemarie im »weißen Musselinkleid« (HA 89) mit einem »Fliederzweig« (ebd.) in der Hand zum Teich geht. Nachdem sie zeitweilig nur durch den sich entfernenden »Gesang« (HA 90) für Felix wahrnehmbar ist, erscheint sie schließlich erneut als »helle Gestalt« (ebd.) auf dem »Brettersteg« (ebd.), wo sie dann endgültig aus Felixʼ Sichtfeld verschwindet (»die weiße Gestalt war fort« (ebd.)). Ihr Sprung in den Teich wird dem Leser durch den wiederum akustisch von Felix vernommenen »Ton im Wasser« (ebd.) angedeutet. Sowohl dieses Geräusch im Wasser als auch die Reaktion des männlichen Protagonisten – er ruft ihren Namen, »stürzte an den Teich, warf seinen Rock ab, sprang ins Wasser« (ebd.) – fungieren in dieser Passage als Symptome des nahenden Todes der Protagonistin. Annemarie kann von Felix schließlich nur noch tot aus dem Wasser gezogen werden. Weil der Text aber die ganze Passage über konsequent Felix fokalisiert, bleibt die Agonie der für Felix zeitweilig weder hör- noch sichtbaren Annemarie in der Darstellung des Textes folgerichtig ausgespart. Vergleicht man nun diese insgesamt recht umfangreiche und deutlich stilisierte Suizidpassage mit dem Ophelia-Motiv in Kunst und Literatur, so finden sich etliche Parallelen. Zunächst ist die Grundkonstellation der Suizide in Hamlet und Harmonie insofern vergleichbar, als sich Annemarie und Ophelia in einer ähnlichen Lage befinden. Beide Figuren müssen sich im Verlauf der Handlung von ihren Geliebten trennen, welche jeweils das Land verlassen und nach Übersee abreisen. Hamlet geht bekanntlich nach England und der von Annemarie begehrte Thilo plant nach seiner erzwungenen Abreise, sich »eine Weile auf dem

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Wasser herumzutreiben« (HA 79) um von einem Schiff aus »auf das dämmrige Meer« (HA 90) hinauszusehen. Sowohl Ophelia als auch Annemarie verlieren in Folge dieser Trennung mehr oder weniger den Verstand. Während Ophelias Wahnsinn als Gemeinplatz gelten darf,102 verfällt Annemarie, die bereits zu Beginn der Novelle als ehemalige Patientin eines »Nervensanatorium[s]« (HA 17) eingeführt wurde, in eine Art geistesabwesender Apathie.103 In beiden Texten artikuliert sich der Verlust der Verstandeskräfte unmittelbar vor dem Suizid auf identische Weise, nämlich im Gesang. Wenn Annemarie, ein »Wiegenlied« (HA 90) singend in den Tod geht, so ahmt sie damit nicht nur das Verhalten der bei ihrem letzten Auftritt in Shakespeares Drama praktisch durchgängig singenden Ophelia nach, sondern sie erfüllt auch das von dieser Figur im Wahnsinn artikulierte Diktum »You must sing A-down a-down, and you Call him a-down-a.« (Shakespeare 1982, 358 Hervorhebung i.O.)104 Schließlich nehmen sich beide Figuren auf die gleiche Weise das Leben, wobei der Hinweis angebracht scheint, dass die Selbstertränkung bei einer Ophelia-Figuration in ruhigen Binnengewässern und nicht etwa im Meer oder in reißenden Flüssen stattfindet. Wo sich Ophelia in einem Bach ertränkt, tötet sich Annemarie in einem Teich. Neben diesen Bezügen zu Shakespeares Dramen-Vorlage finden sich in Harmonie auch einige Repliken auf prominente bildkünstlerische Adaptionen des Ophelia-Motivs im 19. Jahrhundert. Besonders bedeutend für diese Bildtradition sind die Werke des französischen Malers Eugène Delacroix,105 der zwischen 1838 und 1853 drei unterschiedliche Ophelia-Gemälde anfertigte. Eine erste hervorstechende Gemeinsamkeit zwischen diesen Bildern und der Darstel-

102 Zum Wahnsinn Ophelias, vgl. Kindler 2004, 46ff. 103 Nach der Abreise Thilos wandelt Annemarie »zu jeder Tageszeit« (HA 83) durch den Schlossgarten und ist »zerstreut« (ebd.) und »mit ihren Gedanken sehr weit fort« (HA 82). Offenbar imaginiert sie, »das Gesicht beruhigt und glücklich« (HA 83), die Anwesenheit Thilos, wie Felix Deutung »Sie ist immer mit ihm zusammen, immer« (ebd.), nahelegt. Kollek konstatiert hierzu: »Annemarie nimmt eine vollständige Verkehrung vor, denn das ausschließlich erdachte, verinnerlichte Leben mit Thilo hat für sie den Status des ›eigentlichen Lebens‹.« (Kollek 2011, 207) 104 In der schon im 19. Jahrhundert prominenten Übersetzung von Schlegel und Tieck lautet diese Passage: »Ihr müßt singen: ʼnunter, hinunter! und ruft ihr ihn ʼnunter.« (Schlegel/Tieck 1950, 194) 105 Kindler bemerkt zur Bedeutung Delacroixs, seine Darstellungen bereiteten »den entscheidenden Schritt zu einem verbindlichen Ophelia-Motiv für die Kunst des 19. Jahrhunderts vor. Delacroix war der erste Maler, der das Sujet der sterbenden Ophelia in mehreren Ölbildern thematisierte« (Kindler 2004, 150).

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lung Annemaries in Keyserlings Novelle ist das »weiße Musselinkleid« (HA 89) der Protagonistin. Das in Shakespeares Darstellung noch nicht vorhandene, »obligate weiße Gewand« (Kindler 2004, 224) der Toten findet sich nicht nur in Delacroixs Werken, sondern ist ein festes Element in nahezu allen wichtigen Ophelia-Bildern des 19. Jahrhunderts. Wenn Annemarie in Harmonie im weißen Kleid ertrinkt, so lässt sich dies nicht nur als konsequente Fortführung ihrer Darstellung als »weiße Frau« (Bittrich 2008, 153) lesen,106 sondern gleichzeitig auch als Referenz an die Bildtradition des Ophelia-Motivs. Zu dieser Bildtradition zählt ferner die Darstellung blühender Pflanzen und Blumen, welche die im Wasser treibende Leiche umgeben. Auch dieses, bereits in Shakespeares Drama angelegtes, Versatzstück der künstlerischen Tradition wird in Harmonie aufgegriffen. So findet sich im Text neben der Schilderung der »aufrechten Blüten« (HA 91) der Froschlöffel und der Erwähnung von »Wasserrosen« (ebd.) auch die Beschreibung eines am Ende im Wasser treibenden, »blühende[n] Fliederzweig[s]« (HA 92). Dieser Fliederzweig verweist einerseits symbolisch auf Annemaries platonische Liebe zu Thilo,107 lässt sich aber gleichzeitig auch als Anspielung auf die »phantastisch mit Kräutern und Blumen geschmückt[e]« (Schlegel/Tieck 1950, S. 194) Ophelia in der Hamlet-Übersetzung von Schlegel und Tieck lesen. Wenn am Ende der Novelle Felix die tote Annemarie an Land zieht und ihr »hastig die Kleider von ihrem Körper« (HA 92) reißt, so lässt sich schließlich auch diese latent sexualisierte Darstellung als ein Rekurs auf die Bilder Delacroixʼ deuten, in denen die tote Ophelia immer mit entblößtem Oberkörper gemalt ist.

106 In der Forschungsliteratur zur Novelle wurde bereits umfassend darauf hingewiesen, dass Annemarie im Text eindeutig die Farbe Weiß zugeordnet wird, wobei diese Farbgebung Bestandteil von Annemaries als »weiße[r] Welt« (Steinhilber 1977, 139) erscheinendem, ästhetisierten Lebensstils ist. Vgl. zur weißen Farbsymbolik exemplarisch Peter 1999, 90; Thomé 1993, 568; Dirscherl 2010, 163. 107 Wie Kollek zutreffend herausstellt, »erinnert der Fliederzweig […] an Thilo« (Kollek 2011, 209), weil der Abschiedskuss zwischen den beiden Figuren in der »Fliederlaube« (HA 79) stattfindet und der Flieder zudem als Gegenstand der Gespräche zwischen Thilo und Annemarie erwähnt wird. Vgl. HA 84.

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Abbildung: Eugène Delacroix: Der Tod der Ophelia. Bayerische Staatsgemäldesammlung – Neue Pinakothek München (Inv. Nr. 12764).

Zusammengenommen sprechen die aufgeführten Aspekte dafür, die Darstellung von Annemaries Suizid in der Tradition der Ophelia-Darstellungen zu verorten. Daran schließt sich nun die Frage an, welche Funktion die Zitation dieses kulturellen Bildreservoirs für die Novelle erfüllt. Eingangs hatte ich die These formuliert, die Stilisierung dieses Suizids als Ophelia-Figuration lasse sich als konsequente Fortführung der rein ästhetischen Kriterien folgenden Lebenshaltung Annemaries deuten; eine Lebenshaltung, die im Text allerdings als eine dekadente und lebensuntaugliche Form adeliger Existenz dargestellt wird. Die Verklammerung von Dekadenz und ästhetisierter Lebenshaltung werde ich im Folgenden an drei Aspekten der im Text geschilderten, adeligen Subjektkultur ausführen: erstens an der Einstellung der Figuren zu Arbeit und Müßiggang, zweitens an den Praktiken der Alltagsgestaltung und des Konsums und drittens an der Frage nach Sexualität und Fortpflanzung.

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6.4.2 Arbeit vs. Müßiggang Bereits Steinhilber konstatierte mit Blick auf die in der Novelle geschilderten Tätigkeiten der Figuren eine »Arbeitslosigkeit der Keyserlingschen ›guten Gesellschaft‹« (Steinhilber 1977, 89), die auf zwei unterschiedliche Weisen dargestellt werde: Einerseits geschehe dies indirekt, indem bei der Schilderung des Tagesablaufs der Figuren von Praktiken des Arbeitens nicht die Rede sei und andererseits werde auch »expressiv verbis auf das Nichtstun hingewiesen« (ebd.). Diese weitgehend zutreffende Beobachtung bedarf allerdings einer kleinen Differenzierung: Während Steinhilbers Feststellung für Annemarie und Thilo uneingeschränkt gilt, partizipiert Felix zumindest teilweise an den typischen Arbeitspraktiken adeliger Gutsbesitzer. Deren Tätigkeiten bestanden »vornehmlich in Landwirtschaft und Jagd« (Müller-Seidel 1980, 396), wobei im Falle der Landwirtschaft vor allem »Herrschaft, nicht Wirtschaft […] als die dominierende Aufgabe des Gutbesitzers« (Conze 2000, 294) angesehen wurde.108 Mit anderen Worten bestanden dessen berufliche Aufgabe darin, die Aufsicht über die Gutswirtschaft zu übernehmen, die Arbeit seiner diversen Untergebenen zu überwachen und diese mittels verschiedener Herrschaftspraktiken seinem Regiment zu unterwerfen. Diesen Anspruch formuliert Felix zu Beginn der Novelle, wenn es dort heißt, er »wollte wieder Arbeit, Verantwortlichkeit – Befehlen, wieder Herr – etwas wie der liebe Gott sein, wollte es spüren, wie seine laute Stimme den großen, blonden Bauernjungen in die Glieder fährt« (HA 12). Tatsächlich werden in der Novelle verschiedene Praktiken erwähnt, die den Eindruck evozieren, dass Felix seine Aufgaben als adeliger Gutbesitzer mindestens teilweise wahrnimmt.109

108 Dementsprechend war, wie Malinowski ausführt, die »Aneignung herrschaftlicher Denk- und Verhaltensmuster« (Malinowski 2003, 73) ein Kernbestandteil adeliger Erziehung. 109 Wie Praktiken adeliger Herrschaftsausübung aussehen können, erfährt der Leser beispielsweise in der Passage, in der Felix einen Knecht dabei erwischt, wie dieser auf die Zugpferde eines festgefahrenen Wagens einprügelt: »Dann war er bei dem Burschen, packte ihn, hob ihn empor, schüttelte ihn […]. Dann ließ Felix ihn los. ›Geh, hol Leute‹, sagte er, ›geh!‹ schrie er ihn an« (HA 31) Dass ein derartiges Verhalten von der Dienerschaft nicht nur hingenommen, sondern auch gutgeheißen wird, zeigt sich an der Reaktion von Felixʼ Untergebenem Pitke, der diese Szene lachend mit den Worten »Das war sehr hübsch. Der hat den Herrn gespürt« (ebd.) kommentiert. Mehrfach deutet der Erzähler zudem an, dass Felix tagsüber mit der Führung der Gutswirtschaft beschäftigt ist, (vgl. HA 29, 48, 84) oder zum Pferde-

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Anders stellt sich dies bei Thilo und Annemarie dar, die als Gegenfiguren zu Felix konzipiert sind. Vor allem Annemarie erscheint als weitgehend untätig und funktionslos für den Betrieb der Gutswirtschaft und des Haushalts. An keiner Stelle wird im Zusammenhang mit dieser Figur irgendeine produktive Tätigkeit geschildert, die auch nur im Entferntesten mit Arbeit zu tun hätte. Stattdessen befinden sich Annemarie und Thilo auf dem Schloss durchgängig in einem Zustand »friedliche[r] Beschäftigungslosigkeit« (Schulz 1991, 114).110 Die Novelle entwirft so ein Bild vom Alltagsleben im Schloss der Bassenows, das im Prinzip ausschließlich aus Praktiken des Müßiggangs und Zeitvertreibs besteht. Die Figuren im Allgemeinen und Annemarie im Speziellen gehen im Schlossgarten spazieren (vgl. HA 25, 38, 49, 79, 83), lassen sich vorlesen (HA 37, 82) oder Anekdoten und Geschichten erzählen (HA 41, 43, 44). Man trinkt Sekt (HA 27, 37), tanzt täglich (HA 33), legt Patiencen (HA 49, 65) und spielt Federball (HA 76) oder Klavier (HA 48). Meistens aber sitzt (HA 37, 41, 48, 85) oder liegt man »reglos da« (HA 38), wartet (HA 35) und langweilt (HA 41f., 64) sich. Die einzigen Höhepunkte dieses Alltags sind die Mahlzeiten und die Nachtigall, deren allabendlicher Gesang zu einem gesellschaftlichen Ereignis erklärt wird (HA 46, 49). Zwar war Muße von jeher »ein Privileg und Distinktionselement adeliger Lebensgestaltung« (Braun/Gugerli 1993, 308) – in Harmonie aber werden mit Thilo und Annemarie saturierte adelige Figuren geschildert, deren Lebensweise allein auf Müßiggang und ostentativer Unproduktivität fußt. Die eigentlich dem adelig-weiblichen Subjekt zugeordneten Praktiken wie die »Übernahme öffentlich-repräsentativer Aufgaben« (Conze 2000, 291) und insbesondere die »Leitung der Hauswirtschaft« (ebd.) werden im Zusammenhang mit Annemarie nicht geschildert oder obliegen der Verantwortung der Gesellschafterin Frau von Mal-

markt in die Stadt fährt (vgl. HA 56). Allerdings zeigt sich an mindestens einer Stelle auch bei Felix eine gewisse Neigung zum Müßiggang. Dort heißt es: »Er hatte die Milchbücher durchsehen wollen, aber nun war es ihm ganz gleichgültig, wieviel Milch die Kühe gaben. Etwas tun, das war keine Kunst, da konnte man bald einen Tag hinbringen. Aber stille sitzen und an hübsche, helle Dinge denken, das ist Kultur.« (HA 34) Daraus allerdings gleich mit Blick auf Felix zu schlussfolgern, »Arbeit und Verantwortlichkeit reduzieren sich zur Pose« (Schulz 1991, 133) erscheint mir mit Blick auf die übrigen Passagen zu undifferenziert. 110 Über Thilo und dessen Tätigkeit als Abgeordneter bemerkt Felix: »Der hat ja im Leben nichts anderes zu tun als etwas zu sagen.« (HA 32) Wenngleich diesem Figurenurteil über Thilo möglicherweise aufgrund der latenten Eifersucht Felixʼ (vgl. HA 50) nur bedingt zu trauen ist, so entspricht die Darstellung des müßiggängerischen Thilos im weiteren Verlauf der Novelle absolut diesem Urteil Felixʼ.

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ten. Wenn der Gutsinspektor Pitke über die Kühe im Stall sagt »das sind Herrschaften […] – fressen und sich bedienen lassen« (HA 29), so lässt sich diese Bemerkung also auch als ein doppeldeutiger Kommentar zum von Annemarie und Thilo gepflegten Lebensstil verstehen. Wie wenig die in der Novelle geschilderte und als dekadent markierte Existenzweise dieser beiden Figuren noch mit den traditionellen Prinzipien und Praktiken adeliger Lebensführung zu tun hat, verdeutlicht vor allem die Darstellung der Schnepfenjagd. Die Jagd war ehedem eigentlich ein »zentrale[r] Aspekt adelig-ländlichen Lebens« (Conze 2000, 373) und eine »jahrhundertealte, lange Zeit exklusive Praxis des Adels (Malinowski 2003, 68), an der sich auch Frauen »waffenkundig und aktiv« (Funck/Malinowski 1999, 252) beteiligten. In Harmonie aber beweist alleine Felix seine Kompetenz als Jäger, denn er ist die einzige Figur, die eine der immerhin auf dem adeligen Speiseplan stehenden (vgl. HA 27) Schnepfen schießt. Annemarie und Thilo hingegen drohen durch die unweidmännische Lautstärke ihrer Gespräche gar, das Jagdunterfangen zum Scheitern zu bringen (vgl. HA 52). An der Jagdepisode offenbart sich zugleich, dass Annemaries einziger Zugang zu den zentralen Praktiken adeliger Lebensführung ein ästhetischer ist. Beim Jagdausflug berauscht sie sich vor allem an der Natur und findet es »köstlich […], wie hübsch sie hier alle im weißen Nebel schlafen gehen! Und die kleinen Tiere, die an den Wassern singen.« (HA 54)111 Unter ähnlichen Gesichtspunkten betrachtet sie auch die beruflichen Praktiken ihres Mannes. Wenn sie Felix auffordert, er solle vor ihrem Fenster die Diener laut schelten, so nicht etwa, weil sie die Disziplinierung des Personals für notwendig hält, sondern weil sie sich an dem Klang seiner Stimme ästhetisch erfreuen will: »Es wird angenehm sein, dich zu hören.« (HA 26)112 Praktiken wie die Jagd oder der herr-

111 Den Gegenentwurf repräsentiert in dieser Passage die in vielerlei Hinsicht als »Kontrastfigur« (Peter 1999, 114) Annemaries fungierende, vitale Mila, die sich für das Handwerk des Jägers interessiert und die angeschossene Schnepfe schließlich eigenhändig vom Todeskampf erlöst. Vgl. HA 53. 112 Andersherum ist es Annemarie nicht genehm, wenn Felix das Personal mit seinen eigenen Händen züchtigt: »›Mußt du das selbst machen. Kann nicht Pitke‹ – dabei schaute sie sinnend auf seine Hände, als wären sie ihr in diesem Augenblick nicht sympathisch.« (HA 32) Offenbar sind in dieser Passage nicht moralische Bedenken ausschlaggebend für ihre Ablehnung der Züchtigung des Personals. Vielmehr lässt der auf Felix Hände gerichtete, sinnende Blick den Schluss zu, dass es Annemarie aus ästhetischen Gründen nicht behagt, wenn Felix mit seinen Händen das Dienstpersonal anfasst.

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schaftliche Umgang mit dem Dienstpersonal betrachtet Annemarie allein unter dem Gesichtspunkt ihres ästhetischen Erlebnispotenzials; für den impliziten Sinn und Zweck solcher Praktiken hingegen fehlt ihr das Verständnis. Insgesamt wird Annemarie, wie ich im Folgenden argumentieren werde, in Harmonie als eine Figur gezeichnet, die in einer Art ästhetisierter und abgeschotteter Parallelwelt lebt, in welcher ihr keinerlei Pflichten oder Verantwortlichkeiten auferlegt sind und aus welcher der redensartliche ›Ernst des Lebens‹ verbannt ist. 6.4.3 Im Innenraum der weißen Welt Sowohl Annemarie selbst als auch die ihr dienenden Figuren betreiben im Innenraum des schlössischen Refugiums eine »ästhetische Negation der Wirklichkeit« (Weinhold 1977, 92). Die Maxime, der die Herstellung der rund um Annemarie herum erzeugten »ästhetisch stilisierte[n] Ausschnittswelt« (ebd., 77) folgt, formuliert zu Beginn der Novelle die Gesellschafterin Frau von Malten: »Gott! man möchte die ganze Welt für sie [Annemarie, G.V.] wattieren!« (HA 20) Diese im Text geschilderte ›Wattierung‹ ist eng verbunden mit einer Abschottung des Schlosses gegenüber der Außenwelt. Als pars pro toto für diese Abschottung fungiert in der Novelle das Motiv der zugezogenen Vorhänge. So erfährt der Leser in einer Passage, in der Felix beobachtet, wie Frau von Malten die Vorhänge herunterlässt, in Mitsicht mit dem Protagonisten: »Ja, so war es immer, mit Annemarie war man stets in einer Welt für sich – einer Welt für sie, und stets war die Malten da, um die Vorhänge gegen die Außenwelt vorzuziehen.« (HA 28)113 Als eine Konsequenz dieser Abschottung findet, wie bereits Kollek festgestellt hat, in Harmonie »kein gesellschaftliches Leben statt, der Verkehr beschränkt sich ausschließlich auf Annemaries Vater und ihren Onkel Thilo« (Kollek 2011, 195).114 Zugang zu dieser abgeschotteten Schlosswelt hat nur, wer Annemaries

113 Wie Peter herausstellt, wird das Motiv der zugezogenen Vorhänge in Keyserlings Schlossgeschichten mehrfach auf eine ähnliche Weise verwendet: »Mit Vorhängen schotten sich die Schloßbewohner in Keyserlings Erzählungen häufig von der Außenwelt ab.« (Peter 1999, 111) 114 Eine derartige Isolation war untypisch für den Landadel, der eine Idee vom adeligen Schloss als einem »offenen Haus« (Funck/Malinowski 2000, 77) vertrat, in welchem der Adel mit »Scharen von Personal sowie Standesgenossen als Kurzzeit- und Dauergäste« (ebd.) wie eine Großfamilie zusammenlebte. Für diesen Adel besaß der »Topos ›Volksverbundenheit‹« und die Idee von »Volksnähe« (Funck/Malinowski 1999, 253) zu den beherrschten Untertanen, mit denen man in direkten Kontakt trat, eine große Bedeutung. In Harmonie zeigt sich diese Idee der Volksnähe nur an Fe-

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ästhetischen Vorstellungen entspricht; wer ihren Ansprüchen hingegen nicht genügt, der hat keinen Zutritt oder wird entfernt, wie innerhalb des Textes an mehreren Stellen deutlich wird. So erfährt der Leser über die Gründe der Entlassung des alten Dieners Heinrich: »Die Augen wurden ihm rot und tränten ihm zuweilen, Annemarie mochte das nicht.« (HA 20) Allerdings dürfen auch die neuen Kandidaten für diese Stelle nicht zum Vorstellungsgespräch kommen, denn »Annemarie wollte das nicht: ›Kandidaten haben feuchte Hände und Knöpfmanschetten.‹« (HA 27) Als schließlich auch Felixʼ Freund Pankow nicht zu Besuch kommen soll, weil seine Geschichten »immer so lang und nicht ganz reinlich« (HA 64) sind und er »selbst so lange über sie [lacht]« (HA 64), kritisiert Felix in einem Wutausbruch offen diese ästhetische Abschottung: »Nächstens wird jeder, der über unsere Schwelle kommt, ein Examen in Ästhetik ablegen müssen. Das ist lächerlich!« (ebd.) An diesen und anderen Beispielen bestätigt sich im Verlauf des Textes die Einschätzung von Annemaries Charakter, die bereits zu Beginn der Novelle aus Felixʼ Perspektive formuliert wurde: »Es war zu merkwürdig […] wie selbstherrlich dieses halbe Kind das Leben für sich zurecht bog, alles fortschob, was ihm nicht recht war, genau wußte, wie es das Leben wollte. ›Nein, ich danke, das ist nichts für mich.‹ Damit tat Annemarie alles ab, was nicht zu ihr stimmte.« (HA 14f.)115

lix, der immer wieder auch außerhalb des abgeschotteten Schlosses mit verschiedenen Untergebenen in Interaktion tritt (vgl. HA 13, 29, 31, 56, 71), während Annemaries Kontakte sich auf die wenigen Figuren beschränkt, die Zugang zum Schlossinneren

haben.

Vgl.

insgesamt

zur

Volksverbundenheit

des

Landadels

Funck/Malinowski 1999, 253-260. 115 Eine grundsätzlich andere Lesart vertritt Susanne Scharnowski. Ausgehend von der eigenwilligen Behauptung, der Text sei ein zum größten Teil »als erlebte Rede formulierte[r] innere[r] Monolog des männlichen Protagonisten Felix (Scharnowski 1999, 119), bemüht sie sich zu zeigen, dass die Darstellung des Textes Resultat der durch eine »psychische Beschädigung […] eingeschränkten Wahrnehmungsfähigkeit des männlichen Protagonisten« (ebd., 120) sei. Diesem männlichen Blick hätten insbesondere die Interpretinnen Keyserlings zu misstrauen (vgl. ebd.). Es gelte vielmehr den Text gegen den Strich zu lesen und mit einem gründlichen Argwohn gegen die an Felixʼ Perspektive gebundene Darstellung des Erzählers den eigentlichen, unbewussten Inhalt des Erzählten zu entschlüsseln. Diese Lesart aber »gibt es nur für Leser, die mit der gleichschwebenden Aufmerksamkeit des Psychoanalytikers« (ebd.) an den Text herantreten. Aus dieser stark assoziativen Perspektive muss insbesondere die Figur Annemarie natürlich anders verstanden werden, als ich das hier skizziert habe.

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Die ästhetische Modellierung der Umwelt und das ›Fortschieben von allem, was nicht recht ist‹ betrifft nicht nur die Auswahl der Personen in Annemaries Umfeld, sondern auch die räumliche und dingliche Gestaltung des Schlossinneren, welches in eine »weiße Welt« (Dirscherl 2010, 163) verwandelt wird.116 Annemarie erscheint bei ihrem ersten Auftritt in »weißen Pantöffelchen« (HA, 21). Später sitzt sie »in dem weißen Zimmer, unter einer weißen Ampel, auf ihrem Bette […], selbst ganz weiß« (HA 41), bevor sie sich am Ende im weißen Musselinkleid« (HA 89) das Leben nimmt. Selbst das Bassenowsche Schloss steht »sehr weiß« (HA 28) in der Landschaft. Diese weiße Kolorierung von Hauptfigur und Artfakten ist der farbliche Ausdruck der Ästhetisierung des Schlosslebens. Diesem ästhetisierten und wattierten Leben Annemaries im Inneren des weißen Schlosses ist in der Tat die von Teilen der Forschungsliteratur festgestellte »morbide Lebensferne« (Peter 1999, 91) und eine »Distanz zum Leben« (Sprengel 2007, 174) inhärent. Erkennbar wird diese unter anderem an der Einstellung der Protagonistin zu existenziellen Praktiken wie der Zubereitung von Nahrung. So bemerkt Annemarie an einer Stelle, »Essen wird so leicht langweilig« (HA 36) woraufhin sie mit der Erklärung fortfährt, Sauerbraten mit Salzgurken »schmeckt ja ganz gut, aber es macht traurig« (HA 37). Wie an solchen Passagen deutlich wird, beurteilt Annemarie selbst elementare menschliche Praktiken wie die Nahrungsaufnahme ausschließlich unter dem Gesichtspunkt eines an das Essen gebundenen, diffusen ästhetischen Erlebens. Nicht der Nährwert der Nahrung, ja nicht mal ihr Geschmack entscheiden darüber, ob ein Gericht die Zustimmung der Protagonistin findet, sondern die damit verbundenen subjektiven und emotionalen Assoziationen wie Langeweile oder Traurigkeit. Die in dieser Passage anklingende Dekadenz besteht gerade in der vollständigen Loslösung existenzieller Praktiken wie der Nahrungsaufnahme von ihrer ursprünglichen und auf das reine Überleben ausgerichteten Funktion, den Hunger zu stillen. Gleichwohl ist dieser eigentliche Sinn der Nahrungsaufnahme in Harmonie als Kontrast zum ästhetischen Hedonismus Annemaries noch präsent, wenn Felix bemerkt »Es gibt wohl Leute, die sich beim Essen nicht so leicht langweilen« (HA 36) und Annemarie begreift, dass damit »die armen Leute, die wenig zu essen haben« (ebd.) gemeint sind. Solche fernen, existenziellen Probleme wie Nahrungsknappheit aber spielen in der weißen Welt des abgeschotteten

116 Diese Umwandlung des Innenraums schildert in der Novelle beispielsweise Frau von Malten: »So war das Getäfel ihr hier zu dunkel, es mußte weiß sein.« (HA 20)

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Schlosses keine Rolle und zählen zu einer Lebenswirklichkeit, die für Annemarie weit weg ist.117 6.4.4 Danae als Symbol der entkörperlichten Erotik eines aussterbenden Adels In der Forschungsliteratur zur Novelle herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass die im vorigen Kapitel thematisierte weiße Farbe auch Teil der Darstellung Annemaries als femme fragile ist118 und überdies ihre Asexualität symbolisiert.119 Die sowohl Annemarie als auch Thilo betreffende Asexualität und der damit verbundenen Aspekt der fehlenden Fortpflanzungsfähigkeit ist zentral für die Dekadenz-Darstellung des Adels in der Novelle und steht überdies in unmittelbarem Zusammenhang mit der Selbsttötung der Protagonistin. Der sich im Verlauf des Textes entfaltende Konflikt geht deutlich über die Problematik einer gewöhnlichen Dreiecks-Konstellation mit einer Frau zwischen zwei Männern hinaus. Was in Harmonie geschildert wird, ist vielmehr das Aufeinanderprallen der sexuellen Wünsche Felixʼ und der entsexualisierten Lebenshaltung der als »frigide Ehefrau« (Sprengel 2007, 176) gezeichneten Annemarie, die Erotik nur in einer »jeglicher Körperlichkeit entledigte[n] und ausschließlich zeichenhaft vollzogene[n]« (Kollek 2011, 205) platonischen Beziehung zu Thilo ausleben kann.120 Felixʼ sexuelle Phantasien mit seiner Ehefrau werden bereits bei seiner Rückreise in die Heimat ein erstes Mal angedeutet. Im Zug sitzend imaginiert er Annemarie mit »den feinen Gelenken, den kleinen, spitzen Brüsten« (HA 16) als

117 Die Distanz zu den Ereignissen außerhalb der Bassenowschen Schlosses wird unter anderem deutlich, wenn Annemarie Felix auffordert: »Aber sprich weiter von diesen bunten Dingen, Eisenbahnen und Gepäck und Menschen. Ich sehe das alles ganz – ganz weit, und es ist angenehm, daß das so weit ist.« (HA 23) 118 Vgl. exemplarisch Peter 1999, 90; Zaus 2008, 373; Sprengel 2007, 176. 119 Vgl. u.a. Thomé 1993, 568; Kollek 2011, 189; Peter 1999, 100. 120 Im Zusammenhang mit der Darstellung Annemaries als asexueller femme fragile ist auch die Andeutung ihrer Nervenkrankheit (vgl. HA 17, 20, 42) relevant. Anders als in Cécile (vgl. Kapitel 6.2 dieser Arbeit) erscheint die Nervenkrankheit Annemaries nicht als Resultat einer Hypersexualität, sondern im Kontext des gegenteiligen Erklärungsmodells, der Frigidität. Zudem gilt die Nervenkrankheit um 1900 als Symptom unterschiedlicher Krisenerscheinungen der Moderne, so dass die Nervosität in Harmonie entsprechend der zeitgenössischen Deutungsmuster durchaus auch als ein Ausdruck der Dekadenz dieser Figur verstanden werden kann.

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Danae, die »die Liebe des Gottes mit einer vornehmen Selbstverständlichkeit« (ebd.) empfängt. Das wiederkehrende Motiv der Danae121 fungiert in der Novelle gleichzeitig als Sinnbild der entsexualisierten, »rein ästhetischen Lebensorientierung« (Eilert 1999, 233) Annemaries und als Repräsentation der sexuellen Phantasien Felixʼ mit seiner Ehefrau, welche allerdings zunächst unverwirklicht bleiben. Denn wie mit der für die Literatur um 1900 üblichen Diskretion geschildert wird, sträubt sich Annemarie gegen den Vollzug des Geschlechtsaktes. Mehrfach wird im Text ihre Angst vor dem ehelichen Beischlaf angedeutet,122 am pointiertesten in jener Passage, in der Annemarie den Gesang der Nachtigall mit den Worten kommentiert: »Mich rührt sie, […] sie singt – als ob sie sich fürchtete – vor etwas, das kommen könnte, wenn alles still und dunkel und sie allein ist.« (HA 46f.) Wie Kollek angemerkt hat, lässt sich diese Äußerung Annemaries durchaus auch als »Ausdruck ihrer eigenen Angst vor Sexualität« (Kollek 2011, 196) im Allgemeinen und vor der hereinbrechenden Nacht im Speziellen deuten, in der Felix mit dem Wunsch nach Geschlechtsverkehr in ihr Schlafzimmer

121 Ferner merkt Eilert zum Danae-Motiv an: »Aber noch ein zweiter, dominanter Wesenszug der jungen Frau wird durch die Bild-Reminiszenz profiliert […]: ihre naturund sinnesfeindliche Veranlagung, ihre deutlich zutage tretende Frigidität.« (Eilert 1991, 233) In Ergänzung dazu sieht Sprengel im Danae-Motiv auch die Versinnbildlichung von Annemaries »Weltentrücktheit, die wiederholt durch dasselbe Bildzitat unterstrichen wird« (Sprengel 2007, 176). In eine ähnliche Richtung wie Eilert zielt auch Kollek, die zwar nicht von Frigidität spricht, allerdings im Danae-Motiv die Widerspiegelung von Annemaries Neigung zu der bereits angesprochenen, »ausschließlich zeichenhaft vollzogene[n] Erotik« (Kollek 2011, 205) sieht. Vgl. zu diesem Motiv ferner Sprengel 2007, 176; Zaus 2008, 371; Bittrich 2008, 160. 122 So bekundet sie zunächst, sie habe sich vor dem Tag von Felixʼ Rückkehr gefürchtet, woraufhin sie auf Felixʼ Nachfrage (»›Vor mir?‹« (HA 39)) präzisiert: »Vielleicht auch vor dir. Man weiß nie.« (ebd.) Dass diese Äußerungen durchaus auch oder sogar vor allem im Hinblick auf die bevorstehende, erste gemeinsame Nacht nach der Rückkehr verstanden werden können, wird deutlich, wenn Felix kurz darauf bemerkt: »die Stallburschen und Milchmädchen […] Die freuen sich auch dieser Nacht. Die regt sie auch auf.‹« (HA 40) woraufhin Annemarie entgegnet: ›Auch?‹ (ebd.) Offenkundig teilt die Protagonistin nicht die sexuelle ›Aufregung‹ bzw. die Erwartungen ihres Ehemannes, der am Ende dieser Passage mit dem Gedanken an Danae (vgl. HA 41) in das Schlafzimmer seiner Ehefrau geht, um den Geschlechtsakt zu vollziehen.

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kommt.123 Annemaries Weigerung, den Beischlaf zu vollziehen, wird zwar nicht direkt erzählt, lässt sich aber aus Felixʼ Reaktionen schließen. Dieser sitzt, nachdem er das Schlafzimmer seiner Frau verlassen hat, »ärgerlich« (HA 42) in seinem Zimmer und denkt darüber nach, »ob es denn »natürlich [war], daß er hier saß und an seine eigene Frau dachte, wie als Knabe, wenn er verliebt war« (ebd.). Bei diesen Überlegungen gelangt er zu dem folgenreichen Schluss: »Das war unnatürlich und unwahrscheinlich und musste anders werden.« (ebd.) Felixʼ vorwiegend körperlichem sexuellen Begehren wird kontrastiv die platonische und entsexualisierte Beziehung zwischen Annemarie und Thilo entgegengestellt, welcher, »in müdem Ästhetizismus befangen, ein kostbares Bild« in der Protagonistin sieht (Rasch 1986, 227). Das Verhältnis dieser beiden Figuren fußt, im Einklang mit Annemaries ästhetischer Lebenshaltung, allein auf Konversation und einigen anderen zeichenhaften Praktiken, in denen Thilo eine »Stilisierung [Annemaries] zu einem erlesen-schönen Kunstwerk« (Eilert 1991, 233) betreibt.124 Höhepunkt und Sinnbild dieser platonischen Beziehung ist das von Thilo erdachte und regelmäßig wiederholte Spiel der »Blütenbäder« (HA 50). Unter den Obstbäumen stehend, regnen die Blütenblätter »dicht auf Annemarie nieder. Sie bog den Kopf zurück, stieß einen kleinen Schrei aus. Die Blätter fielen über ihr Gesicht, hingen sich in ihr Haar. Thilo stand dabei, den Bart voller Kirschblüten, schlug seine schweren Augenlider auf und sah das Bild vor sich mit wohliger Verträumtheit an.« (HA 50)

Wenn sich Annemarie Thilo hier »in der Haltung lächelnder Hingabebereitschaft wie Danae« (Eilert 1991, 234) präsentiert und diese Passage damit »latent erotisch« (Kollek 2011, 205) aufgeladen ist, so ist diese Erotik doch völlig entkörperlicht und jedweder Fortpflanzungsfunktion enthoben. Vom Orgasmus des Ge-

123 Diese Deutung wird nicht zuletzt dadurch gestützt, dass im Zusammenhang mit dieser Passage von der Exzellenz für den Gesang der Nachtigall scherzhaft die Deutung als »Ehekonflikt« (HA 46) vorgeschlagen wird. Wenngleich dies der Figur der Exzellenz nicht bewusst sein kann, so trifft diese scherzhafte Deutung genau den Kern des in der Novelle geschilderten Konflikts, was diese Aussage insgesamt in die Nähe einer epischen Form der dramatischen Ironie rückt. 124 So imaginiert Thilo die Protagonistin in einem Gespräch über Amalfi als Kunstwerk: »Als ich auf der Hotelterrasse saß – fehlte Annemarie geradezu, sie gehört da hinein, das ist ihr Hintergrund, das blauseidene – und so […] Wenn man seiner Frau eine Toilette kauft, die ihr steht, kann man auch eine Reise machen, um ihr den rechten Hintergrund zu schaffen.« (HA 45)

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schlechtsakts bleibt nur noch der kleine Freudenschrei über den ästhetischen Genuss der niederregnenden Kirschblüten übrig. Selbst der Abschiedskuss der beiden Figuren entbehrt jeder Form der körperlich-sexuellen Hingabe und wird allein als »Symbol einer Schuld« (HA 81) und damit als ein ausschließlich zeichenhaftes Verhalten verstanden: »Als Annemarie schwieg, zog er sie sachte an sich heran, beugte sich über sie und berührte ganz leicht mit seinen Lippen ihre festgeschlossenen Lippen. Hastig richteten sie sich wieder auf.« (HA 81) Bereits aus dieser Szene allein, aus der nur ganz leichten Berührung, der kurzen Dauer des Kusses, den fest verschlossenen Lippen und dem hastigen Aufrichten wird ersichtlich, dass hier ein spezifischer Entwurf von Sinnlichkeit und Erotik geschildert wird, der sich durch eine Zurücknahme der körperlichen Leidenschaften auszeichnet. Vergleicht man diese Passage überdies mit der darauffolgenden Darstellung der Affäre zwischen Felix und der vitalen Mila, die den Protagonisten küsst, »als wollte sie ihre ganze Wut in diese Küsse legen« (HA 86), so wird diese Reduzierung der Körperlichkeit in der Beziehung zwischen Thilo und Annemarie, die einer vollständigen Entsexualisierung gleichkommt, umso deutlicher. Die Entkörperlichung der Liebesbeziehung erscheint nicht nur als Ausdruck von Annemaries Rückzug in eine lebensferne, ästhetische Existenz, sondern auch als Signatur einer als dekadent geschilderten, untergehenden Aristokratie. Denn einher mit dem Verzicht auf jede Form der Sexualität geht der Verlust der Fortpflanzungsfähigkeit und der damit verbundenen Sicherung der für den Adel zentralen Familienkontinuität und Erbfolge. Zu diesem wichtigen Element der aristokratischen Subjektkultur konstatierte bereits Conze: »Familienbewusstsein und der Imperativ des Besitzerhalts bilden den Kern dessen, was man noch im zwanzigsten Jahrhundert als ›Adeligkeit‹ bezeichnen könnte.« (Conze 2000, 20) Grundsätzlich wurde die Familie im Adel weit stärker als beispielsweise im Bürgertum als »Gemeinschaft der vergangenen, lebenden und kommenden Generationen verstanden (Malinowski 2003, 49), wobei das generationsübergreifende Konzept der Ehe »als ersten Zweck die Produktion von Nachkommenschaft« (Wienfort 2006, 117) zuwies. Oberstes Ziel war es, den »Fortbestand der Familie und den Erhalt des Großgrundbesitzes« (Conze 2000, 291) sicherzustellen. Dementgegen werden Thilo und Annemarie nicht zuletzt wegen ihres Verzichts auf Sexualität als Figuren dargestellt, die diesen obersten Prämissen und Verantwortungen des adeligen Subjekts nicht mehr nachkommen. Über Thilo heißt es explizit, er heirate nicht, »um der letzte Reichsgraf von Elmt zu sein. Aussterben ist vornehm.« (HA 29) Die Vorstellung von der angeblichen Vornehmheit des Aussterbens markiert gewiss nicht den Common Sense unter Adeligen, sondern sie ist allein das Resultat der als dekadent gekennzeichneten Lebenshaltung

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Thilos, in der noch die Vorstellung des eigenen Untergangs ästhetisiert wird. Auch Annemarie erscheint als Vertreterin einer Adelskultur, welcher der Untergang droht. Nachdem sie zunächst als »der echte, letzte Spross« (HA 15) ihrer »Rasse« (ebd.) eingeführt wird, thematisiert der Text bereits kurz darauf das Problem der Sicherung des familiären Fortbestandes: »Aber, da war ja das Andere, das Schreckliche gekommen, das Kind und der Tod des Kindes und diese grausame Krankheit.« (HA 17) Die Ursachen für den Tod des Kindes werden nicht genannt und wären ohnehin zweitrangig, entscheidender ist das Ergebnis: Annemarie wird gleich zu Beginn des Textes als eine von Krankheit in ihrer Vitalität bedrohte Figur vorgestellt, deren bisherige Versuche, gesunde Kinder in die Welt zu setzen und damit die Familienkontinuität zu sichern, gescheitert sind.125 Zwar scheint es mit Blick auf den Hinweis, Annemarie sei nun wieder »gesund« (ebd.) zunächst so, als sei eine Abwendung des Untergangs möglich. Doch der Verlauf der Handlung und insbesondere der unumstößliche Tatsachen schaffende Suizid der Protagonistin entlarven diese Hoffnung als vergeblich. Am Ende, daran lässt der Text keinen Zweifel, besteht das Schicksal von adeligen Figuren wie Thilo und Annemarie darin, auszusterben, oder wie Rasch es formuliert: »Dieser Adel bezahlt seine Schwäche mit seinem Untergang, der sich schon ankündigt.« (Rasch 1986, 230) 6.4.5 Von Danae zu Ophelia Unter dem Aspekt der Textkomposition betrachtet liegt das Ende der Novelle schon in seinem Anfang begründet. Es scheint im Grunde undenkbar, dass die Geschichte der als dekadent und lebensuntauglich geschilderten Protagonistin anders enden könnte als in einer Katastrophe. Von dem Moment an, an dem Annemarie als letzter Spross ihrer Art in die Geschichte eingeführt wird, ist diese Figur bereits zum Untergang verurteilt. Gleichwohl wird ihre Selbsttötung auch kausal motiviert und psychologisch begründet. Als eine erste Ursache für ihren Suizid wird dem Leser die endgültige Trennung der Protagonistin von dem ge-

125 Natürlich betrifft die mangelnde Nachkommenschaft auch Felix, allerdings waren es aus zeitgenössischer Perspektive vor allem die Frauen, denen innerhalb einer Ehe die Verantwortung für die Geburt eines gesunden Kindes zugeschrieben wurden: »Adlige Frauen, besonders diejenigen, die einen Gutsbesitzer geheiratet hatten, standen daher nach ihrer Eheschließung unter einem besonderen Druck, einen männlichen Erben zu gebären.« (Wienfort 2006, 117) Anders als bei Annemarie scheint zudem die Fortpflanzung des sexuell aktiven und den Ausgang der Novelle überlebenden Felix weiterhin möglich.

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liebten Thilo präsentiert. Schwerer noch als dieser Abschied aber wiegt offenbar der Umstand, dass sich nach dieser Abreise Annemaries ästhetische Lebenshaltung nicht mehr in ihrer zuvor geschilderten Radikalität aufrechterhalten lässt. Thilos letzter und ganz seiner ästhetischen Sicht auf Annemarie als »kostbares Bild« (Rasch 1986, 227) entsprechender Ratschlag, »›Du musst immer ganz du sein. Nichts Fremdes hereinlassen. Du bist eben ein Einfall des Schöpfers, der keine Striche verträgt.‹« (HA 80), entpuppt sich schlussendlich als nicht umsetzbar. Denn am Ende der Novelle ist Felix nicht mehr bereit, die Asexualität seiner Ehefrau zu tolerieren. Nachdem er beschlossen hat, das Leben sei »einfach, man muß es nur mit ruhiger fester Hand angreifen« (HA 75) erzwingt er den ehelichen Beischlaf: »Nachts, wenn es stille war, [...] dann kauerte in dem weißen Zimmer, unter der weißen Ampel das weiße Figürchen auf dem Bette. Die Augen, sehr dunkel in all dem Weiß, schauten ihm angstvoll entgegen. Und der schmale, kühle Körper hatte den Ausdruck hochmütig verschlossener Qual. – Nach solchen Nächten war das Herz ihm wund von einem bitteren, grausamen Machtgefühl. Und doch – er mußte das immer wieder erleben.« (HA 87)

Es sind vor allem diese »sexuellen Zumutungen« (Thomé 1993, 569), die Annemarie die Fortführung ihrer asexuellen und ästhetisierten Lebensweise unmöglich machen. Insofern lässt sich ihr Suizid also durchaus als ein Akt der Selbstbehauptung deuten, der Teil einer kausalen Geschehensmotivierung ist: Bevor sich Annemarie – die in ihrer Lebenshaltung durch Thilos Abschiedsworte noch bestärkt wurde – zu einem Dasein zwingen lässt, das ihren ästhetischen Maximen widerspricht, nimmt sie sich das Leben. Konsequenterweise ist die stilisierte Form der Selbstauslöschung, mit der die ästhetischen Daseinsmaximen gegen die durch ihren Ehemann aufgezwungene Wirklichkeit behauptet werden, selbst noch ein ästhetisierter Akt. Diese Ästhetisierung ist auf zwei unterschiedlichen Ebenen angesiedelt und sowohl kompositorisch als auch kausal motiviert. Kausal motiviert ist sie insofern, als das Mitführen einiger zur Stilisierung des Todes beitragender Requisiten wie dem weißen Kleid oder dem Fliederzweig innerhalb der erzählten Welt zunächst eine intentionale Handlung Annemaries markiert. Allerdings: Wenn diese Figur ihren Suizid auf eine bestimmte Weise inszeniert, so erscheint dies aus der Agentenperspektive innerhalb der erzählten Welt zwar als eine logische Fortsetzung der ästhetischen Lebensführung Annemaries, jedoch noch nicht als

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Verweis auf Shakespeares Hamlet.126 Der Bezug des Suizids in Harmonie zum Ophelia-Motiv entsteht erst durch etwas, das jenseits der erzählten Welt liegt, nämlich durch das Phänomen einer unmarkierten Intertextualität. Diese Intertextualität realisiert sich in der kompositorischen Anordnung der einzelnen Versatzstücke, die zur Tradition der literarischen und bildkünstlerischen OpheliaDarstellung zählen. Die genaue Auswahl und Kombination dieser einzelnen Elemente geht über die den innerhalb der erzählten Welt gültigen Gesetzmäßigkeiten und Kausalitäten hinaus.127 Insofern sie sich aber nicht mehr allein aus den Gesetzmäßigkeiten der erzählten Welt erklären lassen, ist die Kombination der einzelnen Elemente und insbesondere auch die Suizidmethode des Ertrinkens vor allem Teil der kompositorischen Motivierung des Suizidgeschehens. Die Funktion der Todesart besteht letztlich darin, Annemarie als Ophelia zu inszenieren und damit einen Bezug zu dem seinerzeit populären künstlerischen Motiv herzustellen. Diese letzte Darstellung der Protagonistin als ertrinkenden Ophelia markiert damit eine Art abschließenden Kommentar des Textes zu dieser Figur. Die durchgängige Schilderung von Annemaries rein ästhetischer Existenzweise, ihre Stilisierung zur Danae und zu einem »Einfall des Schöpfers, der keine Striche verträgt« (HA 80) wird final beglaubigt und auf die Spitze getrieben, indem selbst der Tod der Protagonistin jenseits der Agentenperspektive noch als Kunstwerk bzw. Kunstzitat erscheint. Aus der Danae im Leben wird so die Ophelia im Tode.

126 Anders sähe dies aus, wenn innerhalb der erzählten Welt die Figuren den Suizid direkt mit Ophelia in Verbindung bringen würden oder wenn man wenigstens aus Äußerungen Annemaries oder des Erzählers folgern könnte, dass die Protagonistin Hamlet kennt und intentional oder unbewusst den Tod Ophelias nachahmt. Dies ist allerdings nicht der Fall. 127 Während beispielsweise das weiße Kleid noch einigermaßen plausibel als Ergebnis der in der erzählten Welt geschilderten Affinität Annemaries zu dieser Farbe erscheint, wird eine derartige Kausalerklärung für andere Elemente wie beispielsweise ihren Gesang oder auch die Wahl der Todesart schwierig. Spätestens die Kombination dieser vielen unterschiedlichen Elemente der Todesdarstellung (Todesart, Kleid, Gesang, Wahnsinn, Pflanzen und Blumen im Wasser, die Entkleidung Annemaries durch Felix) ist nicht mehr aus den Gesetzmäßigkeiten der erzählten Welt erklärbar.

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6.5 S CHÖNE F RAUENLEICHEN UND HÄSSLICHE T ODE . Z UR D ISPARITÄT WEIBLICHER S UIZIDDARSTELLUNGEN (Z WISCHENFAZIT ) Vergleicht man die in den vorangegangenen Kapiteln untersuchten Selbsttötungen weiblicher Protagonistinnen mit den in den ersten beiden Abschnitten gewonnen Erkenntnissen über das Schicksal ihrer literarischen Brüder, so sticht bei den Suiziden der Frauenfiguren eine gewisse Disparität ins Auge. Diese Verschiedenheit betrifft sowohl die jeweilige Art und Weise des Suizids als auch die Funktionen und Bedeutungen, die den Selbsttötungsmethoden in den einzelnen Texten jeweils zukommen: In Kellers Regine ist vor allem die soziale Codierung des Erhängens als Todesart des niederen Volkes relevant, durch welche die scheiternde Umwandlung der Protagonistin in eine Bürgerfrau akzentuiert wird. In der Analyse zu Fontanes Roman Cécile wurde neben der symbolischen Bedeutung der Selbstvergiftung als das Ende buchstäblich lebensmüder Figuren insbesondere die Verknüpfung zwischen dieser Todesart und der Pathologisierung der Protagonistin herausgearbeitet. Für die Todesart in Hauptmanns Drama Vor Sonnenaufgang ist primär die im Virginia und Lucretia-Motiv vorgeprägte kulturelle Semantik des Erstechens als weiblich-tugendhafter Akt der Selbstbehauptung von Bedeutung. In von Keyserlings Harmonie schließlich verweist die mit der Herstellung einer Ophelia-Figuration einhergehende Selbstertränkung auf die vollständig ästhetisierte Lebenshaltung der Protagonistin, bei der noch der Tod als ein stilisierter und künstlerischer Akt erscheint. Man wird nun möglicherweise geneigt sein mir entgegenzuhalten, diese angebliche Disparität unter den weiblichen Suiziden sei in erster Linie das Resultat der Zusammenstellung meines Untersuchungskorpus. So sei denn an dieser Stelle noch einmal versichert, dass die ausgewählten Werke durchaus eine gewisse Repräsentativität für die literarische Darstellung weiblicher Selbsttötung um 1900 reklamieren können. Anders als bei den Texten mit suizidalen Männerfiguren, für die sich mit dem Ertrinken der scheiternden Bürgersöhne und dem Erschießen der Adeligen und Offiziere zwei große Gruppen identifiziert ließen, die dem Gewirr der literarischen Selbstentleibungen eine gewisse Ordnung verliehen, herrscht bei der Selbsttötung weiblicher Protagonistinnen schon im Hinblick auf die unterschiedlichen Suizidmethoden ein beinahe regellos erscheinendes Durcheinander. Da finden sich neben den weiblichen Figuren, die sich erhängen (in Kellers Regine), auch solche, die sich erstechen (in Hauptmanns Vor Sonnenaufgang, Beer-Hofmanns Der Graf von Charolais, Heinrich Manns Die kleine Stadt, Döblins Die Tänzerin und ihr Leib), die sich vergiften (in Fontanes Cécile, C.F. Meyers Die Richterin, Wedekinds Schloss Wetterstein) oder die sich

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ertränken (in von Keyserlings Harmonie, von Saars Die Geigerin, Fontanes Unwiederbringlich oder Schnitzlers Der einsame Weg). Ferner gibt es weibliche Figuren, die in den Tod stürzen (in von Hofmannsthals Die Hochzeit der Sobeide, Schnitzlers Das neue Lied, Wedekinds Die Zensur oder von Saars Sappho), die sich verbrennen (in Fontanes Grete Minde) oder die im Straßenverkehr Suizid begehen (in Hauptmanns Die Ratten). Selbst der Tod durch Erschießen, über den Karin Tebben formulierte: »Greift in der deutschen Literatur jemand zur Pistole, um seinem Leben ein Ende zu setzen, dann ist es gewiss nicht eine Frau« (Tebben 2002, 1),128 wird in den Texten dieser Zeit und namentlich bei Wedekind (In Der Kammersänger und in Franziska) zum Schicksal weiblicher Figuren. Zwei Punkte erscheinen mir an dieser Disparität der weiblichen Suizide in der Literatur um 1900 bemerkenswert. Erstens steht diese breite und relativ gleichmäßige Verteilung der Todesarten nicht im Einklang mit den für die zeitgenössische außerliterarische Suizidpraxis konstatierten »geschlechtsspezifischen Präferenzen bei der Methodenwahl« (Baumann 2001, 254), der zufolge Frauen mit großer Häufigkeit die sogenannten »weichen Methoden« (ebd) wie Gift oder das Ertränken bevorzugen.129 Diese Differenz zwischen Kunst und Realität führt einmal mehr zu der im Grunde banalen Feststellung, dass sich das Potenzial von Literatur ganz offensichtlich nicht darin erschöpft, eine wie auch immer geartete Wirklichkeit nachzuahmen. Gleichwohl aber erscheint mir die Disparität der Todesarten weiblicher Figuren mit Blick auf meinen zweiten Punkt dennoch etwas überraschend: Elisabeth Bronfen hat in ihrer vielbeachteten Monographie Nur über ihre Leiche die Existenz eines insbesondere in Kunst und Literatur des 19. Jahrhundert weit verbreiteten Topos von der Darstellung der toten Frau als »superlativisch schöne[r], begehrenswerte[r] weibliche[r] Leiche« (Bronfen 1996, 96) herausgearbeitet. Bronfen zufolge erscheine die tote Frau als »ein ästhetisch ansprechender Leichnam, der Harmonie, Ganzheit und Unsterblichkeit suggeriert« (ebd., 24), durch welchen die »Vorstellung von Auflösung, Fragmentierung und Unzulänglichkeit widerlegt« (ebd., 93) und die »sogenannte ›Destruktionskraft‹ der Natur« (ebd., 152) verdrängt werde. Die patriarchalische Kultur benutze Literatur und Kunst »um den Tod der schönen Frau zu träumen.

128 Dabei scheint mir Tebbens Einschätzung für die deutschsprachige Literatur vor 1890 zuzutreffen. 129 Vgl. zu der geschlechtsspezifischen Auswahl der Methoden ferner Gates 1988, 135; Anderson 1987, 19f.; MacDonald/Murphy 1990, 248; Lind 1999, 330f. Auch in den zeitgenössischen Forschungsarbeiten wurde eine geschlechtsspezifische Präferenz bei der Methodenwahl angenommen. Vgl. hierzu exemplarisch Otto 1863, 247; Gaupp 1910, 17; Marcuse 1919, 258; Füllkrug 1919, 116.

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Sie kann damit, (nur) über ihre Leiche, das Wissen um den Tod verdrängen und zugleich artikulieren.« (ebd., 10) Wenn Bronfen mit ihrer These Recht hätte und wenn dieses Verhältnis von Ästhetik, Weiblichkeit und Tod auch für literarische Darstellung weiblicher Suizide um 1900 Gültigkeit besäße, so müssten in den entsprechenden Texten dieser Zeit einige Suizidarten häufiger und andere seltener vorkommen. Denn die Vorstellung von einer schönen, ganzheitlichen, unversehrten Leiche, aus der »alle Spuren der Inschrift des Todes« (ebd., 97) getilgt sind, geht mit bestimmten Arten der Selbsttötung, wie dem Ertrinken oder dem Vergiften, die das Körperäußere weitgehend unversehrt lassen, eher zusammen als mit anderen Suizidmethoden. Pointiert formuliert: Die Schilderung einer weiblichen Figur, die sich den Kopf wegschießt, die sich anzündet, die sich mit einem Dolch die Brust aufschlitzt oder der nach einem Sturz alle Glieder gebrochen sind, ist nicht unbedingt dazu geeignet, die Vorstellung eines schönen unversehrten Leichnams zu evozieren.130 Einige der zurückliegend untersuchten Todesdarstellung wie etwa die Schilderung der leblosen Annemarie in Harmonie oder auch die der toten Regine in Kellers gleichnamiger Novelle bedienen durchaus den Topos der schönen weiblichen Leiche. Andere Werke verhalten sich neutral, indem sie wie in Cécile weder die Zerstörung des Körpers noch die Schönheit der Verstorbenen besonders in Szene setzen. Und dann gibt es schließlich jene Werke, die gerade das destruktive und grauenvolle Element des Sterbens herausstellen. Bereits in der Analyse zu Vor Sonnenaufgang habe ich argumentiert, der Suizid mit einer martialischen Waffe wie einem Hirschfänger evoziere in Verbindung mit der entsetzten Reaktion der Dienstmagd eher das Bild eines hässlichen Todes denn dasjenige einer schönen Leiche. Darüber hinaus aber finden sich in der Literatur dieser Zeit auch Darstellungen weiblicher Suizide, die dezidiert gerade die brutale Zerstörung des Körpers betonen. So heißt es beispielsweise in von Saars Sappho, über die Dichterin, die versucht, sich ins Meer zu stürzen: »Das heißt, sie wollte sich hineinstürzen. Der Felsen aber, ein sehr beliebter Aussichtspunkt, fällt nicht ganz steilrecht ab. Sie traf also auf vorspringende, vielfach Gezackte Wandungen und langte mit zerschmetterten Gliedern und blutender Stirn unten an« (von Saar 1980, 58). Ebenfalls eher brutal erscheint das Ende der Tänzerin in Döblins Die Tänzerin und ihr Leib: »Und [sie] stieß sich, die Decke abwer-

130 Die Vorstellung von einer bestimmten Ästhetik des weiblichen Suizids kursierte auch in den zeitgenössischen Untersuchungen realer Suizide. So bemerkte Gerhard Füllkrug bereits 1919: »Frauen meiden Todesarten, durch die der Körper verstümmelt wird und wählen solche, die das Ansehen des Körpers nicht verändern, wie Wasser und Gift.« (Füllkrug 1919, 117)

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fend, die Nähschere in die linke Brust. Ein geller Schrei stand irgendwo in der Ecke des Saales. Noch im Tode hatte die Tänzerin den kalten verächtlichen Zug um den Mund.« (Döblin 2010, 22) Martialische Suizidschilderungen wie diese legen den Schluss nahe, dass zumindest für die literarische Darstellung weiblicher Selbsttötungen der Topos der schönen Frauenleiche am Übergang zum 20. Jahrhundert längst nicht (mehr) uneingeschränkt relevant war. Wenn man sich überdies vor Augen führt, dass mit Regine, Cécile und Harmonie drei der vier zurückliegend untersuchten Texte die Produktion von Frauenbildern durch männliche Protagonisten thematisieren und problematisieren, so ist dies meines Erachtens ein Indiz dafür, dass es bei den zeitgenössischen Literaten durchaus ein kritisches Bewusstsein für die literarische Produktion von Weiblichkeitsimaginationen gab. Diese künstlerische Selbstreflexion über die kulturelle Produktion von Frauenbildern mag möglicherweise auch zu einer etwaigen Veränderung der Darstellungskonventionen weiblichen Suizids beigetragen haben.131 In jedem Fall aber lässt sich konstatieren, dass die literarische Darstellung der Selbsttötung von Frauenfiguren um 1900 nicht uneingeschränkt darauf zielte, den beinahe Klischee gewordenen Topos der schönen weiblichen Leiche zu bedienen.

131 Ob es eine solche Veränderung der Darstellungskonventionen weiblichen Suizids gab, kann an dieser Stelle allerdings nicht beurteilt werden. Dazu müsste man sich die Darstellungskonventionen zu einem anderen Zeitpunkt der deutschsprachigen Literaturgeschichte – etwa um 1800 – ansehen, um so eine diachrone Perspektive auf das Thema herzustellen. Hier wäre weitere Forschungsarbeit nötig.

7. Eine Funktionstypologie literarischer Suizidarten (Schluss)

»›Wie würdest du dir das Leben nehmen?‹, fragte mein Vater. Meine Mutter fuhr ihn an, sie finde diese Frage wohl das Geschmackloseste, was sie je gehört habe.‹« (Köhlmeier 2014, 73)

Abschließend darf ich nun möglicherweise darauf hoffen, der geneigte Leser habe meine Ausführungen zu den literarischen Suizidarten nicht in der gleichen Weise als Geschmacklosigkeit empfunden wie die Mutter das Gesprächsangebot des Vaters in Michael Köhlmeiers Roman Die Abenteuer des Joel Spazierer. Mein Ansinnen war es vielmehr, mit der nötigen Pietät, aber ohne ethische Implikationen an das seit jeher kontrovers diskutierte Phänomen der Selbsttötung heranzutreten, um das in der Forschung bisher außer Acht gelassene Potenzial zu ergründen, das die Art und Weise des Suizids für literarische Texte bereitstellt. Bei meinem Streifzug durch die deutschsprachige Literatur um 1900 offenbarte sich mir ein Panorama unterschiedlicher Funktionen und Bedeutungen, welche mit den Selbsttötungsmethoden der Figuren verknüpft sein können. Die in den Textanalysen herausgearbeiteten Bedeutungen verschiedener Suizidarten – beispielsweise die kulturell tradierte Semantik des Erschießens als heroischentschlossener Tod, die Codierung des Erhängens als Todesart der unteren Bevölkerungsschichten oder die Konnotation des Ertrinkens als weibliche Todesart – habe ich bereits in den Zwischenfazits wieder aufgegriffen und resümiert. Ich werde mich daher an dieser Stelle darauf beschränken, mit Blick auf meine Analysen in einer Typologie fünf Funktionen zu benennen, die den Selbsttötungsmethoden in literarischen Texten zukommen können. Meine schematische Darstellung, in der die einzelnen Typen notwendig nacheinander thematisiert werden, soll aber keinesfalls darüber hinwegtäuschen, dass die Suizidart in ein und demselben Text durchaus auch mehrere und miteinander verknüpfte Funktionen gleichzeitig erfüllen kann.

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1. Die illusionsbildende Funktion: Dieser basale Typus betrifft vor allem den Bereich der kausalen Geschehensmotivierung. Gemeint ist mit der illusionsbildenden Funktion, dass unter bestimmten Umständen auch nur bestimmte Todesarten glaubhaft an das vorangehende Geschehen anknüpfen können. So würde es mit Blick etwa auf Schach von Wuthenow und Vae Victis! wenig plausibel erscheinen, wenn sich eine stark über ihr Offizierstum definierte Figur auf eine andere Weise als durch die Pistole oder den Säbel das Leben nähme, ohne dass dies irgendwie im Text begründet würde. Dieser Funktionstypus, der darauf abzielt, die Kohärenz und Stabilität der erzählten Welt und damit die Illusion eines offenen Möglichkeitshorizonts zu bewahren, liegt insbesondere in Texten mit realistischem Anspruch in der Regel vor. Dabei kann sich die Relevanz der Suizidart durchaus bereits darin erschöpfen, das Geschehen plausibel bzw. realistisch erscheinen zu lassen. Auf der anderen Seite sind aber auch Texte vorstellbar, in denen diese Funktion nicht erfüllt und die Auswahl der Suizidmethode aus der Handlung nicht mehr logisch zu erklären ist. Mit Schillers Räubern habe ich ein bekanntes Beispiel dafür bereits in der Einleitung angesprochen. 2. Die ästhetische Funktion: Die ästhetische Funktion der Suizidmethode betrifft das Potenzial, das eine bestimmte Weise der Selbsttötung für bestimmte Arten der Stilisierung insbesondere von Sterben und Tod besitzt. Die ästhetisierte Darstellung einer verstorbenen Frau als schöner weiblicher Leiche, etwa in Harmonie, wird durch eine Todesart wie das Ertrinken tendenziell ermöglicht, während andere Suizidarten, wie beispielsweise das Verbrennen, dafür eher nicht geeignet sind. Analog dazu taugen die Pistolensuizide im Schach von Wuthenow und in Vae Victis! besser dazu, die Toten als aufrecht sitzende Leichen in Szene zu setzen, als dies etwa beim Ertrinken der Fall wäre. Kurzum: Die Suizidart in einem literarischen Text kann auch die Funktion erfüllen, eine bestimmte Ästhetik des Todes und der Darstellung der Leiche zu ermöglichen. 3. Die Kommentarfunktion: Nicht zuletzt unter Rückgriff auf die kulturelle Semantik einer Suizidmethode kann die Todesart in einem literarischen Text auch als ein Kommentar zu der sich das Leben nehmenden Figur und/oder zum dargestellten Geschehen fungieren. Beispiele dafür sind etwa der weiblich konnotierte Ertrinkungstod in Einsame Menschen, durch den dem Protagonisten die Männlichkeit aberkannt wird, oder auch der Tod durch Digitalis in Cécile, durch welchen Fontanes Roman einen Bezug zwischen der Pathologisierung und dem Suizid der Protagonistin herstellt. Dieser Funktionstypus betrifft in der Regel die kompositorische Motivierung des Suizidgeschehens. 4. Die intertextuelle Verweisfunktion: Bereits Peter von Matt merkte mit Blick auf das Drama an, es gebe kaum »eine Variante des Bühnentodes, die nicht Erinnerung an ihre Vorgänger wachruft« (von Matt 1994, 14). Auch wenn von

7.

E INE F UNKTIONSTYPOLOGIE LITERARISCHER S UIZIDARTEN (S CHLUSS)

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Matt hier möglicherweise etwas übertreibt, so kann man nicht in Abrede stellen, dass auch Suizidarten als intertextueller Verweis auf andere Werke der Literatur fungieren können. Beispiele aus dem Korpus der vorliegenden Arbeit sind etwa der Ophelia/Hamlet-Bezug in Harmonie oder der intertextuelle Verweis auf das Virginia- und Lucretia-Motiv in Vor Sonnenaufgang. 5. Die tropische Funktion: Bei diesem letzten Funktionstypus ist die Suizidart mit einer bestimmten Form der Bildsprachlichkeit (symbolisch, metaphorisch, allegorisch, also tropisch im weitesten Sinne) verknüpft, die entweder bereits im Text angelegt ist oder erst durch die Selbsttötung eingeführt wird. So lässt sich etwa der Suizid durch eine Überdosis Schlafpulver in Stine als sinnbildlicher Ausdruck der zuvor im Text thematisierten Erschöpfung und Lebensmüdigkeit des Protagonisten verstehen, während die besondere Art des Erschießens in Frühlings Erwachen den Tod des Protagonisten mit der für das Drama wichtigen Metapher der Kopflosigkeit verbindet. Dabei produziert die literarische Suizidmethode einen semantischen Mehrwert, der über ihre bloße Bedeutung als Repräsentation einer Todesart hinausgeht. Noch einmal sei hier darauf verwiesen, dass die Funktionskategorien keine disjunkten, miteinander unvereinbaren Alternativen markieren. Vielmehr können sie sich gegenseitig bedingen und in Wechselwirkung stehen. So kann beispielsweise der in einer Suizidart verwirklichte intertextuelle Verweis auf ein anderes Werk oder einen Topos zugleich die Funktion eines Kommentars erfüllen, wie dies etwa in Vor Sonnenaufgang der Fall ist. Ebenso ist es wie im Schach von Wuthenow möglich, dass der Todesart zugleich eine illusionsbildende und eine ästhetische Funktion zukommen. Es wäre in der Tat ein sehr eigentümliches Kunstverständnis, wollte man annehmen, ein so komplexes Gebilde wie ein literarischer Text wäre nicht in der Lage, mit ein und demselben Element mehrere Dinge gleichzeitig anzustellen. Bei meiner Aufzählung potenzieller Funktionen der Suizidart reklamiere ich im Übrigen nicht den Verdienst der Vollständigkeit. Möglicherweise ließen sich bei der Analyse weiterer literarischer Texte, vielleicht in anderen Nationalliteraturen oder in anderen Epochen der Kulturgeschichte, noch etliche Funktionen aufspüren, die mir in dieser Arbeit entgangen sind. Dass zu den Funktionen und Bedeutungen der literarischen Selbsttötungsmethoden schon alles gesagt sei, das würde ich auch am Ende dieser Arbeit nun nachgerade nicht behaupten wollen. Denn wie schon die Figuren in den Abenteuern des Joel Spazierer erfahren sollten, ist die Frage nach den Suizidarten nicht nur ein ›weites Feld‹, sondern auch ein mindestens abendfüllendes Thema: »Bis es dunkel wurde unterhielten wir uns über verschiedene Arten, sich selbst zu töten. Auch Mama beteiligte sich schließlich an dem Gespräch, und sie fand es nicht mehr geschmacklos.« (Köhlmeier 2014, 73)

Siglenverzeichnis

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Eine Schrift sowohl für Policei- und Justiz-Beamte, als auch für gerichtliche Aerzte und Wundaerzte, für Psychologen und Volkslehrer. Hannover: Hahn. Otto, o.A. (1863): Die freiwilligen Todesarten. Ein Beitrag zur Statistik des Selbstmordes. In: Correspondenzblatt der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und gerichtliche Psychologie 10. S. 233-250. Palmier, Jean-Pierre (2011): Gefühlte Schuld ist immer zweifellos. Unentscheidbares Erzählen und emotionales Erleben am Beispiel von Franz Kafkas Das Urteil. In: Sentimentalität und Grausamkeit: ambivalente Gefühle in der skandinavischen und deutschen Literatur der Moderne. Hrsg. von Sophie Wennerscheid. Berlin: LIT-Verlag. S. 195-211. Pankau, Johannes (2005): Sexualität und Moderne. Studien zum deutschen Drama des Fin de Siècle. Würzburg: Königshausen & Neumann. Pedde, Antje (2009): ›Große Dichtung redet von der Frau oft nicht anders als der Biertisch‹. Untersuchungen der Wechselbeziehungen von Narration und Geschlechterdiskurs in Gottfried Kellers »Sinngedicht« und »Eugenia«Legende. Peter, Ulrike (1997): Das Frauenbild im späten Erzählwerk Eduard von Keyserlings. Darstellung an ausgewählten Erzählungen und Romane. Essen: Blaue Eule. Pfister, Manfred (1997): Das Drama. 9. Auflage. München: Fink. Planert, Ute (2000): Der dreifache Körper des Volkes: Sexualität, Biopolitik und die Wissenschaften vom Leben. In: Geschichte und Gesellschaft 26. S. 539576. Plett, Bettina (2007): Rahmen ohne Spiegel. Das Problem des Betrachters bei einem »Mangel an Sehenswürdigkeiten« in Fontanes »Cécile«. In: Theodor Fontane. Neue Wege der Forschung. Hrsg. von ders. Darmstadt: WBG. S. 230-245. Pohlheim, Karl-Konrad (1992): Der gezielte Zufall. Ein Versuch über Gottfried Kellers Regine. In: Kleine Schriften zur Textkritik und Interpretation. Hrsg. von Ders. Bern: Peter Lang. S. 297-319. Polgar, Alfred (1985): Gerhart Hauptmann. Einsame Menschen. In: Alfred Polgar. Kleine Schriften. Bd. 5. Hrsg. von Marcel Reich-Ranicki. Reinek: Rowohlt. S. 53-57. Polt-Heinzl, Evelyne (2000): Erläuterungen und Dokumente. Arthur Schnitzler. Leutnant Gustl: Stuttgart: Reclam. Polt-Heinzl, Evelyne (2006): Leutnant Gustl. Vom freien Assoziationsverkehr. In: Arthur Schnitzler. Affairen und Affekte. Hrsg. von ders. Wien: Brandstätter. S. 85-95.

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Anhang

Anhang: Tabellarische Übersicht über die Suizide in der deutschsprachigen Literatur zwischen ca. 1880 und 1914

Autor

Titel

Gattung

Jahr

Geschl.

Suizidart

1.

T. Fontane

Grete Minde

Epik

1879

Weibl.

Verbrennen

2.

G. Keller

Regine

Epik

1881

Weibl.

Erhängen

3.

T. Fontane

Ellernklipp

Epik

1881

Männl.

Erschießen

4.

T. Fontane

Schach von Wuthenow

Epik

1882

Männl.

Erschießen

5.

F. von Saar

Vae Victis!

Epik

1883

Männl.

Erschießen

6.

T. Fontane

Graf Petöfy

Epik

1884

Männl.

Erschießen

7.

C.F. Meyer

Die Richterin

Epik

1885

Weibl.

Vergiften

8.

T. Fontane

Cécile

Epik

1886

Weibl.

Vergiften

9.

F. von Saar

Die Geigerin

Epik

1887

Weibl.

Ertrinken

10.

T. Storm

Der Schimmelreiter

Epik

1888

Männl.

Ertrinken

11.

M. Kretzer

Meister Timpe

Epik

1888

Männl.

Ersticken

12.

T. Fontane

Stine

Epik

1889

Männl.

Vergiften

13.

G. Hauptmann

Vor Sonnenaufgang

Dramatik

1889

Weibl.

Erstechen

14.

F. Wedekind

Frühlings Erwachen

Dramatik

1891

Männl.

Erschießen

15.

T. Fontane

Unwiederbringlich

Epik

1891

Weibl.

Ertrinken

16.

G. Hauptmann

Einsame Menschen

Dramatik

1891

Männl.

Ertrinken

17.

R. Voss

Zwei Menschen

Epik

1891

Weibl.

Sturz

Männl.

Verhungern

372 │ VON DER T ORHEIT , WÄHLERISCH ZU STERBEN

18.

F. Wedekind

Der Erdgeist

Dramatik

1895

Männl.

Guillotinieren

19.

F. von Saar

Doktor Trojan

Epik

1896

Männl.

Guillotinieren

20.

T. Mann

Der kl. Herr Friedemann

Epik

1897

Männl.

Ertrinken

21.

A. Schnitzler

Der Ehrentag

Epik

1897

Männl.

Erhängen

22.

G. Hauptmann

Fuhrmann Henschel

Dramatik

1898

Männl.

Unklar

23.

A. Schnitzler

Das Vermächtnis

Dramatik

1898

Weibl.

Unklar

24.

F. Wedekind

Der Kammersänger

Dramatik

1899

Weibl.

Erschießen

25.

H. von Hof-

Die Hochzeit der Sobei-

Dramatik

1899

Weibl.

Sturz

mannsthal

de

26.

G. Hauptmann

Michael Kramer

Dramatik

1900

Männl.

Verm. Ertrink.

27.

F. von Saar

Der Brauer von Habro-

Epik

1900

Männl.

Epik

1900

Männl.

Erhängen

van 28.

A. Schnitzler

Lieutenant Gustl

Geplantes Erschießen

29.

M. von Ebner-

Der Vorzugsschüler

Epik

1900

Männl.

Ertrinken

Eschenbach 30.

F. Wedekind

Der Marquis von Keith

Dramatik

1901

Weibl.

Ertrinken

31.

E. Strauß

Freund Hein

Epik

1902

Männl.

Erschießen

32.

A. Schnitzler

Die Fremde

Epik

1902

Männl.

Erschießen

33.

F. Wedekind

Hidalla oder Sein und

Dramatik

1904

Männl.

Erhängen

Haben 34.

F. von Saar

Sappho

Epik

1904

Weibl.

Sturz

35.

A. Schnitzler

Der einsame Weg

Dramatik

1904

Weibl.

Ertrinken

36.

A. Holz

Traumulus

Dramatik

1904

Männl.

Erschießen

37.

F. Wedekind

Totentanz

Dramatik

1905

Männl.

Erschießen

38.

A. Schnitzler

Das neue Lied

Epik

1905

Weibl.

Sturz

39.

M. Böhm

Tagebuch einer Verlo-

Epik

1905

Weibl.

Ertrinken

40.

E. v. Keyserling

Harmonie

Epik

1905

Weibl.

Ertrinken

41.

R. Beer-Hofman

Der Graf von Charolais

Dramatik

1905

Weibl.

Erstechen

42.

H. Hesse

Unterm Rad

Epik

1905

Männl.

Ertrinken

renen

A NHANG

43.

E. v. Keyserling

44.

G. Hauptmann

│ 373

Schwüle Tage

Epik

1906

Männl.

Vergiften

Gabriel Schillings

Dramatik

1906

Männl.

Ertrinken

Flucht 45.

F. Wedekind

Die Zensur

Dramatik

1906

Weibl.

Sturz

46.

A. Holz

Sonnenfinsternis

Dramatik

1908

Weibl.

Sturz

47.

H. Mann

Die Branzilla

Epik

1908

Männl.

Erhängen

48.

H. Mann

Die kleine Stadt

Epik

1909

Weibl.

Erstechen

49.

H. Hesse

Gertrud

Epik

1910

Männl.

Unklar

50.

G. Hauptmann

Die Ratten

Dramatik

1911

Weibl.

Überfahren lassen

51.

F. Wedekind

Franziska

Dramatik

1911

Weibl.

Erschießen

52.

G. Kaiser

Von morgens bis mit-

Dramatik

1912

Männl.

Erschießen

53.

F. Wedekind

Dramatik

1912

ternachts

54.

A. Schnitzler

Schloss Wetterstein

Frau Beate und ihr Sohn

Epik

1913

Männl.

Erschießen

Weibl.

Vergiften

Männl.

Ertrinken

Weibl.

Ertrinken

55.

F. Kafka

Das Urteil

Epik

1913

Männl.

Ertrinken

56.

A. Döblin

Die Tänzerin und ihr

Epik

1913.

Weibl.

Erstechen

57.

E. v. Keyserling

Abendliche Häuser

Epik

1914

Männl.

Erschießen

58.

E. v. Keyserling

Am Südhang

Epik

1914

Männl.

Erschießen

Leib

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