Macht und Herrschaft: Praktiken – Strukturen – Begründungen [1 ed.] 9783737009683, 9783847109686

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Macht und Herrschaft: Praktiken – Strukturen – Begründungen [1 ed.]
 9783737009683, 9783847109686

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Matthias Becher

Macht und Herrschaft Praktiken – Strukturen – Begründungen

Ausgewählte Aufsätze zum 60. Geburtstag herausgegeben von Linda Dohmen, Florian Hartmann, Hendrik Hess und Daniel König

V& R unipress Bonn University Press

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. Verçffentlichungen der Bonn University Press erscheinen im Verlag V& R unipress GmbH.  2019, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Karl der Kahle erhÐlt die sog. Vivian-Bibel, Paris BnF, lat. 1, fol. 423r. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-7370-0968-3

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Tabula gratulatoria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Praktiken Vater, Sohn und Enkel. Die Bedeutung von Eintritts- und Anwachsungsrecht für die Herrschaftsnachfolge im Frankenreich

. . . .

15

Die subiectio principum. Zum Charakter der Huldigung im Franken- und Ostfrankenreich bis zum Beginn des 11. Jahrhunderts . . . . . . . . . . .

35

Erbe von Kaisers Gnaden. Welf IV. und das süddeutsche Erbe der Welfen

61

Karl der Gute als Thronkandidat im Jahr 1125. Gedanken zur norddeutschen Opposition gegen Heinrich V. . . . . . . . . . . . . . . .

83

Strukturen Dynastie, Thronfolge und Staatsverständnis im Frankenreich . . . . . . . 101 Non enim habent regem idem Antiqui Saxones… Verfassung und Ethnogenese in Sachsen während des 8. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . 129 Drogo und die Königserhebung Pippins

. . . . . . . . . . . . . . . . . . 171

Die Auseinandersetzung Heinrichs IV. mit den Sachsen. Freiheitskampf oder Adelsrevolte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199

6

Inhalt

Begründungen Der sogenannte Staatsstreich Grimoalds. Versuch einer Neubewertung

. . 227

Eine verschleierte Krise. Die Nachfolge Karl Martells 741 und die Anfänge der karolingischen Hofgeschichtsschreibung . . . . . . . . . . . 261 Die Reise Papst Leos III. zu Karl dem Großen. Überlegungen zu Chronologie, Verlauf und Inhalt der Paderborner Verhandlungen des Jahres 799 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Der Name ›Welf‹ zwischen Akzeptanz und Apologie. Überlegungen zur frühen welfischen Hausüberlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Orts- und Personenregister

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355

Vorwort

Matthias Becher vollendet am 7. Juni 2019 sein 60. Lebensjahr. Aus diesem Anlass bringen wir eine kleine Auswahl seiner Beiträge erneut zur Veröffentlichung, die in inhaltlicher Kohärenz die Forschungsthemen des Jubilars bündelt. Mit dem Titel »Macht und Herrschaft« wurde bewusst ein Begriffspaar gewählt, um das nicht nur eine Vielzahl der Publikationen von Matthias Becher kreist, sondern das auch namengebend für den von ihm federführend beantragten und seit 2016 geleiteten DFG-Sonderforschungsbereich 1167 ist. Die Voraussetzungen und Strukturen von Macht und Herrschaft standen immer wieder im Mittelpunkt seiner Analysen wie auch konkrete Praktiken und Aushandlungsprozesse zwischen Herrschenden und Beherrschten. Das gilt bereits für die in seiner Dissertationsschrift thematisierte eidliche Verpflichtung der Untertanen auf Karl den Großen ebenso wie für die verfassungsmäßigen Grundlagen im Gefüge des östlichen Frankenreiches, die er zum Gegenstand seiner Habilitationsschrift machte. Auch in seinen Biographien Chlodwigs, Karls des Großen und Ottos des Großen bilden diese strukturellen und praxeologischen Kontextualisierungen den roten Faden. Methodisch zeichnen sich seine Arbeiten durch konsequente Historisierung und systematische Problematisierung der Quellen aus. Seine Forschungen zu Fragen mittelalterlicher Staatlichkeit im Allgemeinen und der Herrschernachfolge im Besonderen, dem Verhältnis von Siegern und Besiegten, ethnischen Formierungsprozessen, Dynastie- und Regionalgeschichte und, nicht zuletzt, zu Datierungsfragen weisen ihn als Wissenschaftler aus, der großen Wert auf eine akribische Analyse des Materials sowie auf eine saubere Argumentation legt, dabei aber dennoch den epochalen Überblick nicht scheut. In den Schriften Matthias Bechers rücken immer wieder die Mittel der Begründung, Legitimation oder Infragestellung von Macht und Herrschaft in den Fokus. Die hier erneut abgedruckten Aufsätze bilden diese Forschungsfelder in drei thematisch eng auf einander bezogenen Blöcken exemplarisch ab und vermitteln in dieser Zusammenschau einen Überblick über Erscheinungsformen von Macht und Herrschaft im europäischen Mittelalter.

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Vorwort

Der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn danken wir für ihre Unterstützung. Ausdrücklich möchten wir auch den Verlagen, Herausgeberinnen und Herausgebern der Bände danken, in denen die hier abgedruckten Beiträge erstmals erschienen sind. Sie haben zügig und unbürokratisch ihre Zustimmung zum Neuabdruck erteilt. Bei Redaktionsarbeiten und bei der Erstellung des Registers haben sich zahlreiche Helferinnen und Helfer engagiert, denen wir für ihre Unterstützung ebenso herzlich danken wie Oliver Kätsch vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, der sich sehr umsichtig um den vorliegenden Band verdient gemacht hat. Der größte Dank allerdings gilt dem Jubilar selbst. Ihm ist es ein zentrales Anliegen, seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein hohes Maß an (Eigen-) Verantwortung und Entscheidungsautonomie zuzugestehen. Seinen Schülerinnen und Schülern schenkt er nicht nur eine geduldige Betreuung sowie eine solide mediävistische Ausbildung, sondern auch alle Freiheit zur Entwicklung eigener Schwerpunkte und zur eigenen Entfaltung. Dabei lässt er sie mit abgewogenem und niemals aufgenötigtem Rat von seinen Erfahrungen und Überlegungen profitieren. Sein oft aufblitzender trockener Humor in Bezug auf die gelegentlichen Verwirrungen des allgemeinen Forschungsbetriebes sorgt in Situationen der größten Belastung für willkommene Erfrischung und Erdung. In gewisser Weise werden also »Macht und Herrschaft« hier in ihrer sympathischsten Form sichtbar. Im Namen seiner Schülerinnen und Schüler und aller, die am Zustandekommen dieses Bandes beteiligt waren, wünschen wir Matthias Becher von Herzen alles Gute, Freude an weiteren Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte und in erster Linie beste Gesundheit. Linda Dohmen

Florian Hartmann

Hendrik Hess

Daniel König

Tabula gratulatoria

Mechthild Albert, Bonn

Ann-Kathrin Deininger, Bonn

Clemens Albrecht, Bonn

Jürgen Dendorfer, Freiburg

Kim Alings, Köln

Philippe D8preux, Hamburg

Oliver Auge, Kiel

Deutsches Historisches Institut, Rom

Martin Aust, Bonn

Alain Dierkens, Brüssel

Manfred Balzer, Münster

Linda Dohmen, Bonn

Dieter R. Bauer, Stuttgart

Cornel Dora, St. Gallen

Uwe Baumann, Bonn

Wolfram Drews, Münster

Ingrid Baumgärtner, Kassel

Caspar Ehlers, Frankfurt am Main

Michael Belitz, Magdeburg

Franz-Reiner Erkens, Passau

Guido Berndt, Berlin

Stefan Esders, Berlin

Christine Beyer, Bonn

Rembert Eufe, Tübingen

Andreas Bihrer, Kiel

Gloria Alina Felder, Bonn

Albrecht Brendler, Bonn

Achim Fischelmanns, Bonn

Yvonne Breuer, Heimbach

Andreas Fischer, Wien

Elke Brüggen, Bonn

Gerhard Fouquet, Kiel

Marlon Brüßel, Bonn

Stephan Freund, Magdeburg

Enno Bünz, Leipzig

Franz Fuchs, Würzburg

Carsten Burhop, Bonn

Katharina Gahbler, Bonn

Andreas Büttner, Heidelberg

Claudia Garnier, Vechta

Martin Clauss, Chemnitz

Patrick Geary, Princeton

Roger Collins, Edinburgh

Julia Gehrke, Bonn

Daniel Colmenero Ljpez, Berlin

Peter Geiss, Bonn

Luise Margarete Cornely, Bonn

Dominik Geppert, Potsdam

Dittmar Dahlmann, Bonn

Dieter Geuenich, Duisburg

Jennifer R. Davis, Washington, D.C.

Hans-Werner Goetz, Hamburg

Frank Decker, Bonn

Knut Görich, München

10

Tabula gratulatoria

Frank Göttmann, Paderborn

Matthias Koch, Bonn

Marion Gymnich, Bonn

Susanne Koch, Bonn

Florian Hartmann, Aachen

Mario Kolvenbach, Bonn

Wolfgang Haubrichs, Saarbrücken

Theo Kölzer, Bonn

Werner Hechberger, Koblenz

Daniel König, Konstanz

Yitzhak Hen, Jerusalem

Ludger Körntgen, Mainz

Klaus Herbers, Erlangen

Volker Kronenberg, Bonn

Britta Hermans, Bonn Paul Herold, Wien

Christiane und Johannes Laudage (†), Nettersheim

Tobias Herrmann, Koblenz

R8gine Le Jan, Paris

Lea Herzog, Bonn

Johannes F. Lehmann, Bonn

Hendrik Hess, Bonn

Jasmin Leuchtenberg, Bonn

Ludger Honnefelder, Bonn

Daan Lijdsman, Nijmwegen

Karel Hruza, Wien

Gerhard Lubich, Bochum

Bernd Ulrich Hucker, Vechta

Christina Lutter, Wien

Wolfgang Huschner, Leipzig

Claudia Märtl, München

Holger Impekoven, Bonn

Tilman Mayer, Bonn

John Insley, Heidelberg

Michael McCormick, Cambridge (Mass.)

Tobias Jansen, Bonn

Rosamond McKitterick, Cambridge

Mike Janßen, Bonn

Inga Mehlert-Garms, Merzenich

Jörg Jarnut, Paderborn

Michael Menzel, Berlin

Waltraud Joch, Bonn

Philipp Merkel, Bonn

Peter Johanek, Münster

Jean-Marie Moeglin, Paris

Jochen Johrendt, Wuppertal

Harald Müller, Aachen

Georg Jostkleigrewe, Halle (Saale)

Lukas Müller, Bonn

Hermann Kamp, Paderborn

Birgit Ulrike Münch, Bonn

Gerd Kampers, Bonn

Gisela Muschiol, Bonn

Nicola Karthaus, Paderborn

Janet L. Nelson, London

Brigitte Kasten, Saarbrücken

Meta Niederkorn, Wien

Christian Kau, Bonn

Karoline Noack, Bonn

Sascha Käuper, Paderborn

Jessika Nowak, Basel

Annette Kehnel, Mannheim

Lisa Opp, Bonn

Karina Kellermann, Bonn

Klaus Oschema, Bochum

Max Kerner, Aachen

Bernd Päffgen, München

Martin Kintzinger, Münster

Jörg Peltzer, Heidelberg

Konrad Klaus, Bonn

Alheydis Plassmann, Bonn

Markus Knipp, Bonn

Hans Pohl, Bonn

11

Tabula gratulatoria

Walter Pohl, Wien

Gabriela Signori, Konstanz

Matthias Puhle, Magdeburg

Christian Stadermann, Mainz

Daniel Ramm, Bonn

Hannah Stelberg, Bonn

Natalie Rausche, Bonn

Rudolf Stichweh, Bonn

Helmut Reimitz, Princeton

Andrea Stieldorf, Bonn

Frank Rexroth, Göttingen

Peter Stotz, Zürich

Eugenio Riversi, Bonn

Jürgen Strothmann, Siegen

Francesco Roberg, Marburg

Birgit Studt, Freiburg

Una M. Röhr-Sendlmeier, Bonn

Christoph Studt, Bonn

Michael Rohrschneider, Bonn

Ove Sutter, Bonn

Georg Rudinger, Bonn

Detlev Taranczewski, Bonn

Andreas Rutz, Düsseldorf

Stefan Tebruck, Gießen

Oliver Salten, Bonn

Christian Thomas, Bonn

Laury Sarti, Freiburg

Christian Vogel, Saarbrücken

Georg Satzinger, Bonn

Thomas Vogtherr, Osnabrück

Maria Schäpers, Bochum

Marcel Fabian vom Bruch, Bonn

Thomas Schilp, Bochum

Konrad Vössing, Bonn

Daniel F. Schley, Bonn

Tobias Weller, Bonn

Eva Schlotheuber, Düsseldorf

Matthias Wemhoff, Berlin

Michael Schmauder, Bonn

Charles West, Sheffield

Reinhard Schmidt-Rost, Bonn

Claudia Wich-Reif, Bonn

Felicitas Schmieder, Hagen

Laura Wirges, Bonn

Mathias Schmoeckel, Bonn

Michael Wittig, Paderborn

Jens Schneider, Paris

Helge Wittmann, Mühlhausen

Bernd Schneidmüller, Heidelberg

Kordula Wolf, Rom

Joachim Scholtyseck, Bonn

Herwig Wolfram, Wien

Maximilian Schranner, Bonn

Harald Wolter-von dem Knesebeck, Bonn

Anja-Lisa Schroll, Bonn

Sandra Ziehms, Bonn

Christian Schwermann, Bochum

Thomas Zotz, Freiburg

Peter Schwieger, Bonn

Otto Zwierlein, Bonn

Praktiken

Vater, Sohn und Enkel. Die Bedeutung von Eintritts- und Anwachsungsrecht für die Herrschaftsnachfolge im Frankenreich

Die im Februar 806 erlassene »Divisio regnorum« legt eindrücklich Zeugnis ab von der – im Maßstab der Zeit – hohen Organisationskraft des Frankenreiches und vom Gestaltungswillen Karls des Großen.1 Das Reich sollte gleichmäßig unter seine drei Söhne Karl, Pippin und Ludwig geteilt werden. Deshalb wurden die gemeinsamen Grenzen ihrer Gebiete akribisch beschrieben. Es sollten drei annähernd gleich große und militärisch, wirtschaftlich und politisch gleich gewichtige Teilreiche entstehen. Aber Karl dachte weiter und sorgte sich auch darum, was nach dem Tod eines seiner Söhne geschehen sollte. In Kapitel vier legte er fest, wie der Reichsteil eines verstorbenen Sohnes unter dessen Brüder aufgeteilt werden sollte. Die Brüder sollten sich also gegenseitig beerben. Erst in Kapitel fünf kommt die Enkelgeneration zur Sprache: Wenn einer der drei Brüder einen »derartigen« Sohn habe, daß der populus, also der Adel, ihn zum Nachfolger des Vaters wähle, dann sollten die Oheime zustimmen und ihm erlauben, im jeweiligen Teilreich zu herrschen.2 Aus Sicht der Söhne Karls des Großen bedeutete dies: Zuerst kamen ihre Brüder, dann erst ihre Söhne und zwar Erstdruck in: Herrscher- und Fürstentestamente im westeuropäischen Mittelalter, hg. von Brigitte Kasten (Norm und Struktur 29), Köln – Weimar – Wien 2008, S. 301–320. 1 Divisio regnorum, ed. A. Boretius, in: MGH Capit. I, Hannover 1883, Nr. 45, S. 126ff.; zur Problematik der Bezeichnung »Divisio regnorum« vgl. P. Classen, Karl der Große und die Thronfolge im Frankenreich, in: FS für Hermann Heimpel zum 70. Geburtstag (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 36), 3 Bde., Göttingen 1972, Bd. 3, S. 109–134, hier S. 121, Anm. 59, ND in: J. Fleckenstein (Hg.), Ausgewählte Aufsätze (Vorträge und Forschungen 28), Sigmaringen 1983, S. 205–229, hier S. 217, Anm. 59; zur »Divisio« insgesamt vgl. auch M. Innes, Charlemagne’s Will: Piety, Politics and the Imperial Succession, in: English Historical Review 112 (1997), S. 833–855; D. Hägermann, Karl der Große. Herrscher des Abendlandes, München 2000, S. 496ff.; S. Kaschke, Die karolingischen Reichsteilungen bis 831. Herrschaftspraxis und Normvorstellungen in zeitgenössischer Sicht (Schriften zur Mediävistik 7), Hamburg 2006, S. 298ff. 2 Divisio regnorum c. 5 (wie Anm. 1), S. 128: Quod si talis filius cuilibet istorum trium fratrum natus fuerit, quem populus eligere velit ut patri suo in regni hereditate succedat, volumus ut hoc consentiant patrui ipsius pueri et regnare permittant filium fratris sui in portione regni quam pater eius, frater eorum, habuit.

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Praktiken

nur einer von ihnen und dies auch nur nach einem entsprechenden Votum des Adels. Um diese konkurrierenden Erbansprüche zu beschreiben, bemüht die Forschung in aller Regel die Termini »Anwachsungs- und Eintrittsrecht«. Mit Anwachsungsrecht ist gemeint, daß die Angehörigen der zweiten Generation einer Familie, die bereits geerbt hatten, auch ihre Brüder anteilig beerbten. Eintrittsrecht bedeutet, daß die Angehörigen der dritten Generation beim Tod ihres Vaters in die ursprüngliche Erbengemeinschaft eintreten durften.3 Das klingt kompliziert und wird noch komplizierter, wenn man in einschlägige Nachschlagewerke schaut. Im Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte faßte Wilfried Bungenstock zu Beginn der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts den Forschungsstand folgendermaßen zusammen: »Unter Anwachsung versteht man den Übergang eines Anteils an einer Gesamthandsgemeinschaft auf die übrigen Mitglieder, wenn der Inhaber des Anteils aus der Gemeinschaft ausscheidet. […] Die Idee der Gesamthand war im deutschen Recht seit jeher tief verwurzelt; daher kam auch die Anwachsung in vielen Bereichen des Rechtslebens vor. Von großer Bedeutung war sie bei der Hausgemeinschaft: Schied der Vater aus, so wuchs sein Teil den Söhnen an, die die Gemeinschaft oft untereinander als Brüdergemeinschaft fortsetzten. Bei Ausscheiden eines der Brüder trat Anwachsung zugunsten seiner Geschwister ein. Von einem Erbrecht kann in diesem Zusammenhang nicht gesprochen werden. Das Recht der Anwachsung galt ferner im Frankenreich bei der Samtherrschaft mehrerer Königssöhne; noch am Ende der karolingischen Epoche führte es zu einer – allerdings nur vorübergehenden – Vereinigung der Reichsteile.«4

Etwas überrascht ist man als rechtshistorischer Laie schon: Die Anwachsung gehört nicht in das Erbrecht, sondern zur altdeutschen, also germanischen Idee der Gesamthand,5 die ihrerseits eng mit den Vorstellungen von einer germanischen Hausgemeinschaft zusammenhängt. Die Betonung des germanischen Erbes war nun ein Grundzug der älteren Rechts- und Verfassungsgeschichte, den die jüngere Forschung zunehmend distanziert betrachtet.6 Vor allem die rück3 Nach dem ius repraesentationis, vgl. H. Hofmann, Repräsentation. Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis ins 19. Jahrhundert (Schriften zur Verfassungsgeschichte 22), Berlin 1974, S. 170ff. 4 W. Bungenstock, Art. »Anwachsung«, in: HRG 1 (1971), Sp. 181; vgl. auch A. Erler, Art. »Eintrittsrecht«, in: HRG 1 (1971), Sp. 908–910; E. Kaufmann, Art. »Erbfolgeordnung (privatrechtlich)«, in: HRG 1 (1971), Sp. 959–962; R. Schneider, Art. »Brüdergemeine«, in: H. Beck/H. Steuer/D. Timpe (Hgg.): Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 3, 2, völlig neu bearbeitete und stark erweiterte Auflage, Berlin/New York 1978, S. 580f.; G. Köbler, Art. »Eintrittsrecht«, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 7, Berlin/ New York 21989, S. 37; ders., Art. »Erbrecht«, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 7, Berlin/New York 21989, S. 430–433; H.-J. Becker, Art. »Repräsentation, -srecht«, in: LexMA 7 (1995), Sp. 744f. 5 Vgl. G. Buchda, Art. »Gesamthand«, in: HRG 1 (1971), S. 1587–1591. 6 Vgl. den Art. »Germanen, Germania, germanische Altertumskunde«, in: Reallexikon der

Vater, Sohn und Enkel

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schließende Methode der älteren Forschung ist in die Kritik geraten: Da sich für die germanische Epoche, also die Zeit bis zum Einsetzen der Völkerwanderung um 500, nur sehr wenige Quellen erhalten haben, gingen die Rechtshistoriker des 19. Jahrhunderts von einem gesamtgermanischen Erbe aus. So entwickelte Karl von Amira in Anlehnung an die indogermanische Sprachwissenschaft die Abstammungshypothese.7 Er glaubte, das Alter germanischer Rechtsinstitutionen und -begriffe sicher bestimmen zu können und damit eine wissenschaftliche Methode zur Rekonstruktion urgermanischer Rechtsvorstellungen gefunden zu haben.8 Mit Hilfe skandinavischer Quellen des Hochmittelalters wurden urgermanische Zustände der Zeit um Christi Geburt rekonstruiert und diese Ergebnisse als Voraussetzung für die Erforschung des Frühmittelalters genommen. Ein für die Brüdergemeinschaft und damit auch für das Theorem vom Anwachsungs- und Eintrittsrecht einschlägiger Aufsatz von Alfred Schultze aus dem Jahr 1936 – »Zur Rechtsgeschichte der germanischen Brüdergemeinschaft« – trägt etwa den bezeichnenden Untertitel »Ein Beitrag aus dem altnorwegischen und dem altisländischen Recht«.9 Seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts wird die rückschließende Methode und damit die Annahme einer germanischen Kontinuität von der Antike bis ins Hochmittelalter hinein mehr und mehr abgelehnt.10 Vor allem die Grundannahmen der älteren Rechtsgeschichte haben sich als nicht tragfähig erwiesen. So konnte Klaus von See in seiner Untersuchung der altnordischen Rechtswörter zeigen, daß bei keinem eine Kontinuität mit urtümlich germanischen Rechtsvorstellungen anzunehmen ist. Vielmehr seien alle Begriffe hochmittelalterlichen Rechtsvorstellungen zuzuordnen, wobei er vor allem auch lehn- und kirchenrechtliche Einflüsse feststellte.11 Damit war der Methode, altnordische Quellen als

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Germanischen Altertumskunde, Bd. 11, Berlin/New York 1998, S. 181–438, zit. nach dem Separatum (Berlin/New York 1998), insbes. S. 215ff. (Abschnitt C zum Recht, u. a. von K. Kroeschell); J. Jarnut, Germanisch. Plädoyer für die Abschaffung eines obsoleten Zentralbegriffes der Frühmittelalterforschung, in: W. Pohl (Hg.): Die Suche nach den Ursprüngen. Von der Bedeutung des frühen Mittelalter (Denkschriften der philosophischhistorischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 32 = Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 8), Wien 2004, S. 107–113. K. von Amira, Über Zweck und Mittel der germanischen Rechtsgeschichte. Akademische Antrittsrede (15. Dezember 1875), München 1876. Dazu zusammenfassend auch K. Kroeschell, Die Germania in der deutschen Rechts- und Verfassungsgeschichte (1989), in: ders., Studien zum frühen und mittelalterlichen deutschen Recht (Freiburger Rechtsgeschichtliche Abhandlungen NF 20), Berlin 1995, S. 89–110, hier S. 106ff. und S. 109f. A. Schultze, Zur Rechtsgeschichte der germanischen Brüdergemeinschaft. Ein Beitrag aus dem altnorwegischen und dem altisländischen Recht, in: ZRG Germ. 56 (1936), S. 264–348. Vgl. die gegensätzlichen Positionen von O. Höfler, Das germanische Kontinuitätsproblem, in: HZ 157 (1938), S. 1–26, und K. von See, Kontinuitätstheorie und Sakraltheorie in der Germanenforschung. Antwort an Otto Höfler, Frankfurt a. M. 1972, S. 41ff. K. von See, Altnordische Rechtswörter. Philologische Studien zur Rechtsauffassung und

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Praktiken

Zeugnisse für urgermanische und frühmittelalterliche Rechtsverhältnisse heranzuziehen, der Boden entzogen. Dies haben weitere Einzeluntersuchungen von Walter Baetke, Michael Jacoby, Else Ebel und Eve Picard bestätigt.12 Insbesondere den angeblich urgermanischen Institutionen Sakralkönigtum und Friedelehe konnte so die Quellengrundlage entzogen werden. Entsprechendes gilt dank der Forschungen von Felix Genzmer, Hans Kuhn und Frantisˇek Graus auch für die germanische Sippe, die germanische Gefolgschaft und die germanische Treue, also Grundannahmen der älteren Verfassungsgeschichte.13 Auch beim Erbrecht relativiert die jüngere Forschung mit Karl Kroeschell an der Spitze viele Annahmen, die lange Zeit als Gewißheit gegolten hatten: Als Beispiel sei nur der angeblich gemeingermanische Grundsatz genannt, Töchter grundsätzlich vom Immobilienbesitz auszuschließen.14 Da die Axiome der älteren Forschung über das urgermanische Recht nicht mehr vorausgesetzt werden können, gilt es nun, die frühmittelalterlichen Quellen möglichst voraussetzungslos auf das Anwachsungs- und das Eintrittsrecht hin zu untersuchen und dann ihre Gültigkeit für die fränkische Thronfolge zu hinterfragen. Beginnen wir mit dem für die Germanenforschung unvermeidlichen Tacitus. Er schreibt: »Dennoch sind jeweils die Kinder Erben und Nachfolger, und [es Rechtsgesinnung der Germanen (Hermaea. Germanistische Forschungen NF 16), Tübingen 1964. 12 W. Baetke, Yngvi und die Ynglinger. Eine quellenkritische Untersuchung über das nordische »Sakralkönigtum« (SB der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Philol.-Hist. Klasse 109,3) Berlin 1964; M. Jacoby, Wargus, vargr. »Verbrecher«, »Wolf«. Eine sprach- und rechtsgeschichtliche Untersuchung (Acta Universitatis Upsaliensis. Studia Germanistica Upsaliensia 12), Uppsala 1974; E. Ebel, Die sog. »Friedelehe« im Island der Saga- und Freistaatszeit (870–1264), in: D. Schwab/D. Giesen/J. Listl/H.-W. Strätz (Hgg.), Staat, Kirche, Wissenschaft in einer pluralistischen Gesellschaft. Festschrift zum 65. Geburtstag von Paul Mikat, Berlin 1989, S. 243–258; dies., Der Konkubinat nach altwestnordischen Quellen. Philologische Studien zur sogenannten »Friedelehe« (Erg.bde. zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 8), Berlin/New York 1993; E. Picard, Germanisches Sakralkönigtum? Quellenkritische Studien, Heidelberg 1991. 13 F. Genzmer, Die germanische Sippe als Rechtsgebilde, in: ZRG Germ. 67 (1950), S. 34–49; H. Kuhn, Die Grenzen der germanischen Gefolgschaft, in: ZRG Germ. 73 (1956), S. 1–83; F. Graus, Über die sogenannte germanische Treue, in: Historica 1 (1959), S. 71–121; ders., Herrschaft und Treue. Betrachtungen zur Lehre von der germanischen Kontinuität I, in: Historica 12 (1966), S. 5–44; allgemeiner auch ders., Verfassungsgeschichte des Mittelalters, in: HZ 243 (1986), S. 529–589; vgl. auch die Gegenposition von W. Schlesinger, Randbemerkungen zu drei Aufsätzen über Sippe, Gefolgschaft und Treue, in: Historisches Seminar der Universität Hamburg (Hg.), Alteuropa und die moderne Gesellschaft. FS für Otto Brunner, Göttingen 1963, S. 11–59, ND in: ders., Beiträge zur deutschen Verfassungsgeschichte des Mittelalters, 2 Bde., Göttingen 1963, Bd. 1: Germanen, Franken, Deutsche, S. 286–334. 14 K. Kroeschell, Söhne und Töchter im germanischen Erbrecht, in: G. Landwehr (Hg.), Studien zu den germanischen Volksrechten. Gedächtnisschrift für Wilhelm Ebel, Frankfurt a. M./Bern 1982, S. 87–116.

Vater, Sohn und Enkel

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gibt] kein Testament. Wenn keine Kinder da sind, folgen als die nächsten Verwandtschaftsgrade die Brüder, die Vaterbrüder und die Mutterbrüder im Besitz.«15 Bemerkenswert erschien dem Römer also vor allem das Fehlen letztwilliger Verfügungen und die alleinige Gültigkeit der Intestaterbfolge.16 Ob die Kinder – gemeint sind wohl allein die Söhne, da auch sonst nur männliche Verwandte genannt sind – auf Dauer eine Brüdergemeine bildeten, darüber läßt sich Tacitus zwar nicht aus, aber wäre dies der Regelfall gewesen, so hätte er dies doch wohl vermerkt. Daher wird man davon ausgehen können, daß die Söhne das Erbe üblicherweise teilten, ebenso wie die Brüder des Erblassers und seine Oheime. Offen bleibt nur die Stellung der Enkel in der Erbfolge. Tacitus erwähnt sie nicht. Daher verbieten sich Rückschlüsse auf deren Erbrecht zur Abfassungszeit der Germania. Aber auch bei diesem Punkt dürfte gelten: Da in Rom nach dem ius civile das Eintrittsrecht der Enkel akzeptiert war,17 hätte unser Gewährsmann vermutlich auf einschneidende Unterschiede aufmerksam gemacht. Natürlich kommt diesem argumentum e silentio keine allzu große Beweiskraft zu, aber dies gilt eben auch umgekehrt für die Annahme, es habe allein das Anwachsungsrecht gegolten. Eine vorherrschende Tendenz in der modernen Rechtsgeschichte ist es, dem römischen Recht, zumindest in Form des Vulgarrechts, einen ungleich größeren Einfluß auf die Rechtsentwicklung in den frühmittelalterlichen Reichen zuzubilligen als den urgermanischen Verhältnissen.18 Betrachtet man die sogenannnten leges Barbarorum allerdings näher, so wird man enttäuscht. Direkte Zeugnisse für ein Anwachsungs- oder Eintrittsrecht fehlen. Die Lex Visigothorum traf Vorsorge für den Fall, daß ein Erblasser, der von väterlicher oder mütterlicher Seite her Voll- und Halbgeschwister hatte, starb und selbst kein Testament, aber auch keine Kinder u n d E n k e l hinterließ. Dann sollten näm-

15 Tacitus, Germania c. 20, in: H.-W. Goetz/K.-W. Welwei (Hgg.), Altes Germanien 1 (FSGA 1a, Teil 1), Darmstadt 1995, S. 144: Heredes tamen successoresque sui cuique liberi, et nullum testamentum. Si liberi non sunt, proximus gradus in possessione fratres, patrui, avunculi; zum Fehlen von Testamenten vgl. U. Nonn, Merowingische Testamente, in: AfD 18 (1972), S. 1–129, hier S. 1ff. 16 Aus dieser Stelle werden weitreichende Schlüsse gezogen, etwa daß dem (ur-)germanischen Recht Grundstückverfügungen unbekannt gewesen, weil Grund und Boden gesamthänderisch an die Familie gebunden gewesen seien, der Besitzer also nicht eigentlich Eigentümer, sondern lediglich Treuhänder für seine Söhne und weiteren Nachkommen gewesen sei, vgl. hierzu etwa H. Hattenhauer, Die Entdeckung der Verfügungsmacht (Kieler Rechtswissenschaftliche Abhandlung 9), Hamburg 1969, S. 1ff. 17 Vgl. M. Kaser, Das römische Privatrecht. Erster Abschnitt: Das altrömische, das vorklassische und klassische Recht (Handbuch der Altertumswissenschaft 10,3,3,1), 2. neu bearbeitete Auflage, München 1971, S. 580f. 18 Kroeschell, Art. »Germanen« (wie Anm. 6), § 48: Quellenprobleme, S. 220.

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lich allein seine Vollgeschwister erben.19 Umgekehrt heißt das aber : Kinder und Enkel standen vor allen anderen Verwandten an erster Stelle der Erbfolge, wenn nicht ein Testament des Erblassers etwas anderes verfügte. Etwas aufschlußreicher ist die burgundische Lex Gundobada. Sind keine Söhne vorhanden, fällt das Erbteil an etwa vorhandene Töchter, fehlen auch diese, sind sorores vel propinquos parentes an der Reihe.20 Enkel werden hier also wie bei Tacitus gar nicht erwähnt; soll man aber annehmen, daß sie unter die propinquos parentes gezählt wurden? Auch in dem Abschnitt De hereditatibus eorum, qui sine filiis moriuntur wird die Möglichkeit, daß Enkel vorhanden sein könnten, überhaupt nicht in Betracht gezogen.21 Aufschlußreicher ist dagegen der Abschnitt De hereditatum successione.22 Wenn ein Mann zu seinen Lebzeiten seine sors geteilt hat und einer seiner Söhne noch vor ihm stirbt, ohne seinerseits Söhne zu hinterlassen, dann soll der Vater den Nießbrauch an dessen Portion haben.23 Stirbt auch er, geht dieser Teil auf seine anderen Söhne und Enkel über, wobei letztere an die Stelle ihres vorverstorbenen Vaters treten sollten. Der Gesetzgeber dachte also an den Fall, daß neben dem ersten Sohn des ursprünglichen Erblassers auch ein zweiter Sohn verstorben war und dieser seinerseits Kinder hinterlassen hatte. Dagegen fiel der Anteil des Vaters, den er noch mit seinen Söhnen zu teilen hatte (also wohl der, den er bei der Teilung seiner sors behalten hatte), an seine überlebenden Söhne, während die Enkel hier leer ausgingen. Mit anderen Worten: Die Enkel partizipierten am Erbe ihres eigenen Vaters und gegebenenfalls an dem eines kinderlosen Onkels; ausgeschlossen blieben sie vom Erbe an dem Teilvermögen des Großvaters, das als Erbe für dessen andere Söhne vorgesehen war. Westgotisches und burgundisches Erbrecht stehen unter römischem Einfluß und plädieren für das Eintrittsrecht der Enkel. Das fränkische Recht steht nach allgemeiner Auffassung dem römischen in diesem Punkt ferner. Doch der berühmte Abschnitt De allodis der Lex Salica enthält keine Aussage dazu: Die Enkel eines Erblassers werden nicht erwähnt, obwohl an viele Eventualitäten gedacht ist, falls ein Verstorbener keinen Sohn hinterläßt: Wenn Vater oder Mutter noch am Leben sind, sollen diese erben; wenn auch diese gestorben sind, kommen vielleicht vorhandene Brüder oder Schwestern des Erblassers zum Zuge. Danach ist die Schwester der Mutter zum Erbe berufen, und erst nach ihr die Schwester des Vaters. An letzter Stelle der Erbfolge stehen die übrigen Verwandten von Vaters 19 Lex Visigothorum IV, 5, 4, in: Leges Visigothorum, ed. K. Zeumer (MGH LL nat. Germ. I), Hannover/Leipzig 1902, S. 200f. 20 Lex Gundobada I, 14, in: Leges Burgundionum, ed. L. R. von Salis (MGH LL Nat. Germ. II, 1), Hannover 1892, S. 52. 21 Lex Gundobada I, 42 (wie Anm. 20), S. 73. 22 Lex Gundobada I, 78 (wie Anm. 20), S. 102f. 23 Vgl. Lex Gundobada I, 51 [2], (wie Anm. 20), S. 83f.

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Seite her je nach der Nähe ihrer Verwandtschaft zum Erblasser.24 Diese Aufzählung geht aber unzweifelhaft von der Voraussetzung aus, daß der Erblasser keine Kinder hinterließ und – so darf man hinzusetzen – auch keine Enkel.25 Wie es um das Eintrittsrecht der Enkel stand, dies läßt die Lex Salica also offen. In Urkundenformeln ist dagegen einige Male davon die Rede, daß nach dem Tod des Sohnes die Enkel kein Erbrecht an den Besitzungen des Großvaters hätten.26 Erst diese Stellen belegen den Vorrang des Anwachsungsrechts. Allem Anschein nach fühlten sich dann aber viele Großväter verpflichtet, ihren Enkeln den entsprechenden Erbteil entweder bereits zu Lebzeiten zu übertragen oder ihr Erbrecht festzuschreiben. Diese großväterlichen Bemühungen erstreckten sich sogar auf die Kinder von Töchtern.27 Während also die Lex Salica die Existenz von Enkeln nicht berücksichtigte und damit die Interpretation möglich machte, sie seien gegenüber ihren Oheimen vom Erbe ausgeschlossen, tendierten Großväter dazu, diesen dann doch einen adäquaten Anteil am Erbe zu verschaffen. Erst Childebert II. versuchte 596, das Eintrittsrecht für diesen Fall generell durchzusetzen. Er verfügte in seiner Decretio, daß die Enkel, deren Vater bzw. Mutter bereits verstorben waren, beim großväterlichen Erbe ihren Oheimen und Tanten gleichgestellt werden sollten.28 Einmal ist bemerkenswert, daß auch die Abstammung über eine Tochter den Erbanspruch vermittelte, was aber der spätrömischen Rechtsentwicklung entsprach.29 Dies bringt eine erste Unsicherheit bei der Interpretation mit sich, weil möglicherweise allein die Tochterkinder neu in den Erbenkreis aufgenommen wurden, während dies für die Sohneskinder schon länger gegolten haben könnte. Zudem scheint das lateinische Wort für Enkel, nepos, zu Problemen geführt zu haben, weil es auch ›Neffe‹ bedeuten konnte. So sah sich Childebert zu der Klarstellung veranlaßt, erbberechtigt seien allein die nepotes im Sinne von Kindeskindern, nicht dagegen von Bruderkindern. Die Erbberechtigung elternloser Enkel blieb allerdings bis ins 10. Jahrhundert umstritten. Noch 938 mußte Otto der Große eine solche Angelegenheit mit Hilfe 24 Pactus Legis Salicae c. 59, ed. K. A. Eckhardt (MGH LL nat. Germ. IV, 1), Hannover 1962, S. 222f.; Lex Salica c. 92, ed. K. A. Eckhardt (MGH LL nat. Germ. IV, 2), Hannover 1969, S. 162ff. 25 Entsprechend auch die Lex Ribuaria c. 57, ed. F. Beyerle/R. Buchner (MGH LL nat. Germ. III, 2), Hannover 1954, S. 105. 26 Formulae Salicae Merkelianae, in: MGH Formulae, ed. K. Zeumer, Hannover 1886, Nr. 24, S. 250; Formulae Salicae Lindenbrogianae, in: MGH Formulae, Nr. 12, S. 274f. 27 Formulae Marculfi II, 10, in: MGH Formulae (wie Anm. 26), S. 81f.; vgl. Kroeschell, Söhne und Töchter, S. 99. 28 Childeberti II. decretio c. 1, in: MGH Capit. I (wie Anm. 1), Nr. 7, S. 15; ed. Eckhardt, in: Lex Salica (wie Anm. 24), S. 174ff.; vgl. A. C. Murray, Germanic Kinship Structure. Studies in Law and Society in Antiquity and the Early Middle Ages (Studies and Texts 65), Toronto 1983, S. 194f., insbesondere zur Bedeutung von aviaticus. 29 Vgl. Kroeschell, Söhne und Töchter (wie Anm. 14), S. 95.

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eines gerichtlichen Zweikampfes klären lassen, und der Streiter der Enkel gewann. Über dieses Geschehen berichtet der Chronist Widukind von Corvey.30 Aber weder er noch die diversen Gesetzgeber beleuchten die gesamte Erbauseinandersetzung, wie folgende Überlegung zeigt: Die Existenz von legitimen und somit erbberechtigten Enkeln setzt eine Eheschließung voraus, vor der ein Sohn in aller Regel aus der väterlichen Gewalt ausschied und materiell ausgestattet, also – in rechtshistorischer Terminologie – abgeschichtet wurde.31 Oft genug erhielt ein Sohn einen großen Teil seines prospektiven Erbes schon bei seiner Heirat, und diese Güter vererbte er dann auch an seine Kinder weiter, wofür die Lex Gundobada zumindest ein mittelbares Zeugnis ist. Auch in den erhaltenen Urkundenformeln über die Ausstattung der Enkel geht es daher eher um den Vermögensteil, den der Großvater nach Abschichtung seiner Söhne behalten hatte. Im Hinblick auf dieses Gut waren die Enkel gegenüber ihren Oheimen wohl tatsächlich benachteiligt, aber ihren eigenen Vater beerbten sie allein. Bislang sind viele denkbare Konstellationen zur Sprache gekommen, aber keine paßt zum sogenannten Eintrittsrecht der Neffen: Dieser Fall setzt den Großvater als schon längst verstorben voraus und befaßt sich mit dem Erbe eines Mannes, der sowohl Söhne als auch Brüder hinterläßt, und postuliert, den Brüdern müsse das Vermögen des Verstorbenen zufallen, weil sie eine »Gesamthandsgemeinschaft« gebildet hätten. Diese hat neben der sehr abstrakten Begriffsbildung nur einen, aber entscheidenden Nachteil. In den frühmittelalterlichen Quellen ist von ihr niemals die Rede, jedenfalls nicht in dem uns interessierenden Zusammenhang.32 Kein Gesetzgeber hat den Vorrang der Onkel

30 Widukind von Corvey, Rerum gestarum Saxonicarum libri tres II, 10, ed. P. Hirsch in Verbindung mit H.-E. Lohmann (MGH SS rer. Germ. [60]), Hannover 1935, S. 73f.; noch der spätere Kaiser Konrad II. wurde als Enkel zugunsten seines gleichnamigen Onkels beim Erbe benachteiligt, was nach T. Schmidt, Kaiser Konrads II. Jugend und Familie, in: K. Hauck/H. Mordek (Hgg.), Geschichtsschreibung und geistiges Leben im Mittelalter. FS für Heinz Löwe zum 65. Geburtstag, Köln/Wien 1978, S. 312–324, völlig zurecht geschah, weil das Anwachsungsrecht des Sohnes dem Eintrittsrecht des Enkels vorgegangen sei; vorsichtiger S. Weinfurter, Herrschaftslegitimität und Königsautorität im Wandel, in: ders. (Hg.), Die Salier und das Reich, 3 Bde., Sigmaringen 1991, Bd. 1: Salier, Adel und Reichsverfassung, S. 55–96, hier S. 63f. mit Anm. 31; vgl. auch H. Wolfram, Konrad II. Kaiser dreier Reiche, München 2000, S. 38f. 31 Vgl. etwa R. Hübner, Grundzüge des Deutschen Privatrechts, Leipzig 51930, S. 702f.; W. Ogris, Art. »Abschichtung«, in: HRG 1 (1971), Sp. 13–17. 32 Man wird jedoch konzedieren können, daß bei Eintritt des Erbfalls eine »Gesamthandsgemeinschaft« entstand und solange existierte, bis die Erben eine Teilung vornahmen; dies war jedoch auch bei einer Erbengemeinschaft zur gesamten Hand nach römischem Recht der Fall; auf die strukturelle Gemeinsamkeit beider Phänomene wies bereits Kaser, Privatrecht (wie Anm. 17), Bd. 1, S. 88, hin; für das Frühmittelalter geht man gemeinhin von einem »Zwang zur Aufteilung von Grund und Boden« aus, vgl. W. Hartung, Adel, Erbrecht, Schenkung. Die strukturellen Ursachen der frühmittelalterlichen Besitzübertragungen an

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vor ihren Neffen festgeschrieben oder sich mit bestimmten Konstellationen oder Varianten befaßt, kein in einer Hausgemeinschaft mit seinen Brüdern lebender Vater wollte seine Söhne angesichts ihrer mangelnden Erbaussichten auf andere Weise materiell absichern. Soll man wirklich annehmen, daß zwar Großväter für ihre Enkel aktiv wurden, aber Väter diesem Problem vollkommen gleichgültig gegenüberstanden? Wenn man nicht Überlieferungsschwund als Erklärung heranziehen will, dann bleibt eigentlich nur ein Schluß: Im Frühmittelalter hat es das Anwachsungsrecht im Sinne einer Bevorzugung der Brüder gegenüber den Söhnen eines Erblassers gar nicht gegeben.33 Mehr noch: In allen frühmittelalterlichen Leges gilt der Grundsatz: Stirbt der Vater, erben die Söhne! Damit entfällt ein wichtiger Baustein im Gebäude der angeblichen germanischen Brüdergemeine. Bei Karl dem Großen liegt der Fall anders, denn in der »Divisio regnorum« traf er seine Verfügungen nicht als Privatmann wie in seinem sogenannten Testament von Anfang 811,34 sondern als Herrscher. Es scheint daher angebracht, für unsere weiteren Überlegungen das für die Franken geltende Erbrecht von der Thronfolge ihrer Könige zu unterscheiden. Und gerade bei der fränkischen Thronfolge heißt es in der Forschung teilweise bis in die jüngste Zeit hinein, das Anwachsungsrecht der Brüder sei dem Eintrittsrecht der Söhne in der Regel überlegen gewesen.35 Insofern hätte sich Karl der Große lediglich nach einem die Kirche, in: F. Seibt (Hg.), Gesellschaftsgeschichte. FS für Karl Bosl zum 80. Geburtstag, 2 Bde., München 1988, Bd. 1, S. 417–438, hier S. 421. 33 Vgl. R. Le Jan, Famille et pouvoir dans le monde franc (VIIe-Xe siHcle). Essai d’anthropologie sociale (Histoire ancienne et m8di8vale 33), Paris 1995, S. 233ff.; H.-W. Goetz, Cout0mes d’h8ritages, conflits successoraux et structures familiales, in: F. Bougard/C. La Rocca/R. Le Jan (Hgg.), Sauver son .me et se perp8tuer. Transmission du patrimoine et m8moire au haut Moyen ffge (Collection de l’Pcole FranÅaise de Rome 351), Rom 2005, S. 203–237. 34 Vgl. A. Schultze, Das Testament Karls des Großen, in: Aus Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Gedächtnisschrift für Georg von Below, Stuttgart 1928, S. 46–81; Hägermann, Karl der Große (wie Anm. 1), S. 565ff.; zu diesem Problemkreis vgl. auch B. Kasten, Zur Dichotomie von privat und öffentlich in fränkischen Herrschertestamenten, in: ZRG Germ. 121 (2004), S. 158–199. 35 Vgl. ohne Anspruch auf Vollständigkeit H. Mitteis, Der Vertrag von Verdun im Rahmen der karolingischen Verfassungspolitik, in: T. Mayer (Hg.), Der Vertrag von Verdun, Leipzig 1943, S. 66–100, hier S. 78ff., ND in: ders., Die Rechtsidee in der Geschichte. Gesammelte Abhandlungen und Vorträge, Weimar 1957, S. 425–458, hier S. 436ff.; Classen, Thronfolge (wie Anm. 1), S. 220; H. H. Anton, Zum politischen Konzept karolingischer Synoden und zur karolingischen Brüdergemeinschaft, in: Historisches Jahrbuch 99 (1979), S. 55–132, hier S. 109, ND in: ders., Königtum – Kirche – Adel. Institutionen, Ideen und Räume von der Spätantike bis zum hohen Mittelalter, Trier 2002, S. 179–251, hier S. 229f.; E. Boshof, Einheitsidee und Teilungsprinzip in der Regierungszeit Ludwigs des Frommen, in: P. Godman/ R. Collins (Hgg.), Charlemagne’s Heir. New Perspectives on the Reign of Louis the Pious (814–840), Oxford 1990, S. 161–189, hier S. 170; Hägermann, Karl der Große (wie Anm. 1), etwa S. 88, 500, 504f.; T. Bauer, Die Ordinatio imperii von 817, der Vertrag von Verdun 843 und die Herausbildung Lotharingiens, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 58 (1994), S. 1–26,

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vorherrschenden Rechtsprinzip gerichtet. Dagegen hat Reinhard Schneider den Vorrang des Anwachsungsrechts bestritten und das Eintrittsrecht als das überlegene Recht angesehen.36 Noch weiter ging Heike Grahn-Hoek, die das Anwachsungsrecht der Brüder gänzlich in Abrede stellte: »Was in der Literatur als Anwachsungsrecht der Brüder erscheint, ist lediglich ein politisch begründeter Anspruch. Anerkanntes Recht war der Anfall des Erbes an die Brüder nur dann, wenn der vorverstorbene Bruder keine Söhne hatte.«37 Noch dezidierter haben etwa Franz-Reiner Erkens und Brigitte Kasten in Abrede gestellt, daß es insbesondere bei den Merowingern einen festgefügten Rechtsanspruch auf die Herrschaftsnachfolge gegeben habe.38 Ian Wood plädierte schließlich sogar für den absoluten Vorrang der politischen Kräfteverhältnisse gegenüber rechtlichen Ansprüchen.39 Trotz dieser warnenden Stimmen ist bis in jüngste Zeit von der Anwachsung als dem vorrangigen Recht die Rede und mehr noch von der Brüdergemeine der fränkischen Könige als dem übergeordneten Prinzip im Hintergrund.40 Tatsächlich gelang es den Brüdern eines Königs in der Geschichte der Merowinger streng genommen nur ein einziges Mal, eine Thronfolge der Söhne zu verhindern. 524 fiel König Chlodomer im Kampf gegen die Burgunder und

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hier S. 4, S. 13 Anm. 49 u. ö.; Kaschke, Reichsteilungen (wie Anm. 1), passim u. bes. S. 42ff., der zwar die eingeschränkte Tauglichkeit der Begriffe »Anwachsungs- und Eintrittsrecht« einräumt, aber über die rechtshistorischen Figuren der Ganerbenschaft und der Gesamthand der Sache nach zu ihnen zurückkehrt, indem er ein gemeinsames Verfügungsrecht der königlichen Brüder über das Reich annimmt, woraus sie »ein Mitspracherecht bei der Bestimmung des neuen Herrschers ableiten konnten« (S. 45); damit wird aber einmal mehr Machtpolitik nur rechtlich verbrämt, vgl. dazu unten, nach Anm. 53. R. Schneider, Königswahl und Königserhebung im Frühmittelalter. Untersuchungen zur Herrschaftsnachfolge bei den Langobarden und Merowingern (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 3), Stuttgart 1972, S. 251. H. Grahn-Hoek, Die fränkische Oberschicht im 6. Jahrhundert. Studien zu ihrer rechtlichen und politischen Stellung (Vorträge und Forschungen, Sonderbd. 21), Sigmaringen 1976, S. 160. F.-R. Erkens, Divisio legitima und unitas imperii. Teilungspraxis und Einheitsstreben im Frankenreich, in: DA 52 (1996), S. 423–485, hier S. 437ff., S. 440f., S. 467; B. Kasten, Königssöhne und Königsherrschaft. Untersuchungen zur Teilhabe am Reich in der Merowingerund Karolingerzeit (MGH Schriften 44), Hannover 1997, S. 9ff. I. Wood, Art. »Merowinger«, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 19, 2. völlig neu bearbeitete und stark erweiterte Auflage, Berlin/New York 2001, S. 576–579, hier S. 577; vgl. auch ders., Deconstructing the Merovingian Family, in: R. Corradini/M. Diesenberger/H. Reimitz (Hgg.), The Construction of Communities in the Early Middle Ages. Texts, Resources and Artefacts (The Transformation of the Roman World 12) Leiden/ Boston 2003, S. 149–171. Vgl. neben der in Anm. 35 genannten Literatur etwa D. Hägermann, Quae ad profectum et utilitatem pertinent. Normen und Maximen zur »Innen- und Außenpolitik« in der Divisio regnorum von 806, in: J.-M. Duvosquel/E. Thoen (Hg.), Peasants and Townsmen in Medieval Europe. Studia in honorem Adriaan Verhulst, Gent 1995, hier S. 605–617, S. 611: »Rechtsfigur der Brüdergemeine«.

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hinterließ drei minderjährige Söhne, Theudoald, Gunthar und Chlodoald.41 Sein jüngerer Bruder Chlothar I. nahm Chlodomers Witwe Guntheuca daraufhin zur Frau, während die drei Halbwaisen von ihrer Großmutter Chrodechild erzogen wurden, also wohl bei ihr Zuflucht fanden. Die alte Königin war laut dem Geschichtsschreiber Gregor von Tours ihren Enkeln besonders zugetan, weshalb Childebert fürchtete, sie könnte diese auf den Thron bringen.42 Daher nahm er Kontakt mit seinem Bruder Chlothar auf und machte ihm das Angebot, gemeinsam gegen die Neffen vorzugehen. Die beiden baten ihre Mutter, ihnen die Knaben zu übergeben, damit sie diese zu Königen erheben könnten. Chrodechild ließ sich täuschen und sandte die Knaben zu ihnen. Sogleich töteten Childebert und Chlothar zwei ihrer Neffen. Lediglich der jüngste wurde von mächtigen Männern gerettet; er wurde Kleriker – zu seiner eigenen Sicherheit.43 Diese Episode wurde als Beleg für den Vorrang des Anwachsungsrechts der Brüder genommen. Doch mit Recht argumentierte Reinhard Schneider dafür, daß diese Geschichte vielmehr eindeutig die überlegenen rechtlichen Ansprüche der Söhne belege.44 Nur durch Mord hätten Childebert und Chlothar den besseren Rechtsanspruch ihrer Neffen beseitigen können. Bei Licht besehen geht es zudem weder um das Eintritts- noch um das Anwachsungsrecht, wie schon Heike Grahn-Hoek konstatierte, sondern schlicht um einen Machtkampf, bei dem das Erbrecht allenfalls die Folie bildete:45 Die berechtigten Ansprüche der Chlodomer-Söhne fielen mit ihrer Ermordung weg, und erst jetzt waren Childebert und Chlothar als Brüder die nächsten Erben, die dann zur Sicherheit auch ihrem älteren Halbbruder Theuderich einen Anteil überließen, wohl um diesen im Hinblick auf den überlebenden Neffen ruhig zu stellen. In allen anderen Fällen einer direkten Konkurrenz setzten sich die Söhne mit Hilfe des Adels durch. So hinterließ Theuderich 533 mit Theudebert I. einen Sohn, und erneut wollten Childebert und Chlothar zum Zuge kommen. Doch es gelang Theudebert, die Gefolgsleute seines Vaters durch Geschenke auf seine Seite zu ziehen, die ihn beschützten und in seiner Königsherrschaft stärkten.46 41 Zu diesem Fall vgl. Schneider, Königswahl (wie Anm. 36), S. 74ff.; Grahn-Hoek, Oberschicht (wie Anm. 37), S. 157ff.; K. Bund, Thronsturz und Herrscherabsetzung im Frühmittelalter (Bonner Historische Forschungen 44), Bonn 1979, S. 247ff.; Kasten, Königssöhne (wie Anm. 38), S. 14f.; T. Offergeld, Reges pueri. Das Königtum Minderjähriger im frühen Mittelalter (MGH Schriften 50), Hannover 2001, S. 192ff. 42 Gregor von Tours, Libri historiarum decem III, 18, ed. B. Krusch/W. Levison (MGH SS rer. Mer. I, 1), Hannover 1951, S. 117; zu ihrer Rolle vgl. C. Nolte, Die Königinwitwe Chrodechilde. Familie und Politik im frühen 6. Jahrhundert, in: M. Parisse (Hg.), Veuves et veuvage dans le Haut Moyen ffge, Paris 1993, S. 177–186, hier S. 180. 43 Gregor von Tours, Libri historiarum decem III, 18 (wie Anm. 42), S. 117ff. 44 Schneider, Königswahl (wie Anm. 36), S. 75. 45 Grahn-Hoek, Oberschicht (wie Anm. 37), S. 164f. 46 Gregor von Tours, Libri historiarum decem III, 23 (wie Anm. 42), S. 122f.: vgl. etwa

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Ähnlich gelagert war der Fall auch 575 nach der Ermordung Sigiberts I. in Paris: Sein Sohn Childebert II. konnte sich dank der Unterstützung mächtiger Großer mit dem dux Gundowald an der Spitze und seines Onkels Gunthram gegen seinen anderen Onkel Chilperich behaupten.47 Als Chilperich 584 starb, sicherten wiederum seine mächtigsten Gefolgsleute unter entscheidender Beteiligung Gunthrams die Nachfolge seines Sohnes Chlothar II. Sieht man von dem etwas undurchsichtigen Fall des adoptierten Childebert 656 einmal ab, sind dies die einzigen merowingischen Beispiele für die Konkurrenz von Söhnen und Brüdern um den Thron.48 Mindestens genau so oft trachteten Brüder untereinander nach Thron und Leben: Sigibert und Chilperich vor 575,49 Theudebert und Theudoald vor 612,50 Dagobert II. und Charibert II. 62951 und vielleicht noch Theuderich III. und Childerich III. 673.52 Dazu kommen diverse Königssöhne, die gegen ihre Väter revoltierten, und diverse Väter, die ihre erwachsenen Söhne wegen einer befürchteten Konkurrenz loswerden wollten.53 Es war daher nicht die Brüdergemeine, die das Zusammenleben und die Auseinandersetzungen der Merowinger bestimmte, sondern der Brauch, das Frankenreich zu teilen. Dies war die wichtigste Voraussetzung für die Konkurrenz der Merowinger untereinander. Während bei einer Individualsukzession die jüngeren Söhne eines Herrschers meist nicht die Möglichkeit haben, ihren älteren Bruder oder dessen Sohn vom Thron zu stoßen, weil ihnen dazu die Machtmittel fehlen, herrschten bei den Franken stets mehrere Könige, die in etwa über die gleichen Ressourcen verfügten. Die kleinste Schwäche eines Königs konnte dazu führen, daß seine Brüder gegen ihn vorgingen. Eine ideale, aber eben nicht die einzige Gelegenheit war in diesem Zusammenhang der Übergang der Herrschaft vom Vater auf den Sohn, weil dies eine einmalige Chance für die

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Schneider, Königswahl (wie Anm. 36), S. 79f.; Grahn-Hoek, Oberschicht (wie Anm. 37), S. 172ff.; Bund, Thronsturz (wie Anm. 41), S. 258f.; Kasten, Königssöhne (wie Anm. 38), S. 14; Offergeld, Reges pueri (wie Anm. 41), S. 195. Gregor von Tours, Libri historiarum decem V, 1 (wie Anm. 42), S. 194; vgl. etwa Schneider, Königswahl (wie Anm. 36), S. 94ff.; Grahn-Hoek, Oberschicht (wie Anm. 37), S. 198ff.; Bund, Thronsturz (wie Anm. 41), S. 264; Offergeld, Reges pueri (wie Anm. 41), S. 201. Aber selbst hier ging der Verfasser des Liber historiae Francorum ganz selbstverständlich von der Sohnesfolge aus, und Chlodwig II. kommt erst ins Spiel, nachdem der legitime Thronanwärter Dagobert II. ins irische Exil abgeschoben wurde. Vgl. Bund, Thronsturz (wie Anm. 41), S. 261, 262ff.; Kasten, Königssöhne (wie Anm. 38), S. 15ff. Vgl. Bund, Thronsturz (wie Anm. 41), S. 286ff.; Kasten, Königssöhne (wie Anm. 38), S. 19ff. Vgl. Kasten, Königssöhne (wie Anm. 38), S. 23ff. Vgl. Bund, Thronsturz (wie Anm. 41), S. 308ff.; Kasten, Königssöhne (wie Anm. 38), S. 28. Vgl. den Überblick über die Stellung der Königssöhne von Kasten, Königssöhne (wie Anm. 38), S. 30ff.

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Oheime war, das betreffende Teilreich an sich zu bringen. Das angebliche Anwachsungsrecht war nicht einmal zur Begründung solcher Aktionen notwendig, jedenfalls belegt keine zeitgenössische Quelle, ein Merowinger habe seinen Anspruch auf das Reich seines Bruders bzw. Neffen damit begründet. Man könnte nun die These vertreten, der Gedanke der Brüdergemeine und damit der Versuch, die Brüder gegenüber den Söhnen bei der Nachfolge zu bevorzugen, habe sich erst unter den Karolingern durchgesetzt. Jedenfalls ist mit Reinhard Schneider im 9. Jahrhundert ein reger Gebrauch der entsprechenden Rhetorik zu konstatieren.54 Doch ist der zeitliche Abstand zur germanischen Frühzeit noch einmal um dreihundert Jahre größer als unter Chlodwig und seinen Söhnen. Soll man davon ausgehen, diese Ideen seien viele Generationen lang verdeckt geblieben, um mit den Karolingern wieder an der Oberfläche zu erscheinen? Dann ist zu bedenken, daß die einschlägigen Traktate vor allem von der christlichen caritas-Terminologie geprägt sind. Bereits in der »Divisio regnorum« rief Karl der Große seine Söhne auf, mit den ihnen zugeteilten Reichsteilen zufrieden zu sein et pacem atque caritatem cum fratre custodire.55 Interessanter ist freilich, was Karl der Große im Hinblick auf seine Enkel verfügte, denn er begnügte sich nicht damit, seine eigene Nachfolge zu regeln, sondern auch die seiner Söhne, wobei er diese klar gegenüber seinen Enkeln bevorzugte und dafür weitere Teilungen plante, die laut Peter Classen nur »am grünen Tisch« entstanden sein können.56 Ist Karl der Große damit der Kronzeuge dafür, daß es in dieser Konstellation doch ein Anwachsungsrecht der Brüder gegeben hat, das dem Erbrecht verwaister Söhne grundsätzlich vorging? Nahm er einen angeblich alten fränkischen Rechtssatz auf und wandte ihn im Jahr 806 auf die Thronfolge an?57 Falls es sich jedoch tatsächlich um einen alten fränkischen Rechtssatz handelte, warum mußte er dann eigens festgeschrieben werden? Zwar sind dafür gut Gründe denkbar, aber vor übereilten Schlußfolgerungen ist jedenfalls angesichts des besonderen Charakters der »Divisio regnorum« als zeitgebundene Entscheidung Karls in einer besonderen Situation Vorsicht geboten. Zunächst gehört das sogenannte Anwachsungsrecht der Brüder in den Bereich der Intestaterbfolge. Die »Divisio regnorum« ist demgegenüber als 54 R. Schneider, Brüdergemeine und Schwurfreundschaft. Der Auflösungsprozeß des Karlingerreiches im Spiegel der caritas-Terminologie in den Verträgen der karlingischen Teilkönige des 9. Jahrhunderts (Historische Studien 388), Lübeck/Hamburg 1964. 55 Divisio regnorum (wie Anm. 1), Praef., S. 127. 56 Classen, Thronfolge (wie Anm. 1), S. 220; die Grenzziehungen waren jedoch durchaus sachgerecht und in sich konsequent, vgl. Kaschke, Reichsteilungen (wie Anm. 1), S. 314ff. 57 So zuletzt noch Kaschke, Reichsteilungen (wie Anm. 1), S. 317: »Als Normalfall galt offenbar der, in der Praxis übliche, Anschluss von Reich und Großen an die Brüder des Verstorbenen;« die Entscheidung Karls des Großen betonen dagegen etwa Kasten, Königssöhne (wie Anm. 38), S. 159; Offergeld, Reges pueri (wie Anm. 41), S. 313.

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Nachfolgeordnung eines Herrschers im weitesten Sinne zu den Testamenten zu zählen.58 Ein Testierender aber löst sich gern von vorgegebenen Rechtsgrundsätzen und verfolgt seine eigenen Ziele. So zeugt Karls »Gestaltungswille […] über seinen Tod hinaus bis auf die Generation der Enkel«59 vor allem von seiner Selbsteinschätzung. Er sah sich als Familienpatriarch, der weit über seinen Tod hinaus die Geschicke des Reiches lenken wollte. Er war ein Vater, dem das politische Wohl seiner Söhne stärker am Herzen lag als das Schicksal seiner Enkel – ein Grundzug in der Geschichte der fränkischen Thronfolge.60 Nach allem, was wir wissen, bevorzugte er zudem seinen ältesten Sohn Karl den Jüngeren, der die meiste Zeit an seinem Hof lebte und ihm in seinen letzten Lebensjahren ein wichtiger Helfer war.61 Gerade Karl der Jüngere hatte allem Anschein nach im Jahr 806 noch keine Kinder, mußte sich also um die Weitervererbung seiner Thronrechte noch keine Gedanken machen. In der familieninternen Hierarchie folgte der zweitgeborene Sohn Pippin, König von Italien. Er besaß nur einen Sohn. Am härtesten war der von Karl weniger geliebte Ludwig betroffen,62 der bereits drei thronberechtigte Söhne besaß. Diese Situation ist mitzubedenken, wenn man die Verfügung Karls des Großen analysiert: Wie bereits Dieter Hägermann angedeutet hat, gab er seinem Lieblingssohn die Möglichkeit, seine anderen Söhne zu beerben, während er 58 Die Annales regni Francorum a. 806, ed. F. Kurze (MGH SS rer. Germ. [6]), Hannover 1895, S. 121, unterscheiden zwischen testamentum, also den ersten fünf Kapiteln der »Divisio regnorum«, und den sich anschließenden constitutiones pacis conservandae; vgl. W. Schlesinger, Kaisertum und Reichsteilung. Zur Divisio regnorum von 806, in: R. Dietrich/G. Oestreich (Hgg.), Forschungen zu Staat und Verfassung. Festgabe für Fritz Hartung, Berlin 1958, S. 9–51, hier S. 15, ND in: G. Wolf (Hg.), Zum Kaisertum Karls des Großen (Wege der Forschung 38), Darmstadt 1972, S. 116–173, hier S. 124; Classen, Thronfolge (wie Anm. 1), S. 122 und S. 217f.; Boshof, Einheitsidee (wie Anm. 35), S. 166f. 59 Kasten, Königssöhne (wie Anm. 38), S. 159. 60 Vgl. G. Tellenbach, Die geistigen und politischen Grundlagen der karolingischen Thronfolge. Zugleich eine Studie über kollektive Willensbildung und kollektives Handeln im neunten Jahrhundert, in: FMSt 13 (1979), S. 184–302, hier S. 187, ND in: ders., Ausgewählte Abhandlungen, Bd. 2, Stuttgart 1988, S. 503–621, hier S. 506, der die Akzente allerdings etwas anders setzt und die uns interessierende Konstellation einer Konkurrenz zwischen Onkeln und Neffen nicht eigens berücksichtigt: »Nicht die ganze Königssippe in allen ihren Gliedern ist gleichmäßig zur Teilnahme an der Herrschaft berufen, das Volk wählt nicht etwa aus diesem weiten Kreis einen oder mehrere Träger des königlichen Blutes nach Belieben aus, sondern die Königssöhne haben offenbar den Vorrang vor den Königsenkeln oder Königsneffen, die legitimen Sprossen vor den illegitimen.« 61 Vgl. Kasten, Königssöhne (wie Anm. 38), S. 156f.; Karl war wohl auch sein Lieblingssohn; die Annales Quedlinburgenses a. 811, ed. M. Giese (MGH SS rer. Germ. 72), Hannover 2004, S. 439, bezeichnen ihn jedenfalls als patri acceptior, was laut Kasten, Königssöhne (wie Anm. 38), S. 160 Anm. 83 zwar »einen guten Sinn für das frühe 9. Jahrhundert« beweise, aber im Hinblick auf die umstrittene Thronfolge Ottos des Großen formuliert worden sei. 62 Zu Karls Verhältnis zu Ludwig vgl. Hägermann, Normen (wie Anm. 40), S. 611; Kasten, Königssöhne (wie Anm. 38), S. 163f.

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gleichzeitig deren Chancen minderte, ihre Söhne gegen Karl den Jüngeren auf den Thron zu bringen.63 Damit relativierte er auch den strukturellen Vorteil Pippins und Ludwigs gegenüber dem älteren Bruder, der darin bestand, daß sie wegen ihrer Söhne dem Adel eine Perspektive für die Zukunft boten, während die Gefolgsleute Karls des Jüngeren sich nach dessen Tod auf jeden Fall neu orientieren mußten und daher auch schon vorher anfälliger für Avancen eines anderen fränkischen Herrschers waren. Auf der anderen Seite schwächte Karl der Große mit seiner Bestimmung vor allem seinen jüngsten Sohn Ludwig, der allenfalls einen seiner drei legitimen Söhne als Nachfolger ins Auge fassen konnte und daher mit innerfamiliären Konflikten rechnen mußte. Pippin besaß dagegen mit Bernhard nur einen Sohn und mochte sich berechtigte Hoffnungen machen, ihm die Nachfolge zu sichern. Nach Pippins Tod, aber bezeichnenderweise erst, nachdem auch Karl der Jüngere gestorben war, sollte Karl der Große dann selbst Bernhard als König von Italien einsetzen und damit das Erbe Ludwigs des Frommen erheblich schmälern.64 Vorsicht ist also geboten, wenn man die »Divisio regnorum«, aber auch spätere Nachfolgeordnungen wie die »Ordinatio imperii« von 817 oder die »Divisio regni« von 831 als Belege für die Existenz eines Anwachsungsrechts von Brüdern bei der gegenseitigen Nachfolge sieht.65 Denn diese Nachfolgeordnungen wurden stets von einem Vater und Großvater erlassen, der, wenn er überhaupt an die Thronfolge in der nächsten Generation dachte, seine Söhne zu bevorzugen suchte, was fast von selbst eine Benachteiligung der Enkel nach sich zog. Diesem Denken blieb auch Otto der Große noch verhaftet, unter dem 938 zumindest theoretisch die erbrechtliche Gleichstellung der Enkel erreicht worden war.66 Nach dem Tod seines ältesten Sohnes und designierten Nachfolgers Liudolf 957 hatte er wohl niemals die Absicht, dessen Sprößling Otto zum Thronerben zu bestimmen, sondern machte seinen gleichnamigen Sohn aus zweiter Ehe zum Thronerben, Mitkönig und schließlich sogar Mitkaiser. Auch

63 Hägermann, Karl der Große (wie Anm. 1), S. 499f.; vgl. auch M. Becher, Karl der Große, München 1999 u. ö., S. 114. 64 Vgl. J. Fried, Elite und Ideologie oder die Nachfolgeordnung Karls des Großen vom Jahre 813, in: R. Le Jan (Hg.), La royaut8 et les 8lites dans l’Europe carolingienne (du d8but du IXe siHcle aux environs de 920) (Centre d’Histoire de l’Europe du Nord-Ouest 17), Lille 1998, S. 71–109. 65 Boshof, Einheitsidee (wie Anm. 35), S. 179; ders., Ludwig der Fromme, Darmstadt 1996, S. 132, spricht im Hinblick auf die »Ordinatio imperii« vom »Anwachsungsrecht des älteren Bruders« (Lothar), was terminologisch zumindest inkonsequent ist, da dieses (angebliche) Recht der herrschenden Lehre zufolge allen Brüdern zugestanden hätte; anders etwa Bauer, Ordinatio imperii (wie Anm. 35), S. 11: »Rückgabe eines Unterkönigreiches an Lothar I. für den Fall, daß ein legitimer Erbe fehlen sollte.« 66 Vgl. oben, bei Anm. 30.

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als sich die sogenannte Unteilbarkeit des Reiches durchgesetzt hatte,67 zog ein Herrscher also bei der Thronfolge noch ganz selbstverständlich den eigenen Sohn einem Enkel vor und verhielt sich damit nicht anders als die Karolinger in der Zeit der Reichsteilungen. Sobald der alte König aber verstorben war, dachten und handelten seine Söhne und Nachfolger wie er und strebten ganz selbstverständlich danach, wenigstens einem ihrer Nachkommen die Thronfolge zu sichern; ein Bruder kam dafür keinesfalls in Frage. Oder etwa doch? Im Jahr 838 starb Pippin I. von Aquitanien, der zweite Sohn Ludwigs des Frommen. Der alte Kaiser übertrug dessen Reich aber nicht etwa dessen ältestem Sohn Pippin II., für den die große Mehrheit des aquitanischen Adels eintrat, sondern Karl dem Kahlen, einem seiner eigenen Söhne.68 In diesem Fall kann man durchaus davon sprechen, daß dem Enkel das Eintrittsrecht verweigert wurde,69 was zu Lebzeiten des Großvaters allerdings auch gängige Praxis war.70 Aber bereits die Verwendung des Begriffs »Anwachsungsrecht der Oheime« ist problematisch,71 da der Großvater noch am Leben war, weshalb es damals nicht um die Rechte von Oheimen und Neffen, sondern von Söhnen und Enkeln ging. Aber selbst dann hat der Begriff »Anwachsungsrecht« hier nichts zu suchen, weil Ludwig der Fromme als Vater und regierender Herrscher nicht alle seine Söhne am Reich des verstorbenen Pippin beteiligte, sondern Aquitanien allein Karl dem Kahlen übertrug. Entscheidend war also der Wille des alten Kaisers, seinem jüngsten Sohn ein angemessenes Teilreich zu verschaffen – ein Streben, das nur noch ganz entfernt mit erbrechtlichen Grundsätzen in Verbindung gebracht werden kann. Nach seinem Tod 840 war das Verhältnis seiner Söhne zu Pippin II. im übrigen von reinem Interessendenken geprägt: Während Karl der Kahle und sein Verbündeter Ludwig der Deutsch ihren Neffen nicht anerkannten, verbündete sich Lothar mit ihm, ließ ihn aber fallen, sobald er sich mit seinen Brüdern geeinigt hatte. Lothar, Ludwig und Karl teilten das Reich im Vertrag von Verdun. Zwar ist der Vertragstext nicht erhalten, aber wahrscheinlich haben sich die Brüder gegen67 Vgl. dazu den Beitrag von R. Schieffer in diesem Bd. [R. Schieffer, Zur Effizienz letztwilliger Verfügungen der Karolinger, in: B. Kasten (Hg.), Herrscher- und Fürstentestamente im westeuropäischen Mittelalter (Norm und Struktur 27), Köln 2008, S. 321–330]. 68 Vgl. Boshof, Einheitsidee (wie Anm. 35), S. 187f.; ders., Ludwig der Fromme (wie Anm. 65), S. 243f. 69 Vgl. etwa Tellenbach, Thronfolge (wie Anm. 60), S. 188 (ND S. 507). 70 Dem steht auch die Ordinatio imperii c. 14, ed. A. Boretius, in: MGH Capit. I, Hannover 1883, Nr. 136, S. 272f., nicht entgegen, da sich diese Bestimmung eindeutig auf die Zeit nach dem Tod Ludwigs des Frommen bezog; hätte Ludwig sich nach der »Ordinatio« gerichtet, so hätte Aquitanien nach Ausschluß des Enkels allein an Lothar fallen müssen, was mit dem Terminus »Anwachsungsrecht« ebenfalls nicht adäquat zu beschreiben ist, da dieses Recht bei konsequenter Anwendung des Begriffs allen Brüdern zukam, vgl. oben, Anm. 65. 71 Boshof, Ludwig der Fromme (wie Anm. 65), S. 244.

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seitig das Thronfolgerecht ihrer Söhne garantiert.72 Sicher bezeugt sind entsprechende Überlegungen bzw. Beschlüsse für das Treffen der drei Karolinger 847 in Meersen. Damals schrieben sie das Nachfolgerecht all ihrer Söhne fest, die gegenüber ihren überlebenden Onkeln allerdings zu Gehorsam verpflichtet sein sollten.73 Diese Klausel ist weniger rechtlich als politisch zu deuten, denn mit ihr wird der Vorrang der Angehörigen der älteren Generation festgeschrieben, die sie im Falle des eigenen Überlebens gegebenenfalls gegen die Neffen einsetzen konnten. Aber nur zwei Jahre später setzte sich doch das sogenannte Anwachsungsrecht durch, jedenfalls behauptete dies Heinrich Mitteis im Zusammenhang mit einem Treffen Karls des Kahlen und Ludwigs der Deutschen 849 an einem unbekannten Ort: Die beiden »[…] übereigneten sich […] gegenseitig ihre Reiche per baculum; das heißt, sie trafen eine Verfügung auf den Todesfall, die doch nur den Zweck haben konnte, jeden Versuch ihrer Neffen, sich auf das Eintrittsrecht zu berufen, von vornherein zu vereiteln.«74 Noch pointierter formulierte Konrad Bund: Karl und Ludwig hätten damals »das Eintrittsrecht ihrer jeweiligen S ö h n e und Neffen negiert«.75 Das wäre in der Tat ein bemerkenswerter Schritt gewesen, besaß Ludwig der Deutsche doch bereits drei Söhne im Alter von etwa 14 bis 20 Jahren. Der Fortbestand seiner Familie war also gesichert, und dennoch hätte dieser König nicht die eigenen Söhne, sondern seinen Bruder zum Erben bestimmt. Desgleichen Karl der Kahle, dessen Söhne drei und zwei Jahre alt waren. Nicht sie sollten nach ihm König werden, sondern das Westfrankenreich sollte an den ostfränkischen Bruder fallen. Ein grandioser Beleg für die Kraft des Anwachsungsrechts also? Doch, so wird man fragen dürfen, falls das Anwachsungsrecht die allgemein akzeptierte Richtschnur bei einem Erbfall gewesen wäre, warum bedurfte es 849 einer eigenen Vereinbarung, um das Prinzip zur Anwendung zu bringen? Und vor allem: Wie stand es um die Rechte des ältesten Bruders Lothar? Was war mit seinem Anwachsungsrecht? Man könnte also folgern, die Abmachung der jüngeren Brüder richtete sich nicht nur gegen die eigenen Söhne bzw. Neffen, sondern auch gegen den älteren Bruder, dessen Anwachsungsrecht die beiden jüngeren mithin gänzlich negiert hätten. Dies ist natürlich nur eine Scheindiskussion, die aber die Wirkmächtigkeit 72 Vgl. Schneider, Brüdergemeine (wie Anm. 54), S. 146f.; Anton, Konzept (wie Anm. 35), S. 109 (ND S. 230). 73 Hlotharii, Hludowici et Karoli conventus apud Marsnam primus, ed. A. Boretius/V. Krause, in: MGH Capit. II, Hannover 1897, Nr. 204, c. 9, S. 69; vgl. Schneider, Brüdergemeine (wie Anm. 54), S. 147; Anton, Konzept (wie Anm. 35), S. 109f. (ND S. 230); Bauer, Ordinatio imperii (wie Anm. 35), S. 18f. mit Anm. 73. 74 Mitteis, Vertrag (wie Anm. 35), S. 83 und S. 441, unter Verweis auf F. Lot/L. Halpen, Le rHgne de Charles le Chauve, 6 Bde., Paris 1909, Bd. 1, S. 201f. 75 Bund, Thronsturz (wie Anm. 41), S. 472.

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eines verfehlten Interpretationsansatzes beweist, dem bisweilen selbst die Aussagen der Quellen angepaßt werden. Da die ostfränkischen Reichsannalen weder über das Königstreffen noch über diese grundlegende Nachfolgeregelung berichten, sind wir allein auf die Annales Bertiniani, die westfränkischen Reichsannalen aus der Feder des Prudentius von Troyes, angewiesen: »Ludwig und Karl vereinigten sich in verwandtschaftlicher Gesinnung und zeigten sich vom starken Band brüderlicher Liebe derart umschlungen, daß einer für den Fall seines Todes dem anderen Reich, Frau und Kinder anvertraute, indem sie einander öffentlich einen Stab überreichten.«76 Die Abmachung richtete sich nach Lage der Dinge tatsächlich gegen Lothar,77 aber von einer Nachfolgeregelung war keine Rede: Vielmehr schlossen sie ein Bündnis, daß in dem Moment wirksam werden sollte, da einer von ihnen starb: Dann war der Überlebende verpflichtet, das Reich, die Frau und die Söhne des anderen zu schützen. Von einer Vollmacht, das Reich des Bruders in Besitz zu nehmen, ist dagegen nicht die Rede! Vielmehr setzt der Annalist – und das gilt wohl auch für die beiden Könige – selbstverständlich voraus, daß die Söhne dem jeweiligen Vater in der Herrschaft folgen würden. Das entsprach, wie Reinhard Schneider zeigen konnte, der Politik der drei karolingischen Brüder seit dem Vertrag von Verdun 843.78 Der scheinbare Antagonismus von Eintrittsrecht und Anwachsungsrecht war derart wirkungsmächtig, daß sogar ein Heinrich Mitteis sich mehr von seiner Theorie als von Quellen leiten ließ. Die Abmachung von 849 und ihre Rezeption durch Teile der modernen Forschung sind ein gutes Beispiel dafür, wie sehr der scheinbar so eingängige und doch falsche Erklärungsansatz »Anwachsungsrecht« von den eigentlichen Problemen ablenken und in die Irre führen kann. Daher sollten wir im Zusammenhang mit konkurrierenden Erbansprüchen von Söhnen und Brüdern ganz auf ihn und auf den korrespondierenden Begriff »Eintrittsrecht« verzichten, weil beide Termini ursprünglich im Hinblick auf das Erbe des Großvaters formuliert worden sind und nur dafür sinnvoll sind. Ansonsten erbten eben zuerst die Söhne und erst dann die Brüder eines Verstorbenen. Bei der Thronfolge liegen die Dinge noch etwas anders: Verwandtschaft vermittelte, wie Brigitte Kasten gezeigt hat, nur einen Anspruch, aber kein absolutes Recht.79 Legitime Königs76 Annales Bertiniani a. 849, ed. F. Grat/J. Vielliard/S. Clémencet, Paris 1964, S. 57: Hlodovicus et Karolus germana caritate convenientes, tanto amoris fraterni vinculo devincti patuerunt ut, alter alteri baculos publice tribuendo, regnum, uxorem et liberos superstiti commendaret. 77 Nach W. Hartmann, Ludwig der Deutsche (Gestalten des Mittelalters und der Renaissance), Darmstadt 2002, S. 47, wollten die beiden das Eintrittsrecht ihrer Neffen, der Söhne Kaiser Lothars, ausschalten, wovon in der Quelle jedoch nicht die Rede ist; außerdem standen ihre Ambitionen 849 noch überhaupt nicht zur Debatte, da Lothar noch am Leben war. 78 Schneider, Brüdergemeine (wie Anm. 54), S. 145ff. 79 Kasten, Königssöhne (wie Anm. 38), S. 559ff.

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söhne waren zwar geborene Thronkandidaten, aber sie konnten von ihrem Vater unter bestimmten Voraussetzungen von der Nachfolge ausgeschlossen werden, und nach dessen Tod hatte auch der Adel ein wichtiges Wort bei der Königserhebung mitzusprechen.80 Das angebliche Anwachsungsrecht von Brüdern spielte hierbei keine Rolle, wohl aber ihre Attraktivität für die Gefolgsleute eines verstorbenen Königs. Dank des fränkischen Teilungsbrauches herrschten die Königssöhne in je eigenen Teilreichen und verfügten daher über genügend Ressourcen, um gegebenenfalls gegen die eigenen Verwandten – ganz gleich, ob Neffe oder Bruder – vorzugehen, wobei der Tod eines Bruders und ein sich anschließender Thronwechsel hin zu dessen Söhnen in der Regel die ideale Gelegenheit für deren Onkel war, den eigenen Machtbereich zu erweitern bis hin zur Beseitigung eines Teilreiches. So konnte Karl der Große selbst 771 das Reich seines Bruders Karlmann an sich bringen, weil dessen Große zu ihm übergingen, während Karlmanns Witwe und Söhne Zuflucht bei den Langobarden suchten. Ein angebliches Anwachsungsrecht Karls des Großen hatte bei alldem aber gar keine Rolle gespielt. Mehr als dreißig Jahre später richtete Karl selbst sich in der »Divisio regnorum« nach diesem Muster : Letztlich sollte der Adel entscheiden, ob der Sohn des Königs oder dessen Brüder die Nachfolge antreten sollten, nicht deren Eintritts- oder Anwachsungsrecht.

80 Dies betonte schon H. Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte, 2 Bde., 2. Aufl., bearb. von C. von Schwerin, München/Leipzig 1928, Bd. 2, S. 35.

Die subiectio principum. Zum Charakter der Huldigung im Franken- und Ostfrankenreich bis zum Beginn des 11. Jahrhunderts

Eine zentrale Frage der deutschen Verfassungsgeschichte war stets die nach dem Verhältnis von ›Herrscher‹ und ›Untertan‹, also letztlich nach der Organisation des ›Staates‹.1 Bereits diese Begriffe zeigen exemplarisch das Erkenntnisinteresse der älteren Forschung.2 Indem Otto Brunner, Theodor Mayer, Walter Schlesinger u. a. den Aspekt der ›Herrschaft‹ und der personalen Bindungen verstärkt ins Visier nahmen und das Konzept des ›Personenverbandsstaates‹ entwickelten, stand eine Neubewertung des angesprochenen Problemkreises auf der Tagesordnung.3 Der König erschien nur noch als ein Herrschaftsträger unter vielen, die Bindung der Seinen an ihn wurde jedes spezifischen Charakters entkleidet.4 Erstdruck in: Staat im frühen Mittelalter, hg. von Stuart Airlie – Walter Pohl – Helmut Reimitz (Denkschriften der philosophisch-historischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 334 = Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 11), Wien 2006, 163–178. 1 Von dem man nicht sprechen soll; exemplarisch: Gerd Althoff, Die Ottonen. Königsherrschaft ohne Staat (Stuttgart 2000); August Nitschke, Karolinger und Ottonen. Von der »karolingischen Staatlichkeit« zur »Königsherrschaft ohne Staat«?, in: Historische Zeitschrift 273 (2001) 1–29; zum weiteren Kontext dieser Tradition vgl. Susan Reynolds, The Historiography of the Medieval State, in: Companion to Historiography, ed. Michael Bentley (London 1997) 117–138; selbst für die Antike wird diese Diskussion geführt, vgl. etwa Uwe Walter, Der Begriff des Staates in der griechischen und römischen Geschichte, in: Althistorisches Kolloquium aus Anlaß des 70. Geburtstages von Jochen Bleicken, ed. Theodora Hantos/Gustav Adolf Lehmann (Stuttgart 1998) 9–27. 2 Exemplarisch und in vielfältiger Hinsicht bis heute unerreicht: Georg Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte, 8 Bde. (Bd. 1–2 Berlin 31880–1882, Bd. 3–6 Berlin 21883–1896, Neudruck 1953ff.). 3 Otto Brunner, Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter (Darmstadt 1973, Neudruck der 5. Aufl., Wien 1965, zuerst 1939); Theodor Mayer, Die Ausbildung der Grundlagen des modernen deutschen Staates im hohen Mittelalter, in: Herrschaft und Staat im Mittelalter, ed. Hellmut Kämpf (Wege der Forschung 2, Darmstadt 1960, zuerst 1939) 284–331; Walter Schlesinger, Die Entstehung der Landesherrschaft. Untersuchung vorwiegend nach mitteldeutschen Quellen (Sächsische Forschungen zur Geschichte 1, Dresden 1941, Neudruck Darmstadt 1964). 4 Zur Problematik der Begriffe ›Staat‹ und ›Herrschaft‹ vgl. die Beiträge von Hans-Werner Goetz, Walter Pohl und Steffen Patzold in diesem Band [Hans-Werner Goetz, Die Wahrnehmung von ›Staat‹ und ›Herrschaft‹ im frühen Mittelalter, in: Staat im frühen Mit-

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Dies gilt besonders für die Huldigung als rechtsbegründendem bzw. -verstärkendem Akt.5 Vor allem aber wurde diskutiert, ob sie im gefolgschaftsrechtlichen Denken begründet sei oder ob sie einen eher lehnrechtlichen Charakter besessen habe.6 Diese Deutung sei vorherrschend, so meinte Uwe Eckardt, und verzichtete daher für die merowingische Zeit sogar auf den Terminus ›Huldigung‹, da er in das Lehnrecht gehöre und insbesondere eng mit dem Handgang verbunden sei.7 Dieses Problem, so merkte Reinhard Schneider im Zusammenhang mit der Anerkennung Heinrichs II. durch die Sachsen 1002 zu Recht an, harre einer Untersuchung auf breiter Basis.8 Heinrich Mitteis meinte immerhin noch, Wahl und Huldigung seien ineinander übergegangen und jeder habe nach seiner Art gehuldigt, »der Vasall als Vasall, der Dienstmann als Dienstmann, das Volk durch

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telalter, ed. Stuart Airlie/Walter Pohl/Helmut Reimitz (Denkschriften der philosophischhistorischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaft 334 = Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 11, Wien 2006) 39–58; Walter Pohl, Staat und Herrschaft im Frühmittelalter. Überlegungen zum Forschungsstand, ibid., 9–38; Steffen Patzold, Die Bischöfe im karolingischen Staat. Praktisches Wissen über die politische Ordnung im Frankenreich des 9. Jh., ibid., 133–162]. Zu diesem Problem vgl. jetzt Stefan Esders, Römische Rechtstradition und merowingisches Königtum. Zum Rechtscharakter politischer Herrschaft in Burgund im 6. und 7. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 134, Göttingen 1997) 457f., der dem Treueid in römischer Tradition ›lediglich‹ rechtsverstärkenden Charakter zuspricht, während die mediävistische Forschung ganz überwiegend diesen Akt als rechtsbegründend ansieht, vgl. etwa Lothar Kolmer, Promissorische Eide im Mittelalter (Regensburger Historische Forschungen 12, Kallmünz 1989). Gefolgschaftsrechtlich: Walter Schlesinger, Die Anfänge der deutschen Königswahl, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 66 (1948) 381–440, Neudruck in: Id., Beiträge zur deutschen Verfassungsgeschichte des Mittelalters 1: Germanen, Franken, Deutsche (Göttingen 1963) 139–192, hier 177ff.; Roderich Schmidt, Königsumritt und Huldigung in ottonisch-salischer Zeit (Vorträge und Forschungen 6, Konstanz/Stuttgart 1961) 97–233, hier 131; lehnrechtlich: Robert Scheyhing, Eide, Amtsgewalt und Bannleihe. Eine Untersuchung zur Bannleihe im hohen und späten Mittelalter (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte 2, Köln/Graz 1960) 70ff.; Walther Kienast, Die fränkische Vasallität. Von den Hausmeiern bis zu Ludwig dem Kind und Karl dem Einfältigen, ed. Peter Herde (Frankfurter wissenschaftliche Beiträge. Kulturwissenschaftliche Reihe 18, Frankfurt 1990). Uwe Eckardt, Untersuchungen zu Form und Funktion der Treueidleistung im merowingischen Frankenreich (Untersuchungen und Materialien zur Verfassungs- und Landesgeschichte 6, Marburg 1976) 1f., 2f.; kritisch dazu Andr8 Holenstein, Die Huldigung der Untertanen. Rechtskultur und Herrschaftsordnung 800–1800 (Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte 36, Stuttgart/New York 1991) 103 Anm. 1; Matthias Becher, Art. ›Huldigung‹, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 10, ed. Heinrich Beck/Dieter Geuenich/Heiko Steuer (Berlin/New York 22000) 205–207. Reinhard Schneider, Die Königserhebung Heinrichs II. im Jahre 1002, in: Deutsches Archiv 28 (1972) 74–104, hier 100 Anm. 135; vgl. Monika Minninger, Von Clermont zum Wormser Konkordat (Forschungen und Beiträge zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters 2, Köln/Wien 1978) 41ff.

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Handerheben und Zuruf …«9 Freilich macht Mitteis hier keinen Unterschied zwischen Wahl, Akklamation und Huldigung und umgeht letztlich nur die Frage nach den gefolgschaftlichen bzw. vasallitischen Bezügen. Erst vor kurzem hat Susan Reynolds ihre breit angelegte Kritik am gängigen Bild vom früheren Mittelalter veröffentlicht, das ihrer Meinung nach eben nicht von feudo-vasallitischen Institutionen geprägt war.10 Sie bezweifelt den Stellenwert, den die Forschung der fränkischen Vasallität gibt und speziell deren zwingende Verknüpfung mit dem Handgang bzw. der Kommendation.11 Auch der Treueid sei kein Spezifikum der Vasallität.12 Bis hinein in Tageszeitungen und Wochenmagazine schlugen damals die Wellen13 – durchaus verwunderlich angesichts eines Themas, das man leicht als verstaubt und überholt bezeichnen könnte. Die Kritik vornehmlich der deutschen Forschung sprach diesem Ansatz teilweise die Originalität ab. So schrieb Karl Kroeschell: »Nun ist gewiß richtig, daß es dort, wo sich römische und germanische Vorstellungen begegneten, zu vielen Überkreuzungen und Mischformen gekommen sein muß. Ob eine bestimmte Form persönlicher Abhängigkeit eher einem römischen patrocinium oder einem germanischen mundeburdium gleicht, ist oft nicht zu entscheiden, zumal man sich bald römischer Urkundenformen, bald germanischer Symbolhandlungen bediente. Dies alles ist der Forschung jedoch längst bekannt, …«.14 Aber auch Herwig Wolfram hat unabhängig von Reynolds im Hinblick auf das Lehnswesen des 8. Jahrhunderts von einem »Nicht-Bestand« gesprochen.15 9 Heinrich Mitteis, Die deutsche Königswahl. Ihre Rechtsgrundlagen bis zur Goldenen Bulle (Brünn/München/Wien 21944) 52. 10 Susan Reynolds, Fiefs and Vassals. The Medieval Evidence Reinterpretated (Oxford 1994). 11 Reynolds, Fiefs 29; bereits die Vertreter der klassischen Lehre haben dies gesehen, ohne sich in ihrer Konstruktion der fränkischen Vasallität beirren zu lassen, vgl. etwa Heinrich Mitteis, Lehnrecht und Staatsgewalt. Untersuchungen zur mittelalterlichen Verfassungsgeschichte (Weimar 1933, Neudruck Darmstadt 1958) 72, 482ff.; FranÅois Louis Ganshof, Was ist das Lehnswesen? (Darmstadt 61983) 27; Kienast, Vasallität 124 mit Anm. 400, 137ff., 139ff. 12 Reynolds, Fiefs 31, 88f.; die herrschende Lehre geht von einem Hinzutreten des Treueids zur Kommendation während der frühkarolingischen Zeit aus, vgl. Mitteis, Lehnrecht 43ff.; Ganshof, Lehnswesen 27ff. 13 Otto Gerhard Oexle, Die Abschaffung des Feudalismus ist gescheitert, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 116 vom 19. 5. 1995; Der Spiegel 48 (1994) 188–191; weitere Rezensionen z. B.: Elisabeth Magnou-Nortier, Le f8odalit8 en crise. Propos sur »Fiefs and Vassals« de Susan Reynolds, in: Revue historique 296 (1996) 253–348; Karl Friedrich Krieger, in: Historische Zeitschrift 264 (1997) 174–179, und von Johannes Fried, in: German Historical Institute London: Bulletin 19,1 (1997) 28–41; vgl. dazu die Antwort von Susan Reynolds, in: German Historical Institute London Bulletin 19,2 (1997) 30–40. 14 Karl Kroeschell, Lehnrecht und Verfassung im deutschen Hochmittelalter, in: Forum historiae iuris (http://www.forhistiur.de/index_de.htm 1998) 11. 15 Herwig Wolfram, Karl Martell und das fränkische Lehenswesen. Aufnahme eines Nichtbestandes, in: Karl Martell in seiner Zeit, ed. Jörg Jarnut/Ulrich Nonn/Michael Richter (Beihefte der Francia 37, Sigmaringen 1994) 61–78.

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Das Fazit aus dieser Debatte ist wohl, dass der Einfluss der Vasallität auf das gesellschaftliche Leben allgemein und das staatliche im Besonderen, zumindest im früheren Mittelalter, nicht so groß gewesen ist, wie dies die Forschung unter dem starken Einfluss der im 19. Jahrhundert bestimmenden Rechts- und Verfassungsgeschichte oft noch annimmt. Ähnliche Vorsicht ist freilich auch bei dem Verstehensmodell ›germanische Gefolgschaft‹ geboten. Schlesinger definierte sie »als ein Verhältnis zwischen Herrn und Mann …, das freiwillig eingegangen wird, auf Treue gegründet ist und den Mann zu Rat und (kriegerischer) Hilfe, den Herrn zu Schutz und ›Milde‹ verpflichtet«.16 Walter Pohl hat die Kritik an diesem Modell jüngst noch einmal zusammengestellt,17 und man wird insbesondere festhalten können, dass diese Definition viel zu weit gefasst ist, da sie letztlich auf die unbestreitbare Existenz von Loyalitätsbeziehungen zwischen Freien abhebt, die es in vergleichbarer Form auch im Imperium Romanum und im Byzantinischen Reich gegeben hat.18 Angesichts der unspezifischen und in den Quellen nur schlecht belegten ›germanischen‹ Grundlagen von ›Staat‹ bzw. Monarchie konnte Joachim Ehlers deren Grundlagen jüngst vor allem in der Spätantike lokalisieren.19 Könnte man, so gesehen, bei Huldigungen, die dem König dargebracht wurden, nicht von den Deutungskategorien ›gefolgschaftlich‹ und ›vasallitisch‹ Abstand nehmen und sie als eigenständigen Formalakt begreifen?20 Als Akt, der allein dem Herrscher vorbehalten war und dessen einzigartige Stellung in seinem Reich unterstrich. Es geht also letztlich um die Frage, ob das Königtum im Frankenreich als eigenständige und besondere Sphäre von Herrschaft galt, die sich nicht nur quantitativ – durch die größere Zahl der Untergebenen –, sondern auch qualitativ von anderen Herrschaftsformen wie der Gefolgschaft oder der Vasallität unterschied. Beginnen wir unsere tour d’horizon zur Huldigung mit einem Beispiel, das in diesem Kontext äußerst selten in den Blick genommen wird: der Kaisererhebung Karls des Großen am Weihnachtstag des Jahres 800. Die Reichsannalen berichten zunächst über seine Krönung durch Papst Leo III. und die Akklamation durch 16 Walter Schlesinger, Herrschaft und Gefolgschaft in der germanisch-deutschen Verfassungsgeschichte, in: Historische Zeitschrift 176 (1953) 225–275, Neudruck in: Id., Beiträge 9–52, hier 18. 17 Walter Pohl, Die Germanen (Enzyklopädie deutscher Geschichte 57, München 2000). 18 Zu den strukturellen Gemeinsamkeiten vgl. etwa Walther Kienast, Gefolgswesen und Patrocinium im spanischen Westgotenreich, in: Historische Zeitschrift 239 (1984) 23–75; Hans-Georg Beck, Byzantinisches Gefolgschaftswesen, in: Bayerische Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse, Sitzungsberichte (1965) 1–32; Verena Epp, Amicitia. Zur Geschichte personaler, sozialer, politischer und geistlicher Beziehungen im frühen Mittelalter (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 44, Stuttgart 1999). 19 Joachim Ehlers, Grundlagen der europäischen Monarchie in Spätantike und Mittelalter, in: Majestas 8/9 (2000/01) 49–80. 20 Ähnlich schon Schlesinger, Anfänge 179f., der freilich sowohl die »Königshuldigung« als auch die vasallitische Huldigung vom germanischen Gefolgschaftswesen herleitet.

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die Römer in der Peterskirche und fahren dann wie folgt fort: Et post laudes ab apostolico more antiquorum principum adoratus est ….21 Diese adoratio des neuen Kaisers durch den Papst wurde von der Forschung bislang kaum diskutiert. Papst Leo betete den neuen Kaiser natürlich nicht an, noch wollte der Annalist dies behaupten. Schließlich hatte der fränkische Hof noch 794 in den Libri Carolini klargestellt, dass nur Gott allein angebetet werden dürfe, nicht einmal Heilige oder Heiligenbilder und schon gar kein Sterblicher,22 selbst wenn es sich bei ihm um den Kaiser handelte. Freilich mussten die Franken dies relativieren im Hinblick auf die im Alten Testament mehrfach belegte Adoration, die hier allerdings der Begrüßung diente. So heißt es dort über Abraham und Lot anlässlich ihrer Begegnung mit Fremden, die in Wahrheit Engel des Herrn waren: Abraham adoravit in terram – »er warf sich zu Boden«.23 Entsprechend verhielt sich auch Lot, als er denselben Fremden bzw. Engeln begegnete.24 Dieses und andere Beispiele aus dem Alten Testament hatte Einhard vor Augen, als er im März oder April 836 eine Anfrage des Abtes Lupus von FerriHres beantwortete. Einhard verteidigte die Verehrung des Kreuzes und unterschied sorgfältig zwischen der Anbetung Gottes, der oratio, und der Verehrung von Engeln, Menschen und anderen sichtbaren Dingen, der veneratio, die in den heiligen Schriften auch adoratio genannt werde. Die oratio gelte dem unsichtbaren Gott und werde mit »Geist und Stimme« vollzogen, nicht aber mit Körpergesten. Die veneratio bzw. adoratio wende sich dagegen an etwas Sichtbares und werde daher auch mittels körperlicher Gesten ausgedrückt wie dem »Neigen des Kopfes oder Beugen und Niederwerfen des ganzen Körpers oder Ausstrecken der Arme und Ausbreiten der Hände«.25 Einhard zufolge konnte diese adoratio Engeln, 21 Die Übersetzung des letzten Satzes von Reinhold Rau, Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte, erster Teil (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 5, Darmstadt 1968) 75 (»Und nach den laudes erwies ihm der Papst nach der Sitte der alten Principes die Proskynese, und er wurde fortan unter Weglassen des Patricius-Titels Kaiser und Augustus genannt«) trennt durch den Subjektwechsel im Deutschen die Proskynese des Papstes von der Benennung Karls mit dem Kaisertitel, die nach dem lateinischen Text ebenfalls auf den Papst zurückgeführt werden kann. 22 Libri Carolini I, 9, 13, 22, II, 24 (ed. Ann Freeman, MGH Concilia 2, Supplementum 1, Hannover 1998) 148ff., 163ff., 205ff., 280ff.; vgl. Wolfram von den Steinen, Karl der Große und die Libri Carolini. Die tironischen Noten zum Codex authenticus, in: Neues Archiv 49 (1932) 207–280, hier 264f. 23 Genesis 18,2. 24 Genesis 19,1: adoravit pronus in terram. 25 Einhard, Quaestio de adoranda cruce (ed. Karl Hampe, MGH Epistolae 5, Berlin 1899) 146–149; zweisprachig in: Das Einhardskreuz. Vorträge und Studien der Münsteraner Diskussion zum arcus Einhardi, ed. Karl Hauck (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, philologisch-historische Klasse, 3. Folge 87, Göttingen 1974) 211–216, hier 214; vgl. Ute Schwab, Proskynesis und Philoxenie in der altsächsischen Genesisdichtung. Mit einem Anhang über die Tituli des Halberstädter Abrahamsteppichs von Walter Berschin, in: Text und Bild. Aspekte des Zusammenwirkens zweier Künste in Mittelalter

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Tempeln und Reliquien sowie verehrungswürdigen Menschen dargebracht werden wie etwa den Propheten Nathan und Elisa oder dem König David. Um 800 konnte daher der Kleriker Wigbod die Erhebung Sauls zum König unter Verwendung des Wortes adorare kommentieren.26 Mit dem Wort adorare meinte der Reichsannalist also die altorientalische Geste der Unterordnung gegenüber einem Höhergestellten, besonders gegenüber dem Herrscher, die gemeinhin unter dem griechischen Wort proskynesis bekannt ist. Sie wurde von den Griechen und Römern übernommen und war im frühen Mittelalter im weltlichen Bereich vor allem am byzantinischen Kaiserhof gebräuchlich, während sie im Westen nach gängiger Meinung ausschließlich Ausdruck religiöser Verehrung ist.27 Im byzantinischen Zeremoniell hat nach dem Zeugnis Prokops erst Justinian I. die demütigendste Form des auf den Boden Ausstreckens eingeführt. Aber dies war wohl nicht der Normalfall der Proskynese. So war etwa laut Zeremonienbuch Konstantins VII. der Kniefall die übliche Haltung. Bei der Kaisererhebung folgte die Proskynese der höchsten Hofbeamten auf die Akklamation durch das Volk und die Krönung durch den Patriarchen von Konstantinopel.28 Im Jahr 800 hat man sich zumindest nach Auffassung des Reichsannalisten auch in Rom an dieses Schema gehalten: Auf die Akklamation durch die Römer folgte die Krönung durch den Papst und dessen Proskynese vor dem neuen Kaiser. Indem die Reichsannalen also den Papst den neuen Kaiser ›adorieren‹ lassen, schreiben sie ihm die Geste eines Untertanen zu.29 Horst Fuhrmann spricht daher auch zu Recht von einer »Herrscherhuldigung«.30 So nimmt es nicht wunder, dass der Liber pontificalis als offiziöse päpstliche Quelle diese

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und früher Neuzeit, ed. Christel Meier/Uwe uberg (Wiesbaden 1980) 209–275, hier 233; Jean-Claude Schmitt, Die Logik der Gesten im europäischen Mittelalter (Stuttgart 1992) 277f. Wigbod, Parvae Glosae in libro regum, MS Paris BNF NAL 762, fol. 110v–111r: Et fecerunt ibi regem Saul, id est parverunt sibi optimam sedem et vestierunt Saul regalibus vestimentis et tunc adoraverunt eum pro rege et humiliati sunt coram illo; zit. nach Philippe Buc, Political rituals and political imagination in the Medieval West, 4th–11th centuries, in: The Medieval World, ed. Peter Linehan/Janet Nelson (London 2001) 189–213, at 196. Günther Weiss, Art. ›Proskynese‹, in: Lexikon des Mittelalters 7 (München 1995) 265f.: »bei Persern als Haltung vor dem vergötterten Kg., bei den Griechen als Gebärde der Bitte und Verehrung und in der röm. Republik als demütigender Fußfall bekannte Geste, im Christentum in der Gebetshaltung und in der Verehrung von Kreuzen und Bildern übernommen«. Grundlegend Otto Treitinger, Die Oströmische Kaiser- und Reichsidee nach ihrer Gestaltung im höfischen Zeremoniell (Jena 1938) 84ff.; Eduard Eichmann, Die Kaiserkrönung im Abendland. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte des Mittelalters mit besonderer Berücksichtigung des kirchlichen Rechts, der Liturgie und der Kirchenpolitik 1 (Würzburg 1942) 18ff. So schon Ignaz von Döllinger, Das Kaisertum Karls des Großen und seiner Nachfolger, in: Id., Akademische Vorträge 3 (München 1891) 63–174, hier 137. Horst Fuhrmann, Die Päpste. Von Petrus zu Johannes Paul II. (München 1998) 103.

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Handlungsweise Leos III. nicht erwähnt, da ihr Autor gänzlich andere Vorstellungen vom Verhältnis des Papstes zu dem von ihm ›geschaffenen‹ Kaiser hatte.31 Das wirft die Frage auf, ob die Proskynese des Papstes im Jahr 800 als Huldigungsakt im Westen etwas Singuläres ist oder ob sie sich auch hier in einen größeren Kontext einordnen lässt. Die Kaiserkrönung war der letzte Akt eines unaufhaltsam scheinenden Aufstiegs der Karolinger im Verlauf des 8. Jahrhunderts. In seiner Bedeutung vergleichbar war sicherlich nur noch der Dynastiewechsel von 751, den die Reichsannalen mit folgenden Worten umschreiben: Pippinus secundum morem Francorum electus est ad regem et unctus per manum sanctae memoriae Bonefacii archiepiscopi et elevatus a Francis in regno in Suessionis civitate.32 Von einer Huldigung ist hier auf den ersten Blick nicht die Rede. Deutlicher hingegen wird eine andere Quelle, die dem Ereignis zeitlich näher stehende zweite Fortsetzung Fredegars: Quo tempore una cum consilio et consensu omnium Francorum missa relatione ad sede apostolica, auctoritae praecepta, praecelsus Pippinus electione totius Francorum in sedem regni cum consecratione episcoporum et subiectione principum una cum regina Bertradane, ut antiquitus ordo deposcit, sublimatur in regno.33

Schlesinger kam zu dem Ergebnis, die subiectio principum sei identisch mit der in den Reichsannalen bezeugten electio.34 Aber in der Fortsetzung Fredegars ist sowohl von der electio totius Francorum als auch von der subiectio principum die Rede. Diese wird der consecratio des neuen Königs durch die Bischöfe gegen31 Vgl. von Döllinger, Kaisertum 135; Pierre Riché, Die Karolinger. Eine Familie formt Europa (Stuttgart 1987) 154. 32 Annales regni Francorum inde ab a. 741 usque ad a. 829, qui dicuntur Annales Laurissenses maiores et Einhardi (ed. Friedrich Kurze, MGH SS rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi [6], Hannover 1895, Neudruck 1950) a. 750, 8 u. 10; vgl. allgemein Werner Affeldt, Untersuchungen zur Königserhebung Pippins. Das Papsttum und die Begründung des karolingischen Königtums im Jahre 751, in: Frühmittelalterliche Studien 14 (1980) 95–187; Josef Semmler, Der Dynastiewechsel von 751 und die fränkische Königssalbung (Studia humaniora. Series minor 6, Düsseldorf 2003); zur Frage, ob Bonifatius die Salbung vorgenommen hat, vgl. Kurt-Ulrich Jäschke, Bonifatius und die Königssalbung Pippins des Jüngeren, in: Archiv für Diplomatik 23 (1977) 25–54 = Aus Geschichte und ihren Hilfswissenschaften. Festschrift für W. Heinemeyer, ed. Hermann Bannasch/Hans-Peter Lachmann (Marburg 1979); Jörg Jarnut, Wer hat Pippin 751 zum König gesalbt?, in: Frühmittelalterliche Studien 16 (1982) 45–57. 33 Chronicarum quae dicuntur Fredegarii Scholastici libri IV cum Continuationibus 33 (ed. Bruno Krusch, MGH SS rerum Merovingicarum 2, Hannover 1888, Neudruck 1984) 1–193, hier 182. 34 Schlesinger, Königswahlen 192; zur terminologischen Unschärfe der Quellen allgemein vgl. etwa Ulrich Reuling, Die Kur in Deutschland und Frankreich. Untersuchungen zur Entwicklung des rechtsförmlichen Wahlaktes bei der Königserhebung im 11. und 12. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 64, Göttingen 1979) 11f.

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übergestellt. Inhaltlich entsprechen sich beide Darstellungen daher weitgehend: In beiden Quellen ist nacheinander von der Wahl (electio) und der Weihe (consecratio bzw. unctio) die Rede. Während der Fortsetzer aber bei der Beschreibung des gesamten Vorgangs mit einem einzigen Verb auskommt, sublimare (in regno), benutzt der Reichsannalist insgesamt drei: eligere (ad regem), ungere und elevare (in regno). Der ausdrückliche Verweis auf die subiectio principum konnte hier entfallen, da diese Geste der Unterordnung doch zumindest in vorliegendem Fall mit der elevatio gleichzusetzen ist, weil beide Begriffe letztlich denselben Vorgang beschreiben: Diejenigen, die den neuen König erhöhen, ordnen sich ihm zugleich auch unter. In dem Bericht der Fortsetzung Fredegars zu 751 finden sich die gleichen Elemente einer Herrschererhebung wie in Byzanz und wie im Rom des Jahres 800. Die electio durch angeblich alle Franken entsprach der Akklamation, die Weihe bzw. Salbung durch die Bischöfe der Krönung durch den Patriarchen bzw. den Kaiser und die subiectio principum der Proskynese der höchsten Würdenträger bzw. des Papstes. Eine Parallele liegt vor allem in der Exklusivität: Nur hohe Würdenträger waren zugelassen. Was 751 angeht, hat Josef Semmler versucht, diesen Personenkreis wenigstens teilweise namhaft zu machen.35 Wie in Byzanz handelte sich bei ihnen ausnahmslos um Personen, die hohe Ämter am Hof oder im Reich innehatten. Mit ihrer subiectio ordneten sie sich nicht nur unter, sondern drückten zugleich ihre Zustimmung aus.36 Es handelte sich also zugleich um einen spezifisch weltlichen Akt, den der Laie Childebrand bezeichnenderweise stärker betonte als der (vermutlich geistliche) Reichsannalist. Karl Hauck hat erstmals auf die spätantik-byzantinischen Wurzeln des fränkischen Erhebungsbrauches aufmerksam gemacht, vor allem weil beide Hauptquellen zu 751 sich auf altes Herkommen berufen – ut antiquitus ordo deposcit bzw. secundum morem Francorum.37 Hauck stellte sogar eine Kontinuität seit der Verleihung des Ehrenkonsulats an Chlodwig 508 zur Diskussion.38 35 Semmler, Dynastiewechsel 58ff. 36 Vgl. dazu Bernd Schneidmüller, Konsensuale Herrschaft. Ein Essay über Formen und Konzepte politischer Ordnung im Mittelalter, in: Reich, Regionen und Europa in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Peter Moraw, ed. Paul-Joachim Heinig/Sigrid Jahns/HansJoachim Schmidt/Rainer Christoph Schwinges/Sabine Wefers (Historische Forschungen 67, Berlin 2000) 53–87, hier 67f. 37 Jüngst suchte Achim Thomas Hack, Zur Herkunft der karolingischen Königssalbung, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 110 (1999) 149–170, unter Verweis auf diese Stellen bereits für die späteren Merowinger eine Salbung zu postulieren; Semmler, Salbung 30ff., zog den umgekehrten Schluß aus diesen Stellen und bestritt eine Salbung Pippins im Jahr 751; zu beiden Thesen vgl. jetzt Franz-Reiner Erkens, Auf der Suche nach den Anfängen: Neue Überlegungen zu den Ursprüngen der fränkischen Königssalbung, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung 90 (2004) 494–509. 38 Karl Hauck, Von einer spätantiken Randkultur zum karolingischen Imperium, in: Frühmittelalterliche Studien 1 (1967) 3–93.

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Den mos Francorum interpretierte er als Thronsetzung mit akklamatorischen laudes, die sich an das oströmische Kaiserzeremoniell angelehnt hätten.39 Roderich Schmidt sah diese These nicht hinreichend belegt.40 Reinhard Schneider glaubte sich auf Grund vieler einzelner Hinweise und Indizien aber »zur Annahme einer relativ ungebrochenen Kenntnis vom römischen Kaiserzeremoniell in Gallien und seines Fortlebens« berechtigt.41 Tatsächlich lassen sich auch die der Huldigung nah verwandten merowingischen Untertaneneide vergleichsweise weit zurückverfolgen und möglicherweise sogar ebenfalls auf römische Wurzeln zurückführen.42 Ohne die Argumente der genannten Autoren hier nochmals ausbreiten zu können: Eine Kontinuität zur Spätantike bezüglich der äußeren Formen des Umgangs mit dem Herrscher ist letztlich sehr wahrscheinlich. So gesehen, könnte sich das alte Herkommen auch auf die subiectio beziehen. Seditque Salomon super solium Domini in regem pro David patre suo, et cunctis placuit: et paruit illi omnis Israel. Sed et universi principes et potentes et cuncti filii regis David dederunt manum et subiecti fuerunt Salomoni regi.43

Das Reichen der Hände war der Vulgata zufolge also die Geste, die der Anerkennung eines Herrschers diente und den Ausführenden zum subiectus des Herrschers machte. Das Darbieten der Hände ist im frühen Mittelalter eng mit der Kommendation verwandt, dem Ritus, der vor allem anderen als begründender Akt der karolingischen Vasallität gilt.44 Bei der Kommendation handelt es sich wohl um einen alten Verknechtungsritus bzw. um eine Gebärde der Unterwerfung, die bereits in römischer Zeit vielfach bezeugt ist.45 Allein dieser Kontext spricht für eine demutsvolle Haltung des Untergebenen. In den letzten Jahren ist die non-verbale Kommunikation im Mittelalter 39 Hauck, Randkultur 68ff. 40 Roderich Schmidt, Zur Geschichte des fränkischen Königsthrons, in: Frühmittelalterliche Studien 2 (1968) 45–66. 41 Reinhard Schneider, Königswahl und Königserhebung im Frühmittelalter. Untersuchungen zur Herrschaftsnachfolge bei den Langobarden und Merowingern (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 3, Stuttgart 1972) 232. 42 Matthias Becher, Eid und Herrschaft. Untersuchungen zum Herrscherethos Karls des Großen (Vorträge und Forschungen, Sonderband 39, Sigmaringen 1993) 104ff.; vgl. Esders, Rechtstradition 457ff., der nicht den rechtsbegründenden, sondern den rechtsbestärkenden Charakter der fränkischen Treueide hervorhebt; dagegen betonte noch Eckardt, Untersuchungen 24ff., die germanische Herkunft der Treueide. 43 I Paralip. 29, 23f.; vgl. Schmidt, Geschichte 61f. 44 Vgl. Mitteis, Lehnrecht 27ff.; Ganshof, Lehnswesen 4ff. u. 26f. 45 Mitteis, Lehnrecht 31f.; Kienast, Vasallität 85ff., jeweils mit der älteren Literatur insbesondere zum Problem der germanischen Kontinuität, die beide ablehnen und die Verbreitung der Gestik im Mittelalter auf ihre deutliche Symbolkraft (Mitteis) oder das römische Vorbild zurückführen (Kienast).

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immer mehr in das Zentrum der historischen Forschung gerückt.46 Zu den wichtigsten Symbolhandlungen jener Zeit zählt sicherlich der Handgang. Heinrich Fichtenau hat im Zusammenhang mit dem Handgang des Lehnsmannes gefragt, ob es nicht nahe gelegen habe, »diese Geste mit einem Kniefall zu verbinden«. Allerdings hat er auch auf die dürftige Quellenlage hingewiesen: »Die Berichte sind aber so kurz gehalten, dass sie einen Kniefall nicht ausschließen. Wenn der König bei der Zeremonie nicht stand, sondern saß, wäre es unschicklich gewesen, vor ihm stehend den Kommendationsritus zu vollziehen«.47 Im Sitzen hätte der König zu seinen Untertanen aufblicken müssen und hätte so seinen übergeordneten Rang optisch aufgegeben. Um so mehr, so wird man ergänzen können, wenn es sich bei der Kommendation tatsächlich um einen alten Verknechtungsritus gehandelt hat. Hier kann man etwa auf die Abbildungen zum Sachsenspiegel verweisen.48 Auch der Auctor vetus de beneficiis forderte bald nach 1221: Si autem dominus sedeat, homo genua flectat ante illum pro praebendo hominium.49 Weiter stellte Fichtenau angesichts der großen Zahl von kniefällig vorgetragenen Bitten fest, dass dieser Gestus je nach Situation von den Zeitgenossen wohl nicht als ehrenrührig angesehen wurde.50 Für den Kniefall selbst wird man wohl dasselbe annehmen dürfen. Wenn aber der Kniefall in Byzanz die übliche Haltung der Proskynese war, wird klar, warum im Westen die

46 Die Literatur ist immens; genannt seien daher nur ganz wenige Arbeiten: Jacques Le Goff, Les gestes symboliques dans la vie sociale. Les gestes de la vassalit8, in: Simboli e simbologia nell’alto medioevo (Settimane di studio del centro italiano di studi sull’alto medioevo 23, Spoleto 1976) 679–779; Schmitt, Gesten; Karl Leyser, Ritual, Zeremonie und Gestik: das ottonische Reich, in: Frühmittelalterliche Studien 27 (1993) 1–26; Gerd Althoff, Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde (Darmstadt 1997); Philippe Buc, The Dangers of Ritual (Princeton 2001); Hagen Keller, Ritual, Symbolik und Visualisierung in der Kultur des ottonischen Reiches, in: Frühmittelalterliche Studien 35 (2001) 23–59. 47 Heinrich Fichtenau, Lebensordnungen des 10. Jahrhunderts. Studien über Denkart und Existenz im einstigen Karolingerreich, 2 Bde. (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 30/1–2, Stuttgart 1984) 55. 48 Sachsenspiegel. Heidelberg, Universitätsbibliothek, Codex Palatinus Germanicus 164, zu Lnr. 4 § 1; Der Sachsenspiegel in Bildern. Aus der Heidelberger Handschrift ausgewählt und erläutert von Walter Koschorreck (Frankfurt/Main 1976) 43 Abb. 15; vgl. Hans-Werner Goetz, Der ›rechte‹ Sitz. Die Symbolik von Rang und Herrschaft im Hohen Mittelalter im Spiegel der Sitzordnung, in: Symbole des Alltags, Alltag der Symbole. Festschrift für Harry Kühnel zum 65. Geburtstag (Graz 1992) 11–47, hier 20ff. 49 Auctor vetus de beneficiis I, 45 (ed. Karl August Eckhardt, Teil 1, Fontes iuris Germanici antiqui, Nova Series 2/1, Hannover 1964) 72. 50 Fichtenau, Lebensordnungen 55f.; für das Westfrankenreich vgl. Geoffrey Koziol, Begging Pardon and Favor. Ritual and Political Order in Early Medieval France (Ithaca/London 1992) 66; vgl. auch ebd. 95, mit dem Hinweis auf die Unterschiede von westlicher prostratio und byzantinischer proskynesis; allerdings ist ihm ein Übersetzungsfehler unterlaufen, vgl. Richer, Historiae (ed. Hartmut Hoffmann, MGH SS 38, Hannover 2000) 238 Anm. 11.

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Huldigung auch mit dem lateinischen Wort für die Proskynese, adoratio, beschrieben werden konnte. Sieht man von der erheblich ausgefeilteren zeremoniellen Ausformung ab, waren also die Unterschiede zwischen Byzanz und dem Westen im Verhalten gegenüber Höhergestellten, insbesondere dem Herrscher, gar nicht so groß, wie dies lange Zeit angenommen wurde. Man könnte freilich einwenden, dass der Handgang und damit der vermutlich mit ihm verbundene Fußfall aus der Vasallität herrührten, während die Proskynese in Byzanz vor allem ein Bestandteil des Herrscherzeremoniells war und daher bei jeder Begegnung mit dem Herrscher erfolgte. Freilich sind Ansätze eines weltlichen Zeremoniells auch im Westen zu finden und das noch vor der Ausbildung der fränkischen Vasallität im 8. Jahrhundert. So heißt es in der karolingischen kleinen Lorscher Frankenchronik, der populus habe auf dem Märzfeld secundum antiquam consuetudinem dem König Geschenke überreicht; weiter habe dieser auf der sella regia gesessen, während das Heer ihn umstand und der Hausmeier vor ihm, und habe die Beschlüsse der Franken verkündet.51 Wichtigste Botschaft dieser Nachrichten war wie bei Einhard die absolute Machtlosigkeit der letzten Merowinger, doch gerade deshalb kann man dieser Quelle wenigstens für das angedeutete Zeremoniell vertrauen. Zentral war wohl die sella regia, auf der der König Platz genommen hatte, wenn er in feierlichem Rahmen als Herrscher amtierte. Einhard spricht von dem auf dem solium sitzenden und Gesandte empfangenden König.52 Schneider wies in diesem Zusammenhang auch auf die Bemerkungen der Gesta Dagoberti über den Vorsitz des Königs bei den Versammlungen auf dem Märzfeld hin. Dieser habe ut Francorum regibus moris erat, super solium aureum coronatus vor seinen Großen gethront.53 Es sind also auch im Westen Rudimente eines weltlichen Herrscherzeremoniells zu erkennen, zu dem auch die Huldigung bzw. die subiectio gehörte. Damit stellt sich nicht nur für die Huldigung ganz allgemein, sondern im Besonderen auch für den Handgang die Frage, ob dieser Akt in unseren Quellen weder gefolgschaftlich noch vasallitisch begriffen wurde, sondern als eine Geste jenseits dieser Kategorien gesehen werden muss. Wie wichtig dieses Problem ist, zeigt sich etwa daran, dass selbst Fichtenau nicht scharf zwischen einer Königshuldigung und der Kommendation des Vasallen bzw. Lehnsmannes unter51 Chronicon Laurissense breve a. 750 (ed. H. Schnorr von Carolsfeld, in: Neues Archiv 36 [1911]) 13–39, hier 28. 52 Einhard, Vita Karoli Magni 1 (ed. Oswald Holder-Egger, MGH SS rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi [25], Hannover 1911, Neudruck 1965) 3. 53 Gesta Dagoberti I regis Francorum c. 39, (ed. Bruno Krusch, MGH SS rerum Merovingicarum 2, Hannover 1888, Neudruck 1984) 396–425, hier 416; vgl. auch c. 51, 423: … Hludowicus rex Clippiaco residens, convocatis ponitificibus nec non et regni primoribus, regio stemmate ex more comptus …

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schied. Mitteis hat bereits darauf hingewiesen, dass die Kommendation in allen möglichen Zusammenhängen verwendet worden sei, weshalb stets auf die jeweilige Intention zu achten sei, die mit dieser Handlung ausgedrückt werden sollte,54 ganz zu schweigen von der Verbreitung dieser Geste auch außerhalb des Frankenreiches.55 Schon im 1. Buch der Chronik war ja ganz sicher nicht von einem Lehnsverhältnis die Rede, sondern von einer Königshuldigung. Angesichts des großen Einflusses des Alten Testaments besonders im 8. Jahrhundert56 wäre zu fragen, ob der Handgang bei der Königserhebung in dieser Tradition nicht vor allem als eine dem Herrscher zustehende Geste verstanden wurde und vasallitische Bezüge eher zufällig hinzutreten konnten. Gegen die vorstehenden Überlegungen könnte man allerdings einwenden, dass schon bald nach 751 eine Königshuldigung in scheinbar explizit vasallitischer Form vorgenommen wurde. Ob dem wirklich so war, ist jedoch mehr als fraglich. Folgt man den Reichsannalen, so erschien Herzog Tassilo III. von Bayern 757 auf der Reichsversammlung von CompiHgne und vollzog gegenüber König Pippin die vasallitische Kommendation und leistete den Treueid: Et rex Pippinus tenuit placitum suum in Compendio cum Francis; ibique Tassilo venit, dux Baioariorum, in vasatico se commendans per manus, sacramenta iuravit multa et innumerabilia, reliquias sanctorum manus imponens, et fidelitatem promisit regi Pippino et supradictis filiis eius, domno Carolo et Carlomanno, sicut vassus recta mente et firma devotione per iustitiam, sicut vassus dominos suos esse deberet. Sic confirmavit supradictus Tassilo supra corpus sancti Dionisii, Rustici et Eleutherii necnon et sancti Germani seu sancti Martini, ut omnibus diebus vitae eius sic conservaret, sicut sacramentis promiserat; sic et eius homines maiores natu, qui erant cum eo, firmaverunt, sicut dictum est, in locis superius nominatis quam et in aliis multis.57

Selbst wenn man diesen Bericht im Kern für glaubwürdig hält,58 so wird man doch konstatieren müssen, wie ausführlich die Unterordnung Tassilos unter den Frankenkönig betont wird – die vasallitische Kommendation, unzählige Treu54 Mitteis, Lehnrecht 72; weitere Beispiele bei Kienast, Vasallität 74ff. 55 Mitteis, Lehnrecht 31f.; dagegen möchte Schlesinger, Anfänge 180, unter Verweis auf altnordische Quellen an der Herkunft des Handgangs aus der germanischen Gefolgschaft festhalten; zu dieser verfehlten Argumentationsstruktur vgl. zusammenfassend Walter Pohl, Germanen 69ff. 56 Raymund Kottje, Studien zum Einfluß des Alten Testaments auf Recht und Liturgie des frühen Mittelalters (Bonner Historische Forschungen 23, Bonn 21970); vgl. jetzt auch Mary Garrison, The Franks as the New Israel? Education for an identity from Pippin to Charlemagne, in: The Uses of the Past in the Early Middle Ages, ed. Yitzhak Hen/Matthew Innes (Cambridge 2000) 114–161. 57 Annales regni Francorum a. 757, ed. Kurze 14 u. 16. 58 Vgl. etwa Philippe Depreux, Tassilon III et le roi des Francs: examen d’une vassalit8 controvers8e, in: Revue historique 119 (1995) 23–73; Franz Staab, Knabenvasallität in der Familie Karls des Großen, in: Karl der Große und das Erbe der Kulturen, ed. Franz-Reiner Erkens (Berlin 2001) 67–85.

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eide und schließlich das Treueversprechen, das den Verpflichtungen eines Vasallen nachempfunden ist. Diese Stilisierung ist nur mit den Notwendigkeiten der Zeit um 790 zu erklären, als dieser Teil der Reichsannalen verfasst wurde.59 Damals war Tassilo gerade abgesetzt worden, nachdem er zuvor in demütigender Form zum Vasallen Karls des Großen geworden war. Für unseren Zusammenhang ist freilich wichtiger, wie sich der Reichsannalist Tassilos Verhältnis zu seinem Onkel Pippin dachte. Zum Jahr 748 berichtet er, dass dieser ihn zwar per suum beneficium zum bayerischen Herzog bestellt hatte, dann erwähnt er Tassilo jedoch nicht mehr, obwohl er 755 auf dem fränkischen Märzfeld erschien und ein Jahr später am zweiten Krieg Pippins gegen die Langobarden teilnahm.60 Doch für den Reichsannalisten trat Tassilo dem Karolinger erst 757 zum ersten Mal seit dessen Erhebung zum König gegenüber. Man kann wohl davon ausgehen, dass Tassilo bei seinem ersten Erscheinen an Pippins Hof die subiectio zu vollziehen hatte, die die fränkischen Großen ihm bereits 751 geleistet hatten. Angesichts des Stellenwertes des bayerischen Herzogs und der mit dessen Sturz verbundenen Ungereimtheiten und Probleme stilisierte der Geschichtsschreiber diese von ihm ins Jahr 757 gesetzte Unterordnung zu einer Unterwerfung im vasallitischen Stil. Aber erst dreißig Jahre später wurde Tassilo tatsächlich Vasall eines Frankenkönigs. In militärisch aussichtsloser Lage erschien er vor Karl dem Großen tradens se manibus in manibus domni regis Caroli in vassaticum et reddens ducatum sibi commissum a domno Pippino rege, et recredidit se in omnibus peccasse et male egisse. Tunc denuo renovans sacramenta et dedit obsides electos XII et tertium decimum filium suum Theodonem.61 Damals ging es nicht mehr um eine Königshuldigung, die nach den Erfordernissen der Abfassungszeit der Reichsannalen geformt wurde, sondern um einen regelrechten Unterwerfungsakt, den ein Besiegter zu vollziehen hatte. Diesen Aspekt betont etwa auch der Hibernicus exul, der Tassilo nach Handgang und Treueid Karl dem Großen auch noch die Knie küssen ließ.62 Wahrscheinlich wurde die Demütigung des Herzogs 59 Becher, Eid 21ff.; Rudolf Schieffer, Ein politischer Prozeß des 8. Jahrhunderts im Vexierspiegel der Quellen, in: Das Frankfurter Konzil von 794. Kristallisationspunkt karolingischer Kultur, ed. Rainer Berndt (Mainz 1997) 167–182; vgl. allgemein jetzt auch Rosamond McKitterick, Constructing the past in the early middle ages: The case of the Royal Frankish Annals, in: Transactions of the Royal Historical Society (6th series, 7 1997) 101–129; ead., The illusion of royal power in the Carolingian Annals, in: The English Historical Review 115 (2000) 1–20; Roger Collins, The ›reviser‹ revisited: Another look at the alternative version of the Annales regni Francorum, in: After Rome’s Fall: Narrators and Sources of Early Medieval History, ed. Alexander C. Murray (Toronto 1998) 191–213, hier 191ff. 60 Annales Mosellani a. 755 (ed. Johannes M. Lappenberg, MGH SS 16, Hannover 1859) 491–499, hier 495: venit Dassilo ad Marcis campum et mutaverunt Marcam in mense Madio; Continuatio Fredegarii 38, ed. Krusch 185. 61 Annales regni Francorum a. 787, ed. Kurze 78. 62 Hibernici exulis et Bernowini carmina (ed. Ernst Dümmler, MGH Poetae Latini 1, Berlin

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im Jahresbericht der Reichsannalen zu 757 vorweggenommen. Beide Berichte hängen also voneinander ab und schildern nicht die übliche Königshuldigung, die daher auch keineswegs einem Vasallenverhältnis entsprach. Nur der Reichsannalist war in der besonderen Situation um 790 daran interessiert, den gestürzten Bayernherzog bereits 757 als Vasallen des Frankenkönigs erscheinen zu lassen. Allein der verwandte Gestus mag diese Stilisierung erleichtert haben, dürften sich die Zeitgenossen doch nach dreißig Jahren Abstand kaum noch daran erinnert haben, was Tassilos Fußfall vor dem König und das Reichen der Hände wirklich bedeutet hatten.63 Auch das Jahr des Aufeinandertreffens war anscheinend nicht mehr bekannt, denn es ist kaum einzusehen, warum Tassilo nicht schon 755 Pippin als seinen König und Oberherrn anerkannt haben soll. Auch bei der Königserhebung von Pippins Söhnen Karl und Karlmann 768 spielten Anklänge an die Vasallität keine Rolle. Kurz vor seinem Tod teilte Pippin das Frankenreich equali sorte unter seine beiden Söhne. Bald darauf starb er, und seine Söhne begaben sich cum leodibus suis ad propriam sedem regni eorum, wo sie nach Beratung mit ihren Großen in Noyon bzw. Soissons a proceribus eorum et consecrationem sacerdotum sublimati sunt in regno.64 Noch kürzer teilen die Reichsannalen das schlichte Faktum der Königserhebungen mit.65 Diese scheinen ähnlich wie die von 751 verlaufen zu sein. Die subiectio principum wird zwar nicht ausdrücklich erwähnt, kann aber wohl angesichts des parallelen Aufbaus des Berichts mit der sublimatio in regno durch die proceres gleichgesetzt werden. Eine Wahl dürfte damals jedenfalls nicht erfolgt sein, hatte Pippin doch bereits für die Reichsteilung und damit die Nachfolge seiner Söhne die Zustimmung der Großen eingeholt. Ende 771 übernahm Karl das Teilreich Karlmanns. Er zog nach Corbeny, wohin auch die wichtigsten Großen seines verstorbenen Bruders eilten, um ihm zu huldigen.66

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1881) 393–425, hier 399 v. 99; nach Kienast, Vasallität 111, handelt es sich hierbei um ein »Ergebenheitszeichen der Vasallen«, während Staab, Knabenvasallität 82 Anm. 73, ganz allgemein von einer »Geste der Unterwürfigkeit« spricht. Im Übrigen ist davon auszugehen, dass Tassilo spätestens 755 Pippin als König persönlich gehuldigt hatte, also spätestens bei ihrem ersten bezeugten Zusammentreffen nach dessen Erhebung zum König 751. Continuatio Fredegarii c. 54, ed. Krusch 193. Annales regni Francorum a. 768, ed. Kurze 28: Et domnus Carolus et Carlomannus evevati sunt in regno … . Annales regni Francorum a. 771, ed. Kurze 32: Et eodem anno Carlomannus rex defunctus est in villa, quae dicitur Salmontiacus, prid. Non. Decembr. Domnus rex venit ad Corbonacum villam, ibique venientes Wilcharius archiepiscopus et Folradus capellanus cum aliis episcopis ac sacerdotibus, Warinus et Adalhardus comites cum aliis primatibus, qui fuerunt Carlomanni; Annales regni Francorum qui dicuntur Einhardi a. 771, ed. Kurze 33: … Carlomannus frater [Karli] ad II. Nonas Decembris decessit in villa Salmontiaco. Et rex ad capiendum ex integro regnum animum intendens Carbonacum villam venit. Ibi Wilharium episcopum Sedunensem et Folradum presbyterum et alios plures sacerdotes, comites etiam

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Neben der Kommendation erwähnt der Reichsannalist zu 757 auch einen Treueid. Charles E. Odegaard hat das Verhältnis beider zueinander mit Hilfe von Quellenaussagen aus dem 8. und 9. Jahrhundert analysiert.67 Für ihn handelte es sich um verschiedene Akte, die üblicher-, aber nicht notwendigerweise aufeinanderfolgten. Dafür spricht auch, dass der allgemeine Treueid des Jahres 789 … ab episcopis et abbatis sive comitibus vel bassis regalibus necnon vicedomini, archidiaconibus adque canonicis geleistet werden sollte.68 Auguste Dumas und Robert Scheyhing vermuteten, dass die zu 789 in der ersten Gruppe aufgeführten Großen ihre Treueide nicht wie die anderen gegenüber missi ablegen mussten, sondern direkt vor dem König, weil sie diesem auch bis dahin stets persönlich gehuldigt hatten.69 Diese Annahme widerspricht indes dem Wortlaut der königlichen Anweisung, die sich eindeutig an missi richtete, die folglich auch für die Vereidigung des genannten Personenkreises zuständig waren.70 Damit ist nicht ausgeschlossen, dass dieser zuvor wenigstens zum Teil dem König bereits 768/71 oder spätestens bei Übernahme eines Amtes gehuldigt hatte. Speziell bei den königlichen Vasallen wäre an eine Kommendation zu denken.71 Dies reichte dem König nicht aus, war der allgemeinen Vereidigung doch der Aufstand des Grafen Hardrad vorausgegangen. Einige seiner Anhänger hatten zur Rechtfertigung vorgebracht, sie hätten dem König keine Treue geschworen. Auf diese Erklärung nahm Karl explizit Bezug, als er 789 die erste allgemeine Vereidigung anordnete.72 Sie war wohl auch der Grund dafür, dass er bei den allgemeinen Vereidigungen keine Ausnahme für diejenigen gestatten wollte, die bereits gehuldigt bzw. sich kommendiert hatten. Dies wirft ein bezeichnendes Licht auf die Bindekraft dieser Akte, die eben nur solange hielt, wie ein Konsens zwischen dem König und seinen Großen sowie Untergebenen bestand.

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atque primates fratris sui, inter quos vel praecipui fuere Warinus et Adalhardus, ad se venientes suscepit. Charles E. Odegaard, Vassi and Fideles in the Carolingian Empire (Harvard Historical Monographs 19, Cambridge, Mass. 1945) 76ff.; vgl. auch die oben, Anm. 10, angegebene Literatur. Capitulare missorum Nr. 25 (789) c. 2 (ed. Alfred Boretius, MGH Capitularia 1, Hannover 1883, Neudruck 1984) 66. Auguste Dumas, Le serment et la conception du pouvoir du Iier au IXiHme siHcle, in: Revue d’histoire de droit franÅais et 8tranger 10 (1931) 30–51 u. 289–321, hier 297; Scheyhing, Eide 39. Becher, Eid 197. Reynolds, Fiefs 87, erinnert an die Unmöglichkeit, daß alle königlichen Vasallen des riesigen Frankenreiches sich dem König persönlich kommendieren konnten. Capitulare missorum c. 1, ed. Boretius 66: Quam ob rem istam sacramenta sunt necessaria, per ordine ex antiqua consuetudine explicare faciant, et quia modo isti infideles homines magnum conturbium in regnum domni Karoli regi voluerint terminare et in eius vita consiliati sunt et inquisiti dixerunt, quod fidelitatem ei non iurasset; zum Zusammenhang mit der Verschwörung Hardrads vgl. Becher, Eid 79ff.

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Im Jahr 802 forderte der Karolinger erneut eine allgemeine Vereidigung ein. Anlass war Karls Erhebung zum Kaiser, die Annahme des nomen cesaris. Nun waren schlicht omnes, alle, aufgerufen, sofern sie das zwölfte Lebensjahr vollendet hatten.73 Man wird annehmen dürfen, dass auch 802 etwa Bischöfe und Grafen, aber auch vassi dominici den Treueid abzulegen hatten, obwohl sie dem Herrscher bereits als König gehuldigt bzw. sich ihm kommendiert hatten. Mit Hilfe der allgemeinen Vereidigung von 802 wurde versucht, die gestiegene Bedeutung der Vasallität in den Beziehungen zwischen dem Herrscher und seinen ›Untertanen‹ aufzuzeigen.74 In den überlieferten Treueidformularen wird die zu schwörende Treue mit dem Verhältnis zwischen dominus und homo verglichen: Sicut per drictum debet esse homo domino suo.75 Im schon zitierten Bericht der Reichsannalen über den Vasalleneid Tassilos III. von 757 wurde ein anderer Vergleich gezogen: … sicut vassus recta mente et firma devotione per iustitiam, sicut vassus dominos suos esse deberet.76 Angesichts der Parallelen zwischen den beiden Texten interpretierte Georg Waitz die Begriffe homo im Treueidformular von 802 als vassus und dominus als senior und zog daraus den Schluss, die Treueidformulare des Jahres 802 seien dem Treueid der Vasallen nachgebildet worden.77 Doch ist weder die Interpretation noch die Schlussfolgerung zwingend. Das Wort dominus stand für jeden Herrn,78 besonders aber für den König, und homo meinte zunächst einmal jeden Untergebenen. Daher lässt sich allen73 Capitulare missorum generale Nr. 33 (802) c. 2 (ed. Alfred Boretius, MGH Capitularia 1, Hannover 1883, Neudruck 1984) 92: De fidelitate promittenda domno imperatori. Precepitque, ut omni homo in toto regno suo, sive ecclesiasticus sive laicus, unusquisque secundum votum et propositum suum, qui antea fidelitate sibi regis nomine promisissent, nunc ipsum promissum nominis cesaris faciat; et hii qui adhuc ipsum promissum non perficerunt omnes usque ad duodecimo aetatis annum similiter facerent. 74 Waitz, Verfassungsgeschichte 3, 297f.; Heinrich Brunner, Grundzüge der deutschen Rechtsgeschichte, besorgt von Claudius von Schwerin (München 81930) 80 mit Anm. 38; Mitteis, Lehnrecht 52ff.; Hans Müller, Formen und Rechtsgehalt der Huldigung, Diss. jur. (Mainz 1954) 13ff.; Walther Kienast, Untertaneneid und Treuevorbehalt in Frankreich und England. Studien zur vergleichenden Verfassungsgeschichte des Mittelalters (Weimar 1952) 16; Percy Ernst Schramm, Karl der Große als Kaiser (800–814) im Lichte der Staatssymbolik, in: Kaiser, Könige und Päpste: Gesammelte Aufsätze zur Geschichte des Mittelalters 1, ed. Id. (Stuttgart 1968) 264–302, hier 286f.; FranÅois Louis Ganshof, Charlemagne’s use of the oath, in: The Carolingians and the Frankish Monarchy : Studies in Carolingian History, ed. Id. (London 1971) 111–124, hier 116 mit Anm. 40; Kolmer, Eide 83f. 75 Capitularia missorum specialia Nr. 34 (802) (ed. Alfred Boretius, MGH Capitularia 1, Hannover 1883, Neudruck 1984) 101, ähnlich das zweite Eidformular des Jahres 802, ebd. 76 Annales regni Francorum a. 757, ed. Kurze 12 u. 14. 77 Waitz, Verfassungsgeschichte 3, 297f. 78 Zu möglichen Unterschieden zwischen dominus und domnus vgl. Matthias M. Tischler, Einharts Vita Karoli: Studien zur Entstehung, Überlieferung und Rezeption (MGH Schriften 48, Hannover 1998) 9; zu verweisen ist bereits auf Ludwig Traube, Nomina sacra. Versuch einer Geschichte der christlichen Kürzung (Quellen und Untersuchungen zur lateinischen Philologie des Mittelalters 2, München 1907).

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falls eine strukturelle Verwandtschaft zwischen den allgemeinen Vereidigungen und der Vasallität vermuten, die schlicht dadurch gegeben war, dass es bei beiden um Unterordnung und Gehorsam ging. Gerade für die Beschreibung der Inhalte der Treue, die 802 beschworen werden sollte, spielten Parallelen zur Vasallität keine Rolle: Karl der Große machte zunächst Gottes Gebot zum wichtigsten Inhalt des Treueides, dann forderte er die Unverletzlichkeit des kaiserlichen Besitzes ein, den Schutz der Schwachen sowie Gehorsam nicht nur in militärischen Angelegenheiten sondern auch ganz allgemein.79 Lediglich an einer Stelle ist von Benefizien die Rede: Ut beneficium domni imperatoris desertare nemo audeat, propriam suam exinde construere.80 Handelte es sich bei den hier angesprochenen Leuten tatsächlich um Vasallen, was nach Brigitte Kasten durchaus nicht sicher ist,81 dann waren sie als Vorbilder für Karls Zwecke denkbar ungeeignet, denn mit ihrer Loyalität war es nicht weit her. Daher mahnte der Kaiser die Einhaltung dieser Bestimmung in den Capitularia missorum specialia desselben Jahres noch einmal an und wiederholte sie erneut in einem Kapitular, das möglicherweise ebenfalls aus dem Jahr 802 stammt.82 Betrachten wir vor dem Hintergrund der vorstehenden Überlegungen zum geringen Einfluss der Vasallität auf die bisher betrachteten Huldigungen eine weitere subiectio, die mit einer Kommendation verbunden wurde. Erneut geht es um eine wichtige Einzelperson, der beim Regierungsantritt Ludwigs des Frommen 814 große Bedeutung zukam. Dem Astronomus zufolge fürchtete man in der Umgebung Ludwigs des Frommen, dass Wala, der Vetter Karls des Großen, nach dessen Tod aliquid sinistri gegen den neuen Herrscher plane. Um diesen Verdacht zu zerstreuen, erschien Wala vor Ludwig: Qui tamen citissime ad eum venit, et humillima subiectione se eius nutui secundum consuetudinem Francorum commendans subdidit.83 Der Ausdruck humillima subiectio dürfte zumindest einen Fußfall meinen, den Wala wohl mit einem Handgang kombinierte. 79 Zusammenfassend dazu Holenstein, Huldigung 118f.; Becher, Eid 202ff. 80 Capitulare missorum generale c. 6, ed. Boretius 93. 81 Vgl. Brigitte Kasten, Beneficium zwischen Landleihe und Lehen – eine alte Frage, neu gestellt, in: Mönchtum – Kirche – Herrschaft 750–1000, ed. Dieter R. Bauer u. a. (Sigmaringen 1998) 243–260. 82 Capitularia missorum specialia c. 10, ed. Boretius 100: De illis hominibus qui nostra beneficia habent distructa et alodes eorum restauratas. Similiter et de rebus ecclesiarum; Capitula a misso cognita facta Nr. 59 (802?) c. 3 (ed. Alfred Boretius, MGH Capitularia 1, Hannover 1883, Neudruck 1984) 146: Qui beneficium domni imperatoris et aecclesiarum Dei habet nihil exinde ducat in suam hereditatem, ut ipsum beneficium destruatur ; vgl. auch Capitulare missorum item speciale Nr. 35 (806?) c. 49 (ed. Alfred Boretius, MGH Capitularia 1, Hannover 1883, Neudruck 1984) 104: Ut beneficia domni imperatoris et ecclesiarum considerentur, ne forte aliquis alodem suum restaurans beneficia destruat. 83 Astronomus, Vita Hludowici imperatoris c. 21 (ed. Ernst Tremp, MGH SS rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi 64, Hannover 1995) 346.

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Freilich stellt der Astronomus diesen Akt gerade nicht in den Kontext der Vassalität. Dies unterlässt er auch in seinem Bericht über den entthronten Dänenkönig Harald, der 814 bei Ludwig Zuflucht und sich diesem nach Sitte der Franken in die Hände gab.84 Ein Handgang allein deutet also noch nicht auf ein Vasallenverhältnis hin, vielmehr konnte er schlicht Teil einer Königshuldigung sein. Die Kommendation gilt dem Astronomus als consuetudo bzw. als mos Francorum.85 Ähnlich wird in den sogenannten Einhardsannalen Tassilos angeblicher Eintritt in die Vasallität seines Onkels Pippin im Jahr 757 bezeichnet: Illuc et Tassilo dux Baioariorum cum primoribus gentis suae venit et more Francico in manus regis in vassaticum manibus suis semetipsum commendavit …86 Es schloss sich der Treueid an. In den Reichsannalen war der Hinweis auf einen fränkischen Brauch noch unterblieben. Es stellt sich daher die Frage, ob der Handgang seit alters her als mos Francicus bezeichnet wurde oder ob sich die neue Bezeichnung in der knappen Generation zwischen der Aufzeichnung der beiden Annalenversionen gebildet hat.87 Immerhin behauptete der Reichsannalist über die Wahl bzw. Erhebung Pippins zum König 751, sie sei secundum morem Francorum geschehen, und auch der Fortsetzer Fredegars hebt in diesem Zusammenhang auf den antiquitus ordo ab. Es ist also nicht auszuschließen, dass commendatio und subiectio denselben Vorgang meinten, der ein fester Bestandteil des fränkischen Erhebungsbrauches war. Dafür spricht auch die Art und Weise, in der Ludwig der Fromme 837 während einer Versammlung in Aachen seinem jüngsten Sohn Karl dem Kahlen einen Reichsteil zuwies: Sicque iubente imperatore in sui praesentia episcopi, abbates, comites et vassalli dominici in memoratis locis beneficia habentes Karolo se commendaverunt et fidelitatem sacramento firmaverunt.88 Auch wenn die kö-

84 Astronomus, Vita Hludowici imperatoris c. 24, ed. Tremp, 356: … [Herioldus] ad imperatorem Hluduicum confugium fecit, et iuxta morem Francorum manibus illius se tradidit; Annales regni Francorum a. 814, ed. Kurze 141: … [Herioldus] ad imperatorem venit et se in manus illius commendavit. 85 Zu mos allgemein vgl. Gerhard Köbler, Das Recht im frühen Mittelalter. Untersuchungen zu Herkunft und Inhalt frühmittelalterlicher Rechtsbegriffe im deutschen Sprachgebiet (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte 7, Köln 1971) 107ff., 162ff. u. 186ff. 86 Annales qui dicuntur Einhardi a. 757, ed. Kurze 13 u. 15. 87 Vgl. Mitteis, Lehnrecht 70 mit Anm. 186; Heinz Löwe, Salzburg als Zentrum literarischen Schaffens im 8. Jahrhundert, in: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 115 (1975) 99–143, hier 119 Anm. 84; Lothar Kolmer, Zur Kommendation und Absetzung Tassilos III., in: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 43 (1980) 291–327, hier 304 mit Anm. 89. 88 Annales Bertiniani a. 837 (ed. F8lix Grat/Jeanne Vielliard/Suzanne Clémencet, Paris 1964) 23; vgl. Walter Schlesinger, Karlingische Königswahlen, in: Zur Geschichte und Problematik der Demokratie. Festgabe für Hans Herzfeld anläßlich seines fünfundsech-

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niglichen Vasallen Benefizien innehatten, handelte es sich hier doch nicht um einen vasallitischen Akt, sondern um die Anerkennung eines (künftigen) Königs durch die wichtigsten Funktionsträger des bisherigen Herrschers. Wie uneinheitlich der Sprachgebrauch unserer Quellen im Übrigen ist, zeigt ein Vergleich mit Nithard, dem zufolge ›alle‹ Bewohner des neuen Teilreichs zusammengekommen seien und Karl den Treueid geleistet hätten.89 Den Handgang dürfte er dabei stillschweigend vorausgesetzt haben. Auf der anderen Seite konnte aber auch der Treueid unter den Tisch fallen: Anlässlich der Königserhebung Karls des Kahlen in Lothringen 869 kamen etliche Bischöfe vor dem eigentlichen Akt zu Karl nach Metz und kommendierten sich ihm, ohne dass man dies nach dem Bericht Hinkmars in den Annales Bertiniani als lehnrechtlichen Akt auffassen könnte.90 Regino von Prüm spricht in seinem Bericht über den Herrschaftsantritt Karls III. 885 im Westfrankenreich dagegen wieder beide Aspekte an: Optimates regni ad Carolum imperatorem missos dirigunt eumque ultro in regnum invitant; eique advenienti ad Gundolfi villam obviam procedunt et manibus sacramentisque iuxta morem datis eius ditioni se subiciunt.91

Die Großen des Westfrankenreiches reichten dem Kaiser also die Hände und knieten nach Lage der Dinge zu diesem Zweck vor ihrem neuen Herrscher nieder. Regino stellt diesen Akt gleichfalls nicht in einen vasallitischen Kontext. Wie kurz ein Herrschaftsantritt abgehandelt werden konnte, zeigt ein Vergleich mit der Regensburger Fortsetzung der sogenannten Fuldaer Annalen. Demnach betrat Karl nach dem Tode seines Vetters Karlmann das Westfrankenreich, empfing die Großen und ordnete die Verhältnisse in seinem Sinne.92 Von einer

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zigsten Geburtstages am 22. Juni 1957, ed. Wilhelm Berges (Berlin 1958) 207–264, Neudruck in: Id., Beiträge 88–138, hier 103f. Nithardi historiarum libri IIII, I c. 6, 9 (ed. Ernst Müller, MGH SS rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi [44], Hannover 1907, Neudruck 1965): … omnes praedictos fines inhabitantes convenerunt fidemque sacramento Karolo firmaverunt. Annales Bertiniani a. 869, ed. Grat/Vielliard/Clémencet 157: Veniens ergo usque Viridunum, plurimos de eodem regno, sed et Hattonem ipsius civitatis episcopum et Arnulfum Tullensis urbis episcopum, sibi se commendantes suscepit. Indeque Mettis Nonas Septembris veniens, Adventium ipsius civitatis praesulem et Franconem Tungrensem episcopum cum multis aliis in sua commendatione suscepit. Reginonis abbatis Prumiensis chronicon cum continuatione Treverensi a. 884 (ed. Friedrich Kurze, MGH SS rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi [50], Hannover 1890, Neudruck 1989) 112. Annales Fuldenses sive Annales regni Francorum Orientalis: Ab Einhardo, Roudolfo, Meginhardo Fuldensibus, Seligenstadi, Fuldae, Moguntiaci conscripti. Cum continuationibus Ratisbonensi et Altahensibus a. 885 (Ratisbon.) (ed. Friedrich Kurze, MGH SS rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi [7], Hannover 1891) 113; zur Quelle vgl. Franz Staab, Bildung und regionale Perspektiven in den Mainzer Reichsannalen, in: Gli umanesimi medievali. Atti del II congresso dell’ »Internationales Mittellateinerkomitee«, ed. Claudio Leonardi (Florenz 1998) 637–668.

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Unterwerfung der Großen und entsprechenden Gesten ist hier also nicht die Rede. Etwas deutlicher werden wiederum die Annales Vedastini: omnes qui fuerant in regno Karlomanni ad eum venerunt eiusque se subdidere imperio.93 Aber auch hier verzichtete der Annalist darauf, der Huldigung ein vasallitisches Gepräge zu geben. Untersucht man die Fuldaer Annalen auf Königserhebungen bzw. den Herrschaftsbeginn von bereits regierenden Königen in anderen Teilreichen, so fällt die häufige Verwendung des Ausdrucks … ad se veniens suscepit (in suum dominium) auf, den bereits Odegaard als Gegenstück zur Kommendation beschrieben hat.94 873 benutzt der Annalist diesen Ausdruck, um den Empfang des Normannen Roriko durch Ludwig den Deutschen zu beschreiben.95 Desgleichen galt dies für die Zustimmung italienischer Großer zu Karlmann von Bayern im Jahr 877,96 für die Anerkennung Ludwigs des Jüngeren als künftiger König Bayerns 879.97 Auch als im gleichen Jahr einige bayerische Große zu ihm kamen, weil sie sich von Arnulf von Kärnten zu Unrecht verfolgt fühlten, wurde dies entsprechend geschildert.98 In Anlehnung an August Nitschke kann man hier von Bewegungen sprechen, die eine spezifische Bedeutung besaßen und die Unterordnung unter einen Ranghöheren ausdrückten.99 Nach Lage der Dinge wird man am ehesten an Huldigungen zu denken haben, die aus Handgang und Treueid bestanden. So empfing Ludwig der Jüngere 880 die Söhne seines verstorbenen Vetters, des westfränkischen Königs Ludwig, die ihm offenbar ganz Lotharingien abtraten.100 Nach Ostern des folgenden Jahres nahm er Hugo, den Sohn Lothars II. und 93 Annales Vedastini a. 885 (ed. Bernhard von Simson, MGH SS rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi [12], Hannover/Leipzig 1909, Neudruck 1979) 40–82, hier 56. 94 Odegaard, Vassi 5; vgl. auch die Berichte über die Anerkennung Karls des Großen im Reichsteil seines Bruders Karlmann, oben Anm. 65. 95 Annales Fuldenses a. 873, ed. Kurze 78: … et [Hludowicus] Rorichum per obsides ad se venientem in suum suscepit dominium. 96 Annales Fuldenses a. 877, ed. Kurze 90: Carlmannus optimates Italiae ad se venientes suscepit et disposita, prout voluit, regione reversus est in Baioariam. 97 Annales Fuldenses a. 879, ed. Kurze 92: Ibique [Hludowicus] optimates eiusdem regionis ad se venientes suscepit, ea videlicet ratione, ut post obitum Carlmanni nullum alium super se regem susciperent vel regnare consentirent. 98 Annales Fuldenses a. 879, ed. Kurze 93: … ibique [Hludowicus] Erambertum comitem de Baioaria aliosque nonnullos ad se venientes suscepit, quos Arnolt propter quandam dissensionem inter Carlmannum patrem suum et eos factam publicis privavit honoribus et de regno expulit. 99 Vgl. etwa August Nitschke, Naturerkenntnis und politisches Handeln im Mittelalter. Körper – Bewegung – Raum (Stuttgart 1967); Id., Bewegungen in Mittelalter und Renaissance. Kämpfe, Spiele, Tänze, Zeremonielle und Umgangsformen (Köln 1987). 100 Annales Fuldenses a. 880, ed. Kurze 94: … postea in Galliam profectus [Hludowicus] filios Hludowici ad se venientes suscepit totumque regnum Hlotharii suae ditioni subiugavit.

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Waldradas, bei sich auf und gab ihm Abteien und Grafschaften zu Lehen, um ihn fester an sich zu binden.101 Die Verleihung der Benefizien hing also formal betrachtet nicht mit der vorausgehenden Unterordnung Hugos unter Ludwig zusammen. 882 zog Karl der Dicke, als er vom Tod Ludwigs des Jüngeren erfahren hatte, der Mainzer Fortsetzung der Fuldaer Annalen zufolge von Italien aus nach Bayern und empfing dort die Großen seines verstorbenen Bruders.102 887 schließlich nahm Arnulf von Kärnten alle fränkischen Großen, die sich gegen Kaiser Karl verschworen hatten und zu ihm kamen, in sein dominium auf, während er denen, die nicht bei ihm erschienen waren, die Benefizien entzog.103 Erneut ist im Zusammenhang mit der Anerkennung eines Königs zwar von Lehen die Rede, aber bezeichnenderweise nicht in einem spezifisch vassalitischen Kontext. Vergleichbar ist der Versuch Karls des Kahlen, seine Herrschaft 876 auf das Ostfrankenreich auszudehnen. Er versprach den Großen Ludwigs des Jüngeren viele Benefizien und Geschenke, falls sie ihren Herrn verließen und zu ihm kämen, drohte ihnen aber andernfalls Konfiskation und Exilierung an.104 Auch im Jahr 900 wurde ein König verlassen und ein anderer anerkannt. Damals lehnten sich die Lothringer gegen die Gewaltherrschaft Zwentibolds auf und schlossen sich Ludwig dem Kind an, der soeben erst die Nachfolge des gemeinsamen Vaters Arnulf von Kärnten im Ostfrankenreich angetreten hatte: (…) certatim igitur ad Ludowicum transeunt eumque in regnum introducent et in Theodonis villa manibus datis eius dominationi se subiciunt.105 Man wird sich diesen Akt nicht anders vorstellen dürfen, als die Anerkennung Heinrichs I. durch ›alle‹ Lothringer 25 Jahre später, die Flodoard mit dem Verb se committere beschreibt.106 Flodoard benutzte dieses Wort gern, um Königshuldigungen zu 101 Annales Fuldenses a. 881, ed. Kurze 96: Rex post pascha in Galliam profectus Hugonem Hlotharii ex Waldrata filium ad se venientem in suum suscepit dominium et [ei] abbatias et comitatus (ei) in beneficium dedit, ut ei fidem servaret. 102 Annales Fuldenses (Mogunt.) a. 882, ed. Kurze 98: Karolus imperator audito fratris sui obitu de Italia perrexit in Baioariam et optimates, qui fuerant fratris sui, ad se venientes in suum suscepit dominium. 103 Annales Fuldenses (Mogunt.) a. 887, ed. Kurze 106: Nam omnes optimates Francorum, qui contra imperatorem conspiraverant, ad se venientes in suum suscepit dominium, venire nolentes beneficiis privavit. 104 Annales Fuldenses a. 876, ed. Kurze 87: Karolus … missis etiam prius legatis ad optimates Hludowici, ut proprium dominum desererent et ad se venirent, venientibus quidem plurima beneficia ac dona promittens, aliter vero facientibus rerum secularium privationem vel exterminium minitans. 105 Regino, Chronicon a. 900, ed. Kurze 148; vgl. Thilo Offergeld, Reges pueri. Das Königtum Minderjähriger im frühen Mittelalter (Schriften der MGH 50, Hannover 2001) 535. 106 Flodoard, Annales a. 925 (ed. Philippe Lauer, Collection de textes pour servir / l’8tude et / l’enseignement de l’histoire 39, Paris 1905) 33: Heinrico cuncti se Lotharienses committunt …; vgl. Heinrich Büttner, Heinrichs I. Südwest- und Westpolitik (Vorträge und Forschungen, Sonderband [2], Konstanz 1964) 38ff.; Carlrichard Brühl, Deutschland – Frankreich: Die Geburt zweier Völker (Köln 21995) 440f.; Bernd Schneidmüller, Fran-

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beschreiben, so etwa auch bei der Erhebung Roberts Ende Juni 922: Franci Rotbertum seniorem eligunt, ipsique sese committunt. Rotbertus itaque rex Remis, apud Sanctum Remigium, ab episcopis et primatibus regni constituitur.107 Die principes Gothiae kommendierten sich 932 König Rudolf,108 und die Lothringer taten es ihnen 939 mit Herzog Giselbert an der Spitze gleich, um den westfränkischen König Ludwig IV. den Überseeischen als König anzuerkennen.109 Kurz zuvor hatten sie Otto den Großen verlassen, mit dem Ludwig verbündet war. Daher hatte er sich zunächst noch geweigert, die Lothringer überhaupt zu empfangen.110 Auch die Huldigungen einzelner beschreibt Flodoard in entsprechender Weise, etwa als Wilhelm von Aquitanien 924 König Rudolf anerkannte,111 als sich Heribert II. von Vermandois 931 Heinrich I. kommendierte112 oder als jener 940 zusammen mit Hugo magnus Otto dem Großen entgegenzog und diesen nach Attigny geleitete, wo die beiden – und außerdem Graf Rotgar – sich dem ostfränkischen König kommendierten.113 Dabei handelte es sich nicht um eine Doppelvasallität,114 sondern die drei erkannten Otto als König an, auch wenn dieser sich nicht dazu hinreißen ließ, nach der westfränkischen Krone zu streben. Eine Kommendation bzw. ein Handgang waren bei Ottos eigentlicher Königserhebung 936 in Aachen ein zentrales Moment. Nach Widukind von Corvey setzten die Herzöge und die ersten der Grafen mit der übrigen Schar der principes militum den neuen Herrscher auf einen vor der Basilika Karls des Großen aufgestellten Thron. Dann reichten sie ihm die Hände – manus ei dantes – und gelobten ihm Treue und Hilfe gegen alle seine Feinde und machten ihn so nach

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zösische Lothringenpolitik im 10. Jahrhundert (Koblenz 1979) 19f.; Lothringen bewahrte im Übrigen auch unter Heinrich eine gewisse Eigenständigkeit. Flodoard, Annales a. 922, ed. Lauer 10. Flodoard, Annales a. 932, ed. Lauer 53: … regi se Rudolfo committunt … Flodoard, Annales a. 939, ed. Lauer 72: Lotharienses iterum veniunt ad regem Ludowicum et proceres ipsius regni, Gislebertus scilicet dux …, eidem se regi committunt. Flodoard, Annales a. 939, ed. Lauer 71f.: Lotharienses Othonem regem suum deserunt et ad Ludowicum regem veniunt, qui eos recipere distulit ob amicitiam quae inter eos … depacta erat. Flodoard, Annales a. 924, ed. Lauer 20: … [Willelmus] sese regi committit … Flodoard, Annales a. 931, ed. Lauer 49f.: Heribertus comes ad Heinricum profiscitur eique sese committit; vgl. Walther Kienast, Deutschland und Frankreich in der Kaiserzeit (900 bis 1270). Weltkaiser und Einzelkönige 1 (Stuttgart 21974) 55; Helmut Beumann, Die Ottonen (Stuttgart/Berlin/Köln 21991) 49; Bernd Schneidmüller, Wahrnehmungsmuster und Verhaltensformen in den fränkischen Nachfolgereichen, in: Deutschland und der Westen Europas im Mittelalter, ed. Joachim Ehlers (Vorträge und Forschungen 56, Stuttgart 2002) 263–302, hier 269f., der einer lehnrechtlichen Deutung des Geschehens widerspricht. Flodoard, Annales a. 940, ed. Lauer 77. Kienast, Deutschland und Frankreich 1, 63; Bd. 3, 663f.; differenzierter Brühl, Deutschland – Frankreich 480.

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ihrem Brauch zum König.115 Thronsetzung und anschließende Huldigung waren nach Widukind die entscheidenden Akte der weltlichen Königserhebung. Interessant ist nun, wie Thietmar von Merseburg Widukinds Bericht wiedergibt: Dem neuen Herrscher sei auf seinem Weg nach Aachen omnis senatus entgegengezogen, habe ihm fidem cum subiecone gelobt und ihn an die Stelle seiner Vorgänger gesetzt, indem man ihn an den Kaiserthron führte.116 Auch wenn beide Geschichtsschreiber die Reihenfolge vertauschen, waren Thronsetzung und Huldigung doch für sie die entscheidenden Akte der weltlichen Königserhebung. Dabei scheint es so, als ob Thietmar die subiectio mit dem von Widukind bezeugten Handgang gleichsetzte. Auch nach dem Tod Ottos des Großen 973 erfolgte laut Widukind ein Handgang, um dem Nachfolger Otto II. zu huldigen. Einleitend vermerkt der Geschichtsschreiber, dass dieser bereits zum König und Kaiser gekrönt worden war und die Großen ihm daher eigentlich unnötigerweise die Hände gereicht, Treue gelobt und mit sacramentis militaribus ihre Hilfe gegen alle Feinde bekräftigt hätten.117 Tatsächlich wird man annehmen dürfen, dass entsprechende Akte bereits 961 anlässlich seiner Erhebung zum König und 967 nach seiner Kaiserkrönung vorgenommen worden waren. Aber wie im Falle Ludwigs des Frommen nach dem Tod Karls des Großen 814 schien es auch hier angebracht, den Nachfolger in angemessener Weise in die Herrschaft einzuweisen. Die Worte manus dare gebraucht Widukind übrigens auch, um die Huldigung zu beschreiben, die der Thüringerkönig Irminfrid einst dem Frankenkönig Theuderich verweigert habe.118 Der Handgang galt ihm also als die einem neuen Herr115 Widukind, Die Sachsengeschichte II, 1 (ed. Paul Hirsch/Hans-Eberhard Lohmann, MGH SS rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi [60], Hannover 51935) 64: Cumque illo ventum esset, duces ac prefectorum principes cum caetera principum militum manu congregati in sixto basilicae Magni Karoli cohaerenti collocarunt novum ducem in solio ibidem constructo, manus ei dantes ac fidem pollicentes operamque suam contra omnes inimicos spondentes, more suo fecerunt eum regem; vgl. Reinhard Schneider, Wechselwirkungen von kanonischer und weltlicher Wahl, in: Wahlen und Wählen im Mittelalter, ed. Id./Harald Zimmermann (Vorträge und Forschungen 37, Sigmaringen 1990) 135–171, hier 149. 116 Thietmar von Merseburg, Chronicon II, 1 (ed. Robert Holtzmann, MGH SS rerum Germanicarum. Nova Series 9, Berlin 1935, Neudruck 1996) 38: … omnis senatus obviam perrexit, [Ottonem] fidem cum subiecione promisit et ad sedem eum ducens usque inperialem statuit eundem in loco priorum, in regem sibi conlaudans ac Deo tunc gratias agens; vgl. Schneider, Wechselwirkungen 150. 117 Widukind, Sachsengeschichte III, 76, ed. Hirsch/Lohmann 153: … licet iam olim unctus esset in regem et a beato apostolico designatus in imperatorem, spei unicae totius ecclesiae, imperatoris filio, ut initio certatim manus dabant, fidem pollicentes et operam suam contra omnes adversarios sacramentis militaribus confirmantes. Igitur ab integro ab omni populo electus … 118 Widukind, Sachsengeschichte I, 9, ed. Hirsch/Lohmann 12: … Irminfridus respondit legato … proprio servor non posse manus dare.

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scher von allen Großen geschuldete Geste, gleich ob sie in einem unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit der Herrschererhebung geleistet wurde oder später beim ersten Zusammentreffen mit dem neuen König. In diese Richtung weist auch der Bericht Thietmars über die Anerkennung Heinrichs II. durch die Sachsen 1002. Am 24. Juli zog der Herrscher nach Merseburg, wo sich die meisten weltlichen und geistlichen Großen Sachsens einfanden und den König supplici devocione empfingen.119 Nachdem Heinrich II. am 25. Juli 1002 in Merseburg von Herzog Bernhard mit der hl. Lanze investiert worden war,120 reichten alle, die Kaiser Otto III. gedient hatten, dem neuen Herrscher die Hände und versprachen ihm eidlich treue Hilfe. Nur Liudger hielt sich zurück, wie Thietmar eigens hervorhebt.121 Im selben Jahr gelangte in Böhmen Herzog Vladivoj zur Regierung. Er reiste anschließend zu Heinrich II. nach Regensburg und cum humili subiectione et fideli promissione hunc in dominum elegit et, quae postulavit ab eo, in beneficium acquisivit.122 Auch wenn von einem beneficium die Rede ist, so beschreibt Thietmar das Verhältnis zwischen König und Herzog doch ansonsten ganz mit Hilfe der traditionellen Terminologie einer Königshuldigung. Sogar eine von Heinrich II. selbst diktierte Urkunde stützt unsere Beobachtungen.123 Am 15. Januar 1003 bestätigte Heinrich II. während des Hoftages und der Reichssynode in Diedenhofen Bischof Werner von Straßburg die Übertragung des Klosters St. Stephan in Straßburg. In der Urkunde legte er die Grundlagen und die Legitimation seiner Herrschaft dar und erwähnte dabei auch den Handgang.124 Eine vasallitische Komponente kommt dabei freilich nicht zur Sprache. 119 Thietmar, Chronicon V, 15, ed. Holtzmann 238f.: Huc conveniunt archiepiscopi Lievizo Bremensis et Gisilerus Magadaburhgiensis cum caeteris confratribus, Rethario Patheburnensi, Bernwardo Hillinesemensi, Arnulfo Halverstidensi, Ramwardo [Mindensi, Egedo] Misnensi, Bernhario Ferdensi, Hugone Citicensi, ducibus autem Bernhardo ac Bolizlavo cum marchionibus Liuthario et Gerone ac palatino comite Fritherico aliisque quam pluribus tam episcopis quam comitibus, quorum nomina longum est enarrare per singula. Hii omnes regem supplici devocione suscipiunt. 120 Thietmar, Chronicon V, 17, ed. Holtzmann 241. 121 Thietmar, Chronicon V, 18, ed. Holtzmann 241 u. 243: Omnes qui priori imperatori serviverant, Liudgero solo remanente, regi manus complicant, fidele auxilium per sacramenta confirmant; Wilhelm von Giesebrecht, Geschichte der deutschen Kaiserzeit 2 (Braunschweig 51885) 24, spricht von einem Lehnseid; vorsichtiger: Schneider, Königserhebung 100 Anm. 135. 122 Thietmar, Chronicon V, 23, ed. Holtzmann 249. 123 Hartmut Hoffmann, Eigendiktat in den Urkunden Ottos III. und Heinrichs II., in: Deutsches Archiv 44 (1988) 390–423, hier 414ff. 124 D.H.II. Nr. 34 (ed. Harry Bresslau/Hermann Bloch, MGH Diplomata 3, Berlin 21957): … persuasit antistiti cum caeteris, quorum infinitus est numerus, nostrae manus dare fidelitati, ut deo praeside concors populorum et principum nobis concederetur electio et he˛reditaria in regnum sine aliqua divisione successio; vgl. Reuling, Kur 42ff.; Stefan Weinfurter, Der Anspruch Heinrichs II. auf die Königsherrschaft 1002, in: Papstgeschichte und Landesge-

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Berichte über Huldigungen anlässlich von Königserhebungen sind aber, wie schon erwähnt, äußerst selten. Die meisten Geschichtsschreiber dachten wohl wie Wipo, dem wir mit dem Bericht über die Wahl Konrads II. 1024 die ausführlichste Darstellung einer Königserhebung verdanken. Am Ende seines dritten Kapitels erwähnt er noch den königlichen Empfang des gerade Geweihten an der Tafel und deutet damit also ein Festmahl an.125 Am Beginn des vierten Kapitels aber stellt er lapidar fest: De fidelitate facta regi minus necessarium dicere puto, frequenti usu teste, quod omnes episcopi, duces et reliqui principes, milites primi, milites gregarii, quin ingenui omnes, si alicuius momenti sint, regibus fidem faciant; huic tamen sincerius et libentius iurando omnes subiciebantur.126 Immerhin verdeutlicht diese Aufzählung, dass Wipo keine lehnrechtlichen Kriterien für die Zulassung zur Königshuldigung anlegte. Insgesamt legen also die vorgestellten Quellenstellen über Königshuldigungen zumindest für die Karolinger- und Ottonenzeit eine enge Verbindung zwischen der Kommendation und der subiectio nahe. Allgemein galten Gefolgschaft und Lehnswesen der älteren Forschung stets als vorbildhaft für die staatliche Verfassung. Das Verhältnis von Herrscher und Untertan sei ihnen nachgebildet worden. Freilich kann man das Verhältnis von allgemeinem Treueid und Vasalleneid auch entgegengesetzt interpretieren: Der in der Merowinger- und frühen Karolingerzeit dem König von allen Untertanen zu leistende Treueid wurde seit dem Ende des 8. Jahrhunderts Bestandteil der Vasallität, als dieses alte Knechtsverhältnis zunehmend auf höhere Gesellschaftsschichten übertragen wurde. Eine ähnliche Entwicklung ist für den Verknechtungsritus der vasallitischen Kommendation anzunehmen. Ein Gestus der Unterordnung war sowohl gegenüber dem König wie gegenüber dem Lehnsherrn notwendig. Die äußeren Formen der Königshuldigung richteten sich nach dem spätantiken bzw. byzantinischen Vorbild der Proskynese. Sie erforderte eine Körperhaltung, die dem hohen Rang des Herrschers angemessen war, also zumindest eine tiefe Verbeugung, besser einen Kniefall und eine entsprechend demutsvolle Haltung der Hände. Dazu waren allerdings nur die principes zugelassen – eine deutliche Parallele zum byzantinischen Reich. Die äußerliche Ähnlichkeit von Huldigung und Kommendation begünstigte die gegenseitige Durchdringung, sodass wir schichte. Festschrift für Hermann Jacobs zum 65. Geburtstag, ed. Joachim Dahlhaus/ Armin Kohnle (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 39, Köln/Weimar/Wien 1995) 121–134; Id., Heinrich II. (1002-1024). Herrscher am Ende der Zeiten (Regensburg 1999) 76f. 125 Wipo, Gesta Chuonradi imperatoris 3 (ed. Harry Bresslau, MGH SS rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi [61], Hannover/Leipzig 31915, Neudruck 1993) 1–62, hier 24. 126 Wipo, Gesta 4, ed. Bresslau 24; vgl. Schmidt, Königsumritt 151; Reuling, Kur 31f.; Herwig Wolfram, Kaiser Konrad II. 1024-1039. Kaiser dreier Reiche (München 2000) 69 mit Anm. 22.

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beide kaum noch unterscheiden können und – oft fälschlich der älteren Forschung folgend – im Zweifelsfall lieber die Leistung der lehnrechtlichen Mannschaft annehmen, als das Erweisen eines dem König zustehenden Unterordnungsgestus, den man der Terminologie einiger Quellen folgend als subiectio bezeichnen kann.

Erbe von Kaisers Gnaden. Welf IV. und das süddeutsche Erbe der Welfen

Als dem oberitalienischen Markgrafen Albert Azzo aus der weitverzweigten Familie der Otbertiner und seiner Gemahlin, der Welfin Kuniza, im zweiten Viertel des 11. Jahrhunderts ein Sohn geboren wurde, konnte niemand ahnen, daß dieser dereinst das Erbe der Welfen in Süddeutschland antreten würde. Sein Onkel Welf III. hatte das Erbe inne und würde es aller Wahrscheinlichkeit nach an seine Nachkommen weitergeben. Aber es kam anders, wie man in der um 1170 entstandenen Historia Welforum nachlesen kann: »Schließlich wurde dieser Welf [III.] im jugendlichen Alter, während er sich gerade auf der Burg Bodman aufhielt, von einer tödlichen Krankheit befallen; als er sich vom Tod bedroht sah, schenkte er, da er keinen leiblichen Erben hatte, sein ganzes Erbgut mit den Ministerialen dem heiligen Martin im Kloster Altdorf zu ewigem Besitz und übertrug die Ausführung vertrauensvoll zweien seiner Großen, die damals bei ihm waren. Als er seinen letzten Tag beschlossen hatte, wurde er dorthin gebracht und unter größtem Wehklagen der Seinen und der ganzen Nachbarschaft begraben. Bald nach der Beisetzung wollten nun die Beauftragten die Schenkung vollziehen, wurden aber an ihrem Vorhaben gehindert. Denn weil seine Mutter wußte, daß sie über ihre Tochter einen Erben hatte, schickte sie Boten nach Italien und ließ ihn herbeiholen. Als er kam, untersagte er die ganze Schenkung und erklärte, daß er der echte und wahre Erbe sei.«1 Erstdruck in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 66 (2007), S. 17–35. 1 Historia Welforum. Ed. Erich König (Schwäbische Chroniken der Stauferzeit 1). 21978. c. 12, S. 18: Hic denique Gwelf sub iuvenili aetate, cum esset in castro Botamo, morbo correptus est; vidensque sibi imminere mortem omne patrimonium suum cum ministerialibus, quia heredem non habuit per se, ad coenobium Altorfense sancto Martino in perpetuam possessionem donavit et hoc perficiendum duobus de maioribus suis, qui tunc secum aderant, fidelissime commisit. Ipse vero diem claudens extremum illo deportatus est et cum maximo planctu suorum ac totius vicinitatis sepultus. Mox expleta sepultura, quibus iniunctum fuerat donationem perficere, volentes prohibiti sunt. Mater enim ipsius, sciens se heredem habere ex filia, missis in Italiam legatis iussit eum adduci. Et veniens donationem penitus interdixit et se certum et verum esse heredem proclamavit; korrigierte Übersetzung ebd. S. 19.

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Während für die ältere Forschung der Tod Welfs III. am 13. November 10552 gleichbedeutend war mit dem Aussterben der älteren – eigentlichen – Welfenfamilie und der Herrschaftsantritt seines Neffen Welf IV. den Anfang der jüngeren Welfen markierte, hat die jüngere Forschung seit Karl Schmid ihr Augenmerk eher auf das in der Historia Welforum fixierte Selbstverständnis der Welfenfamilie gerichtet, so daß der Bruch von 1055 keine Rolle mehr spielte3. In jüngster Zeit haben Bernd Schneidmüller und Werner Hechberger dieses Problem wieder thematisiert, ohne in ältere Sichtweisen zurückzufallen4. Stellvertretend sei die Einschätzung der Germanistin Beate Kellner in ihrer 2004 erschienenen Habilitationsschrift zitiert: »Das Fehlen männlicher Erben in gerader Linie, das Vermächtnis ans Kloster und das gleichzeitige Auftreten des Neffen bzw. Enkels als rechtmäßigem Erben könnte erhebliches Konfliktpotential in sich bergen. Und doch wird von einem Erbstreit nichts berichtet: Der jüngere Gwelf (IV.) … scheint sich kraft seiner kognatischen Zugehörigkeit zum Welfengeschlecht ohne größere Schwierigkeiten gegen das Testament seines Onkels durchsetzen zu können – so jedenfalls inszeniert die Quelle den Erbgang, ihn möglicherweise entproblematisierend.«5 In diesem Sinne scheint etwa die Angabe der Historia Welforum, Imiza habe sich ihres Enkels in Italien erinnert, der, so muß man wohl zwischen den Zeilen lesen, Welf III. gleichgültig oder gar unbekannt gewesen sei, eine reine Schutzbehauptung zu sein. Denn Katrin Baaken konnte wahrscheinlich machen, daß der Herzog in engeren Beziehungen mit seinen Verwandten in Italien stand, als bislang angenommen, hielt er sich doch etwa im Mai 1050 in Vicenza auf, also rund 30 km von den otbertinischen Hauptorten Montagnana und Este entfernt6. Welf III. könnte damals also durchaus seine Schwester und seinen Schwager 2 Zum Datum Necrologium Weingartense. Ed. Franz Ludwig Baumann (MGH Necrologia Germaniae I). 1888. S. 230; Ernst Steindorff: Jahrbücher des deutschen Reiches unter Heinrich III., Bd. 2. 1881. S. 320 Anm. 4. 3 Karl Schmid: Welfisches Selbstverständnis. In: Adel und Kirche. Gerd Tellenbach zum 65. Geburtstag dargebracht von Freunden und Schülern. Hg. von Josef Fleckenstein – Karl Schmid. 1968. S. 389–416. ND in: Karl Schmid: Gebetsgedenken und adliges Selbstverständnis im Mittelalter. Ausgewählte Beiträge. Festgabe zu seinem sechzigsten Geburtstag. 1983. S. 424–453. 4 Bernd Schneidmüller: Die Welfen. Herrschaft und Erinnerung (819–1252). 2000. S. 128; Werner Hechberger: Die Erbfolge von 1055 und das welfische Selbstverständnis im 12. Jahrhundert. In: Welf IV. – Schlüsselfigur einer Wendezeit. Regionale und europäische Perspektiven. Hg. von Dieter R. Bauer – Matthias Becher (Beihefte zur Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, Reihe B 24). 2004. S. 129–155. 5 Beate Kellner : Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischen Wissen im Mittelalter. 2004. S. 327f. 6 Katrin Baaken: Welf IV. Der ›geborene Italiener‹ als Erbe des Welfenhauses. In: Bauer – Becher : Welf IV. (wie Anm. 4) S. 199–225, S. 209, unter Verweis auf I placiti del »Regnum Italiae«. Ed. Cesare Manaresi (Fonti per la storia d’Italia 97). 1960. Nr. 384, S. 187ff.

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besucht und dabei auch seinen Neffen kennengelernt haben. Unsere Quelle ist also nicht die beste, wenn es um die mit der Nachfolge Welfs III. verbundenen Probleme geht. So erhebt sich die Frage, wie seine Mutter Imiza ihren Einspruch gegen das Testament des Sohnes genau begründete; und weiter : wie reagierten die Vertrauten des Herzogs bzw. das ursprünglich begünstigte Kloster Altdorf ? Gab es möglicherweise einen Rechtsstreit und wer entschied diesen? Die Historia Welforum schweigt sich darüber aus und betont bei allen von ihr angesprochenen Aspekten der Diskontinuität letztlich doch die familiäre und erbrechtliche Kontinuität und somit den Fortbestand der Welfenfamilie. Der Erblasser Welf III. könnte eigentlich eine hervorragende Stelle in der Geschichte des Welfenhauses einnehmen, war er doch der erste Familienangehörige, der zum Herzog und damit in die erste Gruppe der Fürsten des Reiches aufgestiegen war7. 1047 belehnte ihn Kaiser Heinrich III. mit dem Herzogtum Kärnten. Den Aufstieg zum Herzog verdankte er letztlich wohl der hochrangigen Verwandtschaft seiner Mutter Imiza, die sowohl von der Historia Welforum als auch von der noch älteren Genealogia Welforum für die Nachwelt festgehalten wurde: Sie sei aus einem salischen Geschlecht von der Burg Gleiberg hervorgegangen und die Schwester des Herzogs Heinrich von Bayern, des Herzogs Friedrich von Lothringen und des Bischofs Adalbero von Metz gewesen8. Nach modernem Verständnis entstammte sie dem Haus der Luxemburger, das seit dem Beginn des 11. Jahrhunderts mehrere Herzöge von Bayern und Lothringen gestellt hatte9. Hatte ein Familienangehöriger einmal den herzoglichen Rang erworben, so kamen auch weitere, ja sogar Seitenverwandte wie Welf III. für eine solche Position in Frage. Die prominenteste Verwandte Imizas verschweigen die welfischen Autoren erstaunlicherweise, nämlich ihre Tante Kunigunde, die Gemahlin Kaiser Heinrichs II.10 Wenigstens mittelbar wird das Kaiserpaar in der welfischen Hausüberlieferung jedoch angesprochen, nämlich im Zusammenhang mit dem rei7 Vgl. Heinz Dopsch: Welf III. und Kärnten. In: Bauer – Becher : Welf IV. (wie Anm. 4) S. 84–128. 8 Genealogia Welforum. Ed. Georg Waitz. Über eine alte Genealogie der Welfen. In: Abhandlungen der königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, philosophisch-historische Klasse, Bd. 2. 1881. C. 7, S. 14 (= MGH SS XIII. 1881. S. 735); Genealogia Welforum. Ed. Erich König (Schwäbische Chroniken der Stauferzeit 1). 21978. S. 78 (künftig hiernach benutzt); Historia Welforum. Ebd. c. 8. S. 14. 9 Vgl. Heinz Renn: Das erste Luxemburger Grafenhaus (963–1136) (Rheinisches Archiv 39). 1941; Hermann May : Die Grafschaft an der mittleren Lahn (Gießen-Wetzlar) und die Erben ihrer aussterbenden Grafen von Luxemburg-Gleiberg im 12. Jahrhundert. In: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 25 (1975) S. 1–63, S. 4f.; Markus Twellenkamp: Das Haus der Luxemburger. In: Die Salier und das Reich, Bd. 1: Salier, Adel und Reichsverfassung. Hg. von Stefan Weinfurter. 1991. S. 493–495. 10 Nach Renn: Luxemburger (wie Anm. 9) S. 137, wurde Welfs und Imizas Tochter Kuniza nicht nur nach der Kaiserin benannt, sondern diese war auch ihre Patin.

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chen Landbesitz, den die Welfen Imiza verdankten. Sie habe ihrem Gemahl Welf II. und dem gesamten Welfengeschlecht das königliche Dorf Mering und den überaus vornehmen Hof Elisina in der Lombardei eingebracht11. Auf die Luxemburger gehen weder Mering bei Augsburg noch Elisina in der östlichen Emilia Romagna zurück12. Zumindest für Mering bezeugt die Historia Welforum die Herkunft aus Königsgut13. Daher vermutet die Forschung, daß die Übertragung der beiden Güter an Imiza auf die Kaiserin Kunigunde bzw. auf deren Gemahl Heinrich II. zurückgeht14. Mering und Elisina sicherten die Brennerroute, die wichtigste Verbindung zwischen Deutschland und Italien. Da Welf II. wohl von Heinrich II. auch noch Grafschaftsrechte in Südtirol erhalten hatte15, fügen sich die Zeugnisse zu einem klaren Bild. Die Ehe wurde in beiderseitigem Interesse geschlossen und brachte sowohl dem Kaiser als auch Welf II. Vorteile. Die Eheschließung wird von der Forschung üblicherweise auf ca. 1010–1015 datiert. Doch sprechen gute Gründe für einen späteren Termin, da Kaiser Heinrich II. sich erst 1017 mit seinem Schwager Heinrich V. von Bayern, dem Onkel Imizas, aussöhnte16. Man kann die Heirat zeitlich noch enger eingrenzen, falls Mering zur Mitgift Imizas gehört hatte17. Im November 1021 hielt sich Heinrich II. auf dem Marsch zu seinem dritten Italienaufenthalt dort auf und 11 Genealogia Welforum. Ed. König (wie Anm. 8) c. 7, S. 78: Per eam [Imizam] habemus villam Moringen et Elisinam curtem in Longobardia MC mansuum sub uno vallo; Historia Welforum (wie Anm. 1) c. 8, S. 14: Per quam habemus regalem villam Moringen et in Longobardia Elisinam curtem nobilissimam, cuius sunt undecim milia mansuum uno vallo comprehensi. 12 Anders Eduard Hlawitschka: Der Thronwechsel des Jahres 1002 und die Konradiner. Eine Auseinandersetzung mit zwei Arbeiten von Armin Wolf und Donald C. Jackman. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abteilung 110 (1993) S. 149–248, S. 197ff., der Elisina für luxemburgischen Besitz hält, dafür aber für Imizas Vater Friedrich vom Moselgau eine zweite Ehe mit einer oberitalienischen Adligen postulieren muß. 13 Historia Welforum (wie Anm. 1) c. 8, S. 14; diese Information enthält die ältere Genealogia Welforum. Ed. König (wie Anm. 8) c. 7, S. 78, noch nicht. 14 Vgl. etwa Wilhelm Störmer : Die Welfen in der Reichspolitik des 11. Jahrhunderts. In: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 104 (1996) S. 252–265, S. 257f. 15 Vgl. Störmer : Welfen (wie Anm. 14) S. 256; Ders.: Die süddeutschen Welfen unter besonderer Berücksichtigung ihrer Herrschaftspolitik im bayerisch-schwäbischen Grenzraum. In: Die Welfen. Landesgeschichtliche Aspekte ihrer Herrschaft. Hg. von Karl-Ludwig Ay – Lorenz Maier – Joachim Jahn (Forum Suevicum 2). 1998. S. 57–96, S. 73. 16 Störmer : Welfen (wie Anm. 14) S. 257; Stefan Weinfurter : Heinrich II. (1002–1024). Herrscher am Ende der Zeiten. 1999. S. 107; Marco Innocenti: Art. ›Imiza von Luxemburg‹. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 19. 2001. Sp. 756–764. 17 Burchard von Ursberg: Chronicon. Ed. Oswald Holder-Egger – Bernhard von Simson (MGH SS rer. Germ. [16]). 1868. S. 10, interpretierte die Bemerkungen seiner eng mit Genealogia Welforum und Historia Welforum verwandten Vorlage in diesem Sinne, denn er bezeichnet Elisina als dos, die Welf II. von seiner Gemahlin erhalten habe; der Chronist erwähnt Mering zwar nicht, aber Elisina und Mering werden in den beiden genannten welfischen Texten derart eng miteinander verknüpft, daß ein Analogieschluß erlaubt scheint.

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stellte dem Kloster Weihenstephan eine Urkunde aus. Mering gehörte damals also noch zum Reichsgut und war noch nicht an Imiza bzw. ihren Gemahl übertragen worden18. Die beiden müssen also 1021 oder kurz darauf geheiratet haben, da der Kaiser 1024 verstarb und sein Nachfolger Konrad II. keine Veranlassung mehr hatte, die Heirat Welfs und Imizas zu fördern. Was wir über das Alter ihres einzigen Sohnes, Welf III., wissen, widerspricht dem nicht: Nach der Historia Welforum verstarb der Herzog 1055 sub iuvenili aetate19. Die Altersstufe der iuventus reichte laut Isidor von Sevilla, dem frühmittelalterlichen Universalgelehrten schlechthin, vom 28. bis zum 49. oder 50. Lebensjahr, während Honorius Augustodunensis dieses Lebensalter um 1130 vom 22. bis zum 50. Jahr reichen ließ20. Demnach könnte Welf zwischen 1006/7 und 1028 bzw. zwischen 1005 und 1024 geboren sein. Diese langen Zeitspannen helfen nicht weiter, aber immerhin konnte Adolf Hofmeister zeigen, daß iuventus und verwandte Begriffe nicht selten auf jüngere Männer angewandt wurden21. Zudem starb Welf III. unverheiratet, so daß er durchaus in den beginnenden 1020er Jahren geboren sein kann. Die mutmaßlich enge Verbindung der Welfen zu Heinrich II. wurde nach dessen Tod 1024 nutzlos, und sie verloren ihre bisherige Königsnähe. Schon bald geriet Welf II. in Gegensatz zum neuen Herrscher, dem Salier Konrad II., und suchte Anschluß an oppositionelle Kreise. Er schloß sich eng an Herzog Ernst von Schwaben an, den aufständischen Stiefsohn des neuen Kaisers. Daher verlor Welf 1027 seine Grafschaftsrechte in Südtirol, die an den Bischof von Trient fielen22. Welfs Tod im Jahr 1030 stürzte die Welfen in eine noch größere Krise, da sein gleichnamiger Sohn und Erbe noch minderjährig war. Der Witwe Imiza fiel 18 D H II. Ed. Harry Bresslau – Hermann Bloch. In: MGH DD regum et imperatorum Germaniae III. 21957. Nr. 459 (14. Nov. 1021), S. 581f.; zur Deutung in unserem Sinne und zur Echtheit dieser Urkunde vgl. Katrin Baaken: ›Elisina curtis nobilissima‹. Welfischer Besitz in der Markgrafschaft Verona und die Datierung der Historia Welforum. In: Deutsches Archiv 55 (1999) S. 63–94, S. 67 mit Anm. 22; Störmer : Herrschaftspolitik (wie Anm. 15) S. 74f., datiert die Übertragung Merings sogar auf 1025. 19 Historia Welforum (wie Anm. 1) c. 12 S. 18. 20 Isidor von Sevilla: Differentiarum sive de proprietate sermonum libri duo. Ed. Jacques-Paul Migne. In: Patrologiae cursus completus, Series latina 83. 1862. II, 19, 75, Sp. 81; Isidor von Sevilla: Etymologiarum sive originum libri viginti. Ed. Wallace M. Lindsay. Bd. 2. 1911, XI, 2, 5; Honorius Augustodunensis: De imagine mundi libri tres. Ed. Migne. In: Patrologiae cursus completus, Series latina 172. 1895. II, 75, Sp. 156; vgl. Adolf Hofmeister : Puer, iuvenis, senex. In: Papsttum und Kaisertum. Forschungen zur politischen Geschichte und Geisteskultur des Mittelalters. Paul Kehr zum 65. Geburtstag dargebracht. Hg. von Albert Brackmann. 1926. S. 287–316, S. 289f., 293f. 21 Hofmeister: Puer (wie Anm. 20) S. 305 mit Anm. 2, 316. 22 Vgl. Hansmartin Schwarzmaier : Die Welfen und der schwäbische Adel im 11. und 12. Jahrhundert in ihren Beziehungen zum Vinschgau. In: Der Vinschgau und seine Nachbarräume. Hg. von Rainer Loose. 1993. S. 83–98, S. 86f.; Störmer : Welfen (wie Anm. 14) S. 256; Ders.: Herrschaftspolitik (wie Anm. 15) S. 72f.

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daher allem Anschein nach die Aufgabe zu, die Zukunft ihrer Familie zu sichern. Sie allein tritt uns daher nun als Handelnde entgegen, so in der Nachricht Hermanns von Reichenau über eine Reorganisation des Klosters Altdorf im Jahr 1036, als Nonnen (vielleicht auch Kanonissen) an die Stelle von Weltgeistlichen traten23. Etwa zu dieser Zeit soll Imiza auch die entscheidenden Weichen für die Zukunft der Familie gestellt haben, indem sie ihre nach der Kaiserin Kunigunde benannte Tochter Kuniza mit dem oberitalienischen Markgrafen Azzo verband. Die Forschung datiert diese Heirat seit Harry Bresslau auf ca. 1035, der dafür folgende Überlegungen anführte: Da Welf IV. 1055/56 bei der Übernahme des Welfenerbes handlungsfähig gewesen sei, wie die Historia Welforum bezeuge, müsse er damals ca. 20 Jahre alt gewesen sein; dies führe auf ca. 1035 als sein Geburtsjahr. Ungefähr zu dieser Zeit seien drei weitere Heiratsverbindungen zwischen deutschen und italienischen Adelsgeschlechtern geschlossen worden, so daß die welfisch-otbertinische Heirat hervorragend dazu passe24. Betrachtet man die anderen Ehen jedoch etwas näher, so tun sich Zweifel an Bresslaus Argumentation auf, denn sie betrafen sämtlich das unmittelbare Umfeld des Herrschers: Des Kaisers Stiefsohn Hermann von Schwaben heiratete Adelheid, die Erbin von Turin, deren Schwester Irmgard wurde mit Otto von Schweinfurt, wie Hermann ein Babenberger, vermählt, und Beatrix, die Nichte und Adoptivtochter der Kaiserin Gisela, ehelichte Bonifaz von Tuszien25. Diese Ehen sicherten also den Einfluß des Kaisers in Italien. Daß Konrad II. ausgerechnet die Welfen, die in der Person Welfs II. zu seinen entschiedensten Gegnern gehört hatten, in diese Politik einbezogen haben soll, leuchtet nicht recht ein. Die Frage, warum Konrad seinen einstigen Feinden eine Möglichkeit eröffnet haben soll, wieder an Macht und Einfluß zu gewinnen, bleibt bei Bresslau und anderen unbeantwortet. Auch Bresslaus erstes Argument, Welf IV. sei 1055/56 bereits rund 20 Jahre alt gewesen, weil er von der Historia Welforum als handlungsfähig gezeichnet wurde, kann nicht recht überzeugen. Schließlich wurde die Chronik erst mehr als 100 Jahre nach dem Ereignis aufgezeichnet, so daß ihre Aussagen als einzige Stütze nicht ausreichen. Andere Quellen, die wohl direkter auf die Erbausein23 Hermann von Reichenau: Chronicon. Ed. Georg Heinrich Pertz. In: MGH SS V. 1844. a. 1036, S. 122. 24 So etwa Harry Bresslau: Jahrbücher des Deutschen Reichs unter Konrad II., Bd. 1. 1879. S. 421f.; Fritz Curschmann: Zwei Ahnentafeln. Ahnentafeln Kaiser Friedrichs I. und Heinrichs des Löwen zu 64 Ahnen (Mitteilungen der Zentralstelle für Deutsche Personenund Familiengeschichte 27). 1921. S. 32f.; Renn: Luxemburger Grafenhaus (wie Anm. 9) S. 138; Eckhard Müller-Mertens – Wolfgang Huschner : Reichsintegration im Spiegel der Herrschaftspraxis Kaiser Konrads II. (Forschungen zur Mittelalterlichen Geschichte 35). 1992. S. 261 mit Anm. 225; Herwig Wolfram: Konrad II. Kaiser dreier Reiche. 2000. S. 145. 25 Vgl. Wolfram: Konrad II. (wie Anm. 24) S. 146.

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andersetzung zurückgehen, sprechen jedenfalls Imiza als die entscheidende Handlungsträgerin an26. Sie war gar nicht auf einen männlichen Verwandten angewiesen, als sie das Testament ihres Sohnes anfocht. So hat der Autor der Historia Welforum in der Rückschau die Rolle Welfs IV. wohl etwas überzeichnet, als er ihn gegen die letztwillige Verfügung seines Onkels vorgehen ließ. Damit entfällt auch das zweite Argument Bresslaus für eine Heirat Kunizas und Azzos um 1035. Schließlich könnte man zugunsten dieser Datierung noch auf das Lebensalter Azzos verweisen. Dieses wird mittelbar bezeugt von dem Chronisten Bernold, der angibt, der Markgraf sei 1097 im Alter von mehr als 100 Jahren verstorben27. Demnach wäre Azzo 1035 bereits fast 40 Jahre alt gewesen. Da – nach allem was wir wissen – Kuniza seine erste Gemahlin war28, hätte er also erst in recht fortgeschrittenem Alter geheiratet. Eine noch spätere Eheschließung wäre demnach äußerst unwahrscheinlich. Vor allem aber ist die Angabe Bernolds kein belastbares Fundament. Hofmeister mißtraute ihr, zumal Bernold selbst seine Angabe mit einem ut aiunt einschränkte29. Ein Blick auf Azzos Biographie zeigt, wie unwahrscheinlich auch sein weiterer Lebensweg klingt, legt man Bernolds Angabe zugrunde; so wäre Azzo mit fast 60 Jahren erneut in den Stand der Ehe getreten und hätte schließlich mit nahezu 80 Jahren abermals das Ja-Wort gegeben. Diese letzte Ehe mit der Schwester Bischof Wilhelms von Pavia wurde von Gregor VII. Ende des Jahres 1074 wegen zu naher Verwandtschaft heftig attackiert30, aber das hohe Alter Azzos spielte in den Ermahnungen des Papstes keine Rolle31. Daher sollte man einem sowohl zeitlich als auch räumlich fernstehenden Chronisten, der seiner Angabe sogar selbst nicht recht getraut hat, keinen uneingeschränkten Glauben schenken32. 26 Vgl. unten, nach Anm. 82. 27 Bernold: Annales. Ed. Ian S. Robinson. In: Die Chroniken Bertholds von Reichenau und Bernolds von St. Blasien (MGH SS rer. Germ. N.S. 14). 2003. a. 1097, S. 531. 28 Margherita Giuliana Bertolini: Art. ›Albert Azzo‹. In: Dizionario Biografico degli Italiani, Bd. 1. 1960. S. 753–758, S. 754; Theo Kölzer, Art. ›Albert Azzo‹. In: Lexikon des Mittelalters, Bd. 1. 1980. Sp. 283f. 29 Vgl. Hofmeister : Puer (wie Anm. 20) S. 293 Anm. 1. 30 Regesta pontificum Romanorum. Ed. Philipp Jaffé, 2. Aufl. ed. Wilhelm Wattenbach u. a., Bd. 1. 1885. Nr. 4834, S. 604, Nr. 4882, S. 607, Nrr. 4908f., S. 610; Italia Pontificia. Bearb. von Paul Fridolin Kehr, Bd. 7, 1. 1923. Nrr. 3f., S. 204; Das Register Gregors VII. Ed. Erich Caspar. Bd. 1 (MGH Epp. sel. II, 1). 1920. I, 57, S. 84f.; II, 9. S. 139f.; II, 35f., S. 171f.; zu Azzos dritter Gemahlin vgl. auch Gerhard Schwartz: Die Besetzung der Bistümer Reichsitaliens unter den sächsischen und salischen Kaisern mit den Listen der Bischöfe 951–1122. 1913. S. 144. 31 Nicht einmal beim Verbot des Beischlafs ohne Erlaubnis des Papstes, Register Gregors VII. (wie Anm. 30) II, 36, S. 172. 32 Man könnte einwenden, jener Azzo passe doch bestens in die Genealogie der Otbertiner zu Beginn des 11. Jahrhunderts; freilich ruht die Rekonstruktion dieser Familie auf keinem sicheren Grund, da in den einschlägigen Urkunden immer wieder diverse Adalberts, Alberts

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Es ergab sich bisher also kein zwingender Grund, die Heirat Azzos und Kunizas in die Mitte der 1030er Jahre zu datieren. Dagegen weist eine Angabe der Historia Welforum in eine ganz andere Richtung. Folgt man dieser Quelle, so ist Welf IV. 1101 zum Kreuzzug aufgebrochen, als er endlich das Greisenalter, senectus, erreicht hatte33. Nach mittelalterlichen Vorstellungen begann die senectus mit 50 oder aber mit 70 Jahren, jedenfalls lassen sich beide Angaben in den Werken Isidors von Sevilla finden, während Honorius Augustodunensis allein von 50 Jahren schrieb34. Auch eine Handschrift des 11. Jahrhunderts aus Chiemsee verzeichnet diese Altersgrenze35. Dies würde bedeuten, daß Welf 1101, so er, wie es Kontext und Wortlaut der Historia Welforum nahelegen, kürzlich diese Altersgrenze überschritten hätte, zwischen 1040 und 1050 – eher später als früher – geboren wäre. Damit könnte auch die Eheschließung seiner Eltern entsprechend datiert werden, in die Zeit Heinrichs III. Diese Verbindung ließe sich bestens in die Politik des zweiten Saliers einfügen, der in vielem eine andere Politik betrieb als sein Vater Konrad II. und nach dessen Auseinandersetzungen mit Erzbischof Aribert von Mailand sehr an einem deutsch-italienischen Austausch interessiert war36. Zudem stand er den

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und Azzos genannt werden, weshalb die Forschung diverse Familienzweige postuliert; vgl. Bresslau: Jahrbücher, Bd. 1 (wie Anm. 24) S. 417ff.; Fernando Gabotto: I marchesi Obertenghi fino alla pace di Luni (945–1124). In: Giornale storico della Lunigiana 9 (1918) S. 3–47, ND in: Biblioteca della societ/ storica subalpina 96 (1922) S. 149–190; Cinzio Violante: Alcune caratteristiche delle strutture familiari in Lombardia, Emilia e Toscana durante i secoli XI–XII. In: Ders.: Famiglia e parentela nell’Italia medievale. 1981. S. 19–82, insbes. die Tafeln 5 und 6; Mario Nobili: Formarsi e definirsi dei nomi di famiglia nelle stirpi marchionali dell’Italia centro-settentrionale: il caso degli Obertenghi. In: Nobilt/ e chiese nel Medioevo e altri saggi. Scritti in onore di Gerd Tellenbach. Hg. von Cinzio Violante (Pubblicazioni del Dipartimento di Medievistica dell’Universit/ di Pisa 3). 1993. S. 77–95. Diese Rekonstruktion erscheint bisweilen sehr gewagt und gewollt, zumal dabei gerade Bernolds Altersangabe für Azzo immer wieder eine tragende Rolle spielt, so etwa Eduard Hlawitschka: Zur Otbertinergenealogie am Ausgang des 10. Jahrhunderts: Markgraf Adalbert und seine Frau Bertrada. In: Societ/, istituzioni, spiritualit/. Studi in onore di Cinzio Violante (Collectanea, Centro italiano di studi sull’alto medioevo 1). 1994. S. 459–475, S. 464. Da wir wissen, daß nicht nur Azzo, sondern auch sein Vater diesen Namen trug, wäre eine Verwechslung wohl die einfachste Erklärung. Dazu würde auch passen, daß unser Azzo erst seit den 1040er Jahren in den oberitalienischen Quellen begegnet. Er könnte also durchaus 1020 oder kurz vorher geboren sein, so daß er in den Augen der Zeitgenossen immer noch ein biblisches Alter erreicht hätte, was wiederum Bernolds Angabe zwanglos erklären würde, vgl. auch schon Hofmeister : Puer (wie Anm. 20) S. 293 Anm. 1. Historia Welforum (wie Anm. 1) c. 13, S. 20: Denique cum ad senilem aetatem pervenisset … Isidor von Sevilla: Diff. (wie Anm. 20) II, 19, 75, Sp. 81; Ders.: Etym. (wie Anm. 20) XI, 2, 6f.; Honorius Augustodunensis: De imagine (wie Anm. 20) II, 75, Sp. 156; vgl. Hofmeister : Puer (wie Anm. 20) S. 289f., 294. Hofmeister : Puer (wie Anm. 20) S. 295f. Anm. 2. Vgl. Wolfgang Huschner : Bischöfe und Kleriker südalpiner Provenienz in Schwaben und im nordalpinen Reich während des 11. Jahrhunderts. In: Schwaben und Italien im Hochmit-

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Welfen viel positiver gegenüber als sein Vorgänger. Seine Bereitschaft, Welf III. 1045 das reiche Erbe der Grafen von Ebersberg zu übergeben, und die Verleihung des Herzogtums Kärnten 1047 geben davon jedenfalls ein sicheres Zeugnis37. Kärnten war seit 1039 nicht besetzt gewesen, hatte also dem Herrscher selbst direkt unterstanden38. Das Land selbst war kein Gewinn, da die landfremden Herzöge sich nur schwer gegen den einheimischen Adel durchsetzen konnten39, aber entscheidend war die damit verbundene Rangerhöhung, mit der Welf in den ersten Kreis der Fürsten des Reiches aufstieg. Dazu kamen die mit Kärnten verbundenen Nebenländer, insbesondere die Markgrafschaft Verona, ein interessantes und gewinnbringendes Betätigungsfeld. In diese Zeit würde – um den Faden der genealogischen Überlegungen wieder aufzunehmen – eine Heiratsverbindung mit einem oberitalienischen Adelsgeschlecht wie den Otbertinern hervorragend passen. Von ihnen läßt sich möglicherweise auch ein Bogen zu Heinrich III. schlagen. Nach Wolfgang Huschner suchte der Kaiser eine Verklammerung von nord- und südalpinem Reich zu erreichen, indem er in Deutschland einige Bischöfe italienischer Herkunft einsetzte. Einer dieser italienischen Geistlichen im Umkreis des Kaisers war Opizo – Huschner zufolge möglicherweise ein Otbertiner. Er amtierte seit 1046 als Hofkapellan und war bald ein enger Vertrauter des Kaisers. 1050 stieg er sogar zum italienischen Kanzler auf40. Der Gedanke liegt nahe, daß Heinrich III. auch andere Otbertiner enger an sich binden wollte, indem er eine Ehe zwischen einem weiteren Familienmitglied und den ihm seit spätestens 1045 verpflichteten Welfen anbahnte. Der Aufstieg Welfs III. zum Herzog von Kärnten und Markgrafen von Verona 1047 hing daher vermutlich eng mit der Ehe seiner Schwester Kuniza mit dem Otbertiner Azzo zusammen, der u. a. im nordöstlichen Italien reich begütert war. Die Heirat selbst dürfte daher kurz vor- oder nachher stattgefunden haben. Welf III. gehörte in den folgenden Jahren zu den engeren Helfern des Kaisers. So erhielt er 1051 während eines Ungarnfeldzuges zusammen mit Bischof Gebhard von Regensburg und Herzog Brˇetislav I. von Böhmen den Auftrag, das Gebiet nördlich der Donau zu verheeren41. Spätestens dieser Feldzug brachte Welf in Kontakt mit Gebhard, dem Onkel des Kaisers und allem Anschein nach

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telalter. Hg. von Helmut Maurer – Hansmartin Schwarzmaier – Thomas Zotz (Vorträge und Forschungen 52). 2001. S. 109–149, S. 111ff., 114f. Zum Ebersberger Erbfall vgl. unten, nach Anm. 69. Die Quellen geben keine Auskunft, ob Heinrich III. nach dem Tod Konrads des Jüngeren formal zum Herzog bestellt worden ist, vgl. Ernst Steindorff: Jahrbücher des deutschen Reiches unter Heinrich III., Bd. 1. 1874. S. 59, 81; Die Kärntner Geschichtsquellen. 811–1202. Ed. August von Jaksch (Monumenta Historica Ducatus Carinthiae 3). 1904. Nr. 255, S. 108. Dopsch: Welf III. (wie Anm. 7) S. 109f. Vgl. Huschner : Bischöfe (wie Anm. 36) S. 133ff. Hermann von Reichenau: Chronicon (wie Anm. 23) a. 1051, S. 130.

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einflußreichsten Ratgeber in den bayerisch-ungarischen Angelegenheiten42. Der Ungarnkrieg, den der Kaiser wider alle Vernunft mit aller Macht militärisch für sich entscheiden wollte, ist nur ein Aspekt der Krise, in die Heinrich III. damals geraten war43. Nach der Rückkehr von einem neuerlichen Feldzug 1052 gegen den östlichen Nachbarn kam es zu einer discordia zwischen Gebhard und Herzog Konrad von Bayern wegen dessen gewalttätiger Amtsführung44. Aber auch ein grundsätzlicher Dissens über die Ungarnpolitik spielte dabei vermutlich eine wichtige Rolle: Während Konrad auf einen Ausgleich mit dem Nachbarn im Osten bedacht war, kann Gebhard als Haupt der ungarnfeindlichen Partei am Kaiserhof gelten45. Folgerichtig stellte sich der Kaiser gegen den bayerischen Herzog. Auf einem Hoftag in Merseburg im April 1053 ließ er Konrad von einem Fürstengericht das Herzogtum Bayern absprechen46. Der Zeitgenosse Hermann von Reichenau 42 Zu ihm vgl. Paul Kehr : Vier Kapitel aus der Geschichte Kaiser Heinrichs III. (Abhandlungen der preußischen Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse, Bd. 3). 1931. S. 27; Stefan Weinfurter: Die Geschichte der Eichstätter Bischöfe des Anonymus Haserensis. Edition – Übersetzung – Kommentar (Eichstätter Studien 24). 1987. S. 182f. (Kommentar Nr. 177); Egon Boshof: Bischöfe und Bischofskirchen von Passau und Regensburg. In: Die Salier und das Reich, Bd. 2: Die Reichskirche in der Salierzeit. Hg. von Stefan Weinfurter. 1991. S. 113–154, S. 122ff. 43 Vgl. Egon Boshof: Das Reich in der Krise. Überlegungen zum Regierungsausgang Heinrichs III. In: Historische Zeitschrift 228 (1979) S. 265–287; Friedrich Prinz: Kaiser Heinrich III. Seine widersprüchliche Beurteilung und deren Gründe. In: Historische Zeitschrift 246 (1988) S. 529–548; Johannes Laudage: Heinrich III. (1017–1056). Ein Lebensbild. In: Das salische Kaiser-Evangeliar. Der Kommentar, Bd. 1. Hg. von Johannes Rathofer. 1999. S. 87–195, S. 115ff.; Stefan Weinfurter : Das Jahrhundert der Salier (1024–1125). 2004. S. 106ff. 44 Hermann von Reichenau: Chronicon (wie Anm. 23) a. 1052, S. 131; Annales Altahenses. Ed. Edmund von Oefele (MGH SS rer. Germ. [4]). 1891. a. 1053, S. 48 (ohne Angabe eines Grundes); Steindorff: Jahrbücher, Bd. 2 (wie Anm. 2). S. 218f.; zu Konrad, einem Angehörigen der Familie der sogenannten Ezzonen, als Herzog von Bayern vgl. Wilhelm Störmer : Bayern und der bayerische Herzog im 11. Jahrhundert. Fragen der Herzogsgewalt und der königlichen Interessenpolitik. In: Die Salier und das Reich, Bd. 1 (wie Anm. 9) S. 503–547, S. 531ff. 45 Boshof: Krise (wie Anm. 43) S. 281; Ders.: Das Reich und Ungarn in der Zeit der Salier. In: Ostbairische Grenzmarken 28 (1986) S. 178–194, S. 185; Ders.: Das Herzogtum Bayern in der Salierzeit. In: Ostbairische Grenzmarken 37 (1995) S. 9–23, S. 17; Störmer : Bayern (wie Anm. 44) S. 532f.; weiterführende genealogische Überlegungen bei Helmuth Kluger: Propter claritatem generis. Genealogisches zur Familie der Ezzonen. In: Köln. Stadt und Bistum in Kirche und Reich des Mittelalters. FS für Odilo Engels zum 65. Geburtstag. Hg. von Hanna Vollrath – Stefan Weinfurter (Kölner Historische Abhandlungen 39). 1993. S. 223–258, S. 248ff. 46 Hermann von Reichenau: Chronicon (wie Anm. 23) a. 1053, S. 132; Annales Altahenses (wie Anm. 44) a. 1053, S. 48; Steindorff: Jahrbücher, Bd. 2 (wie Anm. 2). S. 223f.; zu diesem Fürstengericht vgl. Monika Suchan: Fürstliche Opposition gegen das Königtum im 11. und 12. Jahrhundert als Gestalterin mittelalterlicher Staatlichkeit. In: Frühmittelalterliche Studien 37 (2003) S. 141–165, S. 149f.; nach Kurt Reindel: Bayern vom Zeitalter der Karolinger

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schließt die folgende Bemerkung an seinen Bericht über dieses Geschehen an: »Zu dieser Zeit murrten sowohl die Großen des Reichs als auch die Geringeren immer häufiger gegen den Kaiser und klagten, er falle schon längst von seiner anfänglichen Haltung der Gerechtigkeit, des Friedens, der Milde und der Gottesfurcht … allmählich mehr und mehr ab zu Gewinnsucht und einer gewissen Sorglosigkeit und werde bald viel schlechter sein als am Anfang.«47 Damit macht der Chronist deutlich, daß gerade das Vorgehen des Kaisers gegen den Herzog von Bayern die Großen des Reiches irritierte. Mehr noch: Bei Hermann »erscheint Konrad als Exponent einer allgemeineren Unzufriedenheit mit dem Kaiser«48, während die Altaicher Annalen das rechtmäßige Vorgehen des Kaisers betonen49. Folgerichtig erwähnt allein Hermann den berühmten Vorbehalt, den die Fürsten im Herbst des gleichen Jahres anläßlich der Wahl des Kaisersohnes Heinrich IV. in Tribur machten: Sie wollten dem jungen König nur dienen, wenn er sich als gerechter Herrscher erweise50. Erneut stellt der Reichenauer Mönch einen Zusammenhang mit Herzog Konrad her, der in Tribur nicht erschienen sei, sondern mit den Ungarn Verbindung aufgenommen habe und in Kärnten eingefallen sei51. Aber Hermann stand mit seiner Einschätzung wohl nicht allein. Auch den in Tribur versammelten Fürsten dürfte die Auseinandersetzung des Kaisers mit Konrad bewußt gewesen sein, und es ist wahrscheinlich, daß sie dem Kaiser den genannten Vorbehalt bei der Königswahl abnötigten, weil sie sein

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bis zum Ende der Welfenherrschaft. Teil 1: Die Politische Entwicklung. In: Handbuch der bayerischen Geschichte, Bd. 1: Das alte Bayern. Das Stammesherzogtum bis zum Ausgang des 12. Jahrhunderts. Hg. von Max Spindler. 2., überarb. Aufl. 1981. S. 318, war der »wahre Grund« für Konrads Absetzung der Wunsch Heinrichs III., das Herzogtum seinem Sohn übertragen zu können; dagegen vermutet Ursula Lewald: Die Ezzonen. Das Schicksal eines rheinischen Fürstengeschlechts. In: Rheinische Vierteljahrsblätter 43 (1979) S. 120–168, S. 140f., Konrad habe aus Enttäuschung darüber rebelliert, daß er nach der Geburt des ältesten Kaisersohnes Heinrich die Hoffnung auf eine mögliche Nachfolge im Reich verloren habe, vgl. auch Kluger : Propter (wie Anm. 45) S. 247f.; Jonathan Rotondo-McCord: Body Snatching and Episcopal Power : Archbishop Anno II of Cologne (1056–1075), Burials in St. Mary’s ad gradus, and the Minority of Henry IV. In: Journal of Medieval History 22 (1996) S. 297–312, S. 309 Anm. 42; dagegen betont Störmer : Bayern (wie Anm. 44) S. 531, Konrad habe in Absprache mit dem Kaiser Judith, die Tochter Herzog Ottos von Schwaben, geheiratet. Hermann von Reichenau: Chronicon (wie Anm. 23) a. 1053, S. 132; vgl. etwa Boshof: Krise (wie Anm. 43) S. 266f.; Prinz, Heinrich III. (wie Anm. 43) S. 539f. Ulrich Hoffmann: König, Adel und Reich im Urteil fränkischer und deutscher Historiker des 9. bis 11. Jahrhunderts. Diss. 1968. S. 98 Anm. 5. Annales Altahenses (wie Anm. 44) a. 1053, S. 48; zur Quelle allgemein vgl. Wilhelm Wattenbach – Robert Holtzmann : Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Die Zeit der Sachsen und Salier. Teil 2: Das Zeitalter des Investiturstreits (1050–1125). Neuausgabe besorgt von Franz-Josef Schmale. 1967. S. 545ff. Hermann von Reichenau: Chronicon (wie Anm. 23) a. 1053, S. 133. Hermann von Reichenau: Chronicon (wie Anm. 23) a. 1053, S. 133.

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Verhalten wenigstens teilweise mißbilligten. Das Vorgehen gegen Konrad hatte also die Herrschaft des Saliers ein Stück weit destabilisiert. Vor diesem Hintergrund war ein Ausgleich mit Andreas I. von Ungarn dringend geboten, bei dem Konrad Zuflucht gesucht hatte. In Tribur setzte sich vor allem Gebhard von Regensburg für Friedensverhandlungen mit einer ungarischen Gesandtschaft ein52. Die Verhandlungen verliefen erfolgreich, aber Konrad gelang es, König Andreas umzustimmen, mit dessen Hilfe er in Kärnten einfiel53. Diesen Fehlschlag hat Heinrich III. seinem Onkel verübelt, weshalb er vermutlich nicht diesen, sondern dessen Neffen und Proteg8 Bischof Gebhard von Eichstätt zum ›Vormund‹ für den Königssohn und damit zum faktischen Verwalter Bayerns bestimmte54. Wohl aus Enttäuschung darüber schloß sich der Regensburger Oberhirte den Aufständischen um Konrad an, die nun wohl nicht nur einen Ausgleich mit Ungarn erreichen, sondern den Kaiser auch ermorden und Konrad an dessen Stelle setzen wollten55. Gebhard von Regensburg dürfte Welf III. zur Teilnahme an diesem Komplott animiert haben56. Heinz Dopsch hat einige Indizien dafür gesammelt, daß Welf auch schon vorher zumindest Sympathien für Konrad gehegt hatte: So agierte der abgesetzte Bayernherzog 1053 vor allem in Kärnten, also in Welfs Herrschaftsgebiet, was auf ein (heimliches) Einverständnis zwischen den beiden schließen lasse57. Der Herzog von Kärnten galt den Weißenburger Annalen sogar als Haupt der Verschwörer58. Der Grund für Welfs Haltung ist nur schwer zu erschließen. Möglicherweise hat das Schicksal Konrads ihm bewußt gemacht, wie schnell ein Herzog seine Position verlieren konnte. Zudem hatten sie beide jeweils ein Herzogtum übernommen, das der Kaiser zuvor selbst verwaltet hatte. Daher war Welf vielleicht darüber beunruhigt, daß Bayern 1053 zunächst an Heinrich, den älteren Sohn des Kaisers, im folgenden Jahr an dessen jüngeren Sohn Konrad und nach dessen Tod im April 1055 an die Kaiserin Agnes fiel. Der Kaiser schien also entschlossen, Bayern erneut fest an die salische Dynastie zu binden. Dies mag Welf zu Befürchtungen Anlaß gegeben haben, der Kaiser könnte früher oder später auch Kärnten wieder an sich ziehen. Aus den welfischen Quellen erfahren wir nichts von alledem: Die Historia 52 Hermann von Reichenau: Chronicon (wie Anm. 23) a. 1053, S. 133; vgl. Steindorff: Jahrbücher, Bd. 2 (wie Anm. 2) S. 228f. 53 Hermann von Reichenau: Chronicon (wie Anm. 23) a. 1053, S. 133. 54 Anonymus Haserensis (wie Anm. 42) c. 35, S. 63; Steindorff: Jahrbücher, Bd. 2 (wie Anm. 2) S. 232; zum Einfluß Gebhards von Regensburg auf die Ernennung Gebhards von Eichstätt Anonymus Haserensis. c. 34, S. 61f.; vgl. ebd. S. 177ff. (Kommentar Nr. 175). 55 Boshof: Krise (wie Anm. 43) S. 283; Ders.: Die Salier. 4., aktualisierte Auflage 2000. S. 147. 56 Vgl. Dopsch: Welf III. (wie Anm. 7) S. 125. 57 Dopsch: Welf III. (wie Anm. 7) S. 120f. 58 Annales Weissenburgenses. Ed. Oswald Holder-Egger (MGH SS rer. Germ. [38]). 1894. a. 1055. S. 51.

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Welforum betont zwar mit schönen Anekdoten die Unabhängigkeit des Herzogs vom Kaiser, aber über seine Untreue schweigt sie sich konsequent aus59. So sind wir auf Quellen angewiesen, die der Mitte des 11. Jahrhunderts näher, doch den Welfen etwas ferner stehen. Die Annalen des ungefähr auf halbem Wege zwischen Regensburg und Passau gelegenen Klosters Niederaltaich berichten zum Jahr 1055, während des Italienzuges hätten einige Fürsten, die dem Kaiser scheinbar besonders nahe standen, nämlich sein Onkel Bischof Gebhard von Regensburg, Herzog Welf von Kärnten und einige andere, Verbindung mit, wie es heißt, ›Staatsfeinden‹ aufgenommen, um Heinrich zu töten und den abgesetzten Herzog Konrad von Bayern zum König zu erheben60. Sowohl Berthold von Reichenau in der ersten Fassung seiner Chronik als auch die noch nicht edierten St. Galler Annalen bestätigen die enge Verbindung zwischen Gebhard und Welf, lassen Konrad von Bayern aber unerwähnt. Die St. Galler Quelle wirft den beiden vor, sie hätten dringende Angelegenheiten vorgetäuscht, um die kaiserliche Genehmigung zur Heimkehr zu erlangen61. Berthold sucht dagegen nach einer Entschuldigung für die beiden und schiebt die Verantwortung für den Aufruhr nachgeordneten Personen zu: Die milites Gebhards und Welfs hätten sich ohne Wissen ihrer Herren gegen den Kaiser verschworen62. Beide Quellen erhellen außerdem die Chronologie: Erst nach der Gefangennahme der Markgräfin Beatrix von Tuszien Anfang Juni in Florenz hätten Gebhard und Welf vom Kaiser die Erlaubnis für eine Rückkehr in die Heimat erbeten. Demnach kann ein Zusammenhang ihrer Revolte mit der Auseinandersetzung des Kaisers mit Gottfried dem Bärtigen und dessen Gemahlin Beatrix von Tuszien nicht ganz ausgeschlossen werden63. Im übrigen spiegeln Berthold und der St. Galler Autor die gegensätzlichen Sichtweisen des sogenannten Investiturstreits wider. Während für beide Autoren Konrad von Bayern uninteressant geworden war, suchten sie die Schuldfrage auf je eigene Weise zu beantworten: Während der Annalist aus St. Gallen als kaiserlicher Parteigänger die zu seiner Zeit im gregorianischen

59 Zu diesen Anekdoten vgl. Baaken: Welf IV. (wie Anm. 6) S. 213f.; Dopsch: Welf III. (wie Anm. 7) S. 121f. 60 Annales Altahenses (wie Anm. 44) a. 1055, S. 51f.; vgl. Stefan Weinfurter: Ordnungskonfigurationen im Konflikt. Das Beispiel Kaiser Heinrichs III. In: Mediaevalia Augiensia. Forschungen zur Geschichte des Mittelalters. Hg. von Jürgen Peterson (Vorträge und Forschungen 54). 2001. S. 79–100, S. 96. 61 St. Galler Annalen. Staats- und Stadtbibliothek Augsburg Hs. 28 Cod 254. fol. 14 v. a. 1055; vgl. Wolf Gehrt: Die Handschriften der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg 28 Cod 251–400e (Handschriftenkataloge der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg 4).1989. S. 2f. 62 Berthold: Chronicon (wie Anm. 27) a. 1055, S. 178. 63 Zu dieser vgl. Egon Boshof: Lothringen, Frankreich und das Reich in der Regierungszeit Heinrichs III. In: Rheinische Vierteljahrsblätter 42 (1978) S. 63–127, S. 106ff.; Ders.: Salier (wie Anm. 55) S. 143f.; Elke Goez: Beatrix von Tuszien. Eine Untersuchung zur Geschichte des 11. Jahrhunderts. 1995. S. 140ff.

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Lager stehende Welfenfamilie als seit jeher aufsässig zeichnete, wollte Berthold als Anhänger des Papstes die Welfen entlasten. In diesem Sinne sind auch die weiteren Unterschiede beider Quellen interessant. Während der St. Galler Autor meldet, nach dem überraschenden Tod des Herzogs seien seine Pläne nicht verwirklicht worden, berichtet Berthold, Welf sei zum Jammer für die Seinen und das gesamte Volk vom Tode überrascht und in Altdorf begraben worden64. In der überarbeiteten Fassung fügt der Chronist hinzu, Welf habe sich vor seinem Ableben Gott geweiht und das Mönchsgelübde abgelegt. Weitere wichtige Informationen ergänzen die Altaicher Annalen: Als der schwer kranke Herzog sein Ende habe kommen fühlen, sei er von Reue ergriffen worden, habe öffentlich seine Sünden eingestanden und den Kaiser inständig um Vergebung gebeten. Er habe ihm das Gut Utting am Ammersee übergeben lassen und die Namen seiner Mitverschworenen genannt65. Persönlich hat Welf den Kaiser davon jedoch nicht in Kenntnis gesetzt, da der sich am 11. November 1055, also zwei Tage vor Welfs Ableben, noch in Verona aufhielt und eine Urkunde für das dortige Kloster St. Zeno ausstellte66. Da Heinrich III. damals eine Schenkung Welfs III. bestätigte und ihn bei dieser Gelegenheit als gloriosus dux bezeichnete, hatten ihn bis dahin wohl weder Nachrichten über die Beteiligung des Herzogs am Aufstand noch dessen Boten erreicht67. Der Kaiser erhielt also ein doppeltes Vermächtnis: einmal Informationen über den Aufstand und dann das Gut Utting68. Mit letzterem wollte Welf wohl nicht 64 Berthold: Chronicon (wie Anm. 27) a. 1055, S. 177. 65 Annales Altahenses a. 1055 (wie Anm. 44) S. 52; zur Lage des Ortes an der alten römischen Brennerstraße Pankraz Fried – Sebastian Hiereth: Landgericht Landsberg und Pfleggericht Rauhenlechsberg / Pankraz Fried: Landgericht, Hochgericht und Landkreis Schongau (Historischer Atlas von Bayern, Teil Altbayern 22/23). 1971. S. 13; laut Steindorff: Jahrbücher, Bd. 2 (wie Anm. 2) S. 298 mit Anm. 4; Baaken: Welf IV. (wie Anm. 6) S. 214 Anm. 65, hielt sich Heinrich III. bereits im Frühjahr 1055 vor seinem Italienzug in Utting auf, D H III. Nr. 333 (12. März 1055). Ed. Harry Bresslau – Paul Kehr. In: MGH DD regum et imperatorum Germaniae V. 1926–1931. S. 455f., doch ist die Identifizierung dieses Vtingen umstritten; zudem passt der Ort nur schlecht in sein Itinerar, vgl. Ernst Müller: Das Itinerar Heinrichs III. 1039–1056 (Historische Studien 26). 1901. S. 106; sowie die Vorrede zur Urkunde. 66 D H III. (wie Anm. 65) Nr. 357 (11. November 1055). S. 485f. 67 Kehr : Vier Kapitel (wie Anm. 42) S. 23; anders Baaken: Welf IV. (wie Anm. 6) S. 214, die meint, die Gegnerschaft Heinrichs und Welfs könne nicht sehr tiefgreifend gewesen sein, und Dopsch: Welf III. (wie Anm. 7) S. 125, der eine Aussöhnung von Kaiser und Herzog bei der Urkundenausstellung voraussetzt; zum engen Verhältnis Welfs zu St. Zeno, ebd. S. 116. 68 Laut Historia Welforum (wie Anm. 1) c. 7, S. 12, soll der letzte Graf von Ebersberg Utting und Sielenbach Welf II. als dem Bruder seiner Gemahlin Richgard vermacht haben; möglicherweise liegt hier eine Verwechslung mit Welf III. vor; dieser kurze Bericht weist weitere Unstimmigkeiten auf: Die Gräfin von Ebersberg hieß Richlint und nicht Richgard; ihr Mann hatte, anders als von der Histora Welforum behauptet, keines der drei Klöster Ebersberg, Kühbach und Geisenfeld gegründet; weiter stammte Utting nicht aus dem Erbe der Ebersberger, sondern dem der Kühbacher, vgl. Ludwig Holzfurtner : Die Grafschaft der An-

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nur die Verzeihung des Saliers erreichen, sondern auch vorsorglich dessen Unterstützung für seinen letzten Willen. Er hat, so darf man vermuten, wohl nicht angenommen, sein Testament würde unangefochten bleiben. Immerhin waren ihm die Existenz eines Neffen und damit auch dessen Erbansprüche durchaus bekannt, zumal gerade er selbst sich einmal in einer vergleichbaren Position befunden hatte. 1045 waren mit Adalbero II. die Grafen von Ebersberg ausgestorben69. Der Graf vertraute sein gesamtes Gut seiner Frau, der Welfin Richlint, an, die für sein Seelenheil die Grafschaft Persenbeug dem Kloster Ebersberg übergab. Die übrigen Ebersberger Lehen und Grafschaften sollte nach Richlints Willen ihr Neffe – Welf III. – erhalten70, obwohl es auf Seiten ihres Mannes ähnlich nahe Verwandte gab, insbesondere dessen Großneffen Ulrich von Weimar-Orlamünde, später Markgraf von Krain71. Von Richlint nach Persenbeug gerufen, wollte Heinrich III. Welf bereits mit dem Abtsstab des anwesenden Altmann von Ebersberg investieren, als der Boden unter ihnen nachgab und alle Anwesenden in den darunterliegenden Baderaum fielen. Während Heinrich nur leichte Blessuren davontrug, erlagen Richlint, Altmann und auch Bischof Brun von Würzburg später ihren Verletzungen. Ob dieser Unfall verhinderte, daß Welf die ihm zugedachten Besitzungen erhielt, ist unbekannt, aber wenigstens einige Güter aus dem Ebersberger Erbe finden wir später tatsächlich in seinem Besitz72. Vielleicht war es die Erinnerung an diesen unglücklichen Tag, die Welf dazu

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dechser. Comitatus und Grafschaft in Bayern 1000–1180 (Historischer Atlas von Bayern, Teil Altbayern II/4). 1994. S. 109f., der angesichts dieser Ungereimtheiten die ansprechende Überlegung anstellt, es habe zwei nach Bayern verheiratete Welfinnen gegeben: Richlint, Gemahlin des Adalbero von Ebersberg, und Richgard, Ehefrau eines Kühbacher Grafen. Vgl. Gottfried Mayr : Ebersberg – Gericht Schwaben (Historischer Atlas von Bayern, Teil Altbayern 48). 1989. S. 110; Günther Flohrschütz: Der Adel des Ebersberger Raumes im Hochmittelalter (Schriftenreihe zur Bayerischen Landesgeschichte 88). 1989. S. 45, 112ff.; Ludwig Holzfurtner : Ebersberg – Dießen – Scheyern. Zur Entwicklung der oberbayerischen Grafschaft in der Salierzeit. In: Die Salier und das Reich, Bd. 1 (wie Anm. 9) S. 549–577, S. 554; Dopsch: Welf III. (wie Anm. 7) S. 96ff. Chronicon Eberspergense. Ed. Wilhelm Arndt. In: MGH SS XX. 1868. S. 14; Annales Altahenses (wie Anm. 44) a. 1045, S. 39f., zu einem früheren Versuch, das Erbe den Welfen in der Person Konrads zu verschaffen, vgl. Matthias Becher : Der Name ›Welf‹ zwischen Akzeptanz und Apologie. Überlegungen zur frühen welfischen Hausüberlieferung. In: Bauer – Becher : Welf IV. (wie Anm. 4) S. 156–198, S. 177 mit Anm. 78; Konrad war ein weiterer Sohn Welfs II. und Imizas; nachzutragen ist, daß Konrad auch in einem Reichenauer Gedenkbucheintrag (Cod. Aug. pag. 158) unter den Nachkommen dieses Paares erscheint, vgl. Hansmartin Schwarzmaier : Reichenauer Gedenkbucheinträge aus der Anfangszeit der Regierung Konrads II. In: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 22 (1963) S. 19–28, S. 27. Zu ihm vgl. Ingrid Würth: Die Grafen von Weimar-Orlamünde als Markgrafen von Krain und Istrien. In: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 56 (2002) S. 91–132, S. 117 Anm. 134; gemeinhin werden auch Ulrich Ambitionen auf das Erbe seines Großonkels unterstellt, doch geht dies aus der Ebersberger Chronik nicht hervor. Vgl. Flohrschütz: Adel (wie Anm. 69) S. 112ff., zu Welf 114.

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veranlaßte, seinen eigenen Neffen zu übergehen und Kloster Altdorf nicht nur einen Teil, sondern angesichts seiner Sünden sein gesamtes Erbe zu vermachen. Wie im Falle des Grafen von Ebersberg war die letztwillige Verfügung des Herzogs von Kärnten eine Angelegenheit von reichsweiter Bedeutung, die dem Kaiser angesichts der jüngsten Entwicklungen nicht gleichgültig sein konnte. Die Initiative lag jedoch nicht bei ihm, sondern bei Imiza, die den Rechtsweg beschritt, um das Testament ihres Sohnes anzufechten73. Dabei lag es für sie nahe, sich an den Kaiser zu wenden, da ihr Sohn mit seiner Rebellion sich und seine ganze Familie in eine schwierige Lage gebracht hatte. Außerdem mußte sie rasch tätig werden, bevor das Testament vollstreckt war. Tatsächlich hätte sie bald nach dem Tod ihres Sohnes am 13. November 1055 Gelegenheit gehabt, ihren Einspruch gegenüber dem Kaiser selbst zu formulieren. Heinrich III. war im November von Italien aus nach Bayern aufgebrochen, erreichte am 14. Dezember Ulm und feierte Weihnachten in Zürich74. Möglicherweise berührte er auf diesem Weg sogar welfisches Gebiet. Vielleicht noch in Zürich verurteilte er Gebhard von Regensburg als Majestätsverbrecher75. Der Kaiser war den Verschwörern gegenüber also keineswegs milde gestimmt. So dürfte er – von Imiza angerufen – das Testament des anderen Aufrührers kassiert haben. Für unsere Annahme spricht, daß Heinrich III. sich damals auch mit anderen Problemen beschäftigt hat, die eng mit Welf III. zusammenhingen. Einmal erstattete er Anfang 1056 dem Kloster Benediktbeuern Güter zurück, die der Herzog innegehabt hatte76. Weiter überließ er Arno Borst zufolge ungefähr zu 73 Daran dachte schon der Autor der Historia Welforum, denn er benutzte mit dem Verb proclamare einen Ausdruck, mit dem in aller Regel die öffentliche Bekundung eines Rechts gemeint war, vgl. Jan Frederik Niermeyer : Mediae latinitatis lexicon minus. 1976 s.v.; so auch an anderer Stelle in der Historia Welforum (wie Anm. 1) c. 25, S. 50; zu dieser Angelegenheit vgl. Karin Feldmann: Herzog Welf VI. und sein Sohn. Das Ende des süddeutschen Welfenhauses. Mit Regesten. Diss. 1971. S. 14f.; Egon Boshof: Staufer und Welfen in der Regierungszeit Konrads III.: Die ersten Welfenprozesse und die Opposition Welfs VI. In: Archiv für Kulturgeschichte 70 (1988) S. 313–341, S. 331; Werner Hechberger: Staufer und Welfen 1125–1190. Zur Verwendung von Theorien in der Geschichtswissenschaft. 1996. S. 210; Baaken: Welf VI. (wie Anm. 6) S. 15; Jan Paul Niederkorn: Welf VI. und Konrad III. In: Ay – Maier – Jahn: Die Welfen (wie Anm. 15) S. 143f. 74 Steindorff: Jahrbücher, Bd. 2 (wie Anm. 2) S. 324. 75 Er übergab Gebhard dem Grafen Kuno von Achalm, der ihn zunächst in Wülflingen im Thurgau und später auf der Burg Stoffeln im Hegau gefangenhielt, St. Galler Annalen (wie Anm. 61) fol. 14v. a. 1056; Berthold: Chronicon (wie Anm. 27) a. 1056, S. 179; Steindorff: Jahrbücher, Bd. 2 (wie Anm. 2) S. 323; der Kaiser nahm Gebhard, der schon vorher freigekommen war, im Juli 1056 in Worms wieder in seine Huld auf, ebenso den Ezzonen Konrad, der nach dem Tod des Kaisers von dessen Witwe Agnes sogar das Herzogtum Kärnten erhielt und damit Welfs Nachfolge antrat. 76 D H III. (wie Anm. 65) Nr. 362a (Januar 1056). S. 492ff.; zu der komplizierten Überlieferungsgeschichte vgl. neben der Vorrede auch Franz Ludwig Baumann: Die Benediktbeurer Urkunden bis 1270. In: Sitzungsberichte der bayerischen Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse. 1912/2. S. 52ff.; Ludwig Steinberger: Benediktbeuerer

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dieser Zeit Bischof Rumold von Konstanz den Wildbannbezirk Höri, zu dem auch der westliche Teil des alten Fiskus Bodman gehörte. Damit wollte der Kaiser vermutlich den Ambitionen Welfs III. (bzw. seiner Erben) in dieser Region einen Riegel vorschieben, die sich aus dem Aufenthalt Welfs in Bodman ableiten lassen77. Der Ort war eine alte Königspfalz, die in der Karolinger- und frühen Ottonenzeit zu den Zentren Schwabens gehört, aber Mitte des 11. Jahrhunderts an Bedeutung verloren hatte. Dennoch blieb Bodman ein symbolträchtiger Ort, und so könnte Welfs Aufenthalt dort durchaus im Zusammenhang mit seiner Rebellion gestanden haben78. Möglicherweise wollte er gerade die alte Königspfalz und dazu den Wildbannbezirk Höri in Besitz nehmen, als sein Schicksal ihn ereilte. Da der Kaiser sich damals also gleich zweimal mit Hinterlassenschaften des verstorbenen Herzogs auseinandergesetzt hat, dürfte er sich auch mit dessen eigentlichem Erbe befaßt haben, denn der Einspruch Imizas gegen das Testament ihres Sohnes bot ihm die einmalige Chance, den welfischen Nachlaß in seinem Sinne zu ordnen. Dabei eröffnete ihm die Herkunft Welfs IV. aus der otbertinischen Familie die Möglichkeit, seiner italienischen Politik Flankenschutz zu geben. In Zürich verlobte Heinrich III. seinen gleichnamigen Sohn und Erben mit Bertha von Turin und setzte damit die Politik der Verklammerung von nord- und südalpinem Reich fort79. Das Bündnis mit dem Haus Turin stärkte seine Position in der Auseinandersetzung mit Gottfried dem Bärtigen und Beatrix von Tuszien80. Weitere Verbündete in Oberitalien waren dem Kaiser in dieser Situation sicherlich willkommen. Der welfische Erbstreit eröffnete ihm die

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Studien. In: Historisches Jahrbuch 38 (1917) S. 237–283, S. 272ff.; Josef Hemmerle: Die Benediktinerabtei Benediktbeuern (Germania Sacra NF 28: Die Bistümer der Kirchenprovinz Mainz. Das Bistum Augsburg 1). 1991. S. 187. Arno Borst: Die Pfalz Bodman. in: Bodman. Dorf – Kaiserpfalz – Adel. Hg. von Herbert Berner. Bd. 1. 1977. S. 169–230, S. 217f.; Heinrichs Maßnahme ist zu erschließen aus D F I. Nr. 128 (27. Novemer 1155). Ed. Heinrich Appelt. In: MGH DD regum et imperatorum Germaniae X/1. 1975. S. 212–216; vgl. auch Helmut G. Walther: Der Fiskus Bodman. In: Bodman. S. 231–275; Karl Schmid: »Eberhardus comes de Potamo«. Erwägungen über das Zueinander von Pfalzort, Kirche und Adelsherrschaft. Ebd. S. 317–344; Helmut Maurer : Bodman. In: Die deutschen Königspfalzen, Bd. 3: Baden-Württemberg, 1. Lieferung 1988. S. 18–45. Bezeichnenderweise nennt allein die Historia Welforum (wie Anm. 1) c. 12, S. 18, Bodman als Welfs Sterbeort; normalerweise nennt die Chronik nur die Begräbnisstätte; nur im Falle von Welfs Onkel Heinrich, der dem hl. Otmar den schuldigen Zins nicht mehr entrichten wollte, nennt sie mit Lana ebenfalls den Sterbeort (c. 7, S. 12); für die welfische memoria waren also beide Orte sehr wichtig, wie Borst: Pfalz Bodman (wie Anm. 77) S. 217, konstatiert: »Den Kundigen genügte das Stichwort Bodman, um an einen alten Fluch zu erinnern.« Zuletzt dazu Thomas Zotz: Turegum nobilissimum Sueviae oppidum. Zürich als salischer Pfalzort auf karolingischer Basis. In: Frühmittelalterliche Studien 36 (2002) S. 337–354, S. 349. Vgl. Steindorff: Jahrbücher, Bd. 2 (wie Anm. 2) S. 324f.

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Möglichkeit, den mächtigen Markgrafen Azzo enger an sich zu binden, indem er dessen Sohn die welfischen Besitzungen zusprach. Sollte Azzo über seinen Schwager Welf III. sogar in den jüngsten Aufstand involviert gewesen sein81, so gab diese Konstellation dem Kaiser ironischerweise die Möglichkeit, mit Hilfe der Hinterlassenschaft des einen Oppositionellen einen anderen auf seine Seite zu ziehen. Die von uns angenommene Entscheidung Heinrichs III. entsprach aber durchaus auch der Rechtslage, wie sie im Weingartener Nekrolog von ca. 1200 und im Weingartener Traditionscodex aus dem 13. Jahrhundert festgehalten ist. In der zweiten Quelle werden etwa auch die Beauftragten genannt, denen Welf III. die Durchführung seines Testaments anvertraute: Es handelte sich um Reinhard und Dietrich von Irsee, nach Hansmartin Schwarzmaier zwei hochadlige Gefolgsleute der Welfen82. Die Quelle enthält also unabhängige Informationen. Weiter heißt es, Welfs Mutter, der nach dem ius gentium das gesamte Erbe zugestanden habe, habe die Verfügung angefochten, weil sie ohne ihre Zustimmung zustande gekommen sei83. Mit dem ius gentium war nicht etwa das Völkerrecht gemeint, sondern das für alle Menschen geltende Recht. Es handelte sich also um einen allgemeinen Grundsatz, wobei die Verwendung des Wortes in unseren Quellen vermutlich auf die Rezeption des römischen Rechts zurückgeht, aber im 11. Jahrhundert bereits »überraschend breite Verwendung« fand, obwohl von ihm »in der theologischen Literatur und auch in den geläufigen Rhe-

81 Im Juni hatte Azzo auf den Hof Naseto zugunsten des Klosters S. Prospero in Reggio verzichten müssen, D H III. (wie Anm. 65) Nr. 348 (15. Juni 1055). S. 475f., was nach Baaken: Welf IV. (wie Anm. 6) S. 209f., im Zusammenhang mit den Irritationen zwischen Heinrich III. und Welf III. stehen könnte. 82 Hansmartin Schwarzmaier : Königtum, Adel und Klöster zwischen oberer Iller und Lech (Veröffentlichungen der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft bei der Kommission für bayerische Landesgeschichte I/7). 1961. S. 78ff. 83 Necrologium Weingartense (wie Anm. 2) S. 230: Welfo dux Carinthie, hic sepultus, qui in extremis positus omne patrimonium suum duobus ex suis delegatum ecclesie Altorfensi donari decrevit, sed mater superstes, hanc traditionem iure gentium irritam faciens, pro anima filii hec predia dedit: Lancrein, Luotirbrunnon, Gulinwill.r, Fridehardeswill.r, Azelunwil.r, Heiligunbuoke, Chrotebach, Ethinishoven; ausführlicher : Codex maior traditionum Weingartensium. Ed. Christoph Friedrich von Stälin. In: Wirtembergisches Urkundenbuch (= WUB), Bd. 4. 1883 (ND als Württembergisches Urkundenbuch. 1974). Anhang, S. VIf.: Post hec filius eorum [Welf II. und Irmentrud] dux Carinthiorum Welf universum predium suum fidelitati duorum fratrum militum suorum, Reginhardi scilicet de Vrsinun [Irsee] et Tieterici, delegavit iuramento eos obligans, ut post mortem ipsius conmissum sibi predium Altorfensi ecclesie sollempni donatione firmarent. Sed mater filio superstes, ad quam tota hereditas iure gentium pertinuit huiusmodi traditionem quippe se adhuc vivente neque in hac consentiente irritam fore convicit; vgl. auch noch De translatione sanguinis Christi. Ed. Georg Waitz. In: MGH SS XV/1. 1887 (ND 1963). S. 923; Summula de Guelfis (14. Jh.). Ed. Gerhard Hess. In: Monumentorum Guelficorum pars historica seu scriptores rerum Guelficarum. 1784. S. 123f. (mit falschen Einzelheiten).

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torikbüchern kaum die Rede war.«84 Selbst in einschlägigen Zusammenhängen kommt der Begriff schon vor. So berichtet Lampert von Hersfeld, der flandrische Grafensohn Robert der Friese habe sich auf das ius gentium berufen, als er seinen älteren Bruder Balduin aufforderte, das väterliche Erbe mit ihm zu teilen85. In der Staingadener Fortsetzung der Historia Welforum ist im Zusammenhang der Einsetzung Friedrich Barbarossas zum Erben Welfs VI. immerhin von der lex gentium die Rede86. Auch der Sache nach gibt es viele Parallelen zum erbrechtlichen Vorrang der Mutter wie im welfischen Fall, besonders aus dem Sachsen des 10. Jahrhunderts. So stellte die adlige Dame Eddila im Jahr 960 Otto dem Großen vier curtes für die Ausstattung des Klosters Hilwartshausen (Stadt Dussel, Kreis Northeim) zur Verfügung, die sie aus der Erbschaft ihrer verstorbenen Söhne erhalten hatte87. Zwischen 1015 und 1020 vermachte Graf Dodiko von Warburg seinen gesamten Besitz mit allen Rechten, insbesondere Grafschaftsrechten in mehreren Gauen, und acht Mühlen der Kirche von Paderborn. Dem stimmte Dodikos Mutter Hildegunde als heres primitiva zu, als erste oder ursprüngliche Erbin. Erst nach ihr wird ihr zweiter Sohn, Graf Sigebodo, ohne Hinweis auf sein Erbrecht aufgeführt88. Die Mutter ging im Erbrecht also sogar dem Bruder vor. Sigebodo machte übrigens ungefähr zur gleichen Zeit seinerseits der Paderborner Kirche

84 Harald Dickerhof: Wandlungen im Rechtsdenken der Salierzeit am Beispiel der lex naturalis und des ius gentium. In: Die Salier und das Reich, Bd. 3: Gesellschaftlicher und ideengeschichtlicher Wandel im Reich der Salier. Hg. von Stefan Weinfurter. 1991. S. 447–476, S. 450; vgl. auch Tilman Struve: Die Salier und das römische Recht. Ansätze zur Entwicklung einer säkularen Herrschaftstheorie in der Zeit des Investiturstreits (Abhandlungen der Mainzer Akademie der Wissenschaften und Literatur, Geistes- u. sozialwissenschaftliche Klasse 1999/5). 1999. bes. S. 19; zur Verwendung des Begriffs ius gentium im Zusammenhang mit Majestätsverbrechen. 85 Lampert von Hersfeld: Annales. Ed. Oswald Holder-Egger (MGH SS rer. Germ. [38]). 1894. a. 1071, S. 123; vgl. Tilman Struve: Lampert von Hersfeld. Persönlichkeit und Weltbild eines Geschichtsschreibers am Beginn des Investiturstreites. Teil B. In: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 20 (1970) S. 32–142, S. 50; Dickerhof: Wandlungen (wie Anm. 84) S. 452. 86 Historia Welforum (wie Anm. 1) cont. Staingad., S. 70: Imperator ergo Fridericus … in auro et argento toto nisu satisfaciens avunculo traditam sibi hereditatem lege gentium possedit et quaedam in signum possessionis sibi retinuit, reliquis vero ipsum Gwelfonem inbeneficiavit, quaedam etiam de suis superaddidit. 87 D O I. Nr. 206 (12. Februar 960). Ed. Theodor Sickel. In: MGH DD regum et imperatorum Germaniae I. 1879–1884. S. 284f. 88 Vita Meinwerci episcopi Patherbrunnensis. Ed. Franz Tenckhoff (MGH SS rer. Germ. [59]). 1921. c. 59, S. 45; hierzu und zum folgenden vgl. Franz Irsigler: Divites und pauperes in der Vita Meinwerci. Untersuchungen zur sozialen und wirtschaftlichen Differenzierung Westfalens im Hochmittelalter. In: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 57 (1970) S. 449–499, S. 476ff.; Hermann Bannasch: Das Bistum Paderborn unter den Bischöfen Rethar und Meinwerk (983–1036) (Studien und Quellen zur westfälischen Geschichte 12). 1972. S. 260ff.

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eine Schenkung, und wiederum stimmte Hildegunde als Erbin zu89. Der welfische Fall von 1055/56 steht also keinesfalls allein. Da Welf III. die Zustimmung Imizas nicht eingeholt hatte, waren deren Ansprüche auf das Welfenerbe durchaus rechtens, und die Entscheidung zu ihren Gunsten entsprach der Rechtslage. Nach diesem rechtlichen Erfolg vollendeten Imiza und Welf IV. wenig später ihren Herrschaftsantritt. Wohl noch 1056 vertauschten sie die Konvente von Altdorf und Altomünster : Die Altdorfer Nonnen wurden nach Altomünster verlegt, die Benediktiner zogen von dort nach Altdorf um90. Dieser Wechsel verhinderte wohl auch, daß allzu viele Einzelheiten über das Geschehen der Nachwelt überliefert wurden – anders als etwa im Fall des Ebersberger Erbes, über den die im Kloster Ebersberg entstandene Chronik berichtete, während man in Altdorf bzw. Weingarten lieber nicht an das Geschehen von 1055/56 erinnerte. Auch die Welfen selbst empfanden diesen Sieg wohl als problematisch, war doch gegen den erklärten Willen eines sterbenden Fürsten verstoßen und zudem der hl. Martin um reiche Besitztümer gebracht worden. Dieses Unbehagen lassen die verschiedenen Texte der welfischen Hausüberlieferung erkennen, insbesondere diejenigen, die älter sind als die Historia Welforum. Denn sie stellen den Übergang auf Welf IV. völlig anders dar als diese. Die um 1125 auf Veranlassung Heinrich des Schwarzen entstandene Genealogia Welforum verschweigt Welf III. völlig und läßt Welf IV. direkt auf seinen Großvater Welf II. folgen, nach dessen Tod er herbeigeeilt sei, um die Erbschaft zu übernehmen91. Ganz ähnlich ging der Autor der sogenannten sächsischen Welfenquelle mit der Vergangenheit um, der sein Werk zwischen 1132 und 1137 vermutlich im Kloster St. Michael in Lüneburg verfaßte. Auch er übergeht Welf III. und thematisiert damit auch den Erbgang nicht, sondern beschränkt sich darauf, Welf IV. als Sohn der Welfin Kuniza und des Markgrafen Azzo anzusprechen92. Das Wissen um die Vorgänge von 1055/56 war also trotz des Schweigens dieser beiden Quellen noch nicht erloschen, als der Autor der Historia Welforum sein Werk verfaßte. Wir haben also ein Lehrbeispiel für die teils bewußte, teils unbewußte Verformung der Überlieferung durch die Verfasser historischer Quellen vor uns. Die Autoren, die den Welfen und persönlich den problematischen Ereignissen zeitlich noch recht nahe standen, übergingen diese der Einfachheit halber. Erst 89 Vita Meinwerci (wie Anm. 88) c. 49, S. 41f. 90 Sönke Lorenz: Weingarten und die Welfen. In: Bauer – Becher : Welf IV. (wie Anm. 4) S. 30–55. 91 Genealogia Welforum. Ed. König (wie Anm. 8) c. 8, S. 78. 92 Die Quelle ist zu erschließen aus dem Annalista Saxo. Ed. Georg Waitz. In: MGH SS VI. 1844. a. 1126, hier S. 764, und dem Anhang IV der Sächsischen Weltchronik. Ed. Ludwig Weiland. In: MGH Deutsche Chroniken II. 1877. Hier S. 83, wiederabgedruckt bei König (wie Anm. 1) S. 84.

Erbe von Kaisers Gnaden

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in einem größeren zeitlichen Abstand war es allem Anschein nach wieder möglich, unangenehme Begebenheiten zu thematisieren. Allerdings war zu diesem Zeitpunkt die Kenntnis der näheren Umstände bereits verloren gegangen, die wir lediglich mit Hilfe zeitnaher Quellen rekonstruieren können. Hier zeigte sich, daß Welf III. von einem treuen Gefolgsmann Heinrichs III. zu dessen Gegner geworden war. Zudem dürfte der Kaiser auch ein gewichtiges Wort bei der Entscheidung mitgesprochen haben, Imiza und Welf IV. das welfische Erbe zuzuweisen. Davon wollten die Welfen möglicherweise seit ihrem antikaiserlichen Engagement im Investiturstreit nichts mehr wissen, und so zeichnete die Historia Welforum über 100 Jahre später das völlig entgegengesetzte Bild einer adelsstolzen und königsfernen Familie. Burchard von Ursberg faßte dies in dem schönen Diktum zusammen, das berühmte und edle Geschlecht der Welfen habe stets auf Seiten der römischen Kirche gestanden und den Kaisern oft Widerstand geleistet93. Doch es war ein Kaiser gewesen, der ihnen 1055/56 das Fortbestehen gesichert hatte.

93 Burchard von Ursberg: Chronicon (wie Anm. 17) S. 8.

Karl der Gute als Thronkandidat im Jahr 1125. Gedanken zur norddeutschen Opposition gegen Heinrich V.

Am 23. Mai des Jahres 1125 starb Kaiser Heinrich V.; da er keinen Sohn hinterließ, musste eine echte Neuwahl durchgeführt werden. Angesichts der politisch schwierigen Lage Heinrichs V. während seiner letzten Jahre erscheint es allerdings ohnehin fraglich, ob die Fürsten sich für einen seiner Abkömmlinge entschieden hätten. Seinen Neffen Friedrich von Schwaben wollte die Mehrheit von ihnen jedenfalls nicht, obwohl dieser zuletzt sogar auf Distanz zum Kaiser gegangen war1. Daher standen 1125 weitere Kandidaten zur Debatte, Markgraf Leopold von Österreich und Herzog Lothar von Sachsen, der schließlich auch gewählt wurde2. Außerdem wurde aber noch Karl der Gute, Graf von Flandern, in Betracht gezogen. Dem gräflichen Notar und Geschichtsschreiber Galbert von Brügge zufolge hatten die Fürsten des Reiches den Kanzler des Kölner Erzbischofs und den Grafen Gottfried von Namur nach Flandern entsandt, um den Grafen zu bitten, ut imperii honores et dignitates regias cum suis facultatibus pro sola caritate assumeret3. Gemeinhin gilt Erzbischof Friedrich von Köln als die Erstdruck in: Heinrich V. in seiner Zeit. Herrschen in einem europäischen Reich des Hochmittelalters, hg. von Gerhard Lubich (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 34), Wien – Köln – Weimar 2013, S. 137–150. 1 Vgl. Jürgen Dendorfer, Fidi milites? Die Staufer und Kaiser Heinrich V., in: Grafen, Herzöge, Könige. Der Aufstieg der frühen Staufer und das Reich, hg. von Hubertus Seibert / Jürgen Dendorfer (Mittelalter-Forschungen 18, 2005) S. 213–265; zur Bewertung der Herrschaft Heinrichs V. insgesamt vgl. Stefan Weinfurter, Reformidee und Königtum im spätsalischen Reich. Überlegungen zu einer Neubewertung Heinrichs V., in: Reformidee und Reformpolitik im spätsalischen-frühstaufischen Reich, hg. von dems. (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte 68, 1992) S. 1–45, ND in: Ders., Gelebte Ordnung – Gedachte Ordnung. Ausgewählte Beiträge zu König, Kirche und Reich, hg. von Helmuth Kluger / Hubertus Seibert / Werner Bomm (2005) S. 289–333. 2 Johann F. Böhmer / Wolfgang Petke, Lothar III. 1125 (1075)–1137 (Reg. Imp. 4/1,1, 1994) Nr. 92; vgl. zuletzt Bernd Schneidmüller, 1125 – Unruhe als politische Kraft im mittelalterlichen Reich, in: Staufer & Welfen. Zwei rivalisierende Dynastien im Hochmittelalter, hg. von Werner Hechberger / Florian Schuller, Regensburg 2009, S. 30–49. 3 De multro, traditione et occisione gloriosi Karoli comitis Flandriarum, hg. von Henri Pirenne, Histoire du meurtre de Charles le Bon (Collection de Textes [10], 1891) c. 4, S. 8f.: […] Heinricus imperator Romanus diem obiit et desolatum est regnum imperii illius et sine

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treibende Kraft hinter diesem Angebot4. Nachdem Karl sich mit seinen Großen beraten hatte, lehnte er allerdings ab. Otto von Freising bestätigt diese Geschichte und zählt Karl sogar zu den offiziellen Thronkandidaten des Jahres 11255. Karl der Gute hatte sich bis dahin in der Reichspolitik in keiner Weise hervorgetan, im gewissen Sinne war er nicht einmal Angehöriger des Reiches. Zwar besaß er auch einige Gebiete diesseits der Reichsgrenze, aber Flandern insgesamt war doch ein französisches Fürstentum mit einem starken Hang zur Autonomie, um es vorsichtig zu sagen. Immerhin hatte Karl den französischen König Ludwig VI. unterstützt, als Kaiser Heinrich V. 1124 Frankreich militärisch bedrohte. Angesichts dieser Distanz zum Reich erscheint das Angebot an herede exheredatum. Igitur sapientiores in clero et populo regni Romanorum et Teutonicorum satagebant omnibus modis, quem sibi ad imperium regni providerent virum nobilem tam genere quam moribus. Igitur circumspectis terrarum et regnorum principibus considerate inierunt consilium, quatenus illi sapientiores et potentiores in regno legatos idoneos, scilicet cancellarium archiepiscopi Coloniensis civitatis et cum eo comitem Godefridum, sollempniter transmitterent ad consulem Flandriarum Karolum Pium ex parte totius cleri et ex parte totius populi regni et imperii Teutonicorum, expostulantes et obsecrantes potentiam et pietatem ipsius, ut imperii honores et dignitates regias cum suis facultatibus pro sola caritate assumeret. Omnes enim meliores tam in clero quam in populo eligendum sibi cum iustissimo desiderio expectabant, ut si Deo donante ad ipsos dignaretur adscendere coronatione et imperii exaltatione unanimiter sublimarent ac regem illum lege predecessorum catholicorum imperatorum constituerent. Cumque legationem et expostulationem audisset Karolus comes consilium cum nobilibus et paribus suae terrae subiit, quid super hoc ageret. At illi, qui ipsum iusto amore et dilectionis virtute dilexerant et ut patrem venerebantur, ceperunt dolere et discessum eius deflere et ruinam patriae gravem fore, si forte eam desereret. Tandem illi traditores pessimi, qui vitae ipsius inimicabantur, consuluerunt ei, ut regnum et eius honores preriperet inter Teutonicos persuadentes ei quantae gloriae et quantae famae sibi foret regem Romanorum esse. Laborabant miseri illi qua astutia, quibus dolis carerent eo, quem postmodum, dum amovere non poterant, viventem tradiderunt pro lege Dei et hominum cum ipsis decertantem. Remansit itaque in comitatu suo Karolus comes pro expostulatione suorum dilectorum […]; vgl. auch die neuere Edition: Galbertus notarius Brugensis, De multro, traditione, et occisione gloriosi karoli comitis Flandriarum, hg. von Jeff Rider (Corpus Christianorum, Continuatio Mediaeualis 131, 1994) c. 4, S. 11/13; zur Identifizierung des Grafen Gottfried vgl. Wilhelm Bernhardi, Lothar von Supplinburg (Jahrbücher der Deutschen Geschichte, 1879) S. 9; zur Quelle insgesamt vgl. Gerd Althoff / Stephanie Coué, Pragmatische Geschichtsschreibung und Krisen. II. Der Mord an Karl dem Guten (1127) und die Werke Galberts von Brügge und Walters von Th8rouanne, in: Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen, hg. von Hagen Keller / Klaus Grubmüller / Nikolaus Staubach (Münstersche Mittelalter-Schriften 65, 1992) S. 108–129; Jeff Rider / Alan V. Murray, Galbert of Bruges and the Historiography of Medieval Flanders (2009). 4 Vgl. Erich Wisplinghoff, Friedrich I., Erzbischof von Köln (1100–1131) (1951) S. 41f.; Wolfram Ziegler, Studien zur staufischen Opposition unter Lothar III. (1125–1137), Concilium Medii Aevi 10 (2007) S. 67–101, hier S. 84f. 5 Otto von Freising, Chronica sive Historia de duabus civitatibus, hg. von Adolf Hofmeister (MGH SS rer. Germ [45], 1912) VII 17, S. 333: Anno ab incarnatione Domini MCXXV defuncto absque herede Heinrico V principes Moguntiae conveniunt, ibique habito de successore consilio IIII regni optimates Lotharius dux Saxonum, Fridericus dux Suevorum, Leopaldus marchio Orientalis, Karolus comes Flandriae, ad regnum designantur.

Karl der Gute als Thronkandidat im Jahr 1125

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ihn, römischer König zu werden, auf den ersten Blick sehr überraschend. Flandern war wirtschaftlich und politisch die dominierende Macht im nördlichen Grenzgebiet zwischen Frankreich und dem Reich, und sein Graf war von daher vielleicht sogar eine gute Wahl für die Thronkandidatur – zumindest aus Kölner Sicht. Dennoch scheint die ablehnende Haltung Karls gegenüber seiner Thronkandidatur den Eindruck zu bestätigen: Es war kein guter Einfall Friedrichs von Köln, auf den Grafen von Flandern zu setzen. Die Probleme dieser Kandidatur dürften ihm durchaus bewusst gewesen sein – warum hat er sie dennoch betrieben? Bislang hat sich allein Heinrich Sproemberg mit der Kandidatur Karls intensiver beschäftigt und auf die Interessengegensätze des Erzbischofs und Herzog Lothars in Westfalen verwiesen6. Dezidierter äußerte sich Heinz Stoob: Friedrich habe die flämische Thronfolge favorisiert, »um Sachsens Vordringen zum Rhein aufzuhalten«7. Ulrich Nonn verwies auch auf kirchenpolitische Gegensätze zwischen dem Kölner Erzbischof und Lothar von Sachsen8. Für Ulrich Reuling war Karl der Gute schließlich ein idealer Kompromisskandidat9, zumal er in die Auseinandersetzungen zwischen Kaiser und Fürsten nicht verwickelt gewesen sei – so der erste Anschein10. Bei näherer Betrachtung zeigt sich allerdings, dass Karl durchaus über Beziehungen nach Westfalen verfügte und zumindest mittelbar – nämlich über seine Verwandten – in die Kämpfe der ausgehenden Salierzeit involviert war.

6 Heinrich Sproemberg, Eine rheinische Königskandidatur im Jahre 1125, in: Aus Geschichte und Landeskunde. Forschungen und Darstellungen. FS Franz Steinbach zum 65. Geburtstag (1960) S. 50–70, hier S. 56f. 7 Heinz Stoob, Zur Königswahl Lothars von Sachsen im Jahre 1125, in: Historische Forschungen für Walter Schlesinger 2, hg. von Helmut Beumann (Mitteldeutsche Forschungen 74/2, 1974) S. 438–461, hier S. 451; vgl. auch Wolfgang Petke, Kanzlei, Kapelle und königliche Kurie unter Lothar III. (1125–1137) (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters 5, 1985) S. 272 mit Anm. 16; Dieter Berg, England und der Kontinent. Studien zur auswärtigen Politik der anglonormannischen Könige im 11. und 12. Jahrhundert (1987) S. 313 Anm. 41. 8 Ulrich Nonn, Geblütsrecht, Wahlrecht, Königswahl. Die Wahl Lothars von Supplinburg 1125, GWU 44 (1993) S. 146–157, hier S. 153f. 9 Ulrich Reuling, Die Kur in Deutschland und Frankreich. Untersuchungen zur Entwicklung des rechtsförmlichen Wahlaktes bei der Königserhebung im 11. und 12. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 64, 1979) S. 151; vgl. ebenso S. 145f. 10 Böhmer / Petke, Regesten (wie Anm. 2) Nr. 89, der die führende Rolle Erzbischof Friedrichs bei diesem Angebot allerdings vorsichtig anzweifelt.

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Karl der Gute, Paderborn und die Grafen von Werl Karl der Gute hatte vor allem eine bewegte Kindheit und Jugend durchlebt. Er war der Sohn König Knuts II. von Dänemark, der 1086 ermordet wurde11. Seine Mutter Adela von Flandern floh daraufhin zusammen mit dem vielleicht 1084 geborenen Karl in ihre Heimat, während sie ihre Töchter Ingrid und Cäcilie in Dänemark zurückließ12. Kurz darauf ehelichte sie Herzog Roger von Apulien, während ihr Sohn Karl am Hof seines Großvaters Robert I. und seines Onkels Robert II. aufwuchs13. Nach dessen Tod 1111 blieb der dänische Königssohn auch unter Balduin VII. in Flandern und war ein enger Vertrauter seines Vetters. Als dieser 1119 starb, ohne einen Erben zu hinterlassen, trat Karl Balduins Nachfolge an und musste sich zunächst gegen Wilhelm von Ypern, einen illegitimen Neffen seines Vorgängers, durchsetzen14. 1123 wurde ihm, der bereits eine Pilgerfahrt ins Heilige Land unternommen hatte, die Krone des Königreichs Jerusalem angeboten. Sein persönlicher Hintergrund hätte 1125 also seine Wahl zum römischen König vollauf gerechtfertigt: Er war der Sohn eines Königs und war bereits zuvor als würdig angesehen worden, König im Heiligen Land zu werden. Daneben hatte Karl aber auch eine Verbindung nach Deutschland, die bislang übersehen wurde. Im Jahr 1101 bestätigte Bischof Heinrich II. von Paderborn die Privilegien des in seiner Bischofsstadt gelegenen Klosters Abdinghof. Als erster Laienzeuge wird Karolus, filius regis Danorum, genannt15. Bei ihm handelt es sich also um den nachmaligen Grafen von Flandern, sofern die Angabe zuverlässig ist. Gerade an diesem Punkt könnte man Zweifel hegen, denn die betreffende Urkunde gehört zum Komplex der vieldiskutierten Abdinghofer Fälschungen. Den Forschungen von Klemens Honselmann zufolge gehen diese allerdings größtenteils auf echte Vorlagen zurück. Allein diese Urkunde bezeichnet Honselmann als totale Fälschung, weil die Bischöfe von Paderborn in dieser Zeit ansonsten keine Privilegienbestätigungen ausgestellt hätten16. Weniger skep11 Vgl. Heinrich Neu, Karl I. der Gute, Graf von Flandern, in: NDB 11 (1977) S. 227; Marc Ryckaert, Karl der Gute, in: LexMA 5 (1991) Sp. 991f. 12 Ex Vitis Kanuti regis, hg. von Georg Waitz (MGH SS 29, 1892) S. 5f.; Ex Saxonis Gestis Danorum, hg. von Georg Waitz (MGH SS 29, 1892) S. 69; Walter von Th8rouanne, Vita Karoli comitis Flandriae, hg. von Rudolf Köpke (MG SS 12, 1856) c. 2, S. 537–561, hier S. 540. 13 FranÅois-Louis Ganshof, La Flandre sous les premiers comtes (21944) S. 112f. 14 Vgl. auch Heinrich Sproemberg, Clementia, Gräfin von Flandern, Revue Belge de Philologie et d’Histoire 42 (1964) S. 1203–1241, zit. nach dem ND in: Ders., Mittelalter und demokratische Geschichtsschreibung. Ausgewählte Abhandlungen (Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte 18, 1971) S. 192–220, hier S. 209–215. 15 Westfälisches Urkundenbuch I. Regesta Historiae Westfaliae, accedit Codex diplomaticus I, hg. von Heinrich August Erhard (1847) Nr. 171, S. 134. 16 Klemens Honselmann, Die sogenannten Abdinghofer Fälschungen. Echte Traditionsnotizen in der Aufmachung von Siegelurkunden, Westfälische Zeitschrift 100 (1950) S. 292–356, hier S. 297f. sowie S. 306 Anm. 68.

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tisch ist er in Bezug auf die Zeugenreihen der Paderborner Bestätigungsurkunden allgemein, die echten Urkunden entnommen seien17. So werden in der erwähnten Urkunde neben Karl zahlreiche weitere Persönlichkeiten des Paderborner Bistums aus der Zeit um 1100 genannt. Zu ihnen gehören etwa Abt Thietmar von Helmarshausen, der Paderborner Dompropst Roggerus, der Domdekan Reinboldus, der Propst des Busdorfstiftes namens Konrad und weitere Angehörige des Paderborner Domkapitels18. Auch von den Laienzeugen lassen sich zumindest Graf Erpho von Padberg und Graf Liupold von Werl, ein Bruder des Paderborner Bischofs, ebenfalls dieser Zeit zuordnen19. Daher darf diese Zeugenreihe für echt gehalten werden, gerade auch was Karl, den Sohn des Dänenkönigs, angeht: Wie hätte der Abdinghofer Fälscher sonst auf die Idee verfallen sollen, einen Zeugen anzuführen, den man in Paderborn eigentlich nicht erwarten konnte? Warum aber hielt sich der dänisch-flandrische Prinz damals in Paderborn auf ? Den allgemeinen Hintergrund könnten die guten wirtschaftlichen Kontakte Paderborns nach Flandern abgeben20. Darüber hinaus ist aber auch nach Motiven zu suchen, die in der Person Karls des Guten liegen. Bislang hat sich nur die ältere landesgeschichtliche Forschung mit diesem Problem beschäftigt und die Vermutung aufgestellt, Karl habe in Paderborn seine Studien vervollständigt21. 17 Honselmann, Fälschungen (wie Anm. 16) S. 298. 18 Zu Abt Thietmar vgl. Eckhard Freise, Adelsstiftung, Reichsabtei, Bischofskloster – Konvent der Kalligraphen, Künstler und Fälscher. Zur Geschichte der Äbte und Mönche von Helmarshausen (997–1196), in: Helmarshausen. Buchkultur und Goldschmiedekunst im Hochmittelalter, hg. von Ingrid Baumgärtner (2003) S. 9–44, hier S. 24–26; zu den Angehörigen des Paderborner Domkapitels Maria Hanneken, Die ständische Zusammensetzung des Paderborner Domkapitels, Westfälische Zeitschrift 90/II (1934) S. 70–170, hier S. 84, S. 90; zu den Dignitären des Kapitels auch Hans Jürgen Brandt, Paderborn – Domstift St. Maria, Kilian, Liborius und Ulrich, in: Westfälisches Klosterbuch 2, hg. von Karl Hengst (1994) S. 175–205, hier S. 183. 19 Zu Erpho vgl. Aloys Schwersmann, Das Benediktinerkloster Flechtdorf in Waldeck (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 51, 1984) S. 68–89, besonders S. 80; Gabriele Meier, Die Bischöfe von Paderborn im Hochmittelalter (Paderborner Theologische Studien 17, 1987) S. 88; zu Liupold vgl. Paul Leidinger, Die Grafen von Werl und WerlArnsberg (ca. 980–1124). Genealogie und Aspekte ihrer politischen Geschichte in ottonischer und salischer Zeit, in: Das Herzogtum Westfalen 1: Das kurkölnische Herzogtum Westfalen von den Anfängen der kölnischen Herrschaft im südlichen Westfalen bis zur Säkularisierung 1803, hg. von Harm Klueting / Jens Foken (2009) S. 119–170, hier S. 151. 20 Matthias Becher, Zwischen Reichspolitik und regionaler Orientierung: Paderborn im Hochmittelalter (1050–1200), in: Paderborn. Geschichte der Stadt in ihrer Region 1. Das Mittelalter. Bischofsherrschaft und Stadtgemeinde, hg. von Frank Göttmann / Karl Hüser / Jörg Jarnut (1999) S. 120–196, hier S. 164. 21 Vgl. Friedrich Schröder, Die Geschichte der Paderborner Bischöfe von Rotho bis Heinrich von Werl (1036–112) Teil 2, Westfälische Zeitschrift 75/II (1917) S. 62–104, hier S. 96; zum Stand der Bildung im Paderborn des 11. und 12. Jahrhunderts vgl. Klemens Honselmann, Aus der Blütezeit der Paderborner Domschule, in: Von der Domschule zum Gymnasium

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Zwar war die Paderborner Domschule im 11. und 12. Jahrhundert durchaus bedeutend, aber warum sollte man am flandrischen Hof auf den Gedanken gekommen sein, Karl ausgerechnet nach Paderborn zu schicken? Als zweite Erklärung bieten sich verwandtschaftliche Bande an. Immerhin besaß Karl Beziehungen familiärer Art nach Sachsen: Seine Großmutter Gertrud, die Gemahlin Roberts I. von Flandern, gilt als Tochter Herzog Bernhards II. aus dem Hause der Billunger22. Die Billunger hatten zwar in der Paderborner Diözese auch einige Grafschaften inne, aber der Schwerpunkt ihrer Macht lag doch deutlich weiter östlich, rund um Lüneburg. So kann diese mutmaßliche Verwandtschaft Karls Anwesenheit in Paderborn ebenfalls nicht erklären. Zudem bleibt zu prüfen, ob die Annahmen über Gertruds Herkunft überhaupt zutreffen. Zweifelhaft erscheint dies vor allem, weil ihr Name im Nekrolog des billungischen Hausklosters in Lüneburg fehlt23. Wäre die an einem 4. August verstorbene Gertrud tatsächlich die Tochter Herzog Bernhards II. gewesen, so ist dieses Schweigen kaum zu erklären24. Weiter irritiert, dass sie in der sächsischen Geschichtsschreibung im Zusammenhang mit den Billungern nicht erwähnt wird. Zu nennen wäre hier etwa der an der Herzogsfamilie durchaus interessierte Adam von Bremen25. Auch das Schweigen des Annalista Saxo, dem immerhin eine andere Familienbeziehung zwischen den Billungern und den Grafen von

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Theodorianum in Paderborn hg. von dems. (Studien und Quellen zur westfälischen Geschichte 3, 1962) S. 51–64; Becher, Reichspolitik (wie Anm. 20) S. 170–173. Charles Verlinden, Robert Ier le Frison, comte de Flandre (1935) S. 27–39; Ruth Bork, Die Billunger. Mit Beiträgen zur Geschichte des deutsch-wendischen Grenzraumes im 10. und 11. Jahrhundert (1951) S. 170; Nicolas Huygehbaert, Gertrude de Saxe, Biographie nationale 39 (1976) Sp. 429; Erich H. P. Cordfunke, Gravinnen van Holland. Huwelijk en huwelijkspolitiek van de Graven uit het hollandse huis (1987) S. 45; vgl. auch die Stammtafeln bei Hans Joachim Freytag, Die Herrschaft der Billunger in Sachsen (Studien und Vorarbeiten zum Historischen Atlas Niedersachsens 20, 1951); Ernst Schubert, Geschichte Niedersachsens vom 9. bis zum ausgehenden 15. Jahrhundert, in: Geschichte Niedersachsens 2/1: Politik, Verfassung, Wirtschaft vom 9. bis zum ausgehenden 15. Jahrhundert, hg. von dems. (1997) S. 180. Die Totenbücher von Merseburg, Magdeburg und Lüneburg, hg. von Gerd Althoff / Joachim Wollasch (MGH Libri memoriales N.S. 2, 1983); vgl. die Zusammenstellung bei Nathalie Kruppa, Billunger und ihre Klöster, Concilium medii aevi 12 (2009) S. 1–41, hier S. 9, Anm. 34; die Vf.in selbst führt Gertrud allerdings als Tochter Herzog Bernhards II. auf, S. 8; grundlegend zur Gedenküberlieferung der Billunger Gerd Althoff, Adels- und Königsfamilien im Spiegel der Memorialüberlieferung. Studien zum Totengedenken der Billunger und Ottonen (Münstersche Mittelalter-Schriften 47, 1984). Necrologium Egmundense, hg. von Otto A. Oppermann, in: Fontes Egmundenses (1933) S. 107; vgl. Bork, Billunger (wie Anm. 22) S. 171. Zur Darstellung der Billunger bei Adam vgl. Florian Hartmann, Konstruierte Konflikte. Die sächsischen Herzöge in der Kirchengeschichte Adams von Bremen, in: Geschichtsbilder. Konstruktion – Reflexion – Transformation, hg. von Christian Klein / Peter F. Saeverin / Holger Südkamp (Europäische Geschichtsdarstellungen 7, 2005) S. 109–129.

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Flandern bekannt war, gibt zu denken26. Schließlich ist noch anzumerken, dass Gertrud recht nahe mit ihrem Gemahl Robert von Flandern verwandt gewesen wäre. Dieser war über seine Ururgroßmutter ein Nachfahre Hermann Billungs, während Gertrud dessen Urenkelin gewesen sein soll. Beide wären also im 3. bzw. 5. Grad miteinander verwandt gewesen – nach kanonischem Recht ein Ehehindernis. Soweit wir wissen, hat aber keiner der zahlreichen Feinde Roberts diesen Vorwurf erhoben. Die flandrischen Quellen äußern sich über Gertruds Herkunft nur sehr unbestimmt. Die Lebensbeschreibung ihres Enkels Karl bezeichnet sie lediglich als clara Saxonum stirpe progenita27. Nach einer vor 1111 in St. Bertin aufgezeichneten Genealogie der flandrischen Grafen war Gertrud die Tochter Bernhardi Saxonum comitis28. Schon der Editor dieser Quelle, Ludwig Bethmann, bezog diese Angabe auf Herzog Bernhard von Sachsen, obwohl »nur« von einem Grafen die Rede ist. Eindeutiger im billungischen Sinne scheint auf den ersten Blick Lambert von St. Omer zu sein. Um 1120 bezeichnete er Gertrud in seinem Liber Floridus als filia Bernardi ducis Saxonum29. Davon hängt vermutlich die Flandria generosa aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts ab, in der Gertrud ebenfalls als Tochter des Sachsenherzogs Bernhard angesprochen wurde30. Lambert fußt jedoch seinerseits deutlich auf der Genealogia Bertiniana, die Gertrud einfach nur als Tochter eines sächsischen Grafen anspricht. Gertrud war in erster Ehe mit dem Grafen Florentius I. von Holland bzw. von Westfriesland verheiratet, der 1061 ermordet wurde. Erst 1063 heiratete sie Robert, den jüngeren Sohn des Grafen Balduin V. von Flandern. Robert übte zunächst für Gertruds minderjährigen Sohn Dietrich die Regentschaft über Westfriesland aus, weswegen er den Beinamen ›der Friese‹ erhielt31. Nach dem Tod seines älteren Bruders Balduin VI. 1070 erhob Robert Anspruch auf Flandern. Im folgenden Jahr besiegte er seinen Neffen Arnulf III., der im Kampf fiel, und übernahm die Herrschaft in Flandern32. Im Zusammenhang mit diesen 26 Annalista Saxo a. 1002, 1037, hg. von Klaus Nass (MGH SS 37, 2006) S. 283f., S. 375; vgl. Klaus Nass, Die Reichschronik des Annalista Saxo und die sächsische Geschichtsschreibung im 12. Jahrhundert (Schriften der MGH 41, 1996) S. 285. 27 Walter von Th8rouanne, Vita Karoli comitis (wie Anm. 12) c. 2, S. 540. 28 Genealogia comitum Flandriae Bertiniana Cod. 1, hg. von Ludwig Bethmann (MGH SS 9, 1851) S. 306; vgl. Hans Patze, Adel und Stifterchronik. Frühformen territorialer Geschichtsschreibung im hochmittelalterlichen Reich, Blätter für deutsche Landesgeschichte 100 (1964) S. 8–81, hier S. 18, ND in: Ausgewählte Aufsätze von Hans Patze, hg. von Peter Johanek / Ernst Schubert / Matthias Werner (VuF 50, 2002) S. 109–249, hier S. 120. 29 Lamberti genealogia comitum Flandriae, hg. von Ludwig Bethmann (MGH SS 9, 1851) c. 3, S. 309; vgl. Christian Hünemörder, Lambert v. St. Omer, in: Lex.MA 5 (1991) Sp. 1626. 30 Flandria generosa, hg. von Ludwig Bethmann (MGH SS 9, 1851) c. 16, S. 321. 31 L8on Vanderkindere, La formation territoriale des principaut8s belges au moyen .ge (1899) S. 127, S. 304. 32 Ganshof, La Flandre (wie Anm. 13) S. 48f.; Verlinden, Robert (wie Anm. 22) S. 14,

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Kämpfen meldet die Flandria generosa, Robert der Friese habe sich nach einem ersten, erfolglosen Einfall in Flandern consilio soceris sui Bernardi ducis Saxonum nach Friesland zurückgezogen33. Auf den ersten Blick scheint diese Nachricht Gertrud den Billungern zuzuweisen, weil ihr Vater Bernhard als Herzog bezeichnet wird. Allerdings war Herzog Bernhard II. von Sachsen damals schon längst – nämlich 1059 – verstorben. Dies veranlasste etwa Charles Verlinden, die gesamte Nachricht als unglaubwürdig abzulehnen34. Zu bedenken ist aber, dass es in Sachsen zu dieser Zeit noch einen weiteren mächtigen Adligen namens Bernhard gab, den Grafen Bernhard III. von Werl. Dieser war zum fraglichen Zeitpunkt noch am Leben und gehörte auf Grund seiner verwandtschaftlichen Nähe zum salischen Herrscherhaus – er war ein Vetter Heinrichs IV. – zu den ersten Adligen im Reich35. Für ihn würde auch die räumliche Nähe seines Herrschaftsschwerpunktes in Westfalen zu Flandern sprechen, weshalb ihm ein unmittelbares Eingreifen zu Gunsten seines Schwiegersohnes leichter möglich gewesen sein dürfte als den Billungern vom östlichen Sachsen aus. Eine andere Quelle spricht Gertrud noch deutlicher als Angehörige der Werler Grafenfamilie an. Dem Anhang VI der Sächsischen Weltchronik (Rezension C), einer niederdeutschen Genealogie der Grafen von Flandern, zufolge war sie eine Schwester Bischof Heinrichs von Paderborn und des Grafen Konrad von Werl-Arnsberg: Gerdruth aver (…), de wedewe Florencii des Vresen, de Roberte den jungen gewunnen hadde unde sinen broder Philippum, du was suster bischop Heinrikes von Palborne unde greven Conrades; de waren vedderen greven Vrederikes van Arnesberge36. Dieser Text wurde vermutlich zwischen 1133 und 1168 verfasst und basiert auf der in St. Bertin entstandenen Genealogie der Grafen von Flandern37. Mehr lässt sich über diese Quelle leider nicht sagen, doch hat ihr Autor die wenig präzise Angabe der Vorlage, Gertruds Vater sei der comes Saxonum Bernhard gewesen, nicht auf Herzog Bernhard II. bezogen, sondern auf den Grafen Bernhard III. von Werl, den Vater der im Anhang VI der Sächsischen Weltchronik erwähnten Geschwister, also der Gräfin Gertrud, des Bischofs Heinrich von Paderborn und des Grafen Konrad.

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S. 29ff., bes. S. 36f.; vgl. auch Walter Mohr, Richilde vom Hennegau und Robert der Friese. Thesen zu einer Neubewertung der Quellen, Revue belge de philologie et d’histoire 58 (1980) S. 777–796 und Revue belge de philologie et d’histoire 59 (1981) S. 265–291. Flandria generosa (wie Anm. 30) c. 17, S. 322. Verlinden, Robert (wie Anm. 22) S. 53. Graf Bernhard ist zumindest bis 1066, möglicherweise sogar bis 1069 bezeugt, zu ihm vgl. Paul Leidinger, Untersuchungen zur Geschichte der Grafen von Werl. Ein Beitrag zur Geschichte des Hochmittelalters (Studien und Quellen zur westfälischen Geschichte 5, 1965) S. 109ff.; Ders., Grafen (wie Anm. 19) S. 140ff. Sächsische Weltchronik, hg. von Ludwig Weiland (MGH Deutsche Chroniken 2, 1877), Anhang VI, S. 277. Nass, Annalista Saxo (wie Anm. 26) S. 285f.

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Da aber in der Genealogie aus St. Bertin lediglich von einem Grafen Bernhard die Rede gewesen war, hat auch schon ihr Verfasser vermutlich diesen Werler Grafen gemeint, den Vater Bischof Heinrichs von Paderborn und Graf Konrads II. von Werl. Gertrud kann also mit größerer Wahrscheinlichkeit dem Werler Grafenhaus zugeordnet werden. Mit diesem Ergebnis ist zunächst einmal der Aufenthalt des jungen Karl des Guten in Paderborn im Jahr 1103 erklärt: Er besuchte damals seinen Großonkel, Heinrich II. von Paderborn, und bezeugte bei dieser Gelegenheit eine Rechtshandlung des Bischofs. Wichtiger ist aber, dass Karl der Gute als Thronkandidat Erzbischof Friedrichs von Köln und anderer Fürsten im Jahr 1125 in einem ganz anderen genealogischen Zusammenhang stand als bisher angenommen: Karl stammte über seine Großmutter Gertrud nicht etwa von den längst ausgestorbenen Billungern ab, sondern von den Grafen von Werl, die in den Kämpfen zwischen Heinrich V. und oppositionellen Fürsten eine nicht unwichtige Rolle gespielt hatten. Es wird also in einem zweiten Schritt zu prüfen sein, wie die Grafen von Werl sich in den Auseinandersetzungen mit Heinrich positioniert hatten, um die Kandidatur Karls des Guten 1125 noch besser einordnen zu können.

Die Grafen von Werl und die Auseinandersetzungen Heinrichs V. mit den oppositionellen Fürsten Heinrich V. stand bei seiner Kaiserkrönung im Jahr 1111 im Zenit seiner Macht. Allerdings hatte sein Versuch, den Konflikt mit dem Papst auf Kosten der Reichsbischöfe zu lösen, Misstrauen gesät. Danach, so hat Jürgen Dendorfer jüngst gezeigt, gelang es dem Kaiser immer seltener, »die Großen des Reiches zu integrieren«38. Hatte er bis dahin darauf geachtet, im Konsens mit den Fürsten zu herrschen, so häuften sich in den Jahren zwischen 1112 und 1114 die Konflikte zwischen ihm und einzelnen Großen39. Schon zu Beginn des Jahres 1112 kam es zu einer schweren Auseinandersetzung mit Markgraf Rudolf von Stade und Herzog Lothar von Sachsen. Der Kaiser konnte die beiden dank der Unterstützung durch eine große Mehrheit der Fürsten rasch zu einer Unterwerfung zwingen. Der 1112 ausbrechende Streit um das Erbe der Grafen von WeimarOrlamünde aber brachte die meisten sächsischen Großen gegen den Kaiser auf. Dieser reagierte ausschließlich mit Waffengewalt und ließ die Güter seiner 38 Dendorfer, Heinrich V. (wie Anm. 1) S. 141. 39 Vgl. hierzu und zum Folgenden Dendorfer, Heinrich V. (wie Anm. 1) S. 141ff.; Jutta Schlick, König, Fürsten und Reich (1056–1159). Herrschaftsverständnis im Wandel (Mittelalter-Forschungen 7, 2001) S. 68–81.

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Gegner verwüsten und eine ihrer Versammlungen gewaltsam zerstreuen. Nur gegen erhebliche Zugeständnisse gewährte er ihnen Verzeihung. Damals ließ Heinrich V. auch seinen Kanzler, Erzbischof Adalbert von Mainz, gefangen setzen, angeblich weil er sich gegen ihn verschworen hatte40. Selbst seine 1114 in Mainz prachtvoll gefeierte Hochzeit mit Mathilde von England nutzte der Kaiser, um gegen angebliche oder tatsächliche Gegner vorzugehen. Ludwig von Thüringen wurde festgenommen, und Lothar von Sachsen musste sich barfuß und im Büßergewand erneut unterwerfen. In Mainz wurde noch für das gleiche Jahr ein Feldzug gegen die Friesen beschlossen, in dessen Vorfeld Heinrich sich aber auch noch mit Erzbischof Friedrich von Köln überwarf41. Am Niederrhein konnte sich der Kaiser militärisch jedoch nicht durchsetzen, was wohl auch die Sachsen dazu veranlasste, sich unter der Führung Herzog Lothars erneut zu erheben. Die Gründe für diese Entwicklung hat Dendorfer jüngst sorgfältig eruiert. Wie aber verhielten sich damals die Grafen von Werl? Sie waren zu dieser Zeit das bedeutendste westfälische Adelsgeschlecht und hatten im Streit zwischen regnum und sacerdotium bis dahin stets auf kaiserlicher Seite gestanden. Ein zentraler Bezugspunkt ihrer Politik war außerdem der Erzbischof von Köln, weil der Schwerpunkt ihrer Besitzungen in der Erzdiözese lag. Die daraus resultierende Konkurrenzsituation führte immer wieder zu Spannungen, aber es gab durchaus auch Zeiten guter Beziehungen. An der Spitze der Familie standen damals zwei Brüder, die Grafen Friedrich der Streitbare von Arnsberg und Heinrich von Rietberg42. Entgegen der Tradition ihrer Familie beteiligten auch sie sich am Kampf gegen Heinrich V. und taten sich dabei sogar besonders hervor43. Gegen den Arnsberger und den Erzbischof von Köln richteten sich daher auch die militärischen Kraftanstrengungen des Kaisers, bis sich die ostsächsischen Fürsten unter der Führung Herzog Lothars ebenfalls dem Aufstand anschlossen. Am 11. Februar 1115 kam es am Welfesholz bei Eisleben zu einer offenen Feldschlacht, bei der Heinrich V. vernichtend geschlagen wurde44. Das 40 Zu den Gründen vgl. etwa Christoph Waldecker, Zwischen Kaiser, Kurie, Klerus und kämpferischen Laien. Die Mainzer Erzbischöfe im Zeitraum 1100 bis 1160 (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte 101, 2002) S. 51ff. 41 Vgl. dazu auch Christian Hillen, Zum Friesenzug Heinrichs V. von 1114, HJb 120 (2000) S. 284–290. 42 Zu ihnen, vor allem zu Friedrich von Arnsberg, vgl. Leidinger, Grafen (wie Anm. 19) S. 157ff.; Diana Zunker, Adel in Westfalen. Strukturen und Konzepte von Herrschaft (1106–1235) (Historische Studien 472, 2003) S. 306–313. 43 Annales Patherbrunnenses, hg. von Paul Scheffer-Boichorst (1870) ad 1114, S. 127f.; zu dieser Quelle vgl. Franz-Josef Schmale, »Paderborner« oder »Korveyer« Annalen, DA 30 (1974) S. 505–526. 44 Zu dessen Vorgeschichte und Folgen vgl. Schubert, Geschichte Niedersachsens (wie Anm. 22) S. 352ff.

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westfälische Aufgebot wurde unter anderem von den Brüdern Friedrich von Arnsberg und Heinrich von Rietberg angeführt45. Ihr Onkel, Bischof Heinrich von Paderborn, wechselte allerdings erst nach 1116 die Seiten46. Nach der Niederlage am Welfesholz verlor der Kaiser sämtliche Stützpunkte in Norddeutschland zwischen Ostsachsen und dem Niederrhein. Im November musste er sogar eine Reichsversammlung in Mainz absagen, weil die Bürger der Stadt sich gegen ihn erhoben hatten und ihn schließlich dazu zwangen, ihren Erzbischof Adalbert freizulassen. Dieser suchte sogleich ein enges Bündnis mit Friedrich von Köln und den norddeutschen Fürsten mit Lothar an der Spitze. Angesichts dieser machtvollen Opposition zog es Heinrich V. vor, 1116 nach Italien zu ziehen, um das Erbe der Markgräfin Mathilde an sich zu bringen. Die Verteidigung seiner nordalpinen Interessen überließ er seinem Neffen Herzog Friedrich II. von Schwaben. Aber auch in Italien und vor allem gegenüber der Kurie konnte sich Heinrich V. nicht recht durchsetzen. Als nördlich der Alpen die oppositionellen Fürsten in Würzburg eine allgemeine Versammlung abhalten wollten, auf der sie den Kaiser zur Verantwortung zu ziehen und gegebenenfalls sogar abzusetzen gedachten, kehrte dieser im Herbst 1118 überstürzt nach Deutschland zurück. Damit konnte er diese Versammlung verhindern. Außerdem begann er von Lothringen aus, um die Fürsten zu werben47. Im Falle Friedrichs von Arnsberg hatte er Erfolg: In den folgenden Jahren stand der Graf wieder fest auf Seiten des Kaisers48. Warum hat Friedrich der Streitbare so rasch erneut die Fronten gewechselt? Dies hing mit der immer dominanter werdenden Position Herzog Lothars in Sachsen zusammen. Gleich nach seinem Sieg am Welfesholz erschien er zusammen mit seinen Verbündeten – unter ihnen die Brüder Friedrich der Streitbare und Heinrich von Rietberg – in Westfalen, eroberte das kaiserliche Dortmund und belagerte die Stadt Münster, deren Bürger schließlich auf seine Seite übergingen. Im Jahr 1116 gelang es ihm, den kaisertreuen Bischof Mazo von Verden abzusetzen und mit Thietmar einen Kandidaten seiner Wahl zu dessen Nachfolger zu erheben49. Entsprechendes glückte ihm auch in Münster : Nach45 Annales Patherbrunnenses (wie Anm. 43) ad 1115, S. 129; vgl. Albert K. Hömberg, Westfalen und das sächsische Herzogtum (Schriften der Historischen Kommission Westfalens 5, 1963) S. 30f. 46 Noch 1116 befand er sich während der Auseinandersetzungen um Worms im Heer Herzog Friedrichs II. von Schwaben, Annales Patherbrunnenses (wie Anm. 43) ad 1116, S. 132. 47 Anselm von Gembloux, Continuatio Sigeberti Chronica, hg. von Ludwig Bethmann (MGH SS 6, 1854) ad 1118, S. 377. 48 Vgl. Leidinger, Grafen (wie Anm. 19) S. 163ff. 49 Annales Patherbrunnenses (wie Anm. 43) ad 1116, S. 132f.; vgl. Schröder, Geschichte 2 (wie Anm. 21) S. 90f.; Marie-Luise Crone, Untersuchungen zur Reichskirchenpolitik Lothars III. (1125–1137) zwischen reichskirchlicher Tradition und Reformkurie (1982) S. 31, S. 33; Meier, Bischöfe (wie Anm. 19) S. 119.

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dem 1118 Bischof Burchard verstorben war, machte Lothar seinen Verwandten Dietrich von Winzenburg zu dessen Nachfolger. Friedrich der Streitbare, der seine Stellung im Bistum Münster ebenfalls ausbauen wollte, hatte das Nachsehen50. Dabei kam Lothar zugute, dass in den Jahren 1116 und 1117 Otto II. von Northeim, Gertrud von Haldensleben und Gertrud von Braunschweig starben, deren Erbe er ganz oder wenigstens teilweise an sich bringen konnte. Das Northeimer Erbe stärkte Lothars Stellung in der Diözese Paderborn. Auch dies brachte ihn in einen Gegensatz zu Friedrich von Arnsberg, der 1115 die Nachfolge seines verstorbenen Bruders Heinrich als Vogt des Paderborner Hochstifts angetreten hatte. Lothar erschien im Jahr 1118 möglicherweise sogar persönlich vor Paderborn51. Ansonsten überließ er die Vertretung seiner Interessen seinem treuen Gefolgsmann Widukind von Schwalenberg. Weitere Anhänger Lothars in der Paderborner Diözese waren die Grafen von Calvelage-Ravensberg und von Schaumburg. Friedrich der Streitbare scheint die von Lothar und dessen Gefolgsleuten ausgehende Gefahr erkannt zu haben und hat sich vermutlich daher Heinrich V. wieder angenähert. Im Jahr 1119 unterstützte er in Osnabrück den kaiserlichen Bischofskandidaten, der sich aber nicht durchsetzen konnte52. Als der Kaiser im gleichen Jahr in dem von seinem Bischof verlassenen Münster das Weihnachtsfest feierte, war Friedrich von Arnsberg bei ihm. Anschließend führte der Graf das kaiserliche Heer bis nach Goslar53. Lothar und andere sächsische Fürsten versöhnten sich dort mit dem Kaiser, was den Herzog aber nicht daran hinderte, kurz darauf gegen Friedrich den Streitbaren vorzugehen. Noch im gleichen Jahr 1120 verlor dieser die Burg Rüdenberg, die ältere Burg in Arnsberg,

50 Vgl. Heinz Stoob, Westfalen und Niederlothringen in der Politik Lothars III., in: Tradition als historische Kraft. Interdisziplinäre Forschungen zur Geschichte des früheren Mittelalters, hg. von Norbert Kamp / Joachim Wollasch (1982) S. 350–371, hier S. 359ff.; Meier, Bischöfe (wie Anm. 19) S. 117f. 51 Additamenta zum Westfälischen Urkunden-Buch, hg. von Roger Wilmans (1877, ND 1973) Nr. 30, S. 32; Honselmann, Fälschungen (wie Anm. 16) Nr. 12, S. 338; vgl. Herbert W. Vogt, Das Herzogtum Lothars von Süpplingenburg 1106–1125 (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens 57, 1959) S. 112ff., S. 161; Joseph Prinz, Das hohe Mittelalter vom Vertrag von Verdun (843) bis zur Schlacht von Worringen (1288), in: Westfälische Geschichte 1: Von den Anfängen bis zum Ende des alten Reiches, hg. von Wilhelm Kohl (1983) S. 337–399, hier S. 367; Meier, Bischöfe (wie Anm. 19) S. 117; vorsichtiger Böhmer / Petke, Regesten (wie Anm. 2) Nr. 38. 52 Vgl. dazu Angelika Spicker-Wendt / Hartmut Kluger, Osnabrugensis eccl. (Osnabrück), in: Series episcoporum ecclesiae catholicae occidentalis V/1: Archiepiscopatus Coloniensis, hg. von Odilo Engels / Stefan Weinfurter (1982) S. 159f. mit Anm. 320. 53 Ekkehard, Chronicon ad 1120, hg. von Georg Waitz (MGH SS 6, 1893) S. 255; Ekkehard, Chronicon, Recensio IV ad 1120, hg. von Franz-Josef Schmale, in: Frutolfs und Ekkehards Chroniken und die anonyme Kaiserchronik, hg. von Dems. / Irene Schmale-Ott (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 15, 1972) S. 344.

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an ungenannte Feinde, zu denen vermutlich auch Lothar zu zählen ist54. Diesem war es immerhin gelungen, die Brüder Gottfried und Otto von Cappenberg auf seine Seite zu ziehen, was umso bemerkenswerter ist, als Gottfried mit Ida, der Erbtochter Friedrichs von Arnsberg, verheiratet war. Im Jahr darauf eroberte Herzog Lothar das kaiserlich gesinnte Münster, das in Flammen aufging55. Nur in der Diözese Paderborn konnte sich Friedrich der Streitbare anscheinend noch sicher fühlen, zumal auch sein Onkel Bischof Heinrich um 1119 wieder zur kaiserlichen Partei übergegangen war56. Als aber Friedrich von Arnsberg am 11. Februar 1124 verstarb, geriet die Werler Grafenfamilie in eine tiefe Krise. Friedrichs Schwiegersohn Gottfried von Cappenberg war schon vorher aus Reue über die Behandlung der Stadt Münster dem neuen Orden der Prämonstratenser beigetreten und hatte auch seine Gemahlin zu diesem Schritt veranlasst57. Es gab also niemanden mehr, der die Familie fortführen konnte. Erst nach Gottfrieds Tod 1127 verließ Ida das Kloster wieder, um kurz darauf den niederländischen Grafen Gottfried von Cuyk zu heiraten. Mit ihm begründete sie das jüngere Arnsberger Grafenhaus. Lothar von Sachsen stieß sofort in das durch den Tod Friedrichs des Streitbaren entstandene Vakuum hinein. Auf seinen Befehl hin wurden die Burgen Rietberg und Wewelsburg zerstört, da sich in ihnen noch Anhänger des Arnsbergers aufhielten58. Vor allem erreichte er, dass die Vogtei über das Paderborner Hochstift an Widukind von Schwalenberg überging59. Bis hierher seien die Gegensätze zwischen den Grafen von Werl und Lothar 54 Annales Patherbrunnenses (wie Anm. 43) ad 1120, S. 139: Castellum comitis Fritherici Rudenberg quidam ex hostibus eius ex insidiis occupant; Chron. Regia Coloniens. Rez. I ad 1120, hg. von Georg Waitz (MGH SS rer. Germ. 18, 1880) S. 59; vgl. Vogt, Herzogtum (wie Anm. 51) S. 24, S. 161; Joseph Prinz, Der Zerfall Engerns und die Schlacht am Welfesholze, in: Ostwestfälisch-weserländische Forschungen zur Geschichtlichen Landeskunde, hg. von Heinz Stoob (1970) S. 75–112, hier S. 104; Stoob, Westfalen (wie Anm. 50) S. 362; Meier, Bischöfe (wie Anm. 19) S. 124. 55 Vgl. Manfred Balzer, Die Stadtwerdung. Entwicklungen und Wandlungen vom 9. bis 12. Jahrhundert, in: Geschichte der Stadt Münster 1, hg. von Franz-Josef Jakobi (1993) S. 53–89, hier S. 70f. 56 Meier, Bischöfe (wie Anm. 19) S. 121. 57 Vgl. Prinz, Zerfall (wie Anm. 54) S. 104ff.; Ders., Das hohe Mittelalter (wie Anm. 51) S. 367ff.; Meier, Bischöfe (wie Anm. 19) S. 124f., S. 127; Andreas Leistikow, Die Geschichte der Grafen von Cappenberg und ihrer Stiftsgründungen Cappenberg, Varlar und Ilbenstadt (2000) S. 24ff.; Wolfgang Bockhorst, Die Grafen von Cappenberg und die Anfänge des Stifts Cappenberg, in: Studien zum Prämonstratenserorden, hg. von Irene Crusius / Helmut Flachenecker (Studien zur Germania Sacra 25, 2003) S. 57–74; Leidinger, Grafen (wie Anm. 19) S. 16ff.; Edeltraud Balzer, Adel – Kirche – Stiftung. Studien zur Geschichte des Bistums Münster im 11. Jahrhundert (Westfalia Sacra 15, 2006) S. 187ff. 58 Annales Patherbrunnenses (wie Anm. 43) ad 1124, S. 145f.; vgl. Stoob, Westfalen (wie Anm. 50) S. 364. 59 Vgl. Friedhelm Forwick, Die staatsrechtliche Stellung der ehemaligen Grafen von Schwalenberg (Geschichtliche Arbeiten zur westfälischen Landesforschung 5, 1963) S. 38f.; Meier, Bischöfe (wie Anm. 19) S. 127.

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von Sachsen skizziert. Man kann sich gut vorstellen, dass Karl der Gute aus seiner sicheren Position in Flandern diese Kämpfe mit besonderem Interesse verfolgte und dabei durchaus mit seinen Verwandten sympathisierte. Er war daher vermutlich kein Freund Lothars von Sachsen und wäre als König dessen Ambitionen entgegengetreten. Dies wiederum hätte den Interessen des Kölner Erzbischofs entsprochen, der in Westfalen eigene Ziele verfolgte – auch in der Diözese Paderborn. Dort hatte er 1120 das Kloster Flechtdorf erworben und der Siegburger Reform angeschlossen. Aber auch seine Einstellung zu Heinrich V. und zu Lothar von Sachsen entsprach in etwa der Haltung Friedrichs von Arnsberg. Seit dem Jahr 1119 näherte sich Erzbischof Friedrich dem Kaiser wieder an und versuchte, zwischen diesem und den Fürsten zu vermitteln60. Anfang 1120 erklärte er in Goslar seine grundsätzliche Loyalität gegenüber dem Kaiser und stand anders als etwa Lothar auch zu seinem Wort. Der Kölner Erzbischof hielt sich von da an mehrfach in der Umgebung des Saliers auf. Er hat das Wormser Konkordat von 1122 nicht nur als zweiter nach dem Mainzer Erzbischof unterschrieben, sondern hat es als Erzkanzler auch möglicherweise eigenhändig rekognosziert61. Auch danach scheint sein Verhältnis zu Heinrich V. vergleichsweise gut geblieben zu sein.

Zusammenfassung und Ausblick Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht verwunderlich, dass sich Erzbischof Friedrich von Köln nach dem Tod Heinrichs V. um ein Gegengewicht zu Lothar von Sachsen bemühte. Dies war umso wichtiger, falls dieser tatsächlich schon unmittelbar nach dem Tod Heinrichs V. als aussichtsreichster Thronkandidat galt62, auch wenn er nicht, wie lange Zeit von der Forschung angenommen, von 60 Vgl. Rudolf Schieffer, Die Zeit der späten Salier (1056–1125), in: Rheinische Geschichte 1/3: Hohes Mittelalter, hg. von Franz Petri / Georg Droege (1983) S. 121–198, hier S. 144ff.; Ders., Erzbischöfe und Bischofskirche von Köln, in: Die Salier und das Reich 2: Die Reichskirche in der Salierzeit, hg. von Stefan Weinfurter (1991) S. 1–29, hier S. 27ff.; Franz-Reiner Erkens, Die Kölner Kirche und das Reich in der Regierungszeit Lothars von Supplinburg, in: Köln. Stadt und Bistum in Kirche und Reich des Mittelalters. Festschrift für Odilo Engels zum 65. Geburtstag, hg. von Hanna Vollrath / Stefan Weinfurter (Kölner Historische Abhandlungen 39, 1993) S. 283–321, hier S. 291f. 61 MGH Constitutiones I, Nr. 107, hg. von Ludwig Weiland (1893) S. 159f.; vgl. Erkens, Kölner Kirche (wie Anm. 59) S. 292. 62 Zu möglichen Sondierungen vor der Wahl allgemein vgl. Ulrich Schmidt, Königswahl und Thronfolge im 12. Jahrhundert (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Reg. Imp. 7, 1987) S. 46; nach der Kaiserchronik eines anonymen Regensburger Geistlichen, hg. von Edward Schröder (MGH Deutsche Chroniken 1, 1895) v. 16 traten einige geistliche Große, darunter wohl auch Adalbert von Mainz, schon im Vorfeld an Lothar heran; vgl. Bernhardi, Jahrbücher (wie Anm. 3) S. 21f.; Reuling, Kur

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Adalbert von Mainz favorisiert wurde63. Für den Kölner Erzbischof bot Karl der Gute einige Vorteile: Der Graf verfügte über familiäre Beziehungen zu den Grafen von Werl, die unter Lothar besonders gelitten hatten. Daher konnte Friedrich hoffen, dass Karl als König die Feindschaft seiner Verwandten mit Lothar fortführen würde. Aber der Erzbischof dachte bei seinen Überlegungen nicht nur an Westfalen, sondern auch an Niederlothringen. Denn Lothar beherrschte nicht nur das Herzogtum Sachsen, sondern er verfügte auch im Westen des Reiches über großen Einfluss. Sein Stiefvater Dietrich II. war Herzog von Oberlothringen, 1115 gefolgt von dessen Sohn und Lothars Halbbruder Simon. Dietrichs Tochter, Lothars Halbschwester Gertrud/Petronilla, heiratete 1113 Florentius II. von Holland und führte seit 1122 die Regentschaft für ihren minderjährigen Sohn Dietrich VI. Lothars Schwägerin Gertrud von Northeim war mit dem Grafen Otto von Rheineck verheiratet, und ihr Sohn aus erster Ehe, Wilhelm von Ballenstedt, beanspruchte die Pfalzgrafschaft bei Rhein64. Auch diese Konstellation mag aus Sicht des Kölner Erzbischofs für den Grafen von Flandern als Thronkandidaten gesprochen haben, da dieser sich ebenso wie er selbst von Lothars Dominanz bedroht fühlen musste. Aber weder dies noch Karls mutmaßliches Interesse an Westfalen und am Schicksal des Erbes der Grafen von Werl konnten ihn zu einem Engagement im Reich bewegen: Er verzichtete auf die Thronkandidatur, bot dem neuen König aber erst Anfang Januar 1127 seine Huldigung an65. Nachdem Karl der Gute abgelehnt hatte, als Thronkandidat anzutreten, scheint Friedrich die Wahl Lothars mitgetragen zu haben. Außerdem setzte er ihm in Aachen die Krone aufs Haupt. Dennoch blieb sein Verhältnis zum neuen König sehr gespannt66. Nur selten hielt er sich an dessen Hof auf, und mehr noch: Zweimal besuchte Lothar Köln, um das Weihnachtsfest zu feiern, und beide Male verließ der Erzbischof vorher seine Bischofsstadt. Entweder konnte er sich nicht mit dem neuen Herrscher abfinden oder dieser konnte Friedrich dessen Ein-

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(wie Anm. 9) S. 146; Nonn, Geblütsrecht (wie Anm. 8) S. 150f.; laut Böhmer / Petke, Regesten (wie Anm. 2) Nr. †91, ist diese Nachricht jedoch eine spätere Fiktion. So etwa noch Stoob, Königswahl (wie Anm. 7) S. 454; gegen eine entschiedene Parteinahme Adalberts für Lothar haben Lothar Speer, Kaiser Lothar III. und Erzbischof Adalbert I. von Mainz. Eine Untersuchung zur Geschichte des deutschen Reiches im frühen 12. Jahrhundert (Dissertationen zur mittelalterlichen Geschichte 3, 1983) hier S. 59ff., S. 81ff., und Ludwig Vones, Der gescheiterte Königsmacher. Erzbischof Adalbert I. von Mainz und die Wahl von 1125, HJb 115 (1995) S. 85–124, hier S. 100ff., allerdings bedenkenswerte Einwände vorgebracht; vgl. auch Petke, Kanzlei (wie Anm. 7) S. 272; Böhmer / Petke, Regesten (wie Anm. 2) Nr. 92. Vgl. Stoob, Westfalen (wie Anm. 50) S. 352f., S. 358; zu den genannten Personen vgl. auch Petke, Kanzlei (wie Anm. 7) S. 252f., S. 379–389. Böhmer / Petke, Regesten (wie Anm. 2) Nr. 136. Crone, Reichskirchenpolitik (wie Anm. 49) S. 52ff.; Erkens, Kölner Kirche (wie Anm. 60) S. 293f.

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treten für einen anderen Thronkandidaten nicht verzeihen. Dagegen gelang es Lothar, seinen Einfluss weiter auszudehnen, schließlich sogar bis nach Flandern. Bereits 1127 wurde Karl der Gute von seinen flandrischen Feinden ermordet. Dietrich von Elsaß, der Halbbruder Simons von Oberlothringen, erhob Ansprüche auf die Nachfolge, unterstützt von Lothars Halbschwester Petronilla von Holland und daher wohl auch vom König selbst67. Dank französischer Hilfe vermochte sich zwar zunächst sein Konkurrent Wilhelm Clito durchzusetzen, als dieser aber schon 1128 im Kampf fiel, konnte Dietrich die Herrschaft über Flandern antreten. Am Ende waren die politischen Bande zwischen dem Reich und Flandern doch gestärkt, aber ganz anders als Erzbischof Friedrich dies einige Jahre zuvor geplant hatte.

67 Böhmer / Petke, Regesten (wie Anm. 2) Nr. 161; vgl. auch Berg, England (wie Anm. 7) S. 329f.

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Dynastie, Thronfolge und Staatsverständnis im Frankenreich

Die lange Herrschaft von Dynastien ist nur scheinbar ein untrüglicher Beweis für die Dominanz privatrechtlicher Vorstellungen bei der Ordnung von Gemeinwesen: Demnach werde die Position des Königs vererbt, gerade so, wie der Privatmann sein Eigentum vererbt. Doch dies ist ein Irrtum, denn sonst müssten Monarchien unter mehrere Königskinder geteilt oder diese zumindest sämtlich zu Königen erhoben werden. Vielmehr gilt für Monarchien in aller Regel nicht das Privatrecht, sondern eine Thronfolge, die – im einfachsten Fall – besagt, dass der älteste Sohn zur Nachfolge berufen ist, es gilt also die Primogenitur. Mit anderen Worten, die Thronfolge weist in diesem Zusammenhang auf ein zumindest rudimentär vorhandenes Bewusstsein hin, dass es sich bei einem Gemeinwesen bzw. Staat um etwas grundsätzlich anderes handelt als um privaten Besitz. Betrachtet man die Geschichte der Monarchien, so herrschte eigentlich fast immer die Individualsukzession vor. Dies gilt auch für das römische Imperium seit Augustus, bei dem allerdings in der Spätantike die Tendenz aufkam, es angesichts der gewaltigen Aufgaben und Herausforderungen der Zeit zu teilen. Für ein privatrechtliches Denken wäre die Tetrarchie indessen sicherlich kein gutes Beispiel, weil das Verwandtschaftsverhältnis der Imperatoren und Cäsaren künstlich durch Adoption begründet und das Reich erst später unter verschiedene Kaiser aus einer Familie geteilt wurde. Insgesamt jedoch konnten sich weder in Ost- noch in West-Rom Dynastien dauerhaft etablieren. Ganz anders erscheint uns der wichtigste Erbe Roms im Westen, das frühmittelalterliche Frankenreich der Merowinger und Karolinger, mit seinem angeblich einzigartigen und stets angewandten Teilungsbrauch.1 Zu dessen ErErstdruck in: Der frühmittelalterliche Staat – europäische Perspektiven, hg. von Walter Pohl – Veronika Wieser (Denkschriften der philosophisch-historischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 386 = Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 16), Wien 2009, S. 183–199. 1 Vgl. Franz-Reiner Erkens, Divisio legitima und unitas imperii. Teilungspraxis und Einheitsstreben bei der Thronfolge im Frankenreich, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 52 (1996) 423–485; die neueste Auseinandersetzung mit dem Phänomen stammt

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klärung hat die ältere Forschung auf die Lehre vom sogenannten germanischen Königsheil zurückgegriffen:2 Eine sakrale Aura – begründet zunächst durch die Abstammung von heidnischen Göttern und dann durch die kirchliche Legitimierung – habe diese Dynastien umgeben. Daher habe die Königsherrschaft als selbstverständliches Vorrecht der beiden Dynastien gegolten. Dabei blieb im engeren Bezugsfeld unseres Themas außer Acht, dass dies allenfalls für die erste Königsfamilie der Franken, die Merowinger, nicht aber für die Karolinger gelten konnte und dass die Dynastien anderer germanischer Völker viel seltener (wenn überhaupt) geteilt haben und auch längst nicht so lange wie Merowinger und Karolinger regierten, sondern zum Teil schon nach einer oder zwei Generationen abgelöst wurden.3 Aus diesen und anderen Gründen ist das Konzept des ›germanischen‹ Sakralkönigtums in jüngster Zeit verstärkt in die Kritik geraten.4 So weist keiner der überlieferten volkssprachlichen Ausdrücke für einen König sicher sakrale Konnotationen auf.5 Vor allem aber sind die Hinweise auf die Sakralität der Merowinger nicht über jeden Zweifel erhaben. Laut Alexander Murray war die Erzählung des sogenannten Fredegar über ihre Abstammung von einem Seeungeheuer keineswegs althergebrachtes Traditionsgut der Franken, sondern Rückgriff auf eine alte römische Legende.6 Nach Maximilian Diesenberger entfällt auch die zweite wichtige Komponente merowingischer Sakralität, das lange Haar, das keineswegs ein exklusives Vorrecht der reges criniti gewesen

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von Sören Kaschke, Die karolingischen Reichsteilungen bis 831. Herrschaftspraxis und Normvorstellungen in zeitgenössischer Sicht (Schriften zur Mediävistik 7, Hamburg 2006) 11f., der Beispiele für eine weitere Verbreitung des Teilungsbrauches gibt; in diesem Sinne schon Reinhard Schneider, Die Einheit des Frankenreiches und das Teilungsprinzip, in: Lotharingia. Eine europäische Kernlandschaft um das Jahr 1000, ed. Reinhard Schneider/ Hans-Walter Herrmann (Saarbrücken 1995) 15–30, hier 18. Vgl. zusammenfassend Reinhold Kaiser, Das römische Erbe und das Merowingerreich (Enzyklopädie deutscher Geschichte 26, München 32004) 92f. Zu den anderen gentes vgl. Ian N. Wood, Royal succession and legitimation in the Roman West, 419–536, in: Staat im frühen Mittelalter, ed. Stuart Airlie/Walter Pohl/Helmut Reimitz (Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 11, Wien 2006) 59–72. Vgl. zusammenfassend Franz-Reiner Erkens, Herrschersakralität im Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Investiturstreit (Stuttgart 2006), bes. 80–87; ders., Reflexionen über das sakrale Königtum germanischer Herrschaftsverbände, in: Völker, Reiche und Namen im frühen Mittelalter, ed. Matthias Becher/Stefanie Dick (München 2009, im Druck [Stand 2009, erschienen als MittelalterStudien 22, München 2010, 87–95]). Dennis Green, Language and History in the Early Germanic World (Cambridge 1998) 123f.; Walter Pohl, Die Germanen (Oldenbourg 22004) 67f. Alexander C. Murray, Post vocantur Merohingii: Fredegar, Merovech, and ›sacral kingship‹, in: After Rome’s Fall. Narrators and Sources of Early Medieval History. Essays Presented to Walter Goffart, ed. Alexander C. Murray (Toronto/Buffalo/London 1998) 121–152; zu den antimerowingischen Tendenzen der Chronik vgl. Alheydis Plassmann, Origo gentis. Identitäts- und Legitimitätsstiftung in früh- und hochmittelalterlichen Herkunftserzählungen (Orbis medievalis 7, Berlin 2006) 155–166.

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ist, sondern ein vieldeutiges Zeichen für gesellschaftliche Exklusivität.7 R8gine Le Jan hat jüngst sogar die alttestamentarischen Bezüge der merowingischen Haartracht betont.8 Ohne das sogenannte Königsheil aber bleibt nur eine Erklärung für die merowingische Teilungspraxis übrig, nämlich mangelndes abstraktes Denken, was dazu geführt habe, dass die fränkischen Könige ihr Reich angeblich weitervererbten wie privates Eigentum:9 Es sei angeblich geteilt und wieder zusammengelegt worden, gerade so, wie der biologische Zufall es gewollt habe. Auch sonst – so diese Betrachtungsweise – behandelte die Königsfamilie das Reich wie Privatbesitz: Fast schon sprichwörtlich sind die Auseinandersetzungen der Merowinger um die Macht im Frankenreich einhergehend mit Vater-, Sohnes-, Bruder- und Verwandtenmord. Wenn sich auch die Umgangsformen in karolingischer Zeit besserten,10 nimmt sich auch diese Epoche letztlich kaum anders aus. Erst im 10. Jahrhundert unter neuen Königsfamilien setzte sich im West- und Ostfrankenreich die Individualsukzession eines Königssohnes durch und damit die von Gerd Tellenbach als entscheidende Neuerung hervorgehobene Unteilbarkeit des Reiches.11 Erst danach hätten sich abstraktere Staatsvorstellungen entwickeln können. Demgegenüber konnte Brigitte Kasten gerade bei den für diesen Zusammenhang zentralen ›Testamenten‹ der Karolinger deutlich zwischen Verfügungen über das Reich, zu denen die Zustimmung von Reichsversammlungen eingeholt wurde, und vom Testierenden allein getroffenen Bestimmungen über die Fahrhabe unterscheiden.12 Mag diese Differenzierung auch mit den modernen 7 Maximilian Diesenberger, Hair, sacrality and symbolic capital in the Frankish kingdoms, in: The Construction of Communities in the Early Middle Ages. Texts, Resources and Artefacts, ed. Richard Corradini/Maximilian Diesenberger/Helmut Reimitz (The Transformation of the Roman World 12, Leiden/New York 2003) 173–212; ders./Helmut Reimitz, Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Momente des Königtums in der merowingischen Historiographie, in: Das frühmittelalterliche Königtum. Ideelle und religiöse Grundlagen, ed. Franz-Reiner Erkens (RGA Erg. Bd. 49, Berlin/New York 2005) 214–269, hier 230–236. 8 R8gine Le Jan, Die Sakralität der Merowinger oder : Mehrdeutigkeiten der Geschichtsschreibung, in: Staat im frühen Mittelalter, ed. Stuart Airlie/Walter Pohl/Helmut Reimitz (Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 11, Wien 2006) 73–92, hier 84. 9 Eugen Ewig, Die Merowinger und das Frankenreich (Stuttgart 52006) 33. 10 Vgl. Jörg W. Busch, Vom Attentat zur Haft. Die Behandlung von Konkurrenten und Opponenten der frühen Karolinger, in: Historische Zeitschrift 263 (1996) 561–588. 11 Gerd Tellenbach, Die Unteilbarkeit des Reiches. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte Deutschlands und Frankreichs, in: Historische Zeitschrift 163 (1941) 20–42, ND in: Ders., Die Entstehung des Deutschen Reiches (Deutschland um 900). Ausgewählte Aufsätze aus den Jahren 1928–1954, ed. Hellmut Kämpf (Wege der Forschung 1, Darmstadt 1956) 110–134; Karl Schmid, Zum Problem der ›Unteilbarkeit des Reiches‹, in: Reich und Kirche vor dem Investiturstreit. Vorträge beim wissenschaftlichen Kolloquium aus Anlaß des 80. Geburtstags von Gerd Tellenbach, ed. Karl Schmid (Sigmaringen 1984) 1–15. 12 Brigitte Kasten, Zur Dichotomie von privat und öffentlich in fränkischen Herrschertestamenten, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt. 121 (2004)

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Begriffen ›öffentlich‹ und ›privat‹ nur unzureichend beschrieben sein, eine entsprechende Unterscheidung haben die Zeitgenossen allem Anschein nach sehr wohl vorgenommen. Sind Reichsteilungen aber umgekehrt tatsächlich untrügliche Zeichen für ein weniger entwickeltes Staatsverständnis im frühen Mittelalter? Oder resultierten sie nicht eher aus den komplizierten Machtstrukturen, die sich nicht nur um den regierenden König, sondern auch um seine Gemahlin und um seine Söhne herum entwickelten? Als Beispiel kann man auf das sogenannte Unterkönigtum verweisen, also auf die zumindest formal vollgültige Herrschaft eines Königssohnes über einen Teil des väterlichen Reiches. Dies mutet auf den ersten Blick als Ausfluss eines patrimonialen Herrschaftsverständnisses an, war aber in der Regel das Ergebnis eines Interessensausgleichs zwischen König und regionalem Adel.13 Das Unterkönigtum ist hierbei nicht zu verwechseln mit einem Mitkönigtum im Sinne einer vorzeitigen Nachfolgeregelung für das Gesamtreich nach dem Vorbild römischer und byzantinischer Mitkaisererhebungen.14 Bereits bei den Langobarden und seltener auch den Westgoten, die beide im unmittelbaren Kontakt zu Byzanz standen, hatte es Mitkönigserhebungen gegeben.15 Bei den Franken kam der Erlangung der Kaiserwürde durch Karl den Großen die entscheidende Bedeutung zu. Sie gab den Anstoß, allmählich die bis dahin vorherrschende Teilungspraxis aufzugeben und zur Individualsukzession überzugehen, ein Prozess, der immerhin mehr als ein Jahrhundert benötigte. Aber diese Entwicklung vollzog sich genau so wie die früheren Reichsteilungen unter maßgeblicher Beteiligung der Großen und zeigt, dass das Reich eben nicht als 158–199; zu dieser Unterscheidung vgl. auch Nikolaus Staubach, Quasi semper in publico. Öffentlichkeit als Funktions- und Kommunikationsraum karolingischer Königsherrschaft, in: Das Öffentliche und Private in der Vormoderne, ed. Gert Melville/Peter von Moos (Norm und Struktur 10, Köln/Wien 1998) 577–608. 13 Vgl. die klassische Untersuchung von Gustav Eiten, Das Unterkönigtum im Reiche der Merovinger und Karolinger (Heidelberger Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte 18, Heidelberg 1907); zur Relativierung des Begriffs Brigitte Kasten, Königssöhne und Königsherrschaft. Untersuchungen zur Teilhabe am Reich in der Merowinger- und Karolingerzeit (MGH Schriften 44, Hannover 1997) 55 und 567–571; Thilo Offergeld, Reges pueri. Das Königtum Minderjähriger im frühen Mittelalter (MGH Schriften 50, Hannover 2001), 215 mit Anm. 562. 14 Vgl. Thilo Offergeld, Mitkönigtum, in: RGA 2. Aufl. 20 (Berlin/New York 2002) 107–110; für die spätere Zeit Wolfgang Giese, Zu den Designationen und Mitkönigserhebungen der deutschen Könige des Hochmittelalters, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt. 92 (1975) 174–183, der allerdings zwischen Designation und Mitkönigserhebung nicht differenziert. 15 Vgl. Reinhard Schneider, Königswahl und Königserhebung im Frühmittelalter. Untersuchungen zur Herrschaftsnachfolge bei den Langobarden und Merowingern (Stuttgart 1979) hier 33f.; Hermann Fröhlich, Studien zur langobardischen Thronfolge von den Anfängen bis zur Eroberung des italienischen Reiches durch Karl den Großen, 774, 2 Bde. (Dissertation Tübingen 1980) 115–120.

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großer Bauernhof verstanden wurde, der nach Erbrecht geteilt wurde, sondern alle – zumindest die Großen – anging, denen daher ein Mitspracherecht zukam.

Die fränkischen Reichsteilungen unter Merowingern und Karolingern Schon Reinhard Schneider hat auf das Übergewicht machtpolitischer Faktoren bei der Königserhebung hingewiesen,16 und Brigitte Kasten hat sich ihm angeschlossen: »Nicht alle an der Königserhebung beteiligten Personen und Personengruppen haben das Reich als ein gigantisches Patrimonium in den Händen des verstorbenen Herrschers aufgefaßt.«17 Ian N. Wood hat zudem in jüngster Zeit die angebliche biologische Konstanz der beiden fränkischen Dynastien hinterfragt und gezeigt, wie diese immer wieder neu konstruiert wurde.18 Zuvor hatte Wood bereits das Übergewicht privatrechtlicher Erbvorstellungen bei der ersten fränkischen Reichsteilung von 511 bezweifelt und diese als das Ergebnis eines politischen Kompromisses bezeichnet.19 Nicht etwa ein vom Erbrecht vorgegebener Zwang zur Teilung war für die damalige Entscheidung verantwortlich, sondern die politische Konstellation zu einem bestimmten Zeitpunkt. Die Nachfolge eines einzigen Königssohnes unter Ausschluss seiner Brüder von der Herrschaft war dabei keineswegs grundsätzlich ausgeschlossen. Hinzu kommt, dass der Thronanspruch der Chlodwig-Nachkommen keineswegs so selbstverständlich akzeptiert war, wie es die ununterbrochene dynastische Kontinuität bis in die Mitte des 8. Jahrhunderts hin suggerieren mag. Im 6. und 7. Jahrhundert traten wiederholt Thronprätendenten auf, die zumeist behaupteten, Angehörige der merowingischen Familie zu sein.20 Insgesamt haben also dank der Forschungen der letzten Jahre die scheinbar stabilen dynastischen Verhältnisse im Frankenreich etwas von ihrer Sonderstellung innerhalb der

16 Schneider, Königswahl und Königserhebung 240–242. 17 Kasten, Königssöhne 14. 18 Ian N. Wood, Deconstructing the Merovingian family, in: The Construction of Communities in the Early Middle Ages. Texts, Resources and Artefacts, ed. Richard Corradini/Maximilian Diesenberger/Helmut Reimitz (The Transformation of the Roman World 12, Leiden/ Boston 2003) 149–171. 19 Ian N. Wood, Kings, kingdoms and consent, in: Early Medieval Kingship, ed. Peter H. Sawyer/Ian N. Wood (Leeds 1977) 6–29; vgl. auch Erkens, Divisio legitima 439f.; Kasten, Königssöhne 11f.; Offergeld, Reges pueri 186–192. 20 Vgl. Ian N. Wood, Usurpers and Merovingian kingship, in: Der Dynastiewechsel von 751. Vorgeschichte, Legitimationsstrategien und Erinnerung, ed. Matthias Becher/Jörg Jarnut (Münster 2004) 15–31.

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sogenannten germanischen Völker verloren.21 Dies ist Grund genug, gerade die wichtigsten Nachfolgeregelungen im Frankenreich unter Merowingern und Karolingern noch einmal in den Blick zu nehmen. Nach Chlodwigs Tod 511 teilten seine Söhne laut Gregor von Tours das Reich aequa lantia.22 Allein aus dem Erbrechtsparagraphen der Lex Salica folgerte die Forschung, hier sei ein allgemeines fränkisches Erbrechtsprinzip zur Anwendung gekommen, die Teilung von Eigengut unter die Söhne des Erblassers.23 Für einen politischen Kompromiss spricht indessen, dass die Königssöhne von vornherein in zwei Gruppen gespalten waren und vermutlich große Anhängergruppen hatten – aus unterschiedlichen Gründen: Auf der einen Seite stand Theuderich als erwachsener und bereits kriegserprobter Mann mit eigenem, sogar thronfähigem Nachwuchs, auf der anderen Seite fanden sich mit Chlodomer, Childebert und Chlothar die Söhne der ›amtierenden‹ Königin Chrodechilde, die in Chlodwigs letzten Lebensjahren den Hof dominiert haben dürfte. Das Ergebnis war eine Teilung unter die vier Söhne. Theuderich als ältester, politisch-militärisch erfahrenster und damit fähigster Kandidat erhielt den größten Reichsteil, seine Halbbrüder mussten sich mit entsprechend kleineren Gebieten zufriedengeben, also keinesfalls eine Teilung aequa lantia. Eine Teilung zwischen Theuderich und seinem ältesten Halbbruder Chlodomer wäre aus Sicht Chrodechildes inkonsequent gewesen, denn sie konnte sich nicht einmal in Ansätzen auf eine Nachfolge des ältesten Sohnes einlassen, weil sonst alle Argumente für Theuderich gesprochen hätten. Außerdem hätte sie vermutlich durch eine Bevorzugung Chlodomers auch noch ihre Anhängerschaft geschwächt bzw. zersplittert.24 Trotz dieser Teilung blieb die Reichseinheit erhalten. Zur Erklärung bezieht sich die Forschung immer wieder auf die Lehre vom ›ganzen Haus‹, hier auf den Spezialfall, dass das Haus nach dem Tode des Hausvaters erhalten bliebe, weil seine Söhne das Erbe nicht unter sich aufteilten, sondern es als Brüdergemeine zusammen in Besitz nahmen.25 Da aber die Frankenkönige zweifellos geteilt 21 Vgl. Kasten, Königssöhne 13; zu vereinzelten Ansätzen zu Teilungen anderer Reiche vgl. Kaschke, Reichsteilungen 11f. 22 Gregor von Tours, Historiae III, 1 (ed. Bruno Krusch/Wilhelm Levison, MGH SS rer. Merov. 1,1, Hannover 1951) 97: Defuncto igitur Chlodovecho regi, quattuor filii eius, id est Theudoricus, Chlodomeris, Childeberthus atque Chlothacharius, regnum eius accipiunt et inter se aequa lantia dividunt. 23 Pactus Legis Salicae, 59, 6 (ed. Karl August Eckhardt, MGH LL nat. Germ. 4, 1, Hannover 1962) 223: De terra uero Salica nulla in muliere hereditas est, sed ad uirilem sexum, qui fratres fuerint, tota terra pertineat; Lex Salica, D, 93, 6 (ed. Karl August Eckhardt, MGH LL nat. Germ. 4, 2, Hannover 1969) 164. 24 Gegen Ewig, Merowinger 33, der aus der Berücksichtigung aller Söhne Chrodechildes auf die Anwendung der Vorschrift der Lex Salica schließt; vgl. auch Erkens, Divisio legitima 440. 25 Vgl. Gerhard Buchda, Gesamthand, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte 1 (Berlin 1971) 1587–1591; vgl. auch Werner Ogris, Ganerben, in: ebd. 1380–1383.

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haben, muss ein weiterer Spezialfall angenommen werden, nämlich die Aufteilung des Erbes zur Nutzung, wobei das Eigentumsrecht nicht den Nutzern, sondern der Gesamtheit der Erben zugekommen sei. Das Nutzungsrecht konnte der Einzelne nicht vererben, sondern es fiel im Todesfall an die überlebenden Mitglieder der Gemeinschaft zurück.26 Mit anderen Worten: Ein Erbrecht der Söhne bzw. Neffen hätte es demnach gar nicht geben können, sondern der Rückfall an überlebende Mitglieder der Brüdergemeine hätte solange praktiziert werden müssen, bis (nur) eines ihrer Mitglieder übrig geblieben wäre, dessen Söhne dann eine neue Brüdergemeine gebildet hätten. Eine solche Art der Vererbung bzw. Regelung der Thronfolge lässt sich allerdings bei den Merowingern nicht nachweisen. Vielmehr sprechen die Auseinandersetzungen innerhalb der Dynastie laut Brigitte Kasten für ein gänzlich anderes Herrschaftsverständnis: »Die zahlreichen Bruderkonflikte um Machterhalt und Herrschaftserweiterung, die Kämpfe um Rangerhöhung und die Verteidigung von Vorrangstellungen lassen jedoch deutlich werden, daß eine Brüdergemeine bei den Merowingern weder ideell noch in der Praxis existiert hat.«27 Das Fortbestehen des Frankenreiches auch unter mehreren Königen erscheint im Übrigen nicht weiter verwunderlich. Oder sollte man annehmen, dass die Franken mit der Reichsteilung von 511 die Erinnerung an ihre gemeinsame Geschichte aufgegeben hätten? Außerdem banden gemeinsame Ziele wie die Sicherung Aquitaniens und später die Eroberung des Burgunderreichs nicht nur die Merowinger, sondern die Franken insgesamt aufs engste zusammen. Schließlich waren es der Machtwille der einzelnen Merowinger, brutale Gewalt und nicht zuletzt auch biologische Zufälle, die 558 zu einer Wiedervereinigung des Frankenreiches unter Chlodwigs jüngstem Sohn Chlothar führten. Einen konkurrierenden Familienzweig hatte er noch zusammen mit seinem Bruder Childebert gewaltsam beseitigt, die anderen waren ohne sein Zutun ausgestorben – sieht man von seinem eigenen Sohn Chramn ab, der sich gegen ihn erhoben hatte.28 Zweimal hatte er die Witwen seiner Vorgänger geheiratet, um seine Ansprüche zu untermauern.29 Diese Strategie ist auch in anderen regna, insbesondere bei den Langobarden, bezeugt, wobei hier Dynastiefremde die Königinwitwe heirateten.30 Dabei ging es weniger um konkrete rechtliche Ansprüche als vielmehr darum, den königlichen Schatz und die Unterstützung der mit der 26 So Kaschke, Reichsteilungen 44f., unter Verweis auf Reinhard Schneider, Brüdergemeine und Schwurfreundschaft. Der Auflösungsprozeß des Karlingerreiches im Spiegel der caritasTerminologie in den Verträgen der karlingischen Teilkönige des 9. Jahrhunderts (Historische Studien 388, Lübeck/Hamburg 1964) 81f. 27 Kasten, Königssöhne 22. 28 Vgl. Kasten, Königssöhne 37–42. 29 Schneider, Königswahl und Königserhebung 83f. 30 Vgl. Schneider, Königswahl und Königserhebung 247; Fröhlich, Studien 285f.

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Königin verbundenen Adels- und Bevölkerungskreise zu gewinnen. Wenn im Frankenreich Chlothar als naher Verwandter eines verstorbenen Königs zu diesem Mittel griff, so war zumindest er von der Wirksamkeit seines Schrittes überzeugt und ging damit nicht vom selbstverständlichen Fortbestehen der Samtherrschaft oder gar eines gleichberechtigten Eigentums der königlichen Brüder am Frankenreich aus. Überhaupt ist die Rolle der Königinnen nicht zu unterschätzen, denn von ihnen und ihren Verbindungen hing es letztlich ab, ob ihre Söhne beim Tod des Vaters überhaupt noch für eine Nachfolge in Frage kamen oder zu dessen Lebzeiten in die Rebellion und oftmals in den Tod getrieben worden waren, wie etwa der gerade erwähnte Chramn, der Sohn einer sonst nicht näher bekannten Chunsina. Bei Chlothars Tod 561 ergab sich eine ähnliche Konstellation wie 50 Jahre zuvor: Chlothar hinterließ wie Chlodwig vier Söhne und zwar ebenfalls aus zwei verschiedenen Ehen. Charibert, Gunthram und Sigibert waren Söhne der Ingund, Chilperich ein Sohn von deren Schwester Aregund. Laut Gregor von Tours brachte Chilperich nach der Beisetzung des Vaters dessen Schätze in seinen Besitz und zog die angesehensten Franken durch reiche Geschenke auf seine Seite. Dann schlug er seine Residenz in Paris auf, einst Sitz seines Onkels Childebert und davor Chlodwigs.31 Allem Anschein nach strebte Chilperich danach, sich den Löwenanteil des Reiches zu sichern, und konnte sich dabei vielleicht auch auf seinen Vater berufen, der ihn laut Venantius Fortunatus bevorzugt hatte.32 Angesichts der Aktionen Chilperichs verbündeten sich seine Halbbrüder und besiegten ihn. Erst jetzt kam es zu einer divisio legitima in den Worten Gregors von Tours.33 Sollte Chilperich tatsächlich die wichtigsten Gefolgsleute seines Vaters für sich gewonnen haben, dann müssen seine Halbbrüder ebenfalls eine beträchtliche Zahl von Helfern auf ihrer Seite gehabt haben. Tatsächlich hatten sich laut Reinhard Schneider etliche Adlige nach dem Tod Chlothars I. und vor der Reichsteilung von 561 eidlich an seine verschiedenen Söhne gebunden.34 Entscheidend für die Teilung von 561 in der überlieferten Form war also die Tatsache, dass die verschiedenen Königssöhne über eine ausreichend große Anhängerschaft verfügten, um ihre (tatsächlichen oder vermeintlichen) Ansprüche durchsetzen zu können. Um das politische Gewicht der Gefolgschaften von Königssöhnen illustrieren zu können, ist ein Vorgriff auf die Zeit Karls des Großen notwendig: In dessen Kapitularien ist bezeugt, wie mächtig die homines seiner Kinder waren. So

31 Gregor von Tours, Historiae IV, 22, ed. Krusch/Levison 154. 32 Venantius Fortunatus, Carmina, IX, 1 (ed. Friedrich Leo, MGH AA 4,1, Hannover 1881) 202; vgl. Kasten, Königssöhne 17. 33 Gregor von Tours, Historiae IV, 22, ed. Krusch/Levison 155. 34 Schneider, Königswahl und Königserhebung 89–92.

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wagten weder missi noch Grafen, sie zu (öffentlichen) Diensten heranzuziehen.35 Dem Kriegsdienst suchten die Leute der Königssöhne mit dem Argument zu entgehen, sie wären bei ihren Herren engagiert.36 Auch auf den Gang von Gerichtsprozessen nahmen die homines der Königssöhne Einfluss.37 Man könnte argumentieren, diese Stellen seien wenig aussagekräftig für unser Problem, da Karls Söhne ja schon seit langem selbst Könige waren, doch verhielten sich die homines seiner Töchter ganz ähnlich. Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass die homines der Königssöhne gerade unter Chlothar und Karl eine solche Rolle spielten: Beide erreichten nicht nur ein hohes Lebensalter und damit auch eine lange Regierungszeit, sondern beide waren zudem Alleinherrscher des Frankenreiches – wohl auch nicht ganz zufällig. Kasten verweist darauf, dass in den rund 250 Jahren zwischen Chlodwig und dem Sturz der Merowinger 751 nur bei rund einem Drittel der Thronwechsel mehr als ein Sohn den Vater überlebte,38 wobei Gesamtherrscher in der Regel mehrere Söhne hinterließen.39 Auch dies hängt vermutlich mit ihrem vergleichsweise hohen Lebensalter und der damit verbundenen Chance auf die Gesamtherrschaft zusammen. Die Existenz mehrerer Söhne machte die Teilung notwendig, nicht allein wegen des Denkens in erbrechtlichen Kategorien, sondern vor allem auch wegen des politischen Eigengewichts der Söhne als Anführer großer Gefolgschaften. Dabei dürfte grundsätzlich folgender Mechanismus gegolten haben: Je länger ein Herrscher lebte, desto älter wurden seine Söhne, ohne selbst an die Regierung zu gelangen. Dies vergrößerte die Zahl ihrer homines ganz von selbst. Denn je länger Königssöhne auf die Herrschaftsübernahme warten mussten, desto mehr homines schlossen sich ihnen schon vorher angesichts ihrer mit dem Lebensalter steigenden Aussichten auf eine Herrschaftsübernahme an. Beim Tod eines sehr 35 Capitula cum primis conferenda 13 (808) (ed. Alfred Boretius, MGH LL Capitularia regum Francorum 1, 1, Hannover 1883) 139: De hominibus filiorum ac filiarum nostrarum, quos missi et comites distringere non audent. 36 Capitula de rebus exercitalibus in placito tractanda 7 (811) (ed. Alfred Boretius, MGH LL Capitularia regum Francorum 1, 1, Hannover 1883) 165: Sunt etiam alii qui dicunt se esse homines Pippini et Chluduici et tunc profitentur se ire ad servitium dominorum suorum, quando alii pagenses in exercitum pergere debent. 37 Capitula de missorum officiis 5 (810) (ed. Alfred Boretius, MGH LL Capitularia regum Francorum 1, 1, Hannover 1883) 155: Quicumque illis iustitiam facere volentibus resistere conatus fuerit, domno imperatori annuncient. Similiter quicumque contra iustitiam alteri in placito defendere voluerit, legitimam poenam incurrat, cuiuslibet homo sit, sive domni imperatoris sive cuilibet filiorum et filiarum vel ceterorum potentium hominum. 38 Vgl. Kasten, Königssöhne 54f., die insgesamt sieben Fälle zählt; hinzukommen allerdings noch die Söhne Chlodomers und Theuderichs III. 39 Dies gilt allerdings nur für die Könige bis einschließlich Dagobert I.; der nächste Gesamtherrscher, der eines natürlichen Todes starb, war Theuderich III.; auch er hinterließ zumindest zwei Söhne, die aber nur nacheinander auf den Thron gelangten; vgl. dazu auch Anm. 48.

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alten Königs standen seine Söhne einander mit einer entsprechend stattlichen Zahl von Gefolgsleuten gegenüber. Sollte es nach dem Tod des königlichen Vaters nicht zu einer bewaffneten Auseinandersetzung kommen, blieb nur ein politischer Kompromiss in Form einer Reichsteilung übrig. Und selbst wenn die Söhne sich Kämpfe lieferten, stand am Ende fast zwangsläufig ein Ausgleich, da keiner von ihnen in der Regel stark genug war, um den oder die anderen gänzlich auszuschalten. Daher sorgte die lange Lebensdauer eines Herrschers nicht nur für die Wiederherstellung der Reichseinheit, sondern barg auch den Keim für eine erneute Teilung in sich. Doch auch beim Vorhandensein mehrerer Söhne wurde das Frankenreich nicht zwangsläufig geteilt. Beim Tod Chlothars II. 628/29 wäre dies etwa möglich gewesen, aber da sein älterer Sohn Dagobert bereits seit 623/24 als Unterkönig von Austrasien fungierte, übertraf er seinen jüngeren Halbbruder Charibert an Machtmitteln und konnte diesen mit einer »Art Markenkönigtum« im Süden Aquitaniens abspeisen.40 Zuvor ließ er die wichtigsten Anhänger Chariberts beseitigen. Dagobert war als der deutlich Ältere und als bereits amtierender Unterkönig von Austrasien erheblich im Vorteil und nutzte diesen entschlossen aus. Dass dieses Ungleichgewicht zwischen den beiden Brüdern eingetreten war, ging aber nicht in erster Linie auf den Willen des Vaters, sondern auf den Wunsch der Austrasier nach einem eigenen König zurück.41 Nach Dagoberts Tod 639 wurde das Reich unter seinen Söhnen Sigibert III. und Chlodwig II. geteilt. Sigibert war auf Wunsch des dortigen Adels schon seit 633/34 Unterkönig von Austrasien.42 634/35 nach der Geburt seines zweiten Sohnes Chlodwig hatte Dagobert mit dem Adel eine Reichsteilung nach seinem Tod vereinbart. Dabei erscheinen nicht etwa der König oder seine minderjährigen Söhne als treibende Kräfte, sondern die Neustrier, die wohl eine Wiederholung der Ereignisse von 629/30, also die Ausschaltung des jüngeren Königssohnes, vermeiden wollten, indem sie auf einem eigenen König bestanden.43 Dies ist die letzte merowingische Reichsteilung. Das Ergebnis dieser Zusammenschau merowingischer Thronfolgen ist ernüchternd, denn in den rund 150 Jahren seit der Errichtung des fränkischen Großreiches durch Chlodwig hat es höchstens vier Teilungen gegeben, die bei näherem Zusehen sämtlich vom Adel bestimmt wurden. 40 Eugen Ewig, Die fränkischen Teilreiche im 7. Jahrhundert (613–714), in: Trierer Zeitschrift 22 (1953) 85-144, ND in: ders., Spätantikes und fränkisches Gallien. Gesammelte Schriften 1: 1952–1973, ed. Hartmut Atsma (Beihefte der Francia 3/1, München/Zürich 1976) 172–230, hier 111 und 198; vgl. auch ders., Merowinger 126. 41 Fredegar, Chronicae cum continuationibus IV, 47 (ed. Bruno Krusch, MGH SS rer. Merov. 2, Hannover 1888) 144; vgl. Schneider, Königswahl und Königserhebung 139f. 42 Fredegar, Chronicae cum continuationibus IV, 75, ed. Krusch 158f.; vgl. Schneider, Königswahl und Königserhebung 146f. 43 Fredegar, Chronicae cum continuationibus IV, 76, ed. Krusch 159.

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Aber es gab nicht nur die Situation, dass ein Herrscher des Gesamtreiches starb. Viel öfter stand die Nachfolge eines fränkischen Teilkönigs an, was in der Regel zur Konkurrenz zwischen den überlebenden Brüdern des Verstorbenen einerseits und seinen Söhnen anderseits führte. Wieder war der Adel entscheidend: Die Neffen konnten sich in aller Regel mit Hilfe der Großen ihres Teilreichs gegen ihre Oheime halten, obwohl diese als bereits regierende Könige ja über gewisse Vorteile verfügten.44 Von einem Denken in den Kategorien einer Brüdergemeine, deren Mitglieder nur ein eingeschränktes Besitzrecht gehabt hätten, ist in diesen Fällen nichts zu erkennen. Es ist daher auch nicht statthaft, von einem Eintrittsrecht der Neffen zu sprechen, vielmehr galten sie dem Adel ihres Teilreichs als Erben ihres verstorbenen Vaters und wurden daher zu Königen erhoben. Ein Mittel, die Position der eigenen Nachkommenschaft zu stärken, wäre es gewesen, die Nachfolge schon zu Lebzeiten zu regeln, etwa durch eine Erhebung zum Mitkönig, worauf die Merowinger allerdings verzichteten. Einen möglichen Grund dafür sieht Brigitte Kasten im Thronanspruch aller Söhne: »Im Verhältnis zum Vater besaßen sie, die schon bei ihrer Geburt als Könige – nicht etwa als künftige Könige – gefeiert wurden, ein anscheinend starkes Recht auf die Nachfolge, so dass sich auch von daher eine väterliche Nachfolgeregelung erübrigt haben könnte.«45 Da dieser Thronanspruch, wie wir gesehen haben, jedoch kein unabweisliches Anrecht auf die Herrschaftsnachfolge bedeutete, gibt es vielleicht einen anderen Grund für den Verzicht der Merowinger auf eine vorzeitige Nachfolgeregelung: Möglicherweise haben wir es hier mit einer reinen Machterhaltungsstrategie der Merowinger zu tun, denn eine solche Vorentscheidung hätte ihre Entscheidungsfreiheit beschnitten und die zu Nachfolgern designierten Söhne zu gefährlichen Konkurrenten um die Herrschaft gemacht. Schließlich betrachteten sich zum König erhobene Söhne als vollgültige Könige, spätestens nachdem sie das Erwachsenenalter erreicht hatten.46 Vermutlich um der Gefahr innerfamiliärer Konkurrenz vorzubeugen, erhielten Königssöhne im 6. Jahrhundert eigenständige Mandate allenfalls in Aquitanien, also in einer Randregion. Regelrechte Unterkönigtümer wurden ebenfalls nur in Randregionen eingerichtet, auffälligerweise zuerst für minderjährige Söhne und dies

44 Vgl. zuletzt Matthias Becher, Vater, Sohn und Enkel. Die Bedeutung von Eintritts- und Anwachsungsrecht für die Herrschaftsnachfolge im Frankenreich, in: Herrscher- und Fürstentestamente im westeuropäischen Mittelalter, ed. Brigitte Kasten (Norm und Struktur 29, Köln/Weimar/Wien 2008) 301–319, hier 311f.; vgl. auch schon Schneider, Königswahl und Königserhebung 75 und 251f., der allerdings später von dieser Einschätzung wieder abgerückt ist, ders., Einheit 17f. 45 Kasten, Königssöhne 54. 46 Kasten, Königssöhne 56.

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auch nur auf ausdrücklichen Wunsch der betroffenen Untertanen.47 Aber natürlich präjudizierten diese Entscheidungen die Thronfolge, da ein Unterkönig beim Tod des Vaters sein Reich auf jeden Fall behielt. Zwischen 679 und dem Dynastiewechsel 751 wurde das Frankenreich nicht mehr geteilt, obwohl öfter mehrere Königssöhne zur Verfügung standen. Der Grund war, dass die Dynastie immer machtloser wurde und daher ein einziger König als Symbolfigur für das Frankenreich ausreichte.48 Erneut war der Wille des Adels bzw. der übermächtig werdenden arnulfingischen Hausmeier für diese Thronfolgepraxis ausschlaggebend. Dabei begannen letztere nun im Gegenzug allmählich, ihre Nachfolge zu ihren Lebzeiten zu regeln. Pippin der Mittlere hatte vor, seine beiden Söhne aus der Ehe mit Plectrud zu seinen Nachfolgern zu machen. Daher berief er seinen ältesten Sohn Drogo zum dux Burgundionum, wenig später den zweiten Sohn Grimoald zum Hausmeier von Neustrien.49 Pippin übertrug also das Konzept des Unterkönigtums auf die ›Verwaltungsebene‹, indem er seine Söhne in zwei Teilreichen als höchste Amtsträger einsetzte. Nachdem der frühe Tod der beiden die Realisierung seiner Pläne verhindert hatte, bestimmte Pippin einen Enkel zum Nachfolger im Hausmeieramt, ein zweiter Enkel sollte eine politisch nachgeordnete Rolle spielen, während von den übrigen nicht die Rede ist, vor allem aber nicht von Karl Martell, Pippins Sohn aus einer anderen Verbindung.50 Bindende erbrechtliche Normen spielten bei der Regelung der politischen Nachfolge des Hausmeiers also allenfalls in Ansätzen eine Rolle, wenn er auch die Macht ganz selbstverständlich der eigenen Familie, bevorzugt seinen Söhnen aus seiner Ehe mit Plectrud, bewahren wollte. Auch der von seinem Vater Pippin nicht bedachte Karl Martell, der sich erst mit Waffengewalt gegen Plectrud und ihre Anhänger hatte durchsetzen können, bestimmte zu seinen Lebzeiten über seine Nachfolge, wobei die Tragfähigkeit seiner Regelung ganz entscheidend von der Haltung des Adels abhing.51 Auf seinen Sohn Pippin folgten 768 dessen Söhne Karl und Karlmann. Diese Teilung ging aber nicht allein auf eine Nachfolgeordnung Pippins am Ende seiner 47 589 Theudebert II. in Soissons, 623/24 Dagobert in Austrasien, der aber bald volljährig wurde und dem Vater erhebliche Schwierigkeiten bereitete, und 633/34 Sigibert III. ebenfalls in Austrasien. 48 Vgl. Erkens, Divisio legitima 458–467; Theo Kölzer, Die letzten Merowingerkönige: rois fain8ants?, in: Der Dynastiewechsel von 751. Vorgeschichte, Legitimationsstrategien und Erinnerung, ed. Matthias Becher/Jörg Jarnut (Münster 2004) 33–60. 49 Vgl. Waltraud Joch, Legitimität und Integration. Untersuchungen zu den Anfängen Karl Martells (Historische Studien 456, Husum 1999) 34–52. 50 Joch, Legitimität 66–69 und 71–76. 51 Vgl. dazu ausführlich Matthias Becher, Eine verschleierte Krise. Die Nachfolge Karl Martells 741 und die Anfänge der karolingischen Hofgeschichtsschreibung, in: Von Fakten und Fiktionen. Mittelalterliche Geschichtsschreibung und ihre kritische Aufarbeitung, ed. Johannes Laudage (Europäische Geschichtsdarstellungen 1, Köln/Weimar/Wien 2003) 95–133; anders, aber nicht im Hinblick auf die Rolle des Adels Kaschke, Reichsteilungen 81–89.

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Herrschaftszeit zurück, sondern auf dessen Bemühen, die neue Dynastie in den Jahren nach dem Dynastiewechsel von 751 zu sichern. 754 hatte Papst Stephan II. das Frankenreich besucht und ihn und seine beiden Söhne gesalbt, um der neuen Königsfamilie eine besondere Aura zu verleihen.52 Zumindest in den Augen der Päpste galten Karl und Karlmann fortan als Könige. Da beide ihren Vater Pippin überlebten, kam nur eine Reichsteilung in Frage, die Pippin kurz vor seinem Tod im September 768 noch selbst verfügte. Bei der Königserhebung der beiden Söhne kurz darauf betonen die Quellen jeweils die Mitwirkung der Großen.53 Als Karlmann rund drei Jahre später starb, trat Karl seine Nachfolge an. Dabei war die Haltung des Adels entscheidend, der sich für den bereits kriegserprobten Bruder des Verstorbenen und nicht für seine minderjährigen Söhne entschied.54 Karl der Große selbst richtete nach rund 150 Jahren wieder Unterkönigreiche ein, die nicht wie unter den Merowingern in erster Linie der Vorbereitung einer Reichsteilung, sondern der Sicherung einiger seiner Eroberungen dienten bzw. ein Entgegenkommen gegenüber dem einheimischen Adel darstellten. 781 bestimmte er seine Söhne Pippin und Ludwig zu Königen über Italien und Aquitanien und ließ sie zusätzlich vom Papst zu Königen krönen.55 Erneut waren es also Randregionen bzw. neu erworbene Reiche mit eigenen Traditionen, die einen Unterkönig erhielten, und das Interesse des einheimischen Adels hatte die Entscheidung des Herrschers mitbestimmt. Im eigentlichen Frankenreich ließ Karl dagegen kein weiteres Königtum zu, auch wenn sein ältester Sohn Karl der Jüngere zu einem seiner wichtigsten Helfer avancierte. Als dieser am Weihnachtstag des Jahres 800 endlich zum König erhoben wurde, blieb der formelle

52 Arnold Angenendt, Pippins Königserhebung und Salbung, in: Der Dynastiewechsel von 751. Vorgeschichte, Legitimationsstrategien und Erinnerung, ed. Matthias Becher/Jörg Jarnut (Münster 2004) 179–209, hier 196–207; Olaf Schneider, Die Königserhebung Pippins 751 in der Erinnerung der karolingischen Quellen: Die Glaubwürdigkeit der Reichsannalen und die Verformung der Vergangenheit, in: ebd. 243–275. 53 Vgl. Ulrich Nonn, Zur Königserhebung Karls und Karlmanns, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 39 (1975) 386f.; Kasten, Königssöhne 131–134; Dieter Hägermann, Karl der Große. Herrscher des Abendlandes (München 2000) 79–81. 54 Vgl. Jörg Jarnut, Ein Bruderkampf und seine Folgen: Die Krise des Frankenreiches (768–771), in: Herrschaft, Kirche, Kultur. Beiträge zur Geschichte des Mittelalters. Festschrift für Friedrich Prinz zum 65. Geburtstag , ed. Georg Jenal (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 37, Stuttgart 1993) 165–176; Kasten, Königssöhne 134f. 55 Kasten, Königssöhne 138f.; zu deutlich unterscheidet Walter Schlesinger, Die Auflösung des Karlsreiches, in: Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben 1: Persönlichkeit und Geschichte, ed. Wolfgang Braunfels/Helmut Beumann (Düsseldorf 1965) 792–857, hier 798, ND in: Ausgewählte Aufsätze von Walter Schlesinger (1965–1979), ed. Hans Patze/Fred Schwind (Vorträge und Forschungen 34, Sigmaringen 1987) 49–124, hier 56, zwischen der Einsetzung Pippins zum italienischen Unterkönig, die der Stärkung der fränkischen Herrschaft gedient habe, und der Annahme des langobardischen Königstitels, die allein auf das Selbstbewusstsein dieses unterworfenen Volkes abgezielt habe.

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Abstand zwischen Vater und Sohn dennoch erhalten, da Karl der Große von diesem Tage an Kaiser war.

Der langsame Übergang zur Individualsukzession Das Kaisertum beeinflusste die Einstellung der Frankenherrscher zur Mitregentschaft entscheidend. Allerdings hatte Karl der Große in seiner Thronfolgeordnung, der sogenannten Divisio regnorum von 806, in der er das Reich unter seine drei Söhne teilte, noch keine Verfügung über seine Nachfolge als Kaiser getroffen.56 Immerhin sollte seinen Planungen nach das eigentliche Frankenreich an seinen ältesten Sohn Karl fallen – ein Novum, da dieses bislang stets geteilt worden war. Allerdings war das Imperium räumlich derart ausgedehnt, dass die Anteile der jüngeren Söhne Pippin und Ludwig dennoch in etwa so groß waren wie der Karls des Jüngeren. Dieser war zwar als alleiniger Herrscher über die Francia seinen Brüdern gegenüber vermutlich politisch im Vorteil, blieb ihnen aber ansonsten gleichgeordnet. Doch er und Pippin starben noch vor dem Vater. Dieser erreichte 812 die Anerkennung seiner Kaiserwürde durch Byzanz und nahm im folgenden Jahr seinen universalen Titel zum Anlass, zum ersten Mal in der fränkischen Geschichte einen Mitherrscher für das Gesamtreich zu erheben, indem er nach oströmischem Vorbild eigenhändig seinen überlebenden Sohn Ludwig zum Kaiser krönte.57 Aber auch Karl beteiligte Ludwig nicht an der Regierung des Reiches, sondern schickte ihn danach in dessen Unterkönigreich Aquitanien zurück. 56 Divisio regnorum (806 Februar 6) (ed. Alfred Boretius, MGH LL Capitularia regum Francorum 1, 1, Hannover 1883) 126–130; vgl. Peter Classen, Karl der Große und die Thronfolge im Frankenreich, in: Festschrift für Hermann Heimpel zum 70. Geburtstag, Band 3 (Veröffentlichen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 36/3, Göttingen 1972) 109–134, ND in: ders., Ausgewählte Aufsätze, ed. Josef Fleckenstein (Vorträge und Forschungen 28, Sigmaringen 1983) 205–229; Matthew Innes, Charlemagne’s will: Piety, politics and the imperial succession, in: English Historical Review 112 (1997) 833–855; Hägermann, Karl der Große 496–508; Kaschke, Reichsteilungen 298–323; ders., Tradition und Adaption. Die Diviso regnorum und die fränkische Herrschaftsfolge, in: Herrscher- und Fürstentestamente im westeuropäischen Mittelalter, ed. Brigitte Kasten (Norm und Struktur 29, Köln/Weimar/Wien 2008) 259–289; Matthias Tischler, Die Divisio regnorum zwischen handschriftlicher Überlieferung und historischer Rezeption, in: ebd. 193–258; Johannes Fried, Erfahrung und Ordnung. Die Friedenskonstitution Karls des Großen vom Jahr 806, in: ebd. 145–192. 57 Vgl. Wolfgang Wendling, Die Erhebung Ludwigs des Frommen zum Mitkaiser im Jahre 813 und ihre Bedeutung für die Verfassungsgeschichte des Frankenreiches, in: Frühmittelalterliche Studien 19 (1985) 201–238; Johannes Fried, Elite und Ideologie oder die Nachfolgeordnung Karls des Großen vom Jahre 813, in: La royaut8 et les 8lites dans l’Europe carolingienne (du d8but du IXe siHcle aux environs de 920), ed. R8gine Le Jan (Centre d’Histoire de l’Europe du Nord-Ouest 17, Lille 1998) 71–109.

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Die von Karl dem Großen grundgelegten Strukturen wirkten auch unter Ludwig dem Frommen weiter. Noch im Jahr 814, nach Karls Tod, machte Ludwig seinen zweiten Sohn Pippin zu seinem Nachfolger als König von Aquitanien und seinen ältesten Sohn Lothar zum König von Bayern.58 Die Initiative für die Einrichtung von Unterkönigtümern lag dieses Mal allein beim Herrscher, jedenfalls erfahren wir nichts über einen entsprechenden Wunsch des Adels. Wichtiger aber ist, dass Ludwig drei Jahre später Lothar zum Mitkaiser krönte. Wie sein Vater 813 hatte er einen consors et successor imperii eingesetzt, einen ihm nach byzantinischem Vorbild in Rang und Namen formal gleichberechtigten Mitherrscher. Anders als sein Vater damals besaß er aber mit Pippin und Ludwig noch weitere Söhne, die laut der sogenannten Ordinatio imperii eigene Königreiche erhalten und außerdem der Oberherrschaft des älteren Bruders unterstellt sein sollten.59 Dies hielt die Forschung für eine unerhörte Neuerung: Unter dem Eindruck des Kaisertums und der anstehenden Reformaufgaben in Reich und Kirche sei der Kaiser von der angeblich bisher üblichen Gleichbehandlung der Söhne abgerückt, um die Reichseinheit zu erhalten.60 Dem wurde jüngst zumindest in einem Punkt widersprochen und betont, es sei dem Kaiser damals allein um eine ungeteilte Weitergabe des Kaisertums gegangen.61 Diese Entscheidung hatte Ludwig der Fromme mit Hilfe eines dreitägigen Fastens legitimiert, mit dem der Wille Gottes erkundet werden und zugleich der Adel auf diese Entscheidung verpflichtet werden sollte. Bei der Ausstattung Pippins und Ludwigs ging es vermutlich vor allem darum, deren subjektiven Thronanspruch zu befriedigen, um das eigentliche Ziel – die Erhaltung des ungeteilten Kaisertums – nicht zu gefährden. Ihre in der Ordinatio imperii näher ausgeführte Unterordnung unter den älteren Bruder ergab sich quasi von selbst aus dem Rangunterschied zwischen einem Kaiser und Königen. Der Ausgang von Ludwigs Bemühungen ist bekannt. Er selbst begann nach 58 Vgl. Kasten, Königssöhne 167f. 59 Ordinatio imperii (817 Juni) (ed. Alfred Boretius, MGH LL Capitularia regum Francorum 1, 1, Hannover 1883) 270–273. 60 Vgl. etwa Egon Boshof, Einheitsidee und Teilungsprinzip in der Regierungszeit Ludwigs des Frommen, in: Charlemagne’s Heir. New Perspectives on the Reign of Louis the Pious (814–840), ed. Peter Godman/Roger Collins (Oxford 1990) 161–189; ders., Ludwig der Fromme (Gestalten des Mittelalters und der Renaissance, Darmstadt 1996), 129–134; Thomas Bauer, Die Ordinatio imperii von 817, der Vertrag von Verdun 843 und die Herausbildung Lotharingiens, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 58 (1994) 1–26; Erkens, Divisio legitima 469–481; Dieter Hägermann, Divisio imperii von 817 und Divisio regni von 831. Überlegungen und Anmerkungen zu den ›Hausgesetzen‹ Karls des Großen und Ludwigs des Frommen, in: Herrscherund Fürstentestamente im westeuropäischen Mittelalter, ed. Brigitte Kasten (Norm und Struktur 29, Köln/Weimar/Wien 2008) 291–299. 61 Steffen Patzold, Eine ›loyale Palastrebellion‹ der ›Reichseinheitspartei‹? Zur Divisio imperii von 817 und zu den Ursachen des Aufstands gegen Ludwig den Frommen im Jahre 830, in: Frühmittelalterliche Studien 40 (2006) 43–77; vgl. auch Kaschke, Reichsteilungen 324–353.

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der Geburt seines Sohnes Karl (des Kahlen) aus zweiter Ehe im Jahr 823, vorsichtig von der Ordinatio imperii abzurücken, um diesem einen Reichsteil zu verschaffen, und scheint auch sonst unglückliche Entscheidungen, insbesondere Personalentscheidungen, getroffen zu haben, was den Widerstand seiner älteren Söhne und breiter Adelskreise provozierte.62 Dies wiederum hielt den Kaiser nicht davon ab, am Ziel der Ausstattung Karls konsequent festzuhalten, sondern veranlasste ihn auch, Lothars Sonderstellung als Mitkaiser zu negieren.63 Erst auf dem Sterbebett 840 scheint er in dieser Hinsicht zu seiner Auffassung von 817 zurückgekehrt zu sein, denn er ließ seinem ältesten Sohn mitteilen, er solle sich der Kaiserin Judith und Karls des Kahlen annehmen und diesem den vor kurzem verabredeten Reichsteil überlassen. Weiter übersandte der Sterbende seinem Mitkaiser ein reich verziertes Schwert und eine Krone. Die ostfränkischen Reichsannalen deuten diese Maßnahme dahingehend, dass Ludwig Lothar damit zum Nachfolger designierte und ihm die Leitung des Reiches übertrug.64 Der älteste Sohn sollte also eine Art Oberhoheit über seine Brüder ausüben. Lothar hat dann auch alles daran gesetzt, zumindest dies oder sogar den weitgehenden Ausschluss seiner Brüder von der Herrschaft zu erreichen, doch letztere besaßen genug Rückhalt im west- bzw. ostfränkischen Adel.65 Lothar konnte sich daher gegen seine Brüder Ludwig den Deutschen und Karl den Kahlen – Pippin war 838 verstorben – nicht durchsetzen. Vielmehr wurde das Reich im Vertrag von Verdun 843 gleichmäßig unter die drei Brüder als gleichberechtigte Herrscher aufgeteilt.66 Interessant sind nun die verschiedenen Nachfolgestrategien der drei Söhne Ludwigs des Frommen. Zunächst zu Lothar : Er ließ seinen ältesten Sohn Ludwig rund ein Jahr nach dem Vertrag von Verdun in Rom zum König der Langobarden krönen.67 Nach altem fränkischem Vorbild sollte Ludwig also als Mittelgewalt 62 Vgl. Boshof, Ludwig der Fromme 178–181; Armin Koch, Kaiserin Judith. Eine politische Biographie (Historische Studien 486, Husum 2005), hier 59–82. 63 Vgl. Boshof, Ludwig der Fromme 227–230 und 233–236. 64 Annales Fuldenses sive Annales regni Francorum orientalis a. 840 (ed. Friedrich Kurze, MGH SS rer. Germ. in us. schol. [7], Hannover 1891) 31; vgl. Boshof, Ludwig der Fromme 249f. 65 Zu diesen Kämpfen vgl. etwa Janet L. Nelson, The search for peace in a time of war: the Carolingian Bruderkrieg 840–843, in: Träger und Instrumentarien des Friedens im hohen und späten Mittelalter, ed. Johannes Fried (Vorträge und Forschungen 43, Sigmaringen 1996) 87–114; Egon Boshof, Das Ringen um die Einheit des Frankenreiches, in: Lothar I. Kaiser und Mönch in Prüm. Zum 1150. Jahr seines Todes, ed. Reiner Nolden (Veröffentlichungen des Geschichtsvereins Prümer Land 55, Prüm 2005) 11–71. 66 Regesta Imperii I, 1. Die Regesten des Kaiserreichs unter den Karolingern 751–918/924 (no. 1103a) (ed. Johann Friedrich Böhmer/Engelbert Mühlbacher, Innsbruck 1908); vgl. etwa Boshof, Ringen 36–38. 67 Regesta Imperii I, 3, 1. Die Karolinger im Regnum Italiae 840–887/888 (no. 27) (ed. Herbert Zielinski, Köln/Weimar/Wien 1998); vgl. Boshof, Ringen 43f.

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eine Randregion des Reiches sichern. 850 entsandte Lothar dann seinen Sohn abermals in die Ewige Stadt, um vom Papst zum Kaiser gekrönt zu werden.68 Damit war die Thronfolge klar vorgezeichnet, zumal die beiden jüngeren Söhne, Lothar und Karl, rund zehn bzw. sogar zwanzig Jahre jünger waren als der Mitkaiser. Auf dem Totenbett aber wich Lothar 855 von seinem Vorhaben ab und bestellte auch seine beiden jüngeren Söhne Lothar und Karl zu Nachfolgern.69 Dabei scheint der Adel, der im sich bildenden Lotharingien beheimatet war, Druck auf den Kaiser ausgeübt zu haben, um den mittleren Sohn Lothar als seinen König durchzusetzen. Sogar die Hilfe Ludwigs des Deutschen nahmen die Adligen dafür in Anspruch. Dennoch bleibt festzuhalten, dass Lothar, selbst Profiteur der Neuerung von 817 und Vertreter der Reichseinheit, lange Zeit die Nachfolge seines ältesten Sohnes favorisierte und diesen deutlich gegenüber seinen anderen Söhnen bevorzugte, indem er ihn zuerst zum König und dann zum Kaiser erheben ließ. Anders und doch ähnlich agierte Ludwig der Deutsche. Er gab zunächst seinem ältesten Sohn Karlmann eine herausgehobene Stellung, indem er ihn in Bayern als Mittelgewalt einsetzte, ohne ihm allerdings den Königstitel zuzubilligen.70 Als sich Karlmann 861 gegen den Vater erhob, scheint dieser seine Meinung zu dessen Ungunsten geändert zu haben und bezog nun auch seine beiden jüngeren Söhne Ludwig und Karl in seine Nachfolgeplanungen mit ein. Allerdings neigte er zeitweise auch wieder Karlmann zu, was mehrere Rebellionen der jüngeren Söhne provozierte, die damit gegen eine Bevorzugung Karlmanns durch den Vater protestierten. Dabei wurden sie von zahlreichen Adligen unterstützt, die offenbar sehr früh ihre Hoffnungen auf die Söhne setzten. 865 oder etwas später unternahm Ludwig der Deutsche dann eine erste offizielle Reichsteilung, behielt sich aber die eigentliche Regierungsgewalt und auch den Königstitel vor. Nach seinem Tod 876 teilten die Söhne dann wie zuletzt vorgesehen sein Reich. Ludwig der Deutsche schwankte also ähnlich wie Lothar I. zwischen Individualsukzession und einer Teilung des Herrschaftsgebiets, aber anders als sein Bruder scheute er vor dem entscheidenden Schritt zurück: der Einsetzung des ältesten Sohnes als Mitherrscher. 68 Regesta Imperii I, 3, 1 (no. 67), ed. Zielinski; vgl. Kasten, Königssöhne 382; Boshof, Ringen 46. 69 Vgl. Kasten, Königssöhne 382–387; Sören Kaschke, Die dispositio regni Lothars I. von 855, in: Lothar I. Kaiser und Mönch in Prüm. Zum 1150. Jahr seines Todes, ed. Reiner Nolden (Veröffentlichungen des Geschichtsvereins Prümer Land 55, Prüm 2005) 89–98, der 91 allerdings gegen Kasten bestreitet, dass Lothar zunächst eine alleinige Nachfolge Ludwigs II. geplant habe, da angesichts der gegenseitigen Abschottung der drei 843 gebildeten Teilreiche das alte Einheitsgefühl verblasst sei und ein Teilreich nun wie früher das Gesamtreich seinerseits geteilt werden konnte; freilich kann man bezweifeln, ob der Zeitraum seit 843 ausgereicht hat, um Lothar von der Unumkehrbarkeit dieser Entwicklung zu überzeugen. 70 Hierzu und zum Folgenden vgl. die umfassende Analyse von Kasten, Königssöhne 498–541.

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Auch Karl der Kahle verhielt sich ähnlich,71 bis auf einen Punkt: Er war der erste Karolinger, der vollbürtige Söhne, denen er sogar exklusive Königsnamen gegeben hatte, in ein Kloster einweisen ließ und damit für eine geistliche Laufbahn vorsah. War der Grund dafür im Falle des gelähmten Lothar dessen Krankheit, ging es bei dem zweiten ins Kloster gegebenen Sohn Karlmann vermutlich um die Reduzierung der Zahl der Erben als Reaktion auf Karls Schwierigkeiten, das ihm 843 zugewiesene Teilreich überhaupt vollständig in Besitz zu nehmen. Große Teile des aquitanischen Adels waren nicht bereit, Karl den Kahlen als König zu akzeptieren und unterstützten weiterhin seinen Neffen Pippin II. Zeitweise wandten sie sich auch Ludwig dem Deutschen bzw. dessen gleichnamigem Sohn zu. Angesichts dieser Probleme machte Karl der Kahle seinen Sohn Karl 855 zum König von Aquitanien. Dieses Königtum diente eindeutig dem Ziel, dem einheimischen Adel entgegenzukommen und so ein umkämpftes Gebiet für den Vater zu sichern. Es handelte sich also um ein Unterkönigtum im traditionellen Sinne, zumal Karl der Kahle seinem ältesten Sohn Ludwig dem Stammler zwar den Dukat Maine überließ, ihn aber nicht zum König machte. Erst 867 erhielt er den königlichen Rang, aber nicht etwa als Mitregent des Vaters oder als Unterkönig in Maine oder Neustrien, sondern als Nachfolger seines inzwischen verstorbenen Bruders in Aquitanien. Kurz: Auch Karl lenkte in die herkömmlichen Bahnen zurück und war nur zum eigenen Vorteil bereit, einem Sohn den Königstitel zuzugestehen. Der Umgang der drei Söhne Ludwigs des Frommen mit ihren jeweiligen Söhnen wurde hauptsächlich von ihren eigenen Erfahrungen als Herrschersöhne bestimmt: Ludwig der Deutsche und Karl der Kahle vermieden es, ihren eigenen Söhnen zu Lebzeiten den Königstitel zuzugestehen. Vermutlich fürchteten sie die Gefahren, die sich aus einem solchen Akt für sie selbst ergeben hätten. Nur Lothar als Kaiser ging zunächst den von Vater und Großvater eingeschlagenen Weg weiter, seinen Nachfolger zum Mitherrscher einzusetzen, verließ ihn dann aber kurz vor seinem Tod doch wieder – möglicherweise nicht aus eigenem Antrieb, sondern auf Wunsch der im späteren Lotharingien beheimateten Großen. Leider lässt sich diese Entwicklung nicht weiterverfolgen, da die karolingische Tradition bereits mit der Generation der Enkel Ludwigs des Frommen abbricht, denn nur einer von diesen acht Königen hinterließ bei seinem Tod legitime Söhne, nämlich Ludwig der Stammler von Westfranken. Aber selbst in seinem Fall gestaltete sich die Nachfolge schwierig.72 Ludwig hatte zwar allein seinen ältesten, gleichnamigen Sohn zum Nachfolger designiert, aber darum kümmerte sich nach seinem Tod 879 niemand, weil der Adel völlig zerstritten war. Ein Teil rief den ostfränkischen König Ludwig den Jüngeren ins Land, eine 71 Vgl. Kasten, Königssöhne 428–480. 72 Vgl. Kasten, Königssöhne 480–490.

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andere Adelsgruppe setzte sich ebenso vehement für die Söhne Ludwigs des Stammlers ein, und zwar gleich für alle beide. Zwischen diesen kam es darüber hinaus noch zu Spannungen, so dass eine unübersichtliche Situation entstand. Von April bis September 879 blieb das Königtum im Westfrankenreich vakant, wurden Ludwig und Karlmann lediglich als filii regis, als Söhne des Königs, bezeichnet. Beide wurden schließlich im September 879 zu Königen gesalbt und gekrönt, dann musste Ludwig der Jüngere abgewehrt werden. Erst danach, im März 880, wurde das Westfrankenreich zwischen beiden Brüdern geteilt. Von zweifelhafter Legitimität war Arnulf von Kärnten, der 887 vom Adel des Ostfrankenreiches dennoch auf den Thron gehoben wurde – gegen Karl den Dicken, ein vollbürtiges Mitglied der Dynastie, das sogar mit der Kaiserkrone ausgezeichnet war.73 Dem Umsturz waren vergebliche Versuche Karls vorausgegangen, seine Nachfolge angesichts eines fehlenden legitimen Sohnes zu regeln. Durch Adoption bestimmte er zunächst Karlmann von Westfranken zum Erben, der allerdings 884 noch vor ihm starb, so dass Karl stattdessen sogar Nachfolger seines Adoptivsohnes wurde. Dann bemühte Karl sich, seinen illegitimen Sohn Bernhard und möglicherweise auch seinen entfernten Vetter Ludwig von Vienne, den Enkel Kaiser Ludwigs II., zu designieren, was wohl schließlich die Revolte des ostfränkischen Adels zugunsten Arnulfs provozierte, während in den übrigen Teilreichen, in Italien und Westfranken, angesichts der dezimierten Dynastie Nicht-Karolinger zu Königen erhoben wurden. Arnulf selbst strebte schon 889 danach, seine Nachfolge seinen unehelichen Söhnen Zwentibold und Ratold zu sichern, aber etliche Franken wollten dies nur gelten lassen, falls dem König nicht noch ein legitimer Sohn geboren würde.74 893 73 Vgl. Hagen Keller, Zum Sturz Karls III. Über die Rolle Liutwards von Vercelli und Liutberts von Mainz, Arnulfs von Kärnten und der ostfränkischen Großen bei der Absetzung des Kaisers, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 22 (1966) 333–384, ND in: Königswahl und Thronfolge in fränkisch-karolingischer Zeit, ed. Eduard Hlawitschka (Wege der Forschung 247, Darmstadt 1975) 432–494, hier 471–477; Gerd Tellenbach, Die geistigen und politischen Grundlagen der karolingischen Thronfolge. Zugleich eine Studie über kollektive Willensbildung und kollektives Handeln im neunten Jahrhundert, in: Frühmittelalterliche Studien 13 (1979) 184–302, hier 300f., ND in: ders., Ausgewählte Abhandlungen 2 (Stuttgart 1988) 503–621, 619f.; Rudolf Schieffer, Karl III. und Arnolf, in: Festschrift für Eduard Hlawitschka zum 65. Geburtstag, ed. Karl Rudolf Schnith/Roland Pauler (Münchener Historische Studien, Abt. Mittelalterliche Geschichte 5, Kallmünz 1993) 133–149; zu Arnulfs Illegitimität vgl. auch Brigitte Kasten, Chancen und Schicksale ›unehelicher‹ Karolinger im 9. Jahrhundert, in: Kaiser Arnolf. Das ostfränkische Reich am Ende des 9. Jahrhunderts, ed. Franz Fuchs/Peter Schmid (Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte B/19, München 2002) 17–52; Matthias Becher, Arnulf von Kärnten – Name und Abstammung eines (illegitimen?) Karolingers, in: Nomen et Fraternitas. Festschrift für Dieter Geuenich zum 65. Geburtstag, ed. Uwe Ludwig/Thomas Schilp (RGA Erg. Bd. 62, Berlin/New York 2008) 665–682. 74 Annales Fuldenses a. 889, ed. Kurze 118; vgl. Kasten, Königssöhne 547f.; Offergeld, Reges pueri 551f.; Matthias Becher, Zwischen König und ›Herzog‹. Sachsen unter Kaiser

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brachte die Königin Ludwig das Kind zur Welt, und damit war die Thronfolge aus Sicht Arnulfs geregelt, zumal das Herrscherpaar keinen weiteren Sohn hatte.75 Der König bemühte sich nun um die Ausstattung seiner illegitimen Söhne. In Lotharingien sah er sich mit den Ambitionen des Welfen Rudolf von Hochburgund konfrontiert. Vermutlich um diesem besser Paroli bieten und zugleich Zwentibold eine angemessene Position geben zu können, ließ er diesen zum lotharingischen König erheben. 894 scheiterte Arnulf noch am Widerstand des Adels, aber im folgenden Jahr wurde Zwentibold als König in Burgundia et omni Hlotharico regno anerkannt, wobei in der Forschung keine Einigkeit über seine Stellung besteht – Unterkönig seines Vaters oder gänzlich eigenständiger Herrscher.76 Nach seiner Kaiserkrönung 896 ließ der bald darauf schwer erkrankte Arnulf Ratold als Vertreter in Italien zurück, der aber keine Unterstützung fand und zu seinem Vater zurückkehrte.77 Bemerkenswert ist, dass Arnulf alles daran setzte, alle seine Söhne zu Königen zu machen, obwohl zwei davon vom ostfränkischen Adel wegen ihrer illegitimen Geburt abgelehnt worden waren. Arnulf dachte aber vermutlich nicht streng legalistisch in erbrechtlichen Kategorien, sondern wollte schlicht alle seine Söhne ›versorgen‹. Dieses Streben galt auch seinem legitimen Sohn Ludwig dem Kind. Wohl angesichts seiner Krankheit ließ der Kaiser die Großen 897 auf ihn vereidigen, machte ihn aber nicht zum König.78 Auch Arnulf zog also eine Erhebung seines Sohnes zum Mitkönig und damit eine unumstößliche vorzeitige Nachfolgeregelung nicht in Betracht bzw. konnte diese gegen seine Großen nicht durchsetzen. So konnten immerhin fast zwei Monate nach dem Tod Arnulfs am 8. Dezember 899 vergehen, bis Ludwig am 4. Februar des folgenden Jahres von Großen des Ostfrankenreiches in Forchheim zum König erhoben wurde.79

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Arnolf, in: Kaiser Arnolf. Das ostfränkische Reich am Ende des 9. Jahrhunderts, ed. Franz Fuchs/Peter Schmid (Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte B/19, München 2002) 89–121, hier 91f. Kasten, Königssöhne 348. Annales Fuldenses, Continuatio Ratisbonensis a. 895, ed. Kurze 126; Regino von Prüm, Chronicon cum continuatione Treverensi a. 895 (ed. Friedrich Kurze, MGH SS rer. Germ in us. schol. [50], Hannover 1890) 143; zu Zwentibold als König von Lothringen vgl. Theodor Schieffer, Die lothringische Kanzlei um 900, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 14 (1958) 17–148, auch separat erschienen: ders., Die lothringische Kanzlei um 900 (Köln/Graz 1958); Kasten, Königssöhne 549; Martina Hartmann, Lotharingien in Arnolfs Reich. Das Königtum Zwentibolds, in: Kaiser Arnolf. Das ostfränkische Reich am Ende des 9. Jahrhunderts, ed. Franz Fuchs/Peter Schmid (Zeitschrift für Bayrische Landesgeschichte B/19, München 2002) 122–142. Kasten, Königssöhne 549f. Hermann von Reichenau, Chronicon a. 897 (ed. Georg Heinrich Pertz, MGH SS 5, Hannover 1844) 67–133, hier 111; vgl. Offergeld, Reges pueri 521 mit Anm. 705. Regesta Imperii I, 1 (no. 1983d), ed. Böhmer/Mühlbacher ; vgl. Michael Sierck, Festtag und Politik. Studien zur Tagewahl karolingischer Herrscher (Archiv für Kulturgeschichte, Beiheft 38, Köln/Weimar/Wien 1995) 95 mit Anm. 140.

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Dieser lange Zeitraum zwischen dem Tod des Vaters und der Entscheidung über den neuen König lässt auf einige Probleme schließen. In einem Brief des Erzbischofs Hatto von Mainz an den Papst ist von einem commune consilium die Rede, das der Wahl vorangegangen sei. Anfangs sei man noch über den richtigen Königskandidaten unsicher gewesen, aber schließlich habe man aus Sorge um den Bestand des Reiches Ludwig quamvis parvissimus gewählt.80 Es wurde also tatsächlich noch über die vom Vater vorbereitete Nachfolge des Sohnes verhandelt. Man kann nur vermuten, dass zumindest einige Große auch Ludwigs Halbbruder Zwentibold von Lotharingien als Nachfolger favorisierten.81 Trotz aller Bekundungen für den legitimen Herrschersohn war dessen Thronbesteigung also längst kein Automatismus – ein deutliches Zeichen für die Macht des Adels in der Nachfolgefrage. Sichtet man die karolingischen Nachfolgeregelungen im Hinblick auf Reichsteilungen, so ist die Bilanz ernüchternd: Es gab gerade einmal zwei ausgeführte Reichsteilungen, 768 und 843, dazu die Teilungen von Ost- und Westfrankenreich 876 und 880. Bei den nichtausgeführten Nachfolgeregelungen von 806 und 817 favorisierte die jüngere eine Art Individualsukzession, die ältere bevorzugte immerhin den ältesten Sohn. Dabei war 817 ein neues Element der Nachfolgeregelung die Erhebung des ältesten Sohnes zum Mitherrscher. Diese Übernahme byzantinischer Traditionen wurde von den Franken allerdings nur sehr zurückhaltend akzeptiert, vermutlich weil sie ihr bis dahin stets ausgeübtes Mitwirkungsrecht bei der Nachfolgeregelung nach dem Tod des Herrschers eingeschränkt sahen. Zumindest sah sich Ludwig der Fromme 817 genötigt, eine ausgeklügelte Legitimationsstrategie anzuwenden, um seinen ältesten Sohn als Mitkaiser und Haupterben durchzusetzen. Bezeichnend ist, dass nur Lothar, sein Nachfolger als Kaiser, erneut zu dieser Maßnahme greifen konnte, während die übrigen karolingischen Herrscher des 9. Jahrhunderts keinen ihrer Söhne zum 80 Der angebliche Brief des Erzbischofs Hatto von Mainz an Papst Johann IX., ed. Harry Bresslau, in: Historische Aufsätze. Festgabe Karl Zeumer zum 60. Geburtstag (Weimar 1910) 9–30, hier 27; zur Echtheit des Briefes vgl. Fritz Losˇek, Die Conversio Bagoariorum et Carantanorum und der Brief des Erzbischofs Theotmar von Salzburg (MGH Studien und Texte 15, Hannover 1997), hier 55–87. 81 Vgl. Matthias Becher, Luxuria, libido und adulterium. Kritik am Herrscher und seiner Gemahlin im Spiegel der zeitgenössischen Historiographie (6. bis 11. Jahrhundert), in: Heinrich IV., ed. Gerd Althoff (Vorträge und Forschungen, im Druck [Stand 2009, erschienen als Vorträge und Forschungen 69, Ostfildern 2009, 41–72]) nach Anm. 126; dagegen sah Helmut Beumann, Die Einheit des ostfränkischen Reiches und der Kaisergedanke bei der Königserhebung Ludwigs des Kindes, in: Archiv für Diplomatik 23 (1977) 142–163, ND in: ders., Ausgewählte Aufsätze aus den Jahren 1966-1986, ed. Jürgen Petersohn/Roderich Schmidt (Sigmaringen 1987) 44–65, vor allem den Wunsch, Ludwig dem Papst als adäquaten Kaiserkandidaten zu präsentieren, hinter der angedeuteten Rhetorik des Briefes; anders Carlrichard Brühl, Deutschland – Frankreich. Die Geburt zweier Völker (Köln/Wien 1990) 390f.

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Mitherrscher erheben wollten oder wohl eher konnten, nicht einmal der schon zum Kaiser gekrönte Arnulf von Kärnten.

Mitkönigtum und Individualsukzession im 10. Jahrhundert Die biologische Schwäche der karolingischen Dynastie führte dazu, dass nach dem Sturz Karls des Dicken 887 in allen Teilreichen außer Ostfranken andere Adelsgeschlechter zur Königswürde aufstiegen. Und nicht nur das: In Italien kämpften Wido von Spoleto und Berengar von Friaul, der sich mit Arnulf von Kärnten arrangiert hatte, um die Macht. Für Papst Stephan V. scheint aber zunächst allein Arnulf als Karolinger für die Kaiserwürde in Frage gekommen zu sein.82 Als der ostfränkische König 890 aber eine Einladung Stephans nach Italien ablehnte, arrangierte sich der Papst mit Wido und krönte diesen am 21. Februar 891 als ersten Nicht-Karolinger zum Kaiser. Zu Ostern 892 folgte die Erhebung von Widos Sohn Lambert zum Mitkaiser durch Stephans Nachfolger Formosus in Ravenna.83 Diese Maßnahme erwuchs also nicht wie bisher aus dem Anspruch auf eine Herrschaft über zumindest die lateinische Christenheit, sondern aus der Machtsicherungspolitik eines regionalen Potentaten, der entsprechend begrenzte Ziele verfolgte und letztlich scheiterte: Wido starb 894 und Lambert folgte ihm 898 ins Grab. Die beiden nächsten Kaiser nach Arnulfs Tod, Ludwig der Blinde und Berengar I., waren nicht minder beschränkt in ihren Möglichkeiten und hatten außerdem keine Söhne. Mit Berengars Ermordung 924 erlosch vorerst das westliche Kaisertum. Allerdings strebte Hugo von Vienne, seit 926 König von Italien, ebenfalls nach der Kaiserwürde. Ob nach kaiserlichem Vorbild oder schlicht zur Herrschaftssicherung – er war jedenfalls der erste König im karolingischen Imperium und seinen Nachfolgereichen, der noch vor seinem Tod seinen Sohn zum Mitkönig erheben ließ: Seit 931 war sein einziger Sohn Lothar Mitregent in Italien. Dieser konnte sich als Herrscher ab 946 niemals gegen den mächtigen Markgrafen Berengar von Ivrea, den Enkel Kaiser Berengars I., durchsetzen. Als Lothar 950 starb, wurde Berengar II. zusammen mit seinem 82 Zum Schicksal der Kaiserwürde nach 887 vgl. den konzisen Überblick bei Brühl, Deutschland – Frankreich 514–523 mit weiterer Literatur ; sowie Werner Maleczek, Überlegungen zur Kaiserkrönung von 962, in: Mediaevalia Augiensia. Forschungen zur Geschichte des Mittelalters, ed. Jürgen Petersohn (Vorträge und Forschungen 54/3, Stuttgart 2001), 151–204, hier 170–176, der an den Kaiserplänen Hugos von Vienne zweifelt, aber konzediert, dass dieser seine Herrschaft auf Rom ausdehnen wollte, wofür das Kaisertum der beste Rechtstitel war. 83 Vgl. Girolamo Arnaldi, Papa Formoso e gli imperatori della casa di Spoleto, in: Annali della Facolt/ di Lettere di Napoli 1 (1951) 85–104.

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Sohn Adalbert zum König erhoben – offensichtlich ebenfalls, um den Thron für die noch junge Dynastie zu sichern. Das Vorbild der diversen italienischen Könige, aber auch das der byzantinischen Kaiser mag Otto den Großen inspiriert haben, als er 961 seinen gleichnamigen Sohn zum König wählen ließ, bevor er nach Italien aufbrach, um die Macht Berengars II. zu brechen und die Kaiserwürde zu erringen.84 Bis dahin hatte es nördlich der Alpen keine Mitkönige gegeben. Das Ostfrankenreich gewann nach dem Aussterben der Karolinger 911 und dem Tod Konrads I. 918 relativ rasch wieder dynastische Kontinuität unter den Liudolfingern. Ihre Anfänge als Herrscherfamilie waren allerdings längst nicht so glanzvoll wie etwa die der Karolinger 751. Heinrich I. wurde lediglich von einem Teil des ostfränkischen Adels gewählt, von Franken und Sachsen, während Alemannen und Bayern vorerst abseits blieben.85 Eine Königssalbung erfolgte nicht. Noch viel weniger wurde Heinrichs Frau Mathilde oder seinem Sohn Otto – damals sein einziger männlicher Nachkomme – eine Weihehandlung zuteil. Mag sein Königtum auch von Anfang an sakrale Züge getragen haben, Heinrichs allmählich steigende Akzeptanz beim weltlichen Adel beruhte allein auf seinen Erfolgen. Dennoch behielten die Herzöge von Alemannien und Bayern sowie der Konradiner Eberhard in Ostfranken eine vergleichsweise starke Stellung. Heinrichs Ansehen und Macht reichten daher nur, um 929 seinen ältesten Sohn Otto zum Nachfolger zu designieren, während der mittlere Sohn Heinrich lediglich mit Gütern und Schätzen abgefunden und der jüngste Brun für eine geistliche Karriere vorgesehen wurde.86 Eine Reichsteilung konnte Heinrich I. nicht in Betracht ziehen, und zumindest die Mehrheit des Adels tat dies auch 936 nach seinem Tod nicht, als sie Otto zum König erhob, zumal dessen jüngerer Bruder Heinrich sich damals vermutlich in seiner Gewalt befand; allerdings ist auch von Auseinandersetzungen zwischen den Brüdern die Rede – der jüngere Heinrich verfügte also ebenfalls über Anhänger, allen voran seine Mutter 84 Eine etwas zu einseitig auf Byzanz ausgerichtete Sicht bietet Werner Ohnsorge, Die Idee der Mitregentschaft bei den Sachsenherrschern, in: Festschrift für Hanns Leo Mikoletzky (Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 25, Wien 1972) 539–548. 85 Zu Heinrich I. vgl. etwa Gerd Althoff/Hagen Keller, Heinrich I. und Otto der Große. Neubeginn und karolingisches Erbe, 2 Bde (Göttingen/Zürich 1985); Brühl, Deutschland – Frankreich 411–460; Johannes Laudage, Otto der Große, 912–973. Eine Biographie (Regensburg 2001) 76–95. 86 Zuletzt dazu Thomas Zotz, Um 929. Wie der Typ des Alleinherrschers (monarchus) durchgesetzt wurde, in: Die Macht des Königs. Herrschaft in Europa vom Frühmittelalter bis zur Neuzeit, ed. Bernhard Jussen (München 2005) 90–105 und 375–376; Matthias Becher, Loyalität oder Opposition? Die Sachsen und die Thronfolge im Ostfrankenreich (929–939), in: Zentren herrschaftlicher Repräsentation im Hochmittelalter. Geschichte, Architektur und Zeremoniell, ed. Caspar Ehlers/Jörg Jarnut/Matthias Wemhoff (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 11/Deutsche Königspfalzen. Beiträge zu ihrer historischen und archäologischen Erforschung 7, Göttingen 2007) 69–86.

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Mathilde, die seinen Thronanspruch unterstützten.87 In der Folgezeit erhob sich Heinrich dann regelrecht gegen den Bruder, strebte aber allem Anschein nach keine Reichsteilung an, sondern wollte die Krone für sich allein,88 was sicherlich auch dem Willen der ihn unterstützenden Großen Eberhard von Franken und Giselbert von Lothringen entsprochen haben dürfte. Otto der Große selbst regelte seine Nachfolge zunächst ähnlich wie sein Vater. Allerdings besaß er aus seiner Ehe mit der angelsächsischen Königstochter Edgitha nur einen Sohn, Liudolf, den er 946 zum Nachfolger designierte.89 In Anbetracht von Ottos zweiter Ehe mit Adelheid, die die Möglichkeit weiterer Söhne barg, fürchtete Liudolf jedoch um seine Stellung und erhob sich gegen den Vater.90 Sein früher Tod 957 enthob den König der Aufgabe, zwischen ihm und seinem 955 geborenen und damit erheblich jüngeren Halbbruder Otto wählen oder gar eine Reichsteilung anstreben zu müssen. Vor seinem Italienzug 961 ordnete Otto der Große dann seine Nachfolge auf eine im Ostfrankenreich noch nicht dagewesene Weise: Er ließ seinen gleichnamigen Sohn zum König erheben.91 Die Quellen betonen teilweise dessen jungendliches Alter und auch das Ungewöhnliche des gesamten Vorgangs. Vermutlich konnte Otto der Große, der damals dank seiner Siege über innere und äußere Gegner eine einzigartige Stellung einnahm, die Wahl seines Sohnes vergleichsweise leicht durchsetzen, zumal ihm mit dem Hilfegesuch des Papstes und der Treulosigkeit Berengars unabweisliche Argumente für den Italienzug zur Verfügung standen, die sich leicht auch auf die Königserhebung seines Sohnes ausdehnen ließen. Im gewissen Sinne erhielt Otto II. damals eine einem Unterkönig vergleichbare Aufgabe: Er sollte während der Abwesenheit seines Vaters das Reich nördlich der Alpen für diesen sichern. Ob beabsichtigt oder nicht, jedenfalls verbrachte Otto der Große nach seiner Kaiserkrönung bis zu seinem Tod weitaus die meiste Zeit in Italien, wohin sich auch Otto II. 967 zu begeben hatte, um ebenfalls zum Kaiser

87 Vgl. Becher, Loyalität 79f. 88 Zum Verlauf der Auseinandersetzungen vgl. etwa Matthias Becher, Rex, Dux und Gens. Untersuchungen zur Entstehung des sächsischen Herzogtums im 9. und 10. Jahrhundert (Historische Studien 444, Husum 1996) 243–246; ders., Loyalität 83f.; Laudage, Otto der Große 115–119. 89 Vgl. Laudage, Otto der Große 127f. 90 Zu den Motiven Liudolfs vgl. etwa Andreas Kalckhoff, Historische Verhaltensforschung: Ethnologie unserer Vergangenheit. Die Konfiguration eines Aufstandes im zehnten Jahrhundert, in: Unter dem Pflaster liegt der Strand. Zeitschrift für Kraut und Rüben 1 (1982) 145–194; Laudage, Otto der Große 154–157; zuletzt Adelheid Krah, Der aufständische Königssohn. Ein Beispiel aus der Ottonenzeit, in: MIÖG 114 (2006) 48–64. 91 Regesta Imperii II, 1, 1. Die Regesten Heinrichs I. und Ottos I. (919–973) (no. 297a) (ed. Johann Friedrich Böhmer/Emil von Ottenthal/Hans Heinrich Kaminsky, Hildesheim 1967); vgl. Laudage, Otto der Große 184; Rudolf Schieffer, Otto II. und sein Vater, in: Frühmittelalterliche Studien 36 (2002) 255–269.

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gekrönt zu werden. Damit diente seine Mitherrschaft eindeutig der Sicherung der Nachfolge. Die Erhebungen Ottos II. 961 zum König und 967 zum Kaiser sollten vorbildhaft wirken. Lothar von Westfranken folgte 979 dem Beispiel seines Onkels Otto des Großen und ließ seinen Sohn Ludwig V. zum Mitkönig erheben; allerdings ging es ihm auch um die Abwehr der Ansprüche seines Bruders Karl von Niederlothringen.92 Im Übrigen war die Stellung der letzten Karolinger im Westfrankenreich so schwach und die der königsgleich in ihren Gebieten herrschenden Fürsten so stark, dass eine Reichsteilung nicht mehr in Frage kam.93 Otto II. selbst folgte dem Beispiel seines Vaters 983, als er seinen kleinen Sohn Otto zum König erheben ließ.94 Im Westfrankenreich diente das Mitkönigtum noch während des Dynastiewechsels hin zu den Kapetingern 987 der Sicherung der Dynastie: Hugo Capet ließ gleich nach seinem Herrschaftsantritt seinen Sohn Robert zum König erheben.95 Im Westfrankenreich wurde dies zur Regel, bis der Thronanspruch der Kapetinger derart unbestritten war, dass darauf verzichtet werden konnte. Im Ostfrankenreich wurde die Tradition bis in die Stauferzeit fortgeführt, aber immer wieder auch durch mangelnde dynastische Kontinuität unterbrochen. Trotz besserer Voraussetzungen nahm daher hier die Weiterentwicklung der Staatlichkeit in Deutschland einen anderen Weg als in Frankreich.

Zusammenfassung Der Überblick über die Geschichte des Frankenreiches bis zum Ende des 10. Jahrhunderts hat ergeben, dass nicht die Dynastie die Art der Thronfolge vorgab, sondern das Volk bzw. der Adel großen Einfluss nahm und die Dynastie gewissermaßen formte. Diese behandelte daher das Reich nicht wie Eigenbesitz, sondern stellte je nach familiärer Konstellation lediglich Handlungsoptionen für 92 Vgl. Geoffrey Koziol, A father, his son, memory, and hope: The joint diploma of Lothar and Louis V (Pentecost Monday, 979) and the limits of performativity, in: Geschichtswissenschaft und ›performative turn‹. Ritual, Inszenierung, Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit, ed. Jürgen Martschukat/Steffen Patzold (Norm und Struktur 19, Köln/Weimar/Wien 2003) 83–103; zur angeblichen Königserhebung Karls von Niederlothringen 978 vgl. Brühl, Deutschland – Frankreich 567. 93 Die von Carlrichard Brühl, Karolingische Miszellen 1, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 44 (1988) 355–389, hier 386f., für 953 angenommene Erhebung Karls zum König von Burgund durch seinen Vater Ludwig IV. wäre als Unterkönigtum im herkömmlichen Sinne zur Sicherung einer Randregion zu betrachten, zumal sein älterer Bruder Lothar damals ohne Königstitel blieb. 94 Vgl. Offergeld, Reges pueri 656f. 95 Vgl. Brühl, Deutschland – Frankreich 339 und 596.

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den zumeist entscheidenden Adel dar. Den Schlüssel zum Problem kann man daher mit Bernd Schneidmüller in einem auf Konsens ausgerichteten Herrschaftsstil suchen.96 Oder anders ausgedrückt: Ein König und seine Dynastie konnten nur überleben, wenn ihre Anhängerschaft groß genug war. Dies äußerte sich am deutlichsten bei der Regelung der Nachfolge, die über lange Zeit weniger geprägt war vom Willen des regierenden Königs als vom Willen der Großen. Die Geschichte der frühmittelalterlichen Dynastien war also weit weniger von tradierten erb- und privatrechtlichen Vorstellungen bestimmt als vielmehr vom Zusammenspiel von Königtum und Adel. Wie bei jeder Monarchie wurden erbrechtliche Überlegungen von den Königssöhnen als Argument eingesetzt, um Herrschaftsansprüche zu rechtfertigen, aber letztlich blieb der Erfolg einer solchen Strategie stets abhängig vom Rückhalt beim Adel. Dies gilt insbesondere für das Frankenreich des 6. Jahrhunderts, das weit weniger als Folge eines patrimonialen Herrschaftsverständnisses der Merowinger als vielmehr im Zusammenspiel von Dynastie und Großen geteilt wurde. Die Frage der herrschaftlichen Ordnung wurde also als Angelegenheit aller politisch Handelnden begriffen, keineswegs als Privatangelegenheit der Herrscherfamilie. Interessant ist, dass die ersten merowingischen Könige, die mehrere Söhne besaßen, allem Anschein nach zu Lebzeiten keine Teilungsanordnungen hinterlassen haben, sondern das Reich erst nach ihrem Tod als Folge eines Interessensausgleichs von neuen Königen und Adel geteilt wurde. Gleichwohl waren die Königssöhne schon zu Lebzeiten des Vaters in aller Regel ernstzunehmende Machtfaktoren.97 Schon früh schlossen sich ihnen Gefolgsleute an, so dass sie ihrem jeweiligen Vater gegebenenfalls frühzeitig Schwierigkeiten bereiten konnten und im Falle seines Todes in der Lage waren, ihre Ansprüche gegen ihre Brüder durchzusetzen. Königssöhne waren nur selten bereit, sich in die Gemeinschaft ihrer Brüder einzufügen, sondern sie verfolgten zumeist eigene Ziele. Die Stabilität der Dynastie allgemein war daher neben äußeren Faktoren auch von der jeweiligen inneren Konstellation abhängig: Besaß ein König viele Söhne, destabilisierte dies seine Herrschaft, weil eine natürliche Konkurrenz zwischen ihnen bestand und ein jeder eine für sich ungünstige Nachfolgeregelung des Vaters fürchtete. Zugleich festigte die Existenz 96 Bernd Schneidmüller, Konsensuale Herrschaft. Ein Essay über Formen und Konzepte politischer Ordnung im Mittelalter, in: Reich, Regionen und Europa in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Peter Moraw, ed. Paul-Joachim Heinig/Sigrid Jahns/Hans-Joachim Schmidt/Rainer Christoph Schwinges/Sabine Wefers (Historische Forschungen 67, Berlin 2000) 53–87; für das Frühmittelalter vgl. auch schon Jürgen Hannig, Consensus fidelium. Frühfeudale Interpretationen des Verhältnisses von Königtum und Adel am Beispiel des Frankenreiches (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 27, Stuttgart 1982). 97 Vgl. auch Karl-Heinrich Krüger, Herrschaftsnachfolge als Vater-Sohn-Konflikt, in: Frühmittelalterliche Studien 36 (2002) 225–240.

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mehrerer Söhne aber bis in die Ottonenzeit hinein auch die Herrschaft der Dynastie, weil sich der auf die Durchsetzung seiner Interessen bedachte Adel um sie scharte und sie als Alternativen zum regierenden König oder zu anderen Königssöhnen sehen konnte. Dagegen stärkte ein einziger Königssohn in der Regel die Herrschaft des Vaters, weil er nicht um seine Nachfolgerechte bangen und infolgedessen auch nicht die Herrschaft des Vaters in Frage stellen musste,98 destabilisierte aber die Herrschaft der Dynastie, weil der oppositionelle Adel bei ernsten Rebellionen einen Dynastiefremden als Thronkandidaten präsentierte wie im gewissen Sinn schon 887 und dann unter den Saliern im 11. Jahrhundert. Angesichts der skizzierten Strukturen war die Einführung einer modifizierten Individualsukzession durch Ludwig den Frommen ein großes Wagnis. Dabei stand das byzantinische Vorbild Pate, insbesondere die Mitkaisererhebung zur frühzeitigen Regelung der Nachfolge. Freilich führte die ambivalente Haltung des Kaisers zu seinem ältesten Sohn und Mitkaiser zumindest vorübergehend zu einer Stärkung des Teilungsprinzips. Dazu gehört, dass in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts die Erhebung zum Mitherrscher weder im Ost- noch im Westfrankenreich eine Option war. Anscheinend blieb dies zunächst dem Kaiser vorbehalten und, da dieser faktisch auf Italien beschränkt war, in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts auch den italienischen Königen. Nördlich der Alpen stand dagegen zunächst die Frage der Unteilbarkeit des Reiches im Vordergrund, die 929 von Heinrich I. angesichts der Beschränkung seiner faktischen Herrschaft auf Sachsen und die Francia orientalis angestrebt wurde, was nun auch den Wünschen des Adels, vor allem der neu etablierten Herzöge, entsprochen haben dürfte. Insofern schuf der nach 919 zwischen ihnen und Heinrich I. gefundene Kompromiss über die Machtverteilung zwischen König und Herzögen auch neue Voraussetzungen für die Regelung der Thronfolge. Aber erst eine Generation später kam die Erhebung zum Mitkönig hinzu, bezeichnenderweise im Kontext der Ambitionen Ottos des Großen auf Italien und das Kaisertum. Dazu kommt Ottos Ausnahmestellung im Jahr 961: Er hatte eine äußerst erfolgreiche Herrschaft hinter sich – zumindest hatte er alle seine Feinde besiegt und überlebt – und er besaß als älterer Mann lediglich einen Sohn. Otto brauchte daher keine Widerstände aus der eigenen Familie zu fürchten, als er seinen gleichnamigen Sohn zum Mitkönig erheben ließ. Dieser Akt sollte vorbildhaft für künftige Thronfolgen nicht nur im Ost-, sondern wegen der engen familiären Bande zwischen Ottonen und Karolingern vermutlich auch im Westfrankenreich sein. Dass die Könige der nächsten Generation, Otto II. und Lothar, ihrerseits jeweils nur einen Sohn besaßen, war ein weiterer genealogischer Zufall, der die 98 Ausnahmen waren die Söhne Heinrichs IV., Konrad (III.) und Heinrich V., deren Opposition gegen den Vater aber im Kontext der Auseinandersetzung mit dem Papst gesehen werden muss.

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Tendenz zur Mitkönigserhebung zusätzlich beförderte. Dabei agierten beide Herrscher auf der Grundlage gänzlich unterschiedlicher Positionen: Im Westfrankenreich hatten die Fürsten schon derart starke Machtpositionen errungen, dass ihnen die Königwürde wohl unattraktiv erschien, während der Herrscher im Ostfrankenreich das Argument weitgespannter Aufgaben auf seiner Seite hatte: Ein Italienzug barg stets große Gefahren in sich, so dass dem Adel die Wahl seines einzigen Sohnes vermutlich aus Gründen künftiger Stabilität und des inneren Friedens geboten erschien bzw. aus Sicht des Königs leichter nahe zu bringen war. Grundsätzlich kann man daher festhalten, dass die Durchsetzung der Individualsukzession wie die merowingischen und karolingischen Teilungen auf einen Interessensausgleich zwischen Herrscher und Adel zurückgeht.

Non enim habent regem idem Antiqui Saxones… Verfassung und Ethnogenese in Sachsen während des 8. Jahrhunderts

Sämtliche moderne Darstellungen der frühmittelalterlichen Geschichte kommen nicht umhin, sich mit den damaligen Völkern oder Stämmen zu beschäftigen. Lange Zeit wurden diese Worte vergleichsweise wenig reflektiert, bis die grundlegenden Forschungen von Reinhard Wenskus und Herwig Wolfram über die ethnogenetischen Prozesse besonders der Völkerwanderungszeit den Volksoder Stammesbegriff selbst zum Forschungsobjekt machten1. So wurde vorgeschlagen, auf das Wort ›Stamm‹ im Sinne einer Untereinheit des germanischen ›Volkes‹ ganz zu verzichten2. Sicherlich könnte man weiter erwägen, ›Volk‹ durch den aus den Quellen entlehnten Begriff gens zu ersetzen. Doch ist mit Walter Pohl und Johannes Fried davor zu warnen, kritiklos die frühmittelalterlichen Vorstellungen von einer gens zu übernehmen3. Die Ansichten darüber waren durch Erstdruck in: Sachsen und Franken in Westfalen. Zur Komplexität der ethnischen Deutung und Abgrenzung zweier frühmittelalterlicher Stämme, hg. von Hans-Jürgen Häßler (Studien zur Sachsenforschung 12), Oldenburg 1999, S. 1–31. 1 Reinhard Wenskus, Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frühmittelalterlichen gentes, Köln – Graz 1961; Herwig Wolfram, Geschichte der Goten: Von den Anfängen bis zur Mitte des sechsten Jahrhunderts. Entwurf einer historischen Ethnographie. Übersetzte und revidierte Fassung, München 21980. 2 Wenskus, Stammesbildung (wie Anm. 1), S. 82ff.; Jörg Jarnut, Aspekte frühmittelalterlicher Ethnogenese in historischer Sicht, in: Entstehung von Sprachen und Völkern. Glotto- und ethnogenetische Aspekte europäischer Sprachen. Akten des 6. Symposions über Sprachkontakt in Europa, Mannheim 1984, hg. von P. Sture Ureland (Linguistische Arbeiten 162) Tübingen 1985, S. 83–91, S. 83f.; Carlrichard Brühl, Deutschland – Frankreich. Die Geburt zweier Völker, Köln – Wien 1990, S. 260ff.; Johannes Fried, Der Weg in die Geschichte. Die Ursprünge Deutschlands bis 1024 (Propyläen Geschichte Deutschlands 1) Berlin 1994, S. 81; G. Wirth, Art. ›Stamm‹, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 8, München 1997, Sp. 42f. 3 Walter Pohl, Strategie und Sprache. Zu den Ethnogenesen des Frühmittelalters, in: Entstehung von Sprachen und Völkern (wie Anm. 2), S. 93–101, S. 94; Johannes Fried, Gens und regnum. Wahrnehmungs- und Deutungskategorien politischen Wandels im früheren Mittelalter. Bemerkungen zur doppelten Theoriebindung des Historikers, in: Sozialer Wandel im Mittelalter. Wahrnehmungsformen, Erklärungsmuster, Regelungsmechanismen, hg. von Jürgen Miethke und Klaus Schreiner, Sigmaringen 1994, S. 73–104, S. 76ff.; vgl. allgemein auch Karl Ferdinand Werner, Art. ›Volk, Nation, Nationalismus, Masse (Mittelalter)‹, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in

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Ausbildung und Erfahrungen des jeweiligen Chronisten oder Annalisten bestimmt und entsprachen nicht unbedingt den tatsächlichen Gegebenheiten4. Fried konnte das am Beispiel der Normannen und ihrer Behandlung in den fränkischen Quellen veranschaulichen5. Die fränkischen Autoren des 9. Jahrhunderts deuteten die verschiedenen Gruppen skandinavischer Herkunft, die ihre Heimat überfielen, als einheitliches Volk, das sie Normannen nannten. Sie glaubten also an eine gemeinsame gentile Herkunft der so Bezeichneten und an eine einheitliche politische Führung ähnlich dem fränkischen Königtum. Beides traf in Wirklichkeit nicht zu, doch das Deutungsmuster war stärker. Auch andere Gruppenbezeichnungen beruhen nicht zwingend auf ethnischen Gegebenheiten6. Wie sind vor dem skizzierten Hintergrund unsere Informationen über die Sachsen zu bewerten? Mustert man die vor der Unterwerfung der Sachsen durch Karl den Großen im letzten Viertel des 8. Jahrhunderts entstandenen Nachrichten aus der Feder römischer oder fränkischer Autoren, drängt sich der Eindruck auf, daß es sich bei ihnen zumeist um ›Begegnungsmeldungen‹ handelt, also um Berichte über kriegerische Zusammenstöße7. Die Quellenlage ist somit derjenigen über die Normannen des 9. Jahrhunderts vergleichbar, denn auch im Falle der Sachsen bleiben uns Einsichten in ihre inneren Verhältnisse versagt. Mit Adolf Hofmeister interpretiert die Forschung den Sachsennamen seit jeher als Ausdruck eines Gemeinschaftsbewußtseins, dies freilich zumeist implizit8. Ist das jedoch berechtigt? Müßte nicht zunächst einmal die Frage diskutiert werden, ob es sich bei dem Wort Saxones nicht um eine Sammelbezeichnung handelte, die vor allem die Franken und Angel-

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Deutschland, hg. von Otto Brunner – Werner Conze – Reinhart Koselleck, Bd. 7, Stuttgart 1992, S. 171–281. Zu solchen Deutungsmustern vgl. auch Arnold Angenendt, Der eine Adam und die vielen Stammväter. Idee und Wirklichkeit der Origo gentis im Mittelalter, in: Herkunft und Ursprung. Historische und mythische Formen der Legitimation, hg. von Peter Wunderli, Sigmaringen 1994, S. 27–52. Fried, Gens und regnum (wie Anm. 3), S. 79ff. So zum Beispiel die Salier, vgl. jetzt Matthias Springer, Gab es ein Volk der Salier?, in: Nomen et gens. Zur historischen Aussagekraft frühmittelalterlicher Personennamen, hg. von Dieter Geuenich – Wolfgang Haubrichs – Jörg Jarnut (Ergänzungsbände zum Reallexikon der germanischen Altertumskunde 16) Berlin – New York 1997, S. 58–83. Vgl. Walther Lammers, Die Stammesbildung bei den Sachsen. Eine Forschungsbilanz, in: Westfälische Forschungen 10, 1967, zit. nach dem ND in: Entstehung und Verfassung des Sachsenstammes, hg. von dems. (WdF 50) Darmstadt 1967, S. 263–331, S. 282ff.; Horst Zettel, Das Sachsenbild der Franken in zeitgenössischen Quellen der Merowinger- und Karolingerzeit, in: Studien zur Sachsenforschung 6, 1987, S. 269–277. Adolf Hofmeister, Die Jahresversammlung der alten Sachsen zu Marklo, in: HZ 118, 1917, S. 189–221, S. 218f.; Heinz Stoob, Gestalt und Wandel der Stammesgliederung in Alt-Niedersachsen vom frühen bis zum hohen Mittelalter, in: Nordost-Archiv 21, 1988, S. 121–137, S. 129.

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sachsen gebrauchten, um ein Konglomerat von Völkerschaften zu beschreiben, die zwischen dem Rhein und der Elbe, den Mittelgebirgen und der Nordsee siedelten? Bonifatius etwa spricht zwar in der Mehrzahl seiner von ihm selbst geschriebenen bzw. veranlaßten Briefe von den Saxones bzw. Altsaxones9, aber in einem in der Sammlung seiner Korrespondenz erhaltenen Papst-Brief wird durchaus auch feiner differenziert. Dieses Schreiben ist gerichtet an Thuringis et Hessis, Bortharis et Nistresis, Uuedreciis et Lognais, Suduodis et Graffeltis10. Die Borthari, gemeint sind wohl die an der Diemel siedelnden Brukterer, und ihre Nachbarn, die Nistresi, werden seit langem von der Forschung zu den Sachsen gezählt11. Dies spielte aber für den Papst und Bonifatius, auf den diese Anrede sicherlich zurückgeht, keine Rolle. Für den mit den Verhältnissen vertrauten Bonifatius und seinen Kreis war es also nicht unbedingt notwendig, den Oberbegriff ›Sachsen‹ zu benutzen. Vor allem Wenskus hat den älteren Vorstellungen von einem einheitlichen Sachsenvolk, das sich erobernd von Hadeln, dem Land zwischen Elbe- und Wesermündung, die angrenzenden Gebiete bis zu den Mittelgebirgen hin unterwarf, ein anderes Modell entgegengesetzt: Er konnte wahrscheinlich machen, daß die Sachsen aus einer Vielzahl von Völkerschaften zusammengewachsen waren12, die teils aus dem heutigen Dänemark eingewandert, teils seit längerem im Lande ansässig waren13. Einige von ihnen, wie etwa die Nordschwaben, die Haruden oder die Barden, lassen sich zumindest dem Namen nach noch am 9 So etwa der Priester Wigbert an Lul von Mainz, Sancti Bonifatii et Lulli epistolae, ed. Michael Tangl (MGH Epp. sel. 1) Berlin 1916, Nr. 137, S. 276: De cetero autem, si in regione gentis nostrae, id est Saxanorum, aliqua ianua divinae misericordiae aperta sit, remendare nobis id ipsum curate. 10 Epistolae Bonifatii (wie Anm. 9), Nr. 43, S. 68. 11 Heinrich Boehmer, Zur Geschichte des Bonifatius, in: Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte 50, 1917, S. 171–215, S. 173ff.; Edmund E. Stengel, Politische Wellenbewegungen im hessisch-westfälischen Grenzgebiet, in: Mitteilungen des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde 1927, zit. nach dem ND in: Ders., Abhandlungen und Untersuchungen zur hessischen Geschichte, Marburg 1960, S. 347–354, S. 349; Kurt Dietrich Schmidt, Bonifatius und die Sachsen, in: St. Bonifatius. Gedenkgabe zum 1200. Todestage, Fulda 21954, S. 239f., 242f.; Theodor Schieffer, Winfrid-Bonifatius und die christliche Grundlegung Europas, Freiburg 1954, S. 178ff.; Wilhelm Niemeyer, Der Pagus des frühen Mittelalters in Hessen (Schriften des Hessischen Landesamts für geschichtliche Landeskunde 30) Marburg 1968, S. 217f.; Karl E. Demandt, Geschichte des Landes Hessen, zweite, neu bearb. und erw. Aufl., Kassel 1972, S. 127; Eckhard Freise, Das Frühmittelalter bis zum Vertrag von Verdun (843), in: Westfälische Geschichte, hg. von Wilhelm Kohl, Bd. 1: Von den Anfängen bis zum Ende des alten Reiches (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen im Provinzialinstitut für westfälische Landes- und Volksforschung des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe 43) Düsseldorf 1983, S. 275–335, S. 280. 12 Zum Begriff ›Völkerschaft‹, der für politische Gemeinschaften gebraucht wird, vgl. Wenskus, Stammesbildung (wie Anm. 1), S. 51. 13 Reinhard Wenskus, Sachsen – Angelsachsen – Thüringer, in: Entstehung und Verfassung (wie Anm. 7), S. 483–545, S. 488ff.; vgl. auch Freise, Frühmittelalter (wie Anm. 11), S. 287.

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Ende des 8. und Mitte des 9. Jahrhunderts nachweisen14. An Wenskus’ Gedankengang lassen sich die Thesen Albert Genrichs anschließen, für den die Saxones ursprünglich die Angehörigen eines kriegerischen Kultverbandes waren, der sich allmählich über ›Sachsen‹ ausgebreitet habe15. Doch nicht nur Veränderungen vor der fränkischen Eroberung müssen bei der Ethnogenese der Sachsen berücksichtigt werden, sondern auch die Eingriffe der siegreichen Franken seit dem Beginn ihrer Eroberungszüge in den 70er Jahren des 8. Jahrhunderts. So wies Joachim Ehlers mit Recht darauf hin, daß für das Land Sachsen »eine topographisch faßbare Großraumstruktur« erst festzustellen ist, seit Karl der Große dort Bistümer gegründet hatte16, und »daß der sächsische Raum durch die karolingische Kirchenorganisation zum ersten Mal als Einheit erfaßt und für die Zukunft strukturiert worden ist«17. Daneben sind auch die einschneidenden Eingriffe Karls des Großen in die Sozialverfassung und die weltliche Verwaltung des Landes zu bedenken18. Man wird dem entgegenhalten können, daß doch eine einheitliche gens der Sachsen auch vor der fränkischen Eroberung existiert habe, da es ja auch eine gemeinsame Verfassung der Sachsen gegeben habe. Nach Aussage der einschlägigen Handbücher herrschten zahlreiche Fürsten über das sächsische Volk; im Kriegsfall losten diese aus ihrer Mitte einen Heerführer aus. Das geschah auf einer Stammesversammlung in Marklo, zu der nicht nur diese Fürsten, sondern in ihrer Begleitung jeweils zwölf Adlige, Freie und Halbfreie erschienen. Hier wurden Fragen der Religion, des Rechts und der Politik diskutiert und entschieden. Die Sachsen sollen sich zudem noch in drei große Aufgebotsverbände oder Heerschaften gegliedert haben: die Westfalen, Engern und Ostfalen oder Ostsachsen19. Bereits dieser kurze Abriß zeigt jedoch, wie widersprüchlich unser 14 Zu den Haruden vgl. auch Walter Schlesinger, Zur politischen Geschichte der fränkischen Ostbewegung vor Karl dem Großen, in: Althessen im Frankenreich, hg. von dems. (Nationes 2) Sigmaringen 1975, S. 9–61, S. 21; zu den Barden Jörg Jarnut, Geschichte der Langobarden, Stuttgart 1982, S. 13f. 15 Albert Genrich, Der Name der Sachsen – Mythos und Realität, in: Studien zur Sachsenforschung 7, hg. von Hans-Jürgen Häßler (Veröffentlichungen der urgeschichtlichen Sammlungen des Landesmuseums zu Hannover 39) Hildesheim 1991, S. 137–144. 16 Joachim Ehlers, Das früh- und hochmittelalterliche Sachsen als historische Landschaft, in: Papstgeschichte und Landesgeschichte. FS für Hermann Jakobs zum 65. Geburtstag, hg. von Joachim Dahlhaus und Armin Kohnle (Beihefte zum AKG 39) Köln – Weimar – Wien 1995, S. 17–36, S. 25f. 17 Ehlers, Sachsen (wie Anm. 16), S. 30. 18 Zusammenfassend dazu Martin Last, Niedersachsen in der Merowinger- und Karolingerzeit, in: Geschichte Niedersachsens, hg. von Hans Patze, Bd. 1: Grundlagen und frühes Mittelalter, Hildesheim 1977, S. 543–652, S. 598ff.; Freise, Frühmittelalter (wie Anm. 11), S. 292ff.; Matthias Becher, Rex, Dux und Gens. Die Entstehung des sächsischen Herzogtums im 9. und 10. Jahrhundert (Historische Studien 444) Husum 1996, S. 110ff. 19 Last, Niedersachsen (wie Anm. 18), S. 577ff., 586f.; Freise, Frühmittelalter (wie Anm. 11), S. 281ff.

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Bild von der altsächsischen Verfassung ist: Wenn die Fürsten über das Volk herrschten, welche Rolle spielte dann die Stammesversammlung mit ihren weitgehenden Kompetenzen? Warum waren hier nicht nur die Fürsten vertreten, sondern auch die anderen Stände? Welche Rolle spielten hier die Aufgebotsverbände, und vor allem: wie gestalteten sich die Beziehungen zwischen diesen und dem im Kriegsfall bestellten Heerführer? Und grundsätzlicher noch: Konnte ein relativ großes Volk wie die Sachsen durch die gerade genannten Verfassungselemente überhaupt zusammengehalten und organisiert werden, wo dies nach allem, was wir über das Frühmittelalter wissen, selbst einem König nur phasenweise gelang? Auf diese Fragen hat die Forschung zahlreiche Antworten gegeben, von denen jede für sich die eine oder andere Ungereimtheit erklärt20. Doch bereits die große Zahl der Antworten verweist darauf, daß das Bild insgesamt nicht stimmig ist, selbst wenn man mit Martin Last die verschiedenen Elemente der Verfassung getrennten Zeithorizonten zuordnet21. Das liegt nicht zuletzt daran, daß uns insgesamt nur wenige Quellen zur Verfügung stehen und wir zudem für die abweichenden Aspekte der Verfassung aus grundverschiedenen Quellen schöpfen müssen: Für die Fürsten aus der Historia ecclesiastica gentis Anglorum des Beda Venerabilis, für die Stammesversammlung in Marklo aus der Vita Lebuini antiqua und für die drei Heerschaften aus dem Poeta Saxo bzw. aus Widukind von Corvey22. Erschwerend kommt hinzu, daß die genannten Quellen erzählende Texte sind, deren Hauptanliegen keineswegs darin bestand, die sächsische Verfassung darzustellen, einmal von Widukind abgesehen. Zudem sind sie teilweise vor (Beda) und teilweise in einem erheblichen zeitlichen Abstand zur fränkischen Eroberung Sachsens verfaßt worden: die Vita Lebuini antiqua zwischen 840 und 865, der Poeta Saxo um 880 und Widukind um 960. Die Gefahr von Mißverständnissen und Verzerrungen, aber auch von Interpretationen ex post ist bei den letztgenannten deshalb besonders groß. Wie wäre es sonst zu erklären, daß die späteren Quellen von der Verfassung der Sachsen jeweils ganz unterschiedliche Aspekte hervorheben. Ein Weg, diese Unsicherheit zu umgehen, ist, die streng zeitgenössischen Quellen in den Mittelpunkt der Überlegungen zu stellen, also Beda, die Reichsannalen sowie deren Ableitungen und einige Gesetzestexte aus der Zeit der Eroberung.

20 Vgl. den Sammelband Entstehung und Verfassung des Sachsenstammes (wie Anm. 7). 21 Last, Niedersachsen (wie Anm. 18), S. 581. 22 Zu den genannten Quellen vgl. unten, S. 149, 155–157.

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I. Beginnen wir mit dem ältesten Zeugnis, einer kurzen Bemerkung Bedas in seiner 731 abgeschlossenen Historia ecclesiastica gentis Anglorum: Non enim habent regem idem Antiqui Saxones, sed satrapas plurimos suae genti praepositos, qui ingruente belli articulo mittunt aequaliter sortes, et quemcumque sors ostenderit, hunc tempore belli ducem omnes sequuntur, huic obtemperant; peracto autem bello rursum aequalis potentiae omnes fiunt satrapae23.

Diese Aussage steht im Kontext von Bedas Bericht über die beiden Ewalde. Sie waren angelsächsischer Herkunft und wollten nach einem Aufenthalt in Irland als Missionare zu den festländischen Sachsen gehen, die von den Angelsachsen zur Unterscheidung ›Altsachsen‹ genannt wurden. Beiderseits der Nordsee wußte man im 8. Jahrhundert von der Verwandtschaft beider Völker, weshalb man Beda ein gewisses Interesse an den festländischen Sachsen unterstellen darf24. Er geht zwar nur an dieser Stelle etwas ausführlicher auf diese ein, aber dies entspricht seiner Haltung den ›Heiden‹ gegenüber : Viele nicht-christliche angelsächsische Könige übergeht er einfach. Nach Knut Schäferdiek benutzte Beda bei diesem Abschnitt eine passio, die ihrerseits möglicherweise anläßlich der Erhebung der Reliquien der beiden Märtyrer vor 714 und ihrer Überführung nach Köln verfaßt wurde25. Damit wäre diese Quelle nicht nur chronologisch nah an das Geschehen, sondern auch geographisch nah an Sachsen heranzurücken. Nur die Erläuterungen Bedas über die Verfassung dürften auf diesen selbst zurückgehen. Auf jeden Fall lohnt es, den Zusammenhang zur passio herzustellen. 23 Beda Venerabilis, Historia ecclesiastica gentis Anglorum V, 10, ed. Bertram Colgrave – Roger A.B. Mynors, Oxford 1969, S. 480 u. 482; Beda der Ehrwürdig, Kirchengeschichte des englischen Volkes, ed. Günter Spitzbart, Darmstadt 21997, S. 459: »Diese Altsachsen haben nämlich keinen König, sondern viele Satrapen, die an der Spitze ihres Stammes stehen und im wichtigen Augenblick eines Kriegsausbruches untereinander das Los werfen und demjenigen, auf den das Losstäbchen zeigt, alle folgen und gehorchen als Führer für die Dauer des Krieges; wenn aber der Krieg vorbei ist, werden alle wieder Satrapen mit gleicher Macht«. 24 Epistolae Bonifatii (wie Anm. 9), Nr. 46, S. 75: … quia et ipsi [pagani Saxones] solent dicere: De uno sanguine et de uno osse sumus; als Motiv für die Missionsbemühungen der Angelsachsen auf dem Festland, die ja noch weiteren Völkern galt, habe das Bewußtsein der gemeinsamen Herkunft nicht ausgereicht, so Knut Schäferdiek, Fragen der frühen angelsächsischen Festlandmission, in: FMSt 28, 1994, S. 172–195, S. 176, 180; Ders., Der Schwarze und der Weiße Hewald. Der erste Versuch einer Sachsenmission, in: WZ 146, 1996, S. 9–24, S. 18; freilich belegt die zitierte Stelle des Bonifatius-Briefes auch, daß das angesprochene Bewußtsein bei den Angelsachsen ebenfalls vorhanden war ; eine andere Frage ist, wann dieses Bewußtsein aufkam, vgl. dazu etwa Michael Richter, Der irische Hintergrund der angelsächsischen Mission, in: Die Iren und Europa im früheren Mittelalter, hg. von Heinz Löwe, Bd. 1, Stuttgart 1982, S. 120–137, S. 131; Ders., Bede’s Angli: Angles or English?, in: Peritia 3, 1984, S. 99–114, S. 111. 25 Schäferdiek, Fragen (wie Anm. 24), S. 189; Ders., Hewald (wie Anm. 24), S. 11; Pippin der Mittlere, gest. 714, veranlaßte diese Überführung.

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Als die beiden Ewalde ins Land kamen26, nahm sie ein vilicus als Gäste auf. Die beiden baten ihn, Boten zu seinem Satrapen zu senden, »weil sie eine Botschaft und eine nützliche Sache hätten, die sie ihm überbringen wollten«27; gemeint ist der christliche Glaube. Nun schließt sich die zitierte Passage über die altsächsische Verfassung an. Beda wollte also die Rolle dieser Satrapen erklären, und zwar zunächst im Kontext der Mission. Das wird bereits durch einen Vergleich mit dem Anfang desselben Kapitels deutlich: Bevor sich der angelsächsische Priester Willibrord aufmachte, um bei den Friesen zu missionieren, begab er sich zum fränkischen Hausmeier Pippin, der kurz zuvor den Westen Frieslands erobert hatte, und versicherte sich dessen Unterstützung28. Wie Lutz von Padberg den aktuellen Forschungsstand resümierend dargelegt hat, entspricht dieses Vorgehen dem üblichen Missionsschema im frühen Mittelalter: Zunächst galt es, den weltlichen Herrscher für sich zu gewinnen und dann das Volk zu bekehren. Gerade Beda bezeugt die zentrale Rolle des königlichen Hofes für die Missionierung der Angelsachsen im 6. und 7. Jahrhundert29. Es ist also davon auszugehen, daß dies die Folie war, vor der er die Aktivitäten seiner Landsleute auf dem Kontinent beurteilte. Die besonderen Verfassungsverhältnisse im Frankenreich mit dem an Stelle des machtlosen Königs handelnden Hausmeier brauchte Beda sicher nicht zu erklären, wohl aber diejenigen der Altsachsen trotz oder vielleicht gerade wegen ihrer Verwandtschaft zu den Angelsachsen. Daher liegt die Vermutung nahe, daß er die altsächsischen Verhältnisse vor allem mit den angelsächsischen Verhältnissen verglich und seine Bewertungen und Einschätzungen eine Folge dieser Gegenüberstellung waren. Damit wäre eine erste Kritik an der bisherigen Forschung zu formulieren, die die sächsischen Verhältnisse aus sich selbst heraus oder im Vergleich zum Frankenreich oder gar zu den altgermanischen Verhältnissen nach Tacitus klären wollte. So kamen Fehlurteile wie das Diktum von den ›demokratischen Freiheiten der alten Sachsen‹ zustande30. Aber auch ein erschlossenes ›Fortbestehen 26 Zur (nicht möglichen) Lokalisierung des Geschehens vgl. Schäferdiek, Fragen (wie Anm. 24), S. 190; Ders., Hewald (wie Anm. 24), S. 18f. 27 Beda, Historia ecclesiastica V, 10 (wie Anm. 23), S. 480: Qui uenientes in prouinciam intrauerunt hospitium cuiusdam uilici, petieruntque ab eo ut transmitterentur ad satrapam qui super eum erat, eo quod haberent aliquid legationis et causae utilis, quod deberent ad illum perferre. 28 Beda, Historia ecclesiastica V, 10 (wie Anm. 23), S. 480; die beiden gehörten aber nicht zur Gruppe Willibrords, vgl. Schäferdiek, Fragen (wie Anm. 24), S. 190; Ders., Hewald (wie Anm. 24), S. 12ff. 29 Lutz E. von Padberg, Mission und Christianisierung. Formen und Folgen bei Angelsachsen und Franken im 7. und 8. Jahrhundert, Stuttgart 1995, S. 95ff. 30 Vgl. dazu am Beispiel der Stammesversammlung von Marklo den Beitrag von Matthias Springer in diesem Band [Matthias Springer, Was Lebuins Lebensbeschreibung über die Verfassung Sachsens wirklich sagt und warum man sich mit einzelnen Wörtern beschäftigen muß, in: Sachsen und Franken in Westfalen. Zur Komplexität der ethnischen Deutung und

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der taciteischen Prinzipatsverfassung‹ trifft den Sachverhalt nicht, da es sich nach Reinhard Wenskus dabei um eine vorübergehende Erscheinung gehandelt habe, die noch vor dem Beginn der Völkerwanderung überwunden war31. Gerade Wenskus bemühte sich um eine umfassendere Betrachtungsweise und konnte zeigen, daß seit der Völkerwanderungszeit ein König bei den frühmittelalterlichen gentes als Garant für die Selbständigkeit eines Volkes galt32. Daher interpretierte er Bedas Diktum über die Königslosigkeit nicht mehr als Kompliment, sondern als Monitum und fragte weiter nach der Verwendung des Königstitels bei den Angelsachsen bzw. im Werk Bedas. Ähnlich wie bei den Franken führten bzw. erhielten nur wirklich unabhängige Könige den Titel rex, während abhängige Fürsten uns als duces begegnen. Daraus folgerte Wenskus, daß die sächsischen satrapae zumindest nach Bedas Auffassung von einem fremden König abhängig waren, in dessen Auftrag oder mit dessen Zustimmung sie über die Sachsen herrschten. Wenskus meinte, es handele sich dabei um den fränkischen König, wobei Beda einem Fehlschluß unterlegen sei, die Sachsen in Wahrheit also keinem fremden König untertan waren. Vielmehr geht Wenskus von einem antifränkischen Reflex aus, der das Verfassungsleben der Sachsen bestimmt habe: »Wenn der Begriff des ›Königs‹ den festländischen Sachsen zum Inbegriff der drohenden Fremdherrschaft wurde, mag er auch als Bezeichnung für die einheimischen Herren unbrauchbar geworden sein«33. So bedenkenswert diese Überlegungen im einzelnen auch sein mögen, so wenig scheint es mir angebracht zu sein, den Sachsen zu unterstellen, sie hätten sich bei der Benennung ihrer Herrscher von einer angeblich drohenden ErAbgrenzung zweier frühmittelalterlicher Stämme, hg. von Hans-Jürgen Häßler (Studien zur Sachsenforschung 12), Oldenburg 1999, S. 223–239]. 31 Wenskus, Stammesbildung (wie Anm. 1), S. 409ff.; die klassische Lehrmeinung etwa bei Georg Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 1: Die Verfassung des Deutschen Volkes in ältester Zeit, Berlin 1880, S. 236ff., bes. S. 243, S. 258 mit Anm. 2; Ludwig Schmidt, Geschichte der deutschen Stämme bis zum Ausgang der Völkerwanderung, Bd. 2: Die Westgermanen, 2., völlig neu bearb. Aufl., München 1938, S. 58; Richard Drögereit, Sachsen und Angelsachsen, in: NdsJbLG 21, 1949, zit. nach dem ND in: Ders., Sachsen – Angelsachsen – Niedersachsen. Ausgewählte Aufsätze in einem dreibändigen Werk, hg. von Carl Röper und Herbert Huster, Bd. 2, Hamburg – Ottendorf 1978, S. 61–122, S. 83; zur Verfassung der Sachsen vgl. auch E. A. Thompson, The Early Germans, Oxford 1965, S. 29ff. 32 Wenskus, Sachsen (wie Anm. 13), S. 533ff. 33 Wenskus, Sachsen (wie Anm. 13), S. 539; die Satrapen als Adlige bzw. Kleinkönige etwa auch bei Richard Schröder, Der altsächsische Volksadel und die grundherrliche Theorie, in: ZRG GA 24, 1903, S. 347–379, S. 352ff.; Heinrich Dannenbauer, Adel, Burg und Herrschaft bei den Germanen. Grundlagen der deutschen Verfassungsentwicklung, in: HJb 61, 1941, zit. nach dem ND in: Herrschaft und Staat im Mittelalter, hg. von Hellmut Kämpf (WdF 2) Darmstadt 1956, S. 66–134, S. 100 Anm. 73; Gerhard Baaken, Königtum, Burgen und Königsfreie, in: VuF 6, Konstanz – Stuttgart 1961, S. 9–95, S. 24 Anm. 57; Walter Schlesinger, Beiträge zur deutschen Verfassungsgeschichte des Mittelalters, Bd. 1: Germanen, Franken, Deutsche, Göttingen 1963, S. 339.

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oberung durch die Franken leiten lassen34. Allgemeiner gesprochen: das Problem liegt nicht auf der Ebene der Fakten, sondern auf derjenigen der Terminologie. Bedas lateinische Worte sind Übersetzungen volkssprachlicher Ausdrücke. Fragen wir also zunächst genauer nach Bedas Wissen und Anschauung über das angelsächsische Königtum oder anders: Wer besaß seiner Meinung nach das Recht, den Titel rex zu führen? Dabei scheint es ratsam, zunächst von der Art und Weise auszugehen, in der Beda den Verband der festländischen Sachsen beschreibt. Er spricht in dem Abschnitt über die Verfassung von der provincia Antiquorum Saxonum und bezeichnet diese außerdem als gens35. James Campbell hat gezeigt, daß Beda provincia zur Bezeichnung des Herrschaftsgebietes eines Königs gebraucht und nur selten, um ein untergeordnetes Gebiet zu bezeichnen36. Für den Personenverband, den ein König beherrscht, benutzt der angelsächsische Geschichtsschreiber nach Campbell das Wort gens37. Die Verwendung beider Begriffe für die festländischen Sachsen zeigt demnach, daß Beda die politische Organisation der Altsachsen für vergleichbar mit derjenigen der verschiedenen angelsächsischen Königreiche in Britannien hielt. Was aber war in Bedas Augen ein König? Edward James bemüht sich bei der Beantwortung dieser Frage um den gesamteuropäischen Kontext im Sinne der ethnogenetischen Forschung. Mit Wenskus unterscheidet er zwei Bedeutungen des Titels rex: einerseits die modernere, die den »Herrscher über ein Volk« anspricht (also etwa den rex Francorum seit Chlodwig), und andererseits der ältere Gehalt »Herrscher über ein kleines Volk oder Stamm« (also etwa die reges Francorum vor Chlodwig, d. h. die fränkischen Kleinkönige). Letztere seien dem irischen r& tuaithe vergleichbar38. 34 Vgl. auch unten, S. 151f. 35 Beda, Historia ecclesiastica V, 10 (wie Anm. 23), S. 480; die Stelle mit dem Wort gens ist oben, S. 134, eingerückt. 36 James Campbell, Bede’s reges and principes (Jarrow Lecture, 1979), S. 3. 37 Campbell, Bede’s reges (wie Anm. 36), S. 4; vgl. auch Hanna Vollrath-Reichelt, Königsgedanke und Königtum bei den Angelsachsen bis zur Mitte des 8. Jahrhunderts (Kölner Historische Abhandlungen 19) Köln – Wien 1971, S. 43ff.; Harald Kleinschmidt, Stirps regia und Adel im frühen Wessex. Studien zu Personennamen in der Epistolographie, Historiographie und Urkundenüberlieferung, in: Historisches Jahrbuch 117, 1997, S. 1–37, S. 22ff. 38 Edward James, The origins of barbarian kingdoms. The continental evidence, in: The Origins of Anglo-Saxon Kingdoms, hg. von Steven Bassett, Leicester 1989, S. 40–52, S. 43f.; mit Recht weist John Michael Wallace-Hadrill, Early Germanic Kinghip in England and on the Continent, Oxford 1971, S. 8, darauf hin, daß die Einteilung der frühmittelalterlichen Herrscher in Groß-, Heer- und Kleinkönige zwar etwas über deren Macht aussagt, daß dem aber kein Unterschied in königlicher Qualität zugrundeliegt; vgl. auch Reinhard Wenskus, Probleme der germanisch-deutschen Verfassungs- und Sozialgeschichte im Lichte der Ethnosoziologie, in: Historische Forschungen für Walter Schlesinger, hg. von Helmut Beumann, Köln – Wien 1974, S. 19–46, S. 42ff.; zu den Verhältnissen in Irland vgl. Michael Richter, Irland im Mittelalter. Kultur und Geschichte, 2. Aufl., München 1996, S. 27f.

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Nach Wenskus führte das anglische Königshaus von Mercia seinen Stammbaum auf festländische Könige zurück, und er hält dies auch für sächsische Königsfamilien in Britannien für wahrscheinlich39. Diese festländischen Könige hätten nach der gerade angeführten Definition über einen Stamm geherrscht. Während nun etwa die irische Sprache eine feine Differenzierung dieser verschiedenen Grade der Königsherrschaft bot, fehlt diese Möglichkeit im Lateinischen völlig. Damit aber ist Bedas gesamte Begrifflichkeit im Umkreis von ›König‹ der Schlüssel zum Problem der sächsischen Satrapen. Nach James zog Beda bewußt oder unbewußt die Konsequenz aus dem Zusammenwachsen der beiden germanischen Königsgattungen thiudan und reiks bzw. kuning zu einem Königtum neuer Art40. Wie Herwig Wolfram gezeigt hat, besaß der thiudan in erster Linie politische und religiöse, aber auch militärische Kompetenzen und ist wohl in die Tradition des taciteischen rex einzuordnen; der reiks, bei Franken und Angelsachsen kuning genannt, hatte ursprünglich eine rein militärische Führerstellung, weshalb er in der Forschung auch ›Heerkönig‹ genannt wird41. Als Titel für die Könige, die beide Qualitäten miteinander vereinten, setzten sich reiks, wohl wegen der etymologischen und lautlichen Verwandtschaft zu rex, und kuning – König – durch. Diese Entwicklung war nicht zuletzt eine Folge der Konfrontation der germanischen Völker bzw. Gefolgschaftshaufen mit dem Imperium Romanum und ihren Reichsgründungen auf dessen Boden. Zum Vergleich zieht James die Berichte Gregors von Tours über das Aufkommen des fränkischen Königtums heran42 : Das Überschreiten des Rheins, also der römischen Reichsgrenze, durch die Franken sei die Ursache für das Entstehen des merowingischen Königtums gewesen, während Gregor für die Zeit davor in seinen Quellen keine fränkischen Könige ausmachen konnte43. Entsprechend bezeugt Ammianus Marcellinus für die Alemannen eine Vielzahl 39 Wenskus, Sachsen (wie Anm. 13), S. 534ff. 40 James, Origins (wie Anm. 38), S. 43f. 41 Herwig Wolfram, The Shaping of the Early Medieval Kingdom, in: Viator 1, 1970, S. 1–20; vgl. auch Walter Schlesinger, Über germanisches Heerkönigtum, in: Das Königtum. Seine geistigen und rechtlichen Grundlagen (VuF 3) Konstanz 1956, zit. nach dem ND in: Ders., Beiträge (wie Anm. 33), S. 53–87, S. 55f.; Jan de Vries, Das Königtum bei den Germanen, in: Saeculum 7, 1956, S. 289–309, S. 303ff.; Hans-Dietrich Kahl, Europäische Wortschatzbewegungen im Bereich der Verfassungsgeschichte, in: ZRG GA 77, 1960, S. 154–240, S. 198ff.; Wenskus, Stammesbildung (wie Anm. 1), S. 69, 305ff., 576ff. 42 Vgl. James, Origins (wie Anm. 38), S. 41. 43 Gregor von Tours, Historiarum libri decem II, 9, ed. Bruno Krusch – Wilhelm Levison (MGH SS rer. Merov. I/1) Hannover 21951, S. 52; vgl. Wenskus, Stammesbildung (wie Anm. 1), S. 531ff.; Patrick J. Geary, Before France and Germany. The Creation and Transformation of the Merovingian World, New York – Oxford 1988, S. 77f.; Eugen Ewig, Die Merowinger und das Frankenreich, Stuttgart 1988, S. 13; Ian Wood, The Merovingian Kingdoms 470–571, London – New York 1994, S. 36ff.

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hierarchisch gestufter Könige, die 357 den Römern bei Straßburg entgegentraten44. Anders als die Franken hatten die Sachsen trotz ihrer zahlreichen Plünderungsfahrten über See nach Gallien niemals diesen intensiven Kontakt mit dem Imperium, da sie in ihrer großen Mehrzahl stets außerhalb der ehemaligen römischen Grenzen blieben. Für James sind daher die altsächsischen Satrapen, die genannten Anführer der Westsachsen und der Mercier Könige im taciteischen Sinne, die zudem nicht über das ganze Volk, sondern nur über einen Teil des Volkes herrschten45. Freilich muß man die germanische Frühzeit nicht in dem Ausmaß bemühen, wie James dies tat. Es genügt ein Blick allein auf die angelsächsischen Verhältnisse. James zufolge erkannte Beda hier allein den »Herrschern über ein Volk« den Titel rex zu, während er allen »Herrschern über ein kleines Volk oder einen Stamm« wie etwa den verschiedenen Stammeskönigen der Westsachsen und der Mercier diesen Titel beharrlich verweigerte46. Vielmehr rückt er sie in die Nähe von Amtsträgern, indem er sie vor allem subreguli und duces nennt und so dem von den mächtigeren Königen vorgegebenen Sprachgebrauch folgt47. Der geschichtliche Hintergrund ist ein ständiger Konzentrationsprozeß bei den Angelsachsen, der allmählich zu den bekannten sieben Königreichen, der Heptarchie, und schließlich zum einheitlichen Königtum führte48. Auf dem Kontinent gelang Chlodwig die Schaffung eines einheitlichen Königtums über die Franken sogar in nur einer Generation. Die konkurrierenden fränkischen Könige rottete er angeblich samt und sonders aus48a. In Irland vollzog sich dagegen eine entgegengesetzte Entwicklung: Hier blieb der Königstitel r& zur Bezeichnung lokaler Herrscher die Norm, während mächtigere Könige ihren gesteigerten Anspruch demonstrierten, indem sie Titel beanspruchten, die auf dem ›normalen‹ Königstitel basierten, aber ergänzt wurden zu: ›Großkönig‹ und ›König der Groß44 Vgl. jetzt Dieter Geuenich, Geschichte der Alemannen, Stuttgart 1997, S. 42ff., 44ff. 45 James, Origins (wie Anm. 38), S. 43f. 46 James, Origins (wie Anm. 38), S. 44; vgl. bereits Frank M. Stenton, Anglo-Saxon England (Oxford History of England 2) Oxford 1943, 31971, S. 45. 47 Vgl. Thomas Charles-Edwards, Early medieval kingship in the British Isles, in: The Origins (wie Anm. 38), S. 28–39, S. 37f. 48 James Campbell, The First Christian Kings, in: The Anglo-Saxons, hg. von dems., Oxford 1982, S. 45–69, S. 53ff.; Steven Bassett, In search of the Origins, in: The Origins (wie Anm. 38), S. 3–27, S. 26f.; zu diesen komplizierten Prozessen vgl. jetzt auch Harald Kleinschmidt, Personennamen in Historiographie, Epistolographie und Urkundenforschung, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 40, 1992, S. 951–978, u. 41, 1993, S. 411– 424; Ders., Schwaben im frühmittelalterlichen England. Betrachtungen und Überlegungen zur Problematik des Stammesbegriffs, in: Alemannisches Jahrbuch 1993/94, S. 9–32; Ders., Nomen und gens. Zur gentilen Deutung von Personen- und Ortsnamen im vornormannischen Sussex, in: Beiträge zur Namenforschung N. F. 31, 1996, S. 123–160; Ders., Stirps regia (wie Anm. 37). 48a Gregor v. Tours II, 40–42 (wie Anm. 43), S. 89ff.; vgl. die in Anm. 43 genannte Literatur.

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könige‹, ruiri, r& ruirech49. Lokale Herrschaftsträger konnten also selbst dann ihren Königstitel behalten, wenn sie einem Mächtigeren untergeordnet waren. Für die Altsachsen vermeidet Beda sowohl den Königstitel als auch die Begriffe subreguli und duces. Nach seinen Vorstellungen waren die sächsischen Satrapen daher zwar einerseits keine Könige, andererseits aber auch keine Herrschaftsträger in der Abhängigkeit von einem anderen König, etwa dem fränkischen. Um indes Bedas Königsbegriff wirklich verstehen zu können, muß man mit Judith McClure auf das Alte Testament blicken, mit dem Beda sich in seinen exegetischen Schriften eingehend auseinandergesetzt hatte50. McClure konnte zeigen, daß Beda bei seiner Schilderung angelsächsischer Verhältnisse besonders an die militärische Befehlsgewalt der jüdischen Könige dachte51. Freilich scheint den sächsischen Satrapen gerade diese Kompetenz gefehlt zu haben, sonst hätten sie ja im Kriegsfall keinen dux auslosen müssen. Möglicherweise wählte Beda den Begriff ›Satrap‹ gerade wegen der (zumindest seiner Meinung nach) fehlenden militärischen Kompetenz der von ihm so Bezeichneten. So ist zu fragen, welches biblische Vorbild Beda vor Augen stand, als er den Bericht über die Altsachsen formulierte. Die Forschung dachte zunächst vor allem an die allgemein bekannten Satrapen des medischen oder persischen Königs52. Eine Stelle aus dem Buch Daniel über die Einteilung des Persischen Reiches in 120 Satrapien durch Darius I. wurde vor allem als Vorbild genannt53. Diese Satrapen waren Amtsträger des persischen Königs, was als Argument für die Abhängigkeit der sächsischen Satrapen von einer übergeordneten Institution angeführt wurde: von der sächsischen Stammesversammlung in Marklo, von den drei Heerschaften und sogar vom fränkischen König54. Doch 49 Vgl. Daniel A. Binchy, Celtic and Anglo-Saxon Kingship, Oxford 1970, S. 2ff., 31ff.; Richter, Irland (wie Anm. 38), S. 30. 50 Judith McClure, Bede’s Old Testament Kings, in: Ideal and Reality in Frankish and AngloSaxon Society. Studies presented to J.M. Wallace-Hadrill, hg. von Patrick Wormald – Donald Bullough – Roger Collins, Oxford 1983, S. 76–98; vgl. bereits Roger D. Day, Bede, the Exegete, as historian, in: Famulus Christi, hg. von Gerald Bonner, London 1976, S. 125– 140; Henry Mayr-Harting, The Venerable Bede, the Rule of St. Benedict, and Social Class (Jarrow Lecture, 1976), S. 12ff. 51 McClure, Kings (wie Anm. 50), S. 87f. 52 Vgl. etwa Friedrich Philippi, Die Umwandlung der Verhältnisse Sachsens durch die fränkische Eroberung, in: HZ 129, 1924, zit. nach dem ND in: Entstehung und Verfassung (wie Anm. 7), S. 32–72, S. 41; Philipp Heck, Die Standesgliederung der Sachsen im frühen Mittelalter, Tübingen 1927, S. 89. 53 Daniel 6,2–4: Placuit Dario et constituit super regnum satrapas 120, ut essent in toto regno suo. Et super eos principes tres, ex quibus Daniel unus erat, ut satrapae illis redderent rationem et rex non sustineret molestiam. Igitur Daniel superabat omnes principes et satrapas. 54 Für eine Einsetzung der Satrapen durch die Stammesversammlung etwa Philippi, Umwandlung (wie Anm. 52), S. 41f.; Schmidt, Geschichte, 2. Aufl. (wie Anm. 31), S. 58; für eine Einsetzung durch die Heerschaften Martin Lintzel, Gau, Provinz und Stammesverband in der altsächsischen Verfassung. Untersuchungen zur Geschichte der alten Sachsen III, in:

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verglich Beda die sächsischen Satrapen wirklich mit den persischen? Bereits Heinrich Dannenbauer verwies auf andere Belegstellen in der Vulgata55. Freilich konnte er nicht zeigen, welche davon Beda besonders vertraut waren, wofür ein Vergleich mit weiteren Texten aus dessen Schrifttum notwendig gewesen wäre. Doch in seiner Kirchengeschichte benutzte Beda das Wort ›Satrap‹ nicht mehr, dafür aber mehrfach in seinen exegetischen Schriften, die, wie gesagt, sein historiographisches Werk entscheidend beeinflußten. In seinem Samuel-Kommentar hatte Beda sich mit den Fürsten der Philister beschäftigt, die in der Vulgata und ganz besonders im Buch Samuel selbst ebenfalls als satrapae bezeichnet werden56. Beda behielt diesen Sprachgebrauch bei57. Von seinem theologischen Schaffen her liegt somit die Vermutung nahe, daß Beda Satrapen der Philister im Sinne hatte, als er die sächsischen Fürsten mit diesem Wort bezeichnete. Die Philister waren den Berichten des Alten Testaments zufolge die wichtigsten Feinde des Volkes Israel. Indem Beda die für deren Könige gängige Bezeichnung auf die Häupter der Altsachsen anwandte, betonte er ihr Heidentum und bekräftigte so zugleich den Gegensatz zu den Angelsachsen. Aber neben solchen Überlegungen wird man ihm auch unterstellen dürfen, daß ihm das Wort ›Satrap‹ auch für die innere Ordnung der Altsachsen passend schien: Die Philister mit ihren Fürsten an der Spitze waren zwar abhängig vom ägyptischen König, doch bleibt gerade dieser Umstand dem Leser der Bibel verborgen. Vielmehr sind die Philister in der Bibel ein Volk ohne einheitliches Königtum, Sachsen und Anhalt 5, 1929, zit. nach dem ND in: Ders., Ausgewählte Schriften, Bd. 1, Berlin 1961, S. 263–292, S. 291; für eine Einsetzung durch den fränkischen König Hermann Stöbe, Die Unterwerfung Nordwestdeutschlands durch die Merowinger und die Lehre von der sächsischen Eroberung, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe 6, 1956/57, S. 153–190 und 323–336, S. 163; vgl. bereits die altenglische Übersetzung von Bedas Werk, in der satrapae mit aldormenn wiedergegeben wird, The Old English Version of Bede’s Ecclesiastical History of the English People V, 11, ed. and trans. Thomas Miller, London 1890–98, S. 416; Wenskus, Sachsen (wie Anm. 13), S. 536; John Michael Wallace-Hadrill, Bede’s Ecclesiastical History of the English People. A Historical Commentary, Oxford 1988, S. 183. 55 Dannenbauer, Adel (wie Anm. 33), S. 100 Anm. 73; vgl. auch Richard Drögereit, Wigmodien. Der »Stader Raum« und seine Eroberung durch Karl den Großen, in: Rotenburger Schriften 38, 1973, zit. nach dem ND in: Ders., Sachsen – Angelsachsen – Niedersachsen (wie Anm. 31), Bd. 1, Hamburg – Ottendorf 1978, S. 413–511, S. 429f. 56 Liber Iudicum 3,3; 16,8; Liber regum siue Samuelis primus 5,8; 5,11; 6,5; 6,12; 6,16; 7,7; 29,2; 29,6f.; ich danke Herrn Prof. Dr. Michael Richter, Konstanz, für seine zuvorkommende Hilfe bei der Recherche nach diesen Stellen. 57 Beda Venerabilis, Opera II/2: In primam partem Samuelis libri IIII, ed. David Hurst (Corpus Christianorum, series Latina 119) Turnhout 1962, I, 5, l. 1607; I, 6, l. 1812; I, 7, l. 2102; IV, 29, l. 1972 u. 2010; Nomina locorum, l. 9 u. 13; Beda kannte natürlich auch die persischen Satrapen, vgl. In Ezram et Neemiam libri III, ed. David Hurst (Corpus Christianorum, series Latina 119 A) Turnhout 1969, II, l. 1503.

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deren Anführer über die fünf Hauptorte dieses Volkes (Gaza, Asdod, Askalon, Gath und Ekron) herrschten58. Sie erscheinen als völlig unabhängige Fürsten, die ihre Aktionen allerdings koordinieren, vor allem ihre Kriegszüge. Vergleichbar handelten die Sachsen, die einen dux für die Dauer des Krieges durch Los ermittelten. Beda wollte also wahrscheinlich auf die seiner Meinung nach ähnlichen Verfassungsverhältnisse bei Philistern und Sachsen hinweisen, vor allem auf das Fehlen eines einheitlichen Königtums über das gesamte Volk. Allerdings ist bemerkenswert, daß in der Vulgata die einzelnen Satrapen der Philister durchaus den Königstitel erhalten, wenn ihre Eigenschaft als Herrscher über ihre Stadt gemeint ist. So flüchtet sich David »zu Achis, dem Sohn Maochs, dem König von Gath«59. Auf Druck der anderen Satrapen darf David jedoch nicht an einem Kriegszug gegen Israel teilnehmen60. Achis muß also trotz seines zuvor erwähnten Königstitels dem gemeinsamen Willen der anderen Satrapen gehorchen. Wollte Beda mit dem Terminus ›Satrap‹ also anklingen lassen, daß die sächsischen Satrapen in diesem eingeschränkten Sinne ebenfalls Könige waren? Immerhin könnte das eine Erklärung dafür sein, warum er nur im Abschnitt über die Altsachsen diesen biblischen Terminus verwandte, denn kein anderer Ausdruck, nicht einmal subregulus, entsprach dann den sächsischen Verhältnissen auf dem Festland. Doch welches volkssprachliche Wort hat Beda vermieden? Angesichts der in militärischer Hinsicht eingeschränkten Kompetenzen denkt man unwillkürlich an thiudan, das noch der altsächsische HeliandDichter im 9. Jahrhundert als Titel für Christus gebrauchte61. Möglicherweise waren also Bedas Satrapen Könige im älteren Sinne, wie Wenskus dies bereits angedeutet hat62. Für unsere Interpretation spricht auch, daß ein Satrap im späten 7. Jahrhundert durchaus in der Lage war, ein ganzes Dorf niederbrennen und seine Bewohner töten zu lassen, weil sie ihm getrotzt hatten63. Wie bereits erwähnt, kommt Beda im Rahmen seines Berichts über die Missionsbemühungen der 58 59 60 61

Josua 13,3; hier als reguli bezeichnet. Liber regum siue Samuelis primus 27,2; vgl. 21,11. Liber regum siue Samuelis primus 29,3ff. Edward Henry Sehrt, Vollständiges Wörterbuch zum Heliand und zur altsächsischen Genesis (Hesperia. Schriften zur germanischen Philologie) Göttingen – Baltimore 1925, 21966, S. 604f.; vgl. Wolfram, Shaping (wie Anm. 41), S. 5f.; noch de Vries, Königtum (wie Anm. 41), S. 301, nahm unter dem Eindruck der königslosen Verfassung der Sachsen an, die alte Bedeutung des Wortes sei bei den festländischen Sachsen verschwunden und erst von angelsächsischen Missionaren mit neuer Bedeutung wiedereingeführt worden, um Christus zu ehren. 62 Bereits Albert K. Hömberg, Westfalen und das sächsische Herzogtum (Schriften der Historischen Kommission Westfalens 5) Münster 1963, S. 6, meinte, daß das staatliche Leben der Sachsen »dem der Franken und Alemannen im 4. und 5. Jahrhundert« ähnelte. 63 Beda, Historia ecclesiastica V, 10 (wie Anm. 23), S. 482.

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beiden Ewalde auf die Satrapen zu sprechen. Die Angelsachsen wurden von einem vilicus aufgenommen, der den Satrapen von ihrer Ankunft benachrichtigen sollte64. Die Dorfbewohner aber fürchteten, die Missionare könnten den Satrapen vom christlichen Glauben überzeugen, was auch sie früher oder später zu einem Glaubenswechsel gezwungen hätte. Daher entführten sie die beiden Ewalde, töteten sie und warfen ihre Leichen in den Rhein. Als der Satrap davon erfuhr, rächte er sich, indem er das Dorf niederbrannte. Er mußte niemanden fragen und niemandem Rechenschaft über sein Tun ablegen. Zumindest in den Augen Bedas bzw. seiner Quelle war er also mit ›königlicher‹ Macht ausgestattet. Dies gilt aber nicht nur für seine weltlichen Kompetenzen, sondern auch für seine religiösen. Ihm kommt die Entscheidung über die Religion seiner Leute zu. Man fühlt sich an Chlodwig und diverse angelsächsische Könige erinnert, deren Glaubenswechsel die Konversion ihres Volkes zur Folge hatte. Kurz: Für Beda oder seinen Gewährsmann herrschten die Satrapen als unabhängige, königsgleiche Fürsten über ihr Gebiet65. Damit ist ein wichtiges Stichwort gefallen: der Herrschaftsbereich der Satrapen. Nimmt man Bedas Bemerkung über die Satrapen wörtlich, sie seien suae genti praepositos, so schwankt man zwischen zwei Möglichkeiten: der gemeinsamen Herrschaft über alle Sachsen oder der Herrschaft über die gens des jeweiligen Satrapen66. Sein Bericht über die beiden Ewalde aber zeigt zur Genüge, daß ein Satrap für bestimmte Personen und mithin auch für ein Gebiet zuständig war. Diesen Schluß zog auch der Autor der Vita Lebuini antiqua aus der BedaStelle: Regem antiqui Saxones non habebant, sed per pagos satrapas constitutos …67. Ähnlich auch der Poeta Saxo, dem die Kirchengeschichte Bedas ebenfalls bekannt war und der davon spricht, daß es fast soviele duces wie Gaue gegeben habe68. Auch er deutete also die Herrschaft der Satrapen territorial. 64 Die Darstellung Bedas bzw. seiner Quelle, einer passio, ist von topischen Elementen geprägt; vgl. Schäferdiek, Hewald (wie Anm. 24), S. 18ff. 65 Zu diesem Ergebnis gelangte, freilich auf anderem Wege, bereits Schmidt, Geschichte (wie Anm. 31), 1. Aufl., Berlin 1911, S. 58, der Sachsen als ein Konglomerat von selbständigen Einzelstaaten bezeichnet. 66 Vgl. etwa Schröder, Volksadel (wie Anm. 33), S. 354; Philippi, Umwandlung (wie Anm. 52), S. 41; Lintzel, Gau (wie Anm. 54), S. 286; Drögereit, Wigmodien (wie Anm. 55), S. 430. 67 Vita Lebuini antiqua c. 4, ed. Adolf Hofmeister, in: MGH SS XXX/2, Leipzig 1934, S. 793; vgl. auch Hucbalds Vita Lebuini, ed. Georg Heinrich Pertz, in: MGH SS II, Hannover 1829, S. 361: Pro suo vero libitu, consilio quoque, ut sibi videbatur, prudenti, singulis pagis principes praeerant singuli. 68 Poeta Saxo, Annales de gestis Caroli magni imperatoris a. 772, v. 21ff., ed. Paul von Winterfeld, in: MGH Poetae Latinae aevi Carolini IV, Berlin 1894, S. 8: Que nec rege fuit saltem sociata sub uno, / Ut se militiae pariter defenderet usu, / Sed variis divisa modis plebs omnis habebat / Quot pagos tot pene duces / velut unius artus / Corporis in diversa forent hinc inde revulsi; Heinz Löwe, Lateinisch-christliche Kultur im karolingischen Sachsen, in: Angli e Sassoni al di qua e al di l/ del mare (SSCI 32) Spoleto 1986, S. 491–531, S. 509f.

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Gleichzeitig weist er uns erneut auf das Problem der Terminologie hin, denn er ersetzte satrapes durch duces. Mit der Verwendung dieses fränkischen Amtstitels hatte er sich jedoch inhaltlich weit von den altsächsischen Zuständen entfernt69. Das könnte natürlich auch für seine rein territoriale Interpretation der altsächsischen Herrschaftsverhältnisse gelten. Wenn man aber mit Wenskus die Sachsen nicht wie die frühmittelalterlichen Geschichtsschreiber als einheitliches Volk begreift, sondern ihr Zusammenwachsen aus einer Vielzahl von älteren Völkerschaften voraussetzt70, kommt man zu folgender Interpretation: Vermutlich meinte Beda mit seinen »Satrapen« (Klein-) Könige71, die über diesen alten Völkerschaften standen, inklusive der Möglichkeit, daß sich im Laufe der Zeit auch neue Personenverbände konstituierten. Dagegen kann ausgeschlossen werden, daß die Erklärung der Autoren des 9. Jahrhunderts korrekt ist und die Herrschaftsbereiche dieser (Klein-) Könige im Regelfall als Gaue bezeichnet wurden. Nach den Erkenntnissen der Gauforschung scheint es sich jedenfalls »bei nicht wenigen … primär um Siedlungslandschaften gehandelt zu haben«72. Man wird daher damit rechnen 69 Zu den fränkischen duces vgl. Archibald R. Lewis, The Dukes in the Regnum Francorum 550–751, in: Speculum 51, 1976, S. 381–410; Hans-Werner Goetz, »Dux« und »Ducatus«. Begriffs- und verfassungsgeschichtliche Untersuchungen zur Entstehung des sogenannten »jüngeren« Stammesherzogtums an der Wende vom neunten zum zehnten Jahrhundert, Diss. phil. Bochum 1977. 70 Vgl. oben, S. 131f., und v. a. Teil II dieser Studie. 71 Es ist, wie oben, S. 137ff., gezeigt wurde, notwendig, zwischen Königen verschiedener Qualität zu unterscheiden, doch wertet das Wort »Kleinkönig« die königliche Qualität der so bezeichneten Herrscher unwillkürlich ab; vgl. etwa Wenskus, Stammesbildung (wie Anm. 1), S. 531f. 72 Hans K. Schulze, Art. ›Gau‹, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, hg. von Adalbert Erler und Ekkehard Kaufmann, Bd. 1, Berlin 1971, Sp. 1397; vgl. auch ders., Die Grafschaftsverfassung der Karolingerzeit in den Gebieten östlich des Rheines (Schriften zur Verfassungsgeschichte 19) Berlin 1973, S. 294 Anm. 137; Joseph Prinz, Die Parochia des heiligen Liudger. Die räumlichen Grundlagen des Bistums Münster, in: Westfalia Sacra I, Münster 1948, S. 1–83, S. 14ff.; Ders., Der Zerfall Engerns und die Schlacht am Welfesholz (1115), in: Ostwestfälisch-weserländische Forschungen zur geschichtlichen Landeskunde, hg. von Heinz Stoob (Veröffentlichungen des Provinzialinstituts für westfälische Landesund Volkskunde, Reihe I, Heft 15) Münster 1970, S. 75–112, S. 79; Wilhelm Niemeyer, Zur Klärung hessischer Stammesfragen des frühen Mittelalters, in: Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde 63, 1952, S. 13–26; Ders., Pagus (wie Anm. 11), S. 209ff.; Peter von Polenz, Landschafts- und Bezirksnamen im frühmittelalterlichen Deutschland. Untersuchungen zur sprachlichen Raumerschließung, Bd. 1, Marburg 1961, S. 92f.; Michael Borgolte, Art. ›Gau‹, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 4, München – Zürich 1989, Sp. 1141; Herwig Wolfram, Salzburg, Bayern, Österreich. Die Conversio Bagoariorum et Carantanorum und die Quellen ihrer Zeit (MIÖG, Ergänzungsband 31) Wien – München 1995, S. 160ff.; Ulrich Nonn, Art. ›Gau‹ § 2 Historisches, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde von Johannes Hoops, zweite völlig neu bearbeitete und stark erweiterte Auflage, hg. von Heinrich Beck – Heiko Steuer – Dieter Timpe, Bd. 10, Berlin – New York 1998, S. 471–479; die ältere Auffassung zu den sächsischen Gauen etwa bei Sabine Krüger,

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können, daß mehrere kleine Herrschaftsbildungen innerhalb einer größeren Siedlungslandschaft nebeneinander existierten bzw. daß eine oder gar mehrere kleinere Siedlungslandschaften herrschaftsmäßig zusammengefaßt waren. Von großem Interesse wäre das Schicksal der Satrapen während und nach der fränkischen Eroberung Sachsens. Doch keine einzige zeitgenössische oder später verfaßte Quelle erwähnt die Satrapen. Wollten die Franken etwa die ehemaligen Herren Sachsens totschweigen? Hatten sie dazu überhaupt eine Veranlassung? Immerhin trat der Adel in seiner Mehrheit zu den Eindringlingen über73, und auch zahlreiche Satrapen beschritten wohl diesen Weg, um ihre Stellung wenigstens teilweise zu retten. Wie aber unterschieden sich Satrapen und Adlige? Die sächsischen Adligen werden von dem fränkischen Geschichtsschreiber Nithard mit dem volkssprachlichen, also sächsischen Wort edhilingi bezeichnet74. So kommen wir wieder zu den angelsächsischen Verhältnissen, denn auch dort gab es in leicht modifizierter Form dieses Wort: ætheling. Die etymologische Interpretation läßt auf die Bedeutung ›Edelmann‹ schließen75. In der englischen Forschung war man sich einig, daß das Wort im Angelsächsischen den spezifischeren Sinn ›Prinz aus königlichem Haus‹ angenommen hatte76. Spätestens seit dem Beginn des 10. Jahrhunderts meinte ætheling nach D. A. Binchy den ›ernannten Nachfolger‹ des Königs, da edlyng damals in dieser Bedeutung Eingang in das walisische Recht fand77. Dagegen erhob David A. Dumville Einspruch und widmete dem ætheling eine eigene verfassungsgeschichtliche Studie. Sein Ergebnis lautet, daß der ætheling im angelsächsischen Bereich doch kein ›designierter Erbe‹ war, sondern ein ›Angehöriger des Kö-

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Studien zur Sächsischen Grafschaftsverfassung im 9. Jahrhundert (Studien und Vorarbeiten zum Historischen Atlas Niedersachsens 19) Göttingen 1950, S. 24ff. Martin Lintzel, Die Unterwerfung Sachsens durch Karl den Großen und der sächsische Adel, in: Sachsen und Anhalt 10, 1934, zit. nach dem ND in: Ders., Schriften (wie Anm. 54), S. 95–127, S. 115ff.; vgl. aber auch Ernst Schubert, Die Capitulatio de partibus Saxoniae, in: Geschichte in der Region. Zum 65. Geburtstag von Heinrich Schmidt, hg. von Dieter Brosius – Christine van den Heuvel – Ernst Hinrichs – Hajo van Lengen (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen, Sonderband) Hannover 1993, S. 3–28, S. 19f.; Eric J. Goldberg, Popular Revolt, Dynastic Politics, and Aristocratic Factionalism in the Early Middle Ages: The Saxon Stellinga Reconsidered, in: Speculum 70, 1995, S. 467–501, S. 476f. mit Anm. 47. Nithard, Historiarum libri quattuor IV, 2, ed. Ernst Müller (MGH SS rer. Germ. [44]) Hannover 1907, S. 41. Patrick Wormald, Art. ›Ætheling‹, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 1, München – Zürich 1980, Sp. 188, unter Verweis auf Beowulf 118, 906, 1244, 2506, 3170 (vgl. dazu auch H. Munro Chadwick, Studies in Anglo-Saxon Institutions, 1905, ND New York 1963, S. 416f.); Cædmon’s Metrical Paraphrase of parts of the Holy Scripture, in Anglo-Saxon, ed. Benjamin Thorpe, London 1832, S. 65, Z. 1; S. 70, Z. 31; Beda (Old English Version) II, 11 (wie Anm. 54), S. 138. T. Northcote Toller, An Anglo-Saxon Dictionary. Supplement, Oxford 1921, S. 22. Binchy, Kingship (wie Anm. 49), S. 28ff.

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nigshauses‹. In der Bedeutung miteingeschlossen scheint der Sinn, daß die so titulierte Person grundsätzlich zum König gewählt werden konnte78. Aber bis in welche Zeit reichte diese Bedeutung von ætheling zurück? Leider verwendet Beda das Wort ætheling nicht, und auch sonst besitzen wir für die gesamte Frühzeit der angelsächsischen Königreiche keinen direkten Beleg. Interessant ist jedoch, daß die altenglische Übersetzung von Bedas Historia ecclesiastica aus dem späten 9. Jahrhundert diesen Ausdruck verwendet. Dort gibt se geonga ætheling den Terminus regius iuuenis wieder, aber auch iuuenis optimus, wobei Beda die Königsnähe des so bezeichneten princeps der Mittelangeln stark hervorhebt, und einmal steht West Seaxna ætheling für de regio genere Geuissorum in Bezug auf Caedwalla79. Im Plural begegnet uns das Wort in doppelter Bedeutung: sowohl für regii uiri als auch für nobiles, was Dumville nicht zuletzt wegen der festländischen Parallelen für die übliche Bedeutung hält80. Verzichtet man freilich auf die Prämisse von der Königslosigkeit der Sachsen, so stellt sich die Frage, ob nicht auch die beiden Bedeutungen der Mehrzahl von ætheling ursprünglich auf die königliche Abkunft verwiesen. Wie bereits erwähnt, schwingt bei ætheling neben der Abstammung von einem König auch eine weitere Eigenschaft mit: die Wählbarkeit zur königlichen Würde. Hier ist nun aber eine allmähliche Verengung des begünstigten Personenkreises festzustellen81. Die Gründer der angelsächsischen Königreiche vererbten die 78 David N. Dumville, The Aetheling. A Study in Anglo-Saxon Constitutional History, in: Anglo-Saxon England 8, 1979, S. 1–33; zur Auffassung, das Königsamt stehe allen Angehörigen der königlichen Familie offen, vgl. Barbara Yorke, Kings and Kingdoms of Early Anglo-Saxon England, London 1990, S. 167ff.; für die spätere Zeit Anne Williams, Some Notes and Considerations on Problems Connected with the English Royal Succession 860–1066, in: Proceedings of the Battle Conference on Anglo-Norman Studies 1, Ipswich 1979, S. 144–167. 79 Beda II, 12 (wie Anm. 23), S. 180; III, 21, S. 278: His temporibus Middilengli, id est Meditarranei Angli, sub principe Peada, filio Pendan regis fidem et sacramenta ueritatis perceperunt. Qui cum esset iuuenis optimus, ac regis nomine ac persona dignissimus, praelatus est a patre regno gentis illius …; IV, 15, S. 380; Beda (Old English Version) II, 9 (wie Anm. 54), S. 130: se geonga ætheling; ebd. III, 15, S. 220: Peada ging ætheling; ebd. IV, 17, S. 306: Ceadwalla … Westseaxna ætheling; vgl. Chadwick, Institutions (wie Anm. 75), S. 301f. mit Anm. 2; Dumville, Aetheling (wie Anm. 78), S. 3f. mit Anm. 4. 80 Beda II, 14 (wie Anm. 23), S. 186 u. 188: … rex Eduini cum cunctis gentis suae nobilibus … Baptizatus est Yffi filius Osfridi, sed et alii nobiles ac regii uiri non pauci.; III, 27, S. 312: Erant ibidem eo tempore multi nobilium simul et mediocrium de gente Anglorum …; Beda (Old English Version) II, 11 (wie Anm. 54), S. 138 u. 140: … Eadwine cyning mid eallum thæm æthelingum his theode … Swilce eac wæs gefulwad Yffe Osfrithes sunu, monige æthelingas thæs cynecynnes; S. 240: Wæron thær in tha tiid monige of Ongeltheode ge æthelinga ge othera … 81 Dumville, Aetheling (wie Anm. 78), S. 32; offen muß die Frage bleiben, ob die Einführung eines speziellen Wergeldes für den ætheling unter Knut dem Großen im Zusammenhang mit der genannten Entwicklung gesehen werden muß; vgl. dazu auch Chadwick, Institutions (wie Anm. 75), S. 76, 163 Anm. 1, 167f., 307 Anm. 1; die Frage ist, welches Wergeld vor Knut

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Wählbarkeit zum König wahrscheinlich in direkter männlicher Linie an ihre sämtlichen Nachkommen. Wenn ætheling in unseren lateinischen Quellen auch nicht vorkommt, so hat das Wort doch sehr wahrscheinlich zur Umschreibung dieses Sachverhalts gedient. Im Laufe der Zeit besaß nur noch derjenige die Königsfähigkeit, der bis zur dritten Generation von einem König abstammte. Diese Entwicklung dürfte auf praktische Erwägungen zurückgehen, drohte der königsfähige Personenkreis doch ansonsten beliebig groß und damit unüberschaubar zu werden. Hinzu kommt ein Konzentrationsprozeß, an dessen Ende die sieben klassischen angelsächsischen Reiche stehen, – ein Prozeß, der die Angehörigen vieler anderer königlicher Familien gleichsam zu ›normalen‹ Adligen machte82. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen ist es gut möglich, daß die weitere Bedeutung von æthelingas im Sinne von nobiles Personen meinte, deren Vorfahren zwar im Laufe der Generationen die Königsfähigkeit verloren hatten, deren königliche Abkunft aber durchaus noch im allgemeinen Bewußtsein war. Waren die edhilingi der festländischen Sachsen nun ebenfalls Abkömmlinge von Königen – etwa Bedas Satrapen83 ? Man wird diese Frage zwar nie mit letzter Sicherheit beantworten können, aber daß die Satrapen Könige in einem eingeschränkten Sinne waren, das darf wohl angenommen werden, auch wenn Beda für sie den Königstitel nicht verwenden wollte. Gleichwohl wären die edhilingi die Nachfahren solcher (Klein-) Könige. Dabei ist schon für die Zeit vor der fränkischen Eroberung in Analogie zu den angelsächsischen Reichen ein fließender Übergang anzunehmen zwischen den königlichen Verwandten, die auf Grund ihres näheren Verwandtschaftsgrades selbst für die höchste Stellung in einem Stamm in Frage kamen, und den königlichen Gesippen, für die dies nicht mehr zutraf, weil ihre Verwandtschaft zum König zu weitläufig war. Letztere entsprachen dann auf Grund ihrer besonderen Abkunft den Adligen in anderen Völkern bzw. Reichen. Nach dieser terminologischen Übereinstimmung zwischen Alt- und Angelsachsen ist auf eine Ähnlichkeit in der politischen Organisation einzugehen. Wie bereits erwähnt berichtet Beda, im Kriegsfalle hätten die Satrapen aus ihren Reihen einen dux ausgelost, der für die Dauer der militärischen Auseinander-

für einen ætheling gezahlt werden mußte; im Jahr 687 mußten die Leute von Kent den Tod Muls, des Bruders des westsächsischen Königs Caedwalla, durch die Zahlung eines königlichen Wergeldes büßen, Anglo-Saxon Chronicle a. 694, ed. Charles Plummer, Two of the Saxon Chronicles Parallel, Bd. 1, Oxford 1892, S. 40f., vgl. a. 685–687, S. 38f.; vgl. CharlesEdwards, Kingship (wie Anm. 47), S. 37; David Peter Kirby, The Earliest English Kings, London 1991, S. 2, 124. 82 Wenskus, Sachsen (wie Anm. 13), S. 537. 83 Vgl. bereits Schröder, Volksadel (wie Anm. 33), S. 356.

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setzungen den Oberbefehl innehatte84. Die Angelsachsen kannten die Stellung des bretwalda, das lange Zeit als Oberkönigtum interpretiert wurde85. Es sei stets von einem König der südlich des Humber gelegenen Reiche auf Lebenszeit wahrgenommen worden. Nach Hanna Vollrath war sein Inhalt jedoch ein »frei vereinbarter Oberbefehl über das gesamtsächsische Aufgebot«86. Das aber erinnert tatsächlich an den festländischen dux87. Als Einwand könnte man auf die beschränkte Dauer seines Auftrages hinweisen, der mit dem Kriegsende erledigt war. Doch auch auf der Insel war jener frei vereinbarte Oberbefehl wohl keine Stellung auf Lebenszeit88. Auf jeden Fall handelte es sich nicht um ein ständig besetztes Amt. Diese Einrichtung geht also eventuell auf dieselben Wurzeln zurück wie die Stellung des altsächsischen dux nach Beda. An dieser Stelle könnte man zu bedenken geben, daß Beda diese Parallelen übersah, ja daß er sie sogar verschleierte. Möglicherweise wollte Beda, für den erst die Christianisierung einen König zu einem wirklichen König, ein Volk zu einem wirklichen Volk erhob, verbergen, daß selbst zu seiner Zeit noch unübersehbare Ähnlichkeiten zwischen der christlichen gens Anglorum89 und den heidnischen antiqui Saxones bestanden, daß mithin der Einfluß des Christen84 Vgl. auch Ian Wood, Kings, Kingdoms and Consent, in: Early Medieval Kingship, hg. v. Peter H. Sawyer und Ian Wood, Leeds 1977, S. 6–29, S. 7, der zum Vergleich auf den westgotischen ›Richter‹ Athanarich verweist. 85 Vgl. etwa Stenton, Anglo-Saxon England (wie Anm. 46), S. 34f.; Nicholas P. Brooks, Art. ›Bretwalda‹, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 2, München – Zürich 1983, Sp. 636. 86 Vollrath-Reichelt, Königsgedanke (wie Anm. 37), S. 80ff., das Zitat S. 227; vgl. auch Campbell, The First Christian Kings (wie Anm. 48), S. 53f.; Patrick Wormald, The Age of Bede and Aethelbald, in: The Anglo-Saxons (wie Anm. 48), S. 70–100, S. 99f.; Ders., Bede, the Bretwaldas and the Origins of the Gens Anglorum, in: Ideal and Reality (wie Anm. 50), S. 99–129; Wallace-Hadrill, Historical Commentary (wie Anm. 54), S. 220ff.; Kirby, Earliest English Kings (wie Anm. 81), S. 14ff.; Steven Fanning, Bede, Imperium and the Bretwaldas, in: Speculum 66, 1991, S. 1–26; Simon Keynes, Rædwald the Bretwalda, in: Voyage to the Other World: the Legacy of Sutton Hoo, hg. von Calvin B. Kendall und Peter S. Wells (Medieval Studies at Minnesota 5) Minneapolis 1992, S. 103–123, S. 107ff.; Henry Mayr-Harting, Bede’s Patristic Thinking as an Historian, in: Historiographie im frühen Mittelalter, hg. von Anton Scharer und Georg Scheibelreiter (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 32) Wien – München 1994, S. 367–374; Nicholas J. Higham, An English Empire. Bede and the Early Anglo-Saxon Kings, Manchester 1995, S. 9ff., 47ff.; Kleinschmidt, Stirps regia (wie Anm. 37), S. 26ff. 87 Vgl. Richard Drögereit, Niedersachsen und England bis zur Hansezeit, in: NdsJbLG 15, 1938, zit. nach dem ND in: Ders., Sachsen – Angelsachsen – Niedersachsen (wie Anm. 31), Bd. 2, S. 25–59, S. 30; Hans Kuhn, Name und Herkunft der Westfalen, in: Westfälische Forschungen 27, 1975, S. 5–11, S. 9, der diese Möglichkeit aber wieder verwirft, da er Bedas Satrapen für Statthalter hält. 88 Vollrath-Reichelt, Königsgedanke (wie Anm. 37), S. 83ff.; vgl. aber etwa auch Wormald, Bede (wie Anm. 86), S. 106 Anm. 30; Keynes, Rædwald (wie Anm. 86), S. 105ff.; Higham, Empire (wie Anm. 86), S. 57f. 89 Vgl. Wormald, Bede (wie Anm. 86), S. 120ff.; Richter, Bede’s Angli (wie Anm. 24), S. 105ff.; Higham, Empire (wie Anm. 86), S. 250ff.

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tums vor allem im Hinblick auf die Herrschaftsordnung der Angelsachsen eben doch nicht so entscheidend war, wie dies nach Bedas Auffassung wohl hätte der Fall sein sollen. Daher könnte auch Bedas apodiktische Feststellung, die alten Sachsen hätten keine Könige gekannt, auf sein Unbehagen über Parallelen zwischen den angelsächsisch-christlichen Verhältnissen in Britannien und den altsächsisch-heidnischen Zuständen auf dem Festland zurückgehen. Im Zusammenhang mit den Satrapen scheint es angebracht, noch auf eine weitere Institution der altsächsischen Verfassung einzugehen, die Stammesversammlung in Marklo90. Darüber berichtet die zwischen 840 und 865 vermutlich in Kloster Werden verfaßte Vita Lebuini antiqua, deren Quellenwert von der gegenwärtigen Forschung vergleichsweise hoch eingeschätzt wird: Regem antiqui Saxones non habebant, sed per pagos satrapas constitutos, morisque erat, ut semel in anno generale consilium agerent in media Saxonia iuxta fluvium Wisuram ad locum, qui dicitur Marklo. Solebant ibi omnes in unum satrapae convenire, ex pagis quoque singulis duodecim electi nobiles totidemque liberi totidemque lati. Renovabant ibi leges, praecipuas causas adiudicabant et, quid per annum essent acturi sive in bello sive in pace, communi consilio statuebant91.

Zunächst ist wiederum auf das Hauptanliegen des Verfassers zu verweisen. Er wollte die Verdienste Lebuins um die Mission bei den alten Sachsen hervorheben. Aus Bedas Kirchengeschichte entlehnte er – sogar im wörtlichen Zitat – die Feststellung, die Sachsen hätten keinen König gehabt. Angesichts der großen Autorität Bedas könnte man vermuten, daß der Verfasser unabhängig von seinen eigenen Kenntnissen über die altsächsischen Verhältnisse Bedas Diktum einfach übernahm. Hinzu kommt, daß die Satrapen ja tatsächlich keine Könige im Sinne der fränkischen Könige seiner Zeit waren. Im Gegensatz dazu können wir keine schriftliche Quelle für seine Ausführungen über die Stammesversammlung in Marklo namhaft machen. Heinz Löwe und Heinz Stoob haben jedoch mit Recht darauf hingewiesen, daß sich eine solche Versammlung bereits zwingend aus 90 Zur Lokalisierung des Ortes vgl. Joseph Prinz, Marklo, in: Westfalen 58, 1980, S. 3–23. 91 Vita Lebuini antiqua c. 4 (wie Anm. 67), S. 793; Quellen zur Geschichte des 7. und 8. Jahrhunderts (Ausgewählte Quellen zur Geschichte des deutschen Mittelalters 4a), Darmstadt 1982, S. 387 (Übersetzung von Herbert Haupt): »Die alten Sachsen hatten keinen König, sondern ihre Gaue waren Satrapen unterstellt; und es war Sitte, daß sie einmal jährlich eine allgemeine Versammlung mitten im Sachsenland an der Weser bei einem Ort abhielten, der Marklo heißt. Dort kamen alle Satrapen zusammen und aus jedem Gau 12 ausgewählte Edle und ebenso viele Freie und Halbfreie. Dort erneuerten sie die Gesetze, saßen über bedeutende Sachen zu Gericht und entschieden bei diesen gemeinsamen Versammlungen, was sie das Jahr über im Krieg und im Frieden unternehmen wollten«; zur Quelle zusammenfassend Wilhelm Wattenbach – Wilhelm Levison, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Vorzeit und Karolinger, 6. Heft: Die Karolinger vom Vertrag von Verdun bis zum Herrschaftsantritt der Herrscher aus dem sächsischen Hause. Das ostfränkische Reich, bearbeitet von Heinz Löwe, Weimar 1990, S. 826ff.

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Bedas Bericht ergebe92. Bei Beda heißt es, daß im Kriegsfall einer der Satrapen durch das Los zum dux bestimmt wurde. Dieses Verfahren setzt eine Zusammenkunft der Satrapen voraus, also eine Stammesversammlung. Wenn Beda weiter das Ende des Oberkommandos erwähnt, so ist daraus wiederum eine Versammlung aller Satrapen abzuleiten, denn ein Friedensschluß oder weniger formell die Beendigung des Kriegszustandes mußte ja festgestellt werden, und dies war Bedas dürrem Bericht zufolge wohl nur in einer Versammlung der Satrapen möglich. Die Frage nach dem Alter dieser Stammesversammlung muß im übrigen unbeantwortet bleiben. Es mag sich bei ihr um eine seit alters bestehende Einrichtung gehandelt haben, doch ist es auch denkbar, daß sich die Satrapen erst durch die fränkische Bedrohung im 8. Jahrhundert zu einem Zusammenschluß veranlaßt sahen. Auch die Frage, ob alle sächsischen Völkerschaften in Marklo vertreten waren, wie die Vita behauptet, kann kaum beantwortet werden. Irritierend an der Stammesversammlung könnte auch die Beteiligung von Adligen, Freien und Liten wirken, zumal sich dieser Aspekt nicht aus Beda ableiten läßt. Auf der anderen Seite war es ein Grundzug des frühmittelalterlichen Verfassungslebens, daß Entscheidungen von großer Tragweite nicht in absolutistischer Manier getroffen wurden, sondern die Betroffenen wenigstens formal beteiligt waren. Das gilt insbesondere auch für Versammlungen der Frankenkönige, auf denen nicht nur die hohen Adligen, sondern auch unbedeutendere Adlige und sogar zahlreiche unbehauste Vasallen anwesend waren93. Wenn diese auch nichts zu entscheiden hatten, wird ihre Zustimmung in den Quellen doch üblicherweise erwähnt. Von daher war also die Anwesenheit der genannten Gruppen auf der sächsischen Stammesversammlung gar nicht so ungewöhnlich. Wie Martin Last darlegte, erschienen Adlige, Freie und Liten im Gefolge ihres Satrapen auf der Versammlung94. Dabei sollte die Beschränkung auf jeweils zwölf 92 Heinz Löwe, Entstehungszeit und Quellenwert der Vita Lebuini, in: DA 21, 1965, S. 345–370, S. 369f.; Stoob, Gestalt (wie Anm. 8), S. 128. 93 Vgl. Werner Affeldt, Das Problem der Mitwirkung des Adels an politischen Entscheidungsprozessen im Frankenreich vornehmlich des 8. Jahrhunderts, in: Aus Theorie und Praxis der Geschichtswissenschaft. FS für Hans Herzfeld zum 80. Geburtstag, hg. von Dietrich Kurze, Berlin 1972, S. 404–423; Wood, Kings (wie Anm. 84); Gerd Tellenbach, Die geistigen und politischen Grundlagen der karolingischen Thronfolge. Zugleich eine Studie über kollektive Willensbildung und kollektives Handeln im neunten Jahrhundert, in: FMSt 13, 1979, S. 184–302, ND in: Ders., Ausgewählte Abhandlungen, Bd. 2, Stuttgart 1988, S. 503–621; Jürgen Hannig, Consensus fidelium: Frühfeudale Interpretationen des Verhältnisses zwischen Königtum und Adel am Beispiel des Frankenreiches (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 27) Stuttgart 1982, bes. S. 94ff. 94 Martin Last, Die Sozialordnung der Sachsen nach den Schriftquellen, in: Sachsen und Angelsachsen, hg. von Claus Ahrens (Veröffentlichungen des Helms-Museums 32) Hamburg 1978, S. 449–454, S. 450; vgl. auch Götz Landwehr, Die Liten in den altsächsischen Rechtsquellen. Ein Diskussionsbeitrag zur Textgeschichte der Lex Saxonum, in: Studien zu

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Teilnehmer wohl die nach Macht und Ansehen verschiedenen Satrapen wenigstens in Marklo einander gleichstellen. Das gilt auch dann, wenn man die Zahl zwölf selbst etwa wegen ihres Symbolgehaltes ablehnt und nur ganz allgemein eine zahlenmäßige Beschränkung gelten lassen will. Die Vita Lebuini antiqua bezeugt nicht nur die Stammesversammlung, sondern sie gilt auch als Kronzeuge für eine angeblich »antimonarchische Tendenz«, von der das Verfassungsleben der Sachsen beherrscht worden sei95. Dies wird weniger aus der oben zitierten Stelle abgeleitet, als vielmehr aus einem Teil der Rede, die Lebuin vor der Stammesversammlung gehalten haben soll: ›Sicut hucusque super vos regem, o Saxones, non habuistis, ita non erit rex, qui contra vos praevalere possit et sibi subicere. Quodsi eius non vultis fieri, tunc mandat haec vobis: Praeparatus est in vicina terra rex quidam, qui vestram terram ingredietur, praedabit vastabitque, variis vos bellis fatigabit, in exilium adducet, exhereditabit vel occidet, hereditates vestras quibus voluerit tradet; eique postea subditi eritis ac posteris eius‹96.

Karl Hauck verwies darauf, daß sich hier die mündliche Tradition der Familie Folcbrahts erhalten habe97. Folcbraht zählte zu den amici et familiares Lebuins, dem er vor dessen Aufbruch nach Marklo in seinem Hause Schutz gewährt hatte98. Die erkennbar antifränkische und antikönigliche Tendenz dieser Stelle gehöre zur Tradition dieser Familie. Hier scheint freilich eine Überinterpretation

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den germanischen Volksrechten. Gedächtnisschrift für Wilhelm Ebel, hg. von Götz Landwehr (Rechtshistorische Reihe 1) Frankfurt/Main – Berlin 1982, S. 117–142, S. 122f. Lammers, Stammesbildung (wie Anm. 7), S. 310 Anm. 86; vgl. auch Wenskus, Sachsen (wie Anm. 13), S. 539; Helmut Beumann, Die Hagiographie »bewältigt«: Unterwerfung und Christianisierung der Sachsen durch Karl den Großen, in: Christianizzazione ed organizzazione ecclesiastica delle campagne nell’alto medioevo: espansione e resistenze (Settimane di studio del centro italiano di studi sull’alto medioevo 28) Spoleto 1982, S. 129–163, S. 159; neuerdings Henry Mayr-Harting, Charlemagne, the Saxons, and the Imperial Coronation of 800, in: The English Historical Review 111, 1996, S. 1113–1133, S. 1124ff. Vita Lebuini antiqua c. 6 (wie Anm. 67), S. 794; Quellen (wie Anm. 91), S. 389: »So wie ihr, Sachsen, bis jetzt keinen König über euch gehabt habt, wird es auch in Zukunft keinen König geben, der euch beherrschen und sich unterwerfen kann. Wenn ihr aber nicht die Seinen werden wollt, hört seinen Spruch an euch: Im Nachbarland steht ein König bereit, in euer Land einzudringen, es zu plündern und zu verwüsten, in vielen Kriegen euch aufzureiben, in die Verbannung zu schleppen, zu enterben und zu töten und euer Erbteil zu geben, wem er will; ihm und seinen Nachkommen werdet ihr dann unterworfen sein«. Karl Hauck, Ein Utrechter Missionar auf der altsächsischen Stammesversammlung, in: Das erste Jahrtausend. Kultur und Kunst im werdenden Abendland an Rhein und Ruhr, Textbd. 2, Düsseldorf 1962, S. 734–745; Ders., Die Herkunft der Liudger-, Lebuin- und Marklo-Überlieferung, in: FS für Jost Trier zum 70. Geburtstag, hg. von William Foerste und Karl Heinz Borck, Köln – Graz 1964, S. 221–239; Löwe, Entstehungszeit (wie Anm. 92) ; Walther Lammers, Formen der Mission bei Sachsen, Schweden und Abodriten, in: BlldtLG 106, 1970, S. 23–46, S. 28ff.; Heinrich Schmidt, Über Christianisierung und gesellschaftliches Verhalten in Sachsen und Friesland, in: NdsJbLG 49, 1977, S. 1–44. Vita Lebuini antiqua c. 4f. (wie Anm. 67), S. 792f.

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vorzuliegen. Die Rede Lebuins ist deutlich ex eventu formuliert99, gerade in ihrem antifränkischen Teil, und man wird vielleicht eher die Unzufriedenheit der angelsächsischen Missionare oder ihrer einheimischen Schüler über die Zerstörung ihres missionarischen Werkes durch das gewaltsame Eingreifen Karls des Großen heraushören100 als das Mißfallen einer sächsischen Adelsfamilie gegenüber der Herrschaft des fränkischen Königs. Schließlich hatte diese Familie allem Anschein nach keine erheblichen Einbußen in dieser Krisenzeit, sondern sich recht gut mit der fränkischen Herrschaft arrangiert. Im übrigen dürften sich die geistlichen Schüler und Begleiter Lebuins viel eher an dessen großen Auftritt in Marklo erinnert haben als die Verwandten und Nachfahren des Lebuin-Freundes. Kurz: Die Rede ist wahrscheinlich eine Charakterisierung der Mission mit der eisernen Zunge ex eventu und kein Versuch, einer grundsätzlich antimonarchischen Haltung der Sachsen Ausdruck zu verleihen. Doch selbst wenn man an einer solchen Auslegung festhalten will, muß geklärt werden, was der Autor der Vita Lebuini antiqua bzw. seine Gewährsleute unter einem König verstanden. Zunächst galt ja das Diktum Bedas über die Satrapen, dessen wahre Bedeutung dem Hagiographen wohl verborgen blieb. Sodann entsprachen die sächsischen (Klein-) Könige sicherlich nicht dem zeitgenössischen Verständnis von einem König, vor allem im Vergleich mit den fränkischen Königen. Daher sind nicht nur die frühmittelalterlichen Vorstellungen von einer gens kritisch zu hinterfragen, sondern auch die damaligen Anschauungen über Amtsträger, Herrscher und Fürsten. Auch hier bestimmt die Definition der zeitgenössischen Geschichtsschreiber bisweilen noch allzu sehr die moderne Interpretation.

II. Wenden wir uns nun der sächsischen gens zu. Für Beda sind die antiqui Saxones eine gens. Campbell hat geklärt, was Beda mit diesem Terminus meinte, nämlich einen von einem König beherrschten Personenverband101. Augenscheinlich war sich Beda aber bewußt, daß er mit diesem Wort die sächsischen Verhältnisse auf dem Festland nicht ganz traf. Denn er leitete seinen berühmten Bericht über die Altsachsen mit den Worten ein: Non enim habent regem idem antiqui Saxones … 99 Vgl. Hilde Mühlner, Die Sachsenkriege Karls des Großen in der Geschichtsschreibung der Karolinger- und Ottonenzeit (Historische Studien 308) Berlin 1937, S. 61f.; Löwe, Entstehungszeit (wie Anm. 92), S. 351; Beumann, Hagiographie (wie Anm. 95), S. 159f.; Hubert Mordek, Karl der Große – barbarischer Eroberer oder Baumeister Europas, in: Deutschland in Europa, hg. von Bernd Martin, München 1992, S. 23–45, S. 27f. 100 Drögereit, Sachsen (wie Anm. 31), S. 81f. 101 Vgl. oben, S. 137.

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Nicht nur weil es um die Mission ging, sondern auch weil er von einer gens sprach, mußte Beda über die Satrapen handeln, sonst hätten seine Leser möglicherweise falsche Vorstellungen über einen König der Altsachsen entwickelt. Wenn aber die Altsachsen keine gens wie die angelsächsischen gentes und etwa auch die gens Francorum waren, was waren sie dann? Johannes Fried hat im Rahmen seiner Ausführungen über den gens-Begriff der fränkischen Historiographie beiläufig auch die Vermutung geäußert, die Sachsen seien eben kein einheitliches Volk gewesen, sondern verschiedene Gruppen seien von außen nur als Sachsen wahrgenommen worden; zu denken sei hier etwa an die Teilstämme der Sachsen, an Westfalen, Engern und Ostfalen bzw. Ostsachsen102. Diese Dreiteilung galt der älteren Forschung als weitere Eigenart der sächsischen Verfassung, die seit dem Entstehen des sächsischen Volkes durch Eroberung oder friedlichen Zusammenschluß bestanden habe. In diesem Sinne sprach Martin Lintzel von den drei Provinzen des sächsischen Stammes103. Lintzel konnte sich mit seiner Auffassung zunächst gegen Ludwig Schmidt durchsetzen, der Westfalen, Engern und Ostfalen, aber auch die Nordliudi, als Zusammenschlüsse mehrerer Gaue angesichts der fränkischen Bedrohung verstand104. Johannes Bauermann wies darauf hin, daß es sich bei den genannten Gruppen nicht um Provinzen, sondern um Heerschaften, also Aufgebotsverbände, gehandelt hat105. Diesen Gedanken aufgreifend kam Hermann Aubin zu dem Schluß, daß die drei Untergruppen erst im Verlauf des 8. Jahrhunderts entstanden seien, als die bewaffneten Auseinandersetzungen mit den Franken immer mehr zugenommen hätten. Als Argument dafür führte Aubin vor allem an, daß Engern, Westfalen und Ostfalen in den fränkischen Quellen erst seit 775 erwähnt werden und zwar in einer Weise, die den Gedanken nahelege, diese drei Namen bezeichneten Gruppen im Westen und Süden Sachsens in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Franken. Kleinere sächsische Gruppen hätten sich zu den genannten Großgruppen zusammengeschlossen, um den Franken besser Widerstand leisten zu können106. Für eine jüngere Bildung spreche auch, daß Volksbezeichnungen, die 102 Fried, Gens (wie Anm. 3), S. 79 Anm. 13. 103 Lintzel, Gau (wie Anm. 54), S. 269ff.; Ders., Die Zahl der sächsischen Provinzen. Untersuchungen zur Geschichte der alten Sachsen IV, in: Sachsen und Anhalt 6, 1930, zit. nach dem ND in: Ders., Schriften (wie Anm. 54), S. 293–305. 104 Schmidt, Geschichte, 1. Aufl. (wie Anm. 65), S. 61; vgl. auch Philippi, Umwandlung (wie Anm. 52), S. 38; selbst Schmidt, Geschichte, 2. Aufl. (wie Anm. 31), S. 58f., näherte sich schließlich Lintzels Auffassung an. 105 Johannes Bauermann, ›herescephe‹. Zur Frage der sächsischen Stammesprovinzen, in: WZ 97, 1947, S. 38–63. 106 Hermann Aubin, Ursprung und ältester Begriff von Westfalen, in: Der Raum Westfalen, Bd. 2: Untersuchungen zu seiner Geschichte und Kultur, 1. Teil, hg. von Hermann Aubin und Franz Petri, Münster 1955, S. 3–35; zustimmend und die Gegensätze zu Bauermanns

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sich an den Himmelsrichtungen orientieren, auch sonst bei germanischen Völkern erst nach der Völkerwanderungszeit auftreten107. Einzuwenden ist jedoch, daß der Name der Engern wahrscheinlich älter ist und an die bei Tacitus bezeugten Angrivarii erinnert108, wobei eine Neubildung unter Verwendung einer alten Bezeichnung möglich ist. Grundsätzlich hielt auch Albert K. Hömberg die drei Großgruppen oder Heerschaften für Neubildungen, wenn er ihnen auch ein deutlich höheres Alter zubilligte109. Einmal hätte das 695 von den Sachsen eroberte Gebiet der Brukterer auch später noch zu Westfalen und Engern gehört, was voraussetze, daß beide Gruppen damals schon bestanden hätten; zum anderen seien die sächsischen Adelsfamilien des 9. Jahrhunderts auf Grund ihres Besitzes eindeutig den drei Heerschaften zuzuordnen110. Ganz gleich wann die drei genannten Großgruppen nun genau entstanden sind, ihre Neubildung im Verlauf der sächsischen Geschichte kann jedenfalls kaum als Bestätigung für ihre althergebrachte Rolle im Verfassungsleben der Sachsen gewertet werden. Zu diesem Befund paßt, daß die wichtigste Quelle für die Entstehung und Frühgeschichte der Sachsen, ihre origo gentis, in keiner der erhaltenen Versionen der drei Heerschaften gedenkt. Nach Karl Hauck ist eine origo als das Medium anzusehen, in dem der Adel die gemeinsame Abstammung eines Volkes überlieferte und zugleich seine vorchristliche Lebens- und Herrschaftsordnung sakral legitimierte111. Andere Forscher wie Walter Goffart leh-

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Position herunterspielend Franz Petri, Stamm und Land im frühmittelalterlichen Nordwesten nach neuer historischer Forschung, in: Westfälische Forschungen 8, 1955, S. 5–16, S. 12ff.; vgl. auch Baaken, Königtum (wie Anm. 33), S. 25f.; Peter Johanek, Fränkische Eroberung und westfälische Identität, in: Westfalens Geschichte und die Fremden, hg. von Dems. (Schriften der Historischen Kommission für Westfalen 14) Münster 1994, S. 23–40, S. 28. Aubin, Ursprung (wie Anm. 106), S. 14; zustimmend Günter Neumann, Art. ›Falen‹, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde (wie Anm. 72), Bd. 8, Berlin – New York 1994, S. 172. Günter Neumann, Art. ›Engern‹, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde (wie Anm. 107), Bd. 7, Berlin – New York 1989, S. 287. Hömberg, Westfalen (wie Anm. 62), S. 6ff.; zustimmend Karl Hauck, Goldbrakteaten aus Sievern. Spätantike Amulett-Bilder der ›Dania Saxonica‹ und die Sachsen-›origo‹ bei Widukind von Corvey (Münstersche Mittelalter-Schriften 1) München 1970, S. 92f.; Wenskus, Sachsen (wie Anm. 13), S. 542; Prinz, Zerfall (wie Anm. 72), S. 83f.; Last, Niedersachsen (wie Anm. 18), S. 587. Vgl. dazu auch Krüger, Studien (wie Anm. 72). Karl Hauck, Lebensnormen und Kultmythen in germanischen Stammes- und Herrschergenealogien, in: Saeculum 6, 1955, S. 186–223, S. 204ff.; Ders., Carmina antiqua. Abstammungsglaube und Stammesbewußtsein, in: ZBLG 27, 1964, S. 1–33, S. 23ff.; vgl. auch Herbert Grundmann, Geschichtsschreibung im Mittelalter. Gattungen – Epochen – Eigenart, Göttingen 1965, 31978, S. 12ff.; Herwig Wolfram, Einleitung oder Überlegungen zur Origo Gentis, in: Typen der Ethnogenese unter besonderer Berücksichtigung der Bayern, Teil 1, hg. von dems. und Walter Pohl (Denkschriften der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse 201) Wien 1990, S. 19–33, S. 20ff.; Heinz

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nen diese Texte als Quellen gänzlich ab, da es sich bei ihnen um spätere gelehrte Kombinationen, um nicht zu sagen: um Phantastereien, gehandelt habe112. Mit Herwig Wolfram und Walter Pohl wird man jedoch an ihrem Quellenwert festhalten können, denn zahlreiche Details in diesen Sagen können nicht als spätere Kombinationen abgetan werden113. In dieser Hinsicht ist es von einiger Bedeutung, daß die drei Heerschaften in der origo gentis der Sachsen mit keinem Wort erwähnt werden, weder in der Translatio sancti Alexandrini Rudolfs von Fulda aus der Mitte des 9. Jahrhunderts, noch in den Res gestae Saxonicae Widukinds von Corvey aus der Mitte des 10., noch in den Quedlinburger Annalen vom Anfang des 11. Jahrhunderts114. Für die Frühgeschichte der Sachsen haben sie demnach keine Rolle gespielt, aber auch nicht mehr um 850, denn sonst hätte Rudolf sie sicherlich erwähnt. Ihm stand mit seinem Auftraggeber Waltbert, einem Enkel des Sachsenführers Widukind, jedenfalls ein hervorragender Gewährsmann zur Verfügung. Über die Rolle von Westfalen, Engern und Ostfalen geben erst zwei relativ späte erzählende Quellen Auskunft, der Poeta Saxo und Widukind von Corvey. Der Poeta Saxo, der vermutlich um 890 in Kloster Corvey sein historisches Gedicht über Karl den Großen verfaßte115, geht als erster Schriftsteller überhaupt im Zusammenhang mit dem Ausbruch des Krieges zwischen Franken und Sachsen 772 auf diese drei Gruppen näher ein: Sed generalis habet populos divisio ternos Insignata quibus Saxonia floruit olim; Nomina nunc remanent, virtus antiqua recessit;

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Thomas, Julius Caesar und die Deutschen. Zu Ursprung und Gehalt eines deutschen Geschichtsbewußtseins in der Zeit Gregors VII. und Heinrichs IV., in: Die Salier und das Reich, Bd. 3: Gesellschaftlicher und ideengeschichtlicher Wandel im Reich der Salier, hg. von Stefan Weinfurter unter Mitarbeit von Hubertus Seibert, Sigmaringen 1991, S. 245–277, S. 248ff. Walter Goffart, The Narrators of Barbarian History (A.D. 550–800), Princeton 1988; kritisch speziell zur Sage der Sachsen neuerdings auch Matthias Springer, Sage und Geschichte um das alte Sachsen, in: WZ 146, 1996, S. 193–214, S. 198ff. Herwig Wolfram, Origo et religio. Ethnische Tradition und Literatur in frühmittelalterlichen Quellen, in: Mittelalter. Annäherungen an eine fremde Zeit, hg. von Wilfried Hartmann, Regensburg 1993, S. 27–39; Hans Hubert Anton, Origo gentis – Volksgeschichte. Zur Auseinandersetzung mit Walter Goffarts Werk »The Narrators of Barbarian History«, in: Historiographie im frühen Mittelalter (wie Anm. 86), S. 262–307; Walter Pohl, Tradition, Ethnogenese und literarische Gestaltung: eine Zwischenbilanz, in: Ethnogenese und Überlieferung. Angewandte Methoden der Frühmittelalterforschung, hg. von Karl Brunner und Brigitte Merta (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 31) München 1994, S. 9–26. Zu dieser Sage vgl. Hauck, Goldbrakteaten (wie Anm. 109), S. 31ff.; Frantisek Graus, Lebendige Vergangenheit. Überlieferung im Mittelalter und in den Vorstellungen vom Mittelalter, Köln – Wien 1975, S. 112ff.; Becher, Rex (wie Anm. 18), S. 31ff. Wattenbach – Levison – Löwe (wie Anm. 91), S. 862ff.

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Denique Westfalos vocitant in parte manentes Occidua, quorum non longe terminus amne A rheno distat. Regionem solis ad ortum Inhabitant Osterliudi, quos nomine quidam Ostvalos alio vocitant; confinia quorum Infestant coniuncta suis gens perfida Sclavi. Inter praedictos media regione morantur Angarii, populus Saxonum tertius; horum Patria Francorum terris sotiatur ab austro Oceanoque eadem coniungitur ex aquilone116.

Wir haben also scheinbar eine Bestätigung für die Dreiteilung des sächsischen Volkes vor uns117. Doch woher bezog der Dichter seine Informationen? Bekannt ist, daß er vor allem die sogenannten Einhardsannalen benutzte, in denen zu 772 lediglich von den Westfalen die Rede ist. Stützte er sich also auch auf andere, zuverlässigere Quellen? Wohl kaum, denn der Bericht des Dichters ist im Grunde so nichtssagend, daß er seine Aussagen über die innere Ordnung des sächsischen Volkes auch aus den genannten Annalen erschlossen haben kann: daß die Westfalen im Westen, die Ostfalen im Osten und die Engern zwischen diesen beiden siedelten. Eine politische Ordnung oder Funktion nennt er hingegen nicht; diese erwähnt er vielmehr im Zusammenhang mit dem gesamten Volk der Sachsen, wobei seine Abhängigkeit von Beda offen zutage tritt118. Seine Ausführungen über die drei sogenannten sächsischen Teilvölker gehen daher wahrscheinlich auf ein Mißverständnis zurück: Der Dichter interpretierte die Westfalen, Engern und Ostfalen seiner Vorlage als festgefügte politische Verbände, als populi119. Da er darüber jedoch keine weiteren Informationen besaß, konzentrierte er sich auf ihre geographische Lage. Warum sonst erklärte er lapidar, Westfalen, Engern und Ostfalen seien zu seiner Zeit nur noch bloße 116 Poeta Saxo a. 772, v. 26ff. (wie Anm. 68), S. 8 (direkt im Anschluß an die oben, Anm. 68, zit. Stelle); Julius Mäntler, Karl der Grosse. Episches Gedicht von Poeta Saxo für die Geschichte Karls des Grossen, in: Programm des Gymnasiums zu Liegnitz, Liegnitz 1865, S. 5f.: »Doch war das Ganze in drei Hauptvölkerschaften geteilt; / Welche den glänzendsten Ruhm dereinst den Sachsen erwarben – / Wohl sind die Namen noch da, doch der Heldensinn ist entschwunden! – / Die in dem westlichen Teil Ansässigen hießen Westfalen, / Deren Gebiet nicht weit entfernt vom mächtigen Rhein war, / Gegen Osten hin lag das Land der Osterluiden, / Welche man auch Ostfalen benannte, wie einige meinen, / Diesen benachbart war das Land der slavischen Völker, / Welche vereint raubgierigen Sinns oft jene bekriegten. / Endlich inmitten der oben bezeichneten sächsischen Stämme / Wohnte der dritte Stamm, das Volk der Angarier, deren / Land das fränkische Reich mit der südlichen Grenze berührte / Und in dem nördlichen Teil von des Ozeans Fluten bespült ward«. 117 Lintzel, Gau (wie Anm. 54), S. 269f.; vgl. aber auch Arno Jenkis, »Nordalbingien« und die sächsischen Stammesprovinzen. Ein Beitrag zur altsächsischen Stammesverfassung, Diss. phil. Hamburg 1953, S. 143ff. 118 Vgl. oben, S. 143 mit Anm. 68. 119 Vgl. auch Aubin, Ursprung (wie Anm. 106), S. 11 Anm. 43.

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Namen? Die Bemerkungen des Poeta Saxo können daher kaum als Beleg für eine stabile politische Untergliederung des sächsischen Volkes dienen. Man könnte nun auf Widukind verweisen, dem in seinen um 960 verfaßten Res gestae Saxonicae die drei Teilstämme durchaus ein Begriff waren: A tribus etiam principibus totius gentis ducatus administrabatur, certis terminis exercitus congregandi potestate contenti, quos suis locis ac vocabulis novimus signatos, in orientales scilicet populos, Angarios atque Westfalos. Si autem universale bellum ingruerit, sorte eligitur, cui omnes obedire oportuit, ad administrandum inminens bellum. Quo peracto, aequo iure ac lege propria contentus potestate unusquisque vivebat120.

Zunächst ist festzustellen, daß diese Stelle auch bei Widukind kein Teil der origo gentis ist. Zudem bringt er wie der Poeta Saxo keine Information, die er nicht aus ihm bekannten Quellen hätte entnehmen können. Daß im Krieg gegen Karl den Großen je eine Führungspersönlichkeit an der Spitze von Westfalen, Engern und Ostfalen stand, konnte er eventuell den sogenannten Einhardsannalen, auf jeden Fall aber dem Poeta Saxo entnehmen121. Die Bemerkung über den Heerführer im 120 Widukind von Corvey, Res gestae Saxonicae I, 14, ed. Paul Hirsch (MGH SS rer. Germ. [60]) Hannover 51935, S. 23f.; Ekkehard Rotter und Bernd Schneidmüller, Widukind von Corvey, Res gestae Saxonicae: Die Sachsengeschichte, Stuttgart 1981, S. 51: »Auch wurde die militärische Führung des ganzen Stammes von drei Fürsten verwaltet, die sich mit der Macht, das Heer innerhalb bestimmter Fristen zusammenzurufen, begnügten; wir wissen, daß sie nach ihren Wohnorten und Namen als Ostfalen, Engern und Westfalen bezeichnet wurden. Falls aber ein allgemeiner Krieg ausbrach, wurde jemand, dem alle gehorchen mußten, durch Los zur Führung des bevorstehenden Krieges erwählt. Danach lebte jeder unter gleichem Recht und Gesetz, zufrieden mit der eigenen Macht«; zu Widukind vgl. Helmut Beumann, Widukind von Korvei. Untersuchungen zur Geschichtsschreibung und Ideengeschichte des 10. Jahrhunderts (Abhandlungen zur Corveyer Geschichtsschreibung 3) Weimar 1950; Karl Hauck, Art. ›Widukind von Korvei‹, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, hg. von Karl Langosch, Bd. 4, Berlin 1953, Sp. 946–958; von jüngeren Arbeiten seien nur genannt Gerd Althoff, Widukind von Corvey. Kronzeuge und Herausforderung, in: FMSt 27, 1993, S. 253–272; Hagen Keller, Machabaeorum pugnae. Zum Stellenwert eines biblischen Vorbilds in Widukinds Deutung der ottonischen Königsherrschaft, in: Iconologia sacra. Mythos, Bildkunst und Dichtung in der Religions- und Sozialgeschichte Alteuropas. FS für Karl Hauck zum 75. Geburtstag, hg. von Hagen Keller und Nikolaus Staubach (Arbeiten zur Frühmittelalterforschung 23) Berlin – New York 1994, S. 417–437; Ders., Widukinds Bericht über die Aachener Wahl und Krönung Ottos I., in: FMSt 29, 1995, S. 390–453; Bernd Schneidmüller, Widukind von Corvey, Richer von Reims und der Wandel des politischen Bewußtseins im 10. Jahrhundert, in: Beiträge zur mittelalterlichen Reichs- und Nationsbildung in Deutschland und Frankreich, hg. von Carlrichard Brühl und Bernd Schneidmüller (HZ, Beihefte N.R. 24) München 1997, S. 83–102, jeweils unter Verweis auf weitere Literatur. 121 Vgl. auch unten, S. 159; zu den Quellen Widukinds vgl. Martin Lintzel, Der Poeta Saxo als Quelle Widukinds von Korvei, in: NA 49, 1930, S. 183–188; Beumann, Widukind (wie Anm. 120), S. 260; zur Vorsicht bei der Gleichsetzung der von Widukind I, 14 (wie Anm. 120), S. 25, genannten Gesta Francorum mit Einhards Vita Karoli magni und den sogenannten Einhardsannalen mahnt Hirsch, Einleitung zur Edition, S. XIV Anm. 17, Sachkommentar, S. 25 Anm. 1; vgl. auch Karl Heinrich Krüger, Dionysius und Vitus als

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Falle eines allgemeinen Krieges ist eindeutig von Beda inspiriert122. Man könnte sogar die Möglichkeit in Betracht ziehen, daß Widukind durch Bedas Satrapen an die bereits zitierte Stelle im Buch Daniel erinnert wurde und er in freier Kombination beider Texte mit dem Poeta Saxo auf die drei principes verfiel, wobei er die Satrapen gleichsam unter den Tisch fallen ließ. Wie auch immer, Widukind kommt jedenfalls bei diesem speziellen Problem kein eigener Quellenwert zu. Ziehen wir ein Zwischenresümee aus den Berichten der späteren Verfasser : Die angeblich seit alters bestehenden Heerschaften spielten für die Frühgeschichte der Sachsen keine Rolle. Recht bald nach der Eingliederung der Sachsen ins Frankenreich besaßen sie zudem keine besondere Funktion mehr. Diesem Bild entspricht es, daß etwa das Wort ›Engern‹ von norddeutschen Historiographen und Schreibern von Privaturkunden des 10. und 11. Jahrhunderts im Gegensatz zu ›Sachsen‹ kaum benutzt wurde123. So entsteht der Gedanke, daß Westfalen, Ostfalen und Engern um 770, als sie das erste Mal in den Quellen auftauchen, noch keineswegs gefestigte und dauerhafte Gebilde politischer oder gentiler Art waren. Wie bereits erwähnt, dachte Aubin an einen Zusammenschluß verschiedener Untergruppen entsprechend den ›Frontlinien‹ gegenüber den Franken im gesamten 8. Jahrhundert, nicht etwa nur während der Sachsenkriege Karls des Großen, wie manche Kritiker seiner Ausführungen zumindest implizit unterstellten124. Ganz allgemein bilden militärische Kraftanstrengungen, gleich ob defensiver oder offensiver Natur, im früheren Mittelalter den Hintergrund für politische bzw. ethnische Konzentrationsprozesse125. Die verschiedenen angelsächsischen Reiche, aber auch die Marken des fränkischen Reiches wären hier als Beispiele zu nennen. Zuletzt befaßte sich Wenskus mit den genannten Großgruppen in sächsischer Zeit. Er schloß sich Hömbergs Auffassung über das höhere Alter der Heerschaften an und zog außerdem in Betracht, daß Westfalen, Engern und Ostfalen das Ergebnis von Bemühungen um eine stärkere herrschaftliche Konzentration waren. Ähnlich interpretierte er den Befund, »daß gewisse Raumnamen, wie etwa Wigmodia, einen engeren und einen weiteren Geltungsbereich gehabt haben«, was ebenfalls auf solche Konzentrationsprozesse hinweise126. Schließlich ist auch noch an die Nordliudi nördlich der Elbe zu

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frühottonische Königsheilige, in: FMSt 8, 1974, S. 131–154, S. 132ff.; Keller, Widukinds Bericht (wie Anm. 120), S. 449 Anm. 356. Jenkis, »Nordalbingien« (wie Anm. 117), S. 156ff. Vgl. Prinz, Zerfall (wie Anm. 72), S. 77f. Vgl. oben, S. 153f. mit Anm. 109. Wenskus, Stammesbildung (wie Anm. 1), S. 429ff.; Wolfram, Geschichte (wie Anm. 1), S. 448ff. Wenskus, Sachsen (wie Anm. 13), S. 542.

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denken, deren Existenz zumindest der These von der Dreiteilung der Sachsen widerspricht127. Entscheidend bleibt aber dennoch die Frage nach den Westfalen, Engern und Ostfalen. Gerade die beiden letztgenannten Gruppen werden zum ersten Male zum Jahr 775 erwähnt, also zu einem Jahr, das einen entscheidenden Wendepunkt des Sachsenkrieges markiert. Damals überwinterte Karl der Große in Quierzy, wo er den sogenannten Einhardsannalen zufolge eine neue Strategie gegen die Sachsen beschloß, nämlich »den ungläubigen und vertragsbrüchigen Stamm der Sachsen mit Krieg zu überziehen und so lange durchzuhalten, bis sie entweder besiegt und der christlichen Religion unterworfen oder aber gänzlich ausgerottet sind«128. Im Frühjahr 775 hielt er in Düren eine Reichsversammlung ab und überschritt anschließend den Rhein. Er eroberte die Hohensyburg, baute die Eresburg wieder auf und rückte bis Brunisberg vor. Dort lieferten die Sachsen ihm eine Schlacht, um seinen Übergang über die Weser zu verhindern. Doch Karl gewann und rückte bis zur Ocker vor. Hier kamen ihm die Austreleudi Saxones unter der Führung von Hessi entgegen, stellten Geiseln und leisteten Treueide. Im Buckigau, auf dem Rückmarsch, erschienen die Engern unter Bruno und ihren übrigen obtimates und stellten ebenfalls Geiseln wie die Austrasii129. Dann traf Karl die Abteilung seines Heeres, die er zur Sicherung des Weserüberganges zurückgelassen hatte. Diese hatte sich in der Zwischenzeit mit den Sachsen eine Schlacht geliefert, die zwar nach den Reichsannalen für die Franken siegreich verlaufen war, in Wahrheit aber mit einer Niederlage geendet hatte. Karl griff hier nun selbst ein, schlug die Sachsen, machte reichlich Beute bei den Westfalen und zwang sie dazu, ebenfalls Geiseln zu stellen130. Eine Führungspersönlichkeit der Westfalen wird nicht genannt, wahrscheinlich weil ihr Führer Widukind sich damals nicht unterwarf131. Zum Jahr 779 werden die Westfalen, Engern und Ostfalen wiederum erwähnt, wobei unsere beiden Hauptquellen hinsichtlich der Terminologie voneinander abweichen. Karl hielt damals erneut eine Reichsversammlung in Düren ab, 127 Jenkis, »Nordalbingien« (wie Anm. 117). 128 Annales qui dicuntur Einhardi a. 775, ed. Friedrich Kurze, in: Annales regni Francorum inde ab a. 741 usque ad a. 829, qui dicuntur Annales Laurissenses maiores et Einhardi (MGH SS rer. Germ. [6]) Hannover 1895, S. 41; vgl. Hans-Dietrich Kahl, Karl der Große und die Sachsen. Stufen und Motive einer historischen »Eskalation«, in: Politik, Gesellschaft, Geschichtsschreibung. Giessener Festgabe für Frantisek Graus zum 60. Geburtstag, hg. von Herbert Ludat und Christoph Schwinges (Beihefte zum AKG 18) Köln – Wien 1982, S. 49–130, S. 60ff. 129 Annales regni Francorum a. 775 (wie Anm. 128), S. 40 u. 42. 130 Annales regni Francorum a. 775 (wie Anm. 128), S. 42; vgl. Annales qui dicuntur Einhardi a. 775, S. 43. 131 Vgl. Eckhard Freise, Widukind in Attigny. Taufpatronat und Treueidleistung als Ziele der sächsischen Unterwerfungs- und Missionskriege Karls des Großen, in: 1200 Jahre Widukinds Taufe, hg. von Gerhard Kaldewei, Paderborn 1985, S. 12–45, S. 22f.

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überschritt den Rhein bei Lippeham und besiegte die Sachsen, die sich bei Bocholt zum Kampf gestellt hatten und nun ihre Befestigungen verließen. Der Weg war damit frei, wie die Reichsannalen feststellen, und die Franken drangen in Westfalaos ein und nahmen sie alle gefangen. Karl gelangte dann bis zu dem Ort Medofulli (Uffeln oder Medefeld an der Weser unweit Rheme), wo ihm reliqui, qui ultra Wisora fuerunt, Geiseln stellten und Eide leisteten132. Die sogenannten Einhardsannalen geben diesen Ausdruck mit Angrarii et Ostfalai wieder133. Im Jahr 783 zog Karl mit wenigen Franken nach Detmold und siegte über die Sachsen in einer der seltenen offenen Feldschlachten. Dann zog er sich nach Paderborn zurück und drang von dort aus bis zur Haase vor, wo er die Sachsen erneut schlug134. Die sogenannten Einhardsannalen lokalisieren diesen Kampf in finibus Westfalaorum135. Danach überschritt Karl die Weser, erreichte die Elbe und kehrte in die Francia zurück. 784 setzte Karl über den Rhein bei Lippeham, zog in Sachsen umher und verheerte das Land. Weil die Weser Hochwasser führte, entschloß er sich, über Thüringen gegen die Ostfalen vorzustoßen. Seinen gleichnamigen Sohn sandte er gegen die Westfalen, die sich an der Lippe sammeln wollten. Im Dreingau kam es zur Schlacht, der viele Sachsen zum Opfer fielen136. Soweit die Berichte der Reichs- und sogenannten Einhardsannalen zu Westfalen, Engern und Ostfalen. Zunächst fällt auf, daß diese Personenverbände vor allem im Süden Sachsens aktiv waren und Widerstand leisteten. Mit Martin Lintzel ist weiter darauf hinzuweisen, daß den ausführlicheren Jahresberichten zufolge die Franken stets mit den Sachsen kämpften, aber dann mit Westfalen, Engern und Ostfalen separat Frieden schlossen137. Einzige Ausnahme ist hier das Jahr 784, in dem Karl sein Heer teilte, um West- und Ostfalen gleichzeitig bekämpfen zu können. Ansonsten versuchten die Sachsen, gemeinsam Widerstand zu leisten, mußten sich dann aber als Folge ihrer Niederlagen einzeln unterwerfen. Lintzel folgerte daraus, daß sich der Organismus der genannten Gruppen als fester erwies als der des gesamten Volkes. Weiter verwies er auf das Capitulare Saxonicum von 797, in dem diese drei Gruppen genannt werden, und zwar als diejenigen, die am Zustandekommen dieses Kapitulars beteiligt waren138. Auch 132 133 134 135 136

Annales regni Francorum a. 779 (wie Anm. 128), S. 54. Annales qui dicuntur Einhardi a. 779 (wie Anm. 128), S. 55. Annales regni Francorum a. 783 (wie Anm. 128), S. 65. Annales qui dicuntur Einhardi a. 783 (wie Anm. 128), S. 65. Annales regni Francorum a. 784 (wie Anm. 128), S. 66 u. 68; Annales qui dicuntur Einhardi a. 784, S. 67 u. 69. 137 Lintzel, Gau (wie Anm. 54), S. 275f. 138 Capitulare Saxonicum, in: Leges Saxonum et Lex Thuringorum, ed. Claudius von Schwerin (MGH Fontes iuris Germanici antiqui 4) Hannover 1918, S. 45: … simulque congregatis Saxonibus de diveris pagis, tam de Westfalahis et Angariis quam et de Oost-

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in der Lex Saxonum von 802 werden etwa die drei Gruppen voneinander geschieden: Während Ostfalen und Engern der Ehefrau jeden Anteil am ehelichen Zugewinn verweigern und den gesamten Zugewinn zur Erbmasse des Mannes rechnen, erkennen die Westfalen ihr die Hälfte zu139. Zu erwähnen ist noch ein Verzeichnis von 803/04 über Geiseln, die nach ihrer Haft bei alemannischen Bischöfen und Großen in ihre Heimat zurückkehren durften. Sie wurden nach ihrer Herkunft als Westfalen, Engern und Ostfalen bezeichnet140. Die drei genannten Gruppen wurden also von den Franken als die relevanten Unterabteilungen der Sachsen betrachtet141. Handelt es sich dabei jedoch um eine rein fränkische Wahrnehmung, die dann bis hin zur Gesetzgebung ihren Niederschlag in den fränkischen Texten fand, oder setzten sich die Sachsen seit jeher aus diesen drei Bevölkerungsgruppen zusammen? Zunächst sprechen die beiden Rechtsquellen nicht gegen eine Neubildung der drei genannten Gruppen im Verlauf des 8. Jahrhunderts. Im Gegenteil: Bei einem viel höheren Alter wäre es kaum zu erklären, warum Unterschiede allein im Bereich des ehelichen Güterrechts bestanden hätten, wie die Lex Saxonum behauptet. Bezeichnend ist, wie das Kapitel über das eheliche Güterrecht eingeleitet wurde: Dotis ratio dupplex est, Ostfalai et Angarii volunt …142. Das Präsens zeigt deutlich genug, daß es sich wohl um eine neue Bestimmung handelte. Die Westfalen waren hier im übrigen von der Lex Ribuaria beeinflußt, die der Ehefrau immerhin schon ein Drittel am ehelichen Zugewinn zugebilligt hatte143. Der fränkische Einfluß auf die Westfalen war wohl auf Grund der räumlichen Nähe intensiver gewesen als derjenige auf Engern und Ostfalen. Aber alle drei Namen gehörten zum fränkischen Sprachgebrauch, der bereits im Capitulare Saxonicum aufscheint. An einer anderen Stelle des Kapitulars ist außerdem von der

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falahis, omnes unianimiter consenserunt et aptificaverunt …; zu dem Kapitular vgl. Schubert, Capitulatio (wie Anm. 73), S. 17f. Lex Saxonum c. 48 (wie Anm. 138), S. 30: De eo quod vir et mulier simul conquesierint mulier mediam porcionem accipiat; hoc apud Westfalaos; apud Ostfalos et Angarios nihil accipiat, sed contenta sit dote sua. Capitularia regum Francorum I, ed. Alfred Boretius (MGH LL II) Hannover 1883, Nr. 115, S. 233f.; vgl. Freise, Frühmittelalter (wie Anm. 11), S. 286f.; Ders., Widukind (wie Anm. 131), S. 39. Vgl auch die Annales Mettenses priores a. 775, ed. Bernhard von Simson (MGH SS rer. Germ. [10]), Hannover 1905, S. 63f., in der die Hostfali als una pars Saxonum, die Angrarii als altera pars Saxonum und die Westfali als tertia pars Saxonum bezeichnet werden; letzteres wird zu 779 wiederholt, S. 68; es handelt sich hierbei um den fränkischen Sprachgebrauch des beginnenden 9. Jahrhunderts; vgl. Irene Haselbach, Aufstieg und Herrschaft der Karlinger in der Darstellung der sogenannten Annales Mettenses priores (Historische Studien 412) Lübeck – Hamburg 1970. Lex Saxonum c. 47 (wie Anm. 138), S. 29. Lex Ribuaria c. 37, ed. Karl August Eckhardt (Germanenrechte, N. F. Westgermanisches Recht) Hannover 1966, S. 46; vgl. Aubin, Ursprung (wie Anm. 106), S. 17f.; Drögereit, Wigmodien (wie Anm. 55), S. 434.

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Zustimmung der Franken und der fideles Saxones die Rede144. Man könnte also diese fideles Saxones mit Westfalen, Engern und Ostfalen gleichsetzen und sie zudem gegen nicht ausdrücklich genannte infideles Saxones abgrenzen, die den Franken zu dieser Zeit immer noch Widerstand leisteten. Auffälligerweise entspricht der Sprachgebrauch der Rechtsquellen dem der Reichs- und sogenannten Einhardsannalen, die beide offiziöse Darstellungen der Reichsgeschichte bieten. In ihnen ist zwar ebenfalls öfters von Westfalen, Engern und Ostfalen die Rede, freilich nicht in einer Art und Weise, die die Annahme von einer überkommenen Dreigliederung bestätigen könnte. Sonst wären die drei Gruppen wohl nicht nur in den referierten Jahresberichten besonders herausgestellt worden, sondern auch in den anderen Darstellungen der fränkischen Feldzüge. Doch in den beiden Geschichtswerken überwiegt das Wort »Sachsen«145. Die übrigen fränkischen Geschichtsschreiber vermeiden fast durchgängig die Namen Westfalen, Engern und Ostfalen zugunsten von Sachsen. Bei den östlichen Sachsen fällt außerdem eine breitere Begrifflichkeit in unseren wichtigsten Texten auf: Sie heißen dort Austreleudi, Austrasii, Ostfalai und schließlich auch orientales Saxones146. Gerade diese Unsicherheit in der Benennung durch die Franken ließ Aubin daran zweifeln, daß es sich dabei um einen ursprünglichen Stammesnamen gehandelt habe; vielmehr dachte er an eine Analogiebildung zu Westfalen147. Westfalen, Engern und Ostfalen spielten daher zwar eine Rolle, die dabei aber keineswegs überbewertet werden sollte. Erst die fränkische Gesetzgebung schreibt diese Untergliederung wirklich fest und zwar zu einer Zeit, da der Norden Sachsens noch im Widerstand gegen die Franken verharrte. Diese Überlegung wird bestätigt, wenn man nach anderen Großgruppen innerhalb des sächsischen Volkes fragt148. Zum Jahr 780 melden die Reichsannalen, omnes Bardongavenses et multi de Nordleudi seien in Orhaim getauft worden149. Interessant ist, daß die sogenannten Einhardsannalen beide Gruppen unter der Bezeichnung omnes orientalium Saxonum zusammenfassen150. Erst aus späterer 144 Capitulare Saxonicum c. 9 (wie Anm. 138), S. 48: … una cum consensu Francorum et fidelium Saxonum …; vgl. Jenkis, »Nordalbingien« (wie Anm. 117), S. 169; Hannig, Consensus (wie Anm. 93), S. 180. 145 Vgl. Aubin, Ursprung (wie Anm. 106), S. 13. 146 Außer den bereits zitierten Stellen: Annales qui dicuntur Einhardi a. 775 (wie Anm. 128), S. 43: Ostfalai; a. 784, S. 67: orientales Saxones; Annales Mettenses priores a. 775 (wie Anm. 141), S. 63: Hostfali … Austrasii; a. 784, S. 71: Ostfali. 147 Aubin, Ursprung (wie Anm. 106), S. 12f. 148 Vgl. bereits Aubin, Ursprung (wie Anm. 106), S. 24f. 149 Annales regni Francorum a. 780 (wie Anm. 128), S. 56; ähnlich auch die Annales Mettenses priores a. 780 (wie Anm. 141), S. 68: … perrexit ad pagum quod dicitur Bordingavich, subactisque habitatoribus regionis illius, pervenit ad locum qui dicitur Orchaim. In quo loco multi aquilonales Saxones baptizati sunt. 150 Annales qui dicuntur Einhardi a. 780 (wie Anm. 128), S. 57.

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Sicht wurden also Bardengauer und Nordleute zu den Ostfalen gerechnet. Die Nordleute spielen auch 784 eine gewisse Rolle, denn damals plante Karl in aquilonales Saxoniae partes vorzudringen, wozu es aber nicht kam, weil die Weser Hochwasser führte151. Die Nordliudi erscheinen dann ab 798 bis zum Ende des Krieges in den Reichsannalen, während die sogenannten Einhardsannalen diesen Namen in zwei von drei Fällen zu Transalbiani variieren152. Der Bardengau taucht erneut zu 785 auf; damals rückte Karl der Große dort ein und unterbreitete dem flüchtigen Widukind und dessen gener Abbio das Angebot, sich taufen zu lassen und jeden Widerstand aufzugeben153. 795 war der Bardengau aufs neue ein Operationsziel des Königs154. Nordleute und Bardengauer werden von den fränkischen Quellen also durchaus als eigene Einheiten behandelt. Diese beiden Gruppierungen waren vor allem im Norden Sachsens beheimatet, während Westfalen, Engern und Ostfalen eher im Süden zu suchen sind. Auch dieser Befund widerspricht einer althergebrachten Dreiteilung der Sachsen in die genannten Gruppen. Im Zusammenhang mit den Barden ist bezeichnend, daß im Elb-Saale-Gebiet noch nach der fränkischen Eroberung die Erinnerung an ein bardisches Fürstengeschlecht lebendig geblieben war, dem möglicherweise auch Abbio angehörte155. Wenskus verwies auch auf Wigmodien, das neben der eigentlichen Wigmodia noch die Gaue Heilanga und Hostingabi umfaßte. In diesem Sinne berichtet die Vita Willehads, daß er 787 zum Bischof super Wigmodia et Laras et Riustri et Asterga necnon Nordendi ac Wanga geweiht worden sei156. Bei den vier letztge151 Annales qui dicuntur Einhardi a. 784 (wie Anm. 128), S. 67. 152 Annales regni Francorum a. 798 (wie Anm. 128), S. 102 u. 104; a. 799, S. 106; Annales qui dicuntur Einhardi a. 798, S. 103 u. 105; a. 799, S. 107. 153 Annales regni Francorum a. 785 (wie Anm. 128), S. 70; Annales qui dicuntur Einhardi a. 785, S. 71; nicht geklärt ist, ob gener (der Ausdruck ist überliefert im Fragmentum Vindobonense, in: MGH SS XIII, Hannover 1881, S. 31) mit ›Schwiegersohn‹ oder mit ›Schwager‹ zu übersetzen ist, vgl. Karl Schmid, Die Nachfahren Widukinds, in: DA 20, 1964, S. 1–47, S. 18 Anm. 69; ebd., S. 18f., zu Abbios weiterem Schicksal und zu seiner Familie; dazu auch Krüger, Studien (wie Anm. 72), S. 48; zu Widukind nach 785 vgl. Gerd Althoff, Der Sachsenherzog Widukind als Mönch auf der Reichenau, in: FMSt 17, 1983, S. 251–279; Ders., Ein Sachsenherzog in Klosterhaft? Hypothesen über das Schicksal des Widukind, in: Damals 20, 1988, S. 938–954; Freise, Widukind (wie Anm. 131); Manfred Balzer, Widukind. Sachsenherzog – und Mönch auf der Reichenau, in: Stadt Enger – Beiträge zur Stadtgeschichte 3, 1983, S. 9–29; Ders., Widukind. Sachsenherzog – und Mönch auf der Reichenau, in: Westfälischer Heimatbund, Rundschreiben 11–12/1987, S. 1–6. 154 Annales Petaviani a. 795, ed. Georg Heinrich Pertz, in: MGH SS I, Hannover 1826, S. 18; Annales qui dicuntur Einhardi a. 795 (wie Anm. 128), S. 97. 155 Reinhard Wenskus, Das südliche Niedersachsen im frühen Mittelalter, in: FS für Hermann Heimpel zum 70. Geburtstag, Bd. 3 (VMPIG 36/3) Göttingen 1972, S. 348–398, S. 366f. 156 Vita Willehadi c. 8, ed. Albert Poncelet, in: Acta Sanctorum. Nov. 3, Brüssel 1910, S. 845B; Wenskus, Sachsen (wie Anm. 13), S. 542; vgl. Heinrich Böttger, Diözesan- und Gaugrenzen Norddeutschlands, Bd. 2, Halle 1875, S. 127, 143; Lintzel, Gau (wie Anm. 54), S. 268; Patze, Mission, S. 665f.; Bernd Ulrich Hucker, Das Problem von Herrschaft und

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nannten Gebieten handelt es sich um friesische Gaue, während ›Wigmodien‹ hier in seiner weiteren Bedeutung gebraucht wurde157. Zwischen 795 und 797 wird Wigmodien in den Annales Petaviani und den Lorscher Annalen als Operationsziel Karls des Großen in Sachsen genannt158. Und 804 wurden nicht nur alle, die jenseits der Elbe lebten, sondern auch die Bewohner von Wigmodien mit Frauen und Kindern in die Francia deportiert159. Bezeichnenderweise differenziert das Chronicon Moissiacense stärker als die übrigen fränkischen Quellen und spricht von Wimodia, Hostingabi und Rosogabi160. Unter Verweis auf diese und weitere Belege konnte Bernd Ulrich Hucker daher resümieren, »daß die fränkischen Annalen unter ›Wigmodia‹ eine Landschaft größeren Umfangs verstehen, die von Nordsee, der Elbe, dem Bardengau, der Weser und im Nordwesten vom Neusiedlungsgebiet der ›Fresiones‹ in Wursten begrenzt wird«161. Entsprechend ist in einer Urkunde Ludwigs des Frommen aus dem Jahr 819 schlicht von den Wigmodi die Rede162. Und selbst die relativ spät aufgezeichnete origo der Friesen läßt in ihren Passagen über die Ursprünge Wigmodiens erkennen, daß es sich bei den Bewohnern dieser Landschaft um eine eigenständige gentile Einheit gehandelt hat163. Wenskus glaubte schließlich sogar versteckte Hinweise auf das in enger Verbindung zu den Barden stehende Fürstengeschlecht Wigmodiens entschlüsseln zu können164. Eine wesentlich früher bezeugte Unterabteilung der Sachsen sind die Nordschwaben, die zum Jahr 748 bezeichnet werden als Saxones, qui Nordosquavi vocantur165. Sie waren in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts von den Mero-

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Freiheit in den Landgemeinden und Adelsherrschaften des Mittelalters im Niederweserraum, Diss. phil. Münster 1978, S. 4ff.; Adolf E. Hofmeister, Besiedlung und Verfassung der Stader Elbmarschen im Mittelalter, Teil 1: Die Stader Elbmarschen vor der Kolonisation des 12. Jahrhunderts (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung der Universität Göttingen 12) Hildesheim 1979, S. 171f.; zur Quelle Wattenbach – Levison – Löwe (wie Anm. 91), S. 837f. Bezeichnend ist die Fortsetzung des zitierten Satzes der Vita Willehadi (wie Anm. 156): … rursus venit Wigmodiam … et gentibus praedicabat … ecclesias quoque destructas restauravit probatasque personas, qui populis monita salutis darent, singulis quibusque locis praeesse disposuit. Annales Petaviani a. 795–797 (wie Anm. 154), S. 18; Annales Laureshamenses a. 795 u. a. 797, ed. Georg Heinrich Pertz, in: MGH SS I, Hannover 1826, S. 36f. Annales regni Francorum a. 804 (wie Anm. 128), S. 118. Chronicon Moissiacense a. 804, ed. Georg Heinrich Pertz, in: MGH SS I, Hannover 1826, S. 307 (u. in MGH SS II, Hannover 1829, S. 257): … misit imperator scaras suas in Wimodia et in Hostingabi et in Rosogabi; der Chronist meinte also das ›eigentliche‹ Wigmodien; vgl. Hucker, Problem (wie Anm. 156), S. 6f. Hucker, Problem (wie Anm. 156), S. 7. Die Kaiserurkunden der Provinz Westfalen, Bd. 1: Die Urkunden des karolingischen Zeitalters, ed. Roger Wilmans, Münster 1867, Nr. 4, S. 10. Vgl. Hucker, Problem (wie Anm. 156), S. 8ff. Wenskus, Niedersachsen (wie Anm. 155), S. 364f. Annales Mettenses priores a. 748 (wie Anm. 141), S. 41.

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wingern im Schwabengau angesiedelt worden166. Während der Sachsenkriege spielten sie allerdings wohl keine Rolle mehr, jedenfalls werden sie in den fränkischen Quellen nicht mehr erwähnt. Dafür erscheinen sie zum Jahr 852 erneut in der Annalistik: Damals war Ludwig der Deutsche nach Sachsen gezogen, um Recht zu sprechen. Er hielt bei Minden einen allgemeinen Gerichtstag ab. Anschließend zog er per Angros, Harudos, Suabos et Hohsingos weiter nach Thüringen.167 Selbst in der Mitte des 9. Jahrhunderts war mithin dem in Fulda tätigen Verfasser der Ostfränkischen Reichsannalen die starke gentile Zersplitterung der Sachsen noch bewußt. Auch dieser Fall bestätigt daher, daß neben Westfalen, Engern und Ostfalen weitere Großgruppen innerhalb des sächsischen Volkes existierten, die nur in der verkürzten fränkischen Sichtweise hinter den genannten zurücktraten.

III. Abschließend sollen die Überlegungen, die bereits Wenskus über die Sachsen angestellt hat, etwas weitergeführt werden. Die Satrapen Bedas sind als (Klein-) Könige anzusprechen, die einzelnen Gauen bzw. kleineren gentilen Einheiten vorstanden. Militärisch konnten diese kleinen Einheiten nur dann etwas erreichen, wenn sie sich zusammenschlossen. Daher hätten die altsächsischen (Klein-) Könige danach gestrebt, größere Herrschaftsgebiete aufzubauen und benachbarte (Klein-) Könige zu unterwerfen168. Man hätte also auszugehen von Entwicklungen, die wir in Irland und bei den Angelsachsen etwas besser verfolgen können. Ein Anhaltspunkt könnte sein, daß zu 775 im Zusammenhang mit Engern und Ostfalen zwei Personen namentlich erwähnt werden, Bruno und Hessi. Möglicherweise waren sie (Klein-) Könige, denen zumindest in Ansätzen größere Herrschaftsbildungen, vielleicht sogar über Ostfalen und Engern, gelungen waren. Bei den obtimates, die neben Bruno genannt werden, könnte es sich dann um (Klein-) Könige gehandelt haben, die jenen zwar als ihren Oberherrn anerkannt hatten, aber weiterhin an der Spitze ihrer kleinen Herrschaftsgebiete standen. Ähnlich wäre dann auch Widukinds Stellung bei den Westfalen zu interpretieren. Der Königstitel, den ihm spätere Autoren seit Thietmar von Merseburg zubilligen und der von der Forschung abgelehnt 166 Wolfgang Hessler, Mitteldeutsche Gaue des frühen und hohen Mittelalters (Abhandlungen der sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Philol.-hist. Kl. 49/2) Berlin 1957, S. 77f., 85ff.; Last, Niedersachsen (wie Anm. 18), S. 558. 167 Annales Fuldenses sive Annales regni Francorum orientalis a. 852, ed. Friedrich Kurze (MGH SS rer. Germ. [7]) Hannover 1891, S. 43; zur Sache vgl. Wenskus, Sachsen (wie Anm. 13), S. 492f.; zur Quelle Wattenbach – Levison – Löwe (wie Anm. 91), S. 671ff. 168 Allgemein dazu Wenskus, Stammesbildung (wie Anm. 1), S. 320f.

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wurde, wäre mithin unter den skizzierten Vorzeichen eventuell neu zu überdenken169. Daß die fränkischen Quellen den genannten Personen keinen Titel zubilligen, muß nicht zwingend gegen solche Verhältnisse sprechen. Schließlich vermieden es die Franken ganz allgemein, die Herrschaftsträger innerhalb ihres Machtbereiches als reges zu bezeichnen170. Mit Aubin ist nun anzunehmen, daß die Konfrontation zwischen Sachsen und Franken seit dem Beginn des 8. Jahrhunderts, und nicht erst der Abwehrkampf gegen Karl den Großen seit 772, die angenommenen Prozesse beschleunigte171. 694/95 unterwarfen die Sachsen die Brukterer zwischen Lippe und Ruhr und um 715 die Hattuarier zwischen Ruhr und Lenne172. Gegenschläge Karl Martells ließen nicht lange auf sich warten. Von der Geographie her zu urteilen, trugen die am weitesten westlich und südlich siedelnden Sachsen die Hauptlast dieser Kämpfe. Ausgehend von (Klein-) Königreichen der Westfalen und Engern könnten sich damals größere, gleichnamige Herrschaftsgebilde entwickelt bzw. stabilisiert haben173. Einem entsprechenden Druck waren die östlichen Sachsen 169 Thietmar von Merseburg, Chronicon I, 9, ed. Robert Holtzmann (MGH SS rer. Germ., nova series 9) Berlin 1935, S. 14: … Vidicinni regis …; Vita Bennonis c. 13, ed. Harry Bresslau (MGH SS rer. Germ. [56]) Hannover 1902, S. 15: … Widukindus rex Saxonum …; Vita Waltgeri c. 7, ed. Carlies Maria Raddatz (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen 41, Fontes Minores 3) Münster 1994, S. 62: … Widekindi regis Saxonum …; zur Quelle Wattenbach – Levison – Löwe (wie Anm. 91), S. 867f.; Heinrich von Herford, Liber de rebus et temporibus memorabilioribus, ed. August Potthast, Göttingen 1859, S. 34: … rege Angarorum Widekindo …; vgl. Hömberg, Westfalen (wie Anm. 62), S. 97f. Anm. 7; Schmid, Nachfahren (wie Anm. 153), S. 43f., mit Verweisen auf weitere Literatur ; Norbert Eickermann, Über die Grabschrift Widukinds, in: Die Ausgrabungen in der Stiftskirche zu Enger, Teil I (Denkmalpflege und Forschung in Westfalen 1) Bonn 1979, S. 48–68, S. 58; Gerd Althoff, Formen und Funktionen von Mythen im Mittelalter, in: Mythos und Nation, hg. von Helmut Berding (Studien zur kollektiven Entwicklung des Bewußtseins in der Neuzeit 3) Frankfurt/Main 1996, S. 11–33, S. 19. 170 Vgl. Schlesinger, Heerkönigtum (wie Anm. 41), S. 74f.; allgemein Herwig Wolfram, Intitulatio I. Lateinische Königs- und Fürstentitel bis zum Ende des 8. Jahrhunderts (MIÖG, Ergänzungsband 21) Graz – Wien – Köln 1967; Ders., The Shaping of the Early Medieval Principality, in: Viator 2, 1971, S. 33–51. 171 Aubin, Ursprung (wie Anm. 106), bes. S. 23. 172 Beda V, 11 (wie Anm. 23), S. 486; Annales Petaviani a. 715 (wie Anm. 154), S. 7; vgl. Eugen Ewig, Die Civitas Ubiorum, die Francia Rinensis und das Land Ribuarien, in: RhVjbll 19, 1954, zit. nach dem ND in: Siedlung, Sprache und Bevölkerungsstruktur im Frankenreich, hg. von Franz Petri (WdF 49) Darmstadt 1973, S. 403–446, S. 426f. 173 Vgl. Kuhn, Name (wie Anm. 87), S. 5ff., 10f., der den Namen ›Westfalen‹ für eine ältere gentile Gruppe erschließt, »die im Nordteil Altwestfalens schon länger heimisch war«; von daher könnte sich die Frage nach den Gauen Westfalen, Engern und Ostfalen neu stellen, nachdem Bauermann, ›herescephe‹ (wie Anm. 105), S. 41ff., die Existenz der Gaue Westfalen und Engern im engeren Sinne bestritten hat; kritisch zu Kuhn allerdings Neumann, Art. ›Falen‹ (wie Anm. 107), S. 173; grundsätzlich ist die Beweisführung hier sehr schwierig, da Belege für die pagi Westfalen und Engern, die nach Bauermann ausschließlich für die gleichnamigen Großlandschaften stehen, erst seit ottonischer Zeit vor-

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spätestens seit den vierziger Jahren des 8. Jahrhunderts ausgesetzt. 743 erschienen dort Karlmann und Pippin, nahmen kampflos die Hohenseeburg bei Eisleben in Besitz und brachten Theodericus Saxo zur Unterwerfung. Ein Jahr später marschierten die beiden Brüder erneut in Sachsen ein, und Theoderich mußte sich abermals ergeben174. Obwohl er wie später Hessi, Bruno und Widukind ohne jeden Titel in den fränkischen Quellen erscheint, wird man doch auch für Theoderich zumindest eine königsähnliche Stellung annehmen können. Als Karl der Große das Sachsenland mit Krieg überzog, glaubte er wohl, mit dem gesamten Volk konfrontiert zu sein. Tatsächlich haben sich zunächst nur die im Süden des Landes lebenden Sachsen gegen ihn gewehrt und zwar vereint in den drei Großgruppen Westfalen, Engern und Ostfalen. Diese Eintracht aber war wohl eher das Resultat eines Bündnisses zwischen den größeren politischen Einheiten im südlichen Sachsen als das Ergebnis einer einheitlichen gesamtsächsischen Verfassung. Nach den großen fränkischen Erfolgen von 775 unterwarfen sich die Regionalkönige an der Spitze ihrer Personenverbände, der Engern und Ostfalen. Auch die Westfalen streckten die Waffen, während ihr König Widukind sich durch Flucht entzog. Drei Jahre später gilt er in den fränkischen Annalen als wichtigster Drahtzieher einer Rebellion (so die fränkische Sicht), die Karl den Großen veranlaßte, seinen Spanienfeldzug abzubrechen. Widukinds Aktion machte derart Eindruck, daß die kleine Lorscher Frankenchronik ihm unterstellt, er habe damals nach der tyrannis gestrebt175. Das deutet Manfred Balzer mit Recht als Versuch, ein Königtum aufzurichten, und zwar womöglich sogar ein gesamtsächsisches176. Schließlich profilierte sich Widukind als der erfolgreiche militärische Führer seines Volkes schlechthin. Der Schritt zum Königtum nach fränkischen Maßstäben war von dort nicht mehr weit. Denn neben den Westfalen griffen die Franken bis 785 auch Engern und Ostfalen immer wieder an, bis Widukind sich unterwarf und so den Widerstand dieser drei Gruppen beendete. Nach 792 kämpften vor allem Nordliudi, aber auch Bardengauer und Wigmodier noch weiter gegen die Franken177 und legten erst

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liegen; Rückschlüsse auf die karolingische, vor allem aber auf die sächsische Zeit sind daher nur mit der gebotenen Vorsicht möglich; so mit Recht Hofmeister, Jahresversammlung (wie Anm. 8), S. 201; Schulze, Grafschaftsverfassung (wie Anm. 72), S. 294. Annales regni Francorum a. 743 u. a. 744 (wie Anm. 128), S. 4. Chronicon Laurissense breve, ed. H. Schnorr von Carolsfeld, in: NA 36, 1911, S. 31: Widuchindus Saxo tyrannidi nititur. Balzer, Widukind (wie Anm. 153), S. 3; vgl. auch Chronicon Laurissense breve (wie Anm. 175), S. 32 (zu 785): Widuchindus Saxo post multam tyrannidem peractam in semet revertitur, venit ad regem, fidelis effectus baptizatur. Ausnahme ist der Aufmarsch der Sachsen auf dem Sintfeld südlich von Paderborn, Annales regni Francorum a. 794 (wie Anm. 128), S. 94 u. 96; vgl. Freise, Frühmittelalter (wie Anm. 11), S. 302.

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804 die Waffen endgültig nieder. Westfalen, Engern und Ostfalen aber wurden von den Franken schon 797 und 802/03 bei der Gesetzgebung für das unterworfene Sachsen beteiligt bzw. berücksichtigt, weil ihre Führungsschicht bereits Frieden mit den Eindringlingen geschlossen und sich mit den neuen Verhältnissen arrangiert hatte178. Diese karolingische Einteilung bestand wohl noch bis ins 12. Jahrhundert fort, doch sind die Belege dafür nicht gerade reichlich gesät179. Das fränkische Vorgehen macht aber auch die deutliche Nord-Süd-Ausrichtung der drei genannten Großgruppen bzw. Landschaften begreiflich. Diese galt bislang als Resultat der sächsischen Expansion von der Nordseeküste aus nach Süden180. Westfalen, Engern und Ostfalen hatten aber nach den fränkischen Quellen ihren Schwerpunkt im Süden Sachsens. Sie wurden daher als erste von den Franken wahrgenommen, dann auch als einzige Großgruppen innerhalb des sächsischen Volkes akzeptiert und schließlich mittels der Gesetzgebung gleichsam fixiert. Von daher lag es aber auch nahe, ihre jeweilige territoriale Ausdehnung der fränkischen Eroberung folgend von Süden nach Norden fortzuschreiben. Für diese Überlegung spricht zudem, daß die Belege für Westfalen, Engern und Ostfalen in erster Linie im Süden des Landes zu finden sind und nach Norden hin abnehmen181. Das aber wäre kaum zu erklären, falls die genannten Gruppen ihre ursprünglichen Schwerpunkte im Norden gehabt und ihre Gebiete im Süden erst später erobert hätten. Dieser Ansatz versagt im übrigen auch vollkommen bei den Engern, die ja, wenn sie tatsächlich auf die antiken Angrivarier zurückgehen, niemals an der Küste gesiedelt hatten. So ist eine allmähliche Ausbreitung der genannten Landschaftsbezeichnungen und Rechtszugehörigkeiten von Süden nach Norden im Zuge der Frankisierung der eroberten Gebiete anzunehmen. 178 Vgl. Lintzel, Zahl (wie Anm. 103), S. 300, der freilich von der Dreiteilung des sächsischen Volkes ausgeht, sowie Stöbe, Unterwerfung (wie Anm. 54), S. 323, der diese auf eine merowingische Provinzeinteilung zurückführt. 179 Belege bei Bauermann, ›herescephe‹ (wie Anm. 105), S. 64ff.; Hessler, Gaue (wie Anm. 166), S. 114ff.; vgl. Hömberg, Westfalen (wie Anm. 62), S. 54; Prinz, Zerfall (wie Anm. 72), S. 81, 84f.; Ernst Schubert, Geschichte Niedersachsens vom 9. bis zum ausgehenden 15. Jahrhundert, in: Geschichte Niedersachsens, begründet von Hans Patze, Bd. 2/1: Politik, Verfassung, Wirtschaft vom 9. bis zum ausgehenden 15. Jahrhundert, hg. von Ernst Schubert (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 36) Hannover 1997, S. 24f.; zum Zurücktreten des Begriffs ›Engern‹ zugunsten von ›Westfalen‹ und ›Sachsen‹ im 11./12. Jahrhundert vgl. die gegensätzlichen Ansichten von Paul Leidinger, Westfalen im Investiturstreit, in: WZ 119, 1969, S. 267–314, und Gabriele Meier, Die Bischöfe von Paderborn und ihr Bistum im Hochmittelalter (Paderborner Theologische Studien 17) Paderborn – München – Wien – Zürich 1987, S. 23ff. 180 Vgl. Hömberg, Westfalen (wie Anm. 62), S. 10; Hauck, Goldbrakteaten (wie Anm. 109), S. 92f. 181 Bauermann, ›herescephe‹ (wie Anm. 105), S. 41ff.; Prinz, Zerfall (wie Anm. 72), S. 87f.

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Die Sachsen zerfielen also in eine Vielzahl gentiler bzw. politischer Einheiten. Einem Franken genügten vielleicht die Worte Saxo und Saxones, um die Bewohner einer benachbarten und schließlich unterworfenen Region zu benennen. Mit Patrick Geary wird man jedoch vor einer allzu leichtfertigen Verallgemeinerung der aus den Quellen übernommenen Zuordnungen warnen müssen. Er betrachtet »Ethnic Identity as a Situational Construct in the Early Middle Ages«182. Zieht man in Betracht, daß die Sachsen aus den verschiedensten Völkerschaften und Volkssplittern zusammengewachsen waren und daß es daneben jüngere Herrschaftsbildungen gab, die wie Westfalen, Engern und Ostfalen, aber auch wie Nordliudi oder wie Wigmodier gentil aufgefaßt wurden, so hat sich sicherlich jeder Sachse in dem angesprochenen Gebiet zwischen dem 6. und 8. Jahrhundert nicht nur als Sachse, sondern eben etwa auch als Barde, Harude oder Westfale gefühlt. Auch in der Gegenwart sind solche konkurrierenden Identifikationsmuster ja noch durchaus lebendig. Für die innere Ordnung der Sachsen hingegen ist die Frage entscheidend, welche Loyalität stärker ausgebildet war. Die fränkischen und angelsächsischen Quellen gehen eindeutig von einer geschlossenen sächsischen gens aus, ohne die zahlreichen Personenverbände verschweigen zu können, die die spätere fränkische Provinz Saxonia zuvor bevölkert hatten.

182 Patrick J. Geary, Ethnic Identity as a Situational Construct in the Early Middle Ages, in: Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien 113, 1983, S. 15–26.

Drogo und die Königserhebung Pippins

1.

Einleitung

Der Dynastiewechsel von 751 ist in jüngster Zeit durch M. Enright neu beleuchtet worden. Er kam zu dem Ergebnis, daß Pippins Handlungsweise 751 durchaus nicht so revolutionär intendiert war, wie dies ex post erscheinen mag: Pippin strebte offenbar weniger nach einem christlichen als vielmehr nach einem traditionellen Königtum. Enright untersuchte besonders die Gründe, die Pippin veranlaßt haben könnten, die Salbung in den Mittelpunkt der legitimierenden Zeremonie zu stellen. Das Öl als Fruchtbarkeitssymbol sollte ihn mit derselben Aura umgeben, die auch den Merowingern zuerkannt worden war. Daneben sollte es ihn von den Treuebrüchen reinwaschen, die er während seines Aufstiegs zum Königtum begangen hatte1. Deren Opfer waren, neben dem Merowingerkönig, besonders Mitglieder von Pippins eigener Familie. Zusammen mit seinem Bruder Karlmann schaltete er 742 zunächst seinen Halbbruder Grifo aus2. Karlmann dankte 747 ab, und Pippin erhob nunmehr den Anspruch auf alleinige Herrschaft im Frankenreich. Dennoch hatte er weiterhin zwei Konkurrenten, Grifo, den er selbst inzwischen freigelassen hatte, und Drogo, den Sohn Karlmanns. Über die Rolle Drogos3 herrscht in der Literatur keine Einmütigkeit. Erstdruck in: Frühmittelalterliche Studien 23 (1989), S. 131–152. 1 Michael J. Enright, Iona, Tara and Soissons. The Origin of the Royal Anointing Ritual (Arbeiten zur Frühmittelalterforschung 17) Berlin – New York 1985, S. 146ff., 119 und 115. 2 Leo Mikoletzky, Karl Martell und Grifo, in: Festschrift Edmund E. Stengel, Münster 1952, S. 130–156; vgl. Heinz Joachim Schüssler, Die fränkische Reichsteilung von Vieux-Poitiers (742) und die Reform der Kirche in den Teilreichen Karlmanns und Pippins. Zu den Grenzen der Wirksamkeit des Bonifatius, in: Francia 13, 1985, S. 47–112, S. 50–58 und Enright (wie Anm. 1) S. 113f. 3 Sammlung der Quellen über Drogo und seine Brüder : BM2 Nr. 52a, 53e = Johann Friedrich Böhmer, Regesta imperii, 1: Die Regesten des Kaiserreichs unter den Karolingern 75–1918, neubearb. von Engelbert Mühlbacher, vollendet von Johann Lechner, Mit einem Geleitwort von Leo Santifaller. Mit einem Vorwort, Konkordanztabellen und Ergänzungen von Carlrichard Brühl und Hans H. Kaminsky, Hildesheim 1966; vgl. Eduard Hlawitschka,

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Viele sprechen ihm jegliche Bedeutung im Zusammenhang mit Pippins Aufstieg zum Königtum ab4, während andere diese gerade betonen5. Um das Problem entscheiden zu können, ist es nötig, die zeitgenössischen Quellen möglichst genau zu untersuchen und Antworten auf die wichtigsten Fragen zur Laufbahn Drogos zu suchen. Zur Diskussion steht, wie alt er war, als sein Vater abdankte, und ob dieser zu seinen Gunsten resignierte; wenn ja, wie lange konnte sich Drogo gegen Pippin behaupten?

2.

Die Aussage der Quellen

Die unterschiedlichen Ansichten über Drogo in neuerer Zeit gehen auf die Behandlung Drogos durch die Autoren karolingischer Zeit zurück: Nachrichten über ihn sind nur bruchstückhaft in mehreren Quellen erhalten, während die späteren erzählenden Quellen ihn fast gar nicht erwähnen. Die Information, der man bisher das meiste Gewicht zumaß, wurde hauptsächlich aus der zweiten Continuatio Fredegarii gezogen, die als einzige erhaltene zeitgenössische Chronik über die Abdankung Karlmanns berichtet6. Es wird zu prüfen sein, inwieweit ihrer Aussage dazu im Vergleich mit den anderen Quellen vertraut werden kann.

Die Vorfahren Karls des Großen, in: Karl der Große, 1: Persönlichkeit und Geschichte, hg. von Helmut Beumann, Düsseldorf 1965, S. 51–82, S. 81 Anm. 54. 4 Heinrich Hahn, Jahrbücher des fränkischen Reiches 741–752, Leipzig 1863, S. 88f. und 210f.; Georg Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte, 3: Die Verfassung des fränkischen Reiches, Kiel 1860, S. 48 mit Anm. 4; Engelbert Mühlbacher, Deutsche Geschichte unter den Karolingern, Stuttgart 1896, S. 52 und 64f.; Theodor Schieffer, Winfrid-Bonifatius und die christliche Grundlegung Europas, Freiburg 1954, S. 250f.; Walter Schlesinger, Karlingische Königswahlen, in: Ders., Beiträge zur deutschen Verfassungsgeschichte des Mittelalters, 1: Germanen, Franken, Deutsche, Göttingen 1963, S. 88–138, S. 91 Anm. 18; Georgine Tangl, Die Sendung des Hausmeiers Karlmann in das Frankenreich im Jahre 754 und der Konflikt der Brüder, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 40, 1960, S. 1–42, S. 11; Dieter Riesenberger, Zur Geschichte des Hausmeiers Karlmann, in: Westfälische Zeitschrift 120, 1970, S. 271–286, S. 283; Thomas F. X. Noble, The Republic of St. Peter. The Birth of the Papal State, Philadelphia 1984, S. 67. 5 Carl Rodenberg, Pippin, Karlmann und Papst Stephan II. (Historische Studien 152) Berlin 1923, S. 16–19; Jörg Jarnut, Quierzy und Rom. Bemerkungen zu den ›promissiones donationis‹ Pippins und Karls, in: Historsche Zeitschrift 220, 1975, S. 265–297, S. 268; Werner Affeldt, Untersuchungen zur Königserhebung Pippins. Das Papsttum und die Begründung des karolingischen Königtums im Jahre 751, in: Frühmittelalterliche Studien 14, 1980, S. 95–187, S. 120; Enright (wie Anm. 1) S. 112. 6 Ihr Verfasser Childebrand ist 751/2 gestorben: Chronicarum quae dicuntur Continuationes Fredegarii scholastici c. 34, hg. von Bruno Krusch (MGH SS rer. Merov. 2, 1888) S. 182.

Drogo und die Königserhebung Pippins

2.1

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Continuatio Fredegarii

Die Continuatio Fredegarii ist die »Familienchronik des karolingischen Hauses«7, da sie unter der Leitung von Karl Martells Halbbruder Childebrand aufgezeichnet wurde. Doch muß berücksichtigt werden, daß Childebrands Darstellung einseitig auf Pippin ausgerichtet ist. Er stand diesem näher als seinen anderen Neffen und wurde als »Mentor« Pippins bezeichnet8. Möglicherweise hat Childebrand durch seine Schilderung der Taten Karl Martells und Pippins, die gelegentlich Reminiszenzen an das Buch Josua aufweist, den Aufstieg Pippins zum Königtum propagandistisch begleitet9 und Pippins Karriere in dessen Sinn dargestellt. Dafür spricht unter anderem auch die breit gestreute Handschriftenüberlieferung seit dem 9. Jahrhundert10. Der spezielle Eindruck verstärkt sich, wenn man berücksichtigt, daß Berichte über Ereignisse und Personen, die nicht zum geradlinigen Aufstieg Pippins zum Königtum paßten, systematisch gekürzt oder ganz weggelassen wurden11. Das gilt besonders für Grifo, der in der dritten Continuatio Fredegarii lediglich erwähnt wurde, um über seinen Tod im Jahr 753 zu berichten. Dieser Mitteilung fehlt der Zusammenhang mit den Ereignissen zuvor, die nur schwach angedeutet werden12. In dem unter Childebrand abgefaßten Teil der Chronik wird er dagegen mit keinem Wort erwähnt, obwohl Childebrand als Angehöriger des arnulfingischen Hauses sicherlich um 7 Mühlbacher (wie Anm. 4) S. 2 und Wattenbach – Levison, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Vorzeit und Karolinger, 2: Die Karolinger vom Anfang des 8. Jahrhunderts bis zum Tode Karls des Großen, bearbeitet von Wilhelm Levison und Heinz Löwe, Weimar 1953, S. 162. 8 Eugen Ewig, Zum christlichen Königsgedanken im Frühmittelalter, in: Das Königtum. Seine geistigen und rechtlichen Grundlagen (Vorträge und Forschungen 3) Konstanz 1956, S. 7–73, S. 45 Anm. 169; vgl. Andreas Kusternig, Quellen zur Geschichte des 7. und 8. Jahrhunderts (Ausgewählte Quellen zur Deutschen Geschichte des Mittelalters 4a) Darmstadt 1982, S. 8. 9 Ewig (wie Anm. 8) S. 42ff. Enright (wie Anm. 1) S. 119f. bestreitet, daß die Anklänge an das Alte Testament Wirkung gehabt hätten, da es bei den Franken vor Mitte des 8. Jahrhunderts nicht populär war, vgl. dazu Raymond Kottje, Studien zum Einfluß des Alten Testaments auf Recht und Liturgie des frühen Mittelalters (Bonner Historische Forschungen 23) Bonn 21970, S. 36. 10 Vgl. Affeldt (wie Anm. 5) S. 101f., der allerdings in seinen Schlußfolgerungen nicht so weit gehen will. Zu den Handschriften: Krusch (wie Anm. 6) S. 11ff. und The Fourth Book of the Chronicle of Fredegar with its continuations, translated from the Latin with Introduction and Notes by John Michael Wallace-Hadrill, London 1960, S. XLVIff. 11 Gegen Jörg Jarnut, Wer hat Pippin 751 zum König gesalbt?, in: Frühmittelalterliche Studien 16, 1982, S. 45–57, S. 51f. ist daran festzuhalten, daß die Continuatio Fredegarii hauptsächlich den Standpunkt Pippins wiedergibt und nicht primär den des reformfeindlichen Adels. 12 Cont. Fred. c. 35 (wie Anm. 6) S. 183: …, quod germanus ipsius rege [Pippino] nomine Gripho, quod dudum in Vasconia ad Waiofario principe confugium fecerat, ad Theudoeno comite Viennense seu ei Frederico Ultraiurano comite, dum partibus Langobardie peteret et insidias contra ipso praedicto rege pararet, Maurienna urbem super fluvium Arboris interfectus est.

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Grifos Aufstände und Gefangenschaft wußte. Man darf daher aus dieser zeitgenössischen Quelle keine vollständigen Informationen über die politischen Gegner Pippins erwarten. Die Berichterstattung der Continuatio Fredegarii über Drogo ist ähnlich unbefriedigend wie die über Grifo: His itaque gestis, sequente curriculo annorum, Carlomannus devotionis causa inextinctu succensus, regnum una cum filio Drohone manibus germano suo Pippino committens, ad limina beatorum apostolorum Petri et Pauli Romam ob monachyrio ordine perseveratus advenit. Qua successione Pippinus roboratur in regno.13

Der erste Eindruck nach Lektüre des Berichts über die Abdankung Karlmanns ist, daß Pippin durch die Verfügungen seines Bruders der eigentlich Begünstigte von dessen Abdankung gewesen sei: Karlmann bestellt Pippin zum Vormund Drogos, und da jener somit beide Reichsteile verwaltete, wurde er in seiner Herrschaft gestärkt. In der Continuatio Fredegarii vermißt man jedoch einen weiteren Bericht über Drogo. Falls Pippin tatsächlich seit 747 für ihn die Regentschaft geführt hätte, wäre eine nochmalige Erwähnung seiner Person in der Chronik durchaus angebracht gewesen, und sei es nur, um seinen vorzeitigen Tod oder seinen Verzicht auf die Herrschaft zu erwähnen. Ohne Zweifel war Childebrand über das Schicksal seines Großneffen informiert; daher läßt sein Schweigen Rückschlüsse über die Absichten zu, die er damit verfolgte: Drogo sollte vollkommen hinter Pippin zurücktreten. Childebrand berichtet über die Abdankung Karlmanns lediglich unter dem Gesichtspunkt der Machterweiterung Pippins: Qua successione Pippinus rohoratur in regno. Die Überantwortung von Reich und Sohn durch Karlmann wird diesem Aspekt untergeordnet14. Childebrand behauptet jedoch nicht, daß Pippin der direkt Begünstigte der Handlungsweise seines Bruders gewesen sei. Pippins successio ist nach dieser Darstellung vielmehr eine Folge der Übergabe von Reich und Sohn durch Karlmann, die an sich nicht einmal unbedingt die Regentschaft Pippins für Drogo nahelegen muß, sondern genausogut lediglich seine Fürsorge für den Neffen beinhalten könnte15. Durch den Schlußsatz qua successione Pippinus roboratur in regno sollte anscheinend lediglich der Eindruck erweckt werden, als ob Pippin der direkt Begünstigte von Karlmanns Abdankung gewesen sei. Wie berichten spätere Quellen über Karlmanns Abdankung? Nach dem Chronicon Moissiacense kommendierte Karlmann seine Söhne Pippin. Damit

13 Cont. Fred, c. 30 (wie Anm. 6) S. 181. Vgl. dazu Affeldt (wie Anm. 5) S. 114–121 mit ausführlichen Literaturangaben. 14 Vgl. Schieffer (wie Anm. 4) S. 250. 15 Vgl. dagegen Konrad Bund, Thronsturz und Herrscherabsetzung im Frühmittelalter (Bonner Historische Forschungen 44) Bonn 1979, S. 366f.

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geht es über die Wortwahl der Continuatio Fredegarii hinaus16. Anders deutet Erchanbert um 826 den Sachverhalt. Für die Zeit ihrer Minderjährigkeit habe Karlmann seine Söhne Pippin kommendiert17. Hier wird dem Herrschaftsrecht der Söhne Karlmanns größere Bedeutung eingeräumt als in der Continuatio Fredegarii. Erchanbert spricht deutlich von einer zeitlich begrenzten Regentschaft, da er selbst den vorübergehenden Charakter dieser commendatio betont. Er hat offenbar die vorsichtige Darstellung der Continuatio Fredegarii aus seiner späteren Sicht verdeutlichend interpretiert: Er gebrauchte nicht das etwas schwammige manibus committere sondern das klarere commendare. Deshalb wird bei ihm aus der allgemein gehaltenen Übergabe von Reich und Sohn eine zeitlich begrenzte Regentschaft Pippins. Es stellt sich die Frage, warum der zweifellos besser informierte Childebrand nicht auch klarere Begriffe gebraucht hat. Der Gedanke drängt sich auf, daß es sich möglicherweise nicht um eine Regentschaft im juristischen Sinne anläßlich von Karlmanns Abdankung gehandelt hat, sondern vielleicht lediglich um eine allgemein gehaltene Fürsorgeverpflichtung Pippins als Onkel für den Neffen und Jüngeren. H. Hahn wies bereits darauf hin, daß aus dem Bericht der Continuatio Fredegarii, des Chronicon Moissiacense und Erchanberts nicht auf eine Vormundschaft Pippins für seinen Neffen geschlossen werden sollte18. Man kann dieses Problem nicht allein aus der Continuatio Fredegarii entscheiden, doch wird in jedem Fall deutlich, daß in diesem Teil der Chronik die Machterweiterung Pippins als Folge von Karlmanns Abdankung im Vordergrund stand. Aus anderen, gleich zu behandelnden Quellen erfahren wir tatsächlich Einzelheiten über Drogo, die über die Informationen der Continuatio Fredegarii hinausgehen. Daher verstärkt sich der Eindruck, daß Childebrand sich absichtlich über seinen Großneffen ausschwieg, nachdem er in dem Abschnitt über Karlmanns Abdankung erklärt hatte, warum Drogo nicht zur Herrschaft gelangt sei. Es scheint sich herauszukristallisieren, daß Childebrand Drogo überging, da weitere Berichte über ihn Pippin nicht angenehm waren. Angesichts der berechtigten Zweifel an der Objektivität der Continuatio Fredegarii ist es sehr schwer, ohne andere Quelleninformationen den tatsächlichen Hergang der Ab16 Chronicon Moissiacense, hg. von Georg Heinrich Pertz (MGH SS l, 1826) S. 292: Huius temporibus Karlomannus rex Francorum … sponte regnum reliquit, filiosque suos Pippino fratri commendavit… Zu den Quellen der Chronik Wattenbach – Levison (wie Anm. 7) S. 265f. und Anna Dorothee von den Brincken, Studien zur lateinischen Weltchronistik bis in das Zeitalter Ottos von Freising, Düsseldorf 1957, S. 116. 17 Breviarium regum Francorum, hg. von Georg Heinrich Pertz (MGH SS 2, 1829) S. 328: … regnum filiosque suos fratri commendans, quatinus illos, quando aetas advenisset, in regnum sublimaret. Vgl. u. a. zu Erchanberts Autorschaft Wattenbach – Levison (wie Anm. 7) 3: Die Karolinger vom Tode Karls des Großen bis zum Vertrag von Verdun, bearb. von Heinz Löwe, Weimar 1957, S. 349. 18 Hahn (wie Anm. 4) S. 210.

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dankung Karlmanns zu beurteilen. Es bleiben zu viele Fragen offen, die Childebrand hätte alle beantworten können, die er jedoch in seinem vagen Bericht überging: Setzte Karlmann Pippin offiziell als Vormund ein, brauchte Drogo überhaupt einen Vormund, verzichtete dieser später auf seine Herrschaftsrechte, oder wie sonst und in welchem zeitlichen Abstand kam Pippins successio zustande? Es ist interessant, daß die offiziösen Quellen aus der Zeit Karls des Großen, die beispielsweise Grifo in ihre Erzählung aufgenommen haben, das Thema Drogo überhaupt nicht anschneiden. Nicht einmal der knappe Bericht der Fortsetzung Fredegars findet sich in den sogenannten Reichsannalen19, bei Einhard20 oder den älteren Metzer Annalen, die Pippin sofort nach ihrem Bericht über Karlmanns Abdankung als omnium Francorum generaliter princeps21 bezeichnen. Das Thema Drogo scheint also zur Zeit Karls des Großen keine Popularität bei den ›Hofautoren‹ besessen zu haben, und daraus ergibt sich eine letzte, entscheidende Frage: Wie ist diese Zurückhaltung zu verstehen?

2.2

Die Urkunde Karlmanns von 747

Ein gewichtiges zeitgenössisches Zeugnis, für Drogos Stellung ist eine Urkunde, in der Drogo seine Zustimmung zu einer Schenkung gab, welche Karlmann kurz vor seinem Aufbruch nach Italien an das Kloster Stablo-Malm8dy machte22. Soweit es zu überblicken ist, geben in den Urkunden, die die Arnulfinger im 8. Jahrhundert als Hausmeier und Könige ausstellten, die Familienangehörigen des Herrschers gewöhnlich nicht ausdrücklich ihre Zustimmung, sondern sie erscheinen, wenn überhaupt, an führender Position der Zeugenliste. Da Drogo der Schenkung seines Vaters explizit seine Zustimmung gab, wird seine Stellung als Erbe besonders betont. Dieser Konsens kann sogar bedeuten, »daß Karlmann seinen Sohn tatsächlich in seine Herrschaft einführte«23. 19 Annales regni Francorum a. 746, hg. von Friedrich Kurze (MGH SS rer. Germ., 1895) S. 6: Tunc Carlomannus Romam perrexit ibique se totondit et in Serapte monte monasterium aedificavit in honore sancti Silvestri. Vgl. Wattenbach – Levison (wie Anm. 7) S. 247. 20 Einhards Vita Karoli Magni c. 2, hg. von Oswald Holder-Egger (MGH SS rer. Germ., 1911) S. 4f. 21 Annales Mettenses priores a. 747, hg. von Bernhard Simson (MGH SS rer. Germ., 1905) S. 39. Vgl. Irene Haselbach, Aufstieg und Herrschaft der Karlinger in der Darstellung der sogenannten Annales Mettenses priores (Historische Studien 412) Lübeck – Hamburg 1970, S. 106. 22 Recueil des Chartes de l’abbaye de Stavelot Malm8dy l, Nr. 17, hg. von Joseph Halkin – C. G. Roland, Bruxelles 1909, S. 50: Signum illuster vir Drogone filio eius consentiente. Datierung der Urkunde auf 747 durch Ingrid Heidrich, Titulatur und Urkunden der karolingischen Hausmeier, in: Archiv für Diplomatik 11/12, 1965/66, S. 71–279, S. 151 Anm. 374; vgl. bereits Hahn (wie Anm. 4) S. 88 u. 210. 23 Heidrich (wie Anm. 22) S. 151. Diese Feststellung behält ihre Gültigkeit unabhängig von der

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Eine weitere Beobachtung weist in dieselbe Richtung. Drogo wird bei seinem Konsens illuster vir bezeichnet. Lediglich in einer einzigen weiteren Urkunde der Arnulfinger des 8. Jahrhunderts wurde ein Familienangehöriger mit dieser Titulatur belegt, die offenbar Teil des Herrschertitels war24. Warum wurde in der Schenkungsurkunde für Stablo-Malm8dy dieser Titel nicht allein dem amtierenden Hausmeier Karlmann vorbehalten? Eine Antwort ergibt sich aus dem Vergleich mit einer Urkunde Pippins für die Abtei Saint Calais von 76025. Der König ernannte damals seinen Sohn Karl zu seinem Vertreter in der Ausübung des Königsschutzes für das Kloster. Karl trägt in der Urkunde gleichfalls den Titel illuster vir. Seit seiner Salbung durch Papst Stephan II. zum König (754) war Karl, zumindest formal, Teilhaber an Pippins Herrschaft. Da Drogo 747 ebenso als illuster vir bezeichnet wird wie sein Vetter 13 Jahre später, scheint es durchaus möglich, daß sich auch ihre Positionen im Reich ihrer Väter entsprachen. Die Bezeichnung als illuster vir in der Urkunde für Stablo-Malm8dy läßt vermuten, daß er für dieselbe Stellung vorgesehen war wie sein Vater, daß er nach dessen Abdankung Hausmeier, dux und princeps werden sollte. Folgt man dieser Deutung der Urkunde Karlmanns, stellt sich als nächste Frage, ob Drogo die Herrschaft zumindest formal selbständig ausüben konnte, ob er also 15 Jahre alt und damit nach ribuarischem Recht, nach dem die Arnulfinger lebten26, volljährig war. Daß er in der Urkunde seinen Konsens gab und als illuster vir bezeichnet wurde, kann als Indiz gelten. Ein weiterer Anhaltspunkt ist das Alter seines Vaters Karlmann, das allerdings ebenfalls erschlossen werden muß. Karlmann fungierte in einer Urkunde Karl Martells vom 1. Januar 723 als Zeuge. Da das Zeichen seines jüngeren Bruders Pippin, der damals ca. 8 Jahre alt und daher nach ribuarischem Recht ganz sicher noch nicht volljährig war, unter der Urkunde fehlt, scheint Karlmann bereits mündig gewesen zu sein. Dies läßt

Frage, ob Drogo damals volljährig war oder nicht; vgl. Hahn (wie Anm. 4) S. 210f. Ähnlich gelagert ist der Konsens Karls des Großen und Karlmanns zu einer Schenkung ihres Vaters Pippin von 762 an Kloster Prüm: Pippini, Carlomanni, Caroli Magni DD Nr. 16, hg. von Engelbert Mühlbacher (MGH DD Karolinorum 1, 1906) S. 24. 24 Herwig Wolfram Intitulatio I. Lateinische Königs- und Fürstentitel bis zum Ende des 8. Jahrhunderts (Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung, Ergänzungsband 21) Graz – Wien – Köln 1967, S. 143f.; vgl. auch Ewig (wie Anm, 8) S. 48. 25 Pippini, Cariomanni, Caroli Magni DD Nr. 14 (wie Anm. 23) S. 19f. Auch in der gefälschten zweiten Gründungsurkunde des Klosters Reichenau unterzeichnen die Söhne Karl Martells, Karlmann und Pippin, beide als illuster vir ; vgl. Ingrid Heidrich, Die urkundliche Grundausstattung der elsässischen Klöster, St. Gallens und der Reichenau in der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts, in: Die Gründungsurkunden der Reichenau, hg. von Peter Classen (Vorträge und Forschungen 24) Sigmaringen 1977, S. 31–62, S. 56. 26 Heinrich Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte, 2, bearb. von Claudius von Schwerin, München – Leipzig 21928, S. 45f.

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auf 707/708 als sein Geburtsjahr schließen27. Selbst wenn man vorsichtiger ist und das Jahr 710 für weitere Überlegungen zugrunde legt, ist es durchaus möglich, daß Karlmanns ältester Sohn ca. 730 geboren wurde, zumal eine Heirat im Alter von 20 Jahren nicht ungewöhnlich war28. Treffen diese Überlegungen zu, so hatte Drogo im Jahr 747 die Volljährigkeit erreicht. Ferner ist folgendes in der Urkunde für Stablo-Malm8dy zu bemerken. Die Mönche des Klosters wurden dazu aufgerufen, für Karlmann und die stabilitas seines Reiches zu beten: … ut melius eis delectet pro nos vel stabilitate regni nostri Domini misericordiam attentius deprecare29. Diese Formel »erhält unter dem Aspekt der bevorstehenden Abdankung Karlmanns ›politische‹ Bedeutung. Die Schenkung verpflichtet Stablo-Malm8dy zum Gebet, d. h. zur Treue, für das ›Reich‹ Karlmanns und seines zustimmenden Erben.«30 Pippin gebrauchte in einer Urkunde für das Kloster St. Denis (751) eine ähnliche Wendung: … pro nos vel filios nostros seu pro stabilitate regni Francorum die noctuque incessabiliter orare vel Domini misericordia deprecare …31 Er stand damals kurz vor seiner Thronbesteigung. Im Zusammenhang mit ihr spricht Pippin vom regnum Francorum, während bei Karlmann von seinem regnum die Rede ist. Man kann annehmen, daß beide ein ähnlich starkes Interesse an der stabilitas ihrer Herrschaft hatten. Die Erblichkeit der angestrebten Würde stand dabei für Pippin sicherlich in gleicher Weise im Vordergrund wie für Karlmann die Nachfolge seines Sohnes. Mit der Einbeziehung der Söhne ging Pippin allerdings über die Wortwahl Karlmanns hinaus. Hatte er aus Drogos Schicksal dazugelernt? In der Urkunde für Stablo-Malm8dy und in einer anderen, die in unmittelbarem Zusammenhang mit ihr ausgestellt worden war, gebrauchte Karlmann eine völlig neue Poenformel, in der Einsprüche gegen die Schenkung an das Gericht der Könige, die unter den Nachfolgern Karlmanns herrschen würden, verwiesen wurden: … judicio successorum nostrorum regum eum relinquimus32.

27 Diplomata maiorum domus e stirpe Arnulforum Nr. 11, hg. von K. A. F. Pertz (MGH DD l, 1872) S. 98f. Signum Karlomanni filii eius. Vgl. Hahn (wie Anm. 4) S. 2f.; Theodor Breysig, Jahrbücher des fränkischen Reiches 714–741, Leipzig 1869, S. 7 Anm. 5; Josef JungDiefenbach, Die Friesenbekehrung bis zum Martertode des hl. Bonifatius (Missionswissenschaftliche Studien, Neue Reihe 1) Mödling 1931, S. 93; Riesenberger (wie Anm. 4) S. 271. Zur Datierung der Urkunde BM2 (wie Anm. 3) Nr. 34. 28 Siegmund Hellmann, Die Heiraten der Karolinger, in: Ders., Ausgewählte Abhandlungen zur Historiographie und Geistesgeschichte des Mittelalters, hg. von Helmut Beumann, Weimar 1961, S. 293–391, S. 332f. 29 Halkin – Roland (wie Anm. 22) Nr. 17 S. 49. 30 Heidrich (wie Anm. 22) S. 151. Vgl. Bund (wie Anm. 15) S. 366. 31 Diplomata maiorum domus e stirpe Arnulforum Nr. 23 (wie Anm. 27) S. 109; vgl. Karl Ferdinand Werner, Das Geburtsdatum Karls des Großen, in: Francia l, 1973, S. 115–157, S. 150. 32 Halkin – Roland (wie Anm. 22) Nr. 17 S. 50; vgl. Nr. 18: … successorum nostrorum regibus

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Diese Poenformel legt drei Folgerungen über Karlmanns Beurteilung der politischen Lage nahe. Erstens scheint er davon ausgegangen zu sein, daß auch die künftigen Hausmeier aus seiner Familie stammen würden, daß sich zweitens die Machtverhältnisse zwischen König und maior domus nicht ändern würden, daß folglich die Hausmeier auch in Zukunft das Königsgericht beherrschen würden33. Zieht man beim ersten Punkt die Konsensformel Drogos und seinen Titel illuster vir zusätzlich in Betracht, scheint hier nicht die arnulfingische Familie allgemein angesprochen zu sein, sondern in erster Linie Karlmanns eigene Nachkommen, von deren Nachfolge er offenbar ausging. Drittens wird deutlich, daß Karlmann in beiden Urkunden vom Fortbestehen des merowingischen Königtums ausging, da er ausdrücklich auf das iudicium der künftigen Könige verwies. Karlmann, der 743 nach längerer Thronvakanz wieder einen Merowinger eingesetzt hatte34, setzte 747 voraus, daß auch in Zukunft die reges criniti an der Spitze des regnum Francorum stehen würden. Wahrscheinlich teilte auch sein Erbe Drogo diese Ansicht, während Pippin, dessen Beteiligung an der Einsetzung Childerichs III. nicht eindeutig belegbar ist, später eine andere Politik verfolgen sollte35. Spätestens 750 mag diese Frage ein Problem zwischen den beiden arnulfingischen Linien geworden sein. Drogo wurde von seinem Vater in der Urkunde für Stablo-Malm8dy offenbar als künftiger Hausmeier angesprochen. Sie ist damit der stärkste Anhaltspunkt für Drogos Stellung zur Zeit ihrer Ausfertigung. Ihre Aussage ist den erzählenden Quellen vorzuziehen, da die Urkunde als zeitgenössisches Rechtsdokument einen zuverlässigen Anhaltspunkt für das Selbstverständnis Karlmanns und Drogos bietet.

2.3

Der Andhunus-Brief

Drogo wird in einem Brief des Bonifatius kurz erwähnt. In ihm erkundigte sich ein ungenannter Untergebener des Bonifatius bei Andhunus nach dem Aufenthaltsort seines Bischofs: eum iudicandum relinquimus (zit. nach Heidrich [wie Anm. 22] S. 144 Anm. 337). Vgl. zum engen Verhältnis beider Urkunden Heidrich (wie Anm. 22) S. 151 Anm. 374. 33 Heidrich (wie Anm. 22) S. 144. 34 Halkin – Roland (wie Anm. 22) Nr. 16 S. 43: Hildericus, rex Francorum, viro inclito Kalomano majore domus rectori palatio nostro, qui nobis in solium regni instituit …; vgl. BM2 (wie Anm. 3) Nr. 45a. 35 Den Gegensatz zwischen den Brüdern in dieser Frage betonen Leon Levillain, L’avHnement de la dynastie carolingienne et les origines de l’Etat pontifical 749–757, in: BibliothHque de l’Pcole des Chartes 94, 1933, S. 225–295, S. 225 und Tangl (wie Anm. 4) S. 9. Dagegen Affeldt (wie Anm. 5) S. 117.

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Indica nobis aliquid de episcopo nostro, an ad synodum ducis occidentalium provinciarum perrexisset an ad filium Carlomanni.36

Der Brief ist wahrscheinlich 748 verfaßt, da die angesprochene Synode für die Reichsversammlung gehalten wird, die Pippin 748 in Düren abhielt37. Allgemein wird angenommen, daß mit dem Bischof Bonifatius gemeint ist sowie mit dem dux der westlichen Provinzen Pippin und mit dem Sohn Karlmanns Drogo. Zur Zeit der Abfassung des Schreibens hatte Bonifatius zwei Optionen. Er konnte sich entweder Pippin oder Drogo anschließen, der damals offenbar eine Machtstellung im Osten des Reiches innehatte. Die Kirchenprovinz des Bonifatius hatte zu Karlmanns Reich gehört. Daher ist es wohl als wahrscheinlich anzusehen, daß er sich zu dessen Sohn und Erben hin orientierte. Doch Pippin übte im östlichen Reichsteil offenbar bereits genug Anziehungskraft aus, so daß der Briefschreiber sich nicht darüber im klaren war, ob Bonifatius Pippin oder Drogo aufsuchen würde. Aus dem Andhunus-Brief geht dennoch hervor, daß Drogo damals unabhängig von seinem Onkel agierte und daß sein Betätigungsfeld die östlichen Provinzen des Frankenreiches waren, die bereits sein Vater beherrscht hatte38. Der Briefschreiber macht keine eindeutige Aussage über Drogos rechtliche Stellung, doch wird jener in der Literatur bisweilen auf Grund des Briefes als Hausmeier angesprochen39. Th. Schieffer schloß aus dem Gegensatz, den der Andhunus-Brief möglicherweise impliziert, auf eine erbrechtliche Auseinandersetzung zwischen Pippin und Drogo. Letztendlich habe sich das ›Anwachsungsrecht‹ des Onkels gegen das ›Eintrittsrecht‹ des Neffen durchgesetzt40. E. Zöllner hat dagegen die machtpolitische Seite dieser Auseinandersetzungen innerhalb der Herrscherfamilie betont41.

36 S. Bonifatii et Lulli epistolae Nr. 79, hg. von Michael Tangl (MGH Epp. sel. 1, 1916) S. 17. 37 Annales Mettenses priores a. 748 (wie Anm. 21) S. 40. Michael Tangl, Studien zur Neuausgabe der Bonifatiusbriefe II, in: Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 41, 1917, S. 23–101, S. 45f.; Schieffer (wie Anm. 4) S. 251. Gegen diese Gleichsetzung Jörg Jarnut, Bonifatius und die fränkischen Reformkonzilien (743–748), in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, kanonistische Abteilung 65, 1979, S. 1–26, S. 25. 38 Eine detaillierte Untersuchung über die Reichsteile Karlmanns und Pippins bietet Schüssler (wie Anm. 2). 39 Vgl. die in Anm. 4 u. 5 zitierte Literatur u. unten S. 189. 40 Schieffer (wie Anm. 4) S. 250f.; vgl. Affeldt (wie Anm. 5) S. 120 mit Anm. 86, in der weiterführende Literatur zu diesem Problemkreis aufgeführt ist. Grundsätzliche Kritik übt Heike Grahn-hoek, Die fränkische Oberschicht im 6. Jahrhundert. Studien zu ihrer rechtlichen und politischen Stellung (Vorträge und Forschungen, Sonderband 21) Sigmaringen 1976, S. 157ff. u. 308ff. 41 Erich Zöllner, Geschichte der Franken bis zur Mitte des sechsten Jahrhunderts. Auf der Grundlage des Werkes von Ludwig Schmidt unter Mitwirkung von Joachim Werner neu

Drogo und die Königserhebung Pippins

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Ein Hinweis auf die fränkischen Gepflogenheiten in ähnlichen Erbauseinandersetzungen ist möglicherweise in der Divisio Regnorum von 806 zu finden. Es hat den Anschein, als ob Karl der Große hier die bis dahin geübte Praxis in eine Norm zu fassen versuchte. Er teilte das Reich unter seine Söhne, wie das vor ihm bereits die Merowinger und auch die Arnulfinger als Hausmeier und Könige getan hatten. Für den Fall, daß einer der Söhne starb und seinerseits einen Erben hinterließ, kam dem populus die entscheidende Rolle zu: Falls der Adel den Sohn des Verstorbenen zum Herrscher wählte, sollten die anderen Könige diese Entscheidung respektieren. In der Realität hatten sie auch kaum eine andere Wahl, wenn sie es nicht zu einem offenen Bruderkrieg kommen lassen wollten. Verweigerte sich der populus dem Sohn, sollte der betreffende Reichsteil offenbar zwischen den überlebenden Brüdern des Verstorbenen geteilt werden42. Auch diese Regelung war kaum mehr als die Widerspiegelung wirklicher Verhältnisse, denn ohne Unterstützung einer größeren Anzahl von Gefolgsleuten hatte ein Neffe kaum Aussicht, sich gegen seine Onkel durchzusetzen. Man kann also die Bestimmungen Karls des Großen als einen Spiegel der tatsächlichen Teilungspraxis im fränkischen Reich ansehen. Der Sohn eines vorverstorbenen (Teil-) Königs konnte das Erbe seines Vaters nur antreten, falls er dessen populus geeignet erschien, wobei das Alter des Kandidaten wohl auch eine Rolle spielte. Der Andhunus-Brief läßt durchaus die Möglichkeit einer eigenständigen Herrschaft Drogos zu. Er konnte anscheinend Anhänger, einen populus, um sich scharen. Offen bleibt dessen Zusammensetzung und Größe, da Pippin als der ältere und seit langem erfolgreiche dux vielleicht die größere Anziehungskraft auf die Anhänger Karlmanns ausgeübt hat als der jugendliche und unerfahrene Drogo.

bearbeitet, München 1970, S. 126. In Bezug auf Drogo ähnlich bereits Hahn (wie Anm. 4) S. 88. 42 Capitularia regum Francorum l, hg. von Alfred Boretius (MGH Leges, Sectio 2, 1883, Nr. 45 c. 5) S. 128: Quod si talis filius cuilibet istorum trium fratrum natus fuerit, quem populus eligere velit ut patri suo in regni hereditate succedat, volumus ut hoc consentiant patrui ipsius pueri et regnare permittant filium fratris sui in portione regni quam pater eius, frater eorum, habuit. Über die Teilungen unter die Brüder c. 4 S. 127f. Vgl. Peter Classen, Karl der Große und die Thronfolge im Frankenreich, in: Festschrift Hermann Heimpel, 3 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 36/111) Göttingen 1972, S. 109–134, S. 125, der allerdings vom grundsätzlichen Vorrang des ›Anwachsungsrechtes‹ ausgeht.

182 2.4

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Die kleineren Annalen

Die Annales Laureshamenses und Mosellani stehen den Karolingern sehr nahe; dasselbe gilt auch für die Annales Petaviani, die mit den ersten beiden eng verwandt sind43. Zum Jahr 753 berichten alle drei Annalen: Papa Stephanus venit ab urbe Roma in Franciam, et Karolomannus post eum, et filii eius tonsi sunt, et Grippo occisus est.44

Durch dieses Ereignis ist der Endpunkt der politischen Karriere Drogos festgelegt45. Daß die Söhne Karlmanns erst 753 zu Mönchen geschoren wurden, ist bemerkenswert. Diese Tat steht in engem Zusammenhang mit der Reise Papst Stephans II. 753 ins Frankenreich und der neuerlichen Salbung Pippins 754 durch den Papst46. Damals gebot der Papst den fränkischen Großen, ihre Könige künftig nur aus den Nachkommen Pippins zu wählen47. Das richtete sich zu jenem Zeitpunkt offenbar weniger gegen merowingische Thronprätendenten als gegen Pippins eigene Verwandte. Diese bildeten damals offenbar immer noch eine Gefahr. Wäre Pippin schon vorher in der Lage gewesen, Drogo und seine Brüder ins Kloster zu schicken, hätte er dies sicherlich getan. Waren sie bis dahin in Freiheit, so waren sie – zumindest als Kristallisationspunkte für die Gegner Pippins – von größter politischer Bedeutung. 43 Wattenbach – Levison (wie Anm. 7) S. 185f. 44 Annales Petaviani, hg. von Georg Heinrich PERTZ (MGH SS l, 1826) S. 11. Fast wortgleich sind die Annales Laureshamenses (ebd.) S. 27f. und die Annales Mosellani, hg. von Johann Martin LAPPENBERG (MGH SS 16, 1859) S. 495. Nach Maurice CHAUME, Les origines du duch8 de Bourgogne, 1: Histoire politique (M8moire de l’acad8mie des sciences, arts et belles-lettres de Dijon) Dijon 1925, S. 105 Anm. 3 war Bernhard, der Vater Adalhards und Walas, ein Sohn Karlmanns. Vgl. dagegen Lorenz WEINRICH, Wala, Graf, Mönch und Rebell. Die Biographie eines Karolingers (Historische Studien 386) Lübeck – Hamburg 1963, S. 90f. Außerdem scheint es angesichts der Nachricht von der Tonsurierung der Söhne Karlmanns unwahrscheinlich, daß einer von ihnen Kinder gehabt hat. 45 In den Urkunden Pippins für St. Denis (753) und für Prüm (762) erscheinen als weltliche Spitzenzeugen ein Drogo bzw. ein Droco comes (Pippini, Carlomanni, Caroli Magni DD Nr. 6 und 16 [wie Anm. 23] S. 10 und 24). Hahn (wie Anm. 4) S. 89 mit Anm. 2 hat aus ihnen auf einen freiwilligen Rücktritt Drogos anläßlich der Thronbesteigung Pippins geschlossen, da der Name Drogo vor 751 in Pippins Urkunden nicht erscheint. Beweisbar ist die Identität der beiden Drogos aus Pippins Diplomen untereinander und mit dem Sohn Karlmanns allerdings nicht. 46 Vgl. unten S. 192f. 47 Nota de unctione Pippini regis, hg. von Georg Waitz (MGH SS 15,1, 1887) S. l und Bruno Krusch (MGH SS rer. Merov. 1,2, 1885) S. 15f. … [Stephanus pontifex] simulque Francorum principes … et tali omnes interdictu et excommumcationis lege constrinxit, ut numquam de alterius lumbis regem in aevo presumant eligere … Über den Quellenwert vgl. Affeldt (wie Anm. 5) S. 103–109 und Alain J. Stoclet, La ›Clausula de unctione Pippini regis‹: mises au point et nouvelles hypothHses, in: Francia 8, 1980, S. 1–42.

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Vierzig Jahre später ereignete sich ein ähnlicher Fall, über den wir besser informiert sind. Tassilo und seine Angehörigen wurden 788 ebenfalls tonsuriert. Bereits vorher hatte Karl der Große die Rechte des Bayernherzogs stark eingeschränkt, doch bedeutete erst Tassilos Einweisung in ein Kloster das Ende seiner Herrschaft48. Die Berichterstattung über dieses Ereignis in kleineren Annalenwerken war nach K. Brunner unabhängig von der offiziösen Version der Reichsannalen und konnte daher Hinweise auf eigenständige, ›verlorene‹ Traditionen enthalten49. Dies gibt auch anderen Nachrichten, die nicht in das Konzept der Hofberichterstattung paßten, besonderes Gewicht, selbst wenn sie wie der Eintrag über die Tonsurierung der Söhne Karlmanns nur kurz sind. Nach der Continuatio Fredegarii hatten diese bereits mit der Abdankung ihres Vaters jegliche Bedeutung verloren. Daß die Nachricht von ihrer Tonsurierung überhaupt Eingang in die kleineren Annalen fand, unterstreicht demnach die Wichtigkeit des gemeldeten Ereignisses: Wie im Falle Tassilos 788 markiert die Tonsurierung von 753 offenbar das Ende der Regierung eines Konkurrenten der arnulfingischen Hauptlinie.

2.5

Ergebnisse

Die Untersuchung hat bisher gezeigt, daß es innerhalb der Quellen in bezug auf Drogo zwei Gruppen gibt, zum einen die zeitgenössischen und späteren offiziösen Geschichtswerke, die zur Bestätigung der Herrschaftsansprüche Pippins und seiner Nachfahren geschrieben sind und die mit Ausnahme der Continuatio Fredegarii nicht auf Drogo eingehen; zum anderen besitzen wir einige verstreute Nachrichten aus Quellen, die eher zufällig und unabhängig voneinander Drogo erwähnen, weshalb ihr Gewicht gegenüber den geglätteten Darstellungen der offiziösen Quellen nicht unterschätzt werden darf. Vergleicht man jene mit dem offiziösen Standpunkt, der von der sofortigen Bedeutungslosigkeit Drogos ausgeht, erhält man ein etwas klareres Bild. Drogo kann nicht länger als Quantit8 n8gligeable angesehen werden, da er von Karlmann noch vor dessen Abdankung 747 als künftiger Hausmeier angesprochen wurde und daher wahrscheinlich auch die Herrschaft angetreten hat. Diese Aussage widerspricht der zweiten Continuatio Fredegarii. Doch angesichts der Parteilichkeit dieser Chronik, der Bedeutung der Urkunde als Rechtsquelle und der Möglichkeit, daß Drogo bereits volljährig war, ist deren Bericht von einer angeblichen Vormundschaft Pippins 48 Vgl. Herwig Wolfram, Das Fürstentum Tassilos III., Herzogs der Bayern, in: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 108, 1968, S. 157–179, S. 173; Walther Laske, Die Mönchung Herzog Tassilos III. und das Schicksal seiner Angehörigen, in: Die Anfänge des Klosters Kremsmünster, Linz 1978, S. 189–197. 49 Karl Brunner, Auf den Spuren verlorener Traditionen, in: Peritia 2, 1983, S. 1–22, S. 14ff.

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für Drogo doch vorsichtiger zu bewerten. Dieses Mißtrauen gegen die Continuatio Fredegarii wird dadurch gestützt, daß Drogo kurz nach Karlmanns Abdankung unabhängig von seinem Onkel im Osten des Reiches auftrat. Er amtierte möglicherweise als Hausmeier in den Provinzen, die auch sein Vater beherrscht hatte, auch wenn er damals bereits in größere Schwierigkeiten geraten war. Daß sich der Bericht von der Tonsurierung Drogos und seiner Brüder 753 in den kleineren Annalen gehalten hat, läßt ihre Bedeutung noch einmal aufscheinen. Die zweite Continuatio Fredegarii, die einzige wirkliche zeitgenössische erzählende Quelle, erwähnt Drogo zwar, doch läßt sie hinsichtlich seiner Person viele Fragen offen, da sie von der Abdankung Karlmanns nur unter dem Aspekt der Machterweiterung Pippins berichtet. Am einfachsten wäre es für ihren Autor Childebrand gewesen, Drogo überhaupt nicht zu erwähnen, wie es in dieser Quelle mit Grifo und in den späteren offiziösen Geschichtswerken mit Drogo selbst geschah. Dieser konnte jedoch im Zusammenhang mit der Abdankung Karlmanns von dem Zeitgenossen und Verwandten Childebrand nicht völlig übergangen werden, da Drogo und seine Brüder noch zu Lebzeiten Childebrands in Freiheit waren. Bei Abfassung der zweiten Continuatio Fredegarii war somit der Ausgang der Ereignisse noch offen. Daher entschied sich Childebrand für eine Darstellung, mit der er einerseits seiner ›Chronistenpflicht‹, andererseits seiner Verbundenheit mit Pippin genügte. Die späteren karolingischen Geschichtswerke hatten dagegen solche Rücksichten nicht zu nehmen und erwähnten Drogo mit keinem Wort. Natürlich implizieren die offiziösen Quellen eine einfache Lösung – die sofortige Machtübernahme Pippins im ganzen Frankenreich –, doch sollte man angesichts der anderen Quellenaussagen bei einer Betrachtung der Ereignisse um die Mitte des 8. Jahrhunderts Drogos Rolle nicht unterschätzen.

3.

Die Ereignisse 746–754

Die offiziösen Quellen haben die Spuren von Drogos Aktivitäten gründlich verwischt, obwohl, wie oben aufgezeigt, die Karlmann-Urkunde und der Andhunus-Brief für eine Nachfolge Drogos im Reich seines Vaters sprechen. Deshalb soll an dieser Stelle eine Alternative zur Darstellung der offiziösen Quellen unter besonderer Berücksichtigung Drogos als eines potentiellen Konkurrenten Pippins versucht werden, bei der die Frage nach Drogos politischer Karriere zwischen 747 und 753 im Mittelpunkt steht. Starkes Gewicht kommt dem Verhältnis zwischen Onkel und Neffen zu und der Frage, warum sich Pippin gerade 750/51 zum ›Umsturz‹ entschloß. Daß sich sein Vorgehen 751 in erster Linie gegen die Merowinger richtete, soll und kann nicht bestritten werden. Da nach Aussage der

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Quellen der Thronwechsel angeblich keinen realen Machtzuwachs für Pippin bewirkt hat50, stellt sich jedoch das Problem seiner Gründe, die alte Dynastie gerade zu diesem Zeitpunkt zu beseitigen. Eng verbunden damit ist die Frage, warum sich Pippin an den Papst wandte. Anders ausgedrückt: Kann man aus den bekannten Fakten auf Widerstände gegen Pippins Politik schließen? Als geeignete Führer der Gegner Pippins können die anderen Angehörigen der arnulfingischen Familie gelten, also Grifo und Drogo. Um sich über die Bedeutung Drogos klar zu werden, ist von größter Wichtigkeit, ob die Quellen eine Partei innerhalb des fränkischen Reiches erkennen lassen, für die Drogo als Kristallisationsfigur dienen konnte. Im Jahr 746 faßte der Hausmeier Karlmann den Entschluß, dem weltlichen Leben zu entsagen; die Motive, die ihn zu diesem Schritt bewogen, sind heute kaum noch zu ergründen51. Nach der Regelung seiner Nachfolge zog er nach Italien. Dabei bleibt eine Frage offen, die meines Wissens noch nicht befriedigend beantwortet worden ist: Was veranlaßte Karlmann dazu, sich offenbar auf Pippins Treue zu verlassen und ihm seinen Sohn anzuvertrauen, obwohl ein Onkel die Rechte des ihm anvertrauten Neffen oftmals nicht respektierte52 ? Das Beispiel der merowingischen Könige, Karl Martells und die Grifo-Affäre hatten gezeigt, daß die Beseitigung von jüngeren Brüdern und Neffen als Konkurrenten eine der Haupttriebfedern der fränkischen ›Innenpolitik‹ war53. Hat also Karlmann das Reich verlassen, ohne ausreichende Vorkehrungen für die Sicherheit seines Sohnes zu treffen54 ? Seit kurzem gibt es gute Gründe anzunehmen, daß Karlmann zum Zeitpunkt seiner Abdankung eine derartige Sorge nicht haben mußte. K. F. Werner hat die Geburt Karls, des ältesten Sohnes Pippins, mit großer Wahrscheinlichkeit auf 747 datiert55. Drogo und seine namentlich unbekannten Brüder waren bis dahin die

50 Einhards Vita Karoli Magni c. 1 (wie Anm. 20) S. 3: Nam et opes et potentia regni penes palatii praefectos, qui maiores domus dicebantur, et ad quos summa imperii pertinebat, tenebantur. 51 Vgl. Hahn (wie Anm. 4) S. 87ff.; Rodenberg (wie Anm. 5) S. 15f.; Schieffer (wie Anm. 4) S. 250f.; Tangl (wie Anm. 4) S. 10f.; Karl Heinrich Krüger, Königskonversionen im 8. Jahrhundert, in: Frühmittelalterliche Studien 7, 1973, S. 169–222, S. 187ff.; Bund (wie Anm. 15) S. 366f.; Affeldt (wie Anm. 5) S. 117, die Karlmanns Schritt religiös motiviert sehen. Politische Gründe sieht Riesenberger (wie Anm. 4) S. 272ff. 52 Dies steht wohl hinter dem Vorrang des ›Anwachsungsrechtes‹ gegenüber dem ›Eintrittsrecht‹. Vgl. oben S. 180f. mit Anm. 40 und 41. 53 Für die Merowinger vgl. Reinhard Schneider, Königswahl und Königserhebung im Frühmittelalter. Untersuchungen zur Herrschaftsnachfolge bei den Langobarden und Merowingern (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 3) Stuttgart 1972. 54 Diese »Vertrauensseligkeit« Karlmanns betont Tangl (wie Anm. 4) S. 11. 55 Werner (wie Anm. 31). Bedenken äußert Karl Brunner, Oppositionelle Gruppen im Karolingerreich (Veröffentlichungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 25) Wien 1979, S. 40 Anm. 1.

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einzigen Erben Karlmanns u n d Pippins56. Werners Argumentation befriedigt jedoch nicht vollständig. Er stützt sich auf den Eintrag der Annales Petaviani zu 747, dessen Glaubwürdigkeit er zu Recht betont: Karolomannus migravit Romam. Et ipso anno fuit natus Karolus rex.57 Nach einem Lorscher Kalendarium des 9. Jahrhunderts war Karls Geburtstag der 2. April58, sein vollständiges Geburtsdatum also der 2. April 747. Karlmann urkundete noch am 15. August 747 im Frankenreich59. Demnach hätte der Schreiber der Annalen die zeitliche Reihenfolge beider Ereignisse vertauscht. Da zu dem betreffenden Jahr nur diese zwei Angaben eingetragen sind, erscheint ein solches Versehen unwahrscheinlich. Die Datierung der letzten Karlmann-Urkunde auf den 15. August 747 steht fest. Folglich konzentriert sich das Interesse auf den 2. April 747. Eine Nachprüfung ergibt, daß der Ostersonntag des gleichen Jahres auf den 2. April fiel. War Karl der Große folglich an diesem herausragenden christlichen Feiertag geboren? Bei der Vorliebe der Zeitgenossen für hohe kirchliche Feiertage und insbesondere für das Osterfest wäre zu erwarten, daß sich irgendwelche Reaktionen auf dieses Geburtsdatum erhalten hätten. Es gibt daher zu denken, daß keine Quelle einen Hinweis auf ein besonderes Geburtsdatum Karls des Großen enthält, weder der Lorscher Gedenkbucheintrag, noch die Biographie Einhards, noch die erhaltene Korrespondenz. Es ist unwahrscheinlich, daß Karl oder seine Zeitgenossen es versäumt hätten, darauf aufmerksam zu machen. Unter zusätzlicher Berücksichtigung der Chronologie des Annaleneintrages erheben sich Zweifel daran, daß Karl der Große am 2. April 747 geboren ist. Werner hat jedoch mit guten Gründen die Glaubwürdigkeit der Annales Petaviani bezüglich ihrer Nachrichten über Familienangelegenheiten der Arnulfinger betont. Daher bleiben als Indizien für die Datierung von Karls Geburtsdatum folgende Punkte: 1. Der Geburtstag ist der 2. April. 2. Der Geburtstag war nach Karlmanns Abdankung, also nach dem 15. August 747. 3. Karl ist nicht lange nach Karlmanns Abdankung geboren, da die Annales Petaviani beide Ereignisse im gleichen Jahr melden.

56 Deshalb kann die Frage nach dem Vorrang des ›Anwachsungsrechts‹ gegenüber dem ›Eintrittsrecht‹ zunächst nicht die Bedeutung gehabt haben, die Affeldt (wie Anm. 5) S. 120 ihr zuweist. Daneben mag dies auch die relative Eintracht zwischen Karlmann und Pippin erklären, die Jarnut (wie Anm. 37) S. 26 anzweifelt. 57 Annales Petaviani (wie Anm. 44) a. 747. Die Klammern, die in der Edition von Pertz den zweiten Satz einschließen, wurden weggelassen; vgl. Werner (wie Anm. 31) S. 136ff. 58 Vgl. Werner (wie Anm. 31) S. 116 mit Anm. 3, dort auch die Datierung durch Bernhard Bischoff auf die erste Hälfte des 9. Jahrhunderts. 59 Halkin – Roland (wie Anm. 22) Nr. 18 S. 51–53.

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Diese Überlegungen weisen auf den 2. April 748 als wahrscheinliches Geburtsdatum Karls. Wie läßt sich die Eintragung seiner Geburt zu 747 erklären? Die Annalen wurden ursprünglich an den Rand von Tafeln geschrieben, die der Berechnung des Ostertermins dienten. Daher konnte es durchaus vorkommen, daß Ereignisse bis Ostern des folgenden Jahres zum vorhergehenden geschrieben wurden. Besonders in den kleinen Annalen, die eher noch am ursprünglichen Zweck orientiert waren als die Reichsannalen, konnte es zu einer solchen falschen Datierung kommen60. Doch selbst in den nachträglich überarbeiteten Reichsannalen wurde die Zeit bis zum Osterfest fast regelmäßig zum jeweils vergangenen Jahr gerechnet. Von 759 bis 808 ist in ihnen fast regelmäßig verzeichnet, an welchem Ort Pippin oder Karl der Große Weihnachten und Ostern gefeiert haben. Beide Feste wurden sehr oft zusammen am Schluß eines Jahresberichts notiert, so daß das Osterfest in den Reichsannalen zumeist als letztes Ereignis eines Jahres erscheint61. In der Zeit zwischen Weihnachten und Ostern fanden kaum Ereignisse statt, die den Schreibern der Annalen erwähnenswert erschienen. Die spärlichen Einträge der Annales Petaviani selbst erlauben daher keine exakte Überprüfung unserer These, zumal dieser Jahresrhythmus nicht konsequent angewandt wurde. Indes scheint nach der Reihenfolge der Einträge in den Annales Petaviani das Jahr 747 dort wirklich mit Ostern 747 zu beginnen und mit Ostern 748 zu enden. Dazu paßt, daß Ostern 748 auf den 21. April fiel, Karl also noch vor dem angenommenen Jahreswechsel entsprechend dem Ostertermin geboren wäre. Damit könnte die falsche Chronologie der Einträge der Annales Petaviani zum Jahr 747 erklärt werden. Unterstützt wird diese Annahme durch zwei weitere Punkte. Nach der interpolierten Fassung der Translatio Sancti Germani nahm der spätere Kaiser im Jahr 756 im Alter von sieben Jahren an der Translation der Reliquien des heiligen Germanus teil62. Dies würde eher auf 748, besser auf 749, weisen als auf 747. Außerdem würde der 2. April 748 als Geburtsdatum Karls des Großen und damit ein Altersunterschied von drei Jahren zu seinem Bruder Karlmann (geb. 751) besser zu den Argumenten Werners passen, der aus den bekannten Lebensdaten der Brüder eine Alters-

60 Beispiele bei Hahn (wie Anm. 4) S. 242. 61 Als Beispiel Annales regni Francorum a. 759 (wie Anm. 19) S. 16: Eodem anno celebravit [Pippinus] natalem Domini in Longlare et pascha in Iopila. Et mutavit se numerus annorum in DCCLX. Im angegebenen Zeitraum wurde Ostern lediglich dann nicht zum abgelaufenen, sondern zum neuen Jahr notiert, wenn zwischen Weihnachten und Ostern wichtige Ereignisse stattfanden. Das gilt für 768, 776, 781, 785, 787, 794, 801, 802, 806, 807 und 808; zu 803 bis 805 fehlt diese Angabe. Vgl. Paul Molkenteller, Die Datierung in der Geschichtsschreibung der Karolingerzeit, phil. Diss. Greifswald 1916, S. 3ff. 62 Ex Translationibus et Miraculis S. Germani, hg. von Georg Waitz (MGH SS 15,1, 1887, S. 4–16) S. 6: … domnum videlicet Carolum gloriorissimum imperatorem: qui tunc puer septennis … Vgl. zu dieser Translatio allgemein Werner (wie Anm. 31) S. 151 mit Anm. 133.

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differenz von zwei Jahren für wahrscheinlich gehalten hat63. Aufgrund dieser Überlegungen hätte Karlmann der Herrschaft zu einem Zeitpunkt entsagt, als Pippin noch ohne eigene Erben war und sich daher mit seinem Neffen Drogo arrangieren mußte, da dieser ihn aller Wahrscheinlichkeit nach beerben würde. Man kann noch einen Schritt weiter gehen: Pippins 744 geschlossene Ehe mit Bertrada war kinderlos und schien dies auch zu bleiben. Besonders Bertrada betete intensiv um die Geburt von Kindern, ein Zeichen für die Dringlichkeit ihres Wunsches64. Pippin befand sich in einem Dilemma: Einerseits wollte er sich von seiner Frau trennen und hatte aus diesem Grund bereits eine Gesandtschaft nach Rom geschickt, die den Standpunkt von Papst Zacharias zu unerlaubten Verbindungen erkunden sollte65, andererseits war seine Stellung gegenüber Karlmann durch seine Verbindung mit Bertradas Familie seit 744 gestärkt worden66. Eine Trennung von seiner Frau hätte ihm deshalb politisch geschadet. Karlmann dankte nach dem 15. August 747 ab. Pippins ältester Sohn Karl wurde anscheinend erst am 2. April 748 geboren. Ob Karlmann zum Zeitpunkt seiner Abdankung von Bertradas Schwangerschaft gewußt hat, ist nicht sicher. Aus Sicht des scheidenden Karlmann mag daher die Zukunft Drogos als gesichert erschienen sein. Bislang waren dieser und seine Brüder die einzigen Arnulfinger der nächsten Generation. Falls Pippin jemals einen eigenen männlichen Erben erhielt, würde sich Drogo als Hausmeier soweit etabliert haben, daß ihn sein Onkel nicht so leicht würde verdrängen können. Karlmann konnte vorerst davon ausgehen, daß sich Pippin mit seinem Neffen und potentiellen Erben Drogo arrangieren würde67. Diese Überlegung kann erklären, warum Karlmann ohne Sorge um das Schicksal seines Sohnes sein Reich verlassen konnte. Pippin erhielt jedoch schneller einen Erben, als Karlmann dies wohl vorausgesehen hatte. Nach der Geburt Karls verschlechterte sich das Verhältnis zwischen Onkel und Neffen. Pippin suchte den bis dahin gefangen gehaltenen Grifo und dessen Anhang auf seine Seite zu ziehen, indem er ihn mit Grafschaften und Fiskalgütern ausstattete, wie die älteren Metzer Annalen berichten. Eodem anno Pippinus omnium Francorum generaliter princeps misericordia motus fratrem suum Griponem de custodia, in qua eum germanus suus Carolomannus dimi-

63 Werner (wie Anm. 31) S. 136. 64 Werner (wie Anm. 31) S. 135f. Zum Fragenkomplex um Pippins Ehe siehe neuerdings Enright (wie Anm. 1) S. 90–93. 65 S. Bonifatii et Lulli epistolae Nr. 77 (wie Anm. 36) S. 160: (Zacharias an Bonifatius) … flagitasse a nobis Pippinum excellentissimum maiorem domus gentis Francorum …, simul etiam et pro illicita copula, qualiter sese debeant custodire iuxta ritum christiane˛ religionis et sacrorum canonum instituta. 66 Werner (wie Anm. 31) S. 156. 67 Aufgrund anderer Überlegungen erzielt Affeldt (wie Anm. 5) S. 120 ein ähnliches Ergebnis.

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serat, liberavit et ipsum fraterna dilectione honoratum in palacio suo habuit, deditque illi comitatus et fiscos plurimos.68

Woher kam dieser Sinneswandel Pippins? Die Wortwahl des Berichts verrät eine Spitze gegen Karlmann: Jener hatte Grifo eingekerkert69, während Pippin den Halbbruder wieder freiließ. Die Handlungsweise Pippins allein mit Mitleid zu erklären, ist jedoch ungenügend. Die Chronologie legt einen Zusammenhang zwischen Karlmanns Abdankung und Grifos Freilassung und Ausstattung durch Pippin nahe. Es scheint Pippins Bestreben gewesen zu sein, zusammen mit Grifo und seinem Anhang Drogo aus dessen Erbe zu verdrängen. Für diese Vermutung spricht, daß die späteren Aufstände Grifos in jenen Gebieten erfolgten, die zu Karlmanns Reich gehört hatten. Wahrscheinlich lag daher auch seine Ausstattung durch Pippin im östlichen Reichsteil, was als Affront gegen den eigentlichen Erben Drogo gewertet werden kann. Doch Grifo mißtraute Pippin und erhob sich gegen ihn, gestützt auf die kurz zuvor unterworfenen ostsächsischen Gebiete70. Pippin warf den Aufstand nieder, und Grifo floh nach Bayern, wo er die Macht an sich zu reißen versuchte. Er wurde erneut von Pippin geschlagen, der weiterhin glaubte, Grifo auf seine Seite ziehen zu müssen; deshalb stattete er ihn 748 wiederum mit zwölf Grafschaften aus, die dieses Mal in Neustrien lagen71. Die Gründe für Pippins nachgiebige Haltung liegen wahrscheinlich in seiner gleichzeitigen Gegnerschaft zu Drogo: In Düren, das zuvor zu Karlmanns Reich gehört hatte, hielt Pippin 748 eine Versammlung ab72. Dies und die Tatsache, daß Pippin auch im Osten des Reiches ohne Rücksicht auf Drogo Krieg führte, weist allerdings auf seine Überlegenheit gegenüber dem Neffen hin. Der Eindruck verstärkt sich, daß Pippin auf die ehemaligen Anhänger Karlmanns eine größere Anziehungskraft ausgeübt hat als dessen Sohn. Der angesprochene Gegensatz klingt auch in Willibalds Vita des Bonifatius an, die noch zu Lebzeiten Pippins aufgezeichnet wurde73. Willibald schildert den 68 Annales Mettenses priores a. 747 (wie Anm. 21) S. 39f. Vgl. zum Motiv des Mitleids als Qualifikation für das Königtum, das auch hinter dem Bericht steht, Haselbach (wie Anm. 21) S. 103f. 69 Annales Mettenses priores a. 741 und 747 (wie Anm. 21) S. 32f. und 39f. 70 Vgl. Enright (wie Anm. 1) S. 113. 71 Annales regni Francorum a. 748 (wie Anm. 19) S. 8: [Pippinus] Grifonem vero partibus Niustriae misit et dedit ei XII comitatos. 72 Vgl. oben S. 180. Nach Rodenberg (wie Anm. 5) S. 19 standen sich Pippin und Drogo »als Gegner und Häupter von zwei Parteien« gegenüber. Dies scheint mir plausibler als die Annahme von Affeldt (wie Anm. 5) S. 120, daß Drogo in Austrasien »… unter der Oberleitung seines Onkels …« geherrscht habe. 73 Zur Datierung der Vita Kurt-Ulrich Jäschke, Bonifatius und die Königssalbung Pippins des Jüngeren, in: Archiv für Diplomatik 23, 1977 = Aus Geschichte und ihren Hilfswissenschaften, Festschrift Walter Heinemeyer, hg. von Hermann Bannasch und Hans-Peter Lachmann, Marburg 1979, S. 25–54, S. 32–34.

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Zeitraum zwischen Karlmanns Abdankung und Pippins Thronbesteigung auffällig kurz: Cum vero Pippinus, Domino donante, regale Franchorum, felix supradicti germani successor, regnum suscepit, et iam aliquantulum sedante populorum perturbatione, in regem sublevatus est …74

Willibald berichtet also von der Thronbesteigung Pippins in einem Viererschritt: Nachfolge Pippins im Reich des Bruders – Unruhen der populi75 – etwas Beruhigung – Königtum. Die vier Ereignisse stehen in einem inneren Zusammenhang. Die Unruhen im Gefolge der Abdankung Karlmanns deuten auf den Gegensatz Pippin – Drogo hin. Man kann einwenden, daß die perturbatio populorum mit Grifo und anderen Gegnern Pippins zusammenhing, doch zeigt die Anordnung durch Willibald, daß der Aufruhr die Folge der Übernahme von Drogos Reichsteil durch Pippin war. Erst als sich die Lage aus der Sicht Pippins etwas beruhigte, d. h. als er Vorteile (jedoch keineswegs entscheidende – aliquantulum) errang, wurde er König. Die Nachrichten der älteren Metzer Annalen und der Bonifatiusvita ergeben zusammen folgendes Bild: Bald nach Karlmanns Abreise kam es zu Spannungen zwischen Pippin und Drogo bzw. seinen Anhängern, über deren Dauer und Intensität wir allerdings keine Aussagen treffen können. Der nächste Hinweis auf die Bedeutung Drogos ergibt sich, wenn man fragt, warum sich Pippin dem Papst zuwandte, obwohl das die traditionelle fränkische Freundschaft mit den Langobarden gefährdete76. Ohne Not wird er diesen Schritt nicht unternommen haben, der eine völlig neue Ausrichtung der fränkischen Politik bedeutete. Er brauchte die moralische Autorität des Papstes, um dem Widerstand in seinem Reich zu begegnen77. Das deutet ebenfalls auf Schwierigkeiten Pippins 750/51 hin78, obwohl oder gerade weil die den Pippiniden nahestehenden Quellen das Gegenteil behaupten. Man sollte also erwägen, ob zum Dynastiewechsel nicht nur ein von langer Hand vorbereiteter Plan geführt hat79, sondern Notwendigkeiten, die sich aus Pippins Lage innerhalb des Frankenreiches ergaben. Darauf wies bereits C. Rodenberg hin, ohne die Ar74 Willibalds Vita Bonifatii, hg. von Wilhelm Levison (MGH SS rer. Germ., 1905) S. 44. Vgl. Wattenbach – Levison (wie Anm. 7) S. 176 und Wolfgang Fritze, Bonifatius und die Einbeziehung von Hessen und Thüringen in die Mainzer Diözese, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 4, 1957, S. 37–63, S. 56f. 75 Vgl. Affeldt (wie Anm. 5) S. 129 Anm. 111. Vgl. auch Jarnut (wie Anm. 11) S. 50 zum kausalen Charakter einer solchen Reihung, »… die frühmittelalterlichen Darstellungsformen gemäß durchaus eine Kausalität beinhalten kann«. 76 Jarnut (wie Anm. 5) S. 266. 77 Über Pippins Motive vgl. Rodenberg (wie Anm. 5) S. 19f.; Levillain (wie Anm. 35) S. 228. 78 Jarnut (wie Anm. 5) S. 270; Noble (wie Anm. 4) S. 68. 79 Das klingt z. B. bei Affeldt (wie Anm. 5) S. 129 an.

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gumente zu kennen, die sich in der Zwischenzeit ergeben haben: »… ein starker Antrieb jetzt zu handeln, mußte aus seiner Lage gegenüber Drogo kommen; denn wurde er König, so fiel ihm die höchste Gewalt im ganzen Frankenreich zu, und Drogo, der nur Major Domus und dux sein konnte, wurde sein Untertan …«80. Es wurde bereits angesprochen, daß Karlmann den letzten Merowingerkönig eingesetzt hatte und somit er und sein Sohn Drogo möglicherweise zu den Vertretern der ›legitimistischen‹ Partei bei den Franken gehört haben81. Wenn nun Pippin Childerich III. absetzte und selbst an dessen Stelle trat, so zielte sein Vorgehen in zwei Richtungen. Verfassungsrechtlich fand ein Dynastiewechsel mit allen Schwierigkeiten und Konsequenzen statt. Politisch war es zugleich ein Machtkampf innerhalb der arnulfingischen Familie, den die karolingischen Quellen im Sinne des Siegers verschwiegen. In diesem Zusammenhang ist auffällig, daß mit der zeitlichen Distanz der Quellen ihr Informationsgehalt über die Motive des Thronwechsels zu wachsen scheint: Während sich noch die Continuatio Fredegarii überhaupt nicht zu dieser Frage äußert82, berichten die Reichsannalen, daß der Papst der Erhöhung Pippins im Interesse der Ordnung zugestimmt habe83. Einhard betont diesen Aspekt besonders, da er sehr ausführlich auf die Unfähigkeit der Merowinger eingeht84. Bei der Deutung jener Ereignisse könnte man indes die Gewichte anders setzen: Nicht die verfassungsrechtliche, sondern die politische Seite stand bei der Entscheidung Pippins im Vordergrund85. Er entschloß sich, König zu werden, da die machtlosen Merowinger von allen Seiten zu Zwecken der politischen Propaganda eingesetzt werden konnten, wie das Beispiel der alemannischen und bayerischen Herzöge, aber auch der Arnulfinger selbst gezeigt hatte86. Es ist zu vermuten, daß die 80 81 82 83

Rodenberg (wie Anm. 5) S. 19. Vgl. oben S. 179. Cont. Fred. c. 33 (wie Anm. 6) S. 182. Annales regni Francorum a. 749 (wie Anm. 19) S. 8: ut non conturbaretur ordo … Vgl. zu der Stelle Affeldt (wie Anm. 5) S. 148ff. 84 Einhards Vita Karoli Magni c. l (wie Anm. 20) S. 2f. Dazu zuletzt Adolf Gauert, Noch einmal Einhard und die letzten Merowinger, in: Institutionen, Kultur und Gesellschaft im Mittelalter. Festschrift für Josef Fleckenstein, hg. von Lutz Fenske, Werner Rösener und Thomas Zotz, Sigmaringen 1984, S. 59–72. 85 Ähnlich Affeldt (wie Anm. 5) S. 126f. Enright (wie Anm. 1) S. 119 betont diesen Aspekt ebenfalls, da er davon ausgeht, daß Pippin durch die Salbung versuchte, sich von allen Treuebrüchen, die er während seines Aufstieges begangen hatte, reinzuwaschen und eine Antwort auf die Argumente seiner Gegner zu finden. 86 Jörg Jarnut, Beiträge zu den fränkisch-bayerisch-langobardischen Beziehungen im 7. und 8. Jahrhundert (656–728), in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 39, 1976, S. 331– 352, S. 345 und Ders., Untersuchungen zu den fränkisch-alemannischen Beziehungen in der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 30, 1980, S. 7–28, S. 17f.; vgl. auch Affeldt (wie Anm. 5) S. 184 und Enright (wie Anm. 1) S. 109f. mit Anm. 11.

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Anhänger Drogos und die ›Legitimisten‹ zum gleichen politischen Lager gehörten und den Gegnern Pippins zuzurechnen waren. Deshalb bedeutete der Thronwechsel von 751 für Pippin kein größeres Risiko, da sich die Zahl seiner Gegner nicht nennenswert erhöhte. Dagegen errang er einen bedeutenden propagandistischen Erfolg gegenüber dem Neffen, indem er mit Zustimmung der höchsten moralischen Autorität des Abendlandes den letzten Merowinger absetzte und selbst an dessen Stelle trat. Trotz der Rangerhöhung Pippins blieb Drogo, wie aus den kleineren Annalen hervorgeht, weiterhin in Freiheit. Die Ausschaltung von Pippins Neffen war erst 753/54 vollkommen geglückt, als die Söhne Karlmanns zu Mönchen geschoren wurden und der Papst den Franken gebot, keine Könige zu wählen, die nicht von Pippin abstammten87. Vorher hatte der König noch mit Widerstand zu rechnen, was das aliquantulum sedante Willibalds andeutet. Beide Punkte sind sichere Hinweise dafür, daß Drogo – nicht zuletzt da er als Erbe Karlmanns rechtlich die gleichen Ansprüche hatte wie sein Onkel – noch immer eine Gefahr für Pippin darstellte. Offenbar gab es im Frankenreich noch genug Gegner Pippins, für die Drogo (und auch Grifo) auch weiterhin als Kristallisationsfigur dienen konnte. Ein Brief Stephans an die duces gentis Francorum stützt diese Annahme. Im Jahr 753 nahm der Papst Verbindung mit Pippin auf, da sich seine Lage gegenüber den Langobarden verschlechtert hatte88. Im Gegenzug sandte König Pippin Abt Droctegang von JumiHges nach Rom. Dieser erklärte, daß Pippin grundsätzlich bereit sei zu helfen. Von seiner Reise brachte er vom Papst zwei Briefe mit, von denen einer an den König gerichtet war und der andere an die duces gentis Francorum. Während das Schreiben an Pippin sehr allgemein gehalten war und sich nicht erkennbar auf die aktuelle Lage bezog89, läßt der Brief an die Großen Rückschlüsse auf die inneren Verhältnisse des fränkischen Reiches zu. Die Großen wurden unter wiederholter Berufung auf den heiligen Petrus vom Papst aufgefordert, Pippin zu unterstützen; wer sich anders verhalte, gefährde sein ewiges Seelenheil: Quoniam fiduciam habemus, quod Deum timetis et protectorem vestrum, beatum Petrum principem apostolorum, diligitis et cum tota mentis devotione pro eius perficienda 87 Vgl. oben S. 182. Zu den anderen Abmachungen und den vorhergehenden Verhandlungen zwischen König und Papst Jarnut (wie Anm. 5) S. 273–285 und Anna M. Drabek, Die Verträge der fränkischen und deutschen Herrscher mit dem Papsttum von 754–1020 (Veröffentlichungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 22) Wien 1976, S. 13ff. 88 Vgl. Johannes Haller, Das Papsttum. Idee und Wirklichkeit, l, Urach – Stuttgart 1950 (Nachdr. 1962), S. 416f.; Georgine Tangl, Die Paßvorschriften des Königs Ratchis und ihre Beziehung zu dem Verhältnis zwischen Franken und Langobarden vom 6.–8. Jahrhundert, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 38, 1958, S. 1–67, S. 57f. 89 Codex Carolinus Nr. 4, hg. von Wilhelm Gundlach (MGH Epp. Merowingici et Karolini Aevi 1, 1892), S. 487.

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utilitate in nostra obsecratione cooperatores et adiutores eritis …, ut nulla interponatur occasio, ut non sitis adiutores ad obtinendum filium nostrum a Deo servatum, Pippinum excellentissimum regem, pro perficienda utilitate fautoris vestri, beati apostolorum principis Petri … cuius causa est largiente, vestra deleantur peccata et, ut habet potestatem a Deo concessam sicut claviger regni caelorum, vobis aperiat ianuam et ad vitam introducat aeternam. Sed adtendite, filii, et ad participandum hoc, quod optavimus, studiosius elaborate, scientes, quod, si quis declinaverit in aliam partem, ab aeternae beatitudinis hereditate erit alienus …90

Damit waren die innenpolitischen Gegner Pippins angesprochen, die von großer Bedeutung waren, da sich der Papst an sie wandte91, um sie durch deutliche Hinweise auf den möglichen Verlust ihres ewigen Seelenheils von ihrer oppositionellen Haltung abzubringen. Wäre Pippins Stellung im Frankenreich damals bereits gefestigt gewesen, hätte der Papst wohl kaum zu solchen Drohungen greifen müssen, um die duces gentis Francorum dazu zu bringen, ihren König bei dessen Italienpolitik zu unterstützen. Der Widerstand der Großen hatte anscheinend zwei Ursachen. Sie lehnten es ab, sich an der Italienpolitik Pippins mit dem Frontwechsel von den Langobarden zum Papst zu beteiligen. Da Papst Stephan II. vor allem daran interessiert war, betonte er diesen Punkt besonders stark. Eng damit verbunden war offenbar, daß Pippin als König beim fränkischen Adel noch nicht allgemein anerkannt war. Der Papst wollte Pippin in dieser Situation unterstützen, um den König zum Eingreifen in Italien zu seinen Gunsten zu bewegen. Daß Pippin als König noch nicht fest etabliert war, lassen die Worte … sitis adiutores ad obtinendum … Pippinum … regem erkennen. Deshalb machte sich der Papst auf den beschwerlichen Weg durch das Langobardenreich nach Gallien92 und verbot dort den fränkischen Großen, künftig Könige zu wählen, die nicht von Pippin abstammten. Diese Bestimmung richtete sich weniger gegen die legitimen Ansprüche Grifos, der im gleichen Jahr sein Leben verlor, sondern hauptsächlich gegen die Drogos und seiner Brüder. Wohl auf die gleichen Gegensätze stoßen wir, wenn wir Karlmanns Lebensweg nach seiner Abdankung verfolgen. 747 begab er sich mit einigen fideles auf den Mons Soracte bei Rom. Bald schon erhielt er Besuch von zahlreichen fränkischen Großen93. Diese Besuche standen wahrscheinlich in engem Zusammenhang mit 90 Codex Carolinus Nr. 5 (wie Anm. 89) S. 488. Vgl. Rodenberg (wie Anm. 5) S. 23f.; Noble (wie Anm. 4) S. 75–78. 91 Aus dem Wortlaut des Briefes geht deutlich hervor, daß er sich nicht wirklich an alle duces richtete, sondern v. a. an die alia pars. 92 Nach Rodenberg (wie Anm. 5) S. 6ff. und Noble (wie Anm. 4) S. 67 lag die Initiative bei Pippin, während Tangl (wie Anm. 4) S. 13ff. betont, daß der Plan zur Reise vom Papst allein gefaßt wurde. Wichtig ist, daß beide Seiten ein starkes Interesse an einer Zusammenarbeit hatten. 93 Einhards Vita Karoli Magni c. 2 (wie Anm. 20) S. 4f.: … Karlomannus … in monte Soracte apud ecclesiam beati Silvestri constructo monasterio cum fratribus secum ad hoc venientibus

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den politischen Entwicklungen im fränkischen Reich. Der Gegensatz zwischen Pippin und Drogo brach auf94, und letzterer hielt die Verbindung zu seinem Vater, der über die Entwicklungen in der Heimat äußerst beunruhigt sein mußte. Als sich das Zusammengehen von Papst Zacharias und Pippin abzeichnete, verließ Karlmann den päpstlichen Machtbereich und ging nach Monte Cassino. Karlmann, der bis dahin lediglich Kleriker gewesen war, wurde jetzt auf päpstlichen Wunsch Mönch95. Offenbar wollte Zacharias ihm weitere politische Aktivitäten unmöglich machen. Dennoch nahm Karlmann weiter Anteil an den Geschehnissen im fränkischen Reich. Zusammen mit seinem Abt Optatus versuchte er, den fränkischen Klerus dazu zu bewegen, eine Aussöhnung zwischen Pippin und Grifo herbeizuführen, selbst den Papst hatte er für dieses Vorhaben gewonnen96. Durch die Intervention für den Halbbruder wollte er jenen möglicherweise als Bundesgenossen gewinnen97. Daß er zugunsten seines Gegners, den er selbst einst gefangengesetzt hatte, intervenierte, legt den Gedanken an eigene Interessen Karlmanns im Frankenreich nahe, in deren Mittelpunkt das Schicksal seiner Söhne stand. Karlmann sah sich mehr und mehr genötigt, der Ruhe des klösterlichen Lebens zu entsagen und wieder aktiv in die Politik einzugreifen, da Pippin die Oberhand gewonnen hatte. Damit wird auch verständlicher, warum Karlmann sogar ins Frankenreich kam98 : nicht in erster Linie, um die traditionell langobardenfreundliche Politik

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per aliquot annos optata quiete perfruitur. Sed cum ex Francia multi nobilium ob vota solvenda Romam sollemniter commearent et eum velut dominum quondam suum praeterire nollent … Jarnut (wie Anm. 5) S. 268f. und Rodenberg (wie Anm. 5) S. 17, die die Reaktion Karlmanns ähnlich einschätzen. Annales Mettenses priores a. 747 (wie Anm. 21) S. 37f.: Hoc anno Carolomannus princeps suum regnum derelinquens ad limina beati Petri apostoli cum plurimis suis optimatibus et donis innumerabilibus pervenit, capitisque coma deposita habitum clericalem ordinante beato Zacharia papa assumpsit, aliquantoque tempore ibidem mansit. Consilio vero accepto eiusdem pontificis ad Cassinum montem et cenobium sancti Benedicti perrexit, ibique obedientiam regulariter Qptato abbati promittens monachicae vitae professionem spopondit. Vita Zachariae, Liber pontificalis, l, hg. von Louis Duchesne, Paris 1886, S. 433: Et post aliquantum temporis ad beati Benedicti quod in Aquinensium finibus situm est [Carolomannus] profectus est monasterium, in quo et suam finiri vitam iure professus est iurando. Vgl. Jarnut (wie Anm. 5) S. 269. Epp. Aevi Merowingici collectae Nr. 18, hg. von Wilhelm Gundlach (wie Anm. 89) S. 467; vgl. Rodenberg (wie Anm. 5) S. 18. Zum Brief selbst Tangl (wie Anm. 4) S. 28–36 und Hartmut Hoffmann, Die älteren Abtslisten von Monte Cassino, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 47, 1967, S. 224–354, S. 338–346. Jarnut (wie Anm. 5) S. 269f. Vita Stephani, Liber pontificalis (wie Anm. 95) S. 448: Interea nefandissimus Aistulfus Carolomannum, fratrem benignissimi Pippini regis, a monasterio beati Benedicti …, diabolicis eum suasionibus suadens, Franciae provinciam ad obiciendum atque adversandum causae redemptionis sancte Dei ecclesiae reipublice Romanorum direxit. Dumque illuc coniunxisset,

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der Franken wieder durchzusetzen99, sondern um die Stellung seines Sohnes zu stärken. Die Position Drogos wäre nicht mehr zu halten gewesen, falls der Papst Pippin durch seinen Besuch einen ungeheuren Prestigegewinn eingebracht hätte. Dem suchte Karlmann durch sein persönliches Auftreten als ehemaliger Hausmeier und Sohn des berühmten Karl Martell entgegenzuwirken. Sein rechtzeitiges Erscheinen hätte sicherlich der Partei seines Sohnes Auftrieb geben können. Daß auch der Langobardenkönig Aistulf Hoffnungen auf die Mission des ehemaligen Hausmeiers setzte, ist nur natürlich, denn eine gestärkte Opposition im Frankenreich und ein Scheitern des Zusammengehens von Stephan und Pippin waren ihm sicherlich willkommen. Der Papst kam Karlmann jedoch zuvor, und sein Erscheinen zeigte sofort Wirkung: Das Ansehen Pippins als König war gestärkt. Karlmann wurde gefangengenommen, und seine Söhne wurden geschoren. Zwar führte er noch einige Zeit Verhandlungen mit Pippin, doch blieben diese ohne Ergebnis100. Als Pippin 754 zum Krieg gegen die Langobarden aufbrach, blieb der erkrankte Karlmann mit Pippins Frau Bertrada in Vienne zurück und starb noch im gleichen Jahr101. Wie hoch Pippin die Hilfe des Papstes einschätzte, ergibt sich daraus, daß er sich nach dessen Besuch trotz des Widerstandes seiner Großen zum Krieg gegen die Langobarden entschloß102. Dabei ist zu beachten, daß Pippin lediglich einen kleinen Teil seiner vertraglichen Verpflichtungen dem Papst gegenüber einhielt, während die Langobarden glimpflich davonkamen103. Es ist bemerkenswert, daß

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nitebatur omnino et vehementius decertabat sanctae Dei ecclesiae causas subvertere, iuxta quod a praefato nec dicendo Aistulfo tyranno fuerat directus. Annales regni Francorum a. 753 (wie Anm. 19) S. 10: Similiter et Carlomannus, monachus et germanus supradicti Pippini regis, per iussionem abbatis sui in Franciam venit, quasi ad conturbandam petitionem apostolicam. In diesem Sinn Tangl (wie Anm. 4) S. 3f. und 22. Der Liber pontificalis spricht zwar davon, daß Karlmann auf Betreiben Aistulfs aktiv geworden ist. Das erklärt sich aus der Interessenlage dieser Quelle. Das Eintreten Karlmanns für das Langobardenbündnis, das ich nicht bestreite, war für den päpstlichen Hof ungleich wichtiger als die dynastischen Motive seiner Mission. Vgl. Tangl (wie Anm. 4) S. 16ff. Annales regni Francorum a. 755 (wie Anm. 19) S. 12: Carlomannus autem monachus Vienna civitate remansit una cum Bertradane reginae infirmus, languebat dies multos et obiit in pace. Einhards Vita Karoli Magni c. 6 (wie Anm. 20) S. 8: … quia quidam e primoribus Francorum, cum quibus [Pippinus] consultare solebat, adeo voluntati eius renisi sunt, ut se regem deserturos domumque redituros libera voce proclamarent. Vgl. Werner Affeldt, Das Problem der Mitwirkung des Adels an politischen Entscheidungsprozessen im Frankenreich vornehmlich des 8. Jahrhunderts, in: Aus Theorie und Praxis der Geschichtswissenschaft, Festschrift für Hans Herzfeld, hg. von Dietrich Kurze, Berlin – New York 1972, S. 404–423, S. 412ff. Vgl. Jarnut (wie Anm. 5) S. 275ff.; Drabek (wie Anm. 87) S. 14f.

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Pippin mit einem kleinen Heer nach Italien gezogen war104. Er fürchtete offenbar noch immer einen Bruderkrieg wegen Karlmann und Drogo, die damals beide noch am Leben waren105. Seine Stellung war weiterhin durch die Existenz einer zweiten arnulfingischen Linie gefährdet, die möglicherweise noch immer über Anhänger verfügte. Durch die Tonsurierung schieden die Söhne Karlmanns zwar als aktiv Handelnde aus dem politischen Geschehen aus, doch blieben sie durch ihre bloße Existenz ein wichtiger Faktor. Auch Tassilo wurde 788 abgesetzt und tonsuriert; dennoch mußte er auf der Frankfurter Synode von 794 explizit auf seine Ansprüche verzichten106. Dieser kurze Abriß konnte und sollte nicht den eindeutigen Nachweis einer selbständigen Herrschaft Drogos im Ostteil des fränkischen Reiches erbringen. Doch sprechen einige Anhaltspunkte dafür, daß sich die Gegner von Pippins Politik nicht nur um Grifo, sondern auch um Drogo geschart haben könnten. Zwar scheint es Pippin relativ rasch gelungen zu sein, Drogo aus dem Erbe seines Vaters zu verdrängen, doch konnte er ihn bis 753 politisch offenbar nicht vollständig ausschalten. Besonders die rechtlichen Ansprüche der Söhne Karlmanns und natürlich auch Grifos bildeten während des Dynastiewechsels eine Gefahr, gegen die sich der neue König sowohl mit Gewalt als auch mit Propaganda zu wehren hatte.

4.

Zusammenfassung

Durch die Beschäftigung mit dem Herrschaftsanspruch Drogos läßt sich ein differenzierter Einblick in die arnulfingische Machtübernahme gewinnen. Hinter Drogos Vernachlässigung durch die offiziösen Quellen bis in die Zeit Ludwigs des Frommen hinein steht ein Konzept. Mit der Continuatio Fredegarii beginnend, über die Metzer Annalen und die Reichsannalen bis zu Einhard wird der alleinige Herrschaftsanspruch Pippins und seiner Nachkommen verfochten. Deshalb wurde die Bedeutung der anderen Familienmitglieder heruntergespielt oder ganz geleugnet. Daß der Liber pontificalis zum Zwist in der fränkischen Herrscherfamilie schweigt, braucht ebenfalls nicht zu verwundern. Das Papsttum war in die Vorgänge um Drogo einbezogen, Es hatte etliche Vorteile aus dessen Beseitigung und dem Bündnis mit Pippin gehabt. Dies öffentlich zu machen, lag nicht im Interesse des päpstlichen Hofes107.

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Codex Carolinus (wie. Anm. 89) Nr. 7, S. 491; Nr. 10 S. 503. Jarnut (wie Anm. 5) S. 285. Wolfram (wie Anm. 48) S. 173f. Rodenberg (wie Anm. 5) S. 14.

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Der Aufstieg Pippins zum König war nicht das Resultat einer geradlinigen Entwicklung. Als sein Vater 741 starb, war Pippin nicht der einzige Repräsentant der arnulfingischen Familie. Zusammen mit seinem älteren Bruder Karlmann schaltete er zunächst vorübergehend den jüngeren Halbbruder Grifo aus. Nachdem Karlmann das Feld freiwillig geräumt hatte, war Pippins nächster potentieller Gegner in der eigenen Familie dessen Sohn und Erbe Drogo, den man wohl als Hausmeier ansprechen kann. Da dieser und seine Brüder eine Zeitlang auch Pippins Erben waren, ist zunächst von einem guten Verhältnis zwischen Onkel und Neffen auszugehen. Erst als Pippin selbst einen Sohn hatte, war er nicht mehr geneigt, die Rechte Drogos zu respektieren. Pippins Griff nach der Königskrone war daher auch durch die Rivalität mit seinem Neffen motiviert. Erst 753/54 gelang es Pippin, die konkurrierende Linie seiner Familie durch Einweisung des zurückgekehrten Karlmann und seiner Söhne ins Kloster auszuschalten. Damit war die machtpolitische Frage zu seinen Gunsten geklärt, zumal auch Grifo 753 ums Leben gekommen war. Trotz der Beschränkung der Thronfolge durch den Papst auf Pippins eigene Nachkommen besaßen die Ansprüche Drogos und seiner Brüder, die lediglich tonsuriert worden waren, rechtlich noch immer eine ähnliche Qualität wie Pippins eigene. Daher schien es der offiziösen Geschichtsschreibung geraten, die Söhne Karlmanns überhaupt nicht zu erwähnen108, während sie auf die Schwierigkeiten Pippins mit Grifo durchaus eingehen konnte, da dessen Ansprüche mit seinem Tod endgültig erledigt waren. Die Vorstellung von einem christlichen Königtum, das vor allem unter Karl dem Großen verfochten wurde, ließ anscheinend nicht zu, daß seine Amtsinhaber durch List und Verrat – insbesondere an Schutzbefohlenen der eigenen Familie – auf den Thron gekommen waren.

108 Vgl. Brunner (wie Anm. 55) für den Umgang der offiziösen Quellen mit der späteren Opposition.

Die Auseinandersetzung Heinrichs IV. mit den Sachsen. Freiheitskampf oder Adelsrevolte?

Zwischen 1073 und 1075 hatte Heinrich IV. die schwerste Probe seiner noch jungen selbständigen Regierung zu bestehen: den Sachsenaufstand oder Sachsenkrieg, je nach Perspektive des Betrachters.1 Im Sommer 1073 erhoben sich die Sachsen gegen den König, trieben ihn aus dem Land, belagerten seine Burgen und zwangen ihn Anfang 1074, ihre Forderungen weitgehend zu erfüllen. Er musste die von ihm errichteten Burgen schleifen lassen und den Teilnehmern der Erhebung Amnestie gewähren. Nur dank einer unvorhergesehenen Entgleisung seiner Gegner konnte der König das Ruder herumreißen. Als sächsische Bauern die Befestigungen der Harzburg, seiner Lieblingsburg, niederlegten, zerstörten sie auch die Stiftskirche, entweihten ihre Reliquien und auch die Gräber von Heinrichs Sohn und Bruder. Die reichsweite Empörung über dieses Sakrileg konnte der Salier nutzen, um im folgenden Jahr seine Feinde blutig in die Knie zu zwingen. Die Gründe für diese Auseinandersetzung waren nach Ansicht der Forschung die folgenden:2 Die formal bis 1065 reichende Minderjährigkeit Heinrichs IV. bot den geistlichen und weltlichen Fürsten eine gute Gelegenheit, sich Reichsgüter und Reichsrechte anzueignen.3 Heinrich forderte das Verlorene zurück Erstdruck in: Vom Umbruch zur Erneuerung? Das 11. und beginnende 12. Jahrhundert. Positionen der Forschung, hg. von Jörg Jarnut – Matthias Wemhoff (MittelalterStudien 13), München 2006, S. 357–378. 1 Zu den Ereignissen und den Quellen noch immer unverzichtbar: Meyer von Knonau, Gerold: Jahrbücher des Deutschen Reiches unter Heinrich IV. und Heinrich V., Bd. 2, Leipzig 1894, S. 270ff. 2 Boshof, Egon: Die Salier, Stuttgart 42000, S. 199f.; Weinfurter, Stefan: Herrschaft und Reich der Salier. Grundlinien einer Umbruchzeit, Sigmaringen 1991, S. 116ff.; Schubert, Ernst: Geschichte Niedersachsens vom 9. bis zum ausgehenden 15. Jahrhundert, in: Geschichte Niedersachsens, begründet v. Hans Patze, Bd. 2/1: Politik, Verfassung, Wirtschaft vom 9. bis zum ausgehenden 15. Jahrhundert, hg. v. Ernst Schubert (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 36), Hannover 1997, S. 3–904, hier S. 278ff.; Robinson, Ian S.: Henry IV of Germany, 1056–1106, Cambridge 1999, S. 76ff. 3 Vgl. hierzu auch die Skizze von Offergeld, Thilo: Reges pueri. Das Königtum Minderjähriger im frühen Mittelalter (MGH Schriften 50), Hannover 2001, S. 785ff.

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und mehr noch: Er nahm die Politik seines Vaters wieder auf und baute das Krongut, wo immer möglich, im östlichen Sachsen und auch in Thüringen aus. Dabei berief er sich, wie schon seine Vorgänger, auf das Lehnrecht und setzte sich über das althergebrachte sächsische Recht hinweg.4 Weiter ließ Heinrich auf entlegenen Hügeln Burgen errichten, die als Herrschafts- und Verwaltungszentren dienen sollten. Die Besatzungen stammten aber nicht aus Sachsen, sondern zum größten Teil aus Schwaben, was zu ethnisch bedingten Spannungen führte, weil die Einheimischen etwa Dienstleistungen für die Fremden erbringen mussten und diese Fremden auch noch von zweifelhafter Abstammung, ja vielleicht sogar unfreie Ministerialen waren.5 Aber nicht nur seine Helfer, sondern auch der König selbst galten als Landfremde und seine häufigen Aufenthalte im Umland des Harzes, insbesondere in Goslar, als besondere Provokation. So empfanden die Sachsen seine Politik mit ihren gewollten oder auch ungewollten Begleiterscheinungen als Unterdrückung und sahen ihre überkommenen Rechte und ihre althergebrachte Freiheit bedroht. Nach dem Gesagten könnte man also insbesondere dem König eine bewusste Herbeiführung des Konflikts unterstellen. Er trieb eine offensive Politik, die die Sachsen als eine Art Kolonialpolitik empfanden, so dass sie keinen anderen Ausweg sahen, als offen Widerstand zu leisten. Erst dann steuerten auch sie auf eine Konfrontation zu und gingen massiv gegen den König vor. Dennoch ist Vorsicht bei der historischen Urteilsfindung geboten, beruht unser Wissen über die gesamte Auseinandersetzung und ihre Vorgeschichte doch zu einem großen Teil auf der prosächsisch-antiköniglichen Historiographie, allen voran Lampert von Hersfeld und Bruno von Merseburg, während das prokönigliche Carmen de bello Saxonico einen deutlich geringeren Quellenwert besitzt.6 Daher konnte die 4 Vgl. Giese, Wolfgang: Der Stamm der Sachsen und das Reich in ottonischer und salischer Zeit. Studien zum Einfluß des Sachsenstamms auf die politische Geschichte des deutschen Reiches im 10. und 11. Jahrhundert und zu ihrer Stellung im Reichsgefüge mit einem Ausblick auf das 12. und 13. Jahrhundert, Wiesbaden 1979, S. 164ff., unter Verweis auf Droege, Georg: Landrecht und Lehnrecht im hohen Mittelalter, Bonn 1969. 5 Gegen die unfreie Geburt namentlich bekannter Helfer des Königs und den weitergehenden Vorwurf von Zwangsheiraten mit adligen Sächsinnen Zotz, Thomas: Die Formierung der Ministerialität, in: Die Salier und das Reich. Bd. 3: Gesellschaftlicher und ideengeschichtlicher Wandel im Reich der Salier, hg. v. Stefan Weinfurter, Sigmaringen 1991, S. 3–50, hier S. 43f. 6 Lampert: Annales, in: Lamperti monachi Hersfeldensis opera, ed. v. Oswald Holder-Egger (MGH SS rer. Germ. [38]), Hannover 1892; Bruno: De bello Saxonico liber, ed. Hans-Eberhard Lohmann (MGH Deutsches Mittelalter 2), Leipzig 1937, S. 12–123; Carmen de bello Saxonico, ed. v. Oswald Holder-Egger (MGH SS rer. Germ. [17]), Hannover 1889; Vita Heinrici IV. imperatoris, ed. v. Wilhelm Eberhard (MGH SS rer. Germ. [58]), Hannover 1899; zur Einschätzung der Quellen vgl. etwa Vollrath, Hanna: Konfliktwahrnehmung und Konfliktdarstellung in erzählenden Quellen des 11. Jahrhunderts, in: Die Salier und das Reich. Bd. 3 (Anm. 5), S. 279–296; Althoff, Gerd: Pragmatische Geschichtsschreibung und Krisen. I. Zur Funktion von Brunos Buch vom Sachsenkrieg, in: Pragmatische Schriftlichkeit. Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen, hg. v. Hagen Keller u. a., München 1992, S. 95–108;

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Forschung in den letzten Jahren einige der angeblichen Gründe für den Konflikt anzweifeln oder hinterfragen. So waren die widerrechtlichen Verluste an Reichsgut während Heinrichs Minderjährigkeit wohl nicht sehr dramatisch, weshalb sich in den Quellen auch kaum Spuren seiner sogenannten ›Rekuperationspolitik‹ erhalten haben – sieht man von den sehr allgemein gehaltenen Klagen darüber einmal ab.7 Dass er massiv das Lehnrecht eingesetzt habe, ist in den Quellen kaum belegt, weshalb in der Literatur auch mehrheitlich vom Einsatz des neuartigen Inquisitionsbeweises die Rede ist, für den aber auch nur ein einziges und noch dazu mittelbares Zeugnis existiert.8 Betroffen seien hauptsächlich die Bauern gewesen, die freilich vor allem den Pressionen des Adels ausgesetzt waren.9 Auch der Burgenbau des Königs »ist in Sachsen keineswegs singulär«,10 von einer flächendeckenden Bedrohung Ostsachsens konnte keine Rede sein, zumal bis auf zwei alle in Thüringen lokalisiert werden können, sie

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Eggert, Wolfgang: Wie »pragmatisch« ist Brunos Buch vom Sachsenkrieg?, in: DA 51 (1995), S. 543–553; Vogel, Bernhard: Zum Quellenwert des Carmen de bello Saxonico, in: DA 52 (1996), S. 85–133; Schubert: Geschichte Niedersachsens (Anm. 2), S. 268ff. Mit Recht fragt daher Schubert: Geschichte Niedersachsens (Anm. 2), S. 263, nach dem Inhalt dieser ›Rekuperationspolitik‹. Vita Bennonis II. episcopi Osnabrugensis auctore Nortberto abbate Iburgensi, c. 14, ed. v. Harry Bresslau (MGH SS XXX/2), Hannover 1934, S. 869–892, hier S. 879f.; Ulmann, Heinrich: Zum Verständnis der sächsischen Erhebung gegen Heinrich IV., in: Historische Aufsätze. Dem Andenken an Georg Waitz gewidmet, Hannover 1886, S. 119–129, hier S. 122f.; zustimmend etwa Boshof: Salier (Anm. 2), S. 199; Vogel: Quellenwert (Anm. 6), S. 102f.; zurückhaltender : Keller, Hagen: Bischof Benno von Osnabrück, Iburg und die Iburger, in: Osnabrücker Mitteilungen 93 (1988), S. 9–24, hier S. 16f., mit einem interessanten Vergleichsfall aus dem Schwarzwald. In der Tat kann die Quelle auch anders gedeutet werden: Benno von Osnabrück hatte vor seiner Erhebung zum Bischof als königlicher vicedominus in Goslar amtiert, weshalb der folgende Fall als Beispiel für das Vorgehen des Königs im östlichen Sachsen gilt, obwohl nicht er, sondern sein gleichnamiger Vorgänger der beteiligte Bischof war (!), wie Norbert in c. 13, S. 879, ausdrücklich vermerkt. Norbert von Iburg berichtet in seiner Vita Bennonis über einen Besitzstreit, den die beteiligten Bauern gegen den Bischof mittels eines Schwures für sich entscheiden wollten, während der Bischof das Recht der Eidleistung für sich bzw. seinen Vogt reklamierte; hier geht es daher gar nicht um einen angeblich neuartigen Inquisitionsbeweis, sondern um die beim Parteibeweis entscheidende Frage, wer als erstes den Eid leisten durfte; der Vogt tat dies nicht als Zeuge, sondern als Vertreter des Bischofs; im übrigen besaß der König als Prozesspartei schon in fränkischer Zeit erhebliche Beweisvorteile und »brauchte sich nicht der Gefahr formaler Beweismittel (Zeugenschelte, Zweikampf) auszusetzen, sondern konnte Inquisitionszeugen (Geschworene) unter Königsbann bei ihrem Treueid zur Aussage zwingen« (Kaufmann, E.: »Inquisitionsbeweis«, in: HRG, Bd. 2, Berlin 1978, Sp. 376); auch im 11. Jahrhundert war etwa die Königsurkunde ein unscheltbares Beweismittel, und es ist nicht recht einzusehen, warum man unter diesen Umständen den König als Prozesspartei wie einen einfachen Freien behandelt haben soll – selbst in Zeiten seiner Minderjährigkeit, in der er ja formal als rechtlich handlungsfähig galt. Vgl. Rösener, Werner : Bauern in der Salierzeit, in: Die Salier und das Reich, Bd. 3 (Anm. 5), S. 51–73. Schubert: Geschichte Niedersachsens (Anm. 2), S. 281.

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den Sachsen also eigentlich kein Stein des Anstoßes sein konnten.11 Auch dass sie den König als Fremden empfunden hätten, dessen ständige Präsenz ihnen lästig geworden wäre, ist nicht recht überzeugend. Heinrich hatte zwar durchaus eine Vorliebe für das östliche Sachsen und insbesondere Goslar, aber die Passion für diesen Ort hatten zuvor bereits sein Großvater und sein Vater entwickelt.12 Nach Ausweis seines Itinerars war der junge König zudem durchaus in angemessener Form in den traditionellen Zentral- oder Kernlandschaften des Reiches präsent und saß keineswegs faul und untätig in Goslar herum, wie es die Sachsen ihm laut Lampert von Hersfeld unterstellten.13 So zieht sich die Forschung in jüngster Zeit auf die Position zurück, der grundsätzliche Gegensatz zwischen den Sachsen und den von ihnen als landfremd empfundenen salischen Königen sei entscheidend gewesen. Letztlich habe es sich also um einen ethnisch motivierten Konflikt gehandelt, einen Kampf der Sachsen um ihre Freiheit. Vor allem Karl Leyser, aber auch Wolfgang Giese und jüngst Ernst Schubert haben diese Einschätzung nachdrücklich vertreten.14 Leysers Forschungen lassen sich wie folgt zusammenfassen: Zentral für das sächsische Selbstverständnis sei ihre libertas gewesen. Diese Vorstellung habe sich aus einem Geschichtsbewusstsein gespeist, das angeblich bis in die Karolingerzeit zurückreichte. Leyser beginnt seine Indizienkette mit dem Poeta Saxo vom Ende des 9. Jahrhunderts. Der anonyme Dichter behauptet für das Jahr 803 einen ansonsten nicht belegten Friedensschluss zwischen den Sachsen und Karl dem Großen, in dem der Frankenherrscher seinen besiegten Feinden die Freiheit 11 Vgl. Kleinen, Michael: Bischof und Reform. Burchard II. von Halberstadt (1059–1088) und die Klosterreformen (Historische Studien 484), Husum 2004, S. 102. 12 Vgl. Dahlhaus, Joachim: Zu den Anfängen von Pfalz und Stiften in Goslar, in: Die Salier und das Reich. Bd. 2: Die Reichskirche in der Salierzeit, hg. v. Stefan Weinfurter, Sigmaringen 1991, S. 373–428, hier S. 373ff.; Zotz, Thomas: Die Goslarer Pfalz im Umfeld der königlichen Herrschaftssitze in Sachsen. Topographie, Architektur und historische Bedeutung, in: Deutsche Königspfalzen. Beiträge zu ihrer historischen und archäologischen Erforschung. Bd 4: Pfalzen – Reichsgut – Königshöfe, hg. v. Lutz Fenske (Veröffentlichungen des MaxPlanck-Instituts für Geschichte 11/4), Göttingen 1996, S. 248–287; Ehlers, Caspar : Die Anfänge Goslars und das Reich im elften Jahrhundert, in: DA 53 (1997), S. 45–79. 13 Lampert: Annales (Anm. 6), a. 1073, S. 151: […] ut relicta interdum Saxonia, in qua iam a puero residens ocio atque ignavia pene emarcuisset, etiam alias regni sui partes inviseret […]; vgl. noch ibid., a. 1073, S. 154 und a. 1074, S. 178; bemerkenswert ist, dass Lampert selbst über zahlreiche Aufenthalte des Königs außerhalb Sachsens berichtet: vgl. allgemein Kilian, Eugen: Itinerar Kaiser Heinrichs IV., Karlsruhe 1896. 14 Leyser, Karl J.: Von sächsischen Freiheiten zur Freiheit Sachsens. Die Krise des 11. Jahrhunderts, in: Die abendländische Freiheit vom 10. zum 14. Jahrhundert, hg. v. Johannes Fried (Vorträge und Forschungen 39), Sigmaringen 1991, S. 67–83; Giese: Stamm (Anm. 4), S. 149ff.; Ders.: Reichsstrukturprobleme unter den Saliern – der Adel in Ostsachsen, in: Die Salier und das Reich. Bd. 1: Salier, Adel und Reichsverfassung , hg. v. Stefan Weinfurter, Sigmaringen 1991, S. 273–308, hier S. 290ff.; Schubert: Geschichte Niedersachsens (Anm. 2), S. 262ff.

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von allen Abgaben an ihn und seine Nachfolger zugesichert und ihnen zudem gestattet habe, unter seinen Richtern und Legaten ungehindert nach den Gesetzen ihrer patria und der Ehre ihrer Freiheit (honor libertatis) zu leben und den Franken keinen Tribut (census) zu entrichten.15 Leyser verfolgt diesen Gedanken über Widukind von Corvey und Thietmar von Merseburg bis hin zu den Historiographen des Sachsenkrieges, Bruno von Merseburg und Lampert von Hersfeld.16 Allerdings ist es problematisch, anhand sehr allgemein gehaltener Aussagen über zwei Jahrhunderte und diverse politische Brüche hinweg einen unveränderten Freiheitsbegriff zu postulieren – und dies gestützt auf wenige historiographische Quellen, die jeweils in einer spezifischen historischen Situation entstanden sind. Vor allem aber berufen sich weder Bruno noch Lampert auf die genannten älteren Berichte, sondern beschreiben die Freiheitsvorstellungen der Sachsen von 1073 mit den Worten antiker Autoren.17 Nun könnte man darauf verweisen, dass die Sachsen sich 1002, als die Ottonen im engeren Sinne ausgestorben waren, tatsächlich ihre Rechte von deren Nachfolgern aus dem bayerischen Zweig der Liudolfinger und 1024 von den Saliern garantieren ließen, bevor sie ihnen huldigten.18 Aber auch hier ist Vorsicht geboten: Für 1002 berichtet Bischof Thietmar von Merseburg aus dezidiert sächsischer Sicht über diesen Vorgang, der noch dazu in seiner Bischofsstadt stattgefunden hatte, was seinen ausführlichen und reichlich ausgeschmückten Bericht erklärt.19 Für 1024 sind die Verhältnisse gerade umgekehrt, da unser Gewährsmann Wipo kein Freund der Sachsen war und ihre lex wohl gerade deshalb kurz und bündig als crudelissima bezeichnete.20 Ob das Recht der Sachsen wirklich so grausam war, ist durchaus zweifelhaft, da der Vorwurf 15 Poeta Saxo, Annales de gestis Caroli magni imperatoris IV, v. 95–138, ed. v. Paul von Winterfeld (MGH Poet. lat. IV), Berlin 1894, S. 48f.: […] Legatisque suis permissi legibus uti Saxones patriis et libertatis honore / Hoc sunt postremo sociati foedere Francis […]; Leyser : Freiheiten (Anm. 14), S. 69f.; zum angeblichen Frieden von Salz vgl. Wattenbach, Wilhelm/Levison, Wilhelm: Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Vorzeit und Karolinger, 6. Heft: Die Karolinger vom Vertrag von Verdun bis zum Herrschaftsantritt der Herrscher aus dem sächsischen Hause. Das ostfränkische Reich, bearbeitet v. Heinz Löwe, Weimar 1990, S. 865 Anm. 677. 16 Leyser : Freiheiten (Anm. 14), S. 71ff. 17 Vgl. Leyser : Freiheiten (Anm. 14), S. 77ff., 80ff. 18 Giese: Stamm (Anm. 4), S. 26ff., 31ff.; Ders.: Reichsstrukturprobleme (Anm. 14), S. 276; Schubert: Geschichte Niedersachsens (Anm. 2), S. 194ff. 19 Thietmar von Merseburg: Chronicon, V, 16, ed. v. Robert Holtzmann (MGH SS rer. Germ. N.S. 9), Berlin 21955, S. 239; für die ihm geographisch ebenfalls sehr nahestehenden Thüringer berichtet Thietmar : Chronicon, V, 14, S. 236, von vergleichbaren Vorgängen (Wahl des Königs, der im Gegenzug den althergebrachten Schweinezins erlässt), vgl. Werner, Matthias: Die Anfänge des Landesbewußtseins in Thüringen, in: Aspekte thüringisch-hessischer Geschichte, hg. v. Michael Gockel, Marburg 1992, S. 81–137, S. 94f. 20 Wipo: Gesta Chuonradi imperatoris, c. 6, ed. v. Harry Bresslau (MGH SS rer. Germ. [61]), Hannover/Leipzig 1915, S. 29; Leyser : Freiheiten (Anm. 14), S. 75f.

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möglicherweise auf den spätantiken Schriftsteller Salvian zurückging, der schon im 5. Jahrhundert die Sachsen als grausam und roh bezeichnet hatte.21 Eine besondere Stellung der Sachsen kann man mit Hilfe beider Autoren jedenfalls nicht postulieren, haben doch Heinrich II. 1002 und Konrad II. 1024 nicht allein die Sachsen zum Zwecke der Huldigung aufgesucht, sondern auch die übrigen Völker bzw. Provinzen des Reiches.22 Diese Form des Umritts hing nicht zuletzt mit der Tatsache zusammen, dass beide weder die Söhne ihrer Vorgänger waren noch zu deren Lebzeiten gewählt und geweiht worden waren und speziell Heinrich II. noch nicht einmal allgemein anerkannt war.23 Beim Herrschaftsantritt des schon lange vor dem Tod seines Vaters als Thronerben feststehenden Heinrich III. erfahren wir daher auch nichts über spezielle Zusicherungen gegenüber den Sachsen. Man sollte also behutsam mit der Behauptung umgehen, zur Zeit Heinrichs IV. habe es in Sachsen stärker ausgeprägte Freiheitsvorstellungen als anderswo im Reich gegeben, auf die ein König Rücksicht nehmen musste, zumal als Landfremder. Zu konzedieren ist, dass die Salier ihrem Recht nach Franken waren.24 Aber alle salischen Könige waren auch von den Sachsen gewählt worden und hatten von ihnen den Treueid empfangen. Sie waren also Könige der Sachsen so gut wie sie Könige der Alemannen, Bayern, Franken und Lothringer waren. Landfremd waren sie daher auch nicht, vielmehr übernahmen sie das liudolfingische Hausgut und residierten wie ihre Vorgänger einen Teil des Jahres im östlichen Sachsen.25 Das gilt insbesondere für die Zeit der Regentschaft der Kaiserin Agnes bis zum sogenannten Staatsstreich von Kaiserswerth 1062.26 Dass 21 Salvian: Von der Regierung Gottes, in: Griechische und lateinische Quellen zur Frühgeschichte Mitteleuropas bis zum Mitte des 1. Jahrtausends, Bd. 4, hg. v. Joachim Herrmann, Berlin 1992, S. 324 (vgl. auch S. 310), laut Salvian sind die Goten treulos, aber sittenrein, die Alanen sittenlos, aber weniger treulos, die Franken sind verlogen, aber gastfrei, und die Sachsen grausam und roh, aber wegen ihrer Keuschheit zu bewundern; vgl. Springer, Matthias: Die Sachsen, Stuttgart 2004, S. 41f. 22 Vgl. Weinfurter, Stefan: Heinrich II. (1002-1024). Herrscher am Ende der Zeiten, Regensburg 1999, S. 52ff.; Wolfram, Herwig: Konrad II. Kaiser dreier Reiche, München 2000, S. 74ff. 23 Vgl. Schmidt, Roderich: Königsumritt und Huldigung in ottonisch-salischer Zeit, in: VuF 6, Konstanz 1961, S. 97–233, hier S. 114ff. 24 Dies besagt auch die im 12. Jahrhundert aufkommende Bezeichnung der Dynastie, vgl. Schieffer, Rudolf: Der Name der Salier, in: Von Sacerdotium und Regnum. Geistliche und weltliche Gewalt im frühen und hohen Mittelalter. FS für Egon Boshof zum 65. Geburtstag, hg. v. Franz-Reiner Erkens/Hartmut Wolff, Köln/Weimar/Wien 2002, S. 349–360. 25 Für Heinrich III. vgl. Black-Veldtrup, Mechthild: Kaiserin Agnes (1043–1077). Quellenkritische Studien (Münstersche Historische Forschungen 7), Köln 1995, S. 194 mit Anm. 440, die neben anderen Faktoren Heinrichs häufige Aufenthalte in Goslar für die Revolte des Jahres 1057 verantwortlich macht, ohne dass sie dafür einen Beleg anführen könnte. 26 Kilian: Itinerar (Anm. 13), S. 3ff.; zur auf Ausgleich mit dem Adel bedachten Sachsenpolitik der Kaiserin vgl. Black-Veldtrup: Kaiserin Agnes (Anm. 25), S. 202ff.

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die sächsischen Fürsten in ihrer großen Mehrheit dem Verlust der Königswürde für ihre gens nachtrauerten, ist sehr unwahrscheinlich, zumal sowohl Heinrich II. als auch die beiden ersten Salier zwar auch mit Widerständen in Sachsen zu rechnen hatten, ihre Hauptgegner aber in den anderen Regionen des Reiches, vor allem im Südosten und im Westen des Reiches saßen.27 Bezeichnenderweise sollten die Sachsen bei der Wahl des Jahres 1077 auch nicht auf einem sächsischen Kandidaten beharren. Allenfalls in der von Leyser angeführten Güterpolitik der salischen Herrscher könnte man einen langfristigen Grund für die Entfremdung entdecken: Verschenktes Königsgut fiel bei Untreue der Beschenkten und ihrer Nachkommen sowie beim Fehlen direkter Erben an die Herrscher zurück.28 Leyser argumentiert, dies zu akzeptieren sei dem sächsischen Adel unter den sächsischen Liudolfingern leichter gefallen als unter den fränkischen Saliern. Das mag sein, lässt sich aber kaum beweisen. Übrigens fielen selbst während der Regentschaft der Kaiserin Agnes, also in einer Schwächeperiode der Zentralgewalt, solche Güter an den Herrscher zurück, was man wohl als Indiz dafür deuten kann, dass es sich dabei um einen allseits akzeptierten Vorgang handelte. Bei den sächsischen Freiheiten ist also Vorsicht geboten. Selbst die prosächsischen Historiographen waren in diesem Punkt vergleichsweise zurückhaltend. Ihren Berichten zufolge haben sich die Sachsen keineswegs in erster Linie auf ihre überkommenen Freiheitsrechte berufen, sondern vor allem auf das Unrecht des Königs. Laut Bruno sprach Otto von Northeim auf der entscheidenden Versammlung in Hötensleben calamitates et contumeliae an, Unrecht und Schmach, die der König jedem einzelnen von ihnen zugefügt habe und in Zukunft noch habe zufügen wollen.29 Dann habe der Herzog die von Heinrich errichteten Burgen und die abscheulichen Verbrechen angeführt, die ihre Besatzungen verübt hätten. Weiter habe er das Gespenst drohender Knechtschaft an die Wand gemalt und den Undank des Königs betont, den sie doch während seiner Kindheit in ihrem Land großgezogen hätten. Die überkommenen sächsischen Freiheiten sind ein Argument unter vielen, und die Zeit größter sächsischer Freiheit unter den Ottonen spielt dabei überhaupt keine Rolle. Unter den vielen Schmähungen gegen Heinrich fehlt zudem der Vorwurf, er sei ein Land27 Vgl. Weinfurter: Heinrich II. (Anm. 22), S. 86ff.; Wolfram: Konrad II. (Anm. 22), S. 91ff., 195ff.; Boshof, Egon: Das Reich in der Krise. Überlegungen zum Regierungsausgang Heinrichs III., in: HZ 228 (1979), S. 265–287. 28 Leyser, Karl J.: The Crisis of Medieval Germany, in: Proceedings of the British Academy 69 (1983), S. 409–443; vgl. Vogel: Quellenwert (Anm. 8), S. 104f.; Robinson: Henry IV (Anm. 2), S. 87. 29 Bruno: De bello Saxonico (Anm. 6), c. 25, S. 28f.: Calamitates et contumeliae, quas singillatim vobis omnibus rex noster iam per multa tempora fecit, magnae sunt et intolerabiles; sed quas adhuc, si Deus omnipotens permittet, facere disponit, multo maiores sunt et graviores.

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fremder und seine Untaten seien daher besonders schlimm. Bezeichnend ist der Eid, der laut Bruno am Ende der Versammlung geschworen wurde, mit dem die Bischöfe versprachen, die Freiheit ihrer Kirchen und die Freiheit von ganz Sachsen zu verteidigen, während die Laien gelobten, ihre Freiheit zu behaupten und niemandem zu gestatten, ihr Land auszurauben.30 Leyser selbst zieht folgendes Fazit: »Die Scheidewand der Begriffe ist frappant. Die Bischöfe sprachen von der Freiheit ganz Sachsens, die Laien nur von ihrer eigenen«.31 Im Anschluß an die Rede Ottos von Northeim führten laut Bruno einzelne Sachsen konkret Klage gegen den König.32 Erzbischof Werner von Magdeburg habe begonnen und berichtet, der König sei zweimal mordend und raubend in seine Stadt eingefallen – nach Leyser ein fadenscheiniger Vorwurf, da der König kurz zuvor Magdeburg besucht und dabei vermutlich nur die üblichen Servitien eingefordert hatte.33 Bischof Burchard von Halberstadt habe den widerrechtlichen Entzug eines Gutes beklagt, Otto von Northeim den Verlust der bayerischen Herzogswürde, Markgraf Dedi den Verlust von Gütern, Graf Hermann aus der Familie der Billunger die Besetzung Lüneburgs und Pfalzgraf Friedrich den Entzug eines Lehens der Abtei Hersfeld. Es seien Friedrich von Berg und Wilhelm gefolgt, dem ersten wollte der König angeblich die Freiheit, dem zweiten sein Erbe nehmen, was die Versammelten mehr als alles andere erregt habe, weil sie hierin die Gefahren erkannt hätten, denen sie alle ausgeliefert gewesen seien. Dann folgten die Übrigen mit ihren Beschwerden. Insgesamt scheinen die vorgebrachten Klagen nicht sehr schwerwiegend gewesen zu sein und sind eher als Ausdruck von Befürchtungen zu verstehen,34 die noch dazu von Bruno im Rückblick formuliert wurden. Ein Vergleich mit anderen Quellen ergibt allein für die Vorhaltungen Ottos von Northeim, Dedis und Hermanns einen realen Hintergrund – nämlich handfeste Gegensätze zwischen den Genannten und dem König.35 So ist Lutz Fenske sicherlich zuzustimmen, der die Rede Ottos von Northeim in Hötensleben als ein Werben der sächsischen Fürsten um Unterstützung durch kleinere Adlige und Freie interpretiert, um dem längst beschlossenen Aufstand eine breitere Basis zu geben.36 30 Bruno: De bello Saxonico (Anm. 6), c. 26, S. 30f.: Omnes ergo, qui ibi convenerant – convenerat autem maximus exercitus –, singillatim iuraverunt, episcopi quidem, ut, quantum salvo ordine suo possent, totis viribus ecclesiarum suarum necnon et totius Saxoniae libertatem contra omnes homines defenderent, laici vero, ut, quamdiu viverent, libertatem suam non amitterent terramque suam nullum deinceps violenter praedari permitterent. 31 Leyser : Freiheiten (Anm. 14), S. 79. 32 Bruno: De bello Saxonico (Anm. 6), c. 26, S. 30. 33 Leyser : Freiheiten (Anm. 14), S. 78. 34 Kleinen: Bischof und Reform (Anm. 11), S. 130. 35 Vgl. unten, nach Anm. 61. 36 Fenske, Lutz: Adelsopposition und kirchliche Reformbewegung im östlichen Sachsen (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 47), Göttingen 1977, S. 57f.

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Auch bei Lampert von Hersfeld findet man keine allzu intensive Beschwörung altsächsischer Freiheiten. Wie Bruno berichtet er von den Klagen der Sachsen über den Burgenbau des Königs und die Untaten ihrer Garnisonen, kommt dann aber vor allem auf Heinrichs Lebenswandel zu sprechen, seine Faulheit und seine mangelnde Bereitschaft, auf den Rat der Fürsten zu hören.37 Immerhin spricht Lampert auch von der von den Vätern ererbten Freiheit und von der libertas patriae.38 Bezeichnenderweise ist in diesem Zusammenhang die Rede von den Gesetzen – nicht etwa dem sächsischen Recht –, die vor dem König geschützt werden müssten.39 Von daher muss offen bleiben, ob hier von einer spezifisch sächsischen Freiheit die Rede war oder von einer in ethnischer Hinsicht unspezifischen Freiheit, wie dies bei den Forderungen der Sachsen an den König der Fall war : Ginge er auf ihre Anliegen ein, so wollten sie ihm in der Weise dienen, zu der freie, in einem freien Reich geborene Menschen verpflichtet wären.40 Weiter würden sie ihren Treueid halten, falls er zur Erbauung, nicht zur Zertrümmerung der Kirchen König sein wolle, wenn er gerecht, gesetzmäßig und entsprechend der Sitte der Vorfahren regiere, wenn er jedem seinen Stand, seine Würde und alle seine Gesetze unangetastet lasse.41 Zwar ist hier einmal von der Sitte der Vorfahren die Rede, aber gemeint sind wohl die Vorfahren des Königs und nicht die der Sachsen. Unter den Gesetzen war sicherlich auch das sächsische gemeint, aber eben nicht in erster Linie oder gar ausschließlich. Lamperts Berichten über den sächsischen Standpunkt fehlt also ebenfalls die spezifisch sächsische Argumentation und insbesondere der Hinweis, die Herrschaft des Saliers sei als die eines Landfremden empfunden worden. Fremd waren seine Burgbesatzungen, nicht aber der König selbst. Beide Autoren hoben vielmehr auf die fehlende Integrität des Königs ab, die mit allerlei Vorwürfen etwa über seine sexuellen Ausschweifungen angezweifelt 37 Lampert: Annales (Anm. 6), a. 1073, S. 151f. 38 Lampert: Annales (Anm. 6), a. 1073, S. 148, 150. 39 Lampert: Annales (Anm. 6), a. 1073, S. 150: […] ad asserendam libertatem patriae legesque tuendas […]. 40 Lampert: Annales (Anm. 6), a. 1073, S. 152: Si ita faceret, se promptissimo animo ei sicut hactenus servituros, eo tamen modo, quo ingenuos homines atque in libero imperio natos regi servire oporteret; zur Wendung in libero imperio natos vgl. Leyser : Freiheiten (Anm. 14), S. 80f. 41 Lampert: Annales (Anm. 6), a. 1073, S. 152: Sacramento se ei fidem dixisse, sed si ad aedificationem, non ad destructionem aecclesiae Dei rex esse vellet; si iuste, si legittime, si more maiorum rebus moderaretur; si suum cuique ordinem, suam dignitatem, suas leges tutas inviolatasque manere pateretur ; in der Übersetzung von Schmidt (Lampert von Hersfeld, Annalen, übersetzt v. Adolf Schmidt, erläutert v. Wolfgang Dietrich Fritz [Ausgewählte Quellen zur Deutschen Geschichte des Mittelalters 13], Darmstadt 1973) wird die Wendung si iuste, si legittime, si more maiorum übersetzt mit »nach dem Recht, nach dem Gesetz nach der Sitte der Vorfahren« und damit der sächsische Duktus der Ausführungen gegenüber dem Original erheblich verstärkt.

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wurde.42 Weiter ging es ihnen um konkrete Aktionen zu Lasten von ganz bestimmten Personen, die im östlichen Sachsen beheimatet waren, nicht um einen Angriff auf die Sachsen als Ganzes. Allenfalls die Rhetorik der Protagonisten, vielleicht aber auch nur die der Historiographen, malte diese Gefahr an die Wand. Gleiches gilt für die jüngst formulierte Feststellung, Heinrich habe sich nicht an allgemein gültige Spielregeln im Umgang mit den sächsischen Fürsten, insbesondere bei der Austragung von Konflikten, gehalten.43 Es sind die prosächsischen Geschichtsschreiber, die uns dieses Bild vermitteln,44 und so drängt sich der Verdacht auf, dass mit diesem implizit formulierten Vorwurf der Widerstand gegen den Salier gerechtfertigt werden sollte. Schließlich verfassten Bruno und Lampert ihre Werke zu einem Zeitpunkt, als vor allem die Sachsen sich von Heinrich losgesagt und mit dem Schwaben Rudolf von Rheinfelden einen neuen König gewählt hatten.45 Als die beiden Historiographen ihre Berichte und Gedanken zu Pergament brachten, hatte sich der Konflikt mit dem Salier längst zu einem Kampf ausgewachsen, bei dem ihres Eindrucks nach tatsächlich der Bestand ihres Volkes auf dem Spiel stand und daher der Gegenseite ohne jede Hemmung alles erdenklich Böse unterstellt wurde. Im Jahr 1073, in dem die Sachsen sich erstmals erhoben, war es ganz sicher 42 Zu diesen Vorwürfen vgl. Schütte, Bernd: »Multi de illo multa referunt«. Zum Lebenswandel Heinrichs IV., in: Arbor amoena comes. 25 Jahre Mittelateinisches Seminar in Bonn, hg. v. Ewald Könsgen, Stuttgart 1990, S. 143–150; Struve, Tilman: War Heinrich IV. ein Wüstling? Szenen einer Ehe am salischen Hof, in: Scientia veritatis. FS für Hubert Mordek zum 65. Geburtstag, hg. v. Oliver Münsch/Thomas Zotz, Ostfildern 2004, S. 273–288. 43 Suchan, Monika: Königsherrschaft im Streit. Konfliktaustragung in der Regierungszeit Heinrichs IV. (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 42), Stuttgart 1997, S. 41ff. 44 Einzige Ausnahme sind die Annales Altahenses maiores, a. 1073, ed. v. Edmund von Oefele (MGH SS rer. Germ. [4]), Hannover 1891, S. 85, die gemeinhin als neutral oder proköniglich eingeschätzt werden, vgl. Wattenbach, Wilhelm/Holtzmann, Robert: Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Die Zeit der Sachsen und Salier, 2. Teil: Das Zeitalter des Investiturstreits (1050–1125), Neuausgabe, besorgt von Franz-Josef Schmale, Köln/Graz 1967, S. 545ff.; eine zunehmende Orientierung an der Kirchenreform stellt hingegen Hoffmann, Ulrich: König, Adel und Reich im Urteil fränkischer und deutscher Historiker des 9. bis 11. Jahrhunderts, Diss. phil. Freiburg i. Br., Bamberg 1968, S. 101ff., fest; die Altaicher Annalen berichten jedenfalls zu 1073, der König habe die sächsischen Fürsten, die sich über die Zustände in ihrem Land beklagen wollten, kaum vorgelassen und sine honore et certo responso entlassen; der Annalist scheint seine Informationen hier aber eher von prosächsischen Kreisen erhalten zu haben; so übergeht er wie Bruno: De bello Saxonico (Anm. 6), c. 23, S. 27, den anstehenden Kriegszug gegen Polen; vor allem aber bestehen auffällige Parallelen zu den Annalen Lamperts, was auch der referierte Jahresbericht zu 1073 zeigt, sowie Beziehungen zwischen Altaich und Hersfeld, die diese erklären können, vgl. Zey, Claudia: »Scheidung« zu Recht? Die Trennungsabsicht Heinrichs IV. im Jahr 1069, in: Von Sachsen bis Jerusalem. Menschen und Institutionen im Wandel der Zeit. FS für Wolfgang Giese zum 65. Geburtstag, hg. von Hubertus Seibert/Gertrud Thoma, München 2004, S. 163–183, hier S. 166f. 45 Diesen Aspekt läßt Schubert: Geschichte Niedersachsens (Anm. 2), S. 271, bei seinen Überlegungen zum Quellenwert von Lamperts Annalen außer Acht.

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noch nicht so dramatisch. Dennoch waren auch damals tiefgreifende Gegensätze zu konstatieren, die allerdings eher in der jüngsten Vergangenheit wurzelten und nicht in einem grundsätzlichen Gegensatz von königlicher Herrschaft und sächsischer Freiheit. So sind sich Bruno und der Autor des Carmen de bello Saxonico einig darüber, dass die Minderjährigkeit des Königs eine wichtige Ursache des Krieges war.46 Dabei wiederholen sie keineswegs eine oft zitierte Stelle des Alten Testaments über die Gefahren, die ein Kindkönig mit sich bringt,47 sondern führen konkrete Missstände an. Setzen wir daher im Jahr 1065 an. Ende März wurde die Schwertleite des 15-jährigen Königs feierlich begangen, der freilich keine rechtliche Bedeutung zukam.48 Seitdem lässt sich eine langsam wachsende Selbständigkeit feststellen, die sich zunächst allerdings darin äußerte, dass der junge König verstärkt Erzbischof Adalbert von Bremen als Berater heranzog.49 Die übrigen geistlichen und weltlichen Fürsten, die seit dem Staatsstreich von Kaiserswerth 1062 führend an der Regierung des Reiches beteiligt gewesen waren, mussten hinter diesem zurücktreten. Adalbert scheint das persönliche Vertrauen des jungen Königs gewonnen zu haben, was sich in reichen Schenkungen niederschlug, die aber durchaus auch im Interesse des Reiches lagen.50 Die Fürsten mit den Erzbischöfen Anno von Köln und Siegfried von Mainz an der Spitze sahen dem nicht lange zu und zwangen Heinrich IV. im Januar 1066, den Erzbischof zu entlassen,51 nachdem er laut Lampert von Hersfeld vor die Alternative gestellt worden sein soll, entweder Adalbert zu entlassen oder selbst abzudanken.52 Die Stimmung war derart aggressiv, dass 46 Bruno: De bello Saxonico (Anm. 6), c. 1, S. 13f.; Carmen de bello Saxonico (Anm. 6), I, v. 11ff., S. 1f.; vgl. Schubert: Geschichte Niedersachsens (Anm. 2), S. 270. 47 »Wehe dir, Land, dessen König ein Knabe ist und dessen Fürsten schon in der Frühe tafeln« (Kohelet 10, 16); vgl. allgemein Kölzer, Theo: Das Königtum Minderjähriger im fränkischdeutschen Reich. Eine Skizze, in: HZ 251, 1990, S. 291–323; Offergeld: Reges pueri (Anm. 3); Vogtherr, Thomas: ›Weh dir, Land, dessen König ein Kind ist.‹ Minderjährige Könige um 1200 im europäischen Vergleich, in: FMASt 37 (2003), S. 291–314. 48 Vgl. Offergeld: Reges pueri (Anm. 3), S. 787f. mit Anm. 8. 49 Vgl. Robinson: Henry IV (Anm. 2), S. 51ff. 50 Vgl. Berges, Wilhelm: Zur Geschichte des Werla-Goslaer Reichsbezirks vom neunten bis zum elften Jahrhundert, in: Deutsche Königspfalzen. Beiträge zu ihrer historischen und archäologischen Erforschung, Bd. 1 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 11/1), Göttingen 1963, S. 113–157, hier S. 154f.; Fleckenstein, Josef: Hofkapelle und Reichsepiskopat unter Heinrich IV., in: Investiturstreit und Reichsverfassung, hg. v. Josef Fleckenstein (VuF 27), Sigmaringen 1973, S. 117–140, hier S. 123; Fenske: Adelsopposition (Anm. 36), S. 24ff.; Johanek, Peter : Die Erzbischöfe von Hamburg-Bremen und ihre Kirche im Reich der Salierzeit, in: Die Salier und das Reich (Anm. 12), S. 79–112, hier S. 101f. 51 Vgl. Robinson: Henry IV (Anm. 2), S. 59f.; Jenal, Georg: Erzbischof Anno II. von Köln (1056–1075) und sein politisches Werk, 2 Bde. (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 8/1–2), Stuttgart 1974/75, S. 303ff., mit einer eingehenden Analyse der Quellen. 52 Lampert: Annales (Anm. 6), a. 1066, S. 102.

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Adalbert nur deshalb persönlich unbehelligt blieb, weil der König sich schützend vor ihn stellte und ihm auch eine Bedeckung für seine Rückreise nach Bremen mitgab.53 Aber auch dort war er vor bewaffneten Nachstellungen54 nicht sicher und musste schließlich seine Feinde Magnus Billung, den Sohn Herzog Ordulfs von Sachsen, und Markgraf Udo von Stade mit zwei Dritteln des Bremer Kirchenguts belehnen.55 An die Stelle Adalberts als des maßgeblichen Ratgebers des Königs traten seine Gegner, die nun ihrerseits von königlichen Gunsterweisen profitieren konnten. Nach Ian Robinson endete diese Phase der Großzügigkeit im Jahr 1069, und Heinrich IV. begann mit seiner sogenannten Rekuperationspolitik.56 Vielleicht ist es kein Zufall, dass Adalbert von Bremen spätestens seit diesem Jahr wieder an Einfluss gewann.57 Überhaupt hatte er den Kontakt zum König niemals ganz verloren. Schon während der gewaltsamen Auseinandersetzungen mit Magnus Billung unmittelbar nach seinem Sturz 1066 hatte er sich auf sein Gut Lochtum bei Goslar und damit wohl in des Königs Schutz zurückgezogen; außerdem vertraute er seine ihm nach dem Abkommen mit Magnus und Udo von Stade verbliebenen Güter dem Grafen Eberhard und anderen Vertrauten des Königs an.58 Adalbert dürfte den König in dessen Bemühungen bestärkt haben, seine Feinde zu entmachten und verlorene Entscheidungshoheit zurückzugewinnen. Eine erste Probe dafür mag der Versuch gewesen zu sein, eine Trennung von seiner Gemahlin Bertha zu erreichen, bei dem Heinrich freilich nicht von Adalbert, sondern von Erzbischof Siegfried von Mainz beraten wurde und dies in äußerst unkluger Weise. Kläglich scheiterten daher Heinrichs Bestrebungen am Widerstand des päpstlichen Legaten Petrus Damiani.59 Der König hatte sich mit 53 Lampert: Annales (Anm. 6), a. 1066, S. 102. 54 Adam von Bremen, Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum, ed. Bernhard Schmeidler (MGH SS rer. Germ. [2]), Hannover 1917, III, 48, S. 191. 55 Adam von Bremen: Gesta (Anm. 54), III, 49, S. 192; zu den Billungern allgemein vgl. die unten, Anm. 102, genannte Literatur ; zu ihrer Darstellung bei Adam von Bremen Schubert: Geschichte Niedersachsens (Anm. 2), S. 222ff.; Hartmann, Florian: Konstruierte Konflikte. Die sächsischen Herzöge in der Kirchengeschichte Adams von Bremen, in: Geschichtsbilder. Konstruktion – Reflexion – Transformation, hg. v. Christian Klein u. a. (Europäische Geschichtsdarstellungen 7), Köln/Weimar 2005; zu den Grafen von Stade vgl. Hucke, Richard G.: Die Grafen von Stade 900–1144. Genealogie, politische Stellung, Comitat und Allodialbesitz der sächsischen Udonen (Einzelschriften des Stader Geschichts- und Heimatvereins 8), Stade 1956. 56 Robinson: Henry IV (Anm. 2), S. 85. 57 Regesten der Erzbischöfe von Bremen, ed. v. Otto Heinrich May, Bd. 1: 787–1306 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hannover, Oldenburg, Braunschweig, Schaumburg-Lippe und Bremen 11), Hannover 1937, Nr. 326. 58 Adam von Bremen: Gesta (Anm. 54), III, 49, S. 192; vgl. Johanek: Erzbischöfe (Anm. 50), S. 102. 59 Vgl. Bühler, Arnold: Kaiser Heinrich IV. und Bertha von Turin – Eine schwierige Ehe im Spiegel der Urkunden, in: AKG 83 (2001), S. 37–61; Borgolte, Michael: Faction. Eine Er-

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diesem Vorstoß persönlich unmöglich gemacht und seinen Feinden die Gelegenheit gegeben, seinen Lebenswandel zum Gegenstand ihrer Propaganda zu machen.60 Zumindest Bruno machte bezeichnenderweise Adalbert für Heinrichs angebliche Ausschweifungen mitverantwortlich: Er habe ihn gelehrt, ›Fac omnia, quae placent animae tuae […]‹,61 und so dessen lasterhaften Verhalten Vorschub geleistet, das seinerseits den Sachsen als Begründung für ihren Widerstand gegen den König gedient hatte. Heinrich verfolgte in dieser Zeit aber nicht nur das Ziel, seine Ehe annullieren zu lassen, sondern er trat auch adligen Herrschaftsansprüchen im östlichen Sachsen entgegen. Dedi, Markgraf der Niederlausitz, hatte Adela, die Witwe des 1067 ohne Erben gestorbenen Markgrafen Otto von Meißen geheiratet und bemühte sich mit wenig Erfolg, dessen Lehen von verschiedenen Herren nun selbst zu erhalten.62 Er beschuldigte den König, dies hintertrieben zu haben und rebellierte im Frühjahr oder Sommer 1069 zusammen mit seinem Schwiegersohn Adalbert von Ballenstedt.63 Zunächst bemühte er sich um Unterstützung bei den übrigen Thüringern. Die Konstellation schien günstig, denn im Zehntstreit zwischen den Thüringern und dem Mainzer Erzstuhl unterstützte Heinrich Erzbischof Siegfried.64 Doch die Thüringer ließen sich nicht darauf ein und boten dem König statt dessen ihre Hilfe gegen Dedi an, falls er ihnen in der Auseinandersetzung um den Zehnten beistehen würde. Der König ging darauf ein und ging noch im Sommer 1069 mit großer Kriegsmacht gegen den Markgrafen vor, eroberte dessen Burgen Beichlingen und Burgscheidungen und zwang ihn zur

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zählung vom salischen Königtum, in: Von Sacerdotium und Regnum (Anm. 24), S. 381–404; Zey : »Scheidung« (Anm. 44). Struve: Wüstling (Anm. 42), S. 282f. Bruno: De bello Saxonico (Anm. 6), c. 5, S. 16; vgl. Struve, Tilman: Die Wende des 11. Jahrhunderts. Symptome eines Epochenwandels im Spiegel der Geschichtsschreibung, in: HJb 112 (1992), S. 324–365, hier S. 326. Vgl. Robinson: Henry IV (Anm. 2), S. 87, dessen Annahme allerdings nicht zutrifft, dieser Fall sei ein Beispiel für die salische Politik, Güter und Rechte beim Fehlen eines direkten Erben einzuziehen, da Dedi nicht einmal ein Seitenverwandter war, sondern seine Ansprüche lediglich mit seiner Heirat begründen konnte. Hierzu und zum folgenden vgl. Fenske: Adelsopposition (Anm. 36), S. 34ff.; Robinson: Henry IV (Anm. 2), S. 64f. Vgl. Werner : Anfänge (Anm. 19), S. 101f.; Dedi beanspruchte u. a. auch Mainzer Lehen, vgl. Robinson: Henry IV (Anm. 2), S. 65, der weiter annimmt, als Gegenleistung habe der Mainzer Erzbischof ein Entgegenkommen des Markgrafen im Zehntstreit gefordert; zu diesem vgl. Rudolph, Rainer : Erzbischof Siegfried von Mainz (1060–1084). Ein Beitrag zur Geschichte der Mainzer Erzbischöfe im Investiturstreit, Diss. phil Frankfurt a. M. 1970, S. 36ff.; Patze, Hans: Politische Geschichte im hohen und späten Mittelalter, in: Geschichte Thüringens, hg. von Hans Patze/Walter Schlesinger, Bd. II,1 (Mitteldeutsche Forschungen 48/II,1), Köln 1974, S. 1–214, hier S. 14.

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Aufgabe.65 Dedi wurde eine Zeitlang in Haft gehalten und nur gegen einen großen Teil seiner Güter und Einkünfte wieder freigelassen. Die Stimmung in Sachsen war bereits durch diese erste Auseinandersetzung sehr aufgeheizt. Mord und bewaffnete Zusammenstöße waren die Folge. Dedi II., der Sohn des gleichnamigen Markgrafen, hatte den König gegen den eigenen Vater unterstützt und damit dessen Gunst gewonnen. Schon bald wurde er ermordet; Auftraggeberin war angeblich seine Stiefmutter.66 War der Tod eines Gefolgsmannes, der sich entgegen familiärer Bindungen für ihn entschieden hatte, bereits ein schwerer Schlag für den König, so zeigten sich bald auch Probleme mit einem wichtigen sächsischen Bischof bzw. dessen Gefolgsleuten. Denn als Heinrich IV. das Osterfest des Jahres 1070 in Hildesheim feierte, kam es zum Streit zwischen den Leuten des Königs und denen des Bischofs, von denen viele getötet und andere auf Befehl des Königs in Ketten gelegt wurden.67 Hildesheim war nicht irgendein Bistum, vielmehr lag die königliche Residenz Goslar in dieser Diözese, und noch ein Jahr zuvor hatte der König Bischof Hezilo reich bedacht.68 Die Stimmung in dieser Region hatte sich also wegen der Auseinandersetzung mit Dedi nicht günstig für den Salier entwickelt. Dazu kam nun der Konflikt mit Otto von Northeim, einem der angesehensten Fürsten in Sachsen und seit 1061 Herzog von Bayern, der auch in der vormundschaftlichen Regierung seit 1062 eine wichtige Rolle gespielt hatte.69 Im Jahr 1070 trat ein gewisser Egino, ein Vasall Ottos, auf und behauptete, sein Herr habe ihm den Auftrag erteilt, den König zu ermorden.70 Als Beweis zeigte er ein Schwert vor, das er speziell zu diesem Zweck von Otto erhalten haben wollte.71 Die Hintergründe sind jedoch unklar. Während den Altaicher Annalen zufolge 65 Lampert: Annales (Anm. 6), a. 1069, S. 108; Lampert erweckt den Eindruck, dass der König die Thüringer nur hingehalten habe, dann aber doch zugunsten des Erzbischofs entschied: […] sed ne non reddito promisso archiepiscopum offenderet; zur zeitlichen Einordnung des Feldzuges vgl. Meyer von Knonau, Jahrbücher (Anm. 1), Bd. 1, Leipzig 1890, S. 620 Anm. 30. 66 Lampert: Annales (Anm. 6), a. 1069, S. 108f.: Quis necis eius auctor fuerit, non satis constat, quamquam dolo novercae interfectum vulgi sermonibus passim iactaretur. 67 Lampert: Annales (Anm. 6), a. 1070, S. 112: Ibi inter milites regis et milites episcopi sedicio facta est. Sed milites regis in congressione superiores facti plerosque ex militibus episcopi peremerunt captosque sedicionis auctores ex edicto regis in vincula coniecerunt. 68 Die Urkunden Heinrichs IV., 3 Teile, ed. v. Dietrich von Gladiss/Alfred Gawlik (MGH DDVI), Berlin/Hannover 1941–1978, Nr. 218f. 69 Zu ihm vgl. Becher, Matthias: »Otto von Northeim«, in: NDB, Bd. 19 (1999), S. 671. 70 Annales Altahenses maiores (Anm. 44), a. 1070, S. 79; Lampert: Annales (Anm. 6), a. 1070, S. 113. 71 Annales Altahenses maiores (Anm. 44), a. 1069, S. 77: […] quidam, Egino nomine, postea manifestavit, qui huic consilio eadem nocte interfuit, quique de manu ducis gladium se accepisse affirmabat, cum quo interfectorem regis se fore ipsi promiserat; Lampert: Annales (Anm. 6), a. 1070, S. 113: […] in argumentum fidei gladium ostentabat, quem sibi ab eo in hos tam sceleratos nefariosque usus datum asserebat.

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Egino seine Anklagen gegen den Herzog aus eigenem Antrieb vorbrachte und damit den König, der bis dahin Gerüchten über die umstürzlerischen Pläne des Herzogs wenigstens dem Anschein nach keinen Glauben geschenkt hatte, von dessen Schuld überzeugte, wurde er nach Lampert von Hersfeld von Neidern Ottos dazu angestiftet.72 Die Sachsen waren laut Bruno und der von Lampert wiedergegebenen Forderungen an den König später sogar der Auffassung, der König selbst sei der eigentliche Urheber dieser Vorwürfe gegen den Herzog von Bayern gewesen.73 Die Forschung denkt in Anlehnung an Lampert mehrheitlich an eine Intrige von Beratern des Königs, um den damals wohl einflussreichsten Laienfürsten zu stürzen. Freilich ist der Geschichtsschreiber parteiisch, auch wenn er den König zunächst eher als Reagierenden schildert. Die Altaicher Annalen gelten auf der anderen Seite als proköniglich und insbesondere als gegen Otto von Northeim eingestellt, da dieser sich die Abtei angeeignet hatte.74 Wenigstens die salierfreundliche Einstellung der Annalen ist längst nicht so ausgemacht, wie vielfach angenommen, zumal in ihnen nicht nur einmal durchaus auch kritische Töne über den König zu vernehmen sind.75 Immerhin ordnete ihr Verfasser das Geschehen zum richtigen Jahr ein und gibt eine derart lebendige und detailreiche Schilderung des Geschehens,76 dass man an eine reine Erfindung kaum zu glauben vermag. Ihm zufolge herrschte auch nach der Vereitelung des Mordanschlags eine antikönigliche Stimmung vor. Zwölf fränkische und sächsische Fürsten hätten sich gegen Heinrich verschworen und verabredet, zwei von ihnen, Markgraf Dedi und Graf Adalbert von Ballenstedt, sollten rebellieren und die anderen den Ausgang des Geschehens abwarten; nur der rasche militärische Erfolg des Königs habe eine Ausweitung des Aufstands vereitelt. Die beiden hätten auch die Namen ihrer Mitverschworenen genannt, der König habe 72 Annales Altahenses maiores (Anm. 44), a. 1069, S. 79: Otto autem dux nullo modo quiescere patiebatur, sed occulta consilia semper contra regem machinabatur. Et cum iam hoc pene omnibus esset in ore, rex tamen dissimulabat se credere, donec Egino praedictus regem adiit et rem omnem, cuius ipse optime conscius fuerat, manifestavit; Lampert: Annales (Anm. 6), a. 1070, S. 113: Sed, sicut semper gloriam sequi solet invidia, invidentes ei plerique homines nequam, qui maliciae suae potentiam eius atque inmoderatam gloriam obstare querebantur, sollicite oportunitatem ad opprimendum eum querebant […] Qua accusatione vulgata, hi, quos ratione communis commodi aliquando offenderat, omnes infensi infestique aderant et iracundiam regis adversus eum inflammare summa vi, summa ope nitebantur. 73 Bruno: De Bello Saxonico (Anm. 6), c. 19, S. 25: Ottonem denique, virum prudentum et fortem, qui natus Saxonia dux erat in Bawaria, omni calliditate deponere quaerebat […]; Lampert: Annales (Anm. 6), a. 1074, S. 178: […] ut duci Ottoni, ad quem extinguendum falsa criminatione et pessimo nefarii hominis artificio impudenter abusus sit, ducatum Baioariae reddat […]. 74 Annales Altahenses maiores (Anm. 44), a. 1065, S. 71 und a. 1071, S. 81; vgl. Meyer von Knonau, Jahrbücher (Anm. 1), S. 13f. Anm. 25. 75 Vgl. oben, Anm. 44. 76 Annales Altahenses maiores (Anm. 44), a. 1069, S. 76f.; vgl. unten, nach Anm. 82.

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aber wegen ihrer großen Zahl nicht gewagt, gegen sie vorzugehen, was der Historiograph als unvernünftig tadelt.77 Berichtet er auch nur annähernd korrekt, so existiert eine Verbindung zwischen dem Aufstand Dedis und dem Ottos von Northeim; zudem wäre die Bereitschaft einiger Fürsten zur Rebellion zu einem Zeitpunkt bereits recht groß gewesen, als in den Quellen von seinen Burgen noch lange nicht die Rede war. Man kann über ihre Gründe nur spekulieren, aber vermutlich war es die wachsende Selbständigkeit des Königs, die diesen Fürsten nicht behagte. Was auch immer im einzelnen geschehen ist, im Juni 1070 konfrontierte der König den Herzog von Bayern auf einem Hoftag in Mainz mit dem Mordvorwurf. Otto stritt ab und wurde für den 1. August nach Goslar vorgeladen, um seine Unschuld durch einen Zweikampf mit seinem Ankläger zu beweisen. Nach Lampert hielten die Fürsten dieses Vorgehen des Königs wegen des Standesunterschieds der beiden Protagonisten für unbillig.78 Am festgesetzten Tag erschien Otto mit zahlreichen Bewaffneten vor Goslar, forderte aber freies Geleit, um sich vor den Fürsten rechtfertigen zu können. Der König beharrte indes auf dem Zweikampf. Da Otto fernblieb, ließ er ihn durch die sächsischen Fürsten wegen Hochverrats zum Tode verurteilen.79 Sogleich überzogen die Freunde des Königs, schließlich auch dieser selbst die Güter des Herzogs mit Feuer und Schwert. Erst spät griff der Herzog dann selbst zu den Waffen und verheerte verschiedene königliche Besitzungen. Dies ist die stark gekürzte Fassung Lamperts, der Otto als Verfolgten erscheinen lassen will und ihm mit der abgelehnten Forderung nach freiem Geleit auch ein Argument für sein Nichterscheinen an die Hand gibt.80 Insgesamt lässt der Hersfelder Annalist den König in möglichst negativem und den Herzog in möglichst positivem Licht erscheinen. Bezeichnend sind die Nuancen, die der Altaicher Annalist an Lamperts Sichtweise anbringt.81 Insbesondere stellt er die Reaktion des Königs auf Ottos Forderung nach freiem Geleit anders dar. Heinrich war demnach bereit, dies dem Herzog für den Weg nach Goslar zuzusichern, machte es dann aber von der Schuldfrage abhängig. Darauf habe Otto um eine neue Frist gebeten und sei 77 Annales Altahenses maiores (Anm. 44), a. 1069, S. 77f. 78 Lampert: Annales (Anm. 6), a. 1070, S. 113. 79 Die (formale) Rechtmäßigkeit des Verfahrens betont Tellenbach, Gerd: Der Charakter Kaiser Heinrichs IV. Zugleich ein Versuch über die Erkennbarkeit menschlicher Individualität im hohen Mittelalter, in: Person und Gemeinschaft im Mittelalter. Karl Schmid zum 65. Geburtstag, hg. v. Gerd Althoff u. a, Sigmaringen 1988, S. 344–367, hier S. 355 mit Anm. 47. 80 Lampert: Annales (Anm. 6), a. 1070, S. 114ff.: […] cum sibi integris adhuc rebus et crimine necdum comprobato tuto coram venire non licuisset, quod tam iure caeli quam iure fori omnibus semper reis omnibus in causis licuisset. 81 Annales Altahenses maiores (Anm. 44), a. 1070, S. 79.

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geflohen. Der König wollte ihn sofort verfolgen, was von den Freunden des Northeimers aber verhindert wurde. Heinrich konnte ein Urteil wegen Hochverrates schließlich nur erreichen, indem er die Fürsten an ihren Treueid erinnerte. Interessanter als diese bezeichnenden Details ist, dass der Altaicher Annalist die Geschichte Eginos wohl vollständig wiedergibt:82 Der Mordanschlag war für Anfang 1069 geplant gewesen, als der Herzog den König in eines seiner Häuser eingeladen hatten. Otto soll den Plan gefasst haben, Kuno, den Erzieher des Königs,83 angreifen zu lassen, während dieser sich vor dem Schlafgemach Heinrichs aufhielt; man rechnete damit, der König würde wegen des so entstandenen Tumults sein Zimmer verlassen, und dann sollte Egino ihn niederstechen. Der Anschlag scheiterte, weil Kuno sofort nach Ausbruch der Rangeleien Hilfe von anderen Dienern des Königs erhielt. Natürlich beweist diese Geschichte nicht die Schuld des Herzogs, sie macht aber doch verständlich, warum der König den Anklagen Eginos Glauben schenkte, denn an jenen Tumult vor seinem Gemach hat er sich doch wahrscheinlich erinnert, als Egino ihm seine Anklagen vortrug.84 Der König fühlte sich also im Recht, als er gegen Otto vorging, und dessen Verweigerung eines gerichtlichen Zweikampfes dürfte ihn noch in seiner Überzeugung bestärkt haben. Ob der Standesunterschied – so er denn wirklich bestand, denn selbst Lampert nennt Egino einen ingenuus – den Herzog wirklich zur Verweigerung des Kampfes berechtigte, ist unsicher. Immerhin hatte unter Heinrich III. der Billunger Thietmar wegen des gleichen Vorwurfs einen Zweikampf mit einem seiner Vasallen bestritten, ohne dass der Standesunterschied eine Rolle gespielt hätte.85 Immerhin scheint dieses Argument manche Zeitgenossen beeindruckt haben. Beide Seiten wussten also ›das‹ Recht auf ihrer Seite, und daher wurde die folgende Auseinandersetzung auch mit großer Verbitterung und Grausamkeit geführt. König und Herzog verwüsteten gegenseitig ihre Besitzungen, und selbst offene Feldschlachten wurden geschlagen. Anfang 82 Annales Altahenses maiores (Anm. 44), a. 1069, S. 76f. 83 Zu diesem vgl. Bosl, Karl: Die Reichsministerialität der Salier und Staufer, 2 Teilbde. (Schriften der MGH 10), Stuttgart 1950–51, hier Bd.1, S. 64ff.; Keunecke, Hans Otto: Die Münzenberger. Quellen und Forschungen zur Emancipation einer Reichsdienstmannenfamilie (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 35), Darmstadt 1978, S. 34ff.; Tellenbach: Charakter (Anm. 79), S. 357; Zotz: Ministerialität (Anm. 5), S. 41f.; Keupp, Jan Ulrich: Dienst und Verdienst. Die Ministerialen Friedrich Barbarossas und Heinrichs VI. (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 48), Stuttgart 2002, S. 152f. 84 Vgl. Meyer von Knonau: Jahrbücher (Anm. 1), S. 12f.; Tellenbach: Charakter (Anm. 79), S. 355. 85 Adam von Bremen: Gesta (Anm. 54), III, 8, S. 149; Lampert: Annales (Anm. 6), a. 1048, S. 61; zur Standesproblematik allgemein vgl. Holzhauer, Heinz: Der gerichtliche Zweikampf, in: Sprache und Recht. Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters. FS für Ruth SchmidtWiegand zum 60. Geburtstag, hg. v. Karl Hauck u. a., Bd. 2, Berlin/New York 1986, S. 263– 283, hier S. 278.

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September besiegte Otto die Thüringer bei Eschwege. Beunruhigt über diese Nachrichten, kehrte Heinrich nach Goslar zurück und blieb bis Weihnachten dort, »weil er fürchtete, die Feinde würden diesen ihm so lieben und teuren Ort, den die deutschen Könige als ihre Heimat und ihren häuslichen Sitz zu bewohnen pflegten, während seiner Abwesenheit in Schutt und Asche legen, was sie angeblich androhten und oft beredeten«, so Lampert von Hersfeld.86 Die Stärke Ottos von Northeim in dieser Auseinandersetzung rührte nicht zuletzt daher, dass ihn Magnus Billung im Winter mit Nachschub versorgte und ihn auch sonst mit Nachdruck unterstützte.87 Dennoch ließ der König keine Zweifel an seiner Entschlossenheit aufkommen und setzte während der Festtage in Goslar mit Welf IV. einen neuen Herzog in Bayern ein.88 Vielleicht als Reaktion darauf suchte Otto Anfang 1071 die Entscheidung. Er besetzte den Hasunger Berg (westl. von Kassel), ließ ihn befestigen und sammelte Vorräte. Auch Heinrich sammelte Truppen, aber sein wohl wichtigster Ratgeber, Graf Eberhard, riet von einer weiteren militärischen Konfrontation ab. Im Auftrag des Königs verhandelte er mit Otto und erreichte einen Waffenstillstand bis Ostern. In Köln sollte er sich dann unterwerfen.89 Nach einer Fristverlängerung vollzogen der ehemalige Herzog und seine Anhänger ihre deditio dann zu Pfingsten in Halberstadt und wurden verschiedenen Fürsten zu Verwahrung übergeben.90 Nicht nur Eberhard hatte bei diesem Ausgleich als Vermittler gedient, sondern auch Adalbert von Bremen. Nach den Altaicher Annalen hatte der Erzbischof sich für Otto eingesetzt, indem er während der Messe solange für ihn bat, bis der König sich gnädig zeigte: Otto durfte seine Erbgüter behalten, verlor aber seine Lehen einschließlich der Abtei Altaich.91 Auch Adam von Bremen erwähnt Adalberts Vermittlertätigkeit und setzt hinzu, dass der Erzbischof damals die Güter seiner Kirche zurückerhielt, die er Magnus Billung einst hatte zu Lehen

86 Lampert: Annales (Anm. 6), a. 1070, S. 117: Perlato ad regem nuncio acceptae in Heschenewege cladis, omissis rebus aliis Goslariam concitus remeavit, nec inde usquam ante natalem Domini abscessit, timens scilicet, ne tam caram tamque acceptam sibi villam, quam pro patria ac pro lare domestico Theutonici reges incolere soliti erant, hostes per absentiam eius, quod minitari et crebris usurpare sermonibus dicebantur, in favillas cineresque redigerent; vgl. Zotz: Goslarer Pfalz (Anm. 12), S. 280. 87 Lampert: Annales (Anm. 6), a. 1070, S. 117. 88 Lampert: Annales (Anm. 6), a. 1071, S. 118. 89 Lampert: Annales (Anm. 6), a. 1071, S. 119f.; vgl. Tellenbach: Charakter (Anm. 79), S. 359; Kamp, Hermann: Friedensstifter und Vermittler im Mittelalter (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Studien zur Geschichte, Literatur und Kunst), Darmstadt 2001, S. 167f.; Eberhard gehört wohl nicht zu den Nellenburgern, vgl. Hils, Kurt: Die Grafen von Nellenburg im 11. Jahrhundert. Ihre Stellung zum Adel, zum Reich und zur Kirche (Forschungen zur oberrheinischen Landesgeschichte 19), Freiburg i. Br. 1967, S. 75f. 90 Lampert: Annales (wie Anm. 6), a. 1071, S. 127. 91 Annales Altahenses maiores (Anm. 44), a. 1071, S. 81.

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geben müssen.92 Adalbert hatte in der zurückliegenden Auseinandersetzung wohl eine wichtigere Rolle gespielt, als die Quellen auf den ersten Blick zu erkennen geben. Seit 1069 ist er, dessen Verbindungen zum König nie abgerissen waren, wieder am Hof bezeugt und spätestens seit 1071 war er auch offiziell wieder der wichtigste Ratgeber des Königs.93 Dementsprechend richtete sich dessen Politik nun hauptsächlich gegen die Billunger, die wichtigsten Feinde Adalberts. 1071 trafen sich Heinrich IV. und der Dänenkönig Sven Estridson unter maßgeblicher Beteiligung des Erzbischofs in Lüneburg, dem Herrschaftszentrum der Billunger, und schlossen ein Bündnis gegen die Sachsen.94 Nach Lüneburg wurde kurz darauf eine königliche Besatzung unter Eberhard von Nellenburg gelegt.95 Man wird also nicht fehlgehen, wenn man den Erzbischof von Bremen als Schlüsselfigur dieses Konflikts anspricht, bezeichnet ihn doch Lampert als primus tunc in palacio.96 Adalberts seit 1069 wieder erstarkende Stellung hatte eine ernstliche Bedrohung für Magnus Billung bedeutet, der von der früheren Schwäche des Erzbischofs am meisten profitiert hatte. In dieser Situation mag dem Herzogssohn ein enges Bündnis mit Otto von Northeim vorteilhaft erschienen sein, zumal dieser ebenfalls mit Adalbert verfeindet war.97 Für Adalberts entscheidende Rolle bei dieser Auseinandersetzung spricht auch, dass beide erst nach seinem Tod am 17. März 1072 freikamen: Otto von Northeim zu Pfingsten 1072, also rund zwei Monate danach,98 und Magnus Billung erst sehr viel später. Selbst als sein Vater Ordulf noch im selben Jahr starb und das sächsische Herzogtum vakant wurde, ließ der König ihn nicht frei bzw. soll ihm die Bedingung gestellt haben, auf das herzogliche Amt und sein gesamtes Eigengut zu verzichten, obwohl Otto von Northeim und Hermann, der Bruder des verstorbenen Herzogs, Heinrich pecunia atque infinita predia für die Freilassung 92 Adam von Bremen: Gesta (Anm. 54), III, 60, S. 206; zum Verhältnis Adams zu Adalbert vgl. jetzt Schlotheuber, Eva: Persönlichkeitsdarstellung und mittelalterliche Morallehre. Das Leben Erzbischof Adalberts in der Beschreibung Adams von Bremen, in: DA 59 (2003), S. 495–548. 93 Regesten der Erzbischöfe von Bremen (Anm. 57), Nr. 329; Schubert: Geschichte Niedersachsens (Anm. 2), S. 225; zu Adalberts Rolle zwischen 1066 und 1071 vgl. oben, nach Anm. 57. 94 Adam von Bremen: Gesta (Anm. 54), III, 60, S. 206; Bruno: De bello Saxonico (Anm. 6), c. 20, S. 25, nennt dagegen Bardowick; ihm folgt ohne eingehendere Begründung Kilian: Itinerar (Anm. 13), S. 53; für Lüneburg Regesten der Erzbischöfe von Bremen (Anm. 57), Nr. 331; Glaeske, Günter : Die Erzbischöfe von Hamburg-Bremen als Reichsfürsten (937–1258) (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens 60), Hildesheim 1962, S. 85; Schubert: Geschichte Niedersachsens (Anm. 2), S. 225. 95 Bruno: De bello Saxonico (Anm. 6), c. 21, S. 26. 96 Lampert: Annales (Anm. 6), a. 1072, S. 134. 97 Annales Altahenses maiores (Anm. 44), a. 1071, S. 81. 98 Lampert: Annales (Anm. 6), a. 1072, S. 137.

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angeboten hatten und Otto sogar bereit war, im Austausch für Magnus auf unbestimmte Zeit in Haft zu gehen.99 All dies zeigt eine auf den ersten Blick erstaunliche Unversöhnlichkeit des Königs gegenüber Magnus. Der neue Sachsenherzog wurde bezeichnenderweise erst nach Ausbruch des Sachsenaufstandes aus der Haft entlassen bzw. von seinem Onkel Hermann freigepresst, im Austausch gegen Eberhard von Nellenburg und 70 weitere Schwaben, die sich in Lüneburg ergeben hatten.100 Bruno von Merseburg schreibt der Freilassung des Billungers große Symbolkraft zu: »Wie groß die Freude über Herzog Magnus Rückkehr in ganz Sachsen war, könnte selbst die Beredsamkeit eines Cicero nicht schildern; die Freude wäre kaum größer gewesen, wenn er vom Tode auferstanden wäre. Je stärker sie daran gezweifelt hatten, ihn noch einmal lebend zu sehen, um so größer war ihre Freude und ihr Jubel, als sie ihn lebend wiedersahen; und nicht nur seine Verwandten und seine Anhänger jauchzten über seine Rettung, sondern das ganze Volk ohne Unterschied lobte einstimmig Gott den Allmächtigen, der ihn auf wunderbare Weise befreit hat (…). Selbst jene, die ihn nie gesehen hatten, dankten Gott mit kaum geringerer Inbrunst für seine Errettung als wenn sie aus seinem Geschlecht oder seiner Familie wären«.101 Bruno stilisiert das Schicksal des Magnus also zum für die Sachsen entscheidenden Fanal, denn entgegen der tatsächlichen Chronologie lässt er den Aufstand der Sachsen erst auf die Freilassung ihres Herzogs hin folgen. Woher rührte diese tatsächlich gegen jedes Herkommen verstoßende Unversöhnlichkeit des Königs gegen Magnus Billung? Bei aller Passivität der Billunger während des eigentlichen Sachsenaufstandes darf doch zunächst ihre führende Rolle in Sachsen nicht übersehen werden. Sie waren das mit Abstand angesehenste und mächtigste Adelsgeschlecht im Norden, von ihrer herzoglichen Stellung einmal ganz abgesehen, die sie seit mehr als 100 Jahren ununterbrochen innehatten.102 Nur selten, unter Heinrich II. und Heinrich III., hatten sie

99 Lampert: Annales (Anm. 6), a. 1073, S. 149. 100 Lampert: Annales (Anm. 6), a. 1073, S. 160f.; die Freilassung erfolgte am 15. August 1073. 101 Bruno: De bello Saxonico (Anm. 6), c. 22, S. 27: De reditu ducis Magni quanta fuissent omni Saxoniae gaudia, Tulliana non posset explicare facundia: non magis de illo gauderent, sio eum a morte redivivum accepissent. Quanto eum se umquam vivum visuros desperaverant, tanto eum videntes vivum maiore laetitia tripudiabant; nec solum sui vel cognati vel clientes eius de salute plaudebant, sed omnis omnino populus omnipotenti Deo, qui eum mirabiliter liberavit, laudes unanimiter reddebat. […] Illi, qui numquam eum viderant, per eius ereptionem non minores, quam si de eius genere vel familia fuissent, Deo gratias agebant. 102 Vgl. Freytag, Hans Joachim: Die Herrschaft der Billunger in Sachsen (Studien und Vorarbeiten zum Historischen Atlas Niedersachsens 20), Göttingen 1951; Bork, Ruth: Die Billunger. Mit Beiträgen zur Geschichte des deutsch-wendischen Grenzraumes im 10. und 11. Jahrhundert, Diss. phil. Greifswald 1951; Althoff, Gerd: Die Billunger in der Salierzeit, in: Die Salier und das Reich, Bd. 1 (Anm. 14), S. 309–329; Goetz, Hans-Werner : Das

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sich offen gegen den Herrscher gestellt und dabei die Konfrontation niemals auf die Spitze getrieben. Erst das massive Vorgehen des Magnus gegen den königlichen Mentor Adalbert von Bremen nach dessen Sturz 1066 und die Allianz mit Otto von Northeim hatten Heinrich IV. die Gefahr vor Augen geführt, die von diesem Geschlecht ausgehen konnte. Die Billunger zu schwächen mag dem König daher alleine schon als lohnendes Ziel erschienen sein. Dieser Aspekt wird noch durch die Beziehungen verstärkt, die sie ins Ausland unterhielten und die den Interessen des Saliers diametral zuwiderliefen. Gemeint sind ihre Kontakte nach Norwegen und Ungarn. Wohl Anfang Juli 1071 traf sich Heinrich IV. mit dem Dänenkönig Sven Estridson in Lüneburg und schloss mit ihm laut Adam von Bremen ein Bündnis gegen die Sachsen.103 Die antisalischen Geschichtsschreibung versteigt sich dagegen zu kaum glaubhaften Vorwürfen gegen Heinrich, der nach Bruno seinem Gesprächspartner die Abtretung von Reichsgebiet im Gegenzug für eine Unterstützung gegen die Sachsen versprochen haben soll.104 Lampert fabuliert zu 1073, die beiden Könige hätten sich verschworen, die Sachsen zu versklaven bzw. zu vernichten.105 Eher dürften die beiden das alte salisch-dänische Bündnis erneuert haben, das noch in die Zeit Heinrichs III. zurückging und sich nicht nur gegen Gottfried von Lothringen und Balduin von Flandern gerichtet hatte,106 sondern auch gegen Norwegen und die Billunger.107 Eine Verbindung dieser beiden Mächte hatte sich ergeben, seit Magnus von Norwegen 1042 die Dynastie Knuts des Großen vom dänischen Thron verdrängt hatte.108 Mit Knuts Tochter Gunhild war Heinrich III. in erster Ehe verbunden gewesen.109 1042 heiratete der Billunger Ordulf eine Schwester des norwegischen Königs, und beide Seiten gingen anschließend gemeinsam gegen benachbarte Slawen vor.110 Während-

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Herzogtum der Billunger – ein sächsischer Sonderweg? in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 66 (1994), S. 167–197. Adam von Bremen: Gesta (Anm. 54), III, 60, S. 206. Bruno: De bello Saxonico (Anm. 6), c. 20, S. 25; vgl. Glaeske: Erzbischöfe (Anm. 94), S. 86; anders Hoffmann, Erich: Die Salier und Skandinavien, in: Auslandsbeziehungen unter den salischen Kaisern. Geistige Auseinandersetzung und Politik, hg. v. Franz Staab, Speyer 1994, S. 239–265, hier S. 260f. Lampert: Annales (Anm. 6), a. 1073, S. 147: … magnum quiddam et a nullo maiorum suorum antehac temptatum machinari cepit, videlicet ut omnes Saxones et Turingos in servitutem redigeret et predia eorum fisco publico adiceret. So Glaeske: Erzbischöfe (Anm. 94), S. 84f.; zu diesem Konflikt vgl. Boshof, Egon: Lothringen, Frankreich und das Reich in der Regierungszeit Heinrichs III., in: RhVjbll 42 (1978), 63–127; Ders.: Krise (Anm. 27). Hoffmann: Salier (Anm. 104), S. 256. Vgl. Hoffmann, Erich: Königserhebung und Thronfolgeordnung in Dänemark bis zum Ausgang des Mittelalters (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters 5), Berlin/New York 1976, S. 23f. Vgl. Hoffmann: Salier (Anm. 104), S. 252. Bork: Billunger (Anm. 102), S. 148ff.; Hoffmann: Salier (Anm. 104), S. 254; vgl. auch

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dessen lehnte sich Knuts Neffe Sven Estridson gegen Magnus auf, konnte sich aber in Dänemark erst nach dessen Tod 1047 allmählich gegen dessen Onkel und Nachfolger in Norwegen, Harald Hardrada, durchsetzen. In dieser Situation war dem Dänenkönig an der Anerkennung durch den Kaiser gelegen.111 Adalbert arrangierte ein Treffen der beiden Herrscher im billungischen Lesum, zu dem Sven aus unbekannten Gründen nicht erschien.112 Vielleicht war ihm die Lage zu unsicher, denn die Billunger fühlten sich derart herausgefordert, dass Thietmar, der Bruder Herzog Bernhards II. und Onkel Ordulfs, sogar einen Anschlag auf den Kaiser plante. Spätestens 1049 kam dann dank der Vermittlung Adalberts das Bündnis doch zustande, denn damals unterstützte der Dänenkönig den Kaiser gegen Flandern.113 Der Gegensatz zwischen den beiden nordischen Reichen bestand im übrigen bis 1064 fort,114 während Sven eng mit Adalbert zusammenarbeitete, um dessen Zustimmung für die Errichtung eines dänischen Erzbistums zu erlangen.115 Der dritte in diesem Bund war der Abodritenfürst Gottschalk, der 1066 nach dem Sturz Adalberts von Bremen allerdings von seinen heidnischen Feinden erschlagen wurde; seine dänische Gemahlin und sein kleiner Sohn Heinrich mussten fliehen.116 Die Aufständischen bedrohten in der Folgezeit sowohl die deutsche als auch die dänische Grenze und besiegten mehrfach Herzog Ordulf. Vor diesem Hintergrund ist der Abschluss des deutschdänischen Paktes 1071 zu sehen, der sich wohl doch nicht gegen die Sachsen richtete, sondern der Stabilisierung der eigenen Grenzen diente und die mit allen Bündnispartnern – Heinrich IV., Sven Estridson und Adalbert von Bremen – entzweiten Billunger isolierte. Ein noch drängenderes außenpolitisches Problem des Saliers bestand in Ungarn.117 Dort kämpften zwei Vertreter der Arpadendynastie um die Macht,

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Boshof: Salier (Anm. 54), S. 98; Magnus von Norwegen wurde auch in das Lüneburger Necrolog eingetragen, vgl. Althoff, Gerd: Adels- und Königsfamilien im Spiegel ihrer Memorialüberlieferung. Studien zum Totengedenken der Billunger und Ottonen (Münstersche Mittelalter-Schriften 47), München 1984, S. 371. Hoffmann: Salier (Anm. 104), S. 256. Adam von Bremen: Gesta (Anm. 54), III, 8, S. 148. Glaeske: Erzbischöfe (Anm. 94), S. 61, 84. Hoffmann: Königserhebung (Anm. 108), S. 25. Hoffmann: Königserhebung (Anm. 108), S. 25. Adam von Bremen: Gesta (Anm. 54), III, 50f., S. 193ff.; vgl. Glaeske : Erzbischöfe (Anm. 94), S. 84; Hoffmann, Erich: Dänemark und England zur Zeit König Sven Estridsons, in: Aus Reichsgeschichte und Nordischer Geschichte. Karl Jordan zum 65. Geburtstag, hg. v. Horst Fuhrmann u. a (Kieler Historische Studien 16), Stuttgart 1972, S. 92–111, hier S. 102f.; Ders.: Salier (Anm. 104), S. 258f.; Schubert: Geschichte Niedersachsens (Anm. 2), S. 177. Zum Folgenden vgl. Boshof, Egon: Das Reich und Ungarn in der Zeit der Salier, in: Ostbairische Grenzmarken 28 (1986), S. 178–194, hier S. 185ff., mit weiteren Belegen; Ders.: Das Salierreich und der europäische Osten, in: Staab: Auslandsbeziehungen (Anm. 104), S. 167–193, hier S. 179ff.

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König Salomon und sein Vetter Geza. Salomon war mit Heinrichs Schwester Judith-Sophie verheiratet, und verdankte seinen Thron nur einem deutschen Eingreifen im Jahr 1063. Immerhin hatte er einen Ausgleich mit Geza geschlossen, dem er den Herzogstitel zugestand. Dennoch bestand ihr Gegensatz fort, denn Geza suchte in den folgenden Jahren Anlehnung an Byzanz. 1070 ist zum ersten Mal wieder von einem geplanten Aufstand gegen Salomon die Rede, der nur aus Furcht vor Heinrich IV. unterlassen wurde.118 1074 schließlich verdrängte Geza seinen Vetter vom Thron. In dieser unklaren Situation – vermutlich 1071 – heiratete Magnus Billung Gezas Schwester Sophia, die Witwe des Markgrafen Ulrich I. von Krain aus dem Haus der Grafen von Weimar-Orlamünde und knüpfte damit verwandtschaftliche Bande mit der salierfeindlichen Partei in Ungarn.119 Wenn man bedenkt, dass er sich damals gegen den König erhoben hatte, werden die Absichten vielleicht deutlich, die er mit dieser Ehe verfolgte. Auf der anderen Seite wird Heinrichs harsche Reaktion vielleicht ebenfalls etwas verständlicher : Der mütterlicherseits von norwegischen Königen abstammende Magnus hatte ihm signalisiert, dass er sich durchaus auf internationalem Parkett zu bewegen verstand, und die Reaktion des Saliers nach seinem Sieg fiel entsprechend feindselig aus. Er soll verlangt haben, dass Magnus auf das sächsische Herzogtum, auf das er durch den Tod seines Vaters Ordulf Anspruch hatte, und auf seine Erbgüter verzichtete.120 Der König wollte also allem Anschein nach einen entscheidenden Schlag gegen Magnus führen. Heinrichs Strenge gegenüber Magnus Billung war also durchaus plausibel. Dies ändert jedoch nichts an der Empörung, die seine harsche Unnachgiebigkeit in Sachsen hervorrief. Zudem verunsicherte Heinrich auch die übrigen Fürsten des Reiches.121 Berthold von Kärnten konnte sich in seinem Herzogtum nicht durchsetzen, und manche gaben dem König daran die Schuld. Zudem verdächtigte der König den Schwabenherzog Rudolf eines Mordkomplotts nach dem Muster Ottos von Northeim, musste den Vorwurf allerdings bald fallen118 Sigebert von Gembloux: Chronica, a. 1070, ed. v. Ludwig Conrad Bethmann (MGH SS VI), Hannover 1844, S. 362. 119 Annalista Saxo, a. 1070, ed. v. Georg Waitz (MGH SS VI), Hannover 1844, S. 697 und a. 1106, S. 744; zur Datierung der Heirat vgl. Bork: Billunger (Anm. 102), S. 172ff.; zustimmend Althoff: Adels- und Königsfamilien (Anm. 110), S. 379; zu den Grafen von WeimarOrlamünde vgl. Patze: Politische Geschichte (Anm. 64), S. 155f.; Fenske: Adelsopposition (Anm. 36), S. 340; Würth, Ingrid: Die Grafen von Weimar-Orlamünde als Markgrafen von Krain und Istrien, in: Zeitschrift des Vereins für thüringische Geschichte 56 (2002), S. 91– 132. 120 Lampert: Annales (Anm. 6), a. 1073, S. 149. 121 Zum Folgenden vgl. Zotz, Thomas: Der südwestdeutsche Adel und seine Opposition gegen Heinrich IV., in: Welf IV. – Schlüsselfigur einer Wendezeit. Regionale und europäische Perspektiven, hg. v. Dieter R. Bauer/Matthias Becher (Beihefte zur ZBLG, Reihe B 24), München 2004, S. 339–359; Laudage, Johannes: Welf IV. und die Kirchenreform des 11. Jahrhunderts, in: ibid., S. 280–313.

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lassen und konnte sich fortan auf Rudolfs Loyalität nicht mehr verlassen. Die Erzbischöfe Anno von Köln und Siegfried von Mainz hielten ebenfalls Distanz zu Heinrich, nachdem er ihnen Adalbert von Bremen vorgezogen hatte. Die vielen Klagen, der König höre nicht mehr auf die Fürsten, haben hier ihren Ursprung. Diese Entfremdung führte schließlich dazu, dass Heinrich den Sachsen praktisch allein gegenüberstand und ihnen daher militärisch weit unterlegen war. Bekanntlich sorgte nur das frevelhafte Verhalten einiger sächsischer Bauern auf der Harzburg noch einmal für eine Wende und erlaubte 1075 dem König seinen Triumph über die Sachsen. Dieser konnte nicht von langer Dauer sein, weil Heinrich in Gregor VII. und seinen Ideen inzwischen ein weitaus gefährlicherer Feind erwachsen war, als dies Otto von Northeim, Magnus Billung oder Markgraf Dedi jemals sein konnten.122 Dessen Konflikt mit Heinrich gab den Sachsen die Gelegenheit, sich erneut gegen den König zu erheben. Nicht langfristig wirkende Freiheitsvorstellungen der Sachsen waren also ausschlaggebend für den Sachsenkrieg Heinrichs IV., sondern die skizzierten Auseinandersetzungen mit führenden Fürsten. Vieles deutet darauf hin, dass der Sachsenkrieg selbst möglicherweise nur eine Fortsetzung dieser Kämpfe gewesen ist. So sah es auch schon Frutolf, der gegen Ende des Jahrhunderts die Absetzung Ottos von Northeim als den Samen fundamentaler Zwietracht bezeichnete, der traurigerweise dauernde Kämpfe und Aufstände, Plünderungen und Brandschatzungen, Schismen und Häresien sowie Tod hervorgebracht habe.123 Tatsächlich blieben wichtige Protagonisten wie Otto von Northeim, Markgraf Dedi und der Billunger Hermann dieselben. Bei den Kämpfen bis 1071 aber handelte es sich um durchaus übliche Konflikte im Zuge der Herrschaftsübernahme durch einen König, wie wir sie etwa auch für die Frühzeit Ottos des Großen bezeugt sind. Beraten von Adalbert von Bremen, wollte sich Heinrich von den führenden Fürsten aus der Zeit seiner Minderjährigkeit lösen, was entsprechende und auch übliche Reaktionen von deren Seite aus provozierte.124 Mit dem forcierten Burgenbau aller Seiten, also nicht nur des Königs, kam aber ein neues Element hinzu: der Ausbau starker Defensivwaffen. Der Adel allgemein und besonders auch der sächsische hatte, nach allem was wir wissen, vor dem König damit begonnen. Bereits in der Auseinandersetzung Heinrichs II. mit 122 Anders jetzt Schubert, Ernst: Königsabsetzung im deutschen Mittelalter. Eine Studie zum Werden der Reichsverfassung (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Philologisch-Historische Klasse. Dritte Folge, Bd. 267), Göttingen 2005, S. 139ff. 123 Frutolf von Michelsberg: Chronica, c. 15, in: Frutolfs und Ekkehards Chroniken und die anonyme Kaiserchronik, hg. v. Franz-Josef Schmale/Irene Schmale-Ott (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 15), Darmstadt 1972, S. 80: […] idque tam principalis discordie semen in perpetuos, heu! preliorum et seditonum, predarum et incendiorum, scismatum etiam et heresium atque mortium lamentabiles fructus germinavit atque succrevit. 124 Vgl. die oben, Anm. 47, angegebene Literatur.

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Heinrich von Schweinfurt 1003 entschied die Eroberung der Burgen des Aufständischen über den Ausgang des Konflikts genau so wie fast sieben Jahrzehnte später der Kampf Heinrichs IV. mit dem Markgrafen Dedi.125 Die sächsischen Fürsten dürften aber erkannt haben, dass Burgen, insbesondere die Harzburg, es dem König leichter machen würden, sich ihrem Druck zu entziehen.126 Denn ein Angriff auf Goslar lag in Zeiten offener Konfrontation durchaus im Bereich des Möglichen, wie die Befürchtungen Heinrichs während der Auseinandersetzung mit Otto von Northeim zeigen. Und auch in Friedenszeiten lag der Verweis auf militärische Machtmittel wohl durchaus im Bereich des Denkbaren. Auch die Landbevölkerung lehnte die Burgen ab, natürlich aus anderen Gründen, die dem ebenfalls burgenbauenden Adel letztlich wohl gleichgültig waren. Aber diese Missstimmung ließ sich leicht gegen den König instrumentalisieren. Insgesamt scheint es sich beim Sachsenkrieg um die Fortsetzung der üblichen Rangeleien zwischen neuem König und etablierten Fürsten gehandelt zu haben. Nur die außergewöhnlich gute Quellenlage gibt der Nachwelt einen hervorragenden Einblick in die Motive bzw. die Propaganda beider Konfliktparteien. Die Realität war dagegen weniger spektakulär, als es die prosächsischen Geschichtsschreiber erscheinen lassen wollten.

125 Zu den Kämpfen gegen Heinrich von Schweinfurt vgl. Weinfurter: Heinrich II. (Anm. 22), S. 189f.; zu den Burgen des sächsischen Adels Schubert: Geschichte Niedersachsens (Anm. 2), S. 281ff.; zu denen Dedis oben, bei Anm. 65. 126 Ähnlich, aber aus Sicht der Sachsen Schubert: Geschichte Niedersachsens (Anm. 2), S. 283.

Begründungen

Der sogenannte Staatsstreich Grimoalds. Versuch einer Neubewertung

Der mißglückte Versuch des Hausmeiers Grimoald, in der Mitte des 7. Jahrhunderts seinen Sohn auf den austrasischen Königsthron zu erheben, gilt als »Trauma des pippinidischen Hauses«.1 Dieser Fehlschlag habe dazu geführt, daß Grimoalds Neffe Pippin der Mittlere und dessen Sohn Karl Martell sich gescheut hätten, die politisch bereits weitgehend entmachteten Merowinger formal des Königtums zu entkleiden. Aber ganz abgesehen von der Frage, ob die Merowinger Ende des 7. und Anfang des 8. Jahrhunderts tatsächlich ohnmächtige Marionetten in den Händen der arnulfingischen Hausmeier waren, wirft der ›Staatsstreich‹ Grimoalds bis heute vielfältige Probleme auf, auch wenn sein äußerer Ablauf nach Auskunft der Handbücher und anderer Darstellungen der Epoche weitgehend geklärt zu sein scheint:2 Am 2. Februar 656 starb Sigibert III. Erstdruck in: Karl Martell in seiner Zeit, hg. von Jörg Jarnut – Ulrich Nonn – Michael Richter (Beihefte der Francia 37), Sigmaringen 1994, S. 119–147. 1 R. Schneider, Das Frankenreich, München – Wien 1982 (Oldenbourg Grundriß der Geschichte 5) S. 18; vgl. bereits B. Krusch, Der Staatsstreich des fränkischen Hausmeiers Grimoald I., in: Historische Aufsätze. Festgabe K. Zeumer, Weimar 1910, S. 411–438, 411. 2 H. Löwe, Deutschland im Fränkischen Reich, in: B. Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte, hg. von H. Grundmann, 9. neu bearbeitete Auflage, Band 1, Stuttgart 1970, S. 131; E. Ewig, Das merowingische Frankenreich (561–687) in: Handbuch der europäischen Geschichte, hg. von Th. Schieder, Band 1: Europa im Wandel von der Antike zum Mittelalter, hg. von Th. Schieffer, Stuttgart 1976, S. 414; P. Riché, Les Carolingiens. Une famille qui fit Europe, Paris 1983, S. 33f.; R. McKitterick, The Frankish Kingdoms under the Carolingians 751–987, London – New York 1983, S. 25; K. F. Werner, Les Origines (avant l’an mil). Histoire de France, Band 1, Paris 1984, S. 336 (deutsche Übersetzung: Stuttgart 1989, S. 356); E. Ewig, Die Merowinger und das Frankenreich, Stuttgart 1988, S. 145; P. J. Geary, Before France and Germany. The Creation and Transformation of the Merovingian World, New York 1988, S. 190ff.; R. Collins, Early Medieval Europe 300–1000, London 1991, S. 238. Diese Darstellungen beruhen hauptsächlich auf Krusch, Staatsstreich (wie Anm. 1); F. Himly, Les plus anciennes chartes et les origines de l’abbaye de Wissembourg, in: BibliothHque de l’Pcole des Chartes 100 (1939) S. 281–294; K. Glöckner, Eine Weißenburger Urkunde und Hildebert, der erste karolingische König, in: Elsaß-lothringisches Jahrbuch 20 (1940) S. 1–9; L. Dupraz, Contribution / l’histoire du regnum Francorum pendant le troisiHme quart du VIIe siHcle (656–680), Fribourg 1948; J. Fischer, Der Hausmeier Ebroin, Diss. phil. Bonn 1954; E. Ewig,

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Begründungen

von Austrasien. Sein Hausmeier Grimoald hatte den lange Zeit söhnelosen König dazu veranlaßt, seinen eigenen Sohn zu adoptieren, der nun den merowingischen Namen Childebert erhielt. Zu einem nicht sicher bestimmbaren Zeitpunkt wurde dem Monarchen jedoch noch ein Erbe geboren, der spätere Dagobert II. (676–679).3 Trotzdem erhob Grimoald nach Sigiberts Tod seinen eigenen Sohn Childebert zum König, während er Dagobert scheren und ins irische Exil bringen ließ. Nach siebenjähriger Herrschaft starb Childebert und Grimoald konnte sich ohne einen zumindest dem Anspruch nach legitimen König nicht länger halten. Die Neustrier beseitigten ihn und machten 662 Childerich II., den Bruder ihres Königs Chlothar III., zum Herrscher im Ostreich. Die Regentschaft führte Sigiberts Witwe Chimnechild, mit deren Tochter Bilichild der neue König verlobt wurde. Jüngst suchte Richard A. Gerberding die Ereignisse in Austrasien nach Sigiberts III. Tod um fünf Jahre vorzudatieren,4 doch blieb seine Chronologie nicht unwidersprochen.5 Insbesondere verwies er darauf, daß von diesem König keine Urkunden aus der Zeit nach 651 erhalten sind. Doch kann man daraus in Anbetracht der geringen Überlieferungsdichte wohl kaum so weitgehende Folgerungen ziehen. Hinzu kommt, daß die karolingerzeitlichen Königskataloge Sigibert 22 bzw. 23 Jahre zubilligen, wobei Gerberdings Einwand gegen diese Quellengruppe, in ihr würden auch die Regierungszeiten anderer Merowinger nicht korrekt überliefert, nicht sehr stichhaltig ist, da diese Ungenauigkeiten allenfalls ein oder zwei Jahre ausmachen,6 nie aber fünf Jahre, wie von Gerberding für Sigibert III. postuliert.7 Weiter machte er geltend, daß die Adoption von

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Noch einmal zum ›Staatsstreich‹ Grimoalds, in: Speculum Historiale. Geschichte im Spiegel von Geschichtsschreibung und Geschichtsdeutung. Festschrift J. Spörl, München 1965, S. 454–457 (wiederabgedruckt in: Ders., Spätantikes und fränkisches Gallien. Gesammelte Schriften 1952–1973, Band 1, hg. von H. Atsma, München 1976 [Beihefte der Francia 3/1] S. 573–577); K.-H. Debus, Studien zu merowingischen Urkunden und Briefen, 2, in: Archiv für Diplomatik 14 (1968) S. 1–292, 102f.; H. Thomas, Die Namenliste des Diptychon Barberini und der Sturz des Hausmeiers Grimoald, in: Deutsches Archiv 25 (1969) S. 17–63. Die Forschung schwankt zwischen 649 und 651, vgl. Dupraz, Contribution (wie Anm. 2) S. 152, und einem Zeitpunkt kurz vor Sigiberts Tod, so jüngst E. Ewig, Die Namengebung bei den ältesten Frankenkönigen und im merowingischen Königshaus, in: Francia 18/1 (1991) S. 21–69, 66. R. A. Gerberding, The Rise of the Carolingians and the Liber Historiae Francorum, Oxford 1987, S. 50ff.; vgl. R. Schieffer, Die Karolinger, Stuttgart – Berlin – Köln 1992, S. 20f. J. M. Picard, Church and Politics in the Seventh Century : The Irish Exile of King Dagobert II, in: Ireland and Northern France AD 600–850, hg. von Dems., Dublin 1991, S. 27–52. Vgl. die Gegenüberstellung der Regierungsdaten der Merowinger mit den Angaben der Königskataloge (insbes. den Catalogi I bis III nach Krusch) bei B. Krusch, Chronologica regum Francorum stirpis Merowingicae. Catalogi, computationes annorum vetustae cum commentariis, Hannover – Leipzig 1920 (MGH SS rer. Merov. VII) S. 482ff. Entscheidend für eine Festlegung von Sigiberts Todesjahr ist meines Erachtens eine Nachricht der Vita Desiderii Cadurcae urbis episcopi c. 35, ed. B. Krusch, Hannover 1902 (MGH SS rer.

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den Pippiniden möglicherweise erst im nachhinein behauptet wurde, um Childeberts Thronbesteigung zu rechtfertigen.8 Doch handelte es sich dabei um einen erfolgversprechenden Weg, das angestrebte Ziel zu erreichen? Die Frage ist zu verneinen, wenn man die Annahme der älteren Forschung für richtig hält, daß kein Merowinger die Angehörigen seiner Familie übergehen und damit auf das alleinige Herrschaftsrecht der stirps regia verzichten konnte.9 Zuvor hatten die fränkischen Könige lediglich andere Angehörige des merowingischen Hauses an Sohnes Statt angenommen.10 Der oben skizzierte Verlauf des ›Staatsstreiches‹ wirft jedoch noch andere Fragen auf: Welche Rolle spielte etwa Chimnechild nach dem Tod ihres Gatten Merov. IV) S. 592, nach der Bischof Desiderius von Cahors am 15. November im 26. Jahr seines Pontifikats und im 17. Regierungsjahr Sigiberts gestorben ist; B. Krusch, Zur Chronologie der Merowingischen Könige, in: Forschungen zur Deutschen Geschichte 22 (1882) S. 451–490, 471f., bezog diese Angaben zunächst auf das Jahr 655, da Desiderius sein Amt am 8. April 630 antrat, doch rückte er in der Vorrede zur Edition der Vita Desiderii davon wieder ab (MGH SS rer. Merov. IV, S. 554), weil man Sigiberts Regierungsjahre von seiner Einsetzung als austrasischer Unterkönig durch seinen Vater Dagobert I. 633/34 an zählen müsse und nicht von dessen Tod am 19. Januar 639 an; zustimmend: W. Levison, Das Nekrologium von Dom Racine und die Chronologie der Merowinger, in: Neues Archiv 35 (1910) S. 15–53, 42f., während L. Duchesne, Fastes 8piscopaux de l’ancienne Gaule, Band 2, 2. Auflage Paris 1910, S. 46, an 655 festhält. Nach E. Ewig, Die fränkischen Teilreiche im 7. Jahrhundert (613–714), in: Trierer Zeitschrift 22 (1953) S. 85–144 (wiederabgedruckt in: Ders., Spätantikes und fränkisches Gallien [wie Anm. 2] S. 172–230), 115ff., und Dems., Merowinger (wie Anm. 2) S. 142f., gelangte Cahors indessen erst nach Dagoberts Tod unter Sigiberts Herrschaft, weshalb der Vitenschreiber dessen Regierungsjahre erst ab diesem Zeitpunkt rechnete, was auch aus der Wortwahl des Hagiographen zu Beginn von c. 35, S. 592, deutlich wird: Dagobertus rex, sexto et decimo regni sui anno administrato, pacifice obiens, duobus filiis Flodoveo et Sigoberto regni sceptra reliquid, et Flodoveus quidem regnum Francorum, Sigobertus autem Austrasiorum regnum gubernavit. Es ist auch zu berücksichtigen, daß das 26. Jahr des Bischofs Desiderius am 9. April 655 beginnt und das 17. des Königs Sigibert, gerechnet ab dem Tod seines Vaters, am 20. Januar 655. Das Übereinstimmen beider Angaben spricht für ihre Exaktheit, vgl. auch Dupraz, Contribution (wie Anm. 2) S. 210f., und zu Desiderius M. Heinzelmann, Art. ›Desiderius, Bf. v. Cahors‹, in: Lexikon des Mittelalters, Band 3, München – Zürich 1986, Sp. 725f. Sind diese Überlegungen richtig, dann müßte man trotz der Einwände von Ch. Courtois, L’avHnement de Clovis II et les rHgles d’accession au trine chez les M8rovingiens, in: M8langes d’histoire du moyen .ge, d8di8s / la m8moire de L. Halphen, Paris 1951, S. 155–164, Dagoberts I. Tod mit Krusch, Chronologie, S. 465f., auf den 19. Januar 639 datieren; vgl. auch A. Kusternig, Sachkommentar zur Fredegarchronik, in: Quellen zur Geschichte des 7. und 8. Jahrhunderts, Darmstadt 1982 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 4a) S. 40. 8 Gerberding, Rise (wie Anm. 4) S. 49. 9 Vgl. etwa H. E. Bonnell, Die Anfänge des karolingischen Hauses, Leipzig 1866, S. 111; E. Mühlbacher, Deutsche Geschichte unter den Karolingern, Stuttgart 1896, S. 30; auch Gerberding, Rise (wie Anm. 4) S. 49, gesteht dies zu. 10 Vgl. E. Hlawitschka, Adoptionen im mittelalterlichen Königshaus, in: Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Mittelalters. Festschrift H. Helbig, Köln – Wien 1976, S. 1–32, 7ff.

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und warum bestand sie nach Grimoalds Beseitigung nicht auf der Rückkehr ihres Sohnes aus Irland? Vollkommen rätselhaft ist, warum Sigibert, der bei seinem Tod erst 25 oder 26 Jahre alt war, gefürchtet haben soll, keine Söhne mehr zeugen zu können.11 Immerhin hinterließ er mindestens zwei Kinder. Weiterhin ist unklar, warum die Merowinger keine damnatio memoriae über den Thronräuber Grimoald verhängten, worauf Konrad Bund aufmerksam gemacht hat.12 In das Bild einer grundsätzlichen Auseinandersetzung um den Thron paßt schließlich auch nicht der relativ rasche Wiederaufstieg von Grimoalds Familie nach seiner Niederlage.13 Diese offenen Fragen bieten ausreichend Anlaß, sich nochmals mit dem schon oft behandelten ›Staatsstreich‹ Grimoalds zu befassen. Betrachten wir zunächst die Reaktionen der unmittelbar von dem sogenannten Staatsstreich Betroffenen, der Merowinger und der Arnulfinger. Geht man von einem ›Staatsstreich‹ aus, dann hat Grimoald den Namen »Childebert« mißbraucht, um die neustrischen Merowinger ihrer Rechte zu berauben, die – zumindest aus eigener Sicht – neben Dagobert II. die einzigen legitimen Anwärter auf den Königsthron im Ostreich waren. Zieht man weiter in Betracht, daß Namen als wichtige Bedeutungsträger galten,14 wäre zu erwarten, daß die Merowinger »Childebert« aus dem Namenbestand ihrer Familie künftighin verbannt hätten. Doch relativ bald nach dem ›Staatsstreich‹ trug mit König Childebert III. (694–711) wieder ein Merowinger diesen Namen. Dessen Vater, Theuderich III. (673–690), hatte als Kind die Zeit, in die Grimoalds Umsturzversuch zu datieren wäre, miterlebt. Sollte dieser so wenig Familienstolz besessen haben, daß er mit dem Namen seines Sohnes an den Umsturzversuch der Pippiniden erinnerte? Das ist bei aller anzunehmenden Dekadenz der späten Merowinger doch unwahrscheinlich.15 Zwar übernahmen die Merowinger 11 Darauf weist zurecht auch Gerberding, Rise (wie Anm. 4) S. 49, hin. 12 K. Bund, Thronsturz und Herrscherabsetzung im Frühmittelalter, Bonn 1979 (Bonner Historische Forschungen 44) S. 305f. 13 Dieses Problem wurde jüngst von M. Werner, Der Lütticher Raum in frühkarolingischer Zeit, Göttingen 1980 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 62) S. 483f.; Dems., Adelsfamilien im Umkreis der frühen Karolinger, Sigmaringen 1982 (Vorträge und Forschungen. Sonderband 28) S. 30f., untersucht; kritisch dazu: E. Hlawitschka, Zu den Grundlagen des Aufstiegs der Karolinger. Beschäftigung mit zwei Büchern von Matthias Werner, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 49 (1985) S. 1–61, bes. 2, 8, 10f., 60. 14 Vgl. etwa H.-W. Klewitz, Namengebung und Sippenbewußtsein in den deutschen Königsfamilien des 10.–12. Jahrhunderts, in: Archiv für Urkundenforschung 18 (1944) S. 23–37 (wiederabgedruckt in: Ders., Ausgewählte Aufsätze zur Kirchen- und Geistesgeschichte des Mittelalters, Aalen 1971, S. 89–103); R. Wenskus, Sächsischer Stammesadel und fränkischer Reichsadel, Göttingen 1976 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, phil.-hist. Klasse, dritte Folge 93) S. 41ff. 15 Childebert dürfte noch vor 687 geboren sein, als Pippin sein Prinzipat über das Gesamtreich errichtete, vgl. E. Ewig, Studien zur merowingischen Dynastie, in: Frühmittelalterliche Studien 8 (1974) S. 15–59, 27 Anm. 70; Ders., Namengebung (wie Anm. 3) S. 68: »um 679«.

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Namen aus konkurrierenden Linien,16 doch geht der angenommene Umsturzversuch Grimoalds und Childeberts (III.) als Angriff auf das alleinige Herrschaftsrecht der Merowinger in seiner Bedeutung weit über diese innerfamiliären Kämpfe hinaus. So haben die Merowinger in der Rückschau Grimoalds und Childeberts Verhalten wohl als wenig anstößig empfunden. Einen ähnlichen Schluß läßt auch die spätere Verwendung des Namens »Grimoald« im arnulfingischen Haus zu. Pippin der Mittlere benannte seinen zweiten Sohn nach dem Onkel, wahrscheinlich sogar nachdem dieser bereits gescheitert war. Zwar ist das Geburtsjahr des jüngeren Grimoald nicht bekannt, doch sprechen keine Anhaltspunkte dafür, es vor 662 anzusetzen, zumal die Ehe seines Vaters mit seiner Mutter Plektrud wahrscheinlich erst zwischen 670 und 675 geschlossen wurde.17 Pippin müßte also den ›Staatsstreich‹ und die auf ihn folgende Niederlage nicht als Belastung für sein Haus empfunden haben, obwohl doch gerade der Name »Grimoald« bei den Merowingern, beim neustrischen und vielleicht auch bei den legitimistisch eingestellten Teilen des austrasischen Adels negative Empfindungen wecken mußte, die sich ungünstig auf seine eigene Stellung auswirken konnten. Oder sollte zur Zeit Pippins der Name seines Onkels noch gar keine mißliebigen Assoziationen geweckt haben? Anderseits wurde der Name »Grimoald« spätestens seit Karl Martell nicht mehr in der arnulfingischkarolingischen Familie verwandt.18 Er verfiel wie »Tassilo« und »Widukind« einer »Tabuisierung von Namen«, weil er »politisch belastet« war.19 Man könnte diese damnatio memoriae auf den Gegensatz zwischen Karl Martell und Plektrud zurückführen, deren Sohn ja Grimoald der Jüngere war. Dann wäre die Ursache für diese Änderung in der arnulfingischen Namengebung nicht im ›Staatsstreich‹ des älteren Grimoald zu suchen, sondern in der »pippinidisch-karolingischen Sukzessionskrise«.20 Gegen diese Möglichkeit spricht jedoch, daß Karl Martells Sohn Karlmann seinen ältesten Nachkommen und potentiellen

16 Zum Beispiel für Sigibert III. und Theuderich III. 17 Vgl. Th. Breysig, Jahrbücher des fränkischen Reiches 714–741. Die Zeit Karl Martells, Leipzig 1869, S. 5; so auch H. Haupt, Sachkommentar zum Liber historiae Francorum, in: Quellen zur Geschichte des 7. und 8. Jahrhunderts (wie Anm. 7) S. 373 Anm. 50; Hlawitschka, Grundlagen (wie Anm. 13) S. 11; Werner, Adelsfamilien (wie Anm. 13) S. 30 mit Anm. 79, datiert die Eheschließung dagegen auf vor 668/70; Ewig, Merowinger (wie Anm. 2) S. 184 auf ca. 665; Bund, Thronsturz (wie Anm. 12) S. 306 Anm. 253, vermutet, daß Grimoald der Jüngere unter Dagobert II. (676–679) geboren wurde. 18 Vgl. K. F. Werner, Die Nachkommen Karls des Großen bis zum Jahr 1000 (1.–8. Generation), in: Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben, hg. von W. Braunfels, Band 4: Das Nachleben, hg. von Dems. u. P. E. Schramm, Düsseldorf 1967, S. 403–482. 19 G. Althoff, Verwandte, Freunde und Getreue. Zum politischen Stellenwert der Gruppenbildungen im früheren Mittelalter, Darmstadt 1990, S. 25. 20 J. Semmler, Zur pippinidisch-karolingischen Sukzessionskrise 714–723, in: Deutsches Archiv 33 (1977) S. 1–36.

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Erben wohl sogar noch zu Lebzeiten des Großvaters »Drogo« nannte21 und damit an Drogo, den Bruder Grimoalds des Jüngeren, erinnerte. Der Name »Drogo« erscheint auch später noch in der karolingischen Familie, während »Grimoald« kein weiteres Mal vergeben wurde.22 Die Ablehnung dieses Namens hat daher ihren Ursprung nicht in Karl Martells Kampf um die Macht, zumal Grimoald bereits vor dessen Beginn gestorben war. Sie geht aber auch nicht unmittelbar auf die Geschehnisse in Austrasien während der 2. Hälfte des 7. Jahrhunderts zurück. Kann man angesichts der Gleichgültigkeit der zeitgenössischen und der unmittelbar folgenden Generationen überhaupt von einem ›Staatsstreich‹ sprechen? Diese Frage führt zu einer methodischen Überlegung: In sämtlichen Arbeiten, die zu der oben skizzierten Rekonstruktion der Ereignisse geführt haben, wird ausgegangen vom 70 Jahre später verfaßten Bericht des Liber historiae Francorum – wohl auf Grund eines kurzen aber immerhin zusammenhängenden Berichts, den diese Quelle bietet. Weiter wird auch den karolingerzeitlichen Königskatalogen ein erheblicher Informationswert zugebilligt. Dem Ablauf, der sich aus der Kombination der beiden Quellen ergibt, werden dann die zeitnäheren Aussagen angepaßt. Die Königslisten sind jedoch äußerst knapp gehalten, so daß ihre Aussagen ohne zusätzliche Informationen kaum weitergehende Interpretationen zulassen. In der erzählenden Quelle muß man dagegen mit vielfältigen Brechungen und Verzerrungen rechnen und man wird daher kaum eine korrekte Schilderung der Ereignisse um Grimoald erwarten können.23 Vielmehr

21 Zu diesem zuletzt: M. Becher, Drogo und die Königserhebung Pippins, Frühmittelalterliche Studien 23 (1989) S. 131–153. 22 Karl Martells Sohn hieß »Grifo«. Über die Deutung dieses Namens besteht keine Einigkeit. Besonders Historiker vermuten in dem Namen eine Kurzform von »Grimoald«, vgl. P. Classen, Karl der Große und die Thronfolge im Frankenreich, in: Ders., Ausgewählte Aufsätze, hg. von J. Fleckenstein, Sigmaringen 1983 (Vorträge und Forschungen 28) S. 205–229 (zuerst in: Festschrift H. Heimpel, Band 3, Göttingen 1973, S. 109–134) 224 Anm. 84; zustimmend: M. Mitterauer, Zur Nachbenennung nach Lebenden und Toten in Fürstenhäusern des Frühmittelalters, in: Gesellschaftsgeschichte. Festschrift K. Bosl zum 80. Geburtstag, hg. von F. Seibt, Band 1, S. 386–399, 390. Sprachwissenschaftler deuten ihn hingegen als »Greif« oder auch als Kurzform von »Grimpert«, vgl. E. Förstemann, Altdeutsches Namenbuch, Band 1: Personennamen, 2. Auflage Bonn 1900, Sp. 674 s.v. ›Grippo‹; vgl. H. Kaufmann, Ergänzungsband zu Ernst Förstemann, Altdeutsches Namenbuch, 1: Personennamen, München 1968, S. 155; E. Neuss, Studien zu den althochdeutschen Tierbezeichnungen der Handschriften Paris lat. 9344, Berlin lat. 88 73, Trier R. III 13 und Wolfenbüttel 10. 3. Aug. 48, München 1973 (Münstersche Mittelalter-Schriften 16) S. 93f. Jüngst interpretierte J. Jahn, Ducatus Baiuvariorum. Das bairische Herzogtum der Agilolfinger, Stuttgart 1991 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 35) S. 279, »Grifo« als Kurzform von »Garibald«. 23 Vgl. dagegen Gerberding, Rise (wie Anm. 4) S. 66: »It is only the LHF-author who allows us to put this story together«.

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ist zumindest die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, daß das tatsächliche Geschehen erheblich von dieser Darstellung abweicht. Wenden wir uns dennoch zunächst dem Bericht des Liber historiae Francorum zu. Das zentrale Anliegen des im Jahr 727 schreibenden Chronisten war es, die Geschicke der Neustrier darzustellen.24 Austrasische Verhältnisse interessierten ihn dagegen wenig, so erwähnt er Dagobert II., Grimoalds angebliches Opfer, nicht mehr, obwohl dieser Austrasien von 676 bis 679 regiert hat. Betrachten wir auf diesem Hintergrund seinen Bericht: Post haec igitur rex Daygobertus a febre valida correptus, egrotans mortuus est Spinoglio villa in paygo Parisiacense urbis, in basilica beati Dionisii martyris sepultus. Plancxeruntque eum Franci diebus multis, regnavitque annis 44. Chlodovechum, filium eius, Franci super se regem statuunt; accepitque uxorem de genere Saxonorum nomine Balthilde, pulchra omnique ingenio strenua. Post haec autem Sighibertus rex Auster, Pippino defuncto, Grimoaldo, filio eius, in maiorum domato instituit. Decedente vero tempore, defuncto Sighiberto rege, Grimoaldus filium eius parvolum nomine Daygobertum totundit Didonemque Pectavensum urbis episcopum in Scocia pregrinandum eum direxit, filium suum in regno constituens. Franci vero itaque hoc valde indignantes, Grimoaldo insidias preparant, eumque exementes, ad condempnandum rege Francorum Chlodoveo deferunt. In Parisius civitate in carcere mancipatus, vinculorum cruciatu constrictus, ut erat morte dignus, quod in domino suo exercuit, ipsius mors valido cruciatu finivit.25

Die Information über die Adoption fehlt zwar, doch scheint der Bericht ansonsten die herrschende Auffassung zu bestätigen.26 Diese Passage ist aber auch ein gutes Beispiel für den geringen Quellenwert der Chronik, insbesondere im Blick auf die Verhältnisse in Austrasien. Der Autor behauptet zunächst, Grimoald sei nach Pippins Tod zum Majordomus aufgestiegen. Fredegar berichtet dagegen, daß Grimoald sich zuvor gegen seinen Konkurrenten Otto durchsetzen 24 So etwa G. Monod, Les origines de l’historiographie / Paris. Les gesta regum Francorum, in: M8moires de la Soci8t8 de l’histoire de Paris et de l’Isle de France 3 (1876) S. 219–240; G. Kurth, Ptude critique sur le Liber historiae Francorum, in: Ders., Ptudes Franques 1, Paris – Bruxelles 1919, S. 31–65, 55f., der weniger seine anti-austrasische Haltung als seine legitimistische Einstellung herausstellt; Wattenbach – Levison, Heft 1: Die Vorzeit von den Anfängen bis zur Herrschaft der Karolinger, bearbeitet von W. Levison, Weimar 1952, S. 115; Gerberding, Rise (wie Anm. 4) S. 76, 167ff.; J. Prelog, Art. ›Liber historiae Francorum‹, in: Lexikon des Mittelalters, Band 5, München – Zürich 1991, Sp. 1944f. 25 Liber historiae Francorum c. 43, ed. B. Krusch, Hannover 1888 (MGH SS rer. Merov. II) S. 316. 26 Vgl. die oben, Anm. 2, zitierte Literatur. Dupraz, Contribution (wie Anm. 2) S. 325ff., sucht zu beweisen, daß Dagobert nicht geschoren wurde. Von einer Mönchung gehen dagegen aus: K. Sprigade, Abschneiden des Königshaares und kirchliche Tonsur bei den Merowingern, in: Die Welt als Geschichte 22 (1962) S. 142–159, 151ff.; Ders., Die Einweisung ins Kloster und in den geistlichen Stand als politische Maßnahme im frühen Mittelalter, Diss. phil. Heidelberg 1964, S. 25ff.; W. Laske, Probleme der Mönchung in der Völkerwanderungszeit, Zürich 1973 (Rechtshistorische Arbeiten 11) S. 81ff.

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mußte.27 Auch wenn die Zeit Ottos als Hausmeier nur eine Episode war, so zeigt sich der Verfasser des Liber historiae Francorum doch bereits bei der Schilderung der dem ›Staatsstreich‹ vorausgehenden Ereignisse schlecht informiert. Dasselbe Urteil gilt für seine chronologischen Vorstellungen: In diesem kurzen Kapitel gebraucht er gleich drei unbestimmte zeitliche Anschlüsse. Weiter geht er davon aus, Dagobert I. (623–639) habe 44 und nicht 16 Jahre regiert.28 Die chronologische Anbindung der Ernennung Grimoalds zum Hausmeier ist auch in einer anderen Hinsicht nicht korrekt: Der Autor läßt sie unmittelbar auf Chlodwigs II. Eheschließung folgen. Aus der Fredegarchronik wissen wir jedoch, daß Grimoald im Jahr 643 Hausmeier wurde;29 Chlodwig heiratete Balthild dagegen erst fünf oder sechs Jahre später.30 Jede Aussage des neustrischen Chronisten in dem zitierten Kapitel, die anderen Quellen gegenübergestellt werden kann, erweist sich als ganz oder teilweise unkorrekt. Für den ›Staatsstreich‹ selbst fehlt uns zwar weitgehend das Vergleichsmaterial, doch liegt die Vermutung nahe, daß auch dieser Bericht des Liber historiae Francorum kaum besser fundiert ist. Zudem läßt er viele Fragen offen, so zum Beispiel: Wie lange konnte sich Grimoald an der Macht halten, wie hat er sein Vorgehen gerechtfertigt, wie hieß sein Sohn, warum empörten sich die Neustrier, was geschah in Austrasien nach Grimoalds Ende und vor allem welche weiteren Personen sind mit den geschilderten Ereignissen in Verbindung zu bringen? Wenigstens einige dieser Fragen beantwortet eine Gruppe der karolingerzeitlichen Königskataloge,31 die zusammen mit dem 99 Titel-Text der Lex Salica überliefert ist. Im Zusammenhang mit Redaktionsarbeiten an diesem Recht wurde der Archetyp dieser Liste im Jahr 798 am Hofe Karls des Großen erstellt.32 27 Chronicarum quae dicuntur Fredegarii scholastici libri IV cum continuationibus, ed. B. Krusch, Hannover 1888 (MGH SS rer. Merov. II) IV, 86, S. 164; IV, 88, S. 165; zu Otto vgl. H. Ebling, Prosopographie der Amtsträger des Merowingerreiches von Chlothar II. (613) bis Karl Martell (741), München 1974 (Beihefte der Francia 2) S. 66f.; J. Jarnut, Agilolfingerstudien. Untersuchungen zur Geschichte einer adligen Familie im 6. und 7. Jahrhundert, Stuttgart 1986 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 32) S. 76f. 28 Vgl. oben, S. 233. 29 Fred. IV, 88 (wie Anm. 27) S. 165: Anno decimo regno Sigyberti Otto, qui adversus Grimoaldo inimicicias per superbia tomebat, faccionem Grimoaldo a Leuthario duci Alamannorum interfecetur. Gradus honoris maiorem domi in palacio Sigyberto et omnem regnum Austrasiorum in mano Grimoaldo confirmatum est vehementer. 30 Vgl. Ewig, Studien (wie Anm. 15) S. 26, 28; Ders., Merowinger (wie Anm. 2) S. 149. 31 Edition dieses Königskatalogs: Lex Salica, ed. K. A. Eckhardt, Hannover 1969 (MGH LL nationum Germanicarum IV,2) S. 192ff.; weitere: Krusch, Chronologica (wie Anm. 6) S. 481; Lex Salica. 100 Titel-Text, ed. K. A. Eckhardt, Weimar 1953 (Germanenrechte Neue Folge, Westgermanisches Recht) S. 262ff. 32 Eckhardt, Einleitung zur Lex Salica, 100 Titel-Text (wie Anm. 31) S. 61f., 71 u. 78; zustimmend: E. Hlawitschka, Studien zur Genealogie und Geschichte der Merowinger und

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Sie wird seit Bruno Krusch als eine wichtige Quelle für Grimoalds ›Staatsstreich‹ angesehen. Krusch nahm an, die Informationen über die Adoption entstammten einem »karolingischen Hausarchiv«.33 Wir besitzen diese Liste in zwei handschriftlichen Fassungen. Im Codex Parisiacus Nr. 4409, geschrieben im 9. Jahrhundert, heißt es: Childebertus i(d est) adoptiuus Grimaldus regnauit annos VII.34 Die ältere erhaltene Handschrift – der sogenannte Codex Tillianus, ebenfalls aus dem 9. Jahrhundert – lautet dagegen: Childebertus adoptiuus filius Grimoald(i) regnauit annos VII.35 Eduard Hlawitschka verwies darauf, daß die zuerst zitierte Handschrift dem Archetyp am nächsten steht, und hielt daher ihre Version für die zuverlässigere. Er übersetzte: »Childebert, d. h. der adoptierte Grimoald regierte sieben Jahre« und meint also, Childebert habe vor der Adoption ebenfalls Grimoald geheißen.36 Die zweite Variante ergebe sich zwanglos aus der ersten, wenn man annehme, der Schreiber habe in seiner Vorlage das i als f-Abbreviatur mißverstanden. Soweit das Mittellateinische Wörterbuch jedoch Auskunft geben kann, wurde das Adjektiv adoptivus fast nie allein, sondern zumeist in Verbindung mit einer Verwandtschaftsbezeichnung gebraucht. Es wäre also auch möglich, daß der Schreiber der ersten Fassung in seiner Vorlage eine Abkürzung las, die er als i-Abbreviatur deutete, die jedoch in Wahrheit ein filius ersetzen sollte. Bereits im 9. Jahrhundert sorgte diese i-Abbreviatur für Verwirrung. Weitere Handschriften dieser Klasse der Königskataloge, die in Verbindung mit dem Chronicon Laurissense breve überliefert sind, bieten eine irrige Fassung: Hildibertus adoptivus annum I. Grimoaldus regnavit annus VII.37 Sobald also adoptivus nicht mehr als Erläuterung zu filius erkannt, sondern als Beiname Childeberts verstanden wurde, mißriet die Rekonstruktion der realen politischen

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der frühen Karolinger. Eine kritische Auseinandersetzung mit Karl August Eckhardts Buch Studia Merovingica, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 43 (1979) S. 1–99, 67. Krusch, Staatsstreich (wie Anm. 1) S. 424; zustimmend etwa Hlawitschka, Studien (wie Anm. 32) S. 64f.; Kruschs Argumentation ist noch heute weitgehend anerkannt, obwohl er mit seiner Auffassung für die mittlerweile als wertlos geltenden Listen plädierte, die zusammen mit der kleinen Lorscher Frankenchronik überliefert sind. Vgl. allgemein zu Archiven jener Zeit H. Fichtenau, Archive der Karolingerzeit, in: Mitteilungen des österreichischen Staatsarchivs 25 (1972) S. 15–24. Paris, BibliothHque Nationale, Lat. 4409, Folio; MGH LL IV,2, S. 193. Rom, Bibliotheca Vaticana, Reginae Christinae 846, Quart; MGH LL IV,2, S. 193; die Frage, ob GrimoalM als Grimoaldus oder als Grimoaldi aufgelöst werden muß, vgl. die Kontroverse zwischen K. A. Eckhardt, Studia Merovingica, Aalen 1975 (Bibliotheca rerum historicarum 11) S. 153f., der auf Grund der übrigen a-Abbreviaturen in dieser Handschrift für den Genitiv optiert; und E. Hlawitschka, Merowingerblut bei den Karolingern?, in: Adel und Kirche. Festschrift G. Tellenbach, hg. von J. Fleckenstein und K. Schmid, Freiburg 1968, S. 66–91, 86; sowie Ders., Genealogie (wie Anm. 32) S. 66f. Hlawitschka, Genealogie (wie Anm. 32) S. 66. Krusch, Chronologica (wie Anm. 6) S. 481; vgl. auch Hlawitschka, Genealogie (wie Anm. 32) S. 63.

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Verhältnisse in der Mitte des 7. Jahrhunderts völlig. Das lag wohl auch daran, daß die in Königslisten verzeichneten Namen normalerweise im Nominativ stehen, da diese Einträge nach folgendem Muster aufgebaut sind: N. regnavit annos X. Von daher war es leicht möglich, daß ein Schreiber eine Person, die in seiner Vorlage in einem Kommentar zu einem König genannt wurde, als Subjekt eines eigenen Satzes mißverstand und ihr eine eigene Regierungszeit einräumte. Man kann sogar weitergehen: In Königslisten standen üblicherweise alle Namen im Nominativ. Könnte der Schreiber des Codex Parisiacus Nr. 4409 nicht gleichsam mechanisch auch bei Grimoald den Nominativ gesetzt haben, auch wenn an sich der Genitiv hätte stehen müssen? Ist diese Vermutung richtig, kann man auch den Streit auf sich beruhen lassen, ob im Codex Tillianus GrimoalM zu Grimoaldus oder Grimoaldi aufgelöst werden sollte:38 Gemeint war wohl in jedem Fall der Genitiv. Ein anderes Argument kommt noch hinzu: Grimoald hätte, wenn Hlawitschkas Auslegung richtig ist, seinem Sohn den eigenen Namen gegeben, den dieser bis zur Adoption und Umbenennung in Childebert getragen hätte. Ist jedoch bereits die Benennung nach dem Großvater in jener Zeit eher selten, so ist die nach dem Vater fast ausgeschlossen, zumal dieser ja noch am Leben war.39 Nicht einmal der Sohn Chilperichs I. erhielt nach dessen Tod (584) den Namen des Vaters, sondern den des Großvaters Chlothar I (511–561).40 Der zweiten Version, in der Childeberts ursprünglicher Name offen bleibt, ist daher wohl größeres Vertrauen entgegenzubringen. Sie steht dem Archetyp ebenfalls recht nahe. Was sagt diese Liste aus? Üblicherweise setzt man die Interpunktion so, daß sich folgender Sinn ergibt: »Der adoptierte Childebert, Sohn Grimoalds, regierte sieben Jahre«.41 Daß diese Interpunktion »beim modernen Leser ein bestimmtes Vorverständnis bewirkt«, merkte bereits Eduard Hlawitschka an, der weiter ausführte, daß – unter Verzicht auf die Kommasetzung – »sich für einen mittelalterlichen Leser die Zuordnung adoptivus filius Grimoaldi zum Königsna38 Vgl. oben, Anm. 35. 39 Mitterauer, Nachbenennung (wie Anm. 22) S. 389; anders Hlawitschka, Genealogie (wie Anm. 32) S. 55 Anm. 227, 67 mit Anm. 285; die Nachbenennungen bei den Merowingern lassen den Schluß zu, daß diese in der Regel Söhne nicht nach den Vätern benannt haben, vgl. Ewig, Namengebung (wie Anm. 3) S. 31ff. 40 Gregorii episcopi Turonensis historiarum libri X, ed. B. Krusch – W. Levison, 2. Auflage Hannover 1951 (MGH SS rer Merov. I,1) VII, 7, S. 330: Prioribus quoque de regno Chilperici, ut erat Ansovaldus et reliqui, ad filium eius, qui erat … quattuor mensuum, se colligerunt, quem Chlotharium vocitaverunt …; vgl. R. Schneider, Königswahl und Königserhebung im Frühmittelalter. Untersuchungen zur Herrschaftsnachfolge bei den Langobarden und Merowingern, Stuttgart 1972 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 3) S. 116; Ewig, Namengebung (wie Anm. 3) S. 32. 41 Vgl. Eckhardt, Studia Merovingica (wie Anm. 35) S. 153.

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men Childebertus ergeben hätte«.42 Außerdem wurde, wie bereits erwähnt, das Adjektiv adoptivus meist in Verbindung mit einer Verwandtschaftsbezeichnung gebraucht. Es ist daher keineswegs zwingend, zwischen adoptivus und filius ein Komma zu setzen, sondern beide Worte sollten wohl eher aufeinander bezogen werden. Dann aber bleibt nur folgende Übertragung übrig: »Childebert, der Adoptivsohn Grimoalds, regierte sieben Jahre«. Hlawitschka wies diese Deutung jedoch zurück, »denn Childebert war ja nicht Grimoalds Adoptivsohn, sondern sein leiblicher Sohn«.43 Daß es sich also bei Grimoalds namenlosen Sohn, von dem im Liber historiae Francorum die Rede ist, um Childebert handelt, und daß überhaupt der in der Chronik überlieferten Darstellung absolute Glaubwürdigkeit zukommt, wird also stillschweigend vorausgesetzt. Daß man bisher davon ausging, ein Pippinide habe als Adoptivsohn eines Merowingers das Recht gewonnen, einen merowingischen Namen zu führen, hängt sicherlich auch mit den Assoziationen zusammen, die das Wort adoptivus weckt. Man denkt unwillkürlich an eine Namenänderung, wie sie im klassischen Rom anläßlich einer Annahme an Sohnes Statt vorgenommen wurde. Doch ist das Adoptionsrecht der Spätantike (und damit des frühen Mittelalters in romanisch geprägten Gebieten) nicht mit dem der Republik und frühen Kaiserzeit zu vergleichen. Der Adoptierte schied nur noch dann aus seiner alten Familie aus und trat in die neue ein, wenn er ohnehin mit dem Adoptivvater verwandt war. Ansonsten verblieb er in der angestammten Familie und gewann lediglich ein zusätzliches Erbrecht nach dem Tod des Adoptierenden hinzu.44 Ebenso verschwand das mehrgliedrige Namensystem der klassischen Zeit und mit ihm wohl auch die geregelte Umbenennung in Folge einer Adoption.45 Weiter ist zu be42 Hlawitschka, Genealogie (wie Anm. 32) S. 66 Anm. 278. 43 Hlawitschka, Genealogie (wie Anm. 32) S. 66 Anm. 278; entsprechend argumentierten auch Krusch, Staatsstreich (wie Anm. 1) S. 424: »… das falsche Verhältnis eines Adoptivsohnes zu Grimoald …«; P. E. Martin, Ptudes critiques sur la Suisse / l’8poque m8rovingienne, 534–715, GenHve – Paris 1910, S. 238: »… par le fait que Childebert ne peut pas Þtre le fils adoptif de Grimoald«. 44 Vgl. M. Kaser, Das römische Privatrecht. Zweiter Abschnitt: Die nachklassischen Entwicklungen, 2., neubearbeitete Auflage München 1975 (Handbuch der Altertumswissenschaft 10,3,3,2) S. 208ff. 45 Vgl. Th. Mommsen, Zur Lebensgeschichte des jüngeren Plinius, in: Ders., Gesammelte Schriften 4. Historische Schriften 1, 2. Auflage Berlin – Dublin – Zürich 1965, S. 366–468, 400ff.; E. Fraenkel, Art. ›Namenwesen‹, in: Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Neue Bearbeitung begonnen von G. Wissowa, fortgeführt von W. Kroll und K. Mittelhaus, hg. von K. Ziegler, abgeschlossen von H. Gärtner, Band 16,2, Stuttgart 1935, Sp. 1662ff.; I. Kajanto, The Emergence of the Late Single Name System, in: L’onomastique latine. Paris 13–15 octobre 1975, Paris 1977 (Colloques internationaux du centre national de la recherche scientifique 564) S. 421–428, M. Heinzelmann, Les changements de la d8nomination latine / la fin de l’antiquit8, in: Famille et parent8 dans l’occident m8di8val. Actes du colloque de Paris (6–8 juin 1974) organis8 par l’8cole pratique des hautes 8tudes (VIe section) en collaboration avec le collHge de France et l’8cole franÅaise de Rome,

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rücksichtigen, daß Namenwechsel als Folge einer Adoption im frühen Mittelalter nicht bezeugt sind.46 Eine Änderung des Namens erfolgte weder bei der Adoption Childeberts II. von Austrasien durch Gunthramn von Burgund im Jahre 577, noch bei derartigen Fällen im karolingischen Haus; ebensowenig lassen die Rechtsquellen diesbezüglich auf einen selbstverständlichen Namenwechsel schließen.47 Bezeichnenderweise untersuchte Gertrud Thoma in ihrer dieser Thematik gewidmeten Dissertation Childeberts Fall nicht unter der Überschrift »Adoptionen«, sondern in dem Kapitel »Namensänderung bei Übernahme eines Herrscheramtes«bzw.in dem Abschnitt »Namensänderung bei einer Usurpation«.48 Man wird sich daher hüten müssen, ohne weiteres Vorstellungen, die auf Grund der Kenntnis des klassischen römischen Adoptionsrechts naheliegen, auf das Frankenreich des 7. Jahrhunderts zu übertragen. Unvoreingenommen betrachtet weist daher der Name »Childebert« seinen Träger als Angehörigen der merowingischen Dynastie aus. Das wird durch eine andere, ältere Liste bestätigt. Dem Archetyp des bisher behandelten Königskataloges lag wahrscheinlich eine Liste zugrunde, die im Codex Sangallensis Nr. 731 überliefert ist. Diese Handschrift der Lex Salica wurde im Jahr 793 geschrieben49 und geht wohl auf die Zeit König Pippins zurück. Sie lautet an der fraglichen Stelle: Regnavit Heldobertus annus VII.50 Dieser Schreiber verzichtete auf jeden Zusatz.51 Für ihn war Childebert ein merowingischer König wie andere

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hg. von G. Duby und J. Le Goff, Rom 1977 (Collection de l’Pcole franÅaise de Rome 30) S. 19–24. Eckhardt, Studia Merovingica (wie Anm. 35) S. 163. Eine Übersicht bietet Hlawitschka, Adoptionen (wie Anm. 10); Ders., Merowingerblut (wie Anm. 35) S. 87 Anm. 73 geht davon aus, daß es »Namenswechsel bei Umgliederung in einen anderen Verband … seit jeher« gegeben habe. Die Beispiele die er anführt, sind jedoch als Stütze für seine These ungenügend: Der Namenwechsel des Normannenherzogs Rollo zu Robert im Jahr 911 erklärt sich aus seinem Übertritt zum Christentum, vollzogen durch die Taufe. Die Namenwechsel von Mönchen und Päpsten sowie die römischen Herrschernamen Augustus und Flavius sind mit der Adoption des Grimoaldsohnes nicht vergleichbar. Vgl. auch Eckhardt, Studia Merovingica (wie Anm. 35) S. 240ff.; H. Kuhn, Art. ›Adoption‹, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Band 1, hg. von J. Hoops, 2., völlig neu bearbeitete und stark erweiterte Auflage, hg. von H. Beck, H. Jankuhn, K. Ranke, R. Wenskus, Berlin – New York 1973, S. 83–85. G. Thoma, Namensänderungen in Herrscherfamilien des mittelalterlichen Europa, Kallmünz 1985 (Münchner Historische Studien, Abteilung Mittelalterliche Geschichte 3) S. 134– 137. MGH LL IV,2, S. 10: diae Mercoris proximo ante Kalendas Nouembris in anno XXVI regni domno nostro gloriosissimo Carolo rege. Vgl. Eckhardt, Einleitung zur Lex Salica. 100 TitelText (wie Anm. 31) S. 47. St. Gallen, Stiftsbibliothek 731 (früher M. n. 24), Großoktav ; MGH LL IV,2, S. 192. Das veranlaßte Krusch, Staatsstreich (wie Anm. 1) S. 425, dazu, dieser Liste jeden Quellenwert abzusprechen.

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auch.52 Erst am Hof Karls des Großen hielt man es wahrscheinlich für nötig, dessen Verwandten Grimoald in den Königslisten zu erwähnen und seine Handlungsweise durch den Hinweis auf die Adoption gegen den im Liber historiae Francorum formulierten Vorwurf zu rechtfertigen.53 Bereits im 9. Jahrhundert war diese Chronik handschriftlich weit verbreitet,54 und man kann daher davon ausgehen, daß sie auch an Karls Hof bekannt war. Wenn der St. Galler Königskatalog den Sachverhalt korrekt wiedergibt, dann ist Childebert wohl als legitimer Merowinger anzusehen, der von Grimoald adoptiert wurde. Das aber würde bedeuten, daß es im strengen Sinne gar keinen ›Staatsstreich‹ gegeben hat. Der wichtigste Einwand gegen die eben skizzierte Auslegung der Königskataloge stammt vom Liber historiae Francorum, dessen Bericht zufolge hat Grimoald seinen eigenen Sohn zum König erhoben. Bei der Lösung dieses Problems können lediglich zeitnähere Quellen zu König Childebert helfen. Zunächst ist hier die Schenkungsurkunde eines Bonifatius an das Kloster Weißenburg aus der Mitte des 7. Jahrhunderts zu nennen, die auf Childeberts sechstes Regierungsjahr datiert ist.55 Ob es sich bei diesem jedoch um einen geborenen oder adoptierten Merowinger gehandelt hat, läßt die Urkunde ebenso offen wie die in Marseille geprägten Goldmünzen aus der Mitte des 7. Jahrhunderts.56 Kurz nach seiner Thronbesteigung 656 stellte Childebert für die Kirche von Reims ein Immunitätspräzept aus. König Chlodwig II. von Neustrien hat unmittelbar darauf derselben Kirche Land geschenkt. Beide Urkunden sind in der im 9. Jahrhundert von Altmann von Hautvillers verfaßten Lebensbeschreibung des Bischofs überliefert.57 52 Vgl. bereits Martin, Ptudes critiques (wie Anm. 43) S. 237f.: »Childebert n’est plus le fils de Grimoald, mais celui du roi d8funt, ou tout au moins passe pour tel«. 53 Zu diesem Vorwurf bzw. der mit ihm verbundenen Warnung vgl. Gerberding, Rise (wie Anm. 4) S. 171. 54 Vgl. M. Manitius, Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters, Band 1: Von Justinian bis zur Mitte des 10. Jahrhunderts, München 1911 (Handbuch der Altertumswissenschaft 9,2,1) S. 228. 55 K. Glöckner, Traditiones Wizenburgenses. Die Urkunden des Klosters Weissenburg 661–864, aus dem Nachlaß hg. von A. Doll, Darmstadt 1979, Nr. 203, S. 415–417: Facta cessione sexta Kl. Marcias anno VI regno domno Hildiberto glorioso rege; zur Datierung vgl. Himly, Wissembourg (wie Anm. 2) S. 281ff.; Glöckner, Weißenburger Urkunde (wie Anm. 2) S. 1ff.; Dupraz, Contribution (wie Anm. 2) S. 186ff. 56 M. Prou, Les monnaies m8rovingiennes, Paris 1896, Nr. 1714, S. 355; P. H. Martin, Der merowingische Solidus aus Bermersheim bei Alzey, in: Numismatisches Nachrichtenblatt 24 (1975) S. 248–251; vgl. Hlawitschka, Genealogie (wie Anm. 32) S. 64f. mit Anm. 269, der die Möglichkeit anspricht, daß die von Prou, Nr. 1421ff., S. 311ff., Childebert III. zugewiesenen Goldmünzen ebenfalls unter dem adoptierten Childebert geprägt wurden. 57 Vgl. L. Levillain, La succession d’Austrasie au VIIe siHcle, in: Revue historique 112 (1913) S. 62–93, 65; Dupraz, Contribution (wie Anm. 2) S. 189 Anm. 1.

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Begründungen

Preceptum etiam immunitatis a Childeberto rege super theloneis et quibusdam tributis ecclesiae Remensi [Nivardus] obtinuit. Cui Lodovicus quoque rex sub ecclesie sue nomine res quasdam in Malliaco super fluvium Vidulam, quas quibusdam infidelibus suis eiectis receperat, auctoritatis sue precepto concessit. Huius etiam tempore tradidit Grimoaldus vir inluster sancto Remigio villas suas Calmiciacum et Victuriacum pro anime sue remedio.58

Da Nivardus in der fraglichen Zeit Bischof von Reims war (vor 657–673),59 handelt es sich bei den erwähnten Königen sicher um Childebert (III.) und Chlodwig II. Sehr häufig wurde diskutiert, ob es sich bei Chlodwigs Gegnern um Grimoald und seine Anhänger gehandelt habe.60 Entscheidend für dieses Problem ist die Frage, ob die Teile des Ortes Mailly (Arrondissement Reims), über die Chlodwig verfügte, zu Neustrien oder Austrasien gehörten. Ist letzteres der Fall, so kam es bald nach Sigiberts Tod zu Differenzen zwischen dem westlichen und dem östlichen Teilreich, in deren Verlauf Chlodwig II. auf Austrasien übergriff. Dies allein ist jedoch kein Beleg für den ›Staatsstreich‹. Möglicherweise suchte Chlodwig II. lediglich die Schwächeperiode, die Sigiberts III. Tod in Austrasien ausgelöst haben dürfte, auszunutzen, um seinen eigenen Machtbereich zu erweitern.61 Er konnte sich jedoch nur vorübergehend durchsetzen und mußte nach einem Kompromiß seine Erwerbungen der Kirche von Reims und damit dem Ostreich zurückgeben. Eventuell gehörten die umstrittenen Gebiete jedoch ohnehin zu Neustrien. Darauf könnte die Angabe hindeuten, Mailly liege super fluvium Vidulam, also an der Vesle. Mailly befindet sich am Südufer des Flusses, Reims hingegen am Nordufer. Möglicherweise trennte die Vesle damals Austrasien von Neustrien,62 was bedeuten könnte, daß Mailly bereits seit langem in Chlodwigs Machtbereich lag. Chlodwig starb 657, und Childebert herrschte seit 656. Damit liegen neben der Reihenfolge der Urkunden »terminus post quem« und »terminus ante quem« fest. Sowohl der legitime Herrscher Neustriens als auch der angebliche austra58 Altmann von Hautvillers, Vita Nivardi episcopi Remensis c. 6, ed. W. Levison, Hannover 1910 (MGH SS rer. Merov. V) S. 163f. 59 Dupraz, Contribution (wie Anm. 2) S. 189f. 60 Krusch, Chronologica (wie Anm. 6) S. 476f.; Ders., Staatsstreich (wie Anm. 1) S. 435; Levillain, Succession (wie Anm. 57) S. 66; Himly, Wissembourg (wie Anm. 2) S. 289; Gerberding, Rise (wie Anm. 4) S. 63. Nach Dupraz, Contribution (wie Anm. 2) S. 230ff. haben diese Kämpfe nichts mit der Grimoald-Affäre zu tun, da Dagobert I. bei dem Teilungsvertrag von 634/35 das Gebiet von Mailly, in dem die Güter lagen, Neustrien zugeschlagen habe. Vgl. dagegen Fischer, Ebroin (wie Anm. 2) S. 58f. Unentschieden: Ewig, Teilreiche (wie Anm. 7) S. 115 Anm. 121. 61 Fischer, Ebroin (wie Anm. 2) S. 59. 62 Vgl. auch die Karte bei M. Rouche, Remarques sur la g8ographie historique de la Neustrie (650–850), in: La Neustrie. Les pays au nord de la Loire de 650 / 850. Colloque historique international, Band 1, hg. von H. Atsma, Sigmaringen 1989 (Beihefte der Francia 16/1) S. 1–23, 11.

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sische Usurpator bedachten die Kirche von Reims ungefähr zur gleichen Zeit mit Schenkungen. Das paßt schlecht zu Spannungen zwischen beiden Königen, die man als Folge von Grimoalds ›Staatsstreich‹ annehmen muß, der sich auch gegen die neustrischen Merowinger richtete. Man kann einwenden, daß das pippinidische Königtum möglicherweise für kurze Zeit von den neustrischen Merowingern anerkannt wurde, bis sie Grimoald beseitigen konnten. Wären jedoch nach einem solchen Umschwung Childeberts Immunitätsverleihung und Grimoalds Schenkung gültig geblieben? Wären in diesem Falle nicht die betreffenden Urkunden vernichtet und durch Diplome der neuen Herrscher ersetzt worden? Sie blieben jedoch unversehrt und Altmann konnte sie auswerten. Möglicherweise hat Grimoald sogar nach Chlodwig für die Reimser Kirche geurkundet.63 Damit gewinnt die Deutung eines Einverständnisses zwischen Childebert und Chlodwig, das aus dem Bericht der Vita Nivardi abzuleiten ist, an Wahrscheinlichkeit: Unter Chlodwig II. und Childebert (III.) gab es keine nennenswerten Differenzen zwischen Neustrien und Austrasien. Fredegar bestätigt diese Einschätzung. Der Chronist berichtet von dem Erbvertrag zwischen Dagobert I. und seinem Sohn Sigibert III., dem Unterkönig von Austrasien, und dessen Großen nach der Geburt eines zweiten Sohnes namens Chlodwig im Jahr 634/35. Neustrien und Burgund sollten nach Dagoberts Tod an Chlodwig fallen, Austrasien in seiner ganzen Ausdehnung an Sigibert.64 Fredegar schließt seinen Bericht mit den Worten: Quod postea temporebus Sigyberti et Chlodoviae regibus conservatum fuisse constat.65 Zu Lebzeiten beider Söhne Dagoberts herrschte also Frieden zwischen den Teilreichen, während der Vertrag später nicht mehr eingehalten wurde. Wenn andere Quellen auch Spannungen zwischen Neustrien und Austrasien erkennen lassen,66 so ist die Feststellung, des Zeitgenossen Fredegar doch ernst 63 L. Levillain, Encore la succession d’Austrasie au VIIe siHcle, in: BibliothHque de l’Pcole des Chartes 106 (1945/46) S. 296–306, 301, verwies darauf, daß Grimoalds Schenkung nicht mit Sicherheit später als die beiden Königsurkunden datiert werden kann, da Altmann sich möglicherweise bei der Formulierung der Textstelle nicht von chronologischen, sondern von hierarchischen Überlegungen leiten ließ und daher die Urkunden der Könige vor der des Hausmeiers zitierte; zustimmend: Fischer, Ebroin (wie Anm. 2) S. 24; Krusch, Chronologica (wie Anm. 6) S. 477, geht nicht auf das Problem ein. Bei den Königsurkunden spielte dieses Ordnungsprinzip dagegen keine Rolle. Auch bleibt die Möglichkeit bestehen, daß hierarchische und chronologische Ordnung dieselbe Reihenfolge im Text erforderlich gemacht hatten. 64 Fred. IV, 76 (wie Anm. 27) S. 159; vgl. Ewig, Teilreiche (wie Anm. 7) S. 114; Schneider, Königswahl (wie Anm. 40) S. 146ff. 65 Fred. IV, 76 (wie Anm. 27) S. 159. Vgl. W. Goffart, The Fredegar Problem Reconsidered, in: Ders., Rome’s Fall and After, London 1989, S. 319–354 (zuerst in: Speculum 38 [1963] S. 206–241) 352. 66 Ewig, Teilreiche (wie Anm. 7) S. 120, unter Hinweis auf die Flucht von Aegas Schwiegersohn

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Begründungen

zu nehmen. Seine Aussage gilt auch für den Zeitraum zwischen Sigiberts Ableben 656 und Chlodwigs Tod 657. Er impliziert damit, daß Chlodwig und Childebert sich zumindest gegenseitig respektierten und daß erst nach Chlodwigs Tod die Konflikte zwischen den beiden Teilreichen offen zutage traten. Die gängige Version über den ›Staatsstreich‹ vorausgesetzt, dann hätte ein Merowinger auf die Stellung seiner Familie als alleiniger stirps regia verzichtet. Dies ist jedoch wenig wahrscheinlich. Der Bericht der Vita Nivardi eröffnet somit zwei Möglichkeiten: Entweder wurde Childebert durch die Adoption zu einem anerkannten Mitglied der Königsfamilie oder er war ohnehin ein legitimer Merowinger. Doch entfällt, wie oben dargelegt, die Möglichkeit einer Adoption durch Sigibert III., so bleibt allein die zweite Antwort übrig. Daß der adoptierte Childebert wirklich ein Merowinger gewesen sein könnte, wird durch eine in unserem Zusammenhang noch nie behandelte Quelle bestätigt. In einer nicht genau datierbaren Urkunde Theuderichs IV. (721–737) für die Abtei Maursmünster wird einer seiner Vorgänger namens Childebert als inclitae memoriae parens noster, Childebertus, quondam rex bezeichnet.67 Dieser hatte dem heiligen Leobardus durch eine Landschenkung die Gründung des Klosters ermöglicht. Zwar ist Theuderichs Urkunde nur in einer Abschrift des 12. Jahrhunderts erhalten, doch gehen wichtige Teile auf eine echte merowingische Vorlage zurück.68 A. M. Burg hat wahrscheinlich gemacht, daß Leobardus ein Zeitgenosse des adoptierten Childebert war.69 Selbst wenn Karl Martell als nach Austrasien (Fred. IV, 84 [wie Anm. 27] S. 163), das an Bischof Desiderius von Cahors gerichtete Verbot Sigiberts III., die Provinzialsynode von Bourges zu besuchen (MGH Epp. III, S. 191ff. und 212, Nr. II, S. 17), den Bericht der Vita Nivardi (wie Anm. 58) über Chlodwigs II. Vorgehen gegen infideles sowie die Tatsache, daß Chlodwig in Marseille Münzen prägen ließ; auf die Bemerkung Fredegars geht er nicht ein. 67 Diplomata regum Francorum e stirpe Merovingica, ed. K. Pertz, Hannover 1872 (MGH DD I) Sp. Nr. 90, S. 204f.; zur Datierung der Urkunde, … sub die Kalendarum Maii, anno dominicae incarnationis 724, indictione tercia, anno vero regni Theodorici quinto, vgl. I. Heidrich, Die Urkundliche Grundausstattung der elsässischen Klöster, St. Gallens und der Reichenau in der ersten Hälfte des Jahrhunderts, in: Die Gründungsurkunden der Reichenau, hg. von P. Classen, Sigmaringen 1977 (Vorträge und Forschungen 24) S. 31–62, 39. 68 W. Goldinger, Die Verfassung des Klosters Maursmünster im Elsaß, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins NF 51 (1938) S. 1–63, 8ff.; A. Bruckner, Regesta Alsatiae aevi Merowingici et Karolini (496–918), 1: Quellenband, Straßburg 1949, Nr. 104f., S. 48f.; Heidrich, Grundausstattung (wie Anm. 67) S. 37ff. Diese bezweifelt zwar, daß der Verweis auf den inclitae memoriae parens noster, Childebertus, quondam rex aus der echten Theuderich-Urkunde stammt, doch nahm E. Herr, Die Schenkung der Mark Maursmünster, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins NF 21 (1906) S. 529–600, 532f., keinen Anstoß an dieser Formulierung; Goldinger, S. 10, hat im übrigen festgestellt, daß sich zumindest der Satz Clementie regni nostri suggessit Childebertus quondam rex an merowingische Formeln anlehnt. 69 A. M. Burg, Les d8buts du monachisme en Alsace. HypothHses et vraisemblances, in: Archives de l’Eglise d’Alsace 23, nouvelle s8rie 7 (1956) S. 23–36, 30f.; vgl. F. Prinz, Frühes Mönchtum im Frankenreich. Kultur und Gesellschaft in Gallien, den Rheinlanden und

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Hausmeier Theuderich IV. weitgehend in seiner Gewalt gehabt haben sollte, so dürfte der König doch noch in soweit handlungsfähig gewesen sein, daß er darüber bestimmen konnte, wer in seinem Namen als sein Verwandter angesprochen wurde. Geht man dagegen von der Omnipotenz des Hausmeiers aus, so würde eine zeitgenössische Parallele fehlen: Vor allem in der arnulfingischen Hauschronik, in diesem Fall der ersten Fortsetzung Fredegars, wurde nicht versucht, den von Grimoald 656 erhobenen König als dessen leiblichen Sohn und als Adoptivsohn Sigiberts III. hinzustellen.70 Es bleibt daher bemerkenswert, daß ein Merowinger Childebert wahrscheinlich zu den Angehörigen seines Hauses zählte, ohne daß diese Verwandtschaft von arnulfingischer Seite auf eine Adoption durch Sigibert III. zurückgeführt wurde. Eine Nachricht der Vita Boniti kann weiteren Aufschluß geben. Ihr Verfasser, der diese kurz nach dem Tod des späteren Bischofs von Clermont im Jahr 711 schrieb,71 gilt im allgemeinen als gut informiert.72 Er schildert auch die weltlichen Etappen der Karriere des Bonitus, der lange Zeit, unter anderem als Referendar, im Dienst Sigiberts III. stand. Der Hagiograph geht kurz auf den Tod dieses Königs und seine Nachfolge ein: Post cuius [Sigiberti] obitum, filiisque defunctis, pronepos eius suscepit sceptra.73 Bei Sigiberts pronepos handelt es sich

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Bayern am Beispiel der monastischen Entwicklung (4. bis 8. Jahrhundert), München 1965, 2., durchgesehene, um einen Nachtrag ergänzte Auflage, München 1988, S. 170f., 194; R. Bornert, Art. ›Maursmünster‹, in: Lexikon des Mittelalters, Band 6, 6. Lieferung, München – Zürich 1992, Sp. 415f. Vgl. dazu unten, S. 256ff. Wattenbach – Levison, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Vorzeit und Karolinger, Heft 2: Die Karolinger vom Anfang des 8. Jahrhunderts bis zum Tode Karls des Großen, bearbeitet von H. Löwe, Weimar 1953, S. 165. Nach B. Jussen, Patenschaft und Adoption im Mittelalter. Künstliche Verwandtschaft als soziale Praxis, Göttingen 1991 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 98) S. 93f., war Bonitus ein Parteigänger Grimoalds und Pippins des Mittleren; dies habe sich auf die Berichterstattung des Vitentschreibers ausgewirkt. Er begründet diese Auffassung zum einen damit, daß Bonitus am Hof Sigibert Karriere gemacht habe, »an dem der mächtige Hausmeier Grimoald die Geschicke lenkte« (S. 92). Dies ist nichts anderes als eine petitio principii, zumal Grimoald in der Vita nicht genannt wird, sondern die Karriere des Bonitus eindeutig auf die Zuneigung des Königs zurückgeführt wird, vgl. Vita Boniti episcopi Arverni c. 2, ed. B. Krusch – W. Levison, Hannover 1913 (MGH SS rer. Merov. VI) S. 120. Zum anderen habe der Hof der Ernennung des Bonitus zum Bischof von Clermont zugestimmt, als Pippin dort die Zügel in der Hand hatte. Doch ging die Initiative zu der Berufung des Bonitus nicht vom Hof aus, sondern von seinem Bruder und Vorgänger Avitus, vgl. Vita Boniti c. 4–5, S. 121f.; zur Einschätzung der Vita als Quelle für das Verhältnis von König und Hausmeier vgl. jetzt auch den Beitrag von H.-W. Goetz in diesem Band [H.-W. Goetz, Karl Martell und die Heiligen. Kirchenpolitik und Maiordomat im Spiegel der spätmerowingischen Hagiographie, in: Karl Martell in seiner Zeit, hg. von J. Jarnut, U. Nonn, M. Richter, Sigmaringen 1994 (Beihefte der Francia 37) S. 101–118]. Vita Boniti c. 3 (wie Anm. 72) S. 120; zu Bonitus allgemein vgl. Ebling, Prosopographie (wie Anm. 27) S. 89f.

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entweder um Childerich II.74 oder um Theuderich III., austrasischer König seit 679, der Bonitus zum Präfekten von Marseille ernannte.75 Entscheidend ist die Frage, wer Sigiberts Söhne waren. Den einen identifiziert die Forschung mit Dagobert II., dem einzigen bislang bekannten Sohn des Königs,76 der andere sei der von Sigibert adoptierte Childebert gewesen77 bzw. habe als solcher gegolten.78 Läßt man jedoch zunächst einmal die Prämisse dieser Adoption außer Acht, so bleiben nur zwei Varianten: Die erste ist, daß der Vitenschreiber bereits einer arnulfingischen Propaganda folgte und Grimoalds Sohn als adoptierten Sohn Sigiberts III. ansah. Doch es ist, um es nochmals hervorzuheben, kein Geschichtswerk aus dem Umkreis der Arnulfinger und frühen Karolinger bekannt, in dem von der Adoption Childeberts durch Sigibert die Rede ist. Auch hätte der Hagiograph, wenn er im arnulfingischen Interesse eine auf dem Weg der Adoption erreichte Legitimität Childeberts hervorheben wollte, diese wohl eigens erwähnt. Eine im Sinne einer bestimmten Seite nur behauptete Adoption ist somit unwahrscheinlich.79 Doch könnte der Autor nicht auch auf eine tatsächliche Adoption Childeberts durch Sigibert anspielen? Will man diese Deutung aufrecht erhalten, so muß man den Wortlaut der Vita Boniti zurückweisen und annehmen, der Autor habe sich ungenau ausgedrückt. Dieser spricht jedoch explizit von Sigiberts Söhnen, doch wohl von leiblichen Söhnen, die in Austrasien zur Herrschaft gelangten.80 Da in der fraglichen Zeit alle anderen austrasischen Könige genealogisch sicher eingeordnet werden können, kommt als zweiter Sohn Sigiberts nur Childebert in Frage. Ziehen wir Zwischenbilanz: Der bislang als Grimoalds Sohn bekannte austrasische König Childebert trägt einen Namen, der ihn als Merowinger ausweist. Eduard Hlawitschka hat jüngst gezeigt, daß Childebert – unter der Voraussetzung, daß er Grimoalds Sohn gewesen sei – nicht in weiblicher Linie von der Königsfamilie abstammte.81 Childeberts Anrecht auf einen merowingischen 74 Dupraz, Contribution (wie Anm. 2) S. 150; Fischer, Ebroin (wie Anm. 2) S. 27. 75 Vita Boniti c. 3 (wie Anm. 72) S. 120f; vgl. Ebling, Prosopographie (wie Anm. 27) S. 89; Gerberding, Rise (wie Anm. 4) S. 62. 76 Gerberding, Rise (wie Anm. 4) S. 62, geht von Dagoberts tatsächlichem Todesjahr 679 aus, während Krusch, Staatsstreich (wie Anm. 1) S. 430f., annimmt, Dagobert habe nach seiner Verbannung im Jahr 662 als tot gegolten. 77 Krusch, Staatsstreich (wie Anm. 1) S. 430f. 78 Gerberding, Rise (wie Anm. 4) S. 62. 79 Vgl. auch oben, S. 228f. 80 Daran ist mit Dupraz, Contribution (wie Anm. 2) S. 150, gegen Fischer, Ebroin (wie Anm. 2) S. 27, festzuhalten; der Autor wollte mit seiner kurzen Bemerkung über Sigiberts Söhne die Lücke zwischen diesem und dem pronepos schließen – also die Lücke in der Königsreihe. 81 Vgl. zuletzt Hlawitschka, Genealogie (wie Anm. 32) S. 62ff., gegen Eckhardt, Studia Merovingica (wie Anm. 35) S. 151ff.

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Namen hatte folglich einen anderen Grund. Daß er dieses durch eine Adoption erworben habe, wird durch eine Analyse der Königskataloge nicht bestätigt. Vielmehr weist diese Quellengruppe darauf hin, daß Childebert von Grimoald und nicht von Sigibert adoptiert wurde. Dafür spricht auch, daß es zu Beginn seiner Herrschaft mit den neustrischen Merowingern wahrscheinlich keine Probleme gab.82 Außerdem spricht die einzige Quelle, die abgesehen vom Liber historiae Francorum auf Sigiberts Familie eingeht, davon, daß dieser mehrere Söhne gehabt habe, die nach ihm den Thron bestiegen. Will man keinen ansonsten unbekannt gebliebenen austrasischen König in die fränkische Geschichte einführen, dann kann mit dem einen Sohn Sigiberts nur Childebert gemeint sein. Der Autor des Liber historiae Francorum bietet nicht nur eine verzerrte Darstellung der Ereignisse vor und während des sogenannten Staatsstreiches, sondern er läßt auch die Folgen von Grimoalds Beseitigung völlig im Dunkeln. Trat Chlodwig II. die Herrschaft im Gesamtreich an? Diesen Eindruck könnte man aus den weiteren Berichten des Chronisten gewinnen. Zunächst ist von Chlodwigs Tod und der Thronbesteigung seines ältesten Sohnes Chlothar III. die Rede. Daraufhin behauptet der Verfasser, Chlothar sei nach vierjähriger Herrschaft gestorben, und sein Bruder Theuderich habe seine Nachfolge in Neustrien angetreten, während der andere Bruder, Childerich II., König in Austrasien geworden sei.83 Der Schluß liegt nahe, Chlodwig und sein Sohn hätten auch das östliche Teilreich beherrscht, das erst 662 mit Childerich II. wieder einen eigenen König erhielt.84 Gegen diese Annahme spricht jedoch die Gewohnheit des Verfassers, Vereinigungen des Frankenreiches unter einem König eigens hervorzuheben. Sowohl Chlothars II. als auch Dagoberts I. Gesamtherrschaft bezeichnet er als monarchia.85 Im Falle Childerichs II. schildert er sogar, wie dieser als König von Austrasien 673 von den Neustriern herbeigeholt und zum König erhoben wurde.86 Folglich herrschten weder Chlodwig II. noch nach ihm Chlo-

82 Ähnlich jüngst auch Collins, Early Medieval Europe (wie Anm. 2) S. 238. 83 Liber historiae Francorum c. 45 (wie Anm. 25) S. 317; weiterhin ist die chronologische Unzuverlässigkeit des Autors bemerkenswert, denn Chlothar III. herrschte nicht vier, sondern 16 Jahre, von 657 bis 673. Diese vier Jahre führen jedoch ungefähr zum Jahr 662, in dem Childerich II. tatsächlich König in Austrasien wurde. 84 So etwa Gerberding, Rise (wie Anm. 4) S. 63f. 85 Liber historiae Francorum c. 40 (wie Anm. 25) S. 310: … Burgundiones et Austrasii, cum reliquis Francis pace facta, Chlotharium regem in totis tribus regnis in monarchiam elevaverunt; c. 42, S. 314: Succedente vero tempore mortuus est Chlotharius rex senex regnavitque annis 44, regnumque eius Dagobertus rex, filius eius, in monarchiam in totis tribus regnis sagaciter accepit. Das Fehlen dieses Wortes beim Bericht über die Thronerhebung Chlothars III. spricht gegen die Annahme von Dupraz, Contribution (wie Anm. 2) S. 249ff., dieser habe über das Gesamtreich geherrscht. 86 Liber historiae Francorum c. 45 (wie Anm. 25) S. 317: In Auster propter Childericum mit-

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Begründungen

thar III. – zumindest nach Auffassung des Chronisten – im gesamten fränkischen Reich. Für den Verfasser des Liber historiae Francorum regierte bis zu Childerichs II. Herrschaftsantritt im Jahr 662 daher ein anderer König in Austrasien. Diesen hielt er für den Sohn Grimoalds, doch nannte er seinen Namen nicht. Es ist möglich, daß der Chronist ihn zur Unperson stempeln wollte.87 Näherliegender ist jedoch der Gedanke, daß er den Namen selbst verschweigen wollte. ›Childebert‹ ist ein merowingischer Königsname, den der Chronist kaum erwähnen konnte, ohne seine eigene Darstellung mit einem Fragezeichen zu versehen: Er bezeichnet Childebert als Pippiniden, während der Name ihn als Merowinger ausweist. Möglicherweise bestätigt daher auch sein Bericht wenigstens indirekt die aus anderen Quellen gewonnene Filiation Sigibert – Childebert. Wahrscheinlich hat sich der Verfasser für die Mitte des 7. Jahrhunderts auf mündliche Quellen gestützt,88 doch könnte er durchaus auch mit schriftlichem Material gearbeitet haben, dem er zumindest seine Kenntnis der Regierungsjahre verdankte.89 Angesichts seiner Vorliebe für das westliche Teilreich stammten sie wohl von dort und spiegelten eine spezifisch neustrische Sicht von Grimoalds ›Staatsstreich‹ wider. Vor allem ist hier an Versuche der neustrischen Merowinger zu denken, ihr Ausgreifen auf Austrasien zu rechtfertigen, auf die der Chronist sich möglicherweise gestützt hat. Die entscheidende Frage lautet nunmehr : Was gewann der Hausmeier Grimoald, als er den jungen Merowinger adoptierte? Bisher wurden Adoptionen in Herrscherhäusern meist nur unter dem naheliegenden Gesichtspunkt der Nachfolgeregelung betrachtet. Doch kam durch einen solchen Schritt nicht nur der adoptierte Sohn in den Genuß eines zusätzlichen Erbrechts, sondern der neue Vater erhielt damit auch die Verfügungsgewalt über den Adoptivsohn bzw. seinen Besitz. Das gilt sowohl für das römische als auch für das im Frankenreich

tentes, [Franci] accomodant. Et una cum Vulfoaldo duce veniens, in regno Francorum elevatus est. 87 Vgl. K. Bosl, Leitbilder und Wertvorstellungen des Adels von der Merowingerzeit bis zur Höhe der feudalen Gesellschaft (Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse, 1974, Heft 5) S. 12. 88 Vgl. etwa Monod, Les origines (wie Anm. 24) S. 226f.; Kurth, Ptude critique (wie Anm. 24) S. 45; Wattenbach – Levison (wie Anm. 24) S. 115; in c. 44 (wie Anm. 25) S. 316, formuliert der Autor des Liber historiae Francorum sein grundsätzliches Mißtrauen gegen die schriftliche Überlieferung und stellt sie möglicherweise der mündlichen (historia) gegenüber : Huius [Chlodovei] mortem et finem nihil dignum historia recolit. Multa enim scriptores eius finem condempnant; nescientes finem nequitiae eius, in incertum de eo alia pro aliis referunt; vgl. Dupraz, Contribution (wie Anm. 2) S. 18f. 89 Zum ausgeprägten Interesse der Schriftkultur an funktionalen Daten vgl. F.-J. Schmale, Funktion und Formen mittelalterlicher Geschichtsschreibung. Eine Einführung, Darmstadt 1985, S. 11ff., 28ff.

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verbreitete Recht.90 Aus dem Bereich der Taufpatenschaft, die sehr eng mit der Adoption verwandt ist, gibt es dafür viele Beispiele.91 König Gunthramn von Burgund interpretierte etwa die Adoption seines Neffen Childebert II. und die Taufpatenschaft für seinen anderen Neffen Chlothar II. als eine Wiedervereinigung des Frankenreiches unter seiner Führung.92 Für das Verständnis von Grimoalds Situation ist ein anderes Beispiel besser geeignet: Bischof Prätextatus von Rouen brachte um 575 das Vermögen seines Patensohnes Merowech, den er ausdrücklich auch als seinen Sohn bezeichnete, für einige Zeit an sich.93 Merowech war ein Sohn Chilperichs I. und versuchte, seinen Vater vom Thron zu verdrängen. Prätextatus unterstützte seinen Patensohn aktiv. Nachdem die Revolte niedergeschlagen war, warf ihm Chilperich vor, der eigentliche Urheber der Auseinandersetzungen gewesen zu sein und den Sohn gegen den Vater aufgehetzt zu haben.94 Falsche Zeugen – zumindest schreibt dies Gregor von Tours – behaupteten, sie seien vom Bischof bestochen worden, damit sie Merowech den Treueid leisteten.95 Als Prätextatus entgegnete, er habe lediglich Geschenke mit Geschenken vergelten wollen, stellte der König die Treueide in den Mittelpunkt seiner Vorwürfe.96 Prätextatus hatte also in seiner Eigenschaft als Taufpate des jungen Merowech versucht, diesen auf den Thron zu heben. Wäre Prätextatus 90 Zum römischen Recht vgl. etwa L. Wenger, Art. ›Adoption‹, in: Reallexikon für Antike und Christentum, Band 1, Stuttgart 1950, Sp. 99–103; Kaser, Privatrecht (wie Anm. 44) S. 208ff. Zur Rechtspraxis im Frankenreich: Formulae Turonenses Nr. 23, ed. K. Zeumer, Hannover 1886 (Formulae Merowingici et Karolini aevi) S. 147f.; vgl. Hlawitschka, Adoptionen (wie Anm. 10) 4ff.; Jussen, Patenschaft (wie Anm. 72) S. 55ff. 91 Zur Taufpatenschaft allgemein vgl. A. Angenendt, Das geistliche Bündnis der Päpste mit den Karolingern, in: Historisches Jahrbuch 100 (1980) S. 1–94; Ders., Kaiserherrschaft und Königstaufe. Kaiser, Könige und Päpste als geistliche Patrone in der abendländischen Missionsgeschichte, Berlin – New York 1984 (Arbeiten zur Frühmittelalterforschung 15); J. H. Lynch, Godparents and Kinship in Early Medieval Europe, Princeton 1986; Althoff, Verwandte (wie Anm. 19) S. 82ff.; Jussen, Patenschaft (wie Anm. 72). 92 Vgl. Schneider, Königswahl (wie Anm. 40) S. 116f.; Jussen, Patenschaft (wie Anm. 72) S. 126ff. 93 Gregor Tur. V, 18 (wie Anm. 40) S. 222: ›… Proprium mihi esse videbatur, quod filio meo Merovecho erat, quem de lavacro regenerationis excipi‹; vgl. Angenendt, Kaiserherrschaft (wie Anm. 91) S. 115; Lynch, Godparents (wie Anm. 91) S. 185ff.; Jussen, Patenschaft (wie Anm. 72) S. 177ff. 94 Gregor Tur. V, 18 (wie Anm. 40) S. 217: ›… Hostem autem filium patri fecisti, seduxisti paecuniam plebem, ut nullus mecum fidem habitam custodiret, voluistique regnum meum in manu alterius tradere‹. 95 Gregor Tur. V, 18 (wie Anm. 40) S. 217: ›Haec et haec nobis dedisti, ut Merovechum fidem promittere deberimus‹; zur Bedeutung dieser Treueide vgl. U. Eckardt, Untersuchungen zu Form und Funktion der Treueidleistung im merowingischen Frankenreich, Marburg 1976 (Untersuchungen und Materialien zur Verfassungs- und Landesgeschichte 6) S. 104ff.; M. Becher, Eid und Herrschaft. Untersuchungen zum Herrscherethos Karls des Großen, Sigmaringen 1993 (Vorträge und Forschungen, Sonderband 39) S. 96f. 96 Gregor Tur. V, 18 (wie Anm. 40) S. 222: ›Si munera pro muneribus his hominibus es largitus, quur sacramenta postulasti, ut fidem Merovecho servarent‹?

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Begründungen

erfolgreich gewesen, so hätte er an Merowechs Hof sicherlich die Stellung eines ›leitenden Ministers‹ eingenommen. Grimoald konnte also de jure die Leitung des austrasischen Teilreiches übernehmen. Er war jedoch bereits unter Sigibert III. Hausmeier gewesen und hatte damit wohl faktisch die Regierungsgeschäfte geführt. Nur eine Bedrohung seiner Stellung nach Sigiberts Tod konnte ihn zu dieser Adoption veranlaßt haben. Natürliche Anwärterin auf eine Regentschaft war die Königin. Sigiberts Witwe Chimnechild besaß durchaus politischen Ehrgeiz. Das zeigte sie Jahre später, als sie für ihren Neffen Childerich II. die Regierungsgeschäfte führte. Indem Grimoald König Childebert adoptierte, schuf er sich gegenüber seiner Konkurrentin die rechtliche Grundlage für eine vormundschaftliche Regierung. Daß Chimnechild Sigiberts Witwe war, wissen wir aus einer Urkunde, die in der Gesta episcoporum Tullensium erhalten ist. Sie intervenierte bei Dagobert II. für Bischof Theudofrid von Toul.97 Dieser war 676, als Dagobert II. seine Herrschaft antrat, bereits gestorben,98 so daß die dem Bericht zugrundeliegende Urkunde nur auf Dagobert bezogen werden kann, wenn man ihm eine erste Regierungszeit zubilligt. Diese wäre dann unmittelbar in das Jahr 656 oder kurz danach zu datieren, da Dagobert nach dem Bericht des Liber historiae Francorum bald nach dem Tod seines Vaters nach Irland gebracht wurde. Damit wäre die von Bruno Krusch auf Grund anderer Belege postulierte erste Regierungszeit dieses Königs entgegen jüngeren Auffassungen doch als historisch zu betrachten.99 Die Verhältnisse in Austrasien waren nach Sigiberts III. Tod möglicherweise komplizierter als bisher angenommen: Es könnten sich zwei Könige bzw. Prätendenten gegenübergestanden haben. 97 Gesta episcoporum Tullensium c. 15, ed. G. Waitz, Hannover 1848 (MGH SS VIII) S. 635: Qui [Teufridus] inter plurima pietatis opera apud gloriosissimum regem Dagobertum, interventu venerandae genitricis ipsius Chimnechildis reginae, adquisivit ad locum, cui venerandus pontifex praeerat, villam nuncupatam Bladenau … Zu der Stelle ist anzumerken, daß der Autor Dagobert II. mit Dagobert I. verwechselt, denn er bezeichnet den König dieses Namens einige Zeilen später als Vater Sigiberts III., vgl. allgemein Duchesne, Fastes 8piscopaux de l’ancienne Gaule, Band 3, Paris 1915, S. 59; M. Manitius, Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters, Band 2: Von der Mitte des zehnten Jahrhunderts bis zum Ausbruch des Kampfes zwischen Kirche und Staat, München 1923 (Handbuch der Altertumswissenschaft 9,2,2) S. 434f.; S. Hellmann, Zu den Gesta episcoporum Tullensium, in: Neues Archiv 38 (1913) S. 670–673; W. Wattenbach – R. Holtzmann, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Die Zeit der Sachsen und Salier, 2. Teil, Heft 3 und 4: Das Zeitalter des Investiturstreits (1050–1125). Neuausgabe von F.-J. Schmale, Darmstadt 1967, S. 630. 98 Theudofrids zweiter Nachfolger Eborinus agierte unter Childerich II., vgl. J. Friedrich, Kirchengeschichte Deutschlands, Band 1: Die Merovingerzeit, Bamberg 1869, S. 256f.; Duchesne, Fastes 8piscopaux (wie Anm. 97) S. 63f.; Dupraz, Contribution (wie Anm. 2) S. 268. 99 Krusch, Staatsstreich (wie Anm. 1) S. 427ff.; dagegen jüngst noch einmal Gerberding, Rise (wie Anm. 4) S. 53f.; vgl. jedoch bereits die oben, Anm. 2, zitierte Literatur.

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Wer stand jedoch hinter den Konkurrenten Childebert und Dagobert? Wenn wir auch annehmen, daß Sigibert der leibliche Vater Childeberts gewesen ist, so kann in Anbetracht der merowingischen Polygamie daraus nicht gefolgert werden, daß seine Gemahlin auch dessen Mutter gewesen war.100 Das würde jedenfalls erklären, warum Grimoald auf Childebert zugreifen und ihn adoptieren konnte, während der noch junge Dagobert sich in der Obhut seiner Mutter befand. Sollte es zu Spannungen innerhalb Austrasiens gekommen sein, die offiziell zwischen Sigiberts Söhnen als Thronbewerbern, in Wahrheit aber zwischen Grimoald und Chimnechild ausgetragen wurden? Der Bericht des Liber historiae Francorum böte – zeitlich gesehen – dafür Raum. Er beginnt mit der Partizipialkonstruktion decedente vero tempore, die bisher als zeitliche Anbindung der folgenden Ereignisse an Grimoalds Ernennung zum Hausmeier durch Sigibert III. gewertet wurde. Doch könnte der Ausdruck auch zu dem nachfolgenden Ablativus absolutus gezogen werden und müßte dann etwa so ins Deutsche übertragen werden: »Es verging einige Zeit, nachdem König Sigibert gestorben war, da ließ Grimoald dessen kleinen Sohn scheren …«.101 Aus der Vita Wilfridi des (Eddius) Stephanus geht hervor, daß Dagobert II. sich im irischen Exil aufgehalten hat. Die zu Beginn des 8. Jahrhunderts verfaßte Vita ist die beste Quelle für Dagoberts Rückkehr nach Austrasien.102 Nam supradictus rex [Daegberht] in iuventute sua ab inimicis regnantibus in exilium perditionis pulsus, navigando ad Hiberniam insulam, Deo adiuvante pervenit. Post annorum circulum amici et proximi eius, viventem et in perfecta aetate florentem a navigantibus audientes, miserunt nuntios suos ad beatum Wilfrithum episcopum, petentes ut eum de Scottia et Hibernia ad se invitasset et sibi ad regem emisisset. Et sic sanctus pontifex noster perfecit, suscipiens eum de Hibernia venientem, per arma ditatum et viribus sociorum elevatum magnifice ad suam regionem emisit.103

Nur oberflächlich betrachtet bestätigt diese Darstellung die Auffassung der herrschenden Lehre. Zunächst ist anzumerken, daß jede zeitliche Anbindung 100 Zum frühmittelalterlichen Eherecht vgl. jetzt auch den Beitrag von W. Joch in diesem Band [W. Joch, Karl Martell – ein minderberechtigter Erbe Pippins?, in: Karl Martell in seiner Zeit, hg. von J. Jarnut, U. Nonn, M. Richter, Sigmaringen 1994 (Beihefte der Francia 37) S. 149–169]. 101 Liber historiae Francorum c. 43 (wie Anm. 25) S. 316: Decedente vero tempore, defuncto Sighiberto rege, Grimoaldus filium eius parvolum nomine Daygobertum totundit … 102 Zu Quellenwert und Datierung der Vita vgl. Levison, Einleitung zur Edition (wie Anm. 103) S. 181f.; Wattenbach – Levison (wie Anm. 71) S. 171f.; J. Prelog, Art. ›Aeddi Stephanus‹, in: Lexikon des Mittelalters, Band 1, München – Zürich 1980, Sp. 174; Gerberding, Rise (wie Anm. 4) S. 61; gegen die Identität des Verfassers Stephan mit Eddius wendet sich D. P. Kirby, Bede, Eddius Stephanus and the ›Life of Wilfrid‹, in: English Historical Review 98 (1983) S. 101–114, 102ff. 103 Vita Wilfridi c. 28, ed. W. Levison, Hannover – Leipzig 1913 (MGH SS rer. Merov. VI) S. 221 (vgl. auch Edition und Übersetzung von B. Colgrave, Cambridge 1927). Zur Königserhebung Dagoberts II. im Jahr 676 vgl. Schneider, Königswahl (wie Anm. 40) S. 169ff.

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Begründungen

von Dagoberts Exil an ein vorhergehendes Ereignis fehlt, so daß nicht deutlich wird, ob Dagobert direkt nach seines Vaters Tod oder erst später fortgebracht wurde, ob er zunächst regiert hat oder noch vor seiner Thronbesteigung das Reich verlassen mußte. Obwohl Dagobert und der Bischof gute Beziehungen zueinander unterhielten, verzichtete Wilfrids Biograph darauf, die Vorgehensweise der Gegner Dagoberts als illegitim darzustellen. Vielmehr bezeichnet er sie neutral als inimici regnantes. Er behauptet nicht, daß Grimoald und Childebert unrechtmäßig gegen den Exilierten vorgegangen seien. Dagoberts Verbannung läßt sich zeitlich näher bestimmen. Aus dem Additamentum Nivialense de Fuilano geht hervor, daß Grimoald und Dido von Poitiers an einem 16. Januar im pippinidischen Hauskloster Nivelles zusammenkamen.104 Da die in der Quelle erwähnte Äbtissin Gertrud, Grimoalds Schwester, vom 8. Mai 652 bis zum Dezember 658 dem Kloster vorstand und am 17. März 659 starb, muß das Treffen an einem 16. Januar in diesem Zeitraum stattgefunden haben.105 Bisher wurde angenommen, Dagobert sei unmittelbar nach dem Tode seines Vaters außer Landes gebracht worden, weshalb diese ›Konferenz von Nivelles‹ auf den 16. Januar 656 – kurz vor Sigiberts Tod am 1. Februar – datiert wurde.106 Doch konnte man mit Sigiberts Tod angesichts seines jugendlichen Alters von 25 oder 26 Jahren bereits fest rechnen? Und wenn man diese Frage bejaht, konnte dann Grimoald den Hof verlassen und so riskieren, beim Tod des Königs nicht anwesend zu sein? Außerdem wäre dann eine Reise Didos, dessen Stadt Poitiers zu Austrasien gehörte, an das Sterbelager seines Königs wohl kaum aufsehenerregend gewesen, so daß die beiden ihre Abmachungen an Ort und Stelle hätten treffen können. Geht man dagegen mit dem Liber historiae Francorum davon aus, daß nach Sigiberts Tod einige Zeit verging, bevor Grimoald und Dido von Poitiers Dagobert außer Landes brachten, läßt sich die ›Konferenz von Nivelles‹ auf den 16. Januar der Jahre 657, 658 oder 659 datieren. Indem Grimoald den Konkurrenten seines Königs nach Irland abschob, sicherte er Childebert die alleinige Königsherrschaft in Austrasien und seine eigene Stellung als zumindest faktischer Regent. Chimnechild dagegen hatte nur noch eine Möglichkeit, um ihre Ansprüche durchzusetzen. Sie mußte sich an die neustrischen Verwandten ihres Gemahls wenden. Es gelang ihr, die Verhältnisse in Austrasien in einer Art und Weise darzustellen, daß Grimoald als Rechtsbrecher erschien. Wahrscheinlich beklagte sie das schwere Los ihres verbannten Sohnes, während sie Childeberts Legitimität anzweifelte und ihn vielleicht sogar 104 Additamentum Nivialense de Fuilano, ed. B. Krusch, Hannover – Leipzig 1902 (MGH SS rer. Merov. IV) S. 449–451. Zur Abfassungszeit vgl. A. Dierkens, Abbayes et chapitres entre Sambre et Meuse, Sigmaringen 1985 (Beihefte der Francia 14) 304 Anm. 17. 105 Ewig, Noch einmal (wie Anm. 2) S. 456 mit Anm. 13. 106 Ewig, Noch einmal (wie Anm. 2) S. 456f.

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als leiblichen Sohn Grimoalds hinstellte. Indirekt wäre damit eine ehebrecherische Beziehung zwischen dem Hausmeier und Childeberts Mutter, einer Gemahlin oder Konkubine Sigiberts III. angesprochen. Daß ein solcher Vorwurf auch im 7. Jahrhundert durchaus üblich und wirksam war, zeigt das Beispiel Arnulfs von Metz, zu dessen Sturz eine entsprechende Verleumdung beitrug.107 Auch dem von interessierter Seite vorgebrachten Vorwurf, Thronprätendenten gehörten nicht dem merowingischen Königshaus an, begegnet man in den Quellen seit Gregor von Tours immer wieder. Am bekanntesten sind Gundowald und Rauching, die behaupteten, Söhne Chlothars I. zu sein.108 Nur ca. 15 Jahre nach dem sogenannten Staatsstreich erhob eine austrasische Adelsgruppe Chlodwig, einen angeblichen Sohn Chlothars III., zum König.109 Ob diese Prätendenten in der Rückschau als Merowinger anerkannt wurden, dürfte nicht zuletzt von ihrem Erfolg im Kampf um die Macht abhängig gewesen sein.110 Hierbei unterlagen Childebert und sein Beschützer Grimoald, und die Version der Sieger setzte sich durch, wie im Liber historiae Francorum nachzulesen ist. Jedenfalls haben wir im Vorwurf der Illegitimität ein gängiges Motiv der politischen Propaganda jener Zeit vor uns, das seine Wirkung nicht verfehlte. Wie aus dem Bericht der Chronik hervorgeht, empörten sich viele neustrische Adlige über Grimoalds Vorgehen und glaubten, den austrasischen Usurpator stürzen zu müssen. Direkt konnten sie ihn jedoch nicht angreifen, da seine Stellung im östlichen Teilreich gesichert war : Er war der langjährige Hausmeier und Vertraute des verstorbenen Königs sowie Adoptivvater des neuen Herrschers. Er verfügte daher sowohl über Rückhalt beim Adel als auch über eine unangreifbare Rechtsposition. Dem Liber historiae Francorum zufolge suchten die Neustrier auch keine offene Konfrontation, sondern sie lockten Grimoald in einen Hinterhalt.111 Wann dieses geschah, läßt sich aus der Darstellung der Chronik nicht ohne weiteres rekonstruieren. In ihr steht, daß der bereits 657 verstorbene Chlodwig II. den Hausmeier zum Tode verurteilt habe. Daß Childebert sich jedoch 107 Vita sancti Arnulfi c. 13, ed. B. Krusch, Hannover 1888 (MGH SS rer. Merov. II) S. 437; vgl. Jarnut, Agilolfingerstudien (wie Anm. 27) S. 73. 108 Gregor Tur. VI, 24 u. IX, 9 (wie Anm. 40) S. 290 u. 422. Vgl. Schneider, Königswahl (wie Anm. 40) S. 99ff., 109f.; Ewig, Merowinger (wie Anm. 2) S. 80, 45ff.; U. Nonn, »Ballomeris quidam«. Ein merowingischer Prätendent des VI. Jahrhunderts, in: Arbor amoena comis. Festschrift zum 25jährigen Jubiläum des Mittellateinischen Seminars der Universität Bonn, Stuttgart 1990, S. 35–39. 109 Vgl. Schneider, Königswahl (wie Anm. 40) S. 167ff.; Gerberding, Rise (wie Anm. 4) S. 70f.; Ewig, Merowinger (wie Anm. 2) S. 166f. 110 Vgl. zum Phänomen einer sich ständig wandelnden Auffassung von Verwandtschaft Jussen, Patenschaft (wie Anm. 72) S. 20ff. 111 Nach Thomas, Namenliste (wie Anm. 2) S. 24 Anm. 34, kann insidias preparare im Liber historiae Francorum »Verschwörungen anzetteln« heißen; anders Eckhardt, Studia Merovingica (wie Anm. 35) S. 173; vgl. auch Bund, Thronsturz (wie Anm. 12) S. 361.

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mehr als fünf Jahre ohne die Hilfe seines Vaters respektive Adoptivvaters an der Macht hielt, gilt zurecht als unwahrscheinlich. Möglicherweise wurde der Hausmeier daher erst unter Chlothar III. beseitigt, der im Jahr 662 in Neustrien regierte. Louis Dupraz verwies darauf, daß der Chronist die Namen Chlodwig und Chlothar verwechselt haben könnte.112 Doch es gibt noch eine andere Erklärung, die die verworrenen chronologischen Vorstellungen des neustrischen Autoren berücksichtigt. Dieser strebte wahrscheinlich danach, die Zeitangaben in seinem Werk aufeinander abzustimmen.113 Da er Dagobert I. 44 statt 16 Regierungsjahre zugebilligt hatte114 und ihm über Sigibert die entsprechende Angabe fehlte, mußte seiner Rechnung nach wahrscheinlich noch Chlodwig II. während Childeberts gesamter Regierungszeit geherrscht haben. Um seine Chronologie wieder zu ordnen, ließ er Chlothar III. im vierten Regierungsjahr als Knabe sterben,115 statt die exakte Regierungszeit von 16 Jahren anzugeben. Es war daher wohl Chlothar III., der Grimoald hinrichten ließ. Auf den Zeitpunkt gibt die Vita sanctae Geretrudis einen indirekten Hinweis: Im Dezember 658 konnte Wulfetrude, Grimoalds Tochter, ohne Widerstand von außen ihrer Tante Gertrud in der Leitung des Klosters Nivelles nachfolgen,116 was als ein wichtiges Indiz dafür zu werten ist, daß Grimoald noch eine bedeutende Rolle in Austrasien spielte. Mit Grimoalds Beseitigung war für Chimnechild und ihre neustrischen Helfer unter der Leitung der Königinmutter Balthild und des Hausmeiers Ebroin, die für Chlothar III. die Regentschaft führten, der Weg frei, die Macht in Austrasien 112 Dupraz, Contribution (wie Anm. 2) S. 382ff., mit aus Urkunden entnommenen Beispielen; zustimmend etwa J. Nelson, Queens as Jezebels: Brunhild and Balthild in Merovingian History, in: Dies., Politics and Ritual in Early Medieval Europe, London 1986 S. 1–48 (zuerst in: Medieval Women. Essays Dedicated and Presented to Professor R. M. T. Hill, hg. von D. Baker, Oxford 1978 [Studies in Church History, Subsidia 1] S. 31–77) S. 20 Anm. 102. 113 Vgl. allgemein Schmale, Funktion (wie Anm. 89) S. 80ff. 114 Liber historiae Francorum c. 43 (wie Anm. 25) S. 316, zitiert oben, S. 233. 115 Liber historiae Francorum c. 45 (wie Anm. 25) S. 317; auch Chlodwigs II. Regierungszeit verkürzte er von 18 auf 16 Jahre, c. 44, S. 317. 116 Vita sanctae Geretrudis c. 6, ed. B. Krusch, Hannover 1888 (MGH SS rer. Merov. II) S. 459f.; zur Datierung vgl. Krusch, Staatsstreich (wie Anm. 1) S. 430; Ewig, Noch einmal (wie Anm. 2) S. 456 Anm. 13. Gerberding, Rise (wie Anm. 4) S. 58f., hält dieses Zeugnis für unwichtig, da Nivelles bereits zuvor von Austrasien an Neustrien gefallen sei. Wenn Neustriens herrschende Kreise jedoch Grimoald in Austrasien bereits 656 oder 657 gewaltsam gestürzt hatten, warum hätten sie dann 658 seiner Tochter gestatten sollen, die Leitung eines wichtigen Klosters in Neustrien zu übernehmen? Und warum hatte Wulfetrude dann erst einige Zeit nach 658 unter der Verfolgung merowingischer Könige und Königinnen zu leiden? Vgl. dazu unten, S. 255. Ob Nivelles in jener Zeit zum Dukat Dentelin und damit gar zu Neustrien gehörte, ist umstritten, positiv : Levillain, La succession (wie Anm. 57) S. 72 Anm. 4; negativ : Dupraz, Contribution (wie Anm. 2) S. 166 Anm. 1; Ewig, Merowinger (wie Anm. 2) S. 145, spricht lediglich vom »Grenzgebiet zwischen Auster und Neuster«.

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zu ergreifen.117 Die Vita der Königin Balthild betont eigens, daß es dieser auf friedlichem Wege gelungen sei, ihren Sohn Childerich II. als König im östlichen Teilreich einzusetzen.118 Daß dies herausgestellt wird, läßt die Vermutung zu, daß eine einvernehmliche Machtübernahme keineswegs selbstverständlich war, daß ihr also Spannungen, wenn nicht gar Kämpfe, vorausgegangen sind. Tiefgreifende Gegensätze spricht wahrscheinlich auch der Autor des Liber historiae Francorum an, wenn er schreibt, die Neustrier hätten Childerich zusammen mit dem dux Wulfoald nach Austrasien geschickt, um die Herrschaft zu übernehmen.119 Von einer Beteiligung der Austrasier an der Thronerhebung des neuen Königs ist bei ihm nicht die Rede. Vielmehr spricht die Einsetzung eines Hausmeiers durch die Neustrier zumindest für eine teilweise Unterdrückung Austrasiens. Wulfoalds Familie unterhielt möglicherweise auch Beziehungen zum Bistum Toul,120 für das Dagobert II. auf Bitten Chimnechilds vor seiner Vertreibung nach Irland geurkundet hatte. Wulfoald war es auch, der Dagobert 676 aus seinem Exil zurückholte.121 Auf Chimnechilds Seite stand daher wohl auch eine austrasische Adelsgruppe, deren Führer Wulfoald war. Doch warum wurde Dagobert II., der legitime Anwärter auf den Thron, nicht bereits im Jahr 662 aus seinem Exil zurückgeholt? Sein Schicksal hatte schließlich die Neustrier nach Angaben des Liber historiae Francorum zu ihrem Vorgehen gegen Grimoald veranlaßt und hatte als Begründung für dessen Hinrichtung gedient. Der Einwand, Dagoberts irischer Aufenthaltsort sei im Frankenreich gänzlich unbekannt gewesen, ist nicht überzeugend, da über ihn neben Grimoald zumindest Dido von Poitiers, der ja auch gute Beziehungen zum neustrischen Hof unterhielt,122 Auskunft geben konnte. Der Schluß liegt nahe, 117 Zu den beiden vgl. E. Ewig, Art. ›Balthild‹, in: Lexikon des Mittelalters, Band 1, München – Zürich 1980, Sp. 1391f.; Ders., Art. ›Ebroin‹, in: Lexikon des Mittelalters, Band 3, München – Zürich 1986, Sp. 1531–1533. 118 Vita sanctae Balthildis c. 5, ed. B. Krusch, Hannover 1888 (MGH SS rer. Merov. II) S. 487: Tunc enim nuper et Austrasii pacifico ordine, ordinante domna Balthilde, per consilium quidem seniorum receperunt Childericum, filium eius, in regem Austri. Vgl. Fischer, Ebroin (wie Anm. 2) S. 88; Schneider, Königswahl (wie Anm. 40) S. 163ff.; Ewig, Merowinger (wie Anm. 2) S. 156f.; nach Nelson, Queens (wie Anm. 112) S. 20 mit Anm. 103, lag die Initiative bei den Austrasiern, genauer bei Grimoald, was durch den Text nicht gestützt wird. 119 Liber historiae Francorum c. 45 (wie Anm. 25) S. 317: Childericum itaque, alium fratrem eius [Chlotharii], in Auster una cum Vulfoaldo duce regnum suscipere dirigunt. Zu Wulfoald vgl. Ebling, Prosopographie (wie Anm. 27) S. 241f.; Ewig, Merowinger (wie Anm. 2) S. 162. 120 Vgl. den Beitrag von H. Ebling in diesem Band [H. Ebling, Die inneraustrasische Opposition, in: Karl Martell in seiner Zeit, hg. von J. Jarnut, U. Nonn, M. Richter, Sigmaringen 1994 (Beihefte der Francia 37) S. 295–304]. 121 Ewig, Merowinger (wie Anm. 2) S. 166; anders Gerberding, Rise (wie Anm. 4) S. 78–83. 122 Dupraz, Contribution (wie Anm. 2) S. 338ff.; anders: Fischer, Ebroin (wie Anm. 2) S. 88f., der jedoch die Aussage der Vita Wilfridi c. 28 (wie Anm. 103) S. 221, zitiert oben,

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daß Balthild und Ebroin nach dem Sieg ihr Interesse an Dagobert und der mit seinem Namen verbundenen Rechtsposition verloren hatten und ihn im irischen Exil beließen.123 Damit konnten Chimnechild und ihre Anhänger nicht einverstanden sein: Dagoberts Thronerhebung war schließlich das Ziel ihrer Handlungen gewesen. Sie mußten daher versuchen, den jungen Merowinger aus seinem Exil zurückzuholen. Möglicherweise enthält die Langobardengeschichte des Paulus Diaconus einen Hinweis auf diese Verwicklungen. Paulus berichtet von einer Allianz zwischen dem Frankenkönig Dagobert und dem Langobardenkönig Grimoald, die gegen den Agilolfinger Perctarit, den Grimoald vom Thron gestoßen hatte, gerichtet war.124 Da dieser im Jahr 671 gestorben ist, kann sich die Stelle nicht auf Dagoberts Herrschaft von 676 bis 679 beziehen, sondern ist in die Zeit nach Grimoalds Thronbesteigung zwischen Mai 662 und Januar 663 zu datieren. Jörg Jarnut kam zu dem Ergebnis, daß Grimoald diesen Pakt, der sich nicht nur gegen Perctarit, sondern auch gegen dessen neustrischen Verbündeten richtete, nach Childeberts (III.) Tod im Frühjahr oder Sommer 662 in Ermangelung eines anderen Königs im Namen des im irischen Exil weilenden Dagobert abgeschlossen habe.125 Vielleicht suchte aber auch Chimnechild im Namen ihres Sohnes Hilfe bei den Langobarden. Sie benötigte sie wohl, denn möglicherweise erhob nach dem Sieg über Childebert und Grimoald die neustrische Königin im Namen ihres Sohnes Chlothar III. Anspruch auf Austrasien. Das könnte eine Urkunde Chlodwigs III. aus dem Jahre 692 belegen. Der König bestätigte damals dem Kloster St. Denis eine Schenkung über Steuereinnahmen aus Marseille, die der Abtei von Dagobert I., Sigibert III., Chlothar III., Childerich II. und Theuderich III. überlassen worden waren.126 Marseille war seit langem ein Teil Austrasiens,127 auf dessen

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S. 249, Dagoberts Anhänger hätten erst nach einer Reihe von Jahren von seinem irischen Exil erfahren, zu wörtlich nimmt und Didos Rolle nicht genügend berücksichtigt. Zu Dagoberts möglichem Aufenthaltsort vgl. Picard, Irish exile, S. 42ff. Vgl. Schieffer, Karolinger (wie Anm. 4) S. 21. Paulus Diaconus, Historia Langobardorum V, 32, ed. G. Waitz, Hannover 1878 (MGH SS rer. Germ.) S. 197f.: Hac tempestate Francorum regnum aput Gallias Dagibertus regebat, cum quo rex Grimuald pacis firmissimae foedus inierat. Cuius Grimualdi vires Perctarit etiam aput Francorum patriam constitutus metuens, egressus e Gallia, ad Brittaniam insulam Saxonumque regem properare disposuit. J. Jarnut, Beiträge zu den fränkisch-bairisch-langobardischen Beziehungen im 7. und 8. Jahrhundert (656–728), Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 39 (1976) S. 331–352, 331–339. Noch Fischer, Ebroin (wie Anm. 2) S. 32–35, sprach sich gegen den Quellenwert der Stelle aus; ähnlich zuletzt auch Gerberding, Rise (wie Anm. 4) S. 65, ohne Jarnuts Studie zu kennen. DD Merov. Nr. 61 (wie Anm. 67) S. 54. R. Buchner, Die Provence in merowingischer Zeit. Verfassung – Wirtschaft – Kultur,

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Thron Chlothar demnach zumindest Anspruch erhoben hatte. Dies widersprach jedoch den Interessen Chimnechilds und ihres austrasischen Anhangs. Möglicherweise kam es zu einem Kompromiß: Weder Chimnechilds exilierter Sohn Dagobert noch der neustrische Herrscher Chlothar III. sollte König in Austrasien werden, sondern Balthilds jüngster Sohn Childerich, der mit Bilichild, der Tochter Chimnechilds, verlobt wurde. Diese übte selbst die Vormundschaft für das unmündige Paar aus,128 die vielleicht sogar als Mitregentschaft zu charakterisieren ist.129 Sie hatte damit die Stellung erreicht, die Grimoald ihr hatte vorenthalten wollen. Die Pippiniden waren dagegen in eine Krise geraten. Grimoalds Tochter Wulfetrude, seit Ende 658 Äbtissin von Nivelles, war einige Zeit nach ihrem Amtsantritt ob odio paterno Anfeindungen merowingischer Könige und Königinnen ausgesetzt.130 Üblicherweise datiert man diese Spannungen in die Zeit nach 662, da erst ab diesem Jahr Könige und Königinnen im Frankenreich herrschten, die Grimoald gegenüber Vorbehalte hatten. Dem wird man zustimmen können, ohne die vorherrschende Interpretation des ›Staatsstreiches‹ akzeptieren zu müssen. Die Angriffe oder besser Anfeindungen gegen Wulfetrud wurden nicht sehr energisch vorgetragen, denn die Äbtissin konnte sich bis zu ihrem Tode halten. Auch sonst blieb die Stellung der Familie Grimoalds trotz einiger Rückschläge unangefochten: Sein Schwager, Bischof Chlodulf von Metz, verdankte Grimoald seine Erhebung zum Bischof.131 Dennoch konnte er nach 662 ein gutes Verhältnis zu Childerich II. aufbauen.132 Grimoalds Neffe, Pippin der Mittlere, übernahm die pippinidischen Erbgüter133 und leitete den Aufstieg seines Hauses ein. Daß Grimoalds Familie die Niederlage ihres Oberhauptes relativ unbeschadet über-

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Stuttgart 1933 (Arbeiten zur deutschen Rechts- und Verfassungsgeschichte 9) S. 14; Ewig, Teilreiche (wie Anm. 7) S. 115. Ewig, Teilreiche (wie Anm. 7) S. 123; Ders., Merowinger (wie Anm. 2) S. 157. Schneider, Königswahl (wie Anm. 40) S. 164; unentschieden Fischer, Ebroin (wie Anm. 2) S. 73; vgl. auch Nelson, Queens (wie Anm. 112) S. 20. Zu dem Problemkreis allgemein vgl. seit neuestem Th. Kölzer, Das Königtum Minderjähriger im fränkischdeutschen Mittelalter. Eine Skizze, in: Historische Zeitschrift 251 (1990) S. 291–323. Vita sanctae Geretrudis c. 6 (wie Anm. 116) S. 460: Contigit autem ex odio paterno, ut reges, reginae, etiam sacerdotes per invidiam diabuli illam [Wulfetrudem] de suo loco primum per suasionem, postmodum vellent per vim trahere, et res Dei, quibus benedicta puella praeerat, iniquiter possiderent. Vgl. Werner, Lütticher Raum (wie Anm. 13) S. 385ff.; Jarnut, Agilolfingerstudien (wie Anm. 27) S. 78. J. M. Pardessus, Diplomata, chartae, epistulae, leges aliaque instrumenta ad res gallofrancicas spectantia, Band 2, Paris 1849, Nr. 360, S. 147f.; DD Merov. Nr. 28 (wie Anm. 67) S. 27; vgl. Jarnut, Agilolfingerstudien (wie Anm. 27) S. 109. Vgl. etwa Werner, Der Lütticher Raum (wie Anm. 13) S. 470f.; Dierkens, Abbayes (wie Anm. 104) S. 345; Ewig, Merowinger (wie Anm. 2) S. 163f., 182ff.

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Begründungen

stehen konnte, ist daher wohl als Indiz dafür zu werten, daß Grimoald in eine ›normale‹ Auseinandersetzung im Rahmen merowingischer Familienkämpfe verwickelt war. Zusammenfassend wäre festzuhalten, daß alle Quellen aus merowingischer Zeit einschließlich des frühkarolingischen Königskataloges aus St. Gallen Childebert als Merowinger behandeln.134 In ihnen ist keine Bemerkung zu finden, aus der hervorginge, dieser König entstamme nicht der seit Generationen herrschenden Dynastie. Selbst der im 9. Jahrhundert schreibende Altmann von Hautvillers hielt es nicht für nötig, Childeberts Herrschaft entsprechend zu kommentieren. Die einzige Ausnahme dieser Regel bildet der Liber historiae Francorum. Doch sollte die neustrische und legitimistische Ausrichtung dieser Chronik davor warnen, ihren Bericht allzu wörtlich zu nehmen und das Eigeninteresse ihres Verfassers bzw. seiner Gewährsleute zu unterschätzen. Erst karolingische Quellen geben den erklärenden Zusatz Childebertus adoptivus – genauer : adoptivus filius Grimoald(i). Selbst wenn man an der herkömmlichen Interpretation dieses Satzes festhält, so wird man doch berücksichtigen müssen, daß die unter Karl dem Großen einsetzende Erinnerung an die Adoption im karolingischen Interesse lag und im Zusammenhang mit den Bemühungen des Hofes gesehen werden muß, die Vergangenheit nach den eigenen Bedürfnissen ›aufzuarbeiten‹. Eine Gewichtung dieser verschiedenen zeitnahen und zeitfernen Quellen macht den Schluß sehr wahrscheinlich, daß Childebert ein legitimer Merowinger – wohl ein Sohn Sigiberts III. – und Adoptivsohn des Hausmeiers Grimoald war. Der von uns angedachte Verlauf der Auseinandersetzungen um Childebert III. und seinen Beschützer und Adoptivvater Grimoald wirft ein quellenkritisches Problem auf: Warum versuchte der Verfasser der ersten Fortsetzung Fredegars, der wahrscheinlich im Jahr 736 unter der Leitung von Karl Martells Halbbruder Childebrand arbeitete,135 keine Rechtfertigung Grimoalds gegen den unserer Meinung nach haltlosen Vorwurf des Liber historiae Francorum? Für die fragliche Zeit stützte er sich auf diese Chronik. Ihm war also aus eigenem Quellenstudium bzw. der Kenntnis seiner Familiengeschichte bekannt, wie einseitig Karls Großonkel bewertet wurde. Dennoch zog er es vor, die Ereignisse 134 Das gilt auch für die austrasische Königsliste, die enthalten ist im Diptychon Barberini, ed. H. Omont, Inscriptions m8rovingiennes de l’Ivoire Barberini, in: BibliothHque de l’Pcole des Chartes 62 (1901) S. 152–155 (auch in: Journal des Savants [1901] S. 101–105; weiterer Abdruck bei H. Leclercq, Art. »Diptyques«, in: Dictionnaire d’Arch8ologie chr8tienne et de Liturgie, Band 4, 1920, Sp. 1159f.); vgl. Thomas, Namenliste (wie Anm. 2) S. 18ff., dessen scharfsinnige Interpretation jedoch auf der traditionellen Sicht des ›Staatsstreiches‹ beruht. Andere Identifizierungsvorschläge für die Personen dieser Liste macht Eckhardt, Studia Merovingica (wie Anm. 35) S. 262ff. 135 Manitius, Geschichte, 1 (wie Anm. 54) S. 226f.; Wattenbach – Levison (wie Anm. 71) S. 161f.

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in Austrasien zwischen 656 und 662 zu übergehen. Wollte er es vermeiden, an eine Niederlage seines Hauses zu erinnern? Um 670 glaubte Pippin der Mittlere dagegen noch, an Grimoald erinnern zu müssen, denn er benannte seinen zweiten Sohn nach dem gescheiterten Onkel.136 Das legt den Schluß nahe, daß der arnulfingische Hof erst nach 670 damit begonnen hat, Grimoald und seine legitimistische Haltung in einem negativen Licht zu sehen. Möglicherweise liegt der Grund hierfür in unmittelbarer zeitlicher Nähe der Abfassung der ersten Fortsetzung Fredegars. Bruno Krusch erklärte die Zurückhaltung des Hofhistoriographen mit der Annahme, dieser habe »die Grimoald-Episode vorsichtigerweise ausgeschieden, deren Erinnerung neue Pläne leicht vereiteln konnte«.137 Eine entsprechende Schlußfolgerung kann auch dann gezogen werden, wenn man die hier entwickelte Deutung der Ereignisse um König Childebert III. und seinen Hausmeier für die wahrscheinlichere hält. Karl Martell regierte seit dem Tod Theuderichs IV. 737 ohne König. Damit nahm er selbst wohl die Funktionen wahr, die spätere Quellen als Relikte der einstigen merowingischen Königsmacht festgehalten haben. Zu nennen wären der Vorsitz bei den Reichsversammlungen oder das Empfangen fremder Gesandtschaften.138 Als etwa die päpstlichen Legaten ihn im Jahr 739 gegen die Langobarden um Hilfe baten, verhandelte Karl Martell daher nicht etwa nur hinter den Kulissen, sondern auch ganz offiziell mit ihnen.139 Karl dürfte diese für die Franken sichtbare Erhöhung seiner Person mitbedacht haben, als er 737 auf die Einsetzung eines Merowingers verzichtete. Über kurz oder lang wäre er über die Wahrnehmung der zeremoniellen Funktionen des Königs in dessen Rolle hineingewachsen. Der Dynastiewechsel hätte sich langsam und ohne spektakulären Bruch vollzogen. Wie ein König teilte Karl folglich kurz vor seinem Tod 136 Vgl. oben, S. 231. 137 Krusch, Staatsstreich (wie Anm. 1) S. 436; vgl. auch U. Nonn, Art. ›Fredegar (FredegarChronik)‹, in: Lexikon des Mittelalters, Band 4, München – Zürich 1989, Sp. 884. 138 Einhard, Vita Karoli magni c. 1, ed. O. Holder-Egger, Hannover 1911 (MGH SS rer. Germ.) S. 3; Chronicon Laurissense breve a. 750, ed. H. Schnorr von Carolsfeld, in: Neues Archiv 36 (1911) S. 27f. 139 Cont. Fred. c. 22 (wie Anm. 27) S. 178f.: Eo etenim tempore bis a Roma sede sancti Petri apostoli beatus papa Gregorius claves venerandi sepulchri cum vincula sancti Petri et muneribus magnis et infinitis legationem, quod antea nullis auditis aut visis temporibus fuit, memorato principi destinavit, eo pacto patrato, ut a partibus imperatoris recederet et Romano consulto praefato principe Carlo sanciret. Ipse itaque princeps mirifico atque magnifico honore ipsam legationem recepit, munera praetiosa contulit …; vgl. E. Hlawitschka, Karl Martell, das römische Konsulat und der römische Senat; zur Interpretation von Fredegarii Continuatio c. 22, in: Die Stadt in der europäischen Geschichte. Festschrift E. Ennen, hg. von W. Besch u.a., Bonn 1972, S. 74–90; P. Classen, Italien zwischen Byzanz und dem Frankenreich, in: Ders., Ausgewählte Aufsätze (wie Anm. 22) S. 85–115 (zuerst in: Nascita dell’Europa ed Europa carolingia Un’equazien da verificare, Spoleto 1981 [Settimane di studio del centro italiano di studi sull’alto medioevo 27] S. 919–967) S. 101ff.

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Begründungen

das fränkische Reich unter seine Söhne.140 Zu diesem Gedankengang paßt noch eine andere Tatsache. 737, im selben Jahr, in dem Karl Martell den fränkischen Thron unbesetzt ließ, entsandte er seinen Sohn Pippin zum Langobardenkönig Liutprand, damit dieser seinen zweiten Sohn adoptierte. Diese Erhöhung seiner Familie sollte wahrscheinlich die Aussichten verbessern, daß entweder Karl selbst, zumindest aber die folgende Generation – vielleicht in Person Pippins –, den fränkischen Thron besteigen konnte.141 Trifft diese Annahme zu, dann haben wir zum einen ein weiteres Indiz dafür, daß die Adoption als Mittel, die Merowinger abzulösen, noch nicht durch einen Fehlschlag diskreditiert war. Zum anderen dürfte dieses Ereignis aber auch Auswirkungen auf die Hofhistoriographie gehabt haben. Der repräsentative Akt einer Adoption durch einen außergentilen König setzte wahrscheinlich Verhandlungen voraus, die trotz der Freundschaft zwischen Franken und Langobarden einige Zeit in Anspruch genommen haben dürften. Nimmt man nur drei bis vier Gesandtschaften mit einer Reisezeit von ca. vier Wochen aus der Francia nach Pavia an und rechnet entsprechende Verhandlungszeiten hinzu, kommt man leicht in das Jahr 736 als Zeitpunkt, in dem Karls Pläne hinsichtlich Pippins Adoption feststanden. Unter diesen Vorzeichen konnte Karl Martell seine Familie unter keinen Umständen als Vorkämpferin der rechtmäßigen Dynastie darstellen lassen. In der Fortsetzung Fredegars unterblieb daher eine Rechtfertigung Grimoalds, und der um 805 schreibende Verfasser der Metzer Annalen leugnete in dieser Tradition gar Grimoalds Existenz.142 Der Verfasser der arnulfingischen Hauschronik wählte 736 einen anderen Weg, um auf den Vorwurf des Liber historiae Francorum, Karl gehöre einer Familie von Usurpatoren an, zu reagieren. Er wandelte die nüchterne Angabe seiner Vorlage, zur Zeit herrsche Theuderich IV. in seinem sechsten Jahr,143 in den überschwenglichen Wunsch um, dieser Merowinger möge noch viele Jahre regieren.144 In Wahrheit hoffte man wohl auf den baldigen Tod des Königs. Das aber

140 Vgl. H. J. Schüssler, Die fränkische Reichsteilung von Vieux-Poitiers (742) und die Reform der Kirche in den Teilreichen Karlmanns und Pippins. Zu den Grenzen der Wirksamkeit des Bonifatius, in: Francia 13 (1985) S. 47–112. 141 Vgl. dazu den Beitrag von J. Jarnut in diesem Band [J. Jarnut, Die Adoption Pippins durch König Liutprand und die Italienpolitik Karl Martells, in: Karl Martell in seiner Zeit, hg. von J. Jarnut, U. Nonn, M. Richter, Sigmaringen 1994 (Beihefte der Francia 37) S. 217–226]. 142 Annales Mettenses priores a. 688, ed. B. Simson, Hannover – Leipzig 1905 (MGH SS rer. Germ.) S. 2f.: Sane quia huic [Pippinus] sexus proles defuerat, nepoti suo Pippino superstiti nomen cum principatu dereliquit. 143 Liber historiae Francorum c. 53 (wie Anm. 25) S. 328: Franci vero Theudericum, Cala monasterio enutritum, filium Dagoberto iunioris, regem super se statuunt, qui nunc anno sexto in regno subsistit. 144 Cont. Fred. c. 10 (wie Anm. 27) S. 174: … Theuderico rege statuerunt in sedem regni, qui nunc locum solii regalis obtenit, ann. vitae simul prestolatis.

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würde nur ein letztes Schlaglicht auf die zynische Haltung des arnulfingischen Hofhistoriographen in der Bewertung des merowingischen Königs werfen. Zu Anfang dieser Ausführungen wurde auf die verschiedenen Fragen hingewiesen, die die herkömmliche Interpretation von Grimoalds ›Staatsstreich‹ offen läßt. Die hier vorgestellte Rekonstruktion der Ereignisse um Grimoald und Childebert kann angesichts der Quellenlage nicht mehr als ein Versuch sein. Doch geht man davon aus, daß Grimoald den Königssohn Childebert adoptierte, um weiterhin an der Spitze der austrasischen Politik stehen zu können, lassen sich Antworten auf die eben nochmals gestellten offenen Fragen finden: So war Chimnechild Grimoalds Gegenspielerin, die sich gegen ihn nur mit Hilfe der neustrischen Merowinger durchsetzen konnte. Ihr Verzicht auf Dagoberts Rückkehr aus Irland war der Preis für diese Unterstützung. Indem Grimoald Sigiberts anderen Sohn Childebert unterstützt hatte, war er in eine normale Auseinandersetzung innerhalb der merowingischen Dynastie verwickelt. Daher verzichteten die siegreichen Angehörigen des Pariser Hofes darauf, eine damnatio memoriae gegen Grimoald zu verhängen. Wichtiger noch ist, daß aus diesem Grund Grimoald nicht als Bedrohung für das alleinige Herrschaftsrecht der Merowinger angesehen wurde. Aus diesem Grunde konnte seine Familie seine Niederlage relativ unbeschadet überstehen und nach nur einer Generation wieder eine herausragende Stellung zunächst in Austrasien und bald im gesamten Frankenreich einnehmen.

Eine verschleierte Krise. Die Nachfolge Karl Martells 741 und die Anfänge der karolingischen Hofgeschichtsschreibung

Carolus maior domus defunctus est1.

So lautet der erste Jahresbericht der Reichsannalen zu 741. Die Reichsannalen sind eine der bekanntesten Quellen der Karolingerzeit. Ihr erster Teil wurde um 790 am Hof Karls des Großen in einem Zug niedergeschrieben und schildert als offiziöses Geschichtswerk den Aufstieg der Familie unter Karl Martells Sohn Pippin und seinem Enkel Karl dem Großen2. Meilensteine dieser Erfolgsgeschichte waren der Dynastiewechsel von 751, das Bündnis mit dem Papsttum, die Eroberung Aquitaniens, die Siege über die Langobarden in Ober- und Mittelitalien, die Eroberung Sachsens und schließlich die Absetzung des letzten großen Erstdruck in: Von Fakten und Fiktionen. Mittelalterliche Geschichtsschreibung und ihre kritische Aufarbeitung, hg. von Johannes Laudage (Europäische Geschichtsdarstellungen 1), Köln – Weimar – Wien 2003, S. 95–133. 1 Annales regni Francorum inde a. 741 in: Annales regni Francorum inde ab a. 741 usque ad a. 829, qui dicuntur Annales Laurissenses maiores et Einhardi ad a. 741, ed. Friedrich Kurze (MGH SS rer. Germ. [6], 1895) S. 2. 2 Wilhelm Wattenbach/Wilhelm Levison/Heinz Löwe, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Vorzeit und Karolinger, Heft 2: Die Karolinger vom Anfang des 8. Jahrhunderts bis zum Tode Karls des Großen (1953) S. 245ff.; vgl. auch Hartmut Hoffmann, Untersuchungen zur karolingischen Annalistik (Bonner Historische Forschungen 10, 1958) S. 38ff.; Matthias Becher, Eid und Herrschaft. Untersuchungen zum Herrscherethos Karls des Großen (Vorträge und Forschungen, Sonderband 39, 1993) S. 21ff.; eine neue Sicht bietet Rosamond McKitterick, Constructing the Past in the Early Middle Ages: The Case of the Royal Frankish Annals (Transactions of the Royal Historical Society, 6th series, 7, 1997) S. 101–129; vgl. auch Dies., L’ideologie politique dans l’historiographie carolingienne, in: La royaut8 et les 8lites dans l’Europe carolingienne (du d8but du IXe aux environs de 920), hg. von R8gine Le Jan (1998) S. 59–70; Dies., The Illusion of Royal Power in the Carolingian Annals, The English Historical Review 115 (2000) S. 1–20; Roger Collins, The ›Reviser‹ Revisited: Another Look at the Alternative Version of the Annales regni Francorum, in: After Rome’s Fall: Narrators and Sources of Early Medieval History, hg. von Alexander C. Murray (1998) S. 191–213; zur Terminologie der Reichsannalen vgl. Jim N. Adams, The Vocabulary of the Annales regni Francorum, Glotta 55 (1977) S. 257–282; Wolfgang Eggert, Zu Inhalt, Form und politischer Terminologie der »Fränkischen Reichsannalen«, in: Karl der Große und das Erbe der Kulturen, hg. von Franz-Reiner Erkens (2001) S. 122–134.

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Begründungen

Konkurrenten Karls des Großen, des Herzogs Tassilo III. von Bayern, im Jahr 788. Glaubt man den Reichsannalen, so gelang den Karolingern dieser Aufstieg mühelos und ihre Erfolge stellten sich fast zwangsläufig ein. Die moderne Forschung konnte dagegen aufzeigen, wie stark die Widerstände waren, wie kompliziert und mühevoll dieser Prozeß in Wahrheit gewesen ist3. Die Reichsannalen bieten also eine geglättete Darstellung, bei der jedes erwähnte Detail von größter Wichtigkeit für die Absichten des oder der Autoren ist, aber auch jede Nuance und jede Auslassung – wofür der Jahresbericht zu 741 wohl das beste Beispiel ist. Vor diesem Hintergrund ist zu fragen, warum der eigentlich lapidare Eintrag über den Tod Karl Martells am Anfang des Geschichtswerkes steht. Ein Mangel an Informationen über die Zeit davor kann nicht der Grund gewesen sein, denn mit den sogenannten Fortsetzungen Fredegars stand dem Reichsannalisten eine hervorragende Quelle für diese Zeit zur Verfügung, die er bei anderer Gelegenheit sehr wohl benutzte4. Anders als in den Reichsannalen wurde auf dieser Basis die Zeit vor 741 etwa in dem um 805 entstandenen älteren Teil der sogenannten Metzer Annalen ausführlich gewürdigt, obwohl er für die Zeit nach 741 weitgehend eine Überarbeitung der Reichsannalen bietet5. Er wurde wohl in Chelles verfaßt, wo Gisela, die Schwester Karls des Großen, als Äbtissin wirkte6. In einer Überarbeitung der Reichsannalen aus der Zeit Ludwigs des Frommen, den sogenannten Einhardsannalen, setzt die karolingische Geschichte dagegen ebenfalls mit dem Jahr 741 ein, allerdings mit einem weitaus ausführlicheren Bericht7. Warum also hielt man den Tod Karl Martells ein halbes Jahrhundert später am Hof Karls des Großen und seines Sohnes für den entscheidenden 3 Vgl. etwa die entsprechenden Abschnitte bei Rudolf Schieffer, Die Karolinger (32000); Johannes Fried, Der Weg in die Geschichte. Die Ursprünge Deutschlands bis 1024 (1994); Roger Collins, Charlemagne (1998); Matthias Becher, Karl der Große (1999); Dieter Hägermann, Karl der Große. Herrscher des Abendlandes. Eine Biographie (2000). 4 Chronicarum quae dicuntur Fredegarii Scholastici continuationes, ed. Bruno Krusch (MGH SS rer. Merov. 2, 1888) S. 168–193; zur Benutzung der Chronik in den Reichsannalen vgl. Wattenbach/Levison/Löwe (wie Anm. 2) S. 250. 5 Annales Mettenses priores, ed. Bernhard von Simson (MGH SS rer. Germ. [10], 1905). 6 Wattenbach/Levison/Löwe (wie Anm. 2) S. 260ff.; Hoffmann, Untersuchungen (wie Anm. 2) bes. S. 55ff. (zu Chelles); Irene Haselbach, Aufstieg und Herrschaft der Karlinger in der Darstellung der sogenannten Annales Mettenses priores (Historische Studien 412, 1970) S. 23f.; Norbert Schröer, Die Annales Mettenses priores. Literarische Form und politische Intention, in: Geschichtsschreibung und geistiges Leben im Mittelalter. Festschrift für Heinz Löwe zum 65. Geburtstag, hgg. von Karl Hauck/Hubert Mordek (1978) S. 139–158; Janet L. Nelson, Gender and Genre in Woman Historians of the Early Middle Ages, in: Dies., The Frankish World 750–900 (1996) S. 183–197, S. 191f.; Yitzhak Hen, The Annals of Metz and the Merovingian Past, in: The uses of the past in the early Middle Ages, hgg. von Dems./Matthew Innes (2000) S. 175–190; vgl. aber auch Hartmut Atsma, Chelles, in: Reallexikon der germanischen Altertumskunde 4 (21981) S. 424; Collins, Reviser (wie Anm. 2) S. 196, der die Entstehung des Gesamtwerks auf ca. 831 datiert. 7 Annales qui dicuntur Einhardi (wie Anm. 1) a 741 (S. 3).

Eine verschleierte Krise

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Einschnitt in der Geschichte der Herrscherfamilie, ja für ihren eigentlichen Ausgangspunkt? Von seiner Bedeutung her war Karl Martell dafür sicherlich geeignet. So wurde er wegen seines Sieges über die Sarazenen in der Schlacht von Poitiers 732 bis in die Gegenwart hinein als »Retter des Abendlandes« gefeiert8. Trotz einiger Übertreibung: Karl konnte im Jahr 741 auf eine erfolgreiche Herrschaftszeit zurückblicken. Er war gegen äußere und innere Feinde Sieger geblieben und hatte die Herrschaft seiner Familie im Frankenreich stabilisiert9. Im Jahr 737 hatte er sogar darauf verzichten können, einen Merowinger als Schattenkönig einzusetzen und herrschte seither zwar ohne Königstitel, aber doch königsgleich über das Reich10. Man wird indes einwenden können, daß gerade die Bedeutung Karl Martells nicht gerade dafür sprach, ein Geschichtswerk erst mit seinem Tod einsetzen zu lassen. Rudolf Schieffer weist daher mit Recht auf einen pragmatischen Aspekt hin: »Der Generationswechsel von 741 bildete gerade noch den Horizont zeitgeschichtlicher Erinnerung als um 790 ein Geistlicher aus der Umgebung Karls des Großen den angemessenen Auftakt für ein neu konzipiertes Annalenwerk suchte«11. Auf der anderen Seite verweist Schieffer auch auf die »innere Anteilnahme« des Reichsannalisten an den Ereignissen von 741, die durchaus nicht so reibungslos verliefen, wie der Geschichtsschreiber glauben machen will12. Zudem nahm damals der Aufstieg von Karls des Großen Vater Pippin zur Königswürde seinen Ausgang. Zusammen mit seinem älteren Bruder Karlmann unterwarf Pippin in den auf 741 folgenden Jahren äußere und innere Feinde des Frankenreiches und schuf so die Voraussetzungen für den Dynastiewechsel von 75113. Bereits der zweite Eintrag der Reichsannalen zum Jahr 742 bezieht sich auf einen dieser Kriege: »Als die Hausmeier Karlmann und Pippin mit einem Heer gegen den Herzog Hunald von Aquitanien zogen und die Burg Loches eroberten, teilten 8 Vgl. dazu Ulrich Nonn, Die Schlacht bei Poitiers 732. Probleme historischer Urteilsbildung, in: Beiträge zur Geschichte des Regnum Francorum, hg. von Rudolf Schieffer (Beihefte der Francia 22, 1990) S. 37–56; Paul Fouracre, The Age of Charles Martel (2000) S. 87f. 9 Zusammenfassend: Karl Martell in seiner Zeit, hgg. von Jörg Jarnut/Ulrich Nonn/Michael Richter (Beihefte der Francia 37, 1994); Fouracre, Charles Martel (wie Anm. 8); vgl. auch Waltraud Joch, Legitimität und Integration. Untersuchungen zu den Anfängen Karl Martells (Historische Studien 456, 1999). 10 Vgl. Brigitte Kasten, Königssöhne und Königsherrschaft. Untersuchungen zur Teilhabe am Reich in der Merowinger- und Karolingerzeit (Schriften der MGH 44, 1997) S. 109ff.; Fouracre, Charles Martel (wie Anm. 8) S. 155ff. 11 Schieffer, Karolinger (wie Anm. 3) S. 50. 12 Ebda. 13 Eine kritische Würdigung dieses Aufstiegs bei Michael Richter, Die »lange Machtergreifung« der Karolinger. Der Staatsstreich gegen die Merowinger in den Jahren 747–771, in: Große Verschwörungen. Staatsstreich und Tyrannensturz von der Antike bis zur Gegenwart, hg. von Uwe Schulz (1998) S. 48–59.

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Begründungen

sie während dieses Feldzugs auch das Frankenreich unter sich auf in dem Ort, der Vieux Poitiers genannt wird. Im selben Jahr verwüstete Karlmann Alamannien«14. Man stutzt. Warum teilten die Brüder das Frankenreich erst ein Jahr nach dem Tod des Vaters unter sich auf ? Hatte Karl Martell seine Nachfolge überhaupt nicht geregelt, oder hatte er seinen Söhnen das Reich zur gesamten Hand vermacht? Waren Zwänge aufgetreten, die eine Neuregelung nötig machten, waren die beiden überhaupt die alleinigen legitimen Erben Karl Martells? Fragen, auf die die Reichsannalen keine Antworten geben. Etliche Indizien weisen darauf hin, daß Karls Tod im Oktober 741 eine schwerwiegende Krise im Frankenreich ausgelöst hatte. Nach gängiger Meinung verdrängten Karlmann und Pippin, seine beiden Söhne aus erster Ehe, ihren Halbbruder Grifo, Karls Sohn aus zweiter Ehe, spätestens Anfang 742 aus dem ihm zugedachten Erbteil und teilten das Reich unter sich auf15. Die Verbindungen Grifos und vor allem seiner Mutter Swanahild, einer aus Bayern stammenden Prinzessin aus dem Hause der Agilolfinger, führten in den folgenden Jahren auch zu Kriegen gegen Bayern, Aquitanien und Alemannien, die beide Brüder schließlich für sich entschieden16. Dabei nimmt die Forschung ganz selbstverständlich an, Karlmann und Pippin seien Karls Haupterben gewesen, die die Herrschaft ihres Vaters trotz dieser Schwierigkeiten im Grunde genommen bruchlos fortgesetzt hätten. Letztlich entspricht das dem bereits von den Reichsannalen skizzierten, freilich erheblich verkürzten Bild. Aus den drei anderen wichtigen erzählenden Quellen der Karolingerzeit ergibt sich dazu ein anderes Bild. Die wohl streng zeitgenössische (zweite) Fortsetzung Fredegars berichtet, Karl Martell selbst habe sein Reich unter seine beiden Söhne Karlmann und Pippin geteilt. Dem Älteren habe er Austrasien, Alemannien und Thüringen, dem Jüngeren Neustrien und Burgund zugedacht17. Der dritte Bruder Grifo wird auch hier über14 Annales regni Francorum (wie Anm. 1) a. 742 (S. 4): Quando Carlomannus et Pippinus maiores domus duxerunt exercitum contra Hunaldum ducem Aquitaniorum et ceperunt castrum, quod vocatur Luccas et in ipso itinere diviserunt regnum Francorum inter se in loco, qui dicitur Vetus-Pictavis. Eodem que anno Carlomannus Alamanniam vastavit. 15 Heinrich Hahn, Jahrbücher des fränkischen Reichs 741–752 (1863) S. 15ff.; Gunther Wolf, Grifos Erbe, die Einsetzung Childerichs III. und der Kampf um die Macht – zugleich Bemerkungen zur karolingischen »Hofhistoriographie«, AfD 38 (1992) S. 1–16; Schieffer, Karolinger (wie Anm. 3) S. 50ff.; Kasten, Königssöhne (wie Anm. 10) S. 120; Fouracre, Charles Martel (wie Anm. 8) S. 166f. 16 Hahn, Jahrbücher (wie Anm. 15) S. 19ff.; Schieffer, Karolinger (wie Anm. 3) S. 51f.; Matthias Becher, Zum Geburtsjahr Tassilos III., Zeitschrift für bayrische Landesgeschichte 52 (1989) S. 3–12; Jörg Jarnut, Alemannien zur Zeit der Doppelherrschaft der Hausmeier Karlmann und Pippin, in: Beiträge zur Geschichte des Regnum Francorum (wie Anm. 8) S. 57–66, S. 60ff.; Joachim Jahn, Ducatus Baiuvariorum. Das bairische Herzogtum der Agilolfinger (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 35, 1991), S. 178ff., 186ff. 17 Cont. Fred. (wie Anm. 4) c. 23 (S. 179) zit. unten, Anm. 29.

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haupt nicht erwähnt. Die Metzer Annalen von 805 übernehmen zwar zunächst den Bericht der Fortsetzung Fredegars über die Reichsteilung durch Karl Martell an seine beiden älteren Söhne18, greifen aber direkt im Anschluß an die Nachricht über den Tod des Hausmeiers dieses Thema erneut auf: Nach der ersten Teilung habe er seinem dritten Sohn namens Grifo, den ihm Swanahild geschenkt hatte, einen Reichsteil in medio principatus sui zugedacht19. Grifo hätte diesem Bericht zufolge von jedem der drei seit langem bestehenden Reichsteile Neustrien, Austrasien und Burgund einen Anteil erhalten. Ein weiterer Teil des Berichts stammt aus den Reichsannalen und handelt von dem im folgenden Jahr unternommenen Feldzug nach Aquitanien sowie der Reichsteilung von Vieux-Poitiers zwischen Karlmann und Pippin20. Schließlich berichten die sogenannten Einhardsannalen kurz nach 815, Karl Martell habe drei Erben hinterlassen, von denen Grifo auf Anraten seiner Mutter nach der Herrschaft im Gesamtreich gestrebt habe21. Unstimmiger können Berichte über ein und denselben Gegenstand kaum sein! Das fällt um so mehr ins Gewicht, als alle vier Quellen Geschichtswerke sind, die im engsten Umkreis des Siegers Pippin und seiner Nachfahren entstanden sind22. Grifo, der Verlierer, und seine Mutter Swanahild sind höchst unterschiedlich gezeichnet: Während sie in der Fortsetzung Fredegars und den Reichsannalen überhaupt nicht existent sind, wächst ihnen in den Metzer und den Einhardsannalen eine entscheidende Rolle zu, die am Hof Karls des Großen negativ gesehen wird. Diese verschiedenen Darstellungen sind also nicht etwa auf Informationslücken zurückzuführen, sondern bewußt so gestaltet. Das beste Beispiel dafür ist die (zweite) Fortsetzung Fredegars, die unter der Leitung von Karl Martells Halbbruder Childebrand im Jahr 751 angefertigt wurde23. Er dürfte also Karls dritten Sohn Grifo, seinen eigenen Neffen, sicherlich gekannt haben. Jedoch war Childebrand ein enger Vertrauter seines anderen Neffen Pippin und stellte daher auch sein Geschichtswerk in dessen Sinn zusammen24. Im Jahr 751 18 19 20 21 22 23

Annales Mettenses priores (wie Anm. 5) a. 741 (S. 31) zit. unten, Anm. 33. Annales Mettenses priores (wie Anm. 5) a. 741 (S. 32) zit. unten, Anm. 39. Annales Mettenses priores (wie Anm. 5) a. 742 (S. 33) zit. unten, Anm. 35. Annales qui dicuntur Einhardi (wie Anm. 1) a. 741 (S. 3) zit. unten, Anm. 44. Nach wie vor grundlegend Wattenbach/Levison/Löwe (wie Anm. 2). Vgl. Wattenbach/Levison/Löwe (wie Anm. 2) S. 162f.; Werner Affeldt, Untersuchungen zur Königserhebung Pippins. Das Papsttum und die Begründung des karolingischen Königtums im Jahre 751, FmSt 14 (1980) S. 95–187, S. 101f.; Roger Collins, Deception and Misrepresentation in Early Eighth Century Frankish Historiography : Two Case Studies, in: Karl Martell (wie Anm. 9) S. 227–247, S. 241ff., Ders., Fredegar, in: Authors of the Middle Ages, Bd. 4, Nr. 13: Historical and Religious Writers of the Latin West, hg. von Patrick J. Geary (1996) S. 73–138, S. 112ff., dessen These einer einheitlichen, bis 751 reichenden Chronik Childebrands noch einer genaueren Überprüfung bedarf; eine Abfassung um 770/ 80 nimmt jetzt an Rosamond McKitterick, Illusion (wie Anm. 2) S. 6f. 24 Zu Childebrand vgl. auch Maurice Chaume, Les origines du duch8 de Bourgogne, Bd. 1

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hatte sich Pippin gerade zum König erhoben, wurde allerdings weiterhin von seinem Halbbruder Grifo bekämpft25. Der Ausgang dieser Auseinandersetzungen war damals noch völlig offen, weshalb sich Childebrand wahrscheinlich dafür entschied, Grifo und die mit seiner Existenz verbundenen Schwierigkeiten überhaupt nicht zu erwähnen26. Er überging seinen Neffen auch bei der Nachfolgeregelung Karl Martells, zumal die Feindschaft zwischen Pippin und Grifo damals ihren Anfang genommen haben dürfte. Childebrands Schweigen über seinen Neffen Grifo wirft im übrigen ein bezeichnendes Licht auf die Arbeitsweise der Historiographie des 8. Jahrhunderts und läßt erahnen, wie großzügig ein Chronist mit der Wahrheit umgehen konnte, wenn er sich seines Adressatenkreises – in diesem Falle Pippins Hof – sicher sein konnte. Diese Schwächen der zeitgenössischen Historiographie hat die jüngere Forschung erkannt und stützt sich daher hauptsächlich auf die Metzer Annalen27, die Grifos Rolle am ausführlichsten würdigen. Eine wichtige Quelle dieses Geschichtswerks ist die (zweite) Fortsetzung Fredegars, die der Metzer Annalist passagenweise einfach abgeschrieben hat. Dies gilt auch für seinen ersten Teilungsbericht, in dem er eine Teilung zwischen Karlmann und Pippin behauptet. Was aber ist von dem zweiten zu Grifos Gunsten zu halten? Hatte Karl Martell (1925) S. 71f.; L8on Levillain, Les Nibelungen historiques et leurs alliances de famille, Annales du Midi 49 (1937) S. 337–407, S. 338ff.; Eduard Hlawitschka, Die Vorfahren Karls des Großen, in: Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben, hg. von Wolfgang Braunfels, Bd. 1: Persönlichkeit und Geschichte, hg. von Helmut Beumann (1965) S. 51–82, S. 78; Ulrich Nonn, Childebrand, Lex. MA 2 (1983) Sp. 1817; Brigitte Kasten, Erbrechtliche Verfügungen des 8. und 9. Jahrhunderts, ZRG Germ. 107 (1990) S. 236–338, S. 300ff.; Dies., Königssöhne (wie Anm. 10) S. 80f., 104f. 25 Vgl. Hanns Leo Mikoletzky, Karl Martell und Grifo, in: Festschrift Edmund E. Stengel (1952) S. 130–154, S. 151ff.; Haselbach, Aufstieg (wie Anm. 6) S. 102; Affeldt, Königserhebung (wie Anm. 23) S. 113f.; Matthias Becher, Drogo und die Königserhebung Pippins, FmSt 23 (1989) S. 131–153, S. 146ff. 26 Ein solch eigenwilliger Umgang mit der Geschichte bzw. sogar der Gegenwart war also durchaus möglich, was etwa Franz Staab, Knabenvasallität in der Familie Karls des Großen, in: Karl der Große (wie Anm. 2) S. 67–85, S. 75, für unmöglich hält und sich statt dessen auf allzu künstlich anmutende Thesen über die Existenz einer Knabenvasallität in karolingischer Zeit kapriziert; zur Rezeption historiographischer Texte im frühen Mittelalter vgl. etwa Michael Richter, The Transformation of the Medieval West. Studies in the Oral Culture of the Barbarians (1994) S. 52ff.; Rosamond McKitterick, The Audience for Latin Historiography in the Early Middle Ages: Text Transmission and Manusript Dissemination, in: Historiographie im frühen Mittelalter, hgg. von Anton Scharer/Georg Scheibelreiter (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 32, 1994) S. 96–114; Dies., History and its Audiences. Inaugural Lecture (2000). 27 Vgl. etwa Mikoletzky, Karl Martell und Grifo (wie Anm. 25) S. 146ff.; Heinz Joachim Schüssler, Die fränkische Reichsteilung von Vieux-Poitiers (742) und die Reform der Kirche in den Teilreichen Karlmanns und Pippins. Zu den Grenzen der Wirksamkeit des Bonifatius, Francia 13 (1985) S. 47–112, S. 50ff.; Rudolf Schieffer, Karl Martell und seine Familie, in: Karl Martell (wie Anm. 9) S. 313f.

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überhaupt zwei unterschiedliche Teilungsordnungen vorgesehen und wenn ja, welcher Bericht ist glaubhafter? Zur Beantwortung dieser und der zuvor aufgeworfenen Fragen rund um den Tod Karl Martells sollen alle genannten Quellen einmal mehr einer intensiven Kritik unterzogen werden, die ihre Eigenarten und Intentionen berücksichtigt. Erst dann besteht die Chance, den letzten Willen Karl Martells zu ermitteln und sich den Ereignissen nach seinem Tod 741 anzunähern. Dabei ist mit Brigitte Kasten zu beachten28, daß Karl seine Nachfolgeregelung gemäß dem ius paternum getroffen hatte, während Karlmann und Pippin sich zwar ihrerseits auf ihr ius hereditarium berufen konnten, aber durch die Mißachtung des väterlichen Willens dennoch in ihrer herrscherlichen Legitimität beeinträchtigt waren. Resümieren wir zu Beginn nochmals die Darstellung der Fortsetzung Fredegars: Kurz vor seinem Tod regelte Karl Martell seine Nachfolge: Seinem erstgeborenen Sohn Karlmann dachte er Austrasien, Alemannien und Thüringen zu, dem jüngeren Pippin Burgund, Neustrien und die Provence29. Doch was war mit Grifo? Hatte Karl seinen dritten Sohn zunächst wirklich übergangen oder wenn nicht, welchen Anteil sollte Grifo erhalten? Bezieht sich Childebrands Bericht auf eine letztlich nur geplante, aber nicht durchgeführte Reichsteilung oder gar auf die Abmachungen, die Karlmann und Pippin nach ihrem Sieg über Grifo in Vieux-Poitiers trafen? Denn diese Vereinbarung ließ Childebrand einfach beiseite, so daß der Eindruck entsteht, die von Karl verfügte Reichsteilung habe unverändert bis zu Karlmanns Abdankung 747 fortbestanden. Die Reichsannalen sind nur scheinbar klarer in ihrer Aussage: Sie berichten zu 741 natürlich nichts Falsches, wenn sie sich auf Karls Tod beschränken. Doch zeigt gerade diese Einsilbigkeit und das Negieren einer Nachfolgeproblematik, daß 741 eine Situation entstanden war, über die man auch ein halbes Jahrhundert später am karolingischen Hof am besten schwieg. Liest man allein diese Quelle, so müßte man glauben, Karl sei 741 gestorben, ohne eine Verfügung über seine Nachfolge zu treffen; erst ein Jahr später hätten seine beiden angeblich einzigen Söhne Karlmann und Pippin das regnum Francorum geteilt30. Doch angesichts 28 Kasten, Königssöhne (wie Anm. 10) S. 117f., 559ff. 29 Cont. Fred. (wie Anm. 4) c. 23 (S. 179): Igitur memoratus princeps, consilio optimatum suorum expetito, filiis suis regna dividit. Idcirco primogenito suo Carlomanno nomine Auster, Suavia, que nunc Alamannia dicetur, atque Toringia sublimavit; alterius vero secundo filio iuniore Pippino nomine Burgundiam, Neuster et Provintiam praemisit; ob der Verfasser einen Zusammenhang mit der in c. 21 (S. 178) berichteten Erkrankung Karls herstellen wollte, ist m. E. unsicher, da er den ausführlichen Bericht über das Hilfegesuch des Papstes einschob; vgl. dazu Eduard Hlawitschka, Karl Martell, das römische Konsulat und der römische Senat; zur Interpretation von Fredegarii Continuatio c. 22, in: Die Stadt in der europäischen Geschichte. Festschrift für Edith Ennen, hg. von Werner Besch u. a. (1972) S. 74–90. 30 Annales regni Francorum (wie Anm. 1) a. 742 (S. 4): … et in ipso itinere diviserunt regnum

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der auf uns gekommenen anderslautenden Berichte ist die Forschung stets davon ausgegangen, daß Karl bereits zu seinen Lebzeiten Verfügungen über die künftige Verteilung der Herrschaft getroffen hat31. Tatsächlich muß dem Verfasser zumindest ein Bericht darüber bekannt gewesen sein, denn er benutzte gerade für die in Frage stehende Zeit die Fortsetzung Fredegars als Vorlage32. Dennoch übernahm er für 741 deren Bericht nicht. Entweder mißtraute er ihm oder ihm war Karls wirkliche Nachfolgeordnung unangenehm, vielleicht sogar unbekannt. Die von Childebrand und den Reichsannalen offen gelassenen Fragen beantworten die Metzer Annalen nur scheinbar : Sie erwähnen zwei Reichsteilungspläne Karl Martells. Zunächst habe dieser unter dem Eindruck einer Erkrankung das Reich vor seinen versammelten Großen zwischen Karlmann und Pippin geteilt, ohne Grifo miteinzubeziehen33. Später habe er ihn dann aber doch noch berücksichtigt34. Schließlich melden sie auch die Teilung von Vieux-Poitiers zu 74235. Dahinter aber verbirgt sich gerade das wirkliche Problem: Die Metzer Annalen sind wohl eine Kompilation aus diversen älteren Quellen36. Das wird auch durch die Abfolge der Teilungsberichte zu 741 bestätigt, denn die zweite Teilungsanordnung Karls folgt auf den Bericht über seinen Tod. Dem Charakter des Werks entsprechend ist, wie bereits erwähnt, der Bericht über die erste Erbregelung fast wörtlich aus der Fortsetzung Fredegars entnommen37, die

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Francorum inter se in loco, qui dicitur Vetus-Pictavis; Walter Mohr, Fränkische Kirche und Papsttum zwischen Karlmann und Pippin (1966) S. 15, mißtraut dem Bericht der Reichsannalen über die Teilung von 742, da der Verfasser ein Interesse daran gehabt habe, »die Reichsteilung in die Zeit nach der Niederwerfung Grifos zu legen«, ebd., S. 54 (Anm. 25); dagegen ist einzuwenden, daß die Reichsannalen von der Fortsetzung Fredegars abhängen und ihr Verfasser daher deren Bericht einfach hätte übernehmen können, wodurch er die Kontinuität der beiden älteren Brüder zu ihrem Vater noch stärker betont hätte. Vgl. etwa Hahn, Jahrbücher (wie Anm. 15) S. 13f.; Mikoletzky, Karl Martell und Grifo (wie Anm. 25) S. 147; Schüssler, Reichsteilung (wie Anm. 27) S. 54ff.; Schieffer, Karolinger (wie Anm. 3) S. 48; Kasten, Königssöhne (wie Anm. 10) S. 114ff.; Fouracre, Charles Martel (wie Anm. 8) S. 161. Vgl. Annales regni Francorum (wie Anm. 1) a. 742 (S. 3f.). Annales Mettenses priores (wie Anm. 5) a. 741 (S. 31): Eodemque anno, dum memoratus princeps se egrotare cerneret, congregatis in unum omnibus optimatibus suis, principatum suum inter filios suos aequa lance divisit. Primogenito suo Carlomanno Austriam, Alamanniam, Toringiam subiugavit, filio vero iuniori suo Pippino Niustriam, Burgundiam Provinciamque concessit. Annales Mettenses priores (wie Anm. 5) a. 741 (S. 32) zit. unten, Anm. 39. Annales Mettenses priores (wie Anm. 5) a. 742 (S. 33): In ipso autem itinere diviserunt regnum Francorum in loco qui dicitur Vetus-Pictavis. Vgl. die oben, Anm. 6, genannte Literatur. Erweitert um die Feststellung, es habe sich um eine Teilung aequa lance gehandelt; jüngst haben Josef Semmler, Bonifatius, die Karolinger und »die Franken«, in: Mönchtum – Kirche – Herrschaft 750–1000, hgg. von Dieter R. Bauer/Rudolf Hiestand/Brigitte Kasten/ Sönke Lorenz (1998) S. 3–49, S. 9ff., und Kasten, Königssöhne (wie Anm. 10) S. 111f.,

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Darstellung der Reichsteilung von Vieux-Poitiers jedoch aus den Reichsannalen. Doch erfährt man nicht, ob die Brüder die von ihrem Vater einst vorgesehene Erbregelung wieder in Kraft setzten oder ob sie neue Teilungslinien verabredeten. Woher aber stammte die Nachricht über Karls zweite Erbregelung, der zufolge Grifo ein Teilreich in der Mitte des Frankenreiches erhalten sollte? Falls Chelles tatsächlich der Entstehungsort des Geschichtswerkes ist, fällt die Antwort leicht: Nach ihrem Sieg über Grifo wiesen Karlmann und Pippin ihrer Stiefmutter Swanahild dieses Kloster zu38. Dies könnte das Interesse des Annalisten an Grifo und seinem Schicksal erklären, was im übrigen seiner pro-karolingischen Tendenz keinen Abbruch tat, wie der Wortlaut des Berichts über die zweite Teilung zeigt: Karl habe kurz vor seinem Tod, nachdem er das Reich bereits unter seine beiden älteren Söhne geteilt hatte, auf Betreiben seiner Konkubine Swanahild auch den gemeinsamen Sohn Grifo berücksichtigt. Ihm habe er einen Reichsteil in der Mitte des fränkischen Reiches mit einem Anteil an den bisherigen, sozusagen klassischen Teilreichen Neustrien, Austrasien und Burgund zugedacht. Doch sollte Grifo dort die Herrschaft erst nach Erlangung der Volljährigkeit antreten. Über diese Regelung erregten sich die Franken, so der Metzer Annalist weiter, weil sie auf Rat einer schlechten Frau – gemeint ist Swanahild – von den legitimen Erben des Reiches getrennt würden. Sie hielten eine Versammlung ab, nahmen die principes Karlmann und Pippin mit sich und sammelten ein Heer, um Grifo gefangen zu setzen. Dieser floh mit seiner Mutter nach Laon, wo er sich

diese Teilung unter Hinweis auf die Nachricht in Erchanbert, Breviarium regum Francorum, ed. Georg Heinrich Pertz (MGH SS 2, 1829) S. 328, über die Reichsteilung durch Karl Martell auf ca. 737 datiert, dabei aber m. E. die komplizierte Überlieferungslage, die Gegenstand vorliegender Abhandlung ist, zu wenig berücksichtigt; an anderer Stelle möchte ich auf die Nachricht Erchanberts und auf das seit 737 bestehende Interregnum zurückkommen. 38 Annales Mettenses priores (wie Anm. 5) a. 741 (S. 33): Sonihildi vero Calam monasterium dederunt; nimmt man den Text wörtlich, so erhielt Swanahild das Kloster, vgl. Mikoletzky, Karl Martell und Grifo, (wie Anm. 25) S. 146, 150; so auch Theodor Schieffer, WinfridBonifatius und die christliche Grundlegung Europas (1954, ND 1972) S. 192; Hoffmann, Untersuchungen (wie Anm. 2) S. 56 mit Anm. 181; Eugen Ewig, Descriptio Franciae, in: Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben (wie Anm. 24) S. 143–177, S. 163; Josef Semmler, Episcopi potestas und karolingische Klosterpolitik, in: Mönchtum, Episkopat und Adel zur frühen Gründungszeit des Klosters Reichenau, hg. von Arno Borst (Vorträge und Forschungen 20, 1974) S. 305–395, S. 391 Anm. 74; freilich ist Swanahild ansonsten nicht als Äbtissin belegt und war daher wohl doch Gefangene in Chelles, vgl. Rombaut van Doren, Chelles, Dictionnaire d’histoire et de g8ographie eccl8siastique 12 (1953) Sp. 604f.; Atsma, Chelles (wie Anm. 6) S. 424; Alain J. Stoclet, GisHle, Kisyla, Chelles, Benediktbeuren et Kochel, Revue B8n8dictine 96 (1986) S. 250–270, S. 270; Fouracre, Charles Martel (wie Anm. 8) S. 167; vgl. auch Karl Voigt, Die karolingische Klosterpolitik und der Niedergang des westfränkischen Königtums (Kirchenrechtliche Abhandlungen 90/91, 1917) S. 39.

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nach kurzer Zeit seinen Brüdern ergab und von Karlmann in ChHvremont nahe Lüttich inhaftiert wurde39. Der Metzer Annalist bzw. der Verfasser seiner Vorlage will deutlich machen, wie sinnlos Karls zweite Erbregelung und wie legitim der Widerstand der Franken war : Dem Sohn einer Konkubine auf deren Betreiben hin ein eigens für ihn geschaffenes Teilreich zuzuweisen, das er aber nicht sofort, sondern erst nach Erlangung der Volljährigkeit beherrschen sollte40, mußte den Zeitgenossen als Unding erscheinen, zumal die Franci, gemeint sind die führenden Adligen, an dieser Entscheidung – im Gegensatz zur ersten – nicht beteiligt worden waren. Vollkommen zurecht empörten sich diese und gewannen für ihren Widerstand auch die zurückgesetzten legitimen Erben Karlmann und Pippin. Der Verfasser suchte also Grifos Ausschaltung zu rechtfertigen, indem er die Franken gegen eine ohne ihre Mitwirkung zustande gekommene und zudem unsinnige Teilung des Reiches Position beziehen läßt41. Freilich war Unmündigkeit – sie endete ohnehin mit 12 Jahren – kein Grund für einen Ausschluß von der Herrschaft42. Im Falle Grifos habe die Initiative dazu dem Geschichtsschreiber zufolge nicht, wie eigentlich zu erwarten wäre, bei den zurückgesetzten älteren Söhnen gelegen, sondern bei den Franken, also einer von den Erbregelungen nur mittelbar be39 Annales Mettenses priores (wie Anm. 5) a. 741 (S. 32): Carolus autem adhuc vivens, cum inter filios suos Carolomannum et Pippinum principatum suum divideret, tertio filio suo Gripponi, quem ex concubina sua Sonihilde, quam de Bawaria captivam adduxerat, habuit, suadente eadem concubina, partem ei in medio principatus sui tribuit, partem videlicet aliquam Niustriae partemque Austriae et Burgundiae. De hac autem terna portione, quam Griphoni adolescenti decessurus princeps tradiderat, Franci valde contristati erant, ut per consilium improbae mulieris fuissent divisi et a legitimis heredibus seiuncti. Consilioque inito, sumptis secum principibus Carolomanno et Pippino, ad capiendum Griponem exercitum congregant. Haec audiens Gripo, una cum Sonihilde genitrice sua fuga lapsus, cum his qui se sequi voluerant in Laudano-Clavato se incluserunt. Carolomannus vero et Pippinus eos subsequentes castrum obsident. Cernens autem Gripo, quod minime potuisset evadere, in fiduciam fratrum suorum venit. Quem Carolomannus accipiens in Nova-Castella custodiendum transmisit. Sonihildi vero Calam monasterium dederunt; zu ChHvremont vgl. Matthias Werner, Der Lütticher Raum in frühkarolingischer Zeit (Veröffentlichungen des MaxPlanck-Instituts für Geschichte 62, 1980) S. 410ff.; Ders., ChHvremont, Reallexikon der germanischen Altertumskunde 4 (wie Anm. 6) S. 436–439. 40 Grifo ist frühestens 726 geboren, da Karl Martell Swanahild 725 ins Frankenreich brachte und beide damals wohl auch heirateten; vgl. Hahn, Jahrbücher (wie Anm. 15) S. 16; Mikoletzky, Karl Martell und Grifo (wie Anm. 25) S. 144ff. 41 Der »Vorwurf« angeblicher Minderjährigkeit begegnet noch einmal in den Annalen und traf Karl Martells einstigen Konkurrenten um das Hausmeieramt, seinen Neffen Theudoald, vgl. Josef Semmler, Zur pippinidisch-karolingischen Sukzessionskrise 714–723, DA 33 (1977) S. 1–36, S. 3 Anm. 22; Joch, Legitimität (wie Anm. 9) S. 71ff.; Kasten, Königssöhne (wie Anm. 10) S. 84ff.; möglicherweise ging es dabei hauptsächlich um die Diskreditierung politischer Gegner. 42 Vgl. Thilo Offergeld, Reges pueri. Das Königtum Minderjähriger im fränkisch-deutschen Mittelalter (Schriften der MGH 50, 2001); siehe auch schon Theo Kölzer, Das Königtum Minderjähriger im fränkisch-deutschen Mittelalter. Eine Skizze, HZ 251 (1990) S. 291–323.

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troffenen Gruppe. Sie griffen jedoch ein, weil Karls Erbplan gegen ihr Recht auf Mitwirkung verstieß, das der Metzer Autor in seinem gesamten Werk auch an anderen Stellen hervorhebt43. Stellt man diese Darstellungsweise und überhaupt die eindeutig pro-karolingische Tendenz in Rechnung, so ist der Tatsachengehalt dieser Nachricht darauf zu reduzieren, daß Karl Martell drei Söhne hinterließ, die alle einen legitimen Anspruch auf seine Nachfolge besaßen. Dies bestätigen auch die sogenannten Einhardsannalen, die von Anfang an keinen rechtlichen Unterschied zwischen den drei Söhnen kennen. Sie vermerken lediglich, daß Grifos Mutter die aus Bayern stammende Swanahild war, die ihrem Sohn Hoffnungen auf das gesamte Reich machte. Hier ist Grifo derjenige, der die Initiative ergriff und mit der Besetzung der Stadt Laon die bewaffnete Auseinandersetzung begann. In dieser Darstellung reagierten die älteren Brüder lediglich, eroberten Laon, und Karlmann setzte Grifo in ChHvremont gefangen44. Die Einhardsannalen entstanden nach 814 zur Zeit Ludwigs des Frommen. Sie sind eine Überarbeitung der Reichsannalen, deren Verfasser sich – im Gegensatz zu seiner Vorlage – nicht scheut, auch Schwierigkeiten und Probleme der herrschenden Dynastie in der Vergangenheit zu erwähnen45. Deutlich spricht er etwa fränkische Niederlagen gegen die Sachsen an, die der Reichsannalist noch verschwiegen hatte. Nunmehr konnte sich die karolingische Dynastie, die mit Ludwig ja in der dritten Generation den König und in der zweiten den Kaiser stellte, anscheinend einen offeneren Umgang mit ihrer Vergangenheit und deren dunklen Seiten leisten. Aber auch die sogenannten Einhardsannalen sind keine neutrale Geschichtsschreibung. Dazu ist die Abhängigkeit von ihrer Vorlage zu groß. Sie bieten also keine objektive Darstellung der Ereignisse, sondern geben nur eine 43 Vgl. allgemein Haselbach, Aufstieg (wie Anm. 6) S. 146ff., 149ff.; Hen, Annals of Metz (wie Anm. 6) S. 186f.; speziell zu diesem Bericht auch Jürgen Hannig, Consenus fidelium: Frühfeudale Interpretationen des Verhältnisses zwischen Königtum und Adel am Beispiel des Frankenreiches (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 27, 1982) S. 148f.; Wolf, Grifos Erbe (wie Anm. 15) S. 4; zur Kritik an Wolfs Arbeitsweise siehe Kasten, Königssöhne (wie Anm. 10) S. 117 Anm. 233. 44 Annales qui dicuntur Einhardi (wie Anm. 1) a. 741 (S. 3): Hoc anno Karlus maior domus diem obiit, tres filios heredes relinquens, Carlomannum scilicet et Pippinum atque Grifonem. Quorum Grifo, qui ceteris minor natu erat, matrem habuit nomine Swanahildem, neptem Odilonis ducis Baioariorum. Haec illum maligno consilio ad spem totius regni concitavit, in tantum, ut sine dilatione Laudunum civitatem occuparet ac bellum fratribus indiceret. Qui celeriter exercitu collecto Laudunum obsidentes fratrem in deditionem accipiunt atque inde ad regnum ordinandum ac provincias, quae post mortem patris a Francorum societate desciverant, reciperandas animos intendunt. Et ut in externa profecti domi omnia tuta dimitterent, Carlomannus Grifonem sumens in Novo-castello, quod iuxta Arduennam situm est, custodiri fecit, in qua custodia usque ad tempus, quo idem Carlomannus Romam profectus est, dicitur permansisse. 45 Vgl. Wattenbach/Levison/Löwe (wie Anm. 2) S. 254ff.; McKitterick, Constructing (wie Anm. 2) S. 123f.; Collins, Reviser (wie Anm. 2) S. 197ff.

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etwas unbefangenere Interpretation des karolingischen Aufstiegs. Alle drei Söhne werden als Erben bezeichnet, von denen sich einer um die Alleinherrschaft bemüht und dann besiegt wird. Man wird davon ausgehen können, daß auch dieser Bericht Grifo nicht ganz gerecht wird. Im übrigen fällt auf, daß der Annalist keine geographischen Angaben über die Reichsteilung macht, sondern recht ungenau zunächst von legitimen Erben und dann von Grifos spem totius regni spricht, die er nach Karls Tod unter Swanahilds Einfluß durchsetzen wollte. Demnach war also Swanahild die treibende Kraft. Sie dürfte bereits vor dem Tod ihres Gatten zu Gunsten ihres Sohnes aktiv geworden sein. Wenn er aber, wie heute allgemein anerkannt, ein legitimer Sohn war, dann stand ihm ein Teil des Reiches ohnehin zu. Swanahild hätte in ihrem Ehrgeiz damals versuchen müssen, Karl zu veranlassen, daß Grifo sein Haupterbe, vielleicht sogar sein alleiniger Erbe wird. Doch war Swanahilds Einfluß überhaupt groß genug, um die Politik ihres Gatten maßgeblich mitzubestimmen? Karl Martell hatte sie kurz nach 725 in zweiter Ehe geheiratet. Sie war also nicht – wie von den Metzer Annalen behauptet – lediglich eine Konkubine46. Damals war Karl in Bayern erschienen und hatte Herzog Hugbert zum Sieg in innerbayerischen Auseinandersetzungen verholfen47. Bezeichnenderweise legt die Fortsetzung Fredegars darauf keinen besonderen Wert, sondern hebt hervor, Karl habe im Anschluß an einen Feldzug gegen Alemannen und Sueben auch Bayern unterworfen und sei mit vielen Schätzen sowie der matrona Pilitrud und ihrer Nichte Swanahild ins Frankenreich zurückgekehrt48. Pilitrud war nacheinander mit zwei bayerischen (Teil-) Herzögen verheiratet gewesen, den Brüdern Theodolt und Grimoald, und zudem über ihre mutmaßliche Mutter Regintrud möglicherweise eine Enkelin des mächtigen fränkischen Pfalzgrafen Hugbert und seiner Gemahlin Irmina von Oeren49. Plectrud, eine andere Tochter dieses Paares, war mit Karls Vater Pippin 46 Darauf hat erstmals aufmerksam gemacht Mikoletzky, Karl Martell und Grifo (wie Anm. 25) S. 145. 47 Vgl. hierzu und zum folgenden Jörg Jarnut, Beiträge zu den fränkisch-bayerisch-langobardischen Beziehungen im 7. und 8. Jahrhundert (656–728), Zeitschrift für bayrische Landesgeschichte 39 (1976) S. 331–352, S. 346; Jahn, Ducatus (wie Anm. 16) S. 78f., 116f. 48 Cont. Fred. (wie Anm. 4) c. 12 (S. 175); zur Nennung der beiden Frauen neuerdings Stuart Airlie, Narratives of Triumph and Rituals of Submission: Charlemagne’s Mastering of Bavaria (Transactions of the Royal Historical Society, 6th Series 9, 1999) S. 93–119, S. 105; zu »Alemannen« und »Sueben« vgl. jetzt vor allem Thomas Zotz, Ethnogenese und Herzogtum in Alemannien (9.–11. Jahrhundert), MIÖG 108 (2000) S. 48–66, S. 52f. 49 Zu diesen verwickelten Familienbeziehungen vgl. Eduard Hlawitschka, Merowingerblut bei den Karolingern?, in: Adel und Kirche. Festschrift für Gerd Tellenbach, hgg. von Josef Fleckenstein/Karl Schmid (1968) S. 66–91, S. 79f.; Wilhelm Störmer, Adelsgruppen im früh- und hochmittelalterlichen Bayern (Studien zur Bayerischen Verfassungs- und Sozialgeschichte 4, 1972) S. 21f.; Jarnut, Beziehungen (wie Anm. 47) S. 350ff.; Jahn, Ducatus (wie Anm. 16) S. 91ff.; skeptisch dagegen Matthias Werner, Adelsfamilien im Umkreis der

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dem Mittleren verheiratet gewesen, der von dieser Verbindung entscheidend profitiert hatte50. Dank der Macht und des Einflusses ihrer Familie hatte sie faktisch als Pippins Mitregentin fungiert. Nach Pippins Tod 714 war sie die wichtigste Feindin ihres Stiefsohnes Karl Martell gewesen. Erst nach langen Kämpfen war es diesem gelungen, Plectrud und ihren Anhang zu besiegen51. Ihre Familie dürfte weiterhin sehr einflußreich gewesen sein, zumal Karl einige von Plectruds Enkeln auf seine Seite ziehen konnte52. Die Ehe mit Swanahild, die nach den eben vorgestellten Überlegungen nicht nur eine Nichte Pilitruds, sondern auch eine Großnichte Plectruds war, versöhnte Karl also mit diesen innerfränkischen Gegnern und sicherte so seine Stellung in der eigentlichen Francia zusätzlich ab. Zum anderen war Swanahild aber nicht nur eine Nichte der Herzogin Pilitrud, sondern auch eine Nichte Herzog Hugberts53, zu dessen Gunsten Karl in Bayern eingegriffen hatte54. Gleichzeitig hatte sich aber auch der Langobardenkönig Liutprand auf Seiten seines Schwagers Hugbert in den innerfränkischen Auseinandersetzungen engagiert. Karls Heirat mit Swanahild sicherte somit nicht nur das fränkisch-bayerische Bündnis ab, sondern sie stand auch für eine fränkisch-langobardische Annäherung. Doch nicht nur machtpolitisch zog Karl vielfältigen Gewinn aus seiner zweiten Ehe, er erhöhte auch sein Ansehen in der ahnenstolzen Adelsgesellschaft des frühen Mittelalters: Swanahild gehörte väterlicherseits zu dem altehrwürdigen Geschlecht der Agilolfinger, das lange Zeit die langobardischen Könige und noch immer die königsgleichen bayerischen duces stellte. Die Forschungen Jörg Jarnuts der letzten Jahre haben gezeigt, wie unvorstellbar groß das Ansehen dieses Geschlechts gewesen sein muß55. Es gab

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frühen Karolinger. Die Verwandtschaft Irminas von Oeren und Adelas von Pfalzel. Personengeschichtliche Untersuchungen zur frühmittelalterlichen Führungsschicht im MaasMosel-Gebiet (Vorträge und Forschungen, Sonderbd. 28, 1982) S. 225ff. Zu ihr zuletzt Ingrid Heidrich, Von Plectrud zu Hildegard. Beobachtungen zum Besitzrecht adliger Frauen im Frankenreich des 7. und 8. Jahrhunderts und zur politischen Rolle der Frauen der frühen Karolinger, RhVjbll 52 (1988) S. 1–15, S. 5ff. Vgl. Semmler, Sukzessionskrise (wie Anm. 41) S. 5ff.; Joch, Legitimität (wie Anm. 9) S. 81ff.; Fouracre, Charles Martel (wie Anm. 8) S. 57ff. Collins, Deception (wie Anm. 23) S. 231ff.; Joch, Legitimität (wie Anm. 9) S. 92ff. Aventinus, Annales ducum Boiariae, ed. Sigmund Riezler (Johannes Turmair’s genannt Aventinus sämtliche Werke 2/1, 1881) lib. 3 c. 8, S. 383; Jörg Jarnut, Untersuchungen zur Herkunft Swanahilds, der Gemahlin Karl Martells, Zeitschrift für bayrische Landesgeschichte 40 (1977) S. 245–249: Möglicherweise war sie die Tochter seines früh verstorbenen Bruders Tassilo; zum Fortleben ihres Namens im Freisinger Raum als Zeichen der agilolfingischen Orientierung eines dort beheimateten Geschlechts noch im 9. Jahrhundert vgl. Gertrud Diepolder, Freisinger Traditionen und Memorialeinträge in Salzburger Liber Vitae und im Reichenauer Verbrüderungsbuch, Zeitschrift für bayrische Landesgeschichte 58 (1995) S. 147–189, S. 181f. Vgl. hierzu auch Jahn, Ducatus (wie Anm. 16) S. 107. Jörg Jarnut, Agilolfingerstudien. Geschichte einer adligen Familie im 6. und 7. Jahrhundert

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im westlichen Europa wohl nur eine Familie, die in dieser Hinsicht mit den Agilolfingern zu vergleichen war : die Merowinger, die seit über zweihundert Jahren die fränkischen Könige stellten. Ihre hohe Abkunft mag Swanahild zu der Überlegung veranlaßt haben, allein ihr Sohn komme für die Nachfolge Karl Martells und der Merowinger in Frage. Schließlich waren es ihre und damit auch seine langobardischen, bayerischen und fränkischen Familienverbindungen, die Karl Martells auf Gewalt gestützte Machtstellung dynastisch absicherten und adelten. Selbst noch nach ihrer Niederlage und ihrem Tod geriet Swanahilds bedeutende Stellung nicht vollständig in Vergessenheit. So wurde sie im Reichenauer Verbrüderungsbuch als regina bezeichnet, und auch im Salzburger Verbrüderungsbuch, angelegt unter dem 784 verstorbenen Bischof Virgil, wurde ihrer und in einem Nachtrag sogar ihres Sohnes im Zusammenhang mit den karolingischen Herrschern gedacht56. Angesichts ihrer hohen Abkunft und ihrer hervorragenden politischen Verbindungen könnte Swanahild wie mehr als 20 Jahre zuvor schon ihre Großtante Plectrud auf den Gedanken gekommen sein, die Nachfolgefrage im Sinne ihrer eigenen Nachkommenschaft und gegen die Söhne ihres Gemahls aus einer anderen Ehe zu regeln. Voraussetzung dafür aber war, daß sie nicht nur von hochadliger Geburt war, sondern daß sie ihr Ansehen auch in praktische Politik umsetzen konnte. In den erzählenden Quellen wird sie nur sehr selten erwähnt und dann eindeutig negativ charakterisiert57. Wir sind daher zumeist auf indirekte Hinweise angewiesen. Auf ihren Einfluß ist es wohl zurückzuführen, daß Karl Martell 736 nach dem Tod Hugberts von Bayern, Swanahilds Onkel väterlicherseits, ihrem Onkel mütterlicherseits namens Odilo zum bayerischen Dukat verhalf58. Dies ist um so bemerkenswerter, als Odilo gar nicht der bayerischen, (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 32, 1986) S. 79ff.; Ders., Genealogie und politische Bedeutung der agilolfingischen Herzöge, MIÖG 99 (1991) S. 1–22; vgl. bereits Karl Ferdinand Werner, Bedeutende Adelsfamilien im Reich Karls des Großen, in: Karl der Große (wie Anm. 24) S. 83–142, besonders S. 106ff.; Werner Goez, Über die Anfänge der Agilulfinger, Jahrbuch für fränkische Landesforschung 34/35 (1974/75) S. 145–161. 56 Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau (Einleitung, Register, Faksimile), edd. Johanne Autenrieth/Dieter Geuenich/Karl Schmid (MGH Libri memoriales et Necrologia, Nova Series 1, 1979) pag. 114 (A): Suanahil regina; ihr Gemahl ist in derselben Spalte als Karolus maior domus eingetragen; Das Verbrüderungsbuch von St. Peter in Salzburg. Vollständige Faksimile-Ausgabe im Originalformat der Handschrift A1 aus dem Archiv von St. Peter in Salzburg, ed. Karl Forstner (1974) pag. 20; vgl. Herwig Wolfram, Salzburg, Bayern, Österreich. Die conversio Bagoariorum et Carantanorum und die Quellen ihrer Zeit (MIÖG, Ergänzungsbd. 31, 1995) S. 266f. 57 Mikoletzky, Karl Martell und Grifo (wie Anm. 25) S. 145, spricht vom »Haß der Quellen gegen die Frau«. 58 Hans Schnyder, Bonifatius und Alemannien, Der Geschichtsfreund. Mitteilungen des Historischen Vereins der fünf Orte Luzern, Uri, Schwyz, Unterwalden ob und nid dem Wald und Zug 124 (1971) S. 97–163, Jörg Jarnut, Studien über Herzog Odilo (736–748), MIÖG 85 (1977) S. 273–284; Jahn, Ducatus (wie Anm. 16) S. 125ff.

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sondern der alamannischen Linie der Agilolfinger angehörte und es entsprechend schwer hatte, sich in Bayern durchzusetzen. In den folgenden Jahren wurde Swanahilds Einfluß immer größer. Wahrscheinlich hat sie ihren Gemahl dazu veranlaßt, 739 bei der Errichtung der bayerischen Bistümer eng mit Bonifatius und ihrem Onkel Odilo zusammenzuarbeiten59. Der Widerstand des bayerischen Adels gegen dieses Reformwerk war so stark, daß Odilo sogar kurzzeitig aus seinem Herzogtum fliehen mußte und Zuflucht am Hof Karl Martells und Swanahilds fand. Deutlicher wird Swanahilds Einfluß innerhalb der Francia faßbar. Zu einem nicht näher bestimmbaren Zeitpunkt veranlaßte Swanahild in Zusammenarbeit mit dem Grafen Gairefrid von Paris, möglicherweise einem weiteren Mitglied ihrer weitverzweigten Verwandtschaft60, ihren Gatten dazu, den Kaufleuten, die die Messe des Klosters Saint-Denis besuchten, hohe Zölle aufzuerlegen. Diese Maßnahme ist uns aus einer Gerichtsurkunde ihres Stiefsohnes Pippin bekannt, der zwei Jahre nach seiner Thronbesteigung den diesbezüglichen Klagen Abt Fulrads von Saint-Denis über den schweren Schaden dieser Regelung stattgab61. Der König charakterisierte das Verhalten seiner einstigen Feindin eindeutig negativ. Die Forschung glaubte lange Zeit, aus dem Diplom gehe hervor, 59 Vgl. Jarnut, Herzog Odilo (wie Anm. 58) S. 278ff.; Egon Boshof, Agilolfingisches Herzogtum und angelsächsische Mission: Bonifatius und die bayerische Bistumsorganisation von 739, Ostbaierische Grenzmarken 31 (1989) S. 11–26, S. 19f.; Wilhelm Störmer, Die bayerische Herzogskirche, in: Der heilige Willibald – Klosterbischof oder Bistumsgründer?, hgg. von Harald Dickerhof/Ernst Reiter/Stefan Weinfurter (Eichstätter Studien, NF 30, 1990) S. 115–142, S. 124; Jahn, Ducatus (wie Anm. 16) S. 132ff.; Ders., Hausmeier und Herzöge. Bemerkungen zur agilolfingisch-karolingischen Rivalität bis zum Tode Karl Martells, in: Karl Martell (wie Anm. 9) S. 317–344, S. 337f. 60 So Störmer, Adelsgruppen (wie Anm. 47) S. 45; vgl. auch Jahn, Ducatus (wie Anm. 16) S. 175 mit Anm. 239; R8gine Le Jan-Hennebicque, Prosopographica neustrica: les agents du Roi en Neustrie de 639 / 840, in: La Neustrie. Les pays au nord de la Loire de 650 # 850. Colloque historique international, hg. von Hartmut Atsma, Bd. 1 (Beihefte der Francia 16/1, 1989) S. 231–269, S. 250 (Nr. 124) identifiziert Gairefrid mit Grifo; Jahn, Ducatus (wie Anm. 16) S. 279, deutet den Namen »Grifo« als Kurzform von »Garibald«. 61 Diplomata Karolinorum I, Pippini, Carlomanni, Caroli magni Diplomata, ed. Engelbert Mühlbacher (MGH DD 2,1, 1906) Nr. 6 (8. Juli 753), S. 10: Et [Folradus abba vel monachy sancti Dionisii] hoc dicebant, quod ante hos annos, quando Carlus fuit e[iect]us per Soanachylde cupiditate et Gairefredo Parisius comite insidiante, per eorum consensu ad illos necuciantes vel marcadantes per deprecacionem unumquemque hom[inem ing]enuum dinarius quattuor dare fecissent, et hoc eis malo ordine tullerunt; Chartae Latinae antiquiores, edd. Albert Bruckner/Robert Marichal, Bd. 15, bearb. von Hartmut Atsma/Jean Vezin (1986) Nr. 598, S. [16]: … [eiec]tus .. statt e[iect]us; Pippins Urkunde wurde bestätigt von seinem Sohn Karlmann, DD Karol. 1, Nr. 43 (Januar 769), S. 62f., und seinem Enkel Ludwig dem Frommen, BM2 = Die Regesten des Kaiserreichs unter den Karolingern 751–918, ed. Johann Friedrich Böhmer, neubearb. von Engelbert Mühlbacher, vollendet von Johann Lechner, ND mit Ergänzungen von Carlrichard Brühl und Hans Kaminsky (1966) Nr. 552 (1. Dezember 814).

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Begründungen

Swanahild und Gairefrid hätten Karl Martell aus Paris vertrieben62, doch ist das entscheidende Wort der Handschrift verderbt, so daß dies nicht die einzig mögliche Emendation des Textes darstellt63. Doch selbst wenn man ihre Richtigkeit unterstellt, müßte man damit rechnen, daß Pippins Kanzlei Swanahild eventuell sogar wider besseres Wissen ein schlechtes Verhältnis zu Karl Martell unterstellen wollte64. Dafür spricht auch, daß Swanahilds und Gairefrids Verfügungen von dessen Nachfolger Gairehard – auch er eventuell ein Verwandter Swanahilds – übernommen wurden65. Wenn die genannten Regelungen bereits für die Zeitgenossen erkennbar gegen den Willen des amtierenden Hausmeiers erlassen worden wären, hätte er davon wohl Abstand genommen. Zudem scheint Swanahilds Verhältnis zu Saint-Denis nicht gelitten zu haben, stimmte sie doch 741 einer Schenkung ihres Gatten an das Kloster ausdrücklich zu66. Vor diesem Hintergrund drängt sich eine andere Interpretation auf: Möglicherweise erreichte 753 Abt Fulrad, daß den Messebesuchern der erwähnte Zoll erlassen wurde, indem er diese Abgabe als ungerechtfertigt und Swanahild als ihre Urheberin hinstellte. Wichtig an der Nachricht über Saint-Denis ist daher, daß sie Swanahilds bedeutende Position in Karls Spätzeit belegt. Von der starken Stellung seiner Mutter am Hofe profitierte auch Grifo, dem Karl Martell als jüngstem Sohn vielleicht in besonderer Weise zugetan war. Als Parallele wird man etwa auf das Verhältnis Ludwigs des Frommen zu Karl dem

62 Hahn, Jahrbücher (wie Anm. 15) S. 17; Theodor Breysig, Jahrbücher des fränkischen Reiches 714–741 (1869) S. 102. 63 Ingrid Heidrich, Titulatur und Urkunden der karolingischen Hausmeier, AfD 11/12 (1965/ 66) S. 71–280, S. 202 Anm. 611, störte sich mit Recht an eiectus, da eine Ortsangabe fehlt, und diskutierte weitere mögliche Emendationen: elusus, excitatus, excessus, eversus, elicitus, was die Ereignisse von Paris weniger spektakulär erscheinen läßt; vgl. Schüssler, Reichsteilung (wie Anm. 27) S. 56 mit Anm. 71; Josef Semmler, Saint-Denis: Von der bischöflichen Coemeterialbasilika zur königlichen Benediktinerabtei, in: La Neustrie. Les pays au nord de la Loire de 650 / 850. Colloque historique international, hg. von Hartmut Atsma, Bd. 2 (Beihefte der Francia 16/2, 1989) S. 75–123, S. 93; anders Jahn, Ducatus (wie Anm. 16) S. 175; Kasten, Königssöhne (wie Anm. 10) S. 115; Joch, Legitimität (wie Anm. 9) S. 60 mit Anm. 335; vgl. auch Ralf Peters, Die Entwicklung des Grundbesitzes der Abtei Saint-Denis in merowingischer und karolingischer Zeit (1993) S. 141. 64 In diesem Sinne Herwig Wolfram, Die neue Faksimile-Ausgabe der originalen Karolingerurkunden, MIÖG 96 (1988) S. 133–138, S. 135. 65 MGH DD Karol. 1, Nr. 6 (8. Juli 753), S. 10: Et ipse Gairehardus hoc dicebat, quod alia consuetudine in ipso marcado non misisset, nisi qualem antea per emissione Soanechyldae vel iam dicto Gairefredo missa fuisset et ibidem invenisset; zu Gairehard vgl. Störmer, Adelsgruppen (wie Anm. 47) S. 45; Le Jan-Hennebicque, Prosopographica neustrica (wie Anm. 60) S. 248f. (Nr. 106). 66 Diplomata maiorum domus e stirpe Arnulforum, ed. Karl A. F. Pertz (MGH DD 1, 1872) Nr. 14 S. 101f.; jetzt auch: Die Urkunden der Arnulfinger, ed. Ingrid Heidrich (2001) Nr. 14; Dies., Titulatur (wie Anm. 63) S. 242 (Regest Nr. A 12); vgl. dazu auch unten, bei Anm. 82.

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Kahlen, seinem Sohn aus zweiter Ehe, verweisen können67. Die Verbundenheit Karl Martells mit seinem jüngsten Sohn verdeutlicht etwa eine Episode, die in der nach 850 entstandenen Vita des Abtes Leutfrid von Croix-Saint-Leufroy überliefert ist. Nachdem dieser den Hof verlassen hatte, rief ihn der Hausmeier zurück, damit er den inzwischen schwer erkrankten Grifo durch seine Gebete heile68. Karl residierte damals mit seiner Familie in Laon, also in der Stadt, die wenige Jahre später das Zentrum von Grifos Machtstellung war. Laon, das seit 561 zu Austrasien gehörte, weist eine strategisch günstige Lage auf und liegt in unmittelbarer Nähe der merowingischen Hauptorte Soissons und Reims69. Bereits im Jahr 680 hatte sich Martin, der wichtigste Bundesgenosse Pippins des Mittleren, nach ihrer gemeinsamen Niederlage gegen Ebroin in Laon verschanzt. Bei Laon liegt auch die Pfalz Samoussy, später der bevorzugte Aufenthaltsort König Karlmanns, in der dieser auch am 4. Dezember 771 verschied70. Nicht weit entfernt von Laon ist mit Quierzy außerdem diejenige Pfalz zu finden, in der Karl Martell am 15. oder 22. Oktober des Jahres 741 verstarb71. Als Graf von Laon fungierte damals Charibert, ein Enkel des Pfalzgrafen Hugbert und der Irmina von Oeren und daher ein Vetter Swanahilds. Chariberts Tochter Bertrada heiratete im Jahr 744 Pippin, was diesem nach den Forschungen Karl 67 Vgl. Egon Boshof, Ludwig der Fromme (Gestalten des Mittelalters und der Renaissance, 1997) S. 152f. 68 Vita Leutfredi abbatis Madriacensis c. 17, ed. Wilhelm Levison (MGH SS rer. Merov. 7, 1920) S. 15: Post quem praefatus princeps [Karolus] festinanter direxit, qui eum [Leutfredum] ad se celeriter reducerent: nam filius eius Grippho gravissimis febribus torqubatur, cui mortem vicinam adesse credebant. Propter quod princeps multis precibus virum Dei flagitabat, ut ei sanitatem pristinam orationibus suis reformabat; vgl. Hans-Werner Goetz, Karl Martell und die Heiligen. Kirchenpolitik und Maiordomat im Spiegel der spätmerowingischen Hagiographie, in: Karl Martell (wie Anm. 9) S. 101–118, S. 108. 69 Carlrichard Brühl, Palatium und Civitas. Studien zur Profantopographie spätantiker Civitates vom 3. bis zum 13. Jahrhundert, Bd. 1: Gallien (1975) S. 73ff.; Reinhold Kaiser, Bischofsherrschaft zwischen Königtum und Fürstenmacht: Studien zur bischöflichen Stadtherrschaft im westfränkisch-französischen Reich im frühen und hohen Mittelalter (Pariser Historische Studien 17, 1981) S. 580ff.; Ders., Königtum und Bischofsherrschaft im frühmittelalterlichen Neustrien, in: Herrschaft und Kirche. Beiträge zur Entstehung und Wirkungsweise episkopaler und monastischer Organisationsformen, hg. von Friedrich Prinz (1988) S. 83–108; Annie Dufour, Laon, Lex. MA. 5 (1991) Sp. 1709; Jackie Lusse, Naissance d’une cit8. Laon et le Lanonais du Ve au Xe siHcle (1992) besonders S. 234, mit der Vermutung, daß Laon sogar eine merowingische Residenz gewesen sei. 70 BM2 (wie Anm. 61) Nr. 130a; vgl. Carlrichard Brühl, Fodrum, gistum, servitium regis. Studien zu den wirtschaftlichen Grundlagen des Königtums im Frankenreich und in den fränkischen Nachfolgestaaten Deutschland, Frankreich und Italien vom 6. bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts (Kölner Historische Abhandlungen 14/1–2, 1968) S. 19 mit Anm. 58; Lusse, Naissance (wie Anm. 69) S. 265. 71 Cont. Fred. (wie Anm. 4) c. 24 (S. 179), zum Datum vgl. Breysig, Jahrbücher (wie Anm. 62) S. 103 mit Anm. 1; Wilhelm Levison, A propos du calendrier de S. Willibrord, in: Ders., Aus rheinischer und fränkischer Frühzeit. Ausgewählte Aufsätze (1948) S. 342–346, S. 343 (zuerst in: R8vue Benedictine 50 [1938] S. 37–41).

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Begründungen

Ferdinand Werners auf lange Sicht ein Übergewicht gegenüber Karlmann geben sollte72. Die Verbindung Grifos mit Laon ist als Beleg für die überragende Rolle zu werten, die er nach den Plänen Karls und Swanahilds nach dem Tod des Hausmeiers spielen sollte. In dieses Bild fügt sich auch ein, daß Karl Martell dem päpstlichen MissionsErzbischof Bonifatius ganz besonders die memoria seines Sohnes ans Herz gelegt hatte73. Swanahilds und Grifos Stellung verbesserte sich noch dadurch, daß um 740 Swanahilds Onkel Odilo den Hof des Hausmeiers aufsuchte74. Möglicherweise war die Organisation der bayerischen Kirche – sie war in enger Abstimmung zwischen Odilo, Karl Martell und Bonifatius erfolgt – der Grund dafür, daß eine oppositionelle Gruppe den Herzog aus dem Land trieb75. Odilo verstärkte jedenfalls die Partei seiner Nichte vor Ort. Möglicherweise bereits damals, und nicht, wie in der Fortsetzung Fredegars behauptet, nach dem Tod Karl Martells, heiratete er auf Vermittlung Swanahilds die Tochter des Frankenherrschers aus erster Ehe namens Hiltrud76, zumindest aber wurde diese Hochzeit bei jener Gelegenheit verabredet. Damals kamen der Hof des Hausmeiers und der Herzog wohl auch über die Gründung des Klosters Niederaltaich überein, dessen Gründungskonvent Odilo unter Zustimmung König Pippins und mit Unterstützung des Bischofs Heddo von Straßburg 740/41 nach Bayern gebracht haben soll77. Diese Darstellung dürfte insofern zu korrigieren sein, als Pippin weder König war, noch überhaupt regierte und schon gar nicht in Alemannien, das ja 742 an seinen Bruder Karlmann fiel78. Zudem ist wenig wahrscheinlich, daß Pippin oder Karlmann damals mit ihrem Feind Odilo zusammenarbeiteten, 72 Karl Ferdinand Werner, Das Geburtsdatum Karls des Großen, Francia 1 (1973) S. 115–157, S. 156f. 73 Epistolae Bonifatii Nr. 48, ed. Michael Tangl (MGH Epp. sel. 1 21955). S. 77, zit. unten, Anm. 102. 74 Vgl. hierzu und zum folgenden Jarnut, Herzog Odilo (wie Anm. 58) S. 281ff.; Jahn, Ducatus (wie Anm. 16) S. 172ff. 75 Zur Organisation der bayerischen Kirche vgl. auch die in Anm. 59 angegebene Literatur. 76 Cont. Fred. (wie Anm. 4) c. 25 (S. 180); Becher, Geburtsjahr (wie Anm. 16) S. 3ff.; zustimmend: Jarnut, Genealogie (wie Anm. 55) S. 13; Jahn, Hausmeier und Herzöge (wie Anm. 59) S. 339; vgl. auch Rudolf Schieffer, Karl Martell und seine Familie, in: Karl Martell (wie Anm. 9) S. 305–315, S. 314; Hiltrud schloß ihre Ehe nach Auskunft der zweiten Fortsetzung Fredegars nicht nur gegen den Willen ihrer leiblichen Brüder, sondern engagierte sich auch später noch auf Seiten Grifos, vgl. Becher, Eid (wie Anm. 2) S. 25ff. 77 Breviarius Urolfi c. 1, ed. Heinrich Tiefenbach, Die Namen des Breviarius Urolfi. Mit einer Textedition und zwei Karten, in: Ortsname und Urkunde. Frühmittelalterliche Ortsnamenüberlieferung. Münchener Symposion 10. bis 12. Oktober 1988, hg. von Rudolf Schützeichel (1990) S. 60–96, Edition S. 86–91, S. 86; vgl. Jarnut, Herzog Odilo (wie Anm. 58) S. 282f.; Jahn, Ducatus (wie Anm. 16) S. 193ff.; Ders., Hausmeier (wie Anm. 76) S. 340f. 78 Zur Konkurrenz der beiden Brüder um Alemannien vgl. Jarnut, Alemannien (wie Anm. 16) S. 59ff.

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gegen dessen Heirat mit ihrer Schwester sie opponiert hatten und gegen den sie 743 zu Felde zogen, weil er auf Seiten Swanahilds und Grifos stand79. Vielmehr wird man eine spätere Korrektur anzunehmen haben, die Karl Martell durch den zum König aufgestiegenen Pippin ersetzte80. Odilos Aktivitäten am Hofe sind damit jedoch noch nicht vollständig beschrieben. Nach einer späten, aber durchaus glaubwürdigen Nachricht Aventins erhielt Odilo damals sogar das Amt eines comes omnium expeditionum81. Trifft dies zu, dann räumte Karl Martell dem Onkel seiner Frau eine militärische Schlüsselstellung ein, was sich nach Lage der Dinge vor allem gegen seine volljährigen Söhne, aber auch gegen seinen Halbbruder Childebrand richtete. Kurz vor Karls Tod wurde Swanahilds und Grifos großer Einfluß offenkundig. Am 17. September 741, auf dem Krankenlager in der Pfalz Quierzy, schenkte der Hausmeier die merowingische Königspfalz Clichy an das merowingische Königskloster Saint-Denis. Unter die betreffende Urkunde setzten Swanahild und Grifo ihre Konsensunterschriften82. Die Zustimmung der beiden zu dieser großzügigen Gabe sollte ihnen die Unterstützung des Klosters und seines Patrons, des hl. Dionysius, sichern. Wir haben hier also einen deutlichen Hinweis auf Karls Vorstellungen über die Regelung seiner Nachfolge vor uns83. Mehr noch: Swanahild erhielt dabei den Titel inlustris matrona, der einmal mehr ihre herausragende Stellung am Hofe belegt. Bereits Plectrud, die man beinahe als 79 Vgl. Becher, Geburtsjahr (wie Anm. 16) S. 6ff.; Jahn, Ducatus (wie Anm. 16) S. 186ff. 80 Der Breviarius Urolfi ist am Ende des 8. Jahrhunderts entstanden, vermutlich nach der Eingliederung Bayerns ins Frankenreich, vgl. Tiefenbach, Namen (wie Anm. 77) S. 65ff. 81 Aventin, Annales 2 (wie Anm. 53) fol. 118 Nachtrag, zit. bei Siegmund Riezler, Ein verlorenes bairisches Geschichtswerk des achten Jahrhunderts (Sitzungsberichte d. königl.-bayer. Ak. d. Wiss. zu München, philos.-philol. Klasse, 1881) Bd. 1, S. 247–291, S. 272; zu diesem Aufenthalt unter ausdrücklichem Verweis auf Tassilos »Kanzler« Kranz vgl. auch Aventin, Annales 2, fol. 126, zit. bei Riezler, S. 253; vgl. ebda. (wie Anm. 53) S. 259; Jahn, Ducatus (wie Anm. 16) S. 175f., der in diesem Zusammenhang auch auf die bayerischen Großen verweist, die Mitte des 8. Jahrhunderts Besitzungen der Kirche von Auxerre erhielten, angeblich von Pippin; vgl. dazu Joachim Wollasch, Das Patrimonium beati Petri in Auxerre. Ein Beitrag zur Frage der bayerisch-westfränkischen Beziehungen, in: Studien und Vorarbeiten zur Geschichte des großfränkischen und frühdeutschen Adels, hg. von Gerd Tellenbach (Forschungen zur Oberrheinischen Landesgeschichte 4, 1957) S. 185–224, S. 219; Störmer, Adelgruppen (wie Anm. 49) S. 105f.; Semmler, Episcopi potestas (wie Anm. 38) S. 350f. 82 Diplomata maiorum domus (wie Anm. 66) Nr. 14. 83 Heidrich, Titulatur (wie Anm. 63) S. 150f., Dies., Die Urkunden Pippins d. M. und Karl Martells. Beobachtungen zu ihrer zeitlichen und räumlichen Streuung, in: Karl Martell (wie Anm. 9) S. 23–33, S. 31f.; Semmler, Saint-Denis (wie Anm. 63) S. 93; Schieffer, Karl Martell und seine Familie (wie Anm. 76) S. 313f.; Kasten, Königssöhne (wie Anm. 10) S. 116f.; Fouracre, Charles Martel (wie Anm. 8) S. 162f., S. 165f.; Nelson, Funerals (wie Anm. 6) S. 141; in der Zeugenliste werden die drei Grafen Radbert, Rayganbald und Salaco genannt, die aus Austrasien stammten, so jedenfalls Le Jan-Hennebicque, Prosopographica neustrica (wie Anm. 60) S. 261f. (Nr. 232 u. 238), S. 263 (Nr. 256).

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Begründungen

Mitregentin ihres Gemahls Pippin des Mittleren bezeichnen kann, hatte diesen Titel ebenfalls in der letzten überlieferten Urkunde ihres Gatten erhalten84. Zudem kann man aus der Urkunde folgern, daß Karls ältere Söhne Karlmann und Pippin in diesen entscheidenden Wochen am Hof des Vaters nicht präsent waren85. Sie konnten daher im Gegensatz zu ihrem Bruder und ihrer Stiefmutter auch nicht an Karls Begräbnis in der wichtigen merowingischen Grablege SaintDenis teilnehmen86. Der feierliche Akt bot seiner Witwe und vor allem dem gemeinsamen Sohn die Gelegenheit, seine Stellung als künftiger Herrscher des Frankenreiches an einem dafür besonders geeigneten Ort zu offenbaren87. Das verdeutlicht, wer am Hofe des todkranken Hausmeiers das Sagen gehabt hatte: seine Gemahlin Swanahild. Spätestens kurz vor dem Tod ihres Gemahls hat sie wahrscheinlich durchgesetzt, daß Grifo dessen Haupterbe sein sollte. Diesem Ergebnis entspricht, daß zwei unserer Quellen, die Metzer und die sogenannten Einhardsannalen, Swanahild eine massive Einflußnahme zu Gunsten ihres Sohnes Grifo unterstellen. Sie hatte eine starke Stellung und zwar vor allem solange Karl Martell lebte, wie dies auch der Metzer Annalist deutlich herausarbeitet: Seiner Darstellung nach warf der alte princeps die ursprüngliche Erbordnung um und kreierte für ihren Sohn Grifo angeblich ein aus Teilen Neustriens, Austrasiens und Burgunds bestehendes Teilreich in medio principatus sui. Die letzten Worte legen den Gedanken nahe, dieses Teilreich sei recht 84 Mikoletzky, Karl Martell und Grifo (wie Anm. 25) S. 145; Heidrich, Urkunden (wie Anm. 83) S. 32; zu Plectrud vgl. auch oben, bei Anm. 50. 85 Nelson, Funerals (wie Anm. 6) S. 141, deren Spekulation, Pippin sei überraschend auf dem Begräbnis erschienen, allerdings nicht zu belegen ist, zumal nicht einmal sicher ist, daß Saint-Denis zu seinem und nicht zu Grifos künftigen Teilreich gehören sollte. 86 Zum Grab Karls Karl Heinrich Krüger, Königsgrabkirchen der Franken, Angelsachsen und Langobarden bis zur Mitte des 8. Jahrhunderts. Ein historischer Katalog (Münstersche Mittelalter-Schriften 4, 1971) S. 179, 181; Brühl, Palatium (wie Anm. 69) S. 28; Alain Erlande-Brandenburg, Le roi est mort. Etude sur les fun8railles, les s8pultures et les tombeaux des rois de France jusqu’/ la fin du XIIIe siHcle (BibliothHque de la Soci8t8 franÅaise d’arch8ologie 7, 1975) S. 70f.; Alain Stoclet, Evindicatio et petitio. Le recouvrement des biens monastiques en Neustrie sous les premiers Carolingiens, in: La Neustrie (wie Anm. 63) Bd. 2, S. 125–149, S. 136ff. mit Anm. 54; bezeichnend ist, daß Pippin seinem Wunsch gemäß ebenfalls in Saint-Denis bestattet wurde, Cont. Fred. (wie Anm. 4) c. 53 (S. 193); vgl. Alain Dierkens, La mort, les funerailles et la tombe du roi P8pin le Bref (768), M8di8vales 31 (1996) S. 37–52; Nelson, Funerals (wie Anm. 6) S. 142; auch Karl der Große wollte sich dort begraben lassen, MGH DD Karol. 1, Nr. 55, S. 81, und ließ tatsächlich seine Mutter Bertrada dort bestatten; vgl. Krüger, Königsgrabkirchen (wie Anm. 85) S. 182, mit sämtlichen Quellenbelegen. 87 Zum frühmittelalterlichen Beisetzungsritual vgl. Joachim Ehlers, Grablege und Bestattungsbrauch der deutschen Könige im Früh- und Hochmittelalter, in: Jahrbuch der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft (1990) S. 39–74; speziell zur Sterbeliturgie Damien Sicard, La liturgie de la mort dans l’Pglise latine des origines / la r8forme carolingienne (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 63, 1978); Arnold Angenendt, Geschichte der Religiosität im Mittelalter (1997), S. 659ff.

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klein gewesen, und diesen Eindruck wollte der Metzer Annalist wohl auch vermitteln. Unabhängig davon hätte eine solche Lösung für Grifo erhebliche Probleme mit sich gebracht. Er hätte sich in seinem neu geschaffenen Reich auf keine gewachsenen Strukturen stützen können und somit erhebliche Schwierigkeiten beim Aufbau seiner Herrschaft gehabt: Neue Teilreichsgrenzen zerschnitten die gewachsenen Familienverbindungen und vor allem auch den Besitz des Adels, was für dessen Loyalität nicht förderlich war. Wollten Karl Martell und Swanahild tatsächlich ihrem gemeinsamen Sohn derart schlechte Startbedingungen verschaffen?88 Oder weist die Beschreibung in medio principatus sui vielleicht vom Metzer Annalisten ungewollt in eine ganz andere Richtung? Bedenkt man die starke Stellung Swanahilds am Ende der Herrschaft ihres Mannes, und nimmt man die Aussage der sogenannten Einhardsannalen hinzu, Grifo habe unter Swanahilds Einfluß nach der Alleinherrschaft gestrebt, so liegt der Gedanke nahe, sein Teilreich sollte den Löwenanteil des Erbes ausmachen, während seine älteren Brüder mit einigen Randgebieten abgefunden werden sollten. Karl Martell soll also seine älteren Söhne hinter den jüngeren zurückgesetzt haben? Hierfür läßt sich ein Bericht Childebrands heranziehen, demzufolge Pippin nach der Reichsteilung durch Karl an der Spitze eines Heeres in das ihm zugedachte Burgund zog und das Land besetzte. Er war in Begleitung vieler führender Großer, an deren Spitze Childebrand selbst stand89. Im Gegensatz zu anderen Berichten ist dieses Mal nicht verzeichnet, welchem Zweck dieses Unternehmen diente. Die anderen Feldzüge nach Burgund schloß Karl Martell laut der Fortsetzung Fredegars siegreich bzw. mit der Unterwerfung der Bevölkerung unter die fränkische Herrschaft ab90. Diese Meldung unterblieb in diesem Fall, und man fragt sich nach dem Grund. Sollte Pippin aus einem anderen Anlaß nach Burgund gezogen sein? Schließlich hatte sein Vater das Land bereits weitgehend befriedet, und auch in den folgenden Jahren erfahren wir nichts über Aufstände gegen seine oder Pippins Herrschaft. Darüber hinaus war Childebrand in Burgund reich begütert91. Sein Schützling Pippin hatte es daher gar nicht nötig, einen Feldzug dorthin zu unternehmen92. Warum zog Pippin aber

88 Vgl. etwa Haselbach, Aufstieg (wie Anm. 6) S. 97ff.; Schüssler, Reichsteilung (wie Anm. 27) S. 57, der Grifo einen relativ schwachen Anhang zuspricht, aber S. 57 auch bemerkt, daß dieser den im fränkischen Kerngebiet gelegenen reichen Fiskalbesitz erhalten hätte. 89 Cont. Fred. (wie Anm. 4) c. 24 (S. 179). 90 Cont. Fred. (wie Anm. 4) c. 14 (S. 175) c. 18 (S. 177). 91 Vgl. die in Anm. 24 genannte Literatur. 92 Bereits Breysig, Jahrbücher (wie Anm. 62) S. 101; Mikoletzky, Karl Martell und Grifo (wie Anm. 25) S. 147f., werteten die Stelle als Hinweis auf Widerstände gegen Karls Nachfolgepläne, ohne ein Zerwürfnis zwischen Karl und Pippin in Betracht zu ziehen; zur Situation in Burgund, vgl. Annalena Staudte-Lauber, Carlus princeps regionem Burgundie sagaciter

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dann dorthin, und warum betont Childebrand, ebenfalls gegen seine Gewohnheit, Pippin sei von zahlreichen Vornehmen und ihm selbst begleitet worden93. Das klingt fast so, als ob Pippin sich nach Burgund zurückgezogen habe. Mußte er die Francia etwa verlassen? War dort nach Karls Teilungsanordnung kein Platz mehr für ihn?94 Diese Fragen stellte sich anscheinend bereits der Metzer Annalist, als er auf der Basis der Fortsetzung Fredegars seinen Bericht über Pippins Unternehmen verfaßte. Ihm zufolge zog Pippin iam princeps factus pro quibusdam causis corrigendis nach Burgund95. Er sah sich also genötigt, die Unklarheiten über Pippins Stellung im Bericht seiner Vorlage zu beseitigen, wohl ohne daß ihm darüber nennbare nähere Informationen zur Verfügung gestanden hätten, denn den Grund des Feldzuges konnte oder wollte auch er nicht nennen. So bleibt nur der Schluß, daß der Augenzeuge Childebrand absichtlich eine klare Aussage vermieden hat, vermutlich um die Spannungen innerhalb der arnulfingisch-pippinidischen Familie zu überspielen. Ein weiteres Indiz für Grifo als Haupterben Karl Martells ist den sogenannten Einhardsannalen zu entnehmen: In Vieux-Poitiers, während eines Feldzuges gegen Aquitanien und rund ein halbes Jahr nach ihrem Sieg über Grifo, teilten Karlmann und Pippin das Reich, quod communiter habuerunt96. Die Forschung tat sich schwer mit dieser Formulierung: Sie galt als rätselhaft und wurde nicht weiter beachtet97 oder auf die Eroberungen der beiden Brüder in Aquitanien gedeutet98. Näher liegt es, an Grifos Reichsteil zu denken99, dessen Umfang allerdings zu klären wäre. Immerhin sprechen die Reichsannalen in diesem Zusammenhang davon, die Brüder hätten das regnum Francorum geteilt. Daran anknüpfend dachte Maurice Chaume an das Abstecken von Einflußzonen durch die beiden Brüder, nachdem sie das Reich nach ihrem Sieg über Grifo gemeinsam

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penetravit. Zur Schlacht von Tours und Poitiers und dem Eingreifen Karl Martells in Burgund, in: Karl Martell (wie Anm. 9) S. 79–100. Möglicherweise übergab er damals sechs bayerischen principes das konfiszierte Kirchengut des Bistums Auxerre; vgl. Semmler, Episcopi potestas (wie Anm. 38) S. 350f.; Ders., Die Aufrichtung der karolingischen Herrschaft im nördlichen Burgund im 8. Jahrhundert, in: Aux origines d’une seigneurie eccl8siastique. Langres et ses 8vÞques VIIIe–IXe siHcles. Actes du Colloque Langres – Ellwangen 28 Juin 1985 (1986) S. 19–41, S. 33; Ders., Bonifatius (wie Anm. 37) S. 3–49, S. 16. Vgl. Kasten, Königssöhne (wie Anm. 10) S. 112, die freilich an eine Herrschaftsübernahme durch Pippin in Folge von Karl Martells Teilungsanordnung denkt. Annales Mettenses priores (wie Anm. 4) a. 741 (S. 31). Annales qui dicuntur Einhardi (wie Anm. 1) a. 742 (S. 5). BM2 (wie Anm. 61) Nr. 44b; verschiedene Deutungen bei Hahn, Jahrbücher (wie Anm. 15) S. 22 Anm. 9. Pierre Riché, Die Karolinger. Eine Familie formt Europa (1991) S. 75. Schüssler, Reichsteilung (wie Anm. 27) S. 59ff., 103; Schieffer, Karolinger (wie Anm. 3) S. 52; Fouracre, Charles Martel (wie Anm. 8) S. 167f.

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beherrscht hatten und auch in der Folgezeit eng zusammengearbeitet hätten100. Unabhängig von diesem Problem dürfte sich die Fortsetzung Fredegars in ihrem Bericht über die letzte Verfügung Karl Martells inhaltlich auf den Vertrag von Vieux-Poitiers beziehen. Diese Grenzziehung war zum Zeitpunkt ihrer Abfassung um 751 doch noch virulent101, zumindest aber nicht in Vergessenheit geraten. Vor diesem Hintergrund erhält auch die Bemerkung der sogenannten Einhardsannalen über den Vertrag zwischen Karlmann und Pippin in VieuxPoitiers ihren Sinn: Sie konnten sich nach ihrem Sieg über Grifo an keine ältere Teilungsverfügung ihres Vaters zu ihren alleinigen Gunsten anlehnen. Was hätte sie daran hindern sollen, eine ältere Bestimmung ihres Vaters aufzugreifen, wenn eine solche existiert hätte? Wäre es unter dieser Prämisse nicht einfacher und auch der Lage angemessener gewesen, sofort nach dem Sieg über ihren Halbbruder – etwa noch in Laon – das Reich zu teilen, um so behaupten zu können, sie würden lediglich das ursprüngliche Vermächtnis ihres Vaters wieder in Kraft setzen? Da dieses gar nicht existierte, haben die Brüder statt dessen das Reich zunächst gemeinsam verwaltet und erst dann geteilt, als sie ihren ersten wichtigen Feldzug gemeinsam hinter sich gebracht hatten. Die Summe unserer Überlegungen ist daher, daß Karl Martell kurz vor seinem Tode Grifo, seinen Sohn aus zweiter Ehe, zum Haupt- oder sogar zum alleinigen Erben bestimmt hat. Für diesen Hergang spricht ein anderes, von der offiziösen Historiographie unabhängiges Zeugnis. Noch aus dem Jahr 741 stammt ein Brief des päpstlichen Legaten und Missions-Erzbischofs Bonifatius an Grifo, in dem er ihn bat, die Priester, Mönche und Nonnen in Thüringen gegen die Heiden zu schützen, falls Gott ihm die Macht gebe102. Heinrich Hahn wertete den Brief als 100 Chaume, Les origines (wie Anm. 24) S. 93ff.; die beiden Brüder gingen aber spätestens seit 744 getrennte Wege, vgl. Jarnut, Alemannien (wie Anm. 16) S. 62ff. 101 Vgl. Becher, Drogo (wie Anm. 25) S. 141f. 102 Epistolae Bonifatii (wie Anm. 73) Nr. 48 S. 77f.: Bonifatius servus servorum Dei Griponi filio Carlo optabilem in Christo salutem. Obsecro et adiuro pietatem vestram per Deum patrem omnipotentem et per Iesum Christum filium eius et per spiritum sanctum, per sanctam trinitatem et unitatem Dei, ut si tibi Deus potestatem donaverit, ut adiuvare studeas servos Dei sacerdotes, presbiteros, qui sunt in Thuringia, et monachos et ancellas Christi defendere contra paganorum malitiam et adiuvare christianum populum, ut eos pagani non perdant, ut ante tribunal Christi mercedem habeas perpetuam. Et cognoscite, quod memoria vestra nobiscum est coram Deo, sicut et pater vester vivus et mater iam olim mihi commendarunt. Deprecamur Deum salvatorem mundi, ut dirigat viam vestram et vitam ad salutem animae vestrae, ut in gratia Dei semper hic et in futuro saeculo permaneatis. Interea mementote, filii carissimi, quia iuxta vocem psalmigrafi ›homo sicut foenum dies eius est, et sicut flos agri ita floriet‹ (Psalm 102, 15). Et apostolus ait: ›Totus mundus in maligno positus est‹ (1. Joh. 5, 19), et item in evangelio veritas dixit: ›Quid enim proderit homini, si lucretur universum mundum animae vero suae detrimentum patiatur?‹ (Marc. 8, 36) Et iterum in evangelio de gloria iustorum: ›Tunc fulgebunt iusti sicut sol in regno patris eorum‹ (Matth. 13,43). Et Paulus apostolus de beatitudine vitae aeternae: ›Quod oculos non vidit nec auris audivit nec in cor hominis acendit, quod praeparavit Deus diligentibus se‹ (1. Kor. 2,9). Facite ergo, filii, ut

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Beleg dafür, daß Bonifatius Sympathien für die Sache Grifos gehabt habe103. Dem widersprach Ludwig Oelsner und erklärte sein Eintreten für Thüringen mit dem starken Engagement des Bonifatius in diesem Gebiet; weiter zeige der Wechsel der Anrede von der Einzahl zur Mehrzahl und insbesondere die zweimal verwandte Anrede filii, daß der Brief an mehrere Adressaten gerichtet gewesen sei; bei den weiteren Empfängern könne es sich nach Lage der Dinge nur um Karlmann und Pippin gehandelt haben: Bonifatius habe alle drei Brüder zum Regierungsantritt beglückwünscht104. Oelsners Auffassung setzte sich durch, vor allem seit Hanns Leo Mikoletzky mit Nachdruck die Ansicht verfocht, Grifo habe neben seinen Brüdern ein legitimes Anrecht auf die Nachfolge seines Vaters besessen105. Dagegen rechnet Walter Mohr mit zwei Briefen, die irrtümlich zusammengeworfen worden seien106. Der zweite sei an Karlmann und Pippin gerichtet gewesen und beginne mit dem Satz: Interea mementote filii carissimi …, da hier zum ersten Mal erkennbar zwei oder mehr Personen angesprochen würden107.

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mercedis vestrae praemia in alta caelorum culmine clarescant et crescant. Valere vos in longitudine dierum in Christo optamus. Zur Übersetzung der Passage servos Dei sacerdotes, presbiteros, qui sunt in Thuringi, vgl. Andreas Bigelmair, Die Gründung der mitteldeutschen Bistümer, in: St. Bonifatius. Gedenkausgabe zum zwölfhundertsten Todestag (21954) S. 247–287, S. 282; Heinz Löwe, Bonifatius und die bayerisch-fränkische Spannung. Ein Beitrag zur Geschichte der Beziehungen zwischen dem Papsttum und den Karolingern, Jahrbuch für fränkische Landesforschung 15 (1955) S. 85–127, S. 113f.; Kurt-Ulrich Jäschke, Die Gründungszeit der mitteldeutschen Bistümer und das Jahr des Concilium Germanicum, in: Festschrift für Walter Schlesinger, hg. von Helmut Beumann, Bd. 2 (Mitteldeutsche Forschungen 74/2, 1974) S. 71–136, S. 100f., die das Wort sacerdotes mit »Bischöfe« übersetzen, was für die Gründungszeit der mitteldeutschen Bistümer von Bedeutung ist; anders etwa Schieffer, Winfrid-Bonifatius (wie Anm. 38) S. 334f.; Helmut Michels, Das Gründungsjahr der Bistümer Erfurt, Büraburg und Würzburg, Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 39 (1987) S. 11–42, S. 27ff.; zum Unterschied zwischen Bischof und Presbyter allgemein vgl. Odilo Engels, Der Pontifikatsantritt und seine Zeichen, in: Segni e riti nella chiesa altomedievale occidentale (Settimane di studio del centro Italiano di Studi sull’alto Medioevo 33, 1987) S. 707–766, S. 711ff. Hahn, Jahrbücher (wie Anm. 15) S. 216f. Ludwig Oelsner, Jahrbücher des fränkischen Reiches unter König Pippin (1871) S. 77 Anm. 4; zustimmend etwa Michael Tangl, Studien zur Neuausgabe der Bonifatius-Briefe 1, in: Ders., Das Mittelalter in Quellenkunde und Diplomatik. Ausgewählte Schriften, Bd. 1 (1966) S. 164 Anm. 337; Ders., Studien 2, ebda. S. 199 (Acta deperdita Nr. 11 u. 12), der darauf hinweist, daß in den Schreiben an Karlmann und Pippin selbstverständlich der Hinweis auf Grifos Mutter gefehlt haben müsse; Semmler, Bonifatius (wie Anm. 37) S. 18. Mikoletzky, Karl Martell und Grifo (wie Anm. 25) S. 148, 151. Mohr, Fränkische Kirche (wie Anm. 30) S. 17f. Interessant ist, daß diese Stelle – mementote filii carissimi, quia iuxta vocem psalmigrafi: ›Homo, sicut foenum dies eius, et sicut flos agri ita floriet‹ (Ps. 102,15). Et apostolus ait: ›Totus mundus in maligno positus est‹ (1. Ioh. 5,19) – benützt ist in den Dekretalen Pseudoisidors, ed. Paul Hinschius (1863), ep. Stephani secunda, c. 13 (S. 187); vgl. dazu allgemein Horst Fuhrmann, Einfluß und Verbreitung der pseudoisidorischen Fälschungen, 3 Bde. (Schriften der MGH 24/1–3, 1972).

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Karl-Heinrich Krüger wandte gegen diese Überlegungen ein, daß sich bereits der vorhergehende Satz an mehrere Adressaten wende, und verteidigte mit diesem Argument Oelsners Auffassung108. Doch die Anrede im Plural setzt zwei Sätze eher ein. Dort erwähnt Bonifatius die ihm einst von Vater und Mutter auferlegte Gebetsverpflichtung für den Adressaten Grifo. Diese Passage gehörte daher vermutlich nicht zu den an Karlmann und Pippin gerichteten Fassungen109. Bonifatius gebraucht also an dieser Stelle den Pluralis majestatis wie etwa in seinen Schreiben an König Aethelbald von Mercien (um 746) und an Pippin (753)110. Gleichlautende Schreiben an alle drei Brüder können nach den vorstehenden Überlegungen ausgeschlossen werden. Aber in welchen Punkten unterschieden sich die einzelnen Fassungen? Zunächst bietet es sich an, mit dem Satz Interea mementote filii carissimi tatsächlich einen Einschnitt zu setzen. Hier werden zum ersten Mal eindeutig mehrere Adressaten angesprochen, und zudem beginnt hier eine Folge von Bibelzitaten. Ist dieser Absatz jedoch nichtssagend, wie Mohr meinte?111 Bonifatius weist auf die Vergänglichkeit des Lebens und die Allgegenwart des Bösen hin und fordert die Adressaten zur Bescheidenheit, also zu einem Leben in Christus auf. Ein gerechtes Leben werde belohnt und sei gleichbedeutend mit einem seligen Leben. Diese Auswahl an Bibelstellen paßt sehr gut zu einer Trauerpredigt. Bonifatius geht sonst an keiner Stelle darauf ein, daß Karl Martell jüngst verstorben war. An sich wäre eine Beileidsbezeugung in einem kurz nach diesem traurigen Ereignis an dessen Sohn oder Söhne gerichteten Brief wohl zu erwarten. Daher liegt der Gedanke nahe, daß der Erzbischof im gesamten zweiten Teil den Söhnen des Verstorbenen sein Mitgefühl ausdrückte. Diese Passage ging vermutlich unverändert auch Karlmann und Pippin zu. Dagegen ist der erste Abschnitt wesentlich politischer als der zweite. Daher ist zunächst nach dem Stellenwert des Absenders zu fragen. Bonifatius war kein beliebiger, am Schicksal des Reiches kaum interessierter Geistlicher, sondern der vom Papst ernannte Missions-Erzbischof, der unter dem Schutz Karl Martells gestanden und der bei der Mission der Sachsen und der Reform der bayerischen Kirche eng mit diesem und Herzog Odilo zusammengearbeitet hatte112. Selbst wenn man dieses gemeinsame Wirken bestreiten wollte und sein Verhältnis zu Karl Martell eher als kühl bewertet, war er doch der wichtigste Geistliche des 108 Karl Heinrich Krüger, Königskonversionen im 8. Jahrhundert, FmSt 7 (1973) S. 169–222, S. 192 Anm. 114. 109 So bereits Tangl, Studien 2 (wie Anm. 104) S. 199. 110 Epistolae Bonifatii (wie Anm. 73) Nr. 73 u. 107 (S. 146ff. u. S. 233). 111 Mohr, Fränkische Kirche (wie Anm. 30) S. 18. 112 Grundlegend nach wie vor: Schieffer, Winfrid-Bonifatius (wie Anm. 38); vgl. auch die in Anm. 59 genannte Literatur; weiter : Lutz E. von Padberg, Wynfreth-Bonifatius (1989); Arnold Angenendt, Art. Bonifatius, LThK 2 (31994) Sp. 575–577.

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Reiches und zudem päpstlicher Legat. Man kann daher voraussetzen, daß er über die Nachfolgepläne Karl Martells und die sich anbahnende Auseinandersetzung unter seinen Söhnen wenigstens grob orientiert war. Wenn Bonifatius gegenüber Grifo offenlegte, daß er mit seiner Herrschaftsübernahme – gleich ob nun zusammen mit seinen Brüdern oder allein – rechnete, dann war er sich der politischen Konsequenzen seiner Aussage durchaus bewußt. Den ersten Teil kann Bonifatius in vorliegender Form eigentlich nur an Grifo geschrieben haben, denn die Worte pater vester vivus et mater richteten sich eindeutig an ihn. Denn Swanahild lebte zu diesem Zeitpunkt noch, und es kann zugleich bezweifelt werden, ob Karl Martell bereits zu Lebzeiten seiner ersten, 725 verstorbenen Gemahlin Chrotrud die Gebetshilfe des Angelsachsen in Anspruch genommen hatte. Bei der Lektüre des ersten Teils überrascht zunächst, daß Bonifatius sofort, ohne eine an sich übliche Eingangsformel113, insbesondere ohne captatio benevolentiae, auf sein Anliegen zu sprechen kommt: Er beschwört Grifo bei der heiligen Dreifaltigkeit um Unterstützung für alle Geistlichen in Thüringen gegen die Heiden, falls Gott ihm die Macht gebe114. Bonifatius rechnet also durchaus mit der Möglichkeit, daß Grifo zum Herrscher aufsteigt, wenn er auch deutlich zu erkennen gibt, daß es nicht selbstverständlich dazu kommen muß115. Indirekt gibt der Erzbischof also zu erkennen, daß ihm die Spannungen innerhalb des arnulfingisch-pippinidischen Hauses bekannt waren. Wie stellt er sich dazu? Indem er auf seine besondere Beziehung zu Grifo hinweist, die einst auf Wunsch Karl Martells und Swanahilds zustande gekommen war, läßt er seine Vorliebe durchscheinen: Er will dafür beten, daß Grifo immer in der Gnade Gottes verbleibt – und zwar im Diesseits wie im Jenseits. Kurz: Bonifatius ergreift Partei für Grifo. Warum aber kommt der Erzbischof am Anfang so schnell zur Sache? Gerade weil Grifo die Hilfe des Bonifatius fast ebenso dringend braucht wie er die seine und weil die beiden in einem besonderen Verhältnis zueinander standen, konnte er in der damaligen Situation gegenüber Grifo auf jede Förmlichkeit verzichten. Dafür spricht auch die Adresse, die ähnlich schmucklos gehalten ist: Grifo heißt einfach »Sohn Karls«. Wiederum wird deutlich, wie offen die Lage damals war, denn einen Titel verwendet Bonifatius nicht. Ihm genügt es, die Kontinuität zwischen Karl und Grifo durch die Hervorhebung ihrer Verwandtschaft zu betonen, die gerade durch den Verzicht auf ein anderes Epitheton deutlich hervortritt. Insgesamt betont Bonifatius also seine Parteinahme für Grifo. Wie steht es jedoch mit den an Karlmann und Pippin gerichteten Briefen? Bei 113 Vgl. Franz-Josef Schmale, Brief, Lex. MA 2 (1983) Sp. 653. 114 Zur Bedeutung des Begriffs potestas im Frühmittelalter vgl. Eugen Ewig, Zum christlichen Königsgedanken im Frühmittelalter, in: Das Königtum. Seine geistigen und rechtlichen Grundlagen (Vorträge und Forschungen 3, 1956) S. 7–73, S. 31ff. 115 Vgl. Mikoletzky, Karl Martell und Grifo (wie Anm. 25) S. 148.

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ihnen gibt es mehr Fragen als Antworten: Was hatte Bonifatius den Brüdern mitgeteilt? Hat er angesichts der Frontstellung zwischen ihnen einerseits und Grifo sowie Swanahild andererseits überhaupt an beide geschrieben oder ihnen nur einen an beide gemeinsam adressierten Brief zukommen lassen? Bat er sie beide um den Schutz der Geistlichkeit in Thüringen oder nur einen von ihnen, möglicherweise Karlmann? Oder war der Inhalt des ersten Abschnitts ein völlig anderer? Versuchen wir wenigstens diese, die wichtigste Frage zu beantworten. Wie aus dem Schreiben an Grifo hervorgeht, war sich Bonifatius der Spannungen im arnulfingisch-pippinidischen Hause durchaus bewußt. Es ist daher in Betracht zu ziehen, daß er sich an jede der streitenden Parteien wandte, um sich nach beiden Seiten abzusichern, kurz: daß er ein doppeltes Spiel trieb. Doch konnte Bonifatius dann einem der Kontrahenten zu erkennen geben, daß er auch an die andere Partei geschrieben hatte, wie er es im zweiten Abschnitt seines Briefes an Grifo getan hatte? Das wäre eine grobe politische Ungeschicklichkeit gewesen, die man Bonifatius zutrauen kann oder nicht. Wir sind jedenfalls der Auffassung, daß der Erzbischof sich klüger verhielt und nur einer Partei seine Sympathien zu erkennen gab, während er sich der anderen gegenüber wenigstens nach außen hin neutral und korrekt verhielt. Vermutlich waren daher die an Karlmann und Pippin gerichteten Briefe im Wesentlichen mit dem politisch nichtssagenden zweiten Abschnitt des Grifo-Briefes identisch. Bezeichnenderweise wurden sie nicht in die Sammlung der Briefe des Bonifatius aufgenommen, die Lul, dessen Schüler und Nachfolger als Bischof von Mainz, nach dessen Tod veranlaßte116. Vielleicht ließen diese Schreiben daher sogar einen Gegensatz zwischen Bonifatius und den beiden älteren Brüdern erkennen117. Lul tat im übrigen alles, um die Leistungen des Bonifatius in einem hellen Licht erstrahlen zu lassen118. Eine Parteinahme seines Lehrers gegen den späteren König Pippin paßte da jedenfalls nicht gut ins Bild. Das Schreiben des Bonifatius erschüttert im entscheidenden Punkt – der Stellung Grifos beim Tod seines Vaters – die Glaubwürdigkeit der erzählenden Quellen, insbesondere die der Fortsetzung Fredegars und der Reichsannalen, die Grifo gänzlich verschweigen. Ferner stellt der Brief den Bericht des Metzer Annalisten über Grifos Herrschaftsgebiet in Frage. Zunächst einmal war Grifo dem Brief nach zu urteilen volljährig, zumindest aber handlungsfähig, während der Annalist das Gegenteil behauptet. Weiter sollte Grifos Teilreich dessen Darstellung gemäß aus Teilen Neustriens, Austrasiens und Burgunds gebildet werden, während er ihm das Grenzland Thüringen nicht zuordnet. Bonifatius war an116 Tangl, Studien 1 (wie Anm. 104) S. 76ff.; der Brief an Grifo wurde erst nach Luls Tod 786 aus einer zweiten, älteren Briefsammlung in seine übernommen (S. 96). 117 Vgl. jetzt auch Staab, Knabenvasallität (wie Anm. 26) S. 68 Anm. 7. 118 Theodor Schieffer, Angelsachsen und Franken. Zwei Studien zur Kirchengeschichte des 8. Jahrhunderts (Abh. Mainz 20, 1950) S. 1487ff.

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derer Auffassung, denn er bat Grifo um Schutz für die Geistlichkeit im thüringischen Missionsgebiet. Thüringen sollte also nach seinem Kenntnisstand dem Sohn der Swanahild unterstellt sein119. Das zeitgenössische Zeugnis des Bonifatius ist höher zu bewerten als die nachträgliche und interessengeleitete Darstellung des Metzer Annalisten120. Damit aber steht auch dessen gesamter zweiter Teilungsbericht zur Disposition – es sei denn, man interpretiert die Worte in medio principatus sui sehr extensiv. Läßt man alle Quellen über die Nachfolgeordnung Karl Martells Revue passieren, drängt sich angesichts der Verschleierungsversuche, Halbwahrheiten und falschen Darstellungen der hofnahen Quellen eine bereits mehrfach geäußerte Vermutung auf: Grifo sollte nach dem Willen Karl Martells sein Haupt- oder sogar Alleinerbe sein, was die sogenannten Einhardsannalen wenigstens andeuten, aber zugleich als unrechtmäßig verurteilen. Fassen wir nochmals kurz zusammen: Die Nachfolge Karl Martells wird von den vier wichtigsten pro-karolingischen erzählenden Quellen des 8. und beginnenden 9. Jahrhunderts in verschiedenen Versionen dargestellt. Dies ist um so bemerkenswerter, als alle vier Geschichtswerke aus dem Umkreis des Hofes stammen und voneinander abhängen: Die Fortsetzung Fredegars diente sowohl den Metzer Annalen als auch den Reichsannalen und über diese auch indirekt den sogenannten Einhardsannalen als Quelle. Die Metzer Annalen hängen außer von der Fortsetzung Fredegars auch von den Reichsannalen ab. Childebrand, der Verantwortliche für die Fortsetzung Fredegars, überging Karl Martells Sohn aus zweiter Ehe aus persönlichen Motiven völlig und behauptete eine Reichsteilung durch Karl Martell zu Gunsten der beiden Söhne aus erster Ehe. Diese Nachricht erweist sich bereits deshalb als wenig zuverlässig, weil der Reichsannalist sie nicht übernimmt und kommentarlos den Tod des Hausmeiers meldet. Dies zeigt, daß man sogar noch 50 Jahre später am Hof Karls des Großen von den tatsächlichen Verfügungen seines Großvaters peinlich berührt war. Eine andere Strategie wählte der Metzer Annalist, indem er eine weitere Verfügung Karl Martells ins Spiel brachte. Da dieser Geschichtsschreiber jedoch zusätzlich die Neigung zeigt, verschiedene Berichte über ein und denselben Gegenstand

119 Mikoletzky, Karl Martell und Grifo (wie Anm. 25) S. 151; Schieffer, Winfrid-Bonifatius (wie Anm. 38) S. 192; Heidrich, Titulatur (wie Anm. 63) S. 151; vgl. auch Löwe, Bonifatius (wie Anm. 102) S. 113; wenig überzeugend Mohr, Fränkische Kirche (wie Anm. 30) S. 18, der Thüringen Karlmann zugeordnet sein läßt und die Auffassung vertritt, Bonifatius habe vorgeschlagen, dieses Gebiet Grifo zu überantworten; vgl. dazu Affeldt, Königserhebung (wie Anm. 23) S. 114. 120 Nach Schüssler, Reichsteilung (wie Anm. 27) S. 57f., sei Thüringen für die Umschreibung von Grifos Zuständigkeitsbereich uninteressant gewesen und in dem Brief nur genannt worden, weil Bonifatius sich damals gerade dort aufgehalten habe, was indes wenig überzeugend ist.

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kommentarlos nebeneinander zu stellen, verstärkt seine Berichterstattung die Zweifel an Childebrands Version über Karls Verfügung. In den Reichsannalen und ihnen folgend auch in den Metzer Annalen ist aber noch von einer weiteren Reichsteilung die Rede: Im Jahr 742 teilten die beiden älteren Brüder nach ihrem Sieg über Grifo das Reich unter sich auf. Hätten Karlmann und Pippin aber bereits von ihrem Vater festumrissene Gebiete erhalten, von denen sie beide lediglich Teile nach der späteren Verfügung des Vaters an Grifo abzugeben hatten, warum haben sie dann überhaupt nochmals geteilt? Warum haben sie nicht einfach nach ihrem Sieg über den Halbbruder die alten Teilreichsgrenzen stillschweigend wiederhergestellt? Warum haben sie bis 742 das ganze Reich gemeinsam verwaltet, wie die sogenannten Einhardsannalen bemerken? Unterstellt man Childebrand nun die Tendenz, die Kontinuität zwischen Karl Martell und seinen älteren Söhnen Karlmann und Pippin zu betonen, bleibt nur der Schluß, daß er die Reichsteilung von 742 auf Karls letzten Willen projizierte. Der Verfasser der sogenannten Einhardsannalen spricht schließlich einfach von drei legitimen Erben und unterstellt Grifo, er habe unter dem Einfluß seiner Mutter Swanahild nach der Alleinherrschaft gestrebt. Betrachtet man aber Swanahilds Einfluß auf den alternden Karl Martell, so drängt sich die Vermutung auf, daß sie ihren Gemahl dazu gebracht hat, den gemeinsamen Sohn zu Lasten der beiden älteren zum Haupt- oder sogar zum Alleinerben zu bestimmen. Die Konfusion der pro-karolingischen Autoren über Karls Nachfolgeregelung wird so jedenfalls erklärlich: Sie standen vor der Schwierigkeit, daß die wirklichen Nachfolger Karl Martells von diesem nicht zu seinen Erben bestimmt worden waren. Nicht einfacher wurde ihre Aufgabe schließlich durch die Tatsache, daß Karl der Große über seine Mutter Bertrada mit Swanahild und Grifo verwandt war. Jeder der genannten Geschichtsschreiber verfiel daher auf eine andere Lösung, um eine Kontinuität innerhalb der Herrscherfamilie zu betonen und zu behaupten, die Nachfolge der älteren Söhne Karlmann und Pippin sei im Sinne Karl Martells gewesen.

Die Reise Papst Leos III. zu Karl dem Großen. Überlegungen zu Chronologie, Verlauf und Inhalt der Paderborner Verhandlungen des Jahres 799

Am Markustag des Jahres 799, dem 25. April, verübten die römischen Gegner Papst Leos III. ein Attentat auf ihn. Ihre Anführer waren der primicerius Paschalis, der Leiter der päpstlichen Bürokratie und Neffe von Leos Vorgänger Hadrian, und der saccelarius Campulus. Die Aufrührer nutzten dazu die letania maior, die große Bittprozession von der Kirche des hl. Laurentius nach St. Peter, die traditionsgemäß an diesem Tag stattfand.1 Unsere ausführlichste Quelle, die im Rahmen des Liber pontificalis überlieferte Vita Leonis, berichtet, daß die Verschwörer ihn auf dem Weg zur Prozession beim Kloster St. Stephan und Silvester (San Silvestro in Capite) angriffen, sich Leos bemächtigten und versuchten, ihn zu blenden und der Zunge zu berauben. Dann wurde er in die Kirche des Klosters St. Stephan und Silvester gebracht. Vor der confessio wiederholten die Attentäter ihre Verstümmelungsversuche. Schließlich wurde der Papst seinem Biographen zufolge in diesem Kloster inhaftiert und nachts nach St. Erasmus (San Erasmo in Monte Celio) gebracht, aus Angst, daß er befreit werden könnte. In der Zwischenzeit sei er auf wunderbare Weise von seinen Wunden genesen und habe sein Augenlicht und die Sprache wiedergewonnen. Nachts habe Leo mit Hilfe seines Kämmerers Albinus aus seinem Gefängnis nach St. Peter fliehen können. Dorthin sei ihm der fränkische Herzog Winigis von Spoleto mit seinem Heer entgegengekommen und habe ihn in sein Herzogtum gebracht. Dann sei der Papst ins Frankenreich zu Karl dem Großen gereist. Pa-

Erstdruck in: Am Vorabend der Kaiserkrönung. Das Epos »Karolus magnus et Leo papa« und der Papstbesuch in Paderborn 799, hg. von Peter Godman – Jörg Jarnut – Peter Johanek, Berlin 2002, S. 87–112. 1 Zu Paschalis und Campulus vgl. unten, S. 306; zur letania maior Wolfgang Pax, Art. ›Bittprozession‹, in: Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 2, Stuttgart 1954, Sp. 422–429; John F. Baldovin, The Urban Character of Christian Worship. The Origins, Development, and Meaning of Stational Liturgy (Orientalia Christiana Analecta 228), Rom 1987; Bernhard Schimmelpfennig, Die Bedeutung Roms im päpstlichen Zeremoniell, in: Ders. und Ludwig Schmugge (Hrsg.), Rom im hohen Mittelalter. Studien zu den Romvorstellungen und zur Rompolitik vom 10. bis 12. Jahrhundert. FS Reinhard Elze, Sigmaringen 1992, S. 47–61, S. 52f.

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Begründungen

derborn,2 den Ort dieser Zusammenkunft, nennt die Vita Leonis dabei allerdings nicht. Der König habe Leo dessen Würde als Nachfolger des hl. Petrus gemäß ehrenvoll empfangen. Leo sei daraufhin mit einer fränkischen Abordnung nach Rom zurückgekehrt und von der gesamten Bevölkerung am 29. November 799 freudig begrüßt worden. Die Franken hätten die Angelegenheit untersucht und die Aufrührer, die nichts gegen den Papst hätten vorbringen können, zu Karl dem Großen geschickt.3 Das sind die Ereignisse des Jahres 799 aus Sicht des Papstbiographen. Sie müssen relativiert werden, etwa was die angeblich schweren Mißhandlungen Leos angeht, die unser Gewährsmann wohl nur deshalb so übertrieben ausmalt, »um hinterher um so strahlender das Wunder der Heilung präsentieren zu können«.4 Sie bedürfen aber einer Ergänzung, da der Papstbiograph die wahren Absichten der Verschwörer und wichtige Details entweder verschweigt oder nur andeutet.5 So werden die Gründe für den Aufstand in einem Gegensatz zwischen Leo und führenden Adelskreisen der Stadt Rom und ihres Umlandes vermutet.6 Von zentraler Bedeutung ist dabei die confessio von St. Stephan und Silvester, wo die Verschwörer Leo erneut verstümmelt haben sollen. Karl Heldmann hat unter anderem aus der Erwähnung dieser confessio geschlossen, daß die Verschwörer dem Papst den Absetzungsprozeß gemacht haben, da eine Deposition üblicherweise vor dem Hauptaltar einer Kirche stattfand.7 Harald Zimmermann 2 Vgl. jetzt Manfred Balzer, Paderborn im frühen Mittelalter (776–1050): Sächsische Siedlung – karolingischer Pfalzort – ottonisch-salische Bischofsstadt, in: Frank Göttmann, Karl Hüser und Jörg Jarnut (Hrsg.), Paderborn. Geschichte der Stadt in ihrer Region, Bd. 1: Das Mittelalter. Bischofsherrschaft und Stadtgemeinde, Paderborn 1999, S. 2–118, S. 12ff. 3 Vita Leonis c. 11–20, Liber pontificalis, ed. Louis Duchesne, Bd. 2, Paris 1892, S. 4ff. 4 Lutz E. von Padberg, Das Paderborner Treffen von 799 im Kontext der Geschichte Karls des Großen, in: Wilhelm Hentze (Hrsg.), De Karolo rege et Leone papa. Der Bericht über die Zusammenkunft Karls des Großen mit Papst Leo III. in Paderborn 799 in einem Epos für Karl den Kaiser (Studien und Quellen zur westfälischen Geschichte 36), Paderborn 1999, S. 9–104, S. 51. 5 Vgl. zuletzt Matthias Becher, Karl der Große und Papst Leo III., in: Christoph Stiegemann und Matthias Wemhoff (Hrsg.), 799 – Kunst und Kultur der Karolingerzeit. Karl der Große und Papst Leo III. in Paderborn. Katalog der Ausstellung Paderborn 1999, Bd. 1, Mainz 1999, S. 22–36. 6 Vgl. etwa Erich Caspar, Das Papsttum unter fränkischer Herrschaft, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 54, 1935, S. 132–264, zit. nach dem ND Darmstadt 1956, S. 122f.; Peter Classen, Karl der Große, das Papsttum und Byzanz. Die Begründung des karolingischen Kaisertums (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters 9), Sigmaringen 1985, S. 43ff.; Peter Llewellyn, Rome in the Dark Ages, 3. Aufl. 1996, S. 246f.; vgl. auch Ders., Le contexte romain du couronnement de Charlemagne. Le temps de l’Avent de l’ann8e 800, in: Le Moyen Age 96, 1990, S. 209–225. 7 Karl Heldmann, Das Kaisertum Karls des Großen. Theorien und Wirklichkeit (Quellen und Studien zur Verfassungsgeschichte des Deutschen Reiches in Mittelalter und Neuzeit 6/2), Weimar 1928, S. 74; vgl. bereits Albert Hauck, Kirchengeschichte Deutschlands, Bd. 2, 5. Aufl. Leipzig 1935, S. 99; von Padberg, Treffen (wie Anm.4), S. 53 Anm. 193, meint, es gebe für eine

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schloß sich dieser Interpretation an: »… jedenfalls sprechen die Quellen ganz in der Art, wie man es vom Vollzug einer Deposition erwartet«.8 Weiter wies Heldmann auf etliche fränkische Annalen hin, die deutlich von einer Verurteilung Leos oder seiner Vertreibung aus dem Pontifikat sprechen.9 Die fränkischen Quellen ergänzen zwar das ein oder andere Detail, doch ändert sich dadurch an unserer Kenntnis über die Vorgänge dieses Jahres in Rom kaum etwas.10 Fragt man allerdings genauer nach den wichtigsten Dimensionen der Geschichte, nach Raum und Zeit, so zeigt sich, wie ungenau sowohl der Bericht der Vita Leonis als auch die Darstellung der diversen fränkischen Quellen ist. So nennt der Biograph des Papstes außer dem 25. April und dem 29. November keine weiteren Daten. Die Dauer des Aufenthalts bei Karl gibt die Quelle recht allgemein an mit aliquantum tempus, »etwas Zeit«.11 Der genaue Verlauf der Papstreise ist daher das entscheidende Problem, das im übrigen nur scheinbar gelöst ist. So ist Karls Itinerar im Jahr 799 äußerst lückenhaft: Am 31. März feierte er Ostern in Aachen, nach dem 13. Juni hielt er eine Reichsversammlung in Lippeham ab und zog anschließend weiter nach Paderborn, vor dem Wintereinbruch kehrte er nach Aachen zurück und feierte dort das Weihnachtsfest.12 Alle weiteren Annahmen zur Chronologie dieses Jahres gehen im Grunde genommen auf die grundlegenden Arbeiten des letzten Jahrhunderts zurück, die einschlägigen Regestenwerke und die Jahrbücher Karls des Großen. Leo sei noch am Tag des Attentats aus seinem Gefängnis in St. Stephan und Silvester nach St. Erasmus verlegt worden. Nachts, also wohl in derselben Nacht oder in einer der unmittelbar folgenden, sei er dann von seinem Kämmerer Albinus befreit worden, sei zu Winigis von Spoleto geflüchtet und sogleich nach Norden aufge-

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Absetzung »in den Quellen keinen direkten Hinweis«, übersieht dabei aber etliche fränkische Quellen; vgl. unten, Anm. 9. Harald Zimmermann, Papstabsetzungen des Mittelalters, Graz – Wien – Köln 1968, S. 27. Heldmann, Kaisertum (wie Anm. 7), S. 74 Anm. 11; insbesondere die Annales regni Francorum a. 801, ed. Friedrich Kurze, in: Annales regni Francorum inde ab a. 741 usque ad a. 829, qui dicuntur Annales Laurissenses maiores et Einhardi (MGH SS rer. Germ. [6]), Hannover 1895, S. 114: … eos, qui pontificem anno superiore deposuerunt … Die Quellen zusammengestellt in Regesta Imperii I: Die Regesten des Kaiserreichs unter den Karolingern 751–918, hrsg. von Johann Friedrich Böhmer, neubearb. von Engelbert Mühlbacher, vollendet von Johann Lechner, 1908, Neudruck mit Ergänzungen von Carlrichard Brühl und Hans H. Kaminsky, Hildesheim 1966, Nr. 348b, 350, 351; Regesta pontificum Romanorum, ed. Philipp Jaffé, 2. Aufl. ed. S. Loewenfeld, F. Kaltenbrunner, P. Ewald, Bd. 1, Leipzig 1885, S. 308ff.; Sigurd Abel – Bernhard Simson, Jahrbücher des fränkischen Reiches unter Karl dem Großen (Jahrbücher der Deutschen Geschichte), Bd. 2, Berlin 1883, S. 169ff.; vgl. auch Heldmann, Kaisertum (wie Anm. 7), S. 73ff.; Kurt Reindel, Die Kaiserkrönung Karls des Großen (Historische Texte Mittelalter 4), 2. durchgesehene Aufl. Göttingen 1970. Vita Leonis, c. 17 (wie Anm. 3), S. 6. Regesta Imperii I (wie Anm. 10), Nr. 348a–351a.

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brochen. Anfang Juli habe er Paderborn erreicht und sich Anfang Oktober auf die Rückreise gemacht.13 Diese Rekonstruktion wirft etliche Probleme auf: So hätten die Aufrührer Leo zwar nur ganz kurz in ihrer Gewalt gehabt, in dieser kurzen Zeit aber eine derart gesicherte und stabile Position in Rom errungen, daß sie noch monatelang über Rom herrschen konnten, obwohl der Papst sich längst nicht mehr in ihrer Gewalt befand. Nur mit fremder Hilfe konnte dieser zurückkehren, und seine rechtliche Stellung blieb noch über ein volles Jahr ungeklärt, bis Karl der Große selbst in Rom erschien, eine Synode abhielt, und der Papst sich mittels eines Eides von den gegen ihn erhobenen Vorwürfen reinigte.14 Mit anderen Worten: Die Position Leos als rechtmäßiger Papst soll binnen weniger Tage in ihren Grundfesten so erschüttert worden sein, daß mehr als anderthalb Jahre vergingen, bis sie vollständig wiederhergestellt werden konnte. Betrachtet man das Geschehen von 799 und seine wissenschaftliche Aufarbeitung näher, so macht man eine überraschende Entdeckung: Die Annahmen über die Chronologie stützen sich vor allem auf eine von Philipp Jaff8 im Rahmen seiner Edition der Alkuin-Korrespondenz erschlossene und von Ernst Dümmler übernommene zeitliche Einordnung dieser Briefe:15 In einem in den Mai datierten Brief an Arn von Salzburg deutete Alkuin erstmals schwere Unruhen in Rom an.16 Ebenfalls im Mai oder in der ersten Juni-Hälfte habe Alkuin seinen 13 Wie oben, Anm. 10; vgl. weiter Helmut Beumann, Die Kaiserfrage bei den Paderborner Verhandlungen von 799, in: Das erste Jahrtausend. Kultur und Kunst im werdenden Abendland an Rhein und Ruhr, Textbd. 1, Düsseldorf 1962, S. 296–317, S. 299f.; Classen, Karl (wie Anm. 6), S. 46f.; Becher, Karl der Große und Papst Leo III. (wie Anm. 5), S. 23ff. 14 Vgl. Caspar, Herrschaft (wie Anm. 6), S. 133f.; Classen, Karl (wie Anm. 6), S. 59; Max Kerner, Der Reinigungseid Leos III. vom Dezember 800. Die Frage seiner Echtheit und frühen kanonistischen Überlieferung. Eine Studie zum Problem der päpstlichen Immunität im früheren Mittelalter, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 84/85, 1977/78, S. 131–160; Othmar Hageneder, Das crimen maiestatis, der Prozeß gegen die Attentäter Papst Leos III. und die Kaiserkrönung Karls des Großen, in: Hubert Mordek (Hrsg.), Aus Kirche und Reich. Studien zu Theologie, Politik und Recht im Mittelalter. FS Friedrich Kempf, Sigmaringen 1983, S. 55–79; Wilfried Hartmann, Die Synoden der Karolingerzeit im Frankenreich und in Italien (Konziliengeschichte. Reihe A: Darstellungen), Paderborn – München – Wien – Zürich 1989, S. 122f.; Becher, Karl der Große und Papst Leo III. (wie Anm. 5), S. 30ff. 15 Vgl. Abel – Simson, Jahrbücher (wie Anm. 10), S. 179 mit Anm. 3; zur Chronologie der Briefe allgemein Ernst Dümmler, Alcuinstudien, in: Sitzungsberichte der königlich-preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1891, S. 495–523, S. 515ff.; künftig: Donald A. Bullough, Alcuin: Achievement and Reputation, 2 Bde., Oxford (im Druck) [Stand 2002]. 16 Alkuin, Epistolae, ed. Ernst Dümmler, in: Epistolae Karolini Aevi II (MGH Epp. IV), Berlin 1895, Nr. 173, S. 286f.; ed. Philipp Jaffé, in: Bibliotheca rerum Germanicarum VI, Berlin 1873, Nr. 113, S. 460ff.; Helmut Beumann, Das Paderborner Epos und die Kaiseridee Karls des Großen, in: Karolus Magnus et Leo Papa. Ein Paderborner Epos vom Jahre 799 (Studien und Quellen zur westfälischen Geschichte 8), Paderborn 1966 (mehrfach nachgedruckt), S. 4, datierte den Brief auf Oktober/November 798; vgl. aber Wilhelm Heil, Alkuinstudien I.

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berühmten Brief über die machtpolitische Weltlage geschrieben, in dem er den Frankenkönig als die höchste Autorität der Christenheit feierte, nachdem Kaiser Konstantin VI. und Papst Leo III. geblendet worden seien.17 Karl teilte Alkuin die Befreiung, die Genesung und das Kommen Leos in einem Schreiben mit, das der Angelsachse nach dem 10. Juli beantwortete.18 Im August tauschten sich der König und sein Gelehrter über die wunderbare Genesung Leos aus.19 Im selben Monat schrieb Alkuin Erzbischof Arn von Salzburg, er würde gerne kommen, um den Papst zu sehen, wenn seine Gesundheit dies zuließe und wenn Karl ihn riefe. Im übrigen versah er den Erzbischof mit kirchenrechtlichen Argumenten zu Gunsten Leos.20 Im September richtete Alkuin Vorwürfe an Abt Adalhard von Corbie, da dieser ihm nichts Genaues über den Aufenthalt des Papstes in Paderborn und über das Verhältnis zwischen diesem und dem König mitgeteilt habe.21 Diese Chronologie der Alkuin-Korrespondenz ist in der Forschung weithin akzeptiert,22 obwohl bereits Theodor Sickel sie auch und gerade im Hinblick auf die Paderborner Verhandlungen von 799 kritisiert hat.23 Auch Wilhelm Heil, dessen wichtigstes Ergebnis seiner Untersuchung der Alkuin-Briefe die Datierung der vielfach in das Frühjahr 800 gesetzten Aachener Synode gegen den Adoptianismus auf die Zeit zwischen Mitte Mai und Mitte Juni 799 war, kam vor rund dreißig Jahren zu anderen Ergebnissen.24 Insbesondere hat er das soeben erwähnte Schreiben an Arn von Salzburg vollkommen anders eingeordnet und es auf Grund der handschriftlichen Überlieferung mit zwei weiteren, bisher als eigenständig angesehenen Briefen an denselben Adressaten als einen einzigen

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Chronologie und Bedeutung des Adoptianismusstreites, Düsseldorf 1970, S. 34; Classen, Karl (wie Anm. 6), S. 45 Anm. 150. Alk. ep., ed. Dümmler, Nr. 174 (wie Anm. 16), S. 287ff.; ed. Jaffé, Nr. 114, S. 463ff.; zu Blendung und Absetzung des byzantinischen Kaisers Konstantin VI. vgl. etwa Peter Schreiner, Byzanz (Oldenbourg Grundriß der Geschichte 22), München 1986, S. 14f., 125. Alk. ep., ed. Dümmler, Nr. 177 (wie Anm. 16), S. 292f.; ed. Jaffé, Nr. 118, S. 481ff.; nach Walter Mohr, Karl der Große, Leo III. und der römische Aufstand von 799, in: Archivum latinitatis medii aevi 30, 1960, S. 39–98, S. 73 Anm. 79, vor Nr. 174 anzusetzen. Alk. ep., ed. Dümmler, Nr. 178 (wie Anm. 16), S. 294ff., bes. S. 295; ed. Jaffé, Nr. 119, S. 484ff. Alk. ep., ed. Dümmler, Nr. 179 (wie Anm. 16), S. 296f.; ed. Jaffé, Nr. 120, S. 488ff. Alk. ep., ed. Dümmler, Nr. 181 (wie Anm. 16), S. 298ff.; ed. Jaffé, Nr. 121, S. 490ff. Vgl. neben Abel – Simson, Jahrbücher (wie Anm. 10), S. 179 Anm. 3; Beumann, Kaiserfrage (wie Anm. 13), S. 300 Anm. 35; Ders., Epos (wie Anm. 16), S. 11; Classen, Karl (wie Anm. 6), S. 46f. Theodor Sickel, Rezension zur Edition von Jaffé, in: Historische Zeitschrift 32, 1874, S. 352–365, bes. S. 364f.; vgl. auch Ders., Alcuinstudien, in: Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften Wien, phil.-hist. Kl. 79,5, 1875, S. 461–550, S. 465, 514 Anm. 1. Heil, Alkuinstudien (wie Anm. 16); zustimmend: Donald A. Bullough, Reminiscence and Reality. Text, Translation and Testimony of an Alcuin Letter, in: The Journal of Medieval Latin 5, 1995, S. 174–201, S. 177 Anm. 13; von Padberg, Treffen (wie Anm. 4), S. 57 Anm. 213.

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Text angesprochen und auf Ende August 799 datiert.25 Einer dieser Texte, in dem Alkuin auf einen Aufenthalt Arns in Rom Bezug nimmt, wurde bislang auf die Rückführung Leos in die Ewige Stadt bezogen und daher gegen Ende 799 eingeordnet.26 Trotz dieser einschneidenden Veränderung wurde die vorgestellte Chronologie des Jahres 799 bislang noch keiner eingehenden Kritik unterzogen. Sie muß nicht nur die Briefe Alkuins mit ihrer von Heil neu geordneten Reihenfolge berücksichtigen, sondern auch die erzählenden Quellen, deren Angaben Abel und Simson in den Jahrbüchern übrigens nicht einmal in Ansätzen hinterfragt und diskutiert haben. Da ist zunächst der Liber pontificalis bzw. die Vita Leonis, die zum größten Teil aus einem jahrweise geordneten Register der Dotationen Leos für die Kirchen Roms besteht.27 Der Bericht über die dramatischen Ereignisse der Jahre 799 und 800 bildet darin eine Ausnahme und fällt damit deutlich aus dem Rahmen der Vita. Bereits diese Besonderheit läßt an eine nachträgliche Interpolation denken. Dennoch hält Peter Classen den Bericht für »streng zeitgenössisch … denn nur bei gleichzeitiger Abfassung konnte er den annalistisch, aber ohne jede Jahresangabe geordneten Schenkungslisten an passender Stelle eingefügt werden«.28 Mit dieser Überlegung konnte Classen sich weitgehend durchsetzen.29 Freilich hat er seine Überlegungen selbst relativiert und einen »Ansatz zu 801, spätestens 802« in Betracht gezogen.30 Helmut Beumann schloß sich dem an, nachdem er zunächst für eine Abfassung nach dem Tod des Papstes 816 plädiert hatte.31 Beides – unmittelbare oder nachträgliche Aufzeichnung – läßt sich im

25 Alk. ep., ed. Dümmler, Nr. 179 + 184 + 208 (wie Anm. 16), S. 296f., 308ff., 345f.; Heil, Alkuinstudien (wie Anm. 16), S. 37ff.; Donald A. Bullough, Sachkommentar zu Nr. 179, in: 799 – Kunst und Kultur der Karolingerzeit (wie Anm. 5), S. 46ff., akzeptiert zumindest die Zusammengehörigkeit der Briefe Nr. 179 und 184, sieht aber Nr. 208 anscheinend als eigenständiges Schreiben an, was in unserem Zusammenhang jedoch wenig ins Gewicht fällt. 26 Alk. ep., ed. Dümmler, Nr. 184 (wie Anm. 16), S. 308ff.; ed. Jaffé, Nr. 127, S. 511ff. 27 Vgl. Duchesne, in: Liber pontificalis (wie Anm. 3), Bd. 2, S. II f.; Christian Huelsen, Osservazioni sulla biografia di Leone III nel liber pontificalis, in: Atti della Pontificia Accademia Romana di Archeologia. Rendiconti 1, 1923, S. 107–119; Wilhelm Wattenbach – Wilhelm Levison – Heinz Löwe, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Vorzeit und Karolinger, Heft 4: Die Karolinger vom Vertrag von Verdun bis zum Herrschaftsantritt der Herrscher aus dem salischen Hause. Italien und das Papsttum, Weimar 1963, S. 456f. 28 Classen, Karl (wie Anm. 6), S. 43. 29 Vgl. etwa Herman Geertman, More Veterum. Il Liber pontificalis e gli edifici ecclesiastici di Roma nella tarda antichit/ e nell’alto medioevo, Groningen 1975, S. 65; Kerner, Reinigungseid (wie Anm. 14), S. 132 Anm. 6; Hageneder, Prozeß (wie Anm. 14), S. 57. 30 Classen, Karl (wie Anm. 6), S. 43 Anm. 143. 31 Helmut Beumann, Nomen imperatoris. Studien zur Kaiseridee Karls d. Gr., in: Historische Zeitschrift 185, 1958, S. 515–549, S. 184 Anm. 40; Ders., Epos (wie Anm. 16), S. 10 Anm. 37; vgl. auch L8on Levillain, Le couronnement imp8rial de Charlemagne, in: Revue d’histoire de l’Pglise de France 18, 1932, S. 5–19, S. 15; Mohr, Karl (wie Anm. 18), S. 41.

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Liber pontificalis beobachten.32 Heinz Löwe wollte sich in dieser Frage nicht festlegen.33 Walter Mohr folgerte schließlich aus den Doppelungen und Ungereimtheiten des Berichts, »daß der Verfasser alle ihm zugänglichen Erzählungen über die Ereignisse verwertete und sie in ungeschickter Weise mehr oder weniger nebeneinander stellte …«.34 Classen ging bei seinen Überlegungen von Voraussetzungen aus, die nicht mehr zutreffen, seit Herman Geertman unsere Kenntnis über die Chronologie des Liber pontificalis erweitert hat.35 Demnach wurden die Aktivitäten Leos III. für die römischen Kirchen indiktionsweise verzeichnet. Da das Attentat mitten in der siebten Indiktion (798/799) geschah, ordnete der Verfasser den Bericht vor dieser und nach der sechsten Indiktion (797/798) ein.36 Dieses mit einem Bruch des Gliederungsprinzips verbundene Vorgehen läßt sich wohl am leichtesten mit einer späteren Interpolation erklären. Aber auch der Bericht selbst wurde vermutlich einige Zeit nach den Ereignissen verfaßt. Dafür spricht jedenfalls neben den von Mohr angeführten Argumenten eine weitere chronologische Angabe. Der Vita zufolge sei Karl post modicum tempus in Rom erschienen, nachdem seine missi die Papstgegner Ende 799 ins Frankenreich verbannt hatten.37 Tatsächlich war aber rund ein Jahr vergangen. Eine derart enge Verschränkung der Jahre 799 und 800 konnte aber nur erfolgen, wenn dem Berichterstatter Fort- und Ausgang des Geschehens bekannt waren. Sie diente natürlich dazu, die Schwierigkeiten des Papstes zu verharmlosen.38 Dennoch ist eine solche Verkürzung nur aus größerer zeitlicher Distanz denkbar. Schließlich ist noch zu berücksichtigen, daß die gesamte Vita nach Leos Tod 816 einer Schlußredaktion unterzogen wurde, so daß unser Textzeuge vermutlich keine zeitgenössische Sicht bietet. Auch die übrigen Zeitangaben sprechen für unsere Annahme, sie dienten einem bestimmten Zweck. Lediglich zwei Tage des Jahres 799 bestimmte der Chronist genauer – den des Attentates und den der Rückkehr des Papstes. Man 32 Vgl. Albert Brackman, Der Liber pontificalis, in: Ders., Gesammelte Aufsätze, Weimar 1941, 2. Aufl. Köln 1967, S. 383–396; Ottorino Bertolini, Il »Liber pontificalis«, in: La storiografia altomedievale (SSCI 17,1), Spoleto 1970, S. 387–456; Thomas F. Noble, A New Look at the Liber Pontificalis, in: Archivum Historiae Pontificiae 23, 1985, S. 347–358; Harald Zimmermann, Art. ›Liber pontificalis‹, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 5, München – Zürich 1991, Sp. 1946f.; Klaus Herbers, Leo IV. und das Papsttum in der Mitte des 9. Jahrhunderts. Möglichkeiten und Grenzen päpstlicher Herrschaft in der späten Karolingerzeit (Päpste und Papsttum 27), Stuttgart 1996, S. 12ff. 33 Wattenbach – Levison – Löwe (wie Anm. 27), S. 457. 34 Mohr, Karl (wie Anm. 18), S. 41f. 35 Geertman, More Veterum (wie Anm. 29), S. 37ff., zur Vita Leonis. 36 Geertman, More Veterum (wie Anm. 29), S. 40, 65. 37 Liber pontificalis (wie Anm. 3), c. 21, S. 7. 38 Vgl. etwa Classen, Karl (wie Anm. 6), S. 58; Becher, Karl der Große und Papst Leo III. (wie Anm. 5), S. 31f.

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wird wohl unterstellen dürfen, daß ihm auch andere Daten bekannt waren, wie der Tag der Befreiung des Papstes, seine Ankunft in Paderborn und seine Abreise von dort. Die beiden zuletzt genannten Daten erachtete er vielleicht als unwichtig. Diese Erklärung wird man für den Tag der Rettung Leos nicht gelten lassen können. Zwar erweckt der Autor mit seiner Aneinanderreihung der Ereignisse den Eindruck, Attentat, Blendung, Haft und Befreiung hätten sich binnen kurzem, vielleicht sogar binnen eines Tages, zugetragen, aber wenn der Aufstand alsbald scheiterte und Leo III. nicht ernsthaft verletzt worden war, warum mußte er dann Rom verlassen und bei Karl dem Großen Zuflucht suchen? Schließlich standen ihm mit dem Herzog von Spoleto und dessen Truppen sowie seinen eigenen Anhängern bewaffnete Kräfte zur Verfügung, die ihm eine Rückkehr in die Ewige Stadt hätten erzwingen können. Winigis von Spoleto unternahm aber anscheinend militärisch nichts gegen die aufständischen Römer.39 So mußte Leo erst zu Karl dem Großen ins Frankenreich reisen, um von dort nach Rom zurückgeführt zu werden. Hält man sich vor Augen, daß die gegen Leo erhobenen Vorwürfe – Meineid und Ehebruch – zwar einerseits schwerwiegend waren,40 andererseits aber im Zusammenhang mit der Absetzung eines Bischofs durchaus üblich waren, liegt die Vermutung nahe, daß der Aufstand gegen den Papst größere Ausmaße angenommen hatte als der Autor der Vita Leonis durchblicken läßt – auch und gerade hinsichtlich der Dauer. Um diese These untermauern zu können, müssen wir uns den diversen fränkischen Historiographen zuwenden. Dem Attentat zeitlich am nächsten stehen die Reichsannalen, die am Ende des 8. Jahrhunderts nahezu zeitgleich mit den geschilderten Ereignissen abgefaßt wurden.41 Der Bericht ist bei weitem nicht so ausführlich wie die Vita Leonis, weicht aber in einem entscheidenden Punkt von ihr ab: Nach seiner Befreiung habe sich Leo zu den legati Karls begeben, zu Abt Wirund von Stablo und Herzog Winigis von Spoleto, die sich damals in St. Peter aufhielten. Nicht der Papst empfing also die Franken in St. Peter, sondern es war umgekehrt. Doch zeichnet die fränkische Historiographie 39 Vgl. bereits Mohr, Karl (wie Anm. 18), S. 41; zu Winigis vgl. Stefano Gasparri, Art. ›Winigis‹, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 9, München 1998, Sp. 237f.; zur Verschleierung der zeitlichen Abläufe vgl. jetzt auch von Padberg, Treffen (wie Anm. 4), S. 48 Anm. 167. 40 Alk. ep., ed. Dümmler, Nr. 179 (wie Anm. 16), S. 297; die genannten Vorwürfe wurden jedenfalls in Paderborn diskutiert, vgl. unten, S. 309, und auch Arn von Salzburg berichtete über Anschuldigungen gegen Leo, vgl. Alk. ep., ed. Dümmler, Nr. 184 (wie Anm. 16), S. 309, und unten, S. 306. 41 Wilhelm Wattenbach – Wilhelm Levison – Heinz Löwe, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Vorzeit und Karolinger, Heft 2: Die Karolinger vom Anfang des 8. Jahrhunderts bis zum Tode Karls des Großen, Weimar 1953, S. 245ff.; vgl. auch Hartmut Hoffmann, Untersuchungen zur karolingischen Annalistik (Bonner Historische Forschungen 10), Bonn 1958, S. 38ff.; eine neue Sicht bietet Rosamond McKitterick, Constructing the Past in the Early Middle Ages: The Case of the Royal Frankish Annals, in: Transactions of the Royal Historical Society, 6th series, 7, 1997, S. 101–129.

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gerade an diesem Punkt kein einheitliches Bild, denn den sogenannten Einhardsannalen zufolge sei allein Herzog Winigis, als er von dem Anschlag gehört habe, nach Rom geeilt und habe den Papst in Sicherheit gebracht.42 Abt Wirund fehlt hier ebenso wie St. Peter als Ort der Zusammenkunft Leos mit den Franken. Die sogenannten Einhardsannalen sind bekanntlich eine kurz nach dem Tod Karls des Großen entstandene Überarbeitung der Reichsannalen, die mitunter eine Darstellung bietet, die Karls Schwierigkeiten und Widerstände gegen ihn hervorhebt.43 Eine Veränderung der direkten Vorlage wie das Streichen einer Person geschah sicherlich mit Vorbedacht, denn es besteht kein Grund, Wirunds Anwesenheit in Rom zu bezweifeln. Warum auch hätte der Reichsannalist dieses Detail erfinden sollen? Interessant ist jedoch, daß auch die Vita Leonis Abt Wirund von Stablo nicht erwähnt. Sowohl die sogenannten Einhardsannalen als auch die Vita Leonis sind deutlich nach 799 und auch nach der Kaiserkrönung des Jahres 800 abgefaßt. Es schälen sich also hinsichtlich der fränkischen legati zwei Traditionsstränge heraus:44 Den zeitgenössischen Reichsannalen und übrigens auch den um 805 entstandenen Metzer Annalen sowie einigen kleineren Geschichtswerken45 zufolge waren zwei fränkische legati während des Aufstandes in Rom anwesend. Dagegen lassen die beiden rückblickenden Quellen Winigis von Spoleto erst später und noch dazu allein hinzukommen, während der zweite legatus Wirund von Stablo gar keine Rolle mehr spielt. Wie erklären die Reichsannalen die Präsenz der beiden in Rom? Auf den ersten Blick gar nicht. Immerhin spricht der Reichsannalist von legati domni regis, qui tunc apud basilicam sancti Petri erant.46 Obwohl diese Wortwahl auch die Deutung ›Gesandte‹ zuläßt, sieht die Forschung in ihnen nahezu einhellig missi dominici, also Königsboten, die ihnen zugewiesene Gebiete des Frankenund Langobardenreiches im Auftrag des Herrschers wenigstens zeitweise bereisten, um im Namen des Königs Recht zu sprechen und die regionalen Amtsträger zu beaufsichtigen.47 Winigis und Wirund hätten demnach zum 42 Annales qui dicuntur Einhardi a. 799 (wie Anm. 9), S. 107: [Leo papa]… a Winigiso duce Spoletino, qui audito huiusmodi facinore Romam festinus advenerat, susceptus ac Spoletium deductus est. 43 Vgl. Wattenbach – Levison – Löwe (wie Anm. 41), S. 254ff.; McKitterick, Constructing (wie Anm. 41), S. 123f. 44 Vgl. bereits Charles Bayet, L’8lection de L8on III. La r8volte des Romains en 799 (Annuaire de Facult8 des lettres de Lyon 1), Paris 1883, S. 20; zur Bedeutung der Kaiserkrönung für die späteren Historiographen vgl. Becher, Karl der Große und Papst Leo III. (wie Anm. 5), S. 30ff. 45 Annales Mettenses priores a. 799, ed. Bernhard von Simson (MGH SS rer. Germ. [10]), Hannover 1905, S. 83; vgl. weiter die Zusammenstellung bei Abel – Simson, Jahrbücher (wie Anm. 10), S. 171 Anm. 1. 46 Annales regni Francorum a. 799 (wie Anm. 9), S. 106. 47 Vgl. dazu allgemein Georg Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 3, Berlin 1883, S. 441ff.; Victor Krause, Geschichte des Instituts der missi dominici, in: Mitteilungen des

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Zeitpunkt des Attentats auf Leo III. zufällig in der Nähe Roms zu tun gehabt und hätten daher rasch in das Geschehen eingreifen können.48 Doch dann stellt sich die Frage, warum die oppositionellen Römer ihren Aufstand gerade zu einem Zeitpunkt wagten, da Vertreter des fränkischen Königs in unmittelbarer Reichweite waren. Wenn man nicht mit Jörg Jarnut davon ausgehen will, daß die beiden legati in irgendeiner Form in den Umsturzversuch involviert waren,49 bleibt nur die Möglichkeit, die Ereignisse zeitlich zu entzerren und anzunehmen, daß sie erst einige Zeit nach dem Attentat in Rom erschienen. Dann aber könnten Wirund und Winigis tatsächlich Gesandte Karls gewesen sein, etwa in dem Sinne, daß der König den Abt von Stablo als Reaktion auf das Attentat zunächst zu Winigis und beide dann weiter nach Rom beordert hatte. Die Reichsannalen widersprechen dem nicht, denn laut ihrem Bericht hielten sich die legati domni regis lediglich zum Zeitpunkt von Leos Flucht bei St. Peter auf. Wo sie während der Revolte gewesen waren, und wieviel Zeit seit dem Attentat vergangen war, läßt diese Quelle offen. Die anderen Historiographen helfen bei diesem Problem nicht weiter. Vielmehr weichen sie gerade in diesem Punkt von den Reichsannalen ab. Die sogenannten Einhardsannalen lassen den missus Winigis erst nach Rom eilen, nachdem er bereits vom Attentat gehört hatte. Ähnlich auch die Vita Leonis: Winigis sei Leo erst nach dessen Befreiung und Ankunft in St. Peter entgegengeeilt.50 Die späteren Geschichtsschreiber glaubten also, die Anwesenheit des Herzogs von Spoleto erklären zu müssen. Der Papstbiograph nutzte diese Gelegenheit, um im Gegensatz zu der in den Reichsannalen zum Ausdruck kommenden offiziösen fränkischen Sicht zu betonen, daß Leo zu einem Zeitpunkt freigekommen sei, als noch kein Franke Rom bzw. St. Peter betreten habe. Leo hätte sich demnach selbst aus seiner Zwangslage befreit, ohne daß ihm die fränkischen legati dabei auch nur indirekt geholfen hätten. Der Überarbeiter der Reichsannalen war mit seiner Vorlage nicht zufrieden und ergänzte in etwa Instituts für österreichische Geschichtsforschung 11, 1890, S. 193–300; Karl Ferdinand Werner, Missus – Marchio – Comes. Entre l’administration centrale et l’administration locale de l’Empire carolingien, in: Werner Paravicini und Karl Ferdinand Werner (Hrsg.), Histoire compar8e de l’administration (IVe–XVIIIe siHcles) (Beihefte der Francia 9), München – Zürich 1980, S. 191–229; Jürgen Hannig, Pauperiores vassi de infra palatio? Zur Entstehung der karolingischen Königsbotenorganisation, in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 91, 1983, S. 309–374. 48 Abel – Simson, Jahrbücher (wie Anm. 10), S. 170f.; Engelbert Mühlbacher, Deutsche Geschichte unter den Karolingern, Stuttgart 1896, S. 197; Krause, Missi dominici (wie Anm. 47), S. 216, 259; Caspar, Herrschaft (wie Anm. 6), S. 124; Classen, Karl (wie Anm. 6), S. 46; Zimmermann, Papstabsetzungen (wie Anm. 8), S. 28. 49 Vgl. dazu Jörg Jarnut, 799 und die Folgen. Fakten, Hypothesen und Spekulationen, in: Westfälische Zeitschrift 150, 2000, S. 191–209. 50 Vita Leonis, c. 15 (wie Anm. 3), S. 5: Et in ipsa beati Petri apostoli aula coniungente praelatus pontifex, confestim Winichis, gloriosus dux Spolitanus cum suo exercito obviavit.

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denselben logischen Zusammenhang wie der Papstbiograph. Diese Auslegung muß nicht notwendigerweise falsch sein, doch stützt sie keineswegs die Annahme, Wirund und Winigis seien Königsboten gewesen, die Ende April 799 zufällig in der Nähe Roms zu tun gehabt hätten. Gänzlich ins Wanken gerät diese Interpretation, weil sowohl die Vita Leonis als auch die sogenannten Einhardsannalen Abt Wirund unerwähnt lassen. Irritierend sind nicht nur die Widersprüche der beiden Historiographen untereinander und zu den Reichsannalen, sondern auch der Umstand, daß ein Abt von Stablo normalerweise nicht auf bestimmte Nachrichten hin ad hoc in Rom erscheinen konnte. Seine Anwesenheit paßte wohl nicht mehr zu dem spontanen Eingreifen, das die beiden späteren Geschichtsschreiber dem Herzog von Spoleto möglicherweise erst nachträglich unterstellten. Damit sind wir wieder bei der Frage angelangt, ob Winigis und Wirund missi im Sinne von Königsboten oder legati im Sinne von Gesandten waren.51 Entgegen der Mehrheitsmeinung hat Eduard Hlawitschka, der sich unabhängig von der Problematik des römischen Aufstandes mit der Rolle der beiden im Jahr 799 auseinandergesetzt hat, weder Wirund noch Winigis unter den in Italien tätigen fränkischen Königsboten aufgeführt.52 Man könnte die Auffassung vertreten, die Worte legati und missi seien austauschbar, da in den fränkischen Quellen der Aspekt »Bote« im Vordergrund stehe, ganz gleich ob es sich um einen Gesandten oder Königsboten handelte.53 Untersucht man aber den Sprachgebrauch der seit 791 verfaßten Jahresberichte der Reichsannalen, so stellt man fest, daß Königsboten weder mit dem einen noch dem anderen Wort angesprochen werden und beide Termini durchgängig Gesandte oder Boten meinen.54 Dabei domi51 Mit Recht weist von Padberg, Treffen (wie Anm. 4), S. 53 Anm. 193, darauf hin, daß »in der Literatur stets von Missi die Rede [ist], obwohl es sich den Quellen zufolge um Legaten handelte«. 52 Eduard Hlawitschka, Franken, Alamannen, Bayern und Burgunder in Oberitalien (774–962). Zum Verständnis der fränkischen Königsherrschaft in Italien (Forschungen zur Oberrheinischen Landesgeschichte 8), Freiburg im Breisgau 1960, S. 27 Anm. 20. 53 Waitz, Verfassungsgeschichte (wie Anm. 47), Bd. 3, S. 442; Krause, Missi dominici (wie Anm. 47), S. 194. 54 Annales regni Francorum a. 791 (wie Anm. 9), S. 88: fränkische missi bei den Awaren; a. 793, S. 92 u. 94: missi des Papstes erscheinen bei Karl, ein missus meldet einen Aufstand der Sachsen; a. 794, S. 94: missi des Papstes nehmen an der Frankfurter Synode teil; a. 795, S. 96: missi eines awarischen Fürsten bei Karl; a. 796, S. 98: legati Papst Leos III., legationes Pippins von Italien; a. 797, S. 100: ein legatus des Statthalters von Sizilien, S. 102: awarische legati; a. 798, S. 102: ein legatus des Königs Alfons von Asturien, … Nordliudi trans Albim sedentes seditione commota legatos regios, qui tunc ad iustitias faciendas apud eos conversabantur, comprehendunt … (dies scheint mir der einzige Fall zu sein, bei dem man geteilter Meinung sein kann, denn einerseits beanspruchten die Franken die Herrschaft über die Nordleute, andererseits waren sie noch nicht vollständig unterworfen), S. 104: eine legatio aus Byzanz, legati des Königs Alfons von Asturien; a. 801, S. 114: legati des Kalifen Harun; a. 802, S. 117: legati der Kaiserin Irene; a. 803, S. 118: missi Karls kehren aus Byzanz zurück, legati des

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nieren bis zum Jahresbericht von 795 missi, ab 796 legati.55 Damit neigt sich die Waagschale zugunsten einer Interpretation im Sinne von Gesandten oder Boten. Eine textimmanente Auslegung des dürren Berichts der Reichsannalen stützt diese Einschätzung. Die legati domni regis werden nicht etwa anläßlich des Aufruhrs, sondern erst zur Flucht Leos eingeführt. Ihre Anwesenheit wird nicht begründet, aber ihr Aufenthaltsort St. Peter eigens genannt und damit besonders hervorgehoben. Die Hauptkirche des Bischofs von Rom lag außerhalb der Stadt und dürfte wohl vom Aufstand betroffen gewesen sein. Von diesem zumindest neutralen und zugleich prestigeträchtigen Ort kamen Wirund und Winigis dem Auftrag nach, den legati üblicherweise haben, nämlich Verhandlungen zu führen und zwar im Auftrag ihres Königs, den der Annalist eigens nennt. Auf jeden Fall läßt sein Bericht eine solche Interpretation zu, während die ihm widersprechenden Quellen, also die sogenannten Einhardsannalen und die Vita Leonis, durch ihr Verschweigen Wirunds von Stablo in diesem Punkt eine geringere Glaubwürdigkeit verdienen und im übrigen ebenfalls der These widersprechen, Wirund sei zufällig in oder nahe der Ewigen Stadt gewesen. Für eine fränkische Gesandtschaft sprechen auch eine Stelle aus dem Epos De Karolo rege et Leone papa und ein Brief Alkuins: Karl habe, so das Gedicht, vor seinem Aufbruch nach Sachsen von den römischen Ereignissen geträumt und daraufhin rapidi missi tres nach Süden entsandt.56 Wenn es sich bei dem Traumgesicht auch um ein Stilmittel des Dichters handelt, so könnte es doch auf eine reale Grundlage zurückgehen: Karl könnte entweder durch Gerüchte oder gar durch Boten vom Umsturz in Rom erfahren haben.57 Vor einem weiteren Vorgehen benötigte Karl genauere Informationen und dürfte daher jene drei rapidi missi nach Rom entsandt haben. Dem Epos zufolge näherten sie sich Rom

Kaisers Nikephoros, fränkische legatio nach Byzanz; a. 804, S. 118: legati des Dänenkönigs Gottfried, an den auch eine legatio Karls abgeht; a. 806, S. 121: legati der Dalmaten, S. 122: fränkische legati, die vom Kalifen zurückkehren; a. 807, S. 123: Radbertus missus imperatoris, qui de Oriente revertebatur …; a. 808, S. 126: legati des Papstes Leos und des Kaisers Karl, im folgenden namentlich erwähnt und als legatus (des Papstes) bzw. missi (des Kaisers) bezeichnet. 55 Ab 795 wird der zweite, zeitgenössische Teil der Reichsannalen angesetzt, der bis ca. 808 reicht, vgl. Wattenbach – Levison – Löwe (wie Anm. 41), S. 251f.; speziell zum Wechsel von missus und legatus vgl. Georg Waitz, Zu den Lorscher und Einhards Annalen, in: Nachrichten von der G[eorg] A[ugust] Universität und der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen 1857, Nr. 3, S. 46–52, hier S. 50; Ernst Dünzelmann, Beiträge zur Kritik der karolingischen Annalen, in: Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 2, 1877, S. 475–537, S. 482f., 486. 56 De Karolo rege et Leone papa, ed. Franz Brunhölzl, v. 326ff., in: Karolus Magnus et Leo Papa (wie Anm. 16), S. 82; wieder abgedruckt als Beiheft zu Hentze (Hrsg.), De Karolo rege et Leone papa (wie Anm. 4). 57 Vgl. unten, S. 303f.

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ungefähr zu dem Zeitpunkt, als Leo die Flucht nach Spoleto gelang.58 Vermutlich sprach der Dichter also dieselbe Gesandtschaft an wie der Reichsannalist. Eine abermalige Bestätigung unserer Annahme und ein weiterer Gesandter Karls lassen sich aus der Korrespondenz Alkuins erschließen. Wie bereits erwähnt, hat Heil entgegen der Edition Dümmlers drei Brieftexte des Angelsachsen als ein einziges Schreiben angesprochen und auf Ende August 799 datiert.59 Alkuin beantwortete darin einen Brief, den Erzbischof Arn von Salzburg ihm aus Paderborn gesandt hatte. Zugleich nahm er auch Bezug auf ein zweites Schreiben Arns, das dieser im Frühsommer 799 in Rom verfaßt und in dem er über die Vorgänge in der Ewigen Stadt berichtet hatte.60 Während des römischen Aufstandes war also einer der wichtigsten Bischöfe des Frankenreiches zusammen mit anderen Gesandten Karls am Tiber präsent. Daß der König sich auf Nachrichten oder Gerüchte hin über die Ereignisse am Tiber informieren wollte und daher Männer seines Vertrauens nach Süden sandte, bevor er weitere Maßnahmen ergriff oder gar selbst nach Rom aufbrach, ist auch unabhängig von unseren Überlegungen wahrscheinlich. Da das Attentat auf den Papst am 25. April geschah und man annehmen kann, die Nachricht sei mit Hilfe von Boten verbreitet worden, hat Karl in dem ca. 1550 km entfernten Aachen – legt man eine Tagesleistung von ca. 60 km zugrunde – rund vier Wochen später, also Ende Mai, davon erfahren.61 Seine Gesandten waren trotz aller Eile sicherlich länger nach Rom unterwegs. Schließlich handelte es sich bei ihnen nicht um einfache Boten, sondern wenigstens teilweise um hochrangige Angehörige des fränkischen Hofes. Man kann für ihre Reise daher mindestens sechs

58 De Karolo rege et Leone papa, v. 376ff. (wie Anm. 56), S. 86; vgl. Beumann, Kaiserfrage (wie Anm. 13), S. 300 Anm. 35, der freilich den Zeitaufwand für die Reise der Gesandten nach Rom übersieht. 59 Alk. ep., ed. Dümmler, Nr. 179 + 184 + 208 (wie Anm. 16), S. 296f., 308ff., 345f.; Heil, Alkuinstudien (wie Anm. 16), S. 40ff. 60 Alk. ep., ed. Dümmler, Nr. 184 (wie Anm. 16), S. 309. 61 Davon geht die Forschung einhellig aus; zur Geschwindigkeit von Boten Reinhard Elze, Über die Leistungsfähigkeit von Gesandtschaften und Boten im 11. Jahrhundert, in: Werner Paravicini und Karl Ferdinand Werner (Hrsg.), Histoire compar8e de l’administration (IVe–XVIIIe siHcles) (Beihefte der Francia 9), München – Zürich 1980, S. 3–10; Herbert Zielinski, Reisegeschwindigkeit und Nachrichtenübermittlung als Problem der Regestenarbeit am Beispiel eines undatierten Kapitulars Lothars I. von 847 Frühjahr (846 Herbst?), in: Paul Joachim Heinig (Hrsg.), Diplomatische und chronologische Studien aus der Arbeit der Regesta Imperii (Forschungen und Beiträge zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 8), Köln – Wien 1991, S. 37–49, S. 42f.; vgl. auch Philippe Depreux, Wann begann Ludwig der Fromme zu regieren?, in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 102, 1994, S. 253–270, S. 264f.; Achim Thomas Hack, Das Empfangszeremoniell bei mittelalterlichen Papst–Kaiser–Treffen (Forschungen und Beiträge zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 18), Köln – Weimar – Wien 1999, S. 423.

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Wochen ansetzen.62 Mit anderen Worten: Selbst im Falle, daß sich die legati Karls noch Ende Mai auf den Weg machten, trafen sie nicht vor Anfang Juli in Rom ein. Doch erst nach ihrer Ankunft wurde Leo den Reichsannalen und auch dem Epos zufolge befreit. Die Gefangenschaft des Papstes hat also unseren Berechnungen zufolge mindestens bis Anfang Juli gedauert und damit erheblich länger, als insbesondere die sogenannten Einhardsannalen und die Vita Leonis insinuieren. Während dieser Zeit konnten die Attentäter ihre Herrschaft in der Stadt festigen. Ihre Revolte hatte also erhebliche Ausmaße angenommen – und dennoch gingen sie nicht bis zum äußersten und ließen einen neuen Papst wählen. Erst dann wäre Leos Absetzung wirklich vollzogen gewesen. Daß die Aufrührer darauf verzichteten, hat in der Forschung immer wieder Verwunderung hervorgerufen. Man meinte sogar, das Unternehmen sei schlecht vorbereitet gewesen. Danach sieht es aber nicht aus. Warum zögerten sie also? C. Bayet, der von einer Verbindung zwischen den Verschwörern und Byzanz ausging, dachte an eine Rücksichtnahme auf Konstantinopel.63 Erich Caspar sprach den Verschwörern einen festen politischen Plan ab, verwies allerdings wie jüngst auch Lutz von Padberg auf den Respekt der Verschwörer gegenüber Karl dem Großen, ohne diesen Gedanken näher auszuführen.64 Peter Llewellyn meinte, die Verschwörer hätten ausschließlich weltliche Ziele verfolgt, weshalb es ihnen genügt habe, den Papst unter ihre Kontrolle zu bringen; im übrigen hätten sie auf ihre guten Beziehungen zum fränkischen Hof vertraut.65 Für Peter Classen schließlich war Leo noch gar nicht abgesetzt, weshalb an eine Neuwahl überhaupt nicht gedacht werden konnte.66 Von einer Absetzung aber sprechen zahlreiche fränkische Quellen,67 auch die sogenannten Einhardsannalen und selbst den Bericht der Vita Leonis haben Karl Heldmann und Harald Zimmermann in diesem Sinne gedeutet.68 Letzterer konnte daher auch nur seiner Verwunderung Ausdruck geben.69 Zu äußerst eiligen Reisen von Päpsten, die unsere Annahme bestätigen, vgl. unten, S. 315. Bayet, L’8lection (wie Anm. 44), S. 17. Caspar, Herrschaft (wie Anm. 6), S. 123f.; von Padberg, Treffen (wie Anm. 4), S. 53. Llewellyn, Rome (wie Anm. 6), S. 247; Ders., Le contexte (wie Anm. 6), S. 218f. Classen, Karl (wie Anm. 6), S. 46; vgl. auch von Padberg, Treffen (wie Anm. 4), S. 53 mit Anm. 193. 67 Vgl. die Zusammenstellung bei Heldmann, Kaisertum (wie Anm. 7), S. 74 Anm. 11; dagegen können weder Alk. ep., ed. Dümmler, Nr. 179 (wie Anm. 16) noch Leos Reinigungseid vom 23. Dezember 800 – dazu grundlegend: Kerner, Reinigungseid (wie Anm. 14) – als Belege für eine formale Absetzung Ende April oder Anfang Mai 799 gelten, denn beide Texte beziehen sich eher auf die Anklagen der römischen Verschwörer, die sie erst vor Karl gegen Leo erhoben, so daß gewisse Akzentverschiebungen durchaus in Betracht zu ziehen sind. 68 Heldmann, Kaisertum (wie Anm. 7), S. 74; Zimmermann, Papstabsetzungen (wie Anm. 8), S. 27 mit Anm. 7; vgl. bereits Hauck, Kirchengeschichte 2 (wie Anm. 7), S. 99. 69 Harald Zimmermann, Das Papsttum im Mittelalter. Eine Papstgeschichte im Spiegel der

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Betrachten wir zum Vergleich kurz die zuletzt vorausgegangene Deposition eines Papstes. Konstantin II. hatte seit Juli 767 die cathedra Petri inne und war zunächst allgemein anerkannt worden. Im Sommer 768 wurde er mit langobardischer Hilfe von seinen innerrömischen Gegnern gestürzt, die ihm Anfang August 768 wegen seiner unkanonischen Wahl den Prozeß machten.70 Ein Subdiakon nahm Konstantin die Pontifikalgewänder ab, insbesondere das Pallium. Das Urteil selbst wurde feierlich am 7. August, einem Sonntag, verkündet, und der bereits zuvor gewählte neue Papst Stephan III. erhielt seine Weihen. Dieser legte Wert darauf, daß die Absetzung seines unwürdigen Vorgängers auf einer 769 in Rom tagenden Synode wiederholt wurde und zwar unter Beteiligung fränkischer Bischöfe.71 Damit achtete er die besondere Rolle des Frankenkönigs als patricius Romanorum, als Schutzherr Roms und der römischen Kirche. Immerhin hatte Konstantin König Pippin seine Wahl angezeigt und die Erneuerung des päpstlich-fränkischen Bündnisses angeboten.72 Später wiederholte er seine Anfrage sogar noch einmal.73 Vor diesem Hintergrund ist es nur zu verständlich, daß Stephan sich um die Zustimmung der Franken zur Absetzung seines Vorgängers bemühte. Wenn aber schon 768/69, als die Langobarden noch große Teile Ober- und Mittelitaliens beherrschten, eine fränkische Beteiligung bei der Absetzung eines Papstes für notwendig erachtet wurde, dann lag dieser Gedanke 799 noch viel näher, denn inzwischen war der Frankenkönig nicht nur Schutzherr Roms, sondern beherrschte selbst das Langobardenreich. Die Ewige Stadt und vor allem ihr Bischof waren die wichtigsten Orientierungspunkte der Politik Karls des Großen in Italien. Allen Beteiligten muß klar gewesen sein, daß er die Absetzung des von ihm anerkannten und seit drei Jahren amtierenden Papstes nicht so ohne weiteres hinnehmen würde. Daher hat die römische Opposition zwar im Früh-

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Historiographie, Stuttgart 1981, S. 70; vgl. auch Ders., Papstabsetzungen (wie Anm. 8), S. 27f. Vita Stephani, c. 12f., Liber pontificalis, ed. Louis Duchesne, Bd. 1, Paris 1955, S. 471f.; alle Quellen zur Absetzung in Concilia aevi Karolini I, ed. Albert Werminghoff (MGH Concilia II), Hannover – Leipzig 1896, Nr. 14, S. 74ff.; zu den Ereignissen vgl. Zimmermann, Papstabsetzungen (wie Anm. 8), S. 14ff.; Thomas F. X. Noble, The Republic of St. Peter. The Birth of the Papal State, 680–825, Philadelphia 1984, S. 112ff.; Hartmann, Synoden (wie Anm. 14), S. 83f.; von Padberg, Treffen (wie Anm. 4), S. 47 Anm. 166, 53. Vita Stephani c. 16ff., Nr. 14 (wie Anm. 70), S. 473ff.; Concilia aevi Karolini I (wie Anm. 70), Nr. 14, S. 74ff.; vgl. Zimmermann, Papstabsetzungen (wie Anm. 8), S. 19; Hartmann, Synoden (wie Anm. 14), S. 84ff. Codex Carolinus, ed. Wilhelm Gundlach, Epistolae Merowingici et Karolini aevi I (MGH Epp. III), Berlin 1892, Nr. 98, S. 649f.; vgl. Anna M. Drabek, Die Verträge der fränkischen und deutschen Herrscher mit dem Papsttum von 754 bis 1020 (Veröffentlichungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 22), Wien – Köln – Graz 1976, S. 30; Zimmermann, Papsttum (wie Anm. 69), S. 64. Codex Carolinus Nr. 99 (wie Anm. 72), S. 652; vgl. Drabek, Verträge (wie Anm. 72), S. 30f.

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jahr 799 den ersten Schritt zu Leos Absetzung unternommen und einen ersten Prozeß gegen ihn durchgeführt, aber auf die Wahl eines neuen Papstes verzichtet. Denn bereits dieser erste Schritt mußte Irritationen am fränkischen Hof auslösen. Wenn die römischen Oppositionellen den Frankenkönig nicht mit einem weiteren eigenmächtigen Vorgehen gegen sich aufbringen wollten, dann mußten sie Kontakt zu ihm aufnehmen. Daß die Verschwörer unter diesen Umständen überhaupt den Aufstand gewagt hatten, ist wohl damit zu erklären, daß die Anstifter Paschalis und Campulus Verwandte und Vertraute des 795 gestorbenen Papstes Hadrian waren,74 den Karl der Große außerordentlich geschätzt hatte.75 Seit dieser Zeit verfügten die beiden über gute Verbindungen zum fränkischen Hof. Eine Kontaktaufnahme zwischen Rom und Aachen im Frühsommer 799 lag also nahe. Die Berichte der Reichsannalen und des Epos fügen sich gut in diese These. Der Papstbiograph betont hingegen, die Attentäter hätten sich erst nach Leos Ankunft bei Karl bemüht, ihrerseits Boten zu diesem zu senden und falsche Anschuldigungen gegen den Papst vorzubringen, nachdem sie die Besitzungen des hl. Petrus in Schutt und Asche gelegt hätten.76 Dieser parteiische Bericht wiegt die genannten Quellenstellen und die vorgestellten Überlegungen nicht auf. Daher gehen wir von einem regen, durch Boten vermittelten Austausch zwischen Karl und beiden römischen Gruppierungen aus. Gänzlich unvorbereitet war Karl auf die Ereignisse in Rom sicherlich nicht, denn bereits im Verlauf des Jahres 798 hatte Erzbischof Arn von Salzburg Alkuin und sicherlich auch dem König über Schwierigkeiten Leos berichtet.77 Ende Mai dürften diverse Boten in Aachen erschienen sein, im Auftrag sowohl der Verschwörer als auch der päpstlichen Parteigänger.78 Dabei ist davon auszugehen, daß letztere die 74 Vgl. Caspar, Herrschaft (wie Anm. 6), S. 122; Classen, Karl (wie Anm.6), S. 45f.; Llewellyn, Le contexte (wie Anm. 6), S. 218f. 75 Vgl. etwa Sebastian Scholz, Karl der Große und das ›Epitaphium Hadriani‹. Ein Beitrag zum Gebetsgedenken der Karolinger, in: Rainer Berndt (Hrsg.), Das Frankfurter Konzil von 794. Kristallisationspunkt karolingischer Kultur, Bd. 1 (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte 80), Mainz 1997, S. 373–393. 76 Vita Leonis, c. 17 (wie Anm. 3), S. 6: Qui dum in magno honore apud se aliquantum tempus eum ipse serenissimus rex habuisset, haec praelati iniqui et filii diaboli audientes, post dira et iniqua incendia quae in possessionibus seu rebus beati Petri apostoli gesserunt, moliti sunt, Deo illis contrario, falsa adversus sanctissimum pontificem inponere crimina, et post eum ad praedictum emittere regem, quod probare nequaquam potuissent, quia per insidias et iniquitates ipsorum talia nec dicenda, sancta ecclesia humiliari volentes, proferebant. 77 Vgl. die Antworten Alkuins vom Juni und November 798: Alk. ep., ed. Dümmler, Nr. 146, 159 (wie Anm. 16), S. 235f., 257f.; sicherlich unterrichtete Arn auch den König; auf weitere Briefe Alkuins an Arn aus dem Jahr 798, die sich auf die römischen Verhältnisse beziehen, macht Beumann, Epos (wie Anm. 16), S. 4 Anm. 5, aufmerksam. 78 Möglicherweise war der aus Worms stammende Abt Mauroald von Farfa einer dieser Gesandten, denn er hielt sich im Mai 799 in Mailand auf: Il regesto di Farfa, ed. Ignazio Giorgi und Ugo Balzani, Bd. 2, Rom 1880, Nr. 179, S. 136 (freundlicher Hinweis von Michael

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vielfältigen Mißhandlungen herausstellten, die Leo hatte erleiden müssen. Durch das Betonen der Verbrechen seiner Gegner konnten sie Leos Position bei Karl am besten unterstützen. Auf der anderen Seite haben Leos Kontrahenten vermutlich vor allem auf die nahezu vollzogene Absetzung des unwürdigen Papstes verwiesen. Beide Positionen spiegeln sich in den diversen fränkischen Geschichtswerken, die teils das verbrecherische Vorgehen gegen den Papst teils seine Absetzung erwähnen.79 Freilich berichten diese Quellen mehr oder minder ex eventu, weshalb sie keine Auskunft über die Frage geben, welche der beiden Parteien sich zuerst an Aachen gewandt hatte. Allein die Korrespondenz Alkuins könnte einen Hinweis geben. In einem gemeinhin auf Mai 799 datierten Brief an Arn von Salzburg, der unserer Meinung nach Ende dieses Monats oder Anfang Juni verfaßt wurde, geht der Angelsachse erstmals auf die römischen Geschehnisse ein: Et ubi fons aequitatis et iustitiae ad omnes per rivulos sanctitatis profluere debuit, ibi maxime iniquitatis palustris profunditas exalatur : sicut forte a sanctissima sede auditurus eris, quid ibi scelerum et nimiae atrocitatis nuper gestum esse refertur.80 Erst im Juni sprach Alkuin gegenüber Karl von der Blendung des Papstes.81 Möglich wäre also, daß zunächst die Attentäter den fränkischen Hof informiert hatten, was den papsttreuen Angelsachsen dazu veranlaßte, von einem Verbrechen zu sprechen. Kurz darauf trafen Anhänger des Papstes in Aachen ein, die auf dessen Verstümmelungen abhoben, um die Aufrührer zu diskreditieren. Auf diese widersprüchlichen Nachrichten hin entsandte der König Arn von Salzburg und Wirund von Stablo in die Ewige Stadt, um die Lage zu sondieren. Wie unentschlossen Karl zunächst war, spiegelt sich in den offiziösen fränkischen Reichsannalen: Zwar werden die Verbrechen gegen den Papst offen angesprochen, aber die Namen der Verschwörer Paschalis und Campulus werden erst zu 801 anläßlich ihrer Verurteilung genannt.82 Vorher bleiben die Gegner des Papstes anonym. Das könnte darauf hindeuten, daß sie vom dem nahezu zeit-

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McCormick); in wessen Auftrag Mauroald unterwegs gewesen sein könnte, ist indes nicht zu entscheiden, zumal die Beziehungen zwischen dem von Karl besondert geförderten Königskloster Farfa und dem Papst gespannt waren, vgl. Franz J. Felten, Zur Geschichte der Klöster Farfa und San Vincenzo al Volturno im 8. Jahrhundert, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 62, 1982, S. 1–62, S. 10ff.; nach von Padberg, Treffen (wie Anm. 4), S. 54f., hätte Leo sich als erster an Karl gewandt und zwar unmittelbar nach seiner Flucht, doch setzt von Padberg auch eine kurze Gefangenschaft voraus. Vgl. oben S. 293 mit Anm. 9f. Alk. ep., ed. Dümmler, Nr. 173 (wie Anm. 16), S. 286. Alk. ep., ed. Dümmler, Nr. 174 (wie Anm. 16), S. 288: Ipsi [Romani], cordis suis excaecati, excaecaverunt caput proprium. Annales regni Francorum a. 799, 801 (wie Anm. 9), S. 114; vgl. Mohr, Karl (wie Anm. 18), S. 46.

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genössischen Berichterstatter geschont werden sollten, da Karl sich noch nicht endgültig zugunsten einer Seite entschieden hatte. In Rom sahen sich die fränkischen Abgesandten mit großen Schwierigkeiten konfrontiert. Arn berichtete Alkuin zum einen über die Vorwürfe gegen Leo, die den gelehrten Abt derart beunruhigten, daß er sie nur seinem engsten Schüler Candidus mitteilte und den betreffenden Brief aus Gründen der Geheimhaltung verbrannte, »damit nicht etwa durch eine Nachlässigkeit des Briefbewahrers ein Ärgernis entstehen könne«. Zum anderen schrieb Arn über die Gefahr, der er beim Papst wegen der Römer ausgesetzt war.83 Es kam also zu Meinungsverschiedenheiten zwischen den Verschwörern und den Franken, und die Lage dürfte sich zugespitzt haben. In dieser Situation gelang Leo die Flucht aus seinem Gefängnis im Kloster St. Erasmus. Man hatte ihn zuvor dorthin gebracht und damit vom Stadtzentrum Roms an die südliche Peripherie verlegt, während sich die Franken bei St. Peter im Westen der Stadt aufhielten. Der Wechsel des Gefängnisses, den die Vita Leonis umständlich schildert,84 ist möglicherweise ein weiterer Hinweis auf Spannungen zwischen den römischen Oppositionellen und den fränkischen Gesandten. Denn St. Stephan und Silvester lag im Norden der Stadt,85 recht nahe an St. Peter, dem Aufenthaltsort der fränkischen Gesandten, St. Erasmus auf dem Monte Celio dagegen entfernter im Süden.86 Bezeichnenderweise kennen sämtliche fränkischen Quellen lediglich St. Erasmus als Gefängnis des Papstes. Wir besitzen sogar einen versteckten Hinweis auf eine Spaltung der Aufrührer. Nach den Annales Maximiniani wurde der Papst nicht nur vom cubicularius Albinus befreit, sondern auch von einem gewissen Maurus, der in der Vita Leonis zu den Attentätern gerechnet wird.87 Auf jeden Fall dürfte

83 Alk. ep., ed. Dümmler, Nr. 184 (wie Anm. 16), S. 309: Epistola vero prior, quae ad nos sub vestro nomine pervenit – quaerimonias quasdam habens de moribus apostolici et de periculo tuo apud eum propter Romanos – … Sed quia ego nolui, ut in alterius manus pervenisset epistola, Candidus tantam illam perlegebat mecum. Et sic tradita est igni, ne aliquid scandali oriri potuisset propter neglegentiam cartulas meas servantis; zur Deutung dieser Stelle vgl. Kerner, Reinigungseid (wie Anm. 14), S. 138 Anm. 36, der mit Recht darauf verweist, daß der Wortlaut auch die umgekehrte Deutung zuläßt und Arn für die Sache der Römer eintrat, während der Papst ihm deshalb Schwierigkeiten bereitete; freilich hätte Alkuin dann Arn wohl für seine Haltung kritisiert; auch würde ep. Nr. 184 nicht zum übrigen Briefwechsel mit Arn passen, insbesondere nicht zu ep. Nr. 179 (dazu oben, S. 306f.), da doch beide Texte als ein Brief anzusehen sind. 84 Vgl. auch Mohr, Karl (wie Anm. 18), S. 45. 85 Vgl. Heldmann, Kaisertum (wie Anm. 7), S. 76. 86 Zimmermann, Papstabsetzungen (wie Anm. 8), S. 27 Anm. 4, unter Verweis auf weitere Literatur über diese beiden griechischen Klöster. 87 Annales Maximiniani a. 799, ed. Georg Waitz: in: MGH SS XIII, Hannover 1881, S. 22; Vita Leonis, c. 13 (wie Anm. 3), S. 5; zu Maurus vgl. Caspar, Herrschaft (wie Anm. 6), S. 112f.; Llewellyn, Rome (wie Anm. 6), S. 247; Noble, Republic (wie Anm. 70), S. 199f., 248f.

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bereits die Ankunft der königlichen Gesandten und nicht erst Leos Flucht die Lage in Rom grundlegend verändert haben. Nachdem Leo entkommen war, sollen die Aufrührer das Haus des Albinus zerstört haben, so berichtet jedenfalls der Papstbiograph und vergißt in diesem Zusammenhang nicht, eigens auf ihre Machtlosigkeit hinzuweisen.88 Doch um die Position des gestürzten Papstes war es kaum besser bestellt, denn die fränkischen Gesandten entschieden, alle weiteren Verhandlungen abzubrechen und Karl das Problem des abgesetzten Papstes zur Entscheidung vorzulegen. Sie verzichteten also darauf, Leo selbst gewaltsam wieder in sein Amt einzusetzen. Auch dieses Verhalten der Franken zeigt, daß im Frühjahr 799 mehr als ein ›einfaches‹ Attentat geschehen war. Schwerwiegende Vorwürfe existierten und wahrscheinlich auch ein zumindest eingeleitetes formales Absetzungsverfahren, das nicht einfach ignoriert werden konnte. In dieser Situation machte man sich daher gemeinsam auf den Weg nach Norden. Gemeinsam heißt: möglicherweise unter Beteiligung einer Abordnung der römischen Aufrührer. Zumindest wurden ihre Vorwürfe gegen Leo in Paderborn diskutiert.89 Eine fränkische Gesandtschaft nach Rom kann auch erklären, warum Karl im Frühsommer des Jahres 799 trotz des Attentates auf den Papst an seinem Zug nach Sachsen festhielt, wie der Verfasser der sogenannten Einhardsannalen einigermaßen verwundert feststellte.90 Aus einem sicher nach dem 10. Juli geschriebenen Brief Alkuins erfahren wir konkret von solchen Rom-Plänen des fränkischen Königs.91 Aber das Jahr war wohl bereits zu weit fortgeschritten, um 88 Vita Leonis, c. 15 (wie Anm 3), S. 5: Et dum non invenirent quid aliud agerent, domum Albini, fidelis beati Petri apostoli et eiusdem pontificis depraedantes destruxerunt. 89 Alk. ep., ed. Dümmler, Nr. 179 (wie Anm. 16), S. 297: … aemulatores eiusdem praedicti domni apostolici …; ausführlicher dazu unten, S. 312 mit Anm. 99; vgl. Caspar, Herrschaft (wie Anm. 6), S. 127; Beumann, Kaiserfrage (wie Anm. 13), S. 301, 309; Kerner, Reinigungseid (wie Anm. 14), S. 134 mit Anm. 19; vgl. aber auch Classen, Karl (wie Anm. 6), S. 47f. mit Anm. 158, der mit Recht eine Gleichsetzung der aemulatores mit einer Delegation oder gar den Häuptern der Aufständischen ausschließt, aber dann doch von Boten der Papstgegner spricht; der Vita Leonis, c. 17 (wie Anm. 3), S. 6, zufolge, hätten sich die Aufrührer lediglich bemüht, Vorwürfe gegen Leo zu erheben und sie Karl zu übermitteln, vgl. oben, Anm. 76. 90 Annales qui dicuntur Einhardi a. 799 (wie Anm. 9), S. 107: … ad se praecepit adduci, iter tamen suum … non omisit; vgl. Beumann, Kaiserfrage (wie Anm. 13), S. 301f., der auf praktischen Erwägungen hinweist, da ein einmal angesetzter Kriegszug nicht so ohne weiteres unterbleiben konnte; allgemein dazu auch Gerd Althoff, Vom Zwang zur Mobilität und ihren Problemen, in: Xenja von Ertzdorff und Dieter Neukirch (Hrsg.), Reisen und Reiseliteratur im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit (Chloe. Beihefte zum Daphnis 13), Amsterdam – Atlanta 1992, S. 91–111; freilich ändert diese Überlegung nichts daran, daß Karl den römischen Ereignissen zunächst keinen allzu großen Stellenwert beimaß, denn trotz allem lassen sich Pläne immer ändern und mit seinem gleichnamigen Sohn stand ein hervorragender Vertreter in Sachsen zur Verfügung, der auch 799 die fränkischen Aktionen dort leitete. 91 Alk. ep., ed. Dümmler, Nr. 177 (wie Anm. 16), S. 292ff.

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noch nach Süden aufbrechen zu können. Am 13. Juni stellte Karl noch eine Urkunde in Aachen aus und zog daher frühestens am darauffolgenden Tag nach Paderborn.92 Zu diesem Zeitpunkt war seine Gesandtschaft wohl noch gar nicht in Rom eingetroffen, und Karl hatte demnach auch keine zuverlässigeren Nachrichten aus der Ewigen Stadt als Ende Mai. Eine Änderung seiner schon feststehenden Planungen für dieses Jahr war daher kaum sinnvoll. Auf der Reichsversammlung in Lippeham wurde dann endgültig beschlossen, nach Sachsen zu ziehen.93 Karls Aufenthalt in Paderborn könnte so pragmatische Gründe gehabt haben. Es war noch nicht abzusehen, daß Leo ihn persönlich um Beistand bitten würde. Für die Meinungen am fränkischen Hof zu Leo bieten drei Briefe Alkuins das beste Zeugnis. Freilich muß dabei stets bedacht werden, daß der gelehrte Angelsachse ein entschiedener Parteigänger Leos war. Zudem weilte Alkuin nicht am Hofe und konnte seine Meinung also dem König nicht unmittelbar zu Gehör bringen. Vielmehr erhielt er seine Nachrichten von Leuten, die besser informiert waren, wie Karl selbst oder Arn von Salzburg, und verfaßte daraufhin Antworten. Nur sie sind uns erhalten. Dies vermittelt den Eindruck, Alkuin habe damals eine zentrale Rolle als Berater des Königs gespielt. Tatsächlich hielt er sich aber weit entfernt vom Hof auf und konnte nur indirekt Einfluß nehmen. Bisweilen beklagte er sich sogar darüber, daß der König ihn nicht immer ausreichend informierte.94 Immerhin suchte Karl wenigstens schriftlich seinen Rat, was angesichts des Themas nicht weiter verwundert. Was sollte der Frankenkönig in dieser Angelegenheit unternehmen? Wie sollte er sich verhalten? Ein aus Rom vertriebener Papst war schließlich kein alltägliches Problem! Die Entscheidung mußte unter sachlichen und formaljuristischen Gesichtspunkten wohl abgewogen werden, damit Karl seiner neugewonnenen Stellung als Schiedsrichter in innerrömischen Angelegenheiten auch gerecht werden konnte. In diesem Zusammenhang fragte der König eben auch Alkuin um Rat. Der gelehrte Abt bedankte sich überschwenglich für diesen königlichen Vertrauensbeweis und schloß ein ebenso pathetisches Lob für den Herrscher an. Dann sprach Alkuin in allgemein gehaltenen Worten von einem Urteilsspruch des Königs und mahnte zugleich zur Vorsicht: »Eurem Urteil allein ist dies alles vorbehalten, damit nach dem klugen Rat der Weisheit, die Euch Gott verliehen, gebessert werde, was zu bessern ist, und erhalten, was zu erhalten ist, und was die göttliche Huld gnädig gefügt hat, erhoben werde zum Lobe desjenigen, der seinen Knecht geheilt und aus der Verfolgung verabscheuenswerter Treulosigkeit 92 Regesta Imperii I (wie Anm. 10), Nr. 350. 93 Regesta Imperii I (wie Anm. 10), Nr. 350b. 94 Alk. ep., ed. Dümmler, Nr. 179 (wie Anm. 16), S. 297; Nr. 181, S. 299; vgl. Heldmann, Kaisertum (wie Anm. 7), S. 91f.

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befreit hat«.95 Der König solle, so Alkuin, sowohl bei den Wohltaten als auch bei den Strafen dem Willen Gottes folgen. Auch könne er nach Rom ziehen, sobald Gott ihn von den Sachsen befreit habe; dann könne er die Reiche verwalten, Gerechtigkeit walten lassen, die Kirchen erneuern …96 Alkuin macht die Lösung der in Rom entstandenen Probleme also zum Teil der allgemeinen Herrscheraufgaben. Was allerdings das Problem im Speziellen anging, da mahnte er den König zu größerer Besonnenheit und möglicherweise sogar zu einer freundlicheren Haltung gegenüber dem Papst. Nur darauf kann die Bemerkung gemünzt gewesen sein, das königliche Eingreifen auf das notwendige Maß zu beschränken. Warum sonst hätte Alkuin eigens darauf verwiesen, daß Gott selbst bereits für Leo Partei ergriffen hatte? Alkuin sprach sich damit klar und deutlich zugunsten Leos aus, unterstrich zugleich aber auch die juristische Zuständigkeit des Frankenkönigs. Damit schmeichelte er Karl, denn in Wahrheit vertrat Alkuin eine andere Auffassung. An Arn von Salzburg schrieb er : Die apostolische Autorität dürfe seiner Meinung nach von niemandem gerichtet werden.97 Er machte sich damit einen Rechtssatz der berüchtigten »Symmachianischen Fälschungen« aus dem Anfang des 6. Jahrhunderts zu eigen: Prima sedes a nemine iudicatur. Alkuins Auffassung über die Nicht-Judizierbarkeit des Papstes zeigt, daß die Beratungen am Königshof in eine entscheidende Phase getreten waren. Doch dachte man dort nicht etwa an eine Verurteilung der Aufrührer, wie dies Alkuin bereits in seiner Antwort auf Karls Schreiben angeregt hatte, in dem der König ihn nach seiner Meinung über die wunderbare Genesung Leos gefragt hatte.98 95 Alk. ep., ed. Dümmler, Nr. 177 (wie Anm. 16), S. 292: Quae omnia vestro tantummodo servantur iudicio; ut prudentissimo consilio sapientiae, vobis a Deo datae, temperata consideratione corrigantur quae corrigenda sunt, et conserventur quae conservanda sunt; et quae clementer divina gessit pietas extollantur in laudem nominis illius, qui salvum fecit servum suum et liberavit a persecutione exsecrande infidelitatis; Übersetzung in Anlehnung an Mühlbacher, Geschichte (wie Anm. 48), S. 197. 96 Alk. ep., ed. Dümmler, Nr. 177 (wie Anm. 16), S. 292f.: Vestra vero sapientissima animi prudentia … in benefaciendo sive in vindicando faciat et perficiat quod Deo placeat. … De illo itinere vero longo et laborioso Romam eundi … Et utinam, ut quandoque divina gratia vobis concedat libertatem a populo nefando Saxonum, iter agere, regna gubernare, iustitias facere, ecclesias renovare, populum corrigere, singulis personis ac dignitatibus iusta decernere, oppressos defendere, leges statuere, peregrinos consolari et omnibus ubique aequitatis et caelestis vitae viam ostendere… 97 Alk. ep., ed. Dümmler, Nr. 179 (wie Anm. 16), S. 297; vgl. unten, S. 313 mit Anm. 102. 98 Vgl. Alk. ep., ed. Dümmler, Nr. 178 (wie Anm. 16), S. 295: Quod vero nobis vestrae bonitatis in Christo probata voluntas de apostolici pastoris mirabili sanitate demandare curavit: decet enim omnem populum christianum in hac clementia divinae protectionis gaudere et laudare nomen sanctum Dei nostri, qui numquam deserit sperantes in se, qui impias conpescuit manus a pravo voluntatis effectu; volentes caecatis mentibus lumen suum extinguere et se et se ipsos impio consilio proprio privare capite. Quicquid vero de illis agendum sit, vestra cautissima considerare habet sapientia.

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Vielmehr standen dieser selbst und seine Stellung als Papst zur Debatte. Ankläger traten auf, die »mit heimtückischen Anträgen«, so Alkuin an Arn von Salzburg, »auf seine Absetzung hinzuarbeiten und ihm Ehebruch und Meineid aufzuladen versuchten, dann aber verlangten, daß er sich mit schwersten Eiden von diesen Verbrechen rein erweise, und insgeheim rieten, daß er ohne Eid die päpstliche Würde niederlege und ein beschauliches Leben in irgendeinem Kloster führe. Und dies darf keinesfalls geschehen«, so Alkuin weiter, »er darf sich weder zum Eid noch zur Abdankung verstehen«.99 Karl hatte also entschiedenen Gegnern Leos, eventuell einer Abordnung der Attentäter, ein Forum für ihre Vorwürfe geboten. Diese bestritten anscheinend auch eine Mißhandlung Leos und entzogen damit auch dessen stärkstem Argument – seiner wunderbaren Genesung – die Grundlage.100 Leos Position war daher äußerst prekär, und nur der Grundsatz von der Unantastbarkeit des päpstlichen Amtes konnte ihn noch retten. Denn selbst Alkuin kannte keine inhaltlichen Gründe, die für den Papst sprachen, und erinnerte daher an ein Wort Christi: »Stünde ich«, so schrieb er, »neben ihm, so würde ich für ihn antworten: ›Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf ihn‹ (Joh. 8,7)«.101 Offenbar waren also die Vorwürfe gegen Leo zumindest teilweise berechtigt. Daher beschränkte sich Alkuin auf formaljuristische Gründe, die gegen die Absetzung des Papstes sprachen: »Ich glaube, wenn ich mich recht erinnere, einst in den alten Kanones des hl. Silvester gelesen zu haben, daß ein Pontifex nur von 72 Zeugen angeklagt und vor Gericht gestellt werden kann und ihr Lebenswandel von einer Art sein müsse, daß er eine solche Autorität aufwiegen könne. Außerdem las ich in anderen Kanones, daß der apostolische Stuhl Richter sei, aber nicht gerichtet werden könne. … Welcher 99 Alk. ep., ed. Dümmler, Nr. 179 (wie Anm. 16), S. 297: Intellego quoque multos esse aemulatores eiusdem praedicti domni apostolici; deponere eum quaerentes subdola suggestione; crimina adulterii vel periurii illi inponere quaerentes; et tunc, sacramento gravissimi iurisiurandi ab his se purgaret criminibus, ordinantes; sic consilio secreto suadentes, ut deponeret sine iuramento pontificatum et quietam in quolibet monasterio ageret vitam. Quod omnino fieri non debet, nec ille ipse consentire se quolibet sacramento constringere aut sedem suam amittere; Übersetzung in Anlehnung an Mühlbacher, Geschichte (wie Anm. 48), S. 198f.; Caspar, Herrschaft (wie Anm. 6), S. 126f. 100 Die Stellungnahme der Verschwörer deutet Theodulf von Orl8ans an, doch verkehrt er ihr Argument ins Gegenteil: Carmina, ed. Ernst Dümmler (MGH Poetae latini 1), Berlin 1880, Nr. 32, v. 15ff., S. 523f.: Quem [Leonem] furibunda manus spoliavit lumine, lingua, / Vestibus et sacris, ordinibusque piis / Rediddit haec Petrus, quae Iudas abstulit ater, / Hic quia confessor, proditor ille dei est. / Seditiosa cohors Iudam est hac parte secuta, / Ille necem domini, praesulis ista volens. / Reddita namque negat, negat haec ablata fuisse, / Haec auferre tamen se voluisse canit. / Reddita sunt mirum est, mirum est auferre nequisse, / Est tamen in dubio, hinc mirer an inde magis; vgl. Beumann, Epos (wie Anm. 16), S. 8f. 101 Alk. ep., ed. Dümmler, Nr. 179 (wie Anm. 16), S. 297: Responderem pro eo, si ex latere eius stetissem: ›Qui sine peccato est vestrum, primus in illum lapidem mittat‹.

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Hirte in der Kirche Christi bleibt unangetastet, wenn derjenige von Übeltätern zu Fall gebracht wird, welcher das Haupt der Kirchen Christi ist?«102 Alkuin konnte also angesichts der schwerwiegenden Anklagen gegen Leo nur auf die päpstliche Immunität und Autorität verweisen und nicht etwa dessen Unschuld beteuern. Sicherlich brachte Arn von Salzburg an Alkuins Stelle dessen Argumente in die Diskussion am Hofe ein. Auch taktische Ratschläge erhielt der Erzbischof von Salzburg damals aus Tours, die ihrerseits den Ernst der Lage der päpstlichen Partei unterstreichen: »Sei vorsichtig, wenn du jemandem Deine Ratschläge anvertraust; sei klug bei Deinen Antworten, wahrhaft in Deinen Urteilen, und unterscheide aufmerksam, was sich einem jeden gegenüber schickt«.103 Der Angelsachse selbst war inzwischen ›kaltgestellt‹ und erreichte den König wohl nicht einmal mehr brieflich, denn er beklagte sich darüber, daß Karl ihn nicht konsultiere und er als »einsamer Sperling« in Tours sitze.104 Vielleicht ist es kein Zufall, daß der König in ihm den entschiedensten Fürsprecher des Papstes von den Verhandlungen über Leo fernhielt. Wo aber befand sich der Papst, als am fränkischen Hof über sein Schicksal verhandelt wurde? Bislang ging die Forschung nahezu einhellig davon aus, Leo habe sich bereits in Paderborn aufgehalten. Das ist nach allem, was wir über das damalige Zeremoniell wissen, sehr unwahrscheinlich. Karl konnte den geflohenen Bischof von Rom nicht zunächst mit allen Ehren empfangen und dann noch in der eben geschilderten Weise über sein weiteres Schicksal konferieren.105 Mit dem ehrenvollen Empfang des Papstes durch den König wäre zu diesem

102 Alk. ep., ed. Dümmler, Nr. 179 (wie Anm. 16), S. 297: Memini me legisse quondam, si rite recordor, in canonibus beati Silvestri non minus septuaginta duobus testibus pontificem accusandum esse et iudicio praesentari; et ut illorum talis vita esset, ut potuissent contra talem auctoritatem stare. Insuper et in aliis legebam canonibus apostolicam sedem iudicariam esse, non iudicandam. Haec omnia et multo plura his cogitavi per epistolas meas demandare illi propter eius catholicam caritatem. Quis potest immunis esse in ecclesia Christi pastor, si ille a malefactoribus deicitur, qui caput est ecclesiarum Christi?; Übersetzung in Anlehnung an Mühlbacher, Geschichte (wie Anm. 48), S. 199; Caspar, Herrschaft (wie Anm. 6), S. 127. 103 Alk. ep., ed. Dümmler, Nr. 179 (wie Anm. 16), S. 297: Cautus esto cui commendes consilia tua; providus in responsis, verax in iudiciis, sollicitus discernere, quid cui conveniat; Übersetzung nach Beumann, Kaiserfrage (wie Anm. 13), S. 310. 104 Alk. ep., ed. Dümmler, Nr. 179 (wie Anm. 16), S. 297; vgl. auch Nr. 181, S. 299. 105 Vgl. Gerd Althoff, Colloquium familiare – Colloquium secretum – Colloquium publicum. Beratung im politischen Leben des früheren Mittelalters, in: Frühmittelalterliche Studien 24, 1990, S. 145–167; Ders., Huld. Überlegungen zu einem Zentralbegriff der mittelalterlichen Herrschaftsordnung, in: Frühmittelalterliche Studien 25, 1991, S. 259–282, S. 275ff.; Ders., Demonstration und Inszenierung. Spielregeln der Kommunikation in mittelalterlicher Öffentlichkeit, in: Frühmittelalterliche Studien 27, 1993, S. 27–50; diese und weitere einschlägige Arbeiten sind zusammengefaßt in: Ders., Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, Darmstadt 1997.

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Zeitpunkt die Entscheidung gefallen.106 Daher erhebt sich die Frage, ob Karl Leo wirklich sofort nach dessen Eintreffen in Paderborn offiziell empfing oder ob er nicht solange abwartete, bis er und seine Ratgeber ihre Gespräche abgeschlossen hatten. Ein solches Vorgehen würde zu den neuesten Erkenntnissen über den demonstrativen Charakter öffentlicher Zusammentreffen im Mittelalter passen. Diese hatten, ähnlich wie heute, die Funktion, die Ergebnisse langwieriger geheimer Verhandlungen bekanntzumachen. Sollte Leo in der Paderborner Gegend eingetroffen sein, bevor ein Entschluß gefallen war, so war der offizielle Empfang sicherlich so lange unterblieben, bis sich Karl zu einem Votum durchgerungen hatte. Damit sind wir bei der Frage nach der Chronologie des Jahres 799 allgemein und speziell nach der Datierung der Alkuin-Briefe angelangt. Ende Mai drangen die ersten Nachrichten aus Rom nach Aachen. Damals hielt sich dort auch Alkuin auf und führte ein Streitgespräch mit Bischof Felix von Urgel über den Adoptianismus. Dann reiste er nach Tours zurück und machte am 26. Juni in der Nähe von St. Amand Station.107 Damals entstanden seine berühmten Ausführungen über die drei höchsten Personen auf Erden.108 In dem Brief ging Alkuin noch von einer Blendung Leos aus, was also auch dem Kenntnisstand Karls entsprach. Der Brief des Königs, in dem er Alkuin vom Kommen Leos unterrichtete und wegen des weiteren Vorgehens um Rat fragte, ist auf Anfang August zu datieren, da der Papst Anfang Juli befreit wurde und die Botschaft etwa vier Wochen benötigte,109 um von Rom nach Paderborn zu gelangen. Damals oder kurz darauf wird Karl Alkuin auch den wahren Gesundheitszustand Leos mitgeteilt haben.110 Dabei benötigten die Boten vermutlich zwei Wochen für die Reise nach Tours.111 Der an 106 Vgl. den umfassenden Überblick bei Hack, Empfangszeremoniell (wie Anm. 61); speziell zu 799: Ders., Das Zeremoniell des Papstempfangs 799 in Paderborn, in: 799 – Kunst und Kultur der Karolingerzeit (wie Anm. 5), S. 19–33. 107 Alk. ep., ed. Dümmler, Nr. 207 (wie Anm. 16), S. 343ff.; vgl. Heil, Alkuinstudien (wie Anm. 16), S. 23ff.; Bullough, Sachkommentar zu Brief Nr. 174, in: 799 – Kunst und Kultur der Karolingerzeit (wie Anm. 5), S. 42f. 108 Alk. ep., ed. Dümmler, Nr. 174 (wie Anm. 16), S. 287ff.; vgl. Beumann, Epos (wie Anm. 16), S. 11, der den Brief ebenfalls in den Juni 799 setzt. 109 Die Antwort Alkuins wurde sicher nach dem 10. Juli verfaßt: Alk. ep., ed. Dümmler, Nr. 177 (wie Anm. 16), S. 292f., da er seinen Aufenthalt in Quentovic erwähnte, wo er am 10. Juli einen Brief an Adalhard von Corbie schrieb (Nr. 176, S. 291), doch wissen wir nicht, wann Alkuin nach Tours zurückkehrte; auf der Rückreise traf er Boten Karls, die zu dessen Schwester Gisela unterwegs waren, doch über die römischen Ereignisse informierte ihn der König durch einen Brief; nach Bullough, Sachkommentar zu Brief Nr. 178, in: 799 – Kunst und Kultur der Karolingerzeit (wie Anm. 5), S. 43, enthielt das Schreiben Karls die Nachricht von der Ankunft Leos in Paderborn; es ist aber ausdrücklich von dessen Kommen die Rede: Qui etiam vestrae beatissimae prasentiae gaudet advenire (S. 292). 110 Alk. ep., ed. Dümmler, Nr. 178 (wie Anm. 16), S. 294ff. 111 Allerdings könnte Alkuin das Schreiben auch in Quentovic oder auf der Reise von dort nach Tours erhalten haben, denn er traf Boten des Königs, die zu dessen Schwester Gisela un-

Die Reise Papst Leos III. zu Karl dem Großen

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Arn von Salzburg gerichtete Brief über die Vorwürfe gegen den Papst112 ist wohl Ende August geschrieben. Damals hatte Karl den Papst zumindest offiziell wohl noch nicht in Paderborn empfangen. Wann traf dann aber Leo an den Paderquellen ein? Wir hatten angenommen, daß die königlichen legati erst Anfang Juli in Rom anlangten. Sie und der befreite Leo werden daher ihre Reise nach Norden spätestens um die Mitte dieses Monats angetreten haben. Wie lange waren sie wohl unterwegs? Drei nahezu zeitgenössische Papstbesuche im Frankenreich können zum Vergleich herangezogen werden: die Reisen Stephans II. Ende 753, Leos III. im Jahr 804 und Stephans IV. 816.113 Papst Stephan benötigte 753/54 mehr als sechs Wochen für die Strecke von Pavia nach Ponthion, die nur etwa halb so lang ist wie die zwischen Rom und Paderborn. Die Reisezeit könnte vielleicht um zwei Wochen reduziert werden, wenn man annimmt, daß Stephan eigentlich das Weihnachtsfest zusammen mit dem Frankenkönig begehen wollte und dann nur durch widrige Witterungsverhältnisse daran gehindert wurde und erst am 6. Januar in Ponthion eintraf. In etwa vergleichbar ist die Reise Leos III. im Jahr 804.114 Mitte November benachrichtigte er Karl von Mantua aus über seine Absicht, mit ihm Weihnachten zu feiern. Wahrscheinlich brach er fast gleichzeitig mit diesen Boten auf. Der Papst reiste über St. Maurice im Wallis, wo Karls gleichnamiger Sohn ihn empfing, nach Reims, wohin Karl von Aachen aus gekommen war. Gemeinsam zogen sie nach Quierzy nordwestlich von Reims weiter. Dort feierten sie, wie vom Papst gewünscht, gemeinsam das Weihnachtsfest.115 Man wird rund vier Wochen für diese Reise nach Reims ansetzen dürfen, bei der ja wegen der Absicht Leos ein gewisser Zeitdruck gegeben war. Die Reichsannalen sprechen dabei übrigens ebenfalls von einem raschen Marsch. Die Strecke von Mantua nach Quierzy ist etwa halb so lang wie die von Rom bzw. Spoleto nach Paderborn. Die Quellen betonen im Zusammenhang mit der Reise Stephans IV. zu Ludwig dem Frommen 816 wiederum das hohe Tempo, mit dem der Papst die Wegstrecke bewältigte: Noch vor dem 22. August verließ er die Ewige Stadt und erreichte vermutlich nach sechs Wochen am 2. Oktober Reims.116 Am folgenden Sonntag, dem dritten Tag nach seiner Ankunft, krönte er

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terwegs waren; ob sich dadurch zeitliche Verschiebungen ergeben, ist allerdings fraglich, denn seine Antwort verfasste Alkuin anscheinend in Tours, wo ihm auch eine Bibliothek zur Verfügung stand. Alk. ep., ed. Dümmler, Nr. 179 (wie Anm. 16), S. 296f. Vgl. Hack, Empfangszeremoniell (wie Anm. 61), S. 409ff.; sowie den Überblick von Pius Engelbert, Papstreisen ins Frankenreich, in: Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte 88, 1993, S. 77–113. Zum Hintergrund vgl. Classen, Karl (wie Anm. 6), S. 88f. Annales regni Francorum a. 804 (wie Anm. 9), S. 118. Annales regni Francorum a. 816 (wie Anm. 9), S. 144; Astronomus, Vita Hludowici imperatoris, in: Thegan, Die Taten Kaiser Ludwigs – Astronomus, Das Leben Kaiser Ludwigs, ed.

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Begründungen

Ludwig mit einer Krone, die er mitgebracht hatte und die als Konstantins-Krone galt. Kurz darauf, spätestens wohl Mitte Oktober, trat er die Rückreise an und kehrte über Ravenna nach Rom zurück, wo er noch im November ankam. Kehren wir zurück ins Jahr 799. Für die damalige Reise des Papstes kann man angesichts der vorgestellten Vergleichszahlen von acht Wochen ausgehen, zumal unsere wichtigsten Quellen auch noch Spoleto als Station nennen, was zumindest auf einige Tage Aufenthalt schließen läßt.117 Brach Leo noch Anfang Juli auf, könnte er Anfang September Paderborn erreicht haben, bei einem Aufbruch Mitte Juli entsprechend später. Bei dieser Überlegung ist noch nicht einmal berücksichtigt, daß eine im Vergleich mit 804 doppelt so lange Strecke möglicherweise mehr als doppelt soviel Zeit in Anspruch nehmen konnte, weil eine längere Reise mehr und ausgiebigere Pausen erforderte. Der Termin Mitte September ist, verglichen mit bisherigen Ansätzen, recht spät, und trotzdem müßte man Leos fränkischen Begleitern nicht einmal unterstellen, daß sie das Tempo der Reise den Bedürfnissen ihres Königs anpaßten, damit dieser bis zum Eintreffen des Papstes zu einem Entschluß gelangt sein konnte. Die Ankunft Leos Mitte September in Paderborn bedeutet zum einen, daß er sich nicht sehr lange in Sachsen aufgehalten haben kann, denn bereits Ende November war er wieder in Rom. Setzt man die durchschnittliche Reisezeit von ca. acht Wochen an, dann mußte er die Rückreise bereits Anfang Oktober antreten. Ein solch kurzer Aufenthalt des Papstes in Paderborn würde mit den Angaben der fränkischen Quellen übereinstimmen: Den Reichsannalen und den sogenannten Einhardsannalen zufolge überschritt Karl nach der Versammlung in Lippeham, die er nach dem 13. Juni abgehalten hatte,118 den Rhein und zog weiter nach Paderborn. Dort entsandte er seinen gleichnamigen Sohn mit einem Teil des Heeres an die Elbe, während er selbst, so die sogenannten EinhardsanErnst Tremp (MGH SS rer. Germ. 64), Hannover 1995, S. 279–554, c. 26, S. 364ff.; vgl. Bernhard von Simson, Jahrbücher des Fränkischen Reichs unter Ludwig dem Frommen, Bd. 1, Leipzig 1874, S. 68 Anm. 1; Michael Sierck, Festtag und Politik. Studien zur Tagewahl karolingischer Herrscher (Archiv für Kulturgeschichte, Beiheft 38), Köln – Weimar – Wien 1995, S. 71, 75; Hack, Empfangszeremoniell (wie Anm. 61), S. 423 mit Anm. 72. 117 Nach Zielinski, Reisegeschwindigkeit (wie Anm. 61), S. 45, müßte man dem Papst mit seinem gesamten Gefolge sogar rund 10 Wochen als Reisezeit zubilligen; vgl. auch Martina Reinke, Die Reisegeschwindigkeit des deutschen Königshofes nördlich der Alpen, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 123, 1987, S. 225–251, die für den Königshof eine durchschnittliche Geschwindigkeit von ca. 30 km am Tag errechnet, was unserer Annahme zugrunde liegt; nach Joseph Prinz, Vom mittelalterlichen Ablaßwesen in Westfalen. Ein Beitrag zur Geschichte der Volksfrömmigkeit, in: Westfälische Forschungen 23, 1971, S. 107–171, S. 116 Anm. 71, überquerte Leo die Alpen, fuhr dann vermutlich zu Schiff den Rhein hinunter bis nach Köln und nahm von da den Landweg nach Paderborn; die Schiffsreise war sicherlich zeitsparend, doch muß auf der anderen Seite die Überquerung der Alpen berücksichtigt werden. 118 Regesta Imperii I (wie Anm. 10), Nr. 350b.

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nalen ausdrücklich, der Ankunft des Papstes harrte.119 Setzt man die gängige Chronologie voraus, so übertrieb der Annalist maßlos, denn Leo wäre demnach ja bereits Anfang Juli nach Paderborn gekommen. Karls Geduld wäre also auf keine große Probe gestellt worden. Mehr noch: Falls der Papst den Rhein so lange wie möglich als Transportweg genutzt hat, wäre er Mitte Juni nicht mehr allzu weit entfernt von Lippeham gewesen, und dennoch wäre Karl einfach bis nach Paderborn unmittelbar vor ihm hergezogen – eine eigenartige Vorstellung. Wenn man nicht an ihr festhalten will, muß man ein späteres Eintreffen Leos in Paderborn und damit auch einen kürzeren Aufenthalt in Betracht ziehen. Die Berichte der erzählenden Quellen lassen für unsere Interpretation jedenfalls genügend Spielraum. Die Reichsannalen schildern den Empfang und die Verabschiedung des Papstes durch den König sehr knapp und fahren mit der Bemerkung fort, Leo sei statim, sofort, nach Rom zurückgekehrt.120 Man könnte versucht sein, dieses statim mit der Dauer von Leos Aufenthalt an den Paderquellen in Zusammenhang zu bringen und diesen recht kurz anzusetzen. Stützen könnte man diese Auffassung auch auf die sogenannten Einhardsannalen, die lediglich von dies aliquot, wenigen Tagen, sprechen, die sich der Papst in Paderborn aufgehalten habe.121 Die Vita Leonis ist noch ungenauer und beschränkt sich auf die Angabe aliquantum tempus, etwas Zeit.122 Die Forschung geht dagegen von einem erheblich längeren Besuch Leos an den Paderquellen aus.123 Freilich wurde die Dauer des Paderborner Treffens noch nie intensiver diskutiert und insbesondere die Frage, ob Leo und Karl überhaupt ein Interesse an einem zeitlich ausgedehnten Treffen an den Paderquellen gehabt haben konnten. Eine baldige Rückkehr dürfte Leo ein Anliegen gewesen sein, denn je länger seine Gegner Rom beherrschten, desto größer war die Gefahr, daß sie ihre Stellung weiter festigten. Karl war in diesem Punkt nur scheinbar freier, denn wenn er sich dazu entschied, den Papst anzuerkennen und nach Rom zurückzuführen, lag es auch in seinem Interesse, Leo sobald als möglich dorthin zu geleiten. Zu einer späten Ankunft Leos paßt zudem ein Brief Alkuins an Adalhard von Corbie nach Paderborn, der wegen einer Bemerkung über den September in diesen Monat zu datieren ist. Damals nahm Alkuin ausdrücklich Bezug auf die Anwesenheit des Papstes an den Paderquellen. Die gesamte Wortwahl dieses 119 Annales qui dicuntur Einhardi a. 799 (wie Anm. 9), S. 107: Habito itaque generali conventu super Rhenum in loco, qui Lippeham voactur, ibique eodem amne transmisso cum toto exercitu suo ad Padrabrunnon accessit ibique in castris considens pontificis ad se properantis praestolatur adventum. 120 Annales regni Francorum a. 799 (wie Anm. 9), S. 106. 121 Annales qui dicuntur Einhardi a. 799 (wie Anm. 9), S. 107: … mansitque apud eum dies aliquot. 122 Vita Leonis c. 17 (wie Anm. 3), S. 6. 123 Vgl. bereits Abel – Simson, Jahrbücher (wie Anm. 10), S. 186 Anm. 1.

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Begründungen

Briefes zeigt außerdem, daß Alkuin bereits über Karls Votum zugunsten des Papstes informiert war.124 Aber war es überhaupt üblich und sinnvoll, im Anschluß an eine achtwöchige strapaziöse Reise nach nur zwei (allenfalls vier) Wochen schon wieder aufzubrechen? Ein Vergleich mit den anderen frühkarolingischen Papstreisen ins Frankenreich legt eine positive Antwort nahe. So hielt Leo sich 804 nur insgesamt acht Tage bei Karl auf125 und Stephan IV. bei Ludwig dem Frommen allenfalls zwei Wochen. Lediglich Stephan II. blieb insgesamt länger als ein halbes Jahr im Frankenreich, doch hing dies mit der schwierigen politischen Lage zusammen: Er mußte seinen Gastgeber Pippin für den Krieg gegen die Langobarden gewinnen, der wiederum mußte Widerstände gegen diese Politik im eigenen Lager überwinden, bevor man gemeinsam die Alpen überschreiten konnte.126 Was sollte nach der Entscheidung zugunsten Leos geschehen? Würde Karl den Papst nach Rom begleiten? Noch im September richtete Alkuin an Adalhard die Frage, ob Karl noch immer über die Alpen gehen wolle.127 Warum hat der König diesen Plan fallen lassen? Mit Jörg Jarnut ist der Tod des bayerischen Präfekten Gerold im September 799 in Betracht zu ziehen, der im Südosten des Reiches eine veränderte Situation schuf und daher das Verweilen des Herrschers nördlich der Alpen notwendig machte.128 Dies dürfte Leos Interessen entgegengekommen sein: Die Delegation fränkischer Bischöfe, die ihn schließlich begleitete, konnte Leo jedenfalls leichter in seinem Sinne beeinflussen als den Frankenkönig selbst. Diesen hätte er kaum daran hindern können, als Sieger in Rom einzuziehen. So aber kam ihm selbst diese Rolle zu, und nicht zufällig legt die Vita Leonis großen Wert auf seinen triumphalen Einzug in Rom am 29. November, dem Vorabend von St. Andreas.129 Alle Römer, der gesamte Klerus, die führenden Männer der Stadt und das gesamte römische Volk, die Nonnen und Diakonissen, die vornehmen und einfacheren Frauen sowie die fremdländischen Scholen hießen, so die Vita, ihren Hirten mit geistlichen Liedern willkommen. Sie brachten ihn nach St. Peter, wo er feierlich die Messe las und alle das Abendmahl miteinander teilten. Es ist klar, daß ein fränkischer König als eigentlicher Machthaber in dieser Kulisse nur gestört hätte. Was folgt aus unseren bisherigen Überlegungen für die Paderborner Verhandlungen? Beumann schloß bereits aus der Tatsache, daß »Karl von den 124 125 126 127

Alk. ep., ed. Dümmler, Nr. 181 (wie Anm. 16), S. 298ff. Annales regni Francorum a. 804 (wie Anm. 9), S. 118. Vgl. Rudolf Schieffer, Die Karolinger, 2. Aufl. Stuttgart – Berlin – Köln 1997, S. 61ff. Alk. ep., ed. Dümmler, Nr. 181 (wie Anm. 16), S. 299; vgl. Caspar, Herrschaft (wie Anm. 6), S. 128f. 128 Vgl. Jarnut, 799 und die Folgen (wie Anm. 49). 129 Vita Leonis, c. 19 (wie Anm. 3), S. 6; zur Wahl dieses Tages vgl. Sierck, Festtag (wie Anm. 116), S. 402.

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streitenden Parteien Roms – noch dazu in einer Angelegenheit, die später als crimen laesae maiestatis definiert werden sollte – als Richter angerufen wurde«, auf die Verhandlung der Kaiserfrage.130 Doch die Parallele zum Vorgehen gegen Konstantin II. zeigt, daß der Frankenkönig per se ein gewichtiges Wort bei der Absetzung eines Papstes mitzusprechen hatte, vor allem dann, wenn er den Nachfolger des hl. Petrus bereits anerkannt hatte. Die Alkuin-Korrespondenz läßt erkennen, daß im Jahr 799 tatsächlich intensiv verhandelt wurde, jedoch nicht zwischen König und Papst über die Kaiserfrage, sondern zwischen Vertretern verschiedener Meinungen am fränkischen Hof über das weitere Schicksal des Papstes. Wenn damals tatsächlich bereits über die Kaisererhebung gesprochen wurde, dann in dem Sinne, daß Karl darauf drängte, während Leo abwehrte und lieber allein nach Rom zurückkehren wollte. Möglicherweise ist es kein Zufall, daß die fränkische Delegation ihn nicht völlig rehabilitierte und seine Gegner lediglich ins Frankenreich abschob, wobei unklar ist, »ob es sich um eine Untersuchungshaft oder um eine Art Schutzhaft handelte«.131 Die letzte Entscheidung über den Nachfolger des hl. Petrus behielt sich Karl der Große also selbst vor. Als er sie zu treffen gewillt war, zog er Ende November 800 noch vor seiner Krönung wie ein Kaiser in Rom ein.

Anhang Zur Diskussion gestellte Chronologie des Jahres 799 25. April

Attentat auf Leo III. Absetzungsverfahren in St. Stephan und Silvester und Inhaftierung Leos in diesem Kloster Mitte Mai – Mitte Aachener Synode zum Adoptianismus mit dem Streitgespräch Juni zwischen Alkuin und Bischof Felix von Urgel Ende Mai Karl erfährt in Aachen von dem Attentat, möglicherweise durch Boten der römischen Aufrührer bzw. der Parteigänger Leos Karl schickt Gesandte nach Rom, unter ihnen Abt Wirund von Stablo und Erzbischof Arn von Salzburg, die sich mit Herzog Winigis von Spoleto treffen und nach Rom weiterziehen nach dem Karl verläßt Aachen, Reichsversammlung in Lippeham, Aufbruch nach 13. Juni Paderborn Anfang Juli Eintreffen der fränkischen Gesandtschaft in Rom (Leo wird nach St. Erasmus verlegt) 130 Beumann, Kaiserfrage (wie Anm. 13), S. 307. 131 Peter Moraw, Kaiser gegen Papst – Papst gegen Kaiser. Prozesse und Quasiprozesse als Mittel der theologisch-politisch-rechtlichen Auseinandersetzung von 800 bis 1350, in: Uwe Schultz (Hrsg.), Große Prozesse. Recht und Gerechtigkeit in der Geschichte, 2. Aufl. München 1997, S. 55–64, S. 57.

320 kurz darauf Mitte Juli Mitte September Anfang Oktober 29. November

Begründungen

Befreiung Leos aus der Haft; er wird von Winigis von Spoleto und den fränkischen Gesandten nach Spoleto gebracht Aufbruch Leos nach Norden Ankunft Leos in Paderborn Abreise Leos nach Süden Einzug Leos in Rom

Vorschlag zur Datierung der Alkuin-Briefe (ed. Dümmler): Mitte/Ende Juni Nach dem 10. Juli/ Anf. Aug. Ende August

Ende August Mitte/Ende September

Alkuins Brief über die »Weltlage« (Nr. 174) Alkuin mahnt das Urteil Karls an und schreibt u. a. über die Pläne für einen Rom-Zug (Nr. 177) Alkuins Antwort auf ein Schreiben Arns von Salzburg (nach W. Heil: Nr. 179 + 184 + 208), in dem er 1) über die Anklagen gegen Leo berichtet und sich deutlich für die Nicht-Judizierbarkeit des Papstes ausspricht (Nr. 179), 2) sich darüber beklagt, daß er als »einsamer Sperling« in Tours sitze (Nr. 179) und 3) sich auf einen weiteren Brief bezieht, den Arn im Frühsommer 799 in Rom verfaßt hat, in dem er Alkuin einerseits über die Vorwürfe gegen Leo und andererseits über Anfeindungen von Seiten der Römer (möglicherweise auch des Papstes) berichtet (Nr. 184) Alkuin drängt auf ein Vorgehen gegen die Verschwörer und entschuldigt sich mit der August-Hitze für seine späte Antwort (Nr. 178) Alkuin an Adalhard von Corbie: Leo befindet sich in Paderborn (Nr. 181)

Der Name ›Welf‹ zwischen Akzeptanz und Apologie. Überlegungen zur frühen welfischen Hausüberlieferung

Der Geschichtsschreiber Otto von Freising interpretiert die Wahl seines Neffen Friedrich Barbarossa zum römisch-deutschen König im Jahr 1152 als einen Kompromiß zwischen den im Reich seit langem dominierenden Familien der ›Heinriche von Waiblingen‹ und der ›Welfen von Altdorf‹1. Von der Sache her spricht Otto einen Wendepunkt in der politischen Geschichte des 12. Jahrhunderts an: die sich anbahnende Zusammenarbeit zwischen Staufern und Welfen2, zwischen Friedrich Barbarossa und Heinrich dem Löwen, die für rund zwanzig Jahre die Politik im Reich bestimmen sollte. Ottos Wortwahl gilt zudem als Schlüsselstelle für die Adelsgeschichte des hohen Mittelalters, weil sie den Übergang von der Einnamigkeit zur Zweinamigkeit zu reflektieren scheint3. Im frühen Mittelalter war nur ein Name verbreitet, folglich wurden FamilienbeErstdruck in: Welf IV. – Schlüsselfigur einer Wendezeit. Regionale und europäische Perspektiven, hg. von Dieter R. Bauer – Matthias Becher (Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte. Beiheft B 24), München 2004, S. 156–198. 1 Georg Waitz – Bernhard von Simson (Bearb.), Otto von Freising und Rahewin, Gesta Friderici I. imperatoris (Monumenta Germaniae historica [künftig: MGH] Scriptores rerum Germanicarum [künftig: SS rer Germ] [46]), 31912, hier II/2, 103. 2 Zur Kritik an einem undifferenzierten Gebrauch dieser Begriffe vgl. Werner Hechberger, Staufer und Welfen 1125–1190. Zur Verwendung von Theorien in der Geschichtswissenschaft (Passauer Historische Forschungen 10), 1996. 3 Hierzu und zum Folgenden besonders Karl Schmid, Zur Problematik von Familie, Sippe und Geschlecht, Haus und Dynastie beim mittelalterlichen Adel. Vorfragen zum Thema »Adel und Herrschaft« im Mittelalter, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins (künftig: ZGO) 105 (1957) 1–62; Ders., Über die Struktur des Adels im früheren Mittelalter, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 19 (1959) 1–23; Ders., Über das Verhältnis von Person und Gemeinschaft im früheren Mittelalter, in: Frühmittelalterliche Studien (künftig: FMSt) 1 (1967) 225–249; Ders., Heirat, Familienfolge, Geschlechterbewußtsein, in: Il matrimonio nella societ/ altomedievale (Settimane di studio del centro italiano di studi sull’alto medioevo 24), 1977, 103–137; Nachdruck dieser Beiträge in: Ders., Gebetsgedenken und adliges Selbstverständnis im Mittelalter. Ausgewählte Beiträge, 1983, 183–244, 245–267, 363–387 und 388–423; Ders., Geblüt, Herrschaft, Geschlechterbewußtsein. Grundfragen zum Verständnis des Adels im Mittelalter, hg. von Dieter Mertens – Thomas Zotz (Vorträge und Forschungen [künftig: VuF] 44) 1998; Karl Ferdinand Werner, Naissance de la noblesse. L’essor des 8lites politiques en Europe, 1998.

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Begründungen

zeichnungen wie Merowinger, Karolinger oder Ottonen von einem Personennamen abgeleitet4. Im 11. und 12. Jahrhundert kamen zusätzlich Herkunftsbezeichnungen auf, zunächst für Einzelpersonen, bald für ganze Familien oder Familienzweige5. Damit ging eine grundsätzliche Veränderung besonders im Adel einher : Im frühen Mittelalter waren die Adelsverbände offen strukturiert, da sie in gleichem Maße durch agnatische und kognatische Verbindungen geprägt waren. Die Benennung nach einem Herkunftsort, später zumeist der Stammburg, signalisiert den Übergang zum adligen Haus, das allein agnatisch strukturiert war. Auch das adlige Selbstverständnis wandelte sich – ein Vorgang, den Karl Schmid und Otto Gerhard Oexle gerade auch am Beispiel der Welfen beschrieben haben6. Otto von Freising wandte beide Benennungsarten auf die Welfen an. Dies entspricht ganz unserem Bild von der Geschichte dieser Familie7. Das älteste bekannte Mitglied war ein Graf Welf, dessen Tochter Judith 819 Kaiser Ludwig den Frommen heiratete. Dieser Welf wird gemeinhin als Spitzenahn angesehen, nach dem das Geschlecht benannt worden sei. In der zweiten Hälfte des 11. und im 12. Jahrhundert kommt dann auch die Bezeichnung nach dem Herrschaftsmittelpunkt auf, d. h. nach Altdorf bzw. Ravensburg8. Aber ganz untypisch hat der Name ›Welfen‹ dennoch überlebt und bezeichnet ja bis heute diese Familie. So drängt sich die Frage auf, ob die Welfen wirklich dem gerade skizzierten Modell entsprachen oder ob die Verhältnisse nicht komplizierter waren. Peter Seiler hat vor wenigen Jahren heftige Kritik an der bisherigen Interpretation des Welfennamens sowohl als Eigenbenennung als auch in der Bedeutung als »Löwe« geäußert9. Er hält die Bezeichnung Welfen für eine Fremdbezeichnung, die von Otto von Freising konstruiert und vor allem in staufischen Kreisen rezipiert worden sei, während das Geschlecht bzw. dessen einzelne Mitglieder in Wahrheit 4 Ihre Anwendung gilt als berechtigt, gleich ob sie nun zeitgenössisch belegt sind oder nicht. 5 Vgl. dazu auch Gerhard Streich, Burg und Kirche während des deutschen Mittelalters. Untersuchungen zur Sakraltopographie von Pfalzen, Burgen und Herrensitzen (VuF. Sonderbd. 19/2), 1984, 461ff., mit einem kritischen Überblick über Quellen und Literatur. 6 Karl Schmid, Welfisches Selbstverständnis, in: Josef Fleckenstein – Karl Schmid (Hg.), Adel und Kirche. Gerd Tellenbach zum 65. Geburtstag dargebracht von Freunden und Schülern, 1968, 389–416 (Nachdruck in: Ders., Gebetsgedenken [wie Anm. 3] 424–453); Otto Gerhard Oexle, Adliges Selbstverständnis und seine Verknüpfung mit dem liturgischen Gedenken – das Beispiel der Welfen, in: ZGO 134 (1986) 47–75; zu den Staufern Karl Schmid, De regia stirpe Waiblingensium. Bemerkungen zum Selbstverständnis der Staufer, in: ZGO 124 (1976) 63–73 (Nachdruck in: Ders., Gebetsgedenken [wie Anm. 3] 454–466). 7 Grundlegend, auch für die hier angesprochene Problematik, jetzt Bernd Schneidmüller, Die Welfen. Herrschaft und Erinnerung (819–1252), 2000. 8 Die einschlägigen Belege bei Peter Seiler, Welfischer oder königlicher Furor? Zur Interpretation des Braunschweiger Burglöwen, in: Xenjavon Ertzdorff (Hg.), Die Romane von dem Ritter mit dem Löwen (Chloe. Beihefte zum Daphnis 20), 1994, 135–183, hier 152 Anm. 43. 9 Seiler, Furor (wie Anm. 8) 140ff.

Der Name ›Welf‹ zwischen Akzeptanz und Apologie

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nach Altdorf geheißen hätten, was in den Quellen tatsächlich häufiger belegt ist als alleinige Verwendung des pluralisierten Taufnamens10. Seilers Deutung des Namens als Fremdbezeichnung würde auch die Annahme widerlegen, im 12. Jahrhundert sei der Name ›Welf‹ als Löwe interpretiert worden, habe dieses Tier also zur positiven Versinnbildlichung des Welfennamens gedient11. Daher soll noch einmal die Deutung und Relevanz des Namens ›Welf‹ in den Blick genommen werden. In die Tradition der Löwenbedeutung von ›Welf‹ wird auch der Bronzelöwe eingeordnet, den Heinrich der Löwe in den 60er Jahren des 12. Jahrhunderts in Braunschweig errichten ließ12. Diesem war wohl bereits von Anfang an eine Tafel beigegeben, auf der stand, warum Heinrich das Monument errichtet hatte: Ad sempiternam et Originis et Nominis sui Memoriam – »zum immerwährenden Gedenken sowohl seines Geschlechts als auch seines Namens«. Zwar ist diese Inschrift nur in einer frühneuzeitlichen Fassung erhalten, doch berichtet bereits die Braunschweigische Reimchronik des 13. Jahrhunderts in ähnlichen Worten über die Errichtung des Monuments13. Heinrichs Name und Geschlecht verbinden sich über seinen Beinamen Leo, der durchgehend mit »der Löwe« übersetzt wird, der aber nach Karl Schmid und Otto Gerhard Oexle nicht nur sein persönlicher Beiname gewesen ist, sondern auch ganz allgemein für die Zuge10 Seiler, Furor (wie Anm. 8). 11 Vgl. etwa Schmid, Selbstverständnis (wie Anm. 6) 410 (Nachdruck 447); Otto Gerhard Oexle, Die Memoria Heinrichs des Löwen, in: Dieter Geuenich – Otto Gerhard Oexle (Hg.), Memoria in der Gesellschaft des Mittelalters (Veröffentlichungen des Max-Planck Instituts für Geschichte [künftig: VMPIG] 111), 1994, 128–177, hier 135ff.; Ders., Fama und Memoria Heinrichs des Löwen. Kunst im Kontext der Sozialgeschichte. Mit einem Ausblick auf die Gegenwart, in: Joachim Ehlers – Dietrich Kötzsche (Hg.), Der Welfenschatz und sein Umkreis, 1998, 1–25, hier 15ff.; eine kritische Würdigung der bisherigen Forschung bei Seiler, Furor (wie Anm. 8) 161ff. 12 Zur Datierung vgl. Klaus Nass, Zur Cronica Saxonum und verwandten Braunschweiger Werken, in: Deutsches Archiv (künftig: DA) 49 (1993) 557–582, hier 566ff. 13 Ludwig Weiland (Bearb.), Braunschweigische Reimchronik, in: MGH Deutsche Chroniken 2, 1877, c. 31, 496 v. 2895ff.: und heyz gezen von metalle / eynen lewen von richer kost, / dhen her sezete uf eynen post / von steyne vil wol gehowen, / so men noch mach scowen, / in dher burch zo Bruneswich. / daz thete der vurste Heynrich / dhusent jar, han ich gehort, / hundert sex und sexich von gotes bort, / nach sines namen scine und ort; zur Sache vgl. Oexle, Memoria (wie Anm. 11) 145f.; anders Dieter von der Nahmer, Heinrich der Löwe – Die Inschrift auf dem Löwenstein und die geschichtliche Überlieferung der Welfenfamilie im 12. Jahrhundert, in: Martin Gosebruch (Hg.), Der Braunschweiger Burglöwe. Bericht über ein wissenschaftliches Symposium in Braunschweig vom 12.10. bis 15. 10. 1983, 1985, 201–219, hier 202; zur Quelle zuletzt Hans Patze – Karl-Heinz Ahrens, Die Begründung des Herzogtums Braunschweig im Jahre 1235 und die »Braunschweigische Reimchronik«, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte (künftig: BlldtLG) 122 (1986) 67–89; Bernd Schneidmüller, Landesherrschaft, welfische Identität und sächsische Geschichte, in: Peter Moraw (Hg.), Regionale Identität und soziale Gruppen im deutschen Mittelalter (Zeitschrift für Historische Forschung. Beiheft 14), 1992, 65–101, hier 85f.

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Begründungen

hörigkeit zur Welfenfamilie stand14. Oexle wies jüngst unter Bezugnahme auf eine Arbeit von Seiler über das Braunschweiger Standbild auf ein mögliches Vorbild dafür hin15. Auf der Burg Este, der Residenz der gleichnamigen italienischen Adelsfamilie, befand sich nämlich im 12. Jahrhundert ebenfalls ein Löwenstandbild. Die Welfen dieser Zeit führten sich sämtlich auf Welf IV. zurück, den Sohn des Markgrafen Albert Azzo II. aus seiner ersten Ehe mit der Welfin Kuniza16. Das Haus Este geht dagegen auf Albert Azzos Nachfahren aus seiner zweiten Ehe zurück. Albert Azzo II. starb 1097 und zwischen den beiden Linien kam es zu langwierigen Erbauseinandersetzungen, die 1154 durch einen in der Nähe von Verona geschlossenen Vertrag zwischen Heinrich dem Löwen und seinen italienischen Vettern beigelegt wurde17. Damals könnte Heinrich der Löwe das Löwenmonument sogar selbst gesehen haben. Möglicherweise hat also das Löwenstandbild der Burg Este dem Braunschweiger Burglöwen als Vorbild gedient. In jedem Fall wird dieser nach Seiler aus seiner Vereinzelung gelöst und dies nach Otto Gerhard Oexle »in einem

14 Schmid, Welfisches Selbstverständnis (wie Anm. 6) 410 (Nachdruck 447); Oexle, Memoria (wie Anm. 11) 145; vgl. auch Karl Jordan, 800 Jahre Braunschweiger Burglöwe. Gedanken zur Städtepolitik Heinrich des Löwen, in: Ders. – Martin Gosebruch (Hg.), 800 Jahre Braunschweiger Burglöwe 1166–1966 (Braunschweiger Werkstücke 38), 1967, 13–32, hier 18f.; Karl Jordan, Heinrich der Löwe. Persönlichkeit und Leistung, in: Hansgeorg Loebel (Hg.), Das Evangeliar Heinrichs des Löwen, 1984, 11–29, hier 19; Gosbert Schüssler, Der ›leo rugiens‹ von Braunschweig, in: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst 42 (1991) 39–68, hier 47ff.; zur Löwensymbolik allgemein vgl. Gerd Althoff, Löwen als Begleitung und Bezeichnung des Herrschers im Mittelalter, in: von Ertzdorff (Hg.), Die Romane (wie Anm. 8) 119–134. 15 Oexle, Memoria (wie Anm. 11) 135f.; Ders., Fama und Memoria (wie Anm. 11) 16; unter Verweis auf Peter Seiler, Der Braunschweiger Löwe – »Epochale Innovation« oder »Einzigartiges Kunstwerk«?, in: Herbert Beck – Kerstin Hengevoss-Dürkop (Hg.), Studien zur Geschichte der europäischen Skulptur im 12./13. Jahrhundert Bd. 1, 1994, 533–564, hier 547f.; vgl. bereits Franz Oelmann, Über alte Bonner Rechtsdenkmäler, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 15/16 (1950/51) 158–183; Werner Haftmann, Das italienische Säulenmonument (Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters und der Renaissance 55), 1939, 127ff. 16 Vgl. Margherita Giuliana Bertolini, Albert Azzo, in: Dizionario Biografico degli Italiani Bd. 1, 1960, 753–758; Theo Kölzer, Albert Azzo, in: Lexikon des Mittelalters (künftig: LMA), 9 Bde., 1980–1999, hier Bd. 1, 1980, 283f. 17 Karl Jordan (Bearb.), Die Urkunden Heinrich des Löwen, Herzogs von Sachsen und Bayern (MGH Laienfürsten- und Dynastenurkunden 1), Nr. 30 (27. Oktober 1154), 43f.; vgl. Henry Simonsfeld, Jahrbücher des deutschen Reiches unter Friedrich I. Bd. 1, 1908, 246; Karin Feldmann, Herzog Welf VI. und sein Sohn. Das Ende des süddeutschen Welfenhauses. Mit Regesten (Diss. phil. Tübingen 1971) 47; Jordan, Heinrich der Löwe (wie Anm. 14) 54; Hansmartin Schwarzmaier, Dominus totius domus comitisse Mathildis. Die Welfen in Italien im 12. Jahrhundert, in: Karl Rudolf Schnith – Roland Pauler (Hg.), Festschrift für Eduard Hlawitschka zum 65. Geburtstag (Münchner Historische Studien. Abteilung Mittelalterliche Geschichte 5), 1993, 283–306, hier 295.

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höchst relevanten, spezifisch ›welfischen‹ Kontext.«18 Solche steinernen Löwen waren in Italien als Gerichtswahrzeichen keine Seltenheit, so daß Herzog Heinrich sich während seiner diversen Italienaufenthalte durchaus noch in anderen Städten für seinen Braunschweiger Löwen inspirieren lassen konnte19. Freilich belegt dies nicht, daß der Name ›Welf‹ schon im 11. und beginnenden 12. Jahrhundert mit ›Löwe‹ gleichgesetzt wurde. So zeigen frühere Welfenmünzen aus Bayern eine Anzahl von Tiergestalten, die man durchaus als einen Wurf junger Hunde oder Wölfe deuten kann – also als Welpen oder Welfen20. Die Interpretation von ›Welf‹ als ›Löwe‹ gehört daher wohl tatsächlich erst dem 12. Jahrhundert an und damit einer Zeit, in der unter anderem auf Grund eines engeren Kontaktes mit dem Orient eine aufkommende »Begeisterung für den Löwen« zu konstatieren ist21. Als Heinrich der Löwe die italienischen Monumente sah, hatte er also schon ein positives Bild des Löwen im Kopf. Bei der Diskussion des Namens ›Welf‹ ist ein entscheidender Punkt zu bedenken: Die Bedeutung von ›Welf‹ war jedermann bekannt und ist es auch heute noch, zumindest wenn man weiß, daß ›Welf, Welfe‹ die erst im 18. Jahrhundert verschwundene oberdeutsche Entsprechung von niederdeutsch ›Welpe‹ ist. 18 Oexle, Memoria (wie Anm. 11) 136; Ders., Fama und Memoria (wie Anm. 11) 16. 19 Vgl. etwa Oelmann, Rechtsdenkmäler (wie Anm. 15) 174ff. 20 Herbert Meyer, Bürgerfreiheit und Herrschergewalt unter Heinrich dem Löwen, in: Historische Zeitschrift (künftig: HZ) 147 (1933) 277–319, hier 278 Anm. 1, unter Verweis auf Joseph Eucharius Obermayr, Historische Nachricht von Bayerischen Münzen, 1763, Tafel 6, Nr. 87–89 (nach 108, die Münzen zeigen die Investitur eines Bischofs durch einen Laien, der nicht als Herrscher – etwa durch eine Krone o. ä. – kenntlich gemacht ist, auf der Rückseite sind vier in eine Richtung springende Raubtiere – Löwen oder Hunde, nicht unbedingt Jungtiere – zu erkennen, in der Mitte eine Rosette, von Obermayr als Löwen interpretiert und daher Welf V. zugeordnet); Tafel 7, Nr. 93 (nach 148, der Herzog als aufrecht stehender Krieger, auf der Rückseite um ein Rad herum sechs Raubtiere, je zwei gegeneinander, die als Löwen oder Hunde, aber auch als Jungtiere interpretiert werden können, Obermayrs Auslegung, s. o.); Tafel 8, Nr. 114–116 (nach 196, der Kaiser mit dem Schwert, dem Lilienzepter sowie ein Bischof, auf der Rückseite fünf in eine Richtung springende Raubtiere, um einen Greifvogel, wohl einen Adler, von Obermayr, 202f., als Indiz für den Ausgleich zwischen Heinrich IV. und Welf IV. interpretiert (jüngst dazu Hubert Emmerig, Der Regensburger Pfennig. Die Münzprägung in Regensburg vom 12. Jahrhundert bis 1409 [Berliner Numismatische Forschungen Neue Folge 3], 1993, 70); P. J. Meier, Die Münz- und Städtepolitik Heinrichs des Löwen, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 2 (1925) 125–144, hier 126 mit Abb. 1 und 2 (zwei Tierköpfe). 21 Georg Scheibelreiter, Adler und Löwe als heraldische Symbole und im Naturverständnis ´ ski (Hg.), L’aigle et le lion dans le blason m8di8val et des Mittelalters, in: Stefan K. Kuczyn moderne. Actes du IXe colloque international d’heraldique. Caracovie, 4–8 septembre 1995, 1997, 51–68, hier 53; speziell zu den Welfen Ders., Anthroponymie, Symbolik und Selbstverständnis, in: Reinhard Härtel (Hg.), Personennamen und Identität. Namengebung und Namengebrauch als Anzeiger individueller Bestimmung und gruppenbezogener Zuordnung (Grazer Grundwissenschaftliche Forschungen 3 = Schriftenreihe der Akademie Friesach 2), 1997, 67–84, hier 81f.; anders noch Ders., Tiernamen und Wappenwesen (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 24), 1976, 121.

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›Welf‹ bedeutet also ›Jungtier‹, insbesondere ›junger Hund‹22. Unwillkürlich denkt man jedoch zuerst an das Junge eines Hundes, und es ist wahrscheinlich, daß dies zunächst auch dem Vorstellungshorizont der Zeitgenossen entsprach23. Dasselbe gilt für die lateinische Übersetzung catulus, im klassischen Latein eine Verkleinerungsform von catus, Kater24. In klassischer Zeit und teilweise auch noch in der mittelalterlichen Latinität bezeichnete es das Junge eines wilden Tieres, insbesondere von Katze und Hund. Dagegen leitete Isidor von Sevilla das Wort von canis, Hund, ab: Catuli abusive dicuntur quarumlibet bestiarum filii. Nam proprie catuli canum sunt, per diminutionem dicti25. Von einem grundsätzlichen Vorrang der Löwenbedeutung kann daher nicht die Rede sein26. Der älteste Träger des Namens ›Welf‹ lebte zu einer Zeit, als ein solcher »sprechender« Personenname durchaus noch zu verstehen war. Mehr noch: Da das Wort ›Welf‹ für den jungen Hund erst im 18. Jahrhundert von der niederdeutschen Form ›Welpe‹ verdrängt wurde, war bis dahin die Bedeutung von ›Welf‹ im oberdeutschen Sprachraum wohl jedermann bewußt27. Die Welfen trugen somit einen für jedermann verständlichen Namen. Daher ist zu fragen, welche grundsätzliche Bedeutung dem Namen und der Namengebung im früheren Mittelalter zukamen28. Isidor beantwortete diese Frage folgendermaßen: Nobilis, non vilis, cuius et 22 Erich König (Bearb.), Historia Welforum (Schwäbische Chroniken der Stauferzeit 1), 1938, Sachkommentar, 98 Anm. 7; vgl. bereits Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, bearbeitet von Alfred Götze und der Arbeitsstelle des Deutschen Wörterbuches zu Berlin, 1955, hier Bd. 28, 1368ff.; Jacob Grimm, Geschichte der deutschen Sprache, 2 Bde., 21853, hier Bd. 1, 27; Otto von Heinemann, Albrecht der Bär. Eine quellenmäßige Darstellung, 1864, 317 Anm. 5; Ernst Förstemann, Altdeutsches Namenbuch Bd. 1 Personennamen, 2 1900, 937f.; Henning Kaufmann, Ergänzungsband zu Ernst Förstemann, Altdeutsches Namenbuch Bd. 1 Personennamen, 1968, 211; Rudolf Schützeichel, Althochdeutsches Wörterbuch, 21974, 226. 23 Hans Patze, Die Welfen in der mittelalterlichen Geschichte Europas, in: BlldtLG 117 (1981) 139–166, hier 144. 24 Thesaurus Linguae Latinae Bd. 3, 1906–12, 621ff. 25 W. M. Lindsay (Bearb.), Isidor von Sevilla, Etymologiarum sive originum libri XX, 2 Bde., 1911, XII, 2, 27; vgl. Schüssler, Der ›leo rugiens‹ (wie Anm. 14) 148. 26 Seiler, Furor (wie Anm. 8) 164. 27 Elmar Seebold (Hg.), Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 221989, 786. 28 Vgl. dazu auch die allgemeinen Überlegungen von Hans-Walter Klewitz, Namengebung und Sippenbewußtsein in den deutschen Königsfamilien des 10.–12. Jahrhunderts, in: Archiv für Urkundenforschung 18 (1944) 23–37 (wiederabgedruckt in: Ders., Ausgewählte Aufsätze zur Kirchen- und Geistesgeschichte des Mittelalters, 1971, 89–103); Michael Mitterauer, Ahnen und Heilige. Namengebung in der europäischen Geschichte, 1993, 241ff.; Gerd Althoff, Namengebung und adliges Selbstverständnis, in: Dieter Geuenich u.a. (Hg.), Nomen et gens. Zur historischen Aussagekraft frühmittelalterlicher Personennamen (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde [künftig: RGA] 16), 1997, 27–39.

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nomen et genus scitur29. Name und Abstammung eines Adligen waren also allgemein bekannt und verdeutlichten den Zeitgenossen seine soziale Stellung. Ein Beispiel dafür ist der Bericht des Hildebrandliedes über das Zusammentreffen Hildebrands und Hadubrands. Hildebrand fordert sein Gegenüber auf, ihm wenigstens einen Angehörigen seiner Sippe zu nennen, allein mit dieser Information könne er ihn richtig einordnen30. Noch im Jahr 1043 stellte Abt Siegfried von Gorze in einem Brief an Poppo von Stablo fest, Gleichnamigkeit sei in einer spezifischen Situation Beweis genug für die Abstammung der einen von der anderen Person31. Zudem besaßen die germanischen Personennamen neben kultischer vor allem häufig eine kriegerische Bedeutung, die die Stärke ihrer Träger betonen sollte32. Wie ist es vor diesem Hintergrund zu erklären, daß ein Angehöriger eines adelsstolzen Geschlechtes seinem Sohn den Namen ›Welf‹ gab und ihn so nach einem Jungtier benannte? Ein Jungtier war in jedem Fall auf Schutz und Hilfe angewiesen. Eine solche Assoziation mit dem Namen zu wecken, lag kaum im Interesse von Vätern und Verwandten, die über den Namen, die sie ihren Kindern gaben, in aller Regel die Stärke und die Macht ihres Geschlechts betonen wollten33. ›Welf‹ oder ›Welpe‹, ›Hündchen‹ oder ›Tierchen‹ – so müßten wir das Wort eigentlich ins Neuhochdeutsche übertragen, um die Wirkung dieses Namens wirklich verstehen zu können – konnte diese Assoziation von kriegerischer Stärke und Macht wohl kaum wecken34. 29 Isidor, X, 184 (wie Anm. 25); vgl. hierzu und zum Folgenden Jörg Jarnut, Nobilis non vilis, cuius et nomen et genus scitur, in: Geuenich (Hg.), Nomen et gens (wie Anm. 28) 116–126; Ders., Selbstverständnis von Personen im Lichte frühmittelalterlicher Personennamen, in: Härtel (Hg.), Personennamen (wie Anm. 21) 47–65. 30 Vgl. auch Wolfgang Haubrichs, Veriloquium nominis. Zur Namensexegese im frühen Mittelalter, in: Verbum et Signum. Beiträge zur mediävistischen Bedeutungsforschung Bd. 1, 1975, 231–266, hier 234f.; Johannes Fried, Der Weg in die Geschichte. Die Ursprünge Deutschlands bis 1024 (Propyläen Geschichte Deutschlands 1), 1994, 114. 31 Wilhelm von Giesebrecht (Bearb.), Brief Siegfrieds von Gorze an Abt Poppo von Stablo, Geschichte der deutschen Kaiserzeit Bd. 2, 51885, 715, im Hinblick auf die Gleichnamigkeit Gerbergas, der Schwester Ottos des Großen, und ihrer Enkelin, der Mutter der Kaiserin Gisela; vgl. hierzu Klewitz, Namengebung (wie Anm. 28) 26ff. 32 Vgl. Gottfried Schramm, Namenschatz und Dichtersprache. Studien zu den zweigliedrigen Personennamen der Germanen, 1957, 53ff.; Joachim Werner, Tiergestaltige Heilsbilder und germanische Personennamen, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 37 (1963) 377–383, hier 380f.; Gunter Müller, Zum Namen Wolfhetan und seinen Verwandten, in: FMSt 1 (1967) 200–212; Ders., Studien zu den theriophoren Personennamen der Germanen (Niederdeutsche Studien 17), 1970; Kim R. McCone, Hund, Wolf und Krieger bei den Indogermanen, in: Wolfgang Meid (Hg.), Studien zum indogermanischen Wortschatz (Innsbrucker Beiträge zur Sprachwissenschaft 52), 1987, 101–154. 33 Zur Namengebung vgl. Adolf Bach, Deutsche Namenkunde Bd. 1 Die deutschen Personennamen (Grundriß der germanischen Philologie 18), 1943, § 462, 543. 34 Vgl. auch Patze, Welfen (wie Anm. 23) 143f., der von einem pejorativen Sinn von ›Welf‹ ausgeht, ohne näher darauf einzugehen.

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Der Name ›Welf‹ ist also schwierig zu interpretieren. Bereits Jacob Grimm und Adolf Bach zählten ›Welf‹ zu den ursprünglichen Bei- oder Spitznamen, aus denen sich erst allmählich wirkliche Rufnamen entwickelt haben35. Wir müßten also damit rechnen, daß Träger des Namens ›Welf‹ auch mit ihren richtigen Namen in den Quellen genannt werden. Dies wäre jedenfalls eine mögliche Erklärung für die Tatsache, daß Welf, der als Schwiegervater Ludwigs des Frommen und Ludwigs des Deutschen zu den Großen des Reiches gehörte, und dem Thegan zudem eine hochvornehme Abkunft bescheinigt36, ansonsten in den zeitgenössischen Quellen nicht genannt wird. Auch Wolfgang Metz argumentierte in diese Richtung: Konrad der Ältere, Sohn des ältesten Welf, war in den Jahren 839 und 856 als Graf im Argen- und Linzgau bezeugt, während zwischen 850 und 858 ein Welf dieselbe Funktion bekleidete. Da Konrad erst 863 verstarb und sein Verhältnis zu Ludwig dem Deutschen Zeit seines Lebens ungetrübt war, könne man nicht davon ausgehen, daß ihm die Grafschaft wegen Untreue entzogen worden sei. Vielmehr müsse man, so Metz, die Möglichkeit in Betracht ziehen, daß Konrad und Welf ein und dieselbe Person waren, daß mithin ›Welf‹ der Beiname Konrads gewesen sei37. Freilich steht dieser einleuchtenden Erklärung entgegen, daß Welf ein Sohn Konrads gewesen sein könnte, der bereits zu Lebzeiten des Vaters diesen gelegentlich vertrat bzw. den Grafentitel angenommen hatte. Vor einigen Jahren hat Gunter Müller im Rahmen seiner »Studien zu den theriophoren Personennamen der Germanen« Jungtier-Namen allgemein und unter ihnen auch den Namen ›Welf‹ untersucht38. Die Herkunft der JungtierNamen und ihre Bedeutung erklärt er nicht nur aus dem übertragenen Gebrauch für junge Menschen, sondern führt sie auch auf den Glauben an eine tatsächlich

35 Grimm, Deutsches Wörterbuch (wie Anm. 22) hier Bd. 28, 1368ff.; Jacob Grimm, Kleinere Schriften Bd. 3 Abhandlungen zur Literatur und Grammatik, 1866, 355 Anm. 2; Bach, Personennamen (wie Anm. 33) § 73, 71, § 336, 391–393. Gegen diese Annahme spricht jedoch, daß sich die Langform des Namens, nämlich ›Welfhard‹, erst sekundär gebildet hätte; dagegen geht Bach, Personennamen (wie Anm. 33) § 91, 89, davon aus, daß sich die aus dem ersten Glied des Langnamens gebildeten Kurzformen aus jenen entwickelt haben; vgl. auch noch Dieter Geuenich, Samuhel sive Sahso. Studien zu den cognomina im Reichenauer Verbrüderungsbuch, in: Friedhelm Debus – Karl Puchner (Hg.), Name und Geschichte. Henning Kaufmann zum 80. Geburtstag, 1978, 81–101, bes. 91. 36 Ernst Tremp (Bearb.), Thegan, Vita Hludowici (MGH SS rer Germ 64) c. 26 , 596: Sequenti vero anno accepit [Hludowicus] filiam Hwelfi ducis sui, qui erat de nobilissima progenie Bawariorum, et nomen virginis Iudith … 37 Wolfgang Metz, Heinrich »mit dem goldenen Wagen«, in: BlldtLG 107 (1971) 136–161, hier 159; skeptisch: Michael Borgolte, Die Grafen Alemanniens in merowingischer und karolingischer Zeit. Eine Prosopographie (Archäologie und Geschichte 2), 1986, 290; vgl. ebd., 167f. 38 Müller, Studien (wie Anm. 22) 223ff.

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tierische Abkunft des Namenträgers zurück39. Im Zusammenhang mit ›Welf‹ ist dabei sicherlich zu berücksichtigen, daß nach Karl Hauck die Göttin Freyja als Hündin begriffen werden konnte40. Freilich sind solche Rückgriffe auf die germanische Mythologie oft problematisch, so daß man sich auf dieses Erklärungsmodell nicht zu sehr versteifen sollte, zumal im 11. Jahrhundert heidnische Vorstellungen keine Rolle mehr gespielt haben dürften. Die spätere Sage über den Ursprung der Welfen rückt die ersten Träger des Namens zwar ebenfalls in die Nähe des Hundemotivs, läßt aber keinen Rückgriff auf die germanische Mythologie erkennen: Die Gräfin Irmentrud verdächtigt eine andere Frau des Ehebruchs, weil diese Drillinge geboren hatte. Kurze Zeit später schenkt sie Zwölflingen das Leben und fürchtet nun, selbst jenes Verbrechens angeklagt zu werden. Sie läßt daher elf Knaben von der Kellnerin wegbringen, um sie zu ertränken, doch wird diese von Graf Isenbart, dem Ehemann Irmentruds, überrascht. Um ihn zu täuschen, behauptet die Kellnerin, sie trüge Welfen in ihrem Arm. Doch der Graf entdeckt die Wahrheit und sorgt für seine Söhne41. Der Name ›Welf‹ war also, vorsichtig ausgedrückt, recht ausgefallen und fiel aus dem üblichen adligen Namensrepertoire des 11. und 12. Jahrhunderts heraus42. Die Bezeichnung ›Welfen‹ konnte sicherlich Anlaß zu Spott sein, was aber andererseits vielleicht sogar gerade aus diesem Grund die so Bezeichneten enger zusammenschweißte und dadurch ihr Selbstbewußtsein steigerte43. Dabei ist zu beachten, daß ›Welf‹ lediglich die Kurzform eines doppelgliedrigen Vollnamens gewesen ist, nach Erich König ›Welfhard‹ oder ›Bernwelf‹44. Der zweite Name bedeutet ›Bärenjunges‹ und würde somit eine ganz bestimmte Tradition nahelegen, die den Ansprüchen Adliger an den eigenen Namen bzw. den seiner Söhne

39 Müller, Studien (wie Anm. 22) 228ff. 40 Vgl. Karl Hauck, Lebensnormen und Kultmythen in germanischen Stammes- und Herrschergenealogien, in: Saeculum 6 (1955) 186–223, hier 206ff., über den sagenhaften langobardischen König Laiamichio (Lamissio), dessen Name als ›kleiner Beller‹ zu deuten ist; nach Georg Waitz (Hg.), Paulus Diaconus, Historia Langobardorum I, 15 (MGH SS rer Germ [48]), 1878, 61f., war er der Sohn einer Dirne (bzw. Hündin), die ihn mit seinen sechs in einer Mehrlingsgeburt geborenen Geschwister in einen Teich warf; König Agelmund rettete ihn und ließ ihn aufziehen; vgl. auch Scheibelreiter, Tiernamen (wie Anm. 21) 34f., 105f.; Otto Gschwantler, Formen langobardischer mündlicher Überlieferung, in: Jahrbuch für internationale Germanistik 11 (1979) 58–85, hier 60f.; bezeichnend ist, daß die Langobarden zuerst Winniler hießen, was soviel wie ›heulende Hunde‹ bedeutet; zu Freyja allgemein Rudolf Simek, Lexikon der germanischen Mythologie, 1984, 105ff.; ein möglicher Hintergrund sind die kriegerischen Junggesellenverbände, deren Mitglieder oft mit Wölfen oder Hunden verglichen wurden, vgl. Kim R. McCone, Hund, Wolf und Krieger (wie Anm. 32). 41 Brüder Grimm, Deutsche Sagen Bd. 2, hg. von Hans-Jörg Uther ; ebd. Bd. 3, 1993, 463ff. 42 Vgl. Seiler, Furor (wie Anm. 8) 167f. 43 Vgl. dazu mit Beispielen besonders aus dem Spätmittelalter Ernst Schubert, Alltag im Mittelalter. Natürliches Lebensumfeld und menschliches Miteinander, 2002, 169ff. 44 Historia Welforum (wie Anm. 22) Sachkommentar, 98.

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in etwa nahekommen würde45. Für Welf II. bis Welf VI. ist indes lediglich die Namensvariation ›Welfhard‹ belegt46. Was aber bedeutete ›Welfhard‹? Das Bestimmungswort ›hart‹ kommt von althochdeutsch hart und bedeutet ›stark, tapfer, kühn‹47. Der Name ›Welf‹ bzw. ›Welfhard‹ meint demzufolge ›starkes, tapferes Jungtier‹ oder ›stark wie ein Jungtier (oder Welpe)‹48. Diese Lesart mag durchaus im Sinne adliger Selbstdarstellung gewesen sein. Dies gilt auch für den zu 792 in die Totenannalen des Klosters Fulda eingetragenen Namen ›Welffolf‹, der ebenfalls einem spezifisch welfischen Umfeld zugeordnet werden kann49. In der welfischen Hausüberlieferung selbst werden deutliche Vorbehalte gegen den Namen ›Welf‹ nicht etwa verschwiegen, sondern sogar offen angesprochen, genauer in der Genealogia Welforum und in der Historia Welforum, während die sogenannte sächsische Welfenquelle und Burchard von Ursberg nicht näher auf den Welfennamen eingehen. Die Historia Welforum ist sicherlich das eindrucksvollste Zeugnis für das welfische Selbstverständnis; sie wurde um 1170 in oder in der Nähe von Ravensburg von einem in Diensten des Welfengeschlechts stehenden Kleriker aufgezeichnet50. Die Genealogia Welforum entstand um 1125 ebenfalls in der engsten Umgebung des Welfen Heinrich des

45 Zu diesem Namen vgl. Förstemann, Namenbuch (wie Anm. 22) 263 und 270. 46 Historia Welforum (wie Anm. 22) Sachkommentar, 98, mit Verweisen auf die Quellen. 47 Grimm, Deutsches Wörterbuch (wie Anm. 22) Bd. 10, 501; Förstemann, Namenbuch (wie Anm. 22) 749ff.; Bach, Personennamen (wie Anm. 33) hier § 200, 221; Kaufmann, Ergänzungsband (wie Anm. 20) 173f. 48 Vgl. Anton Scherer, Zum Sinngehalt germanischer Personennamen, in: Beiträge zur Namenforschung 4 (1953) 1–37, hier 9, in Analogie zu dem dort erwähnten ›Wolfhard‹. 49 Annales necrologici Fuldenses, in: Karl Schmid (Hg.), Die Klostergemeinschaft von Fulda Bd. 1 (Münstersche Mittelalter-Schriften 8/1), 1978, 275; vgl. dazu Ders., ebd. Bd. 3 Vergleichendes Gesamtverzeichnis der fuldischen Personennamen, 468; allgemein zu den in der Quelle überlieferten Namen Dieter Geuenich, Die Personennamen der Klostergemeinschaft von Fulda im früheren Mittelalter (Münstersche Mittelalter-Schriften 5), 1976. 50 Historia Welforum (wie Anm. 22) 2–75; vgl. Wilhelm Wattenbach – Franz-Josef Schmale, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Vom Tode Kaiser Heinrichs V. bis zum Ende des Interregnum Bd. 1, 1976, 298–302; Peter Johanek, Historia Welforum, in: Kurt Ruh u. a. (Hg.), Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon Bd. 4, 1983, 61–65; Ders., Historia Welforum, in: LMA (wie Anm. 17) 5, 1991, 44f.; Birgit Studt, Historia Welforum, in: Volker Reinhardt (Hg.), Hauptwerke der Geschichtsschreibung, 1997, 284ff.; HansWerner Goetz, Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im hohen Mittelalter (Vorstellungswelten des Mittelalters 1), 1999, 361ff.; Katrin Baaken, Elisina curtis nobilissima. Welfischer Besitz in der Markgrafschaft Verona und die Datierung der Historia Welforum, in: DA 55 (1999), 63–94.; Matthias Becher, Welf VI., Heinrich der Löwe und der Verfasser der Historia Welforum, in: Karl-Ludwig Ay u.a. (Hg.), Die Welfen. Landesgeschichtliche Aspekte ihrer Herrschaft (Forum Suevicum 2), 1998, 151–172; Ders., Der Verfasser der Historia Welforum zwischen Heinrich dem Löwen und den süddeutschen Ministerialen des welfischen Hauses, in: Johannes Fried – Otto Gerhard Oexle (Hg.), Heinrich der Löwe 1995 – Diskussionen und Perspektiven (VuF 57), voraussichtlich 2003 [Stand 2003], 347–379.

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Schwarzen51. Unter dessen Sohn Heinrich dem Stolzen wurde die sogenannte sächsische Welfenquelle zwischen 1132 und 1137 vermutlich im Kloster St. Michael in Lüneburg verfaßt52. Der pro-staufisch eingestellte Propst Burchard von Ursberg verfaßte seine Weltchronik um 1230. Er behandelte auf der Basis von Historia und Genealogia Welforum die welfische Geschichte und gab diesem Abschnitt seines Werks die Überschrift De generatione Welforum53. Dynastiebezeichnungen wie ›Welfen‹ werden, wie bereits angedeutet, gemeinhin von einem Spitzenahn abgeleitet. Folgerichtig heißt der älteste bekannte 51 Georg Waitz (Bearb.), Genealogia Welforum, Über eine alte Genealogie der Welfen, in: Abhandlungen der königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, philosophischhistorische Klasse Bd. 2, 1881, 13–15 = MGH Scriptores (künftig: SS) 13, 1881, 733f.; Nachdruck in: Historia Welforum (wie Anm. 22) 76–80; vgl. Waitz, Genealogia passim; Karl Schmid, Probleme um den »Grafen Kuno von Öhningen«. Ein Beitrag zur Entstehung der welfischen Hausüberlieferung und zu den Anfängen der staufischen Territorialpolitik im Bodenseegebiet, in: Herbert Berner (Hg.), Dorf und Stift Öhningen 1966 (Nachdruck in: Gebetsgedenken [wie Anm. 3] 127–179) 43–94, bes. 72–81; Ders., Welfisches Selbstverständnis (wie Anm. 6) 391f.; Wattenbach – Schmale (wie Anm. 50) 296ff.; Oexle, Adliges Selbstverständnis (wie Anm. 6) 50f.; Ders., Welfische Memoria. Zugleich ein Beitrag über adlige Hausüberlieferung und die Kriterien ihrer Erforschung, in: Bernd Schneidmüller (Hg.), Die Welfen und ihr Braunschweiger Hof im Hohen Mittelalter (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 7), 1995, 61–94, hier 73f. 52 Zu erschließen aus: Georg Waitz (Bearb.), Annalista Saxo a. 1126, in: MGH SS 6, 1844, 764f. und Ludwig Weiland (Bearb.), Anhang IV der Sächsischen Weltchronik, in: MGH Deutsche Chroniken 2, 1877, 274–276; Nachdruck in: Historia Welforum (wie Anm. 22) 80–86; vgl. Schmid, Welfisches Selbstverständnis (wie Anm. 6) 392ff.; Otto Gerhard Oexle, Die »sächsische Welfenquelle« als Zeugnis der welfischen Hausüberlieferung, in: DA 24 (1968) 435–497; Ders., Bischof Konrad von Konstanz in der Erinnerung der Welfen und der welfischen Hausüberlieferung während des 12. Jahrhunderts, in: Freiburger Diözesan-Archiv 95 (1975) 7–40, hier 16ff., 36ff. (= H. Maurer u. a. [Hg.], Der heilige Konrad – Bischof von Konstanz. Studien aus Anlaß der tausendsten Wiederkehr seines Todesjahres); Wattenbach – Schmale (wie Anm. 50) 297f.; Klaus Nass, Die Reichschronik des Annalista Saxo und die sächsische Geschichtsschreibung im 12. Jahrhundert (Schriften der MGH 41), 1996, 139ff.; andere Bewertung bei Gerd Althoff, Heinrich der Löwe und das Stader Erbe. Zum Problem der Beurteilung des »Annalista Saxo«, in: DA 41 (1985), 66–100, hier 86ff; dazu Oexle, Welfische Memoria (wie Anm. 51) 74ff. 53 Oswald Holder-Egger – Bernhard von Simson (Bearb.), Burchard von Ursberg, Chronik (MGH SS rer Germ [16]), 1868, 12; Gerd Althoff, Anlässe zur schriftlichen Fixierung adligen Selbstverständnisses, in: ZGO 134 (1986) 34–46, hier 45; zu Burchard vgl. Norbert Backmund, Die mittelalterlichen Geschichtsschreiber des Prämonstratenserordens (Bibliotheca Analectorum Praemonstratensium 10 = Diss. phil. München 1972) 8ff.; Wattenbach – Schmale (wie Anm. 50) 115ff.; Wolfgang Wulz, Der spätstaufische Geschichtsschreiber Burchard von Ursberg (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 18), 1982, bes. 52ff. (Behandlung der welfischen Quellen durch den Chronisten); Werner Maleczek, Burchard von Ursberg, in: LMA (wie Anm. 17) 2, 1983, 952; Michael Oberweis, Die Interpolationen im Chronicon Urspergense. Quellenkundliche Studien zur Privilegiengeschichte der Reform-Ordern in der Stauferzeit (Münchener Beiträge zur Mediävistik und Renaissance-Forschung 40), 1990, 24ff.; zum Werk Burchards als Quelle welfischer Überlieferung Schmid, Welfisches Selbstverständnis (wie Anm. 6) 396f.

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Begründungen

Welfe in der Historia Welforum auch ›Welf‹. Die anderen Texte sind freilich nicht so konsequent. Die Genealogie nennt den welfischen Stammvater ›Eticho‹, die sächsische Welfenquelle gibt ihm zwei Namen, Eticho et Welf54. Im übrigen bevorzugt sie ebenfalls den Namen ›Eticho‹55. Burchard von Ursberg schloß sich demgegenüber im frühen 13. Jahrhundert wieder eng an die Genealogia Welforum an und bezeichnete Eticho als ersten schriftlich belegten Angehörigen der generatio Welforum. Diesen Namen leitete er von der Tatsache ab, daß sechs Träger des Namens ›Welf‹ aufeinander gefolgt seien56. Aus diesem Befund zog Karl Schmid den Schluß, daß die Eticho-Tradition »die ursprünglichere gewesen ist«57. Selbst die Träger der welfischen Hausüberlieferung verbanden den Namen ›Welf‹ nicht oder nur zögernd mit den Anfängen der Familie, während die moderne historische Forschung da weitaus optimistischer ist. Tatsächlich ist der älteste bekannte Angehörige des Geschlechts jener Welf, dessen Tochter Judith Kaiser Ludwig den Frommen heiratete58. Aber als ›Welfen‹ kann man seine engere Familie kaum bezeichnen, wenn man die Namen der bekannten Mitglieder betrachtet: Seine Söhne hießen Konrad und Rudolf, die acht Enkel zweimal Konrad, zweimal Hugo zweimal Rudolf und zweimal Welf. Sie alle, ihre überragende Rolle im Frankenreich des 9. Jahrhunderts und der Aufstieg eines Enkels namens Rudolf zum König von Hochburgund blieben den welfischen Texten des 12. Jahrhunderts unbekannt, da das Geschlecht in Alemannien vorübergehend an Bedeutung verlor. Ein in der Mitte des 9. Jahrhunderts bezeugter Graf Welf ist hier für lange Zeit der letzte bekannte Träger dieses Namens. Dagegen erscheinen weder Eticho noch Heinrich »mit dem goldenen Wagen«, also die Protagonisten der welfischen Hausüberlieferung, in zeitgenössischen Quellen59. Kenntnisse und Traditionen der eigenen Vergangenheit 54 Annalista Saxo a. 1126 (wie Anm. 52) 764f.; vgl. Schmid, Welfisches Selbstverständnis (wie Anm. 6) 392f. 55 Von zentraler Bedeutung ist dabei, daß Heinrich der Schwarze nach den Ahnen zu forschen begann, als er vom ersten Eticho gehört hatte, vgl. unten, nach Anm. 135. 56 Burchard von Ursberg, Chronik (wie Anm. 53) 8f.: De generatione Welforum. In hoc itaque genere VI Welfones leguntur fuisse, non simul, sed sibi in generatione illa succedentes … primus tamen, de quo legitur eius generis fuit quidam inclitus dictus Ethicho … 57 Schmid, Welfisches Selbstverständnis (wie Anm. 6) 394. 58 Zu möglichen politischen Hintergründen vgl. Elizabeth Ward, Caesar’s Wife. The Career of the Empress Judith, 819–829, in: Peter Godman – Roger Collins (Hg.), Charlemagne’s Heir. New Perspectives on the Reign of Louis the Pious (814–840), 1990, 205–227, hier 207f. 59 Die Forschung hat zahlreiche Versuche unternommen, insbesondere Heinrich »mit dem goldenen Wagen« zu identifizieren, vgl. etwa Josef Fleckenstein, Über die Herkunft der Welfen und ihre Anfänge in Süddeutschland, in: Gerd Tellenbach (Hg.), Studien und Vorarbeiten zur Geschichte des großfränkischen und frühdeutschen Adels (Forschungen zur oberrheinischen Landesgeschichte 4), 1957, 71–136, hier 128ff.; Metz, Heinrich (wie Anm. 37) ; Donald C. Jackman, Criticism and Critique. Sidelights on the Konradiner (Occasional Publications of the Oxford Unit for Prosopographical Research 1), 1997, 71 mit Anm. 22; Wilhelm Störmer, Die süddeutschen Welfen unter besonderer Berück-

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rissen also bei den Welfen ab und mußten im 12. Jahrhundert mühsam rekonstruiert werden, was nicht vollständig gelang. Schmid hat daher mit Recht darauf hingewiesen, daß nicht alle Angehörigen des Geschlechts, das wir verkürzend ›Welfen‹ nennen, sich auch als ›Welfen‹ gefühlt haben. »Erst die Aufeinanderfolge einer ganzen Reihe von Mitgliedern des Geschlechts mit Namen ›Welf‹ im 11. und beginnenden 12. Jahrhundert führte dazu, daß dieser Name vorherrschend und für das ganze Geschlecht charakteristisch wurde.«60 Aber man wird die Frage anschließen dürfen, warum dies geschehen konnte? Vor allem der Autor der Historia Welforum gibt zu erkennen, daß er die Frage nach der Bedeutung des Namens ›Welf‹ eigentlich nicht beantworten wolle, und folgt damit wohl einer Art Bescheidenheitstopos. Nur weil dieser Frage großes Interesse entgegengebracht werde, beantworte er sie und weiche damit von seiner eigentlichen Aufgabe ab61. Sehr zurückhaltend schildert der Chronist dann, wie der älteste Vorfahre des Geschlechts eine Tochter des römischen Senators Catilina geheiratet und mit ihr einen Sohn gezeugt habe, der den Namen seines Großvaters mütterlicherseits erhielt. Weil ›Catilina‹ mit ›Welf‹ zu übersetzen sei, habe sich dieser Name durchgesetzt62. Tatsächlich lautet ja die lateinische Übersetzung für Welf, Welpe, catulus, was tatsächlich wenigstens so ähnlich klingt wie Catilina63. Im folgenden gibt der Chronist eine andere Erzählung ähnlich distanziert wieder. Einer der welfischen Ahnen habe einst eiligst vom Kaiserhof aufbrechen wollen, weil seine Gemahlin ihn durch Boten über die Geburt eines Sohnes informiert hatte. Ohne dem Kaiser den Grund seiner Ab-

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sichtigung ihrer Herrschaftspolitik im bayerisch-schwäbischen Grenzraum, in: Die Welfen (wie Anm. 50) 57–96, hier 65ff. Schmid, Welfisches Selbstverständnis (wie Anm. 6) 400. Historia Welforum (wie Anm. 22) c. 2, 6: … de exordio nominis quod Gwelf sonat, quia plerique inde quaerere solent, sicut audivimus in medium proferamus. … Sed iam ad propositum redeamus (aus Otto v. Freising, Gesta Friderici [wie Anm. 1] I, 5, von Oexle, Die »sächsische Welfenquelle« [wie Anm. 52] 484 Anm. 189 als »klassische Wendung zur Kennzeichnung des Endes eines Exkurses« bezeichnet); vgl. Schmid, Welfisches Selbstverständnis (wie Anm. 6) 396. Historia Welforum (wie Anm. 22) c. 2, 6: Dicitur, quod quidam ex antiquissimis istis filiam cuiusdam Romani senatoris, qui Catilina nominabatur, in uxorem duxerit ac filium ex ea progenitum Catilinam nominaverit. Quod quia teutonizatum Gwelf sonat, placuit omnibus, ut linguae naturali satisfacerent et, Romano nomine refutato, Gwelfum eum teutonice nominarent. Zu Etymologien des Mittelalters allgemein vgl. Roswitha Klinck, Die lateinische Etymologie des Mittelalters (Medium Aevum 17), 1970; Klaus Grubmüller, Etymologie als Schlüssel zur Welt? Bemerkungen zur Sprachtheorie des Mittelalters, in: Hans Fromm (Hg.), Verbum et Signum. Beiträge zur mediävistischen Bedeutungsforschung Bd. 1, 1975, 209–230; speziell zur Etymologie Welf – Catilina vgl. u. a. Gerd Althoff, Genealogische und andere Fiktionen in mittelalterlicher Historiographie, in: Fälschungen im Mittelalter. Internationaler Kongreß der Monumenta Germaniae Historica München, 16.–19. September 1986, Bd. 1 (Schriften der MGH 33/1), 1988, 417–441, hier 420f.

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reise zu nennen, kündigte jener seinen baldigen Abschied an und wurde daraufhin von dem bereits informierten Herrscher verspottet: Er wolle wegen eines neu geborenen Welfen so eilig nach Hause. Der Vater wendete dieses Wort des Kaisers zu seinen Gunsten und forderte diesen auf, den Neugeborenen unter diesem Namen aus der Taufe zu heben64. Schließlich gebe es – so der Chronist weiter – eine Verbindung beider Erzählungen: Der Welfenname sei zwischenzeitlich für eine lange Periode abgelehnt worden und erst die Intervention des Kaisers habe ihn wieder ›tragbar‹ gemacht; denn anfänglich sei er allen abscheulich erschienen und erst im welfischen Geschlecht sei er wieder »gleichsam natürlich und annehmbar« geworden65. In der Historia Welforum gehört die etymologische Herleitung des Welfennamens gewissermaßen noch zur Einleitung und steht vor der eigentlichen Geschichte des Welfenhauses. Erst im folgenden Kapitel kommt der Autor auf die karolingische Heirat zu sprechen, die auch für den modernen Forscher am Beginn der welfischen Familiengeschichte steht, bedeutete doch die Heirat ihrer Schwester mit Ludwig dem Frommen für die Söhne des ersten Welf, daß für sie der Weg in das Zentrum der Politik frei war. Im großen und ganzen schildert der Chronist also die Geschehnisse richtig, auch wenn er nur von einem Bruder der Kaiserin Judith berichtet, dessen Namen er nicht korrekt wiedergibt, und die Heirat ihrer Schwester Hemma mit Ludwig dem Deutschen übergeht66. Dafür kennt er die Söhne Ludwigs des Frommen und zwar nicht nur Karl den Kahlen aus der Ehe mit Judith, sondern auch Lothar, Ludwig und Pippin aus der ersten Ehe des Kaisers. Ganz anders äußert sich dazu der rund 50 Jahre zuvor schreibende Verfasser der Genealogia Welforum: Nicht Welfs Tochter Judith heiratet Ludwig den Frommen, sondern die Tochter eines Eticho namens Hildegard vermählt sich mit Kaiser Ludwig dem Stammler67. Dieser Eticho steht für den welfischen Genealogen also am Beginn der Geschichte seines Hauses, während er die CatilinaEtymologie mit einem jüngeren Angehörigen des Adelshauses verbindet, der mit Welf II. zu identifizieren ist. Diesen nennt der Autor der Genealogia Welforum 64 Historia Welforum (wie Anm. 22) c. 2, 6: Alii dicunt, quod, dum unus ex istis apud imperatorem moraretur, uxor eius filium peperisset. Mittens ergo ad virum suum, quod factum fuit nuntiavit ipsumque ad se revocavit. Ille laeto nuntio gavisus, imperatori reversionem insinuat, causam tamen reversionis non indicat. Imperator vero rem percipiens ridiculose cum taliter affatur : ›Pro gwelfo, qui vobis natus est, repatriare festinatis?‹ At ille: ›Nomen‹, inquit, ›quod iam infantulo dedistis, postea plenius dare debetis; nisi enim Deus aliter ordinare voluerit, eum sub hoc nominee de lavachro sancto suscepturus estis‹. Quod et ita factum est. 65 Historia Welforum (wie Anm. 22) c. 2, 6: Alii utrumque verum esse coniciunt. Dicunt enim … Et sic nomen, quod in principio omnibus fuit abhominabile, postremo factum est in hac prosapia quasi naturale et acceptabile. 66 Historia Welforum (wie Anm. 22) c. 3 und 4, 8. 67 Genealogia Welforum (wie Anm. 51) c. 1, 76.

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ausdrücklich huius nominis primus68. Die Namengebung durch den Kaiser war dem Verfasser ebenfalls bekannt und damit auch das Motiv der anfänglichen Ablehnung des Welfennamens: Er sei von den Nachfahren als ›unanständig‹ verworfen worden69. So lautet jedenfalls die Interpretation von Erich König. In der Quelle selbst steht jedoch, man hätte den Welfennamen urbanitatis causa verschmäht, worauf noch einzugehen sein wird. Deutlich anzumerken ist beiden Texten ihre apologetische Absicht. Der Welfenname sollte in Schutz genommen und verteidigt werden. Karl Schmid folgerte aus diesem Befund: »Man wird aus dieser Betonung ursprünglicher Namensverschmähung wohl weniger die Tendenz herauslesen wollen, mangelnde Berühmtheit der Welfen in früher Zeit habe so entschuldigt werden sollen, als vielmehr auf ein vages, aber noch sehr lebendiges Bewußtsein schließen, der Vorfahrenschaft der Welfen sei ein unheilvoller Ruf voraufgegangen«70. Die historische Forschung denkt dabei seit längerem an die fränkischen Sachwalter in Alemannien, Warin und Ruthard, die dem Kloster St. Gallen in der Mitte des 8. Jahrhunderts übel mitgespielt haben. Seit zumindest Ruthard mit einiger Sicherheit als Vorfahre der Welfen angesprochen werden kann71, schienen bestimmte Nachrichten Ekkehards IV. von St. Gallen über die Welfen verständlicher : Sowohl König Konrad I. als auch später Graf Rudolf, der Vater Welfs II., sühnten die Verbrechen ihrer Vorfahren gegen den heiligen Ottmar, indem sie dem Kloster St. Gallen einen persönlichen Kopfzins leisteten72. Folgerichtig bezeichnete Burchard von Ursberg, der mit diesen St. Galler Traditionen wohl vertraut war, Warin und Ruthard in seiner Welfengenealogie als Ahnherren der Welfen73. In diesem negativen Ruf Warins und Ruthards, so Schmid und andere, sei der Grund für die von ihm so genannte »Namensverschmähung« zu suchen74. 68 Genealogia Welforum (wie Anm. 51) c. 4, 76. 69 Genealogia Welforum (wie Anm. 51) c. 5, 78: Quod nomen, quamvis a Romano nobilissimo Catilina in hanc prosapiam sanguinis ratione descenderit, a posterioribus urbanitatis causa refutatum, sub hoc igitur renovatum dicitur, quod puero nato et nuntio rei ad se facto imperator : ›Pro catulo‹, ait, ›qui tibi est natus domum redire festinas?‹. Et ille: ›Nomen‹, inquit, ›dedistis, quod mutari non debebit.‹ 70 Schmid, Welfisches Selbstverständnis (wie Anm. 6) 396. 71 Zu ihm zuletzt Schneidmüller, Welfen (wie Anm. 7) 47f. 72 Hans F. Haefele (Bearb.), Ekkehard IV., Casus sancti Galli, (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 10), 1980, c. 21, 52 und 54: Omnique anno ille [rex], dum vixit, censum capitis sui in cera ad sepulchrum eius [sancti Otmari], uti filius carnificum illorum [Werinheri et Ruodharti], pro reatu in eum quasi proprio misit. Quod et Ruodolfus postea, Welfhardi comitis pater, cum eiusdem quidem prosapie fuerit, in censu calibum de metallo Faucium Iuliarum fecit. 73 Burchard von Ursberg, Chronik (wie Anm. 53) 8f.: Licet autem eiusdem generis tyranni et nobiles in genealogia precesserint, utpote Warinus et Ruthardus, qui beatum Othmarum in insula Reni relegarunt, in qua hodie consistit monasterium monachorum, quod vocatur Staine …; vgl. Fleckenstein, Herkunft (wie Anm. 59) 97. 74 Schmid, Welfisches Selbstverständnis (wie Anm. 6) 407f.

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Ist diese Haltung jedoch wirklich auf bestimmte Mitglieder der welfischen Familie zu beziehen? Dafür besitzen wir keinen Hinweis in der Überlieferung. Außerdem hatten sich die Angehörigen des Geschlechts, die auch tatsächlich den Namen ›Welf‹ trugen, keiner Untat schuldig gemacht, die derjenigen Warins und Ruthards vergleichbar gewesen wäre. Zudem führten sie den später so negativ beurteilten Namen ›Welf‹ eben gerade nicht. Dies läßt vermuten, daß die ambivalente Wertschätzung andere Ursachen hatte. Ohne konkrete Hinweise sollte die in der welfischen Hausüberlieferung hervorgehobene Zurückweisung des Welfennamens nicht mit Ereignissen begründet werden, die in einem völlig anderen historischen Kontext überliefert sind. In der welfischen Geschichtsschreibung selbst ist jedenfalls von einer Ablehnung vor allem des Welfennamens, nicht aber einer Person die Rede75. War der Name ›Welf‹ selbst zumindest etwas ausgefallen, so dürften die Autoren der welfischen Hausüberlieferung vor allem über eine Beobachtung beunruhigt gewesen sein, die sie bei ihrer Beschäftigung mit der welfischen Geschichte gemacht haben: Der seit dem 11. Jahrhundert dominierende Welfenname spielte in früheren Zeiten überhaupt keine Rolle, so der Kenntnisstand des Genealogen und des Verfassers der sächsischen Welfenquelle, der daher den in der Genealogia als Eticho bezeichneten auch ›Welf‹ nannte76. Die nächstliegende Konsequenz aus diesem Unterschied von Gegenwart und Vergangenheit wäre, daß ›Welf‹ von den Angehörigen des Geschlechts lange Zeit absichtlich gemieden worden sei. Hatte man diesen Schluß gezogen, so lag der Gedanke nahe, dem Namen ein Renommee zu geben, das seine vorübergehende Ablehnung erklären und überstrahlen konnte. Diesem Zweck diente die Catilina-Etymologie zusammen mit der Erzählung über die Namengebung durch den Kaiser. Diese Legendenbildung erklärt aber nicht, warum der Name mit Welf II. im 10. Jahrhundert wiederaufkam und zudem derart dominant wurde, daß er in den fünf folgenden Generationen ohne Unterbrechung vergeben wurde. Neben einem verschwommenem Wissen von der Vergangenheit – dem Grafen Rudolf war vielleicht noch ein Verwandter namens ›Welf‹ bekannt – waren am ehesten genealogische Zufälle dafür verantwortlich. Welf II. besaß noch einen Bruder Heinrich, der um 1000 in Tirol bei der Jagd ums Leben kam und noch dazu wohl der ältere war77. Welf II. selbst hatte nicht nur den gleichnamigen Sohn, sondern 75 So bereits mit Recht Seiler, Furor (wie Anm. 8) 166f. 76 Vgl. dazu auch unten nach Anm. 137; dagegen geht Wolfgang Hartung, Die Herkunft der Welfen aus Alamannien, in: Karl-Ludwig Ay , Welfen (wie Anm. 50) 23–55, hier 52ff., davon aus, die Erinnerung an einen Chadaloh aus der Familie der Bertolde habe den Anlaß für die Catilina-Etymologie gegeben. 77 Die Altersfolge geht daraus hervor, daß Heinrich gegen den Willen seines Bruders Welf entschied, den von seinem Vater eingeführten Stahlzins für das Kloster St. Gallen einzustellen; ein Jagdunfall war die gerechte Strafe für diesen Frevel; Ekkehard, Casus s. Galli (wie

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noch einen weiteren namens Konrad, der als Erbe der Ebersberger Grafen vorgesehen war, aber im Jahre 1031 vorzeitig verstarb78. Hätten Heinrich und Konrad die Familie weitergeführt, so wäre der Name ›Welf‹ möglicherweise schnell wieder in Vergessenheit geraten. Auch der Name ›Otto‹ wäre etwa im 10. Jahrhundert kaum der überwiegende Herrschername dieser Dynastie geworden, wenn die drei älteren Söhne Ottos I. namens Liudolf, Heinrich und Brun nicht vor dem Vater und ihrem jüngsten Bruder verstorben wären, der dann als Otto II. die Nachfolge antrat79. Erst dieser nannte dann seinen ersten (und einzigen Sohn) wiederum ›Otto‹. Mit anderen Worten: Neben genealogischen Zufällen läßt erst die Namenswahl der zweiten für die dritte Generation einen bestimmten Namen wirklich dominant werden. Die in diesem Sinne zweite Generation der Welfen unterscheidet sich gerade in einem wichtigen Punkt grundsätzlich von anderen vergleichbaren Familien: Ihr Vertreter, nach der gängigen Zählung Welf III., blieb zeit seines Lebens unvermählt und starb 1055 kinderlos80. Der einzige Sohn seiner einzigen Schwester Kuniza war daher sein natürlicher Erbe, obwohl dies in der welfischen Hausüberlieferung vollkommen anders geschildert wird.81 Die Genealogia Welforum

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Anm. 72) c. 21, 52ff., der freilich Welf(hard) stets an erster Stelle nennt, wohl weil dieser einer seiner Zeitgenossen war; zu der Episode zuletzt Thomas Zotz, Die frühen Welfen. Familienformation und Herrschaftsaufbau, in: Rainer Loose – Sönke Lorenz (Hg.), König – Kirche – Adel. Herrschaftsstrukturen im mittleren Alpenraum und angrenzenden Gebieten (6.–13. Jahrhundert), 1999, 189–205, hier 189ff. Wilhelm Arndt (Bearb.), Chronicon Eberspergense, in: MGH SS 20, 1868, 14; vgl. Günther Flohrschütz, Der Adel des Ebersberger Raumes im Hochmittelalter (Schriftenreihe zur Bayerischen Landesgeschichte 88), 1989, 111. Die Ebersberger Chronik nennt uns zwar die leiblichen Eltern jenes Konrad nicht, bezeichnet ihn aber als adoptivus filius Rihlindis amitae eius. Richlind (bzw. Richarda) war also Konrads amita, was nach Flohrschütz bedeutet, daß er der Sohn ihrer Muhme gewesen sei. Doch ist die Bedeutung von amita wesentlich enger zu fassen: Nicht nur im klassischen, sondern auch im mittelalterlichen Latein bezeichnet das Wort die Schwester des Vaters; nur selten ist auch die Schwester der Mutter gemeint (Mittellateinisches Wörterbuch Bd. 1, 1967, 569). In der Ebersberger Chronik selbst wird amita an anderer Stelle im Sinne von ›Schwester des Vaters‹ gebraucht (Chronicon Eberspergense, 12, über Willibirg, der Tante des Grafen Ulrich). Aller Wahrscheinlichkeit nach war Konrad daher ein Welfe, vielleicht ein früh verstorbener Bruder Welfs III., dem Richlind dann 1045 folgerichtig das Erbe verschaffen wollte; vgl. auch schon Franz Tyroller, Genealogie des altbayerischen Adels im Hochmittelalter ( = Wilhelm Wegener [Hg.], Genealogische Tafeln zur mitteleuropäischen Geschichte, Lieferung 4), 1962, 206f. Vgl. Klewitz, Namengebung (wie Anm. 28) 33; Hagen Keller, Die Ottonen, 2001, 16. Später wird ihm eine Frau angedichtet, vgl. den Beitrag von Heinz Dopsch in diesem Band [Heinz Dopsch, Welf III. und Kärnten, in: Welf IV. – Schlüsselfigur einer Wendezeit. Regionale und europäische Perspektiven, hg. von Dieter R. Bauer – Matthias Becher (Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte. Beiheft B 24), München 2004, S. 84–128]. Vgl. dazu den Beitrag von Werner Hechberger in diesem Band [Werner Hechberger, Die Erbfolge von 1055 und das welfische Selbstverständnis, in: Welf IV. – Schlüsselfigur einer Wendezeit. Regionale und europäische Perspektiven, hg. von Dieter R. Bauer – Matthias

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verschweigt Welf III. überhaupt, und der italienische Welf eilt nach dem Tod seines Großvaters Welf II. herbei, um die Erbschaft zu übernehmen82. Folgt man der Historia Welforum, so war sich Welf III. seiner italienischen Verwandtschaft nicht bewußt, denn, so heißt es in der Chronik, erst die alte Imiza habe sich nach dem Tod ihres Sohnes im Jahr 1055 des Enkels in Italien erinnert und dafür gesorgt, daß er das welfische Erbe übernahm83. Diese Darstellung sollte verschleiern, daß Welf III. das Nonnenkloster in Altdorf und keineswegs Welf IV. zum Erben eingesetzt hatte. Obwohl dieser aber für das Erbe zunächst gar nicht vorgesehen war, hieß er trotzdem Welf! Sicherlich kann man dies in das auch sonst bezeugte cognatische Denken des 11. Jahrhunderts einordnen84, dennoch lohnt es sich, die Motive für diese Entscheidung näher zu beleuchten, und vor allem danach zu fragen, wer sie getroffen hat. Hier wird man zunächst an Albert Azzo denken, den die Aussicht auf die reichen süddeutschen Besitzungen der Welfen möglicherweise bereits nach der Geburt seines Sohnes dazu veranlaßte, seinem einzigen (bekannten) Sohn aus seiner Verbindung mit Kuniza den Namen ›Welf‹ zu geben. Da dessen Geburt gemeinhin auf kurz nach 1035 datiert wird, in eine Zeit also, als der erbenlose Tod Welfs III. wohl noch nicht abzusehen war, erwog Hansmartin Schwarzmaier, Welf IV. habe seinen Namen möglicherweise erst bei Antritt des Erbes angenommen und bis dahin einen anderen, womöglich typisch otbertinischen Namen getragen85. Auch wenn hierfür jeder Beleg in den Quellen fehlt, ist diese Überlegung doch bedenkenswert. Der Name »Welf« vereinfachte dem Erben sicherlich, die Nachfolge des Onkels anzutreten, da dessen Gefolgsleuten ihn auf Grund der Namensgleichheit leichter als neuen Herrn akzeptieren konnten.86

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Becher (Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte. Beiheft B 24), München 2004, S. 129–155]. Genealogia Welforum (wie Anm. 51) c. 8, 78. Historia Welforum (wie Anm. 22) c. 12, 18; vgl. Hansmartin Schwarzmaier, Die Welfen und der schwäbische Adel im 11. und 12. Jahrhundert in ihren Beziehungen zum Vinschgau, in: Rainer Loose (Hg.), Der Vinschgau und seine Nachbarräume, 1993, 83–98, hier 87; Katrin Baaken, Zwischen Augsburg und Venedig. Versuche der Welfen zur Sicherung von Herrschaft und Profit, in: Loose – Lorenz, König – Kirche – Adel (wie Anm. 77) 207–227, hier 207ff. Vgl. Wilhelm Störmer, Adel und Ministerialität im Spiegel der bayerischen Namengebung (bis zum 13. Jahrhundert). Ein Beitrag zum Selbstverständnis der Führungsschichten, in: DA 33 (1977) 84–152, hier 114. Schwarzmaier, Dominus (wie Anm. 17) 293. Zu den Problemen der Erbfolge bzw. zur Struktur der welfischen familia vgl. die Beiträge von Werner Hechberger und Karel Hruza in diesem Band [Werner Hechberger, Die Erbfolge von 1055 und das welfische Selbstverständnis, in: Welf IV. – Schlüsselfigur einer Wendezeit. Regionale und europäische Perspektiven, hg. von Dieter R. Bauer – Matthias Becher (Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte. Beiheft B 24), München 2004, S. 129–155; Karel Hruza, ›Omne patrimonium suum cum ministerialibus‹: Zur Herkunft welfischer Dienstmannen in Oberschwaben am Beispiel der Herren von Wallsee, ebd., S. 382–419].

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Aber ganz gleich, wer die Entscheidung für ›Welf‹ wann getroffen hat, es geschah jedenfalls bewußt. Am norditalienischen Hof Albert Azzos war es indes sicherlich kein Geheimnis, was ›Welf‹ an sich bedeutete. Diesen Namen empfand man dort wohl kaum als standesgemäß und der Bedeutung und dem Ruhm der otbertinischen Familie angemessen87. In Anbetracht der durch Welf II. und III. mehr oder minder zufällig entstandenen Tradition des Namens entschied man sich aber dennoch bewußt für den Namen ›Welf‹. Welf IV. war folglich der einzige Welfe, der seinen Namen nicht im Rahmen der traditionellen Namengebung des Geschlechts erhalten hat, sondern aufgrund einer ganz gezielten und zweckgerichteten Entscheidung, die das Erbe nördlich der Alpen sichern sollte. Was lag daher näher, als dem Namen ›Welf‹ eine möglichst alte und vornehme Tradition anzudichten? Das geschah eben mit Hilfe der Catilina-Etymologie. In Italien waren alle Voraussetzungen wie eine intime Kenntnis der Antike und der lateinischen Sprache gegeben88, um die Assoziationskette Welf – catulus – Catilina zu bilden89. Man machte also aus der Not eine Tugend und erhob den Anspruch, ein Zeitgenosse Caesars und Ciceros sei der erste Welfe gewesen. Freilich wird man dagegen einwenden können, daß Sallust und sein Werk über die catilinarische Verschwörung seit langem auch nördlich der Alpen bekannt war90. Das gilt im übrigen ja auch für die meisten anderen antiken Autoren, doch hat bis ins 12. Jahrhundert hinein kein anderes deutsches Adelsgeschlecht seine Wurzeln auf die Antike zurückgeführt91. Interessant ist natürlich der angebliche Vorfahr : Catilina war in den Augen Sallusts oder gar Ciceros der Erzschurke der 87 Vgl. Schwarzmaier, Dominus (wie Anm. 17) 293; erst für einen jüngeren Halbbruder Welfs durchbrach Albert Azzo die otbertinische Namengebungstradition abermals, vgl. Mario Nobili, Formarsi e definirsi dei nomi di famiglia nelle stirpi marchionali dell’Italia centrosettentrionale. il caso degli Obertenghi, in: Cinzio Violante (Hg.), Nobilt/ e chiese nel Medioevo e altri saggi. Scritti in onore di Gerd Tellenbach (Pubblicazioni del Dipartimento di Medievistica dell’Universit/ di Pisa 3), 1993, 77–95, hier 82 Anm. 15, sowie die Stammtafel nach 95; Baaken, Elisina (wie Anm. 50) 75 Anm. 70, weist auf weitere Beispiele für familienfremde Namen in Azzos näherer Verwandtschaft hin, doch bleibt Welf der erste derartige Fall, vor allem da er der älteste Sohn war. 88 Vgl. Renato Bordone, La societ/ cittadina del regno d’Italia. Formazione e sviluppo delle caratteristiche urbane nei secoli XI e XII (Biblioteca storica supalpina 202), 1987, 27ff. 89 Dagegen meint Jörg W. Busch, Mathias von Neuenburg, Italien und die Herkunftssage der Habsburger, in: ZGO 142 (1994) 103–116, hier 111, es hätte dazu keines Aufenthaltes in Italien bedurft; er schenkt jedoch in seiner, einem anderen Thema gewidmeten Arbeit der otbertinischen Abstammung Welfs IV. keine Beachtung. 90 Vgl. allgemein Johannes Schneider, Die Vita Heinrici IV. und Sallust. Studien zu Stil und Imitation in der mittellateinischen Prosa (Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Schriften der Sektion Altertumswissenschaft 49), 1965, 34ff. und speziell zu dieser Stelle der Genealogia Welforum ebd., 36 Anm. 1. 91 Heinz Thomas, Julius Caesar und die Deutschen. Zu Ursprung und Gehalt eines deutschen Geschichtsbewußtseins in der Zeit Gregors VII. und Heinrichs IV., in: Stefan Weinfurter (Hg.), Die Salier Bd. 3 Gesellschaftlicher und ideengeschichtlicher Wandel im Reich der Salier, 1991, 245–277, hier 257; vgl. auch Althoff, Fiktionen (wie Anm. 63) 421.

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ausgehenden Republik. Gerade bei Sallust hätte man auch einen anderen Anknüpfungspunkt finden können, bei dem die geistige Verrenkung, um von catulus zu Catilina zu gelangen, gar nicht notwendig gewesen wäre. Denn bei Sallust konnte man nachlesen, daß ein Quintus Lutatius Catulus bei der Aufdeckung der zweiten catilinarischen Verschwörung eine wichtige Rolle gespielt hatte92. Sallust beschränkt sich sogar durchgängig auf die Namen Quintus Catulus. Um die Welfen an diesen anzubinden, hätte man ihren Namen tatsächlich nur einfach übersetzen müssen. Wer auch immer dagegen die Assoziationskette Welf – catulus – Catilina gebildet hat, kannte Sallust entweder nicht in allen Einzelheiten oder entschied sich ganz bewußt für die Anbindung an Catilina. Einige Spuren der Catilina-Rezeption deuten tatsächlich auf Italien. Bereits Liudprand von Cremona betrachtete Mitte des 10. Jahrhunderts Catilina als Inbegriff des Staats- bzw. Königsfeindes93. Der spätestens im frühen 13. Jahrhundert aufgezeichneten Chronik über die Geschichte der Stadt Florenz zufolge war Catilina der Aufrührer gegen Rom schlechthin, dessen Festung Fiesole schließlich nach langen Kämpfen von Caesar eingenommen wurde94. An dem Ort, an dem Catilina zuvor ums Leben gekommen war, sei die Stadt Pistoia gegründet worden, deren Name volksetymologisch mit der ›Pestilenz‹ in Zusammenhang gebracht wurde95. Catilina war in Italien also durchaus noch ein Begriff, und seine anti-römische bzw. anti-kaiserliche Haltung wurde wohl in bestimmten Kreisen durchaus positiv gesehen. Möglicherweise vertrug sich daher Catilinas Name auch sehr gut mit dem Selbstverständnis Albert Azzos II., den man kaum einen typischen Vertreter der kaiserlichen Partei in Italien nennen kann. Wie auch immer, die Entstehung dieser Namenstradition scheint 92 Alphons Kvrfess (Bearb.), Sallust, Catilinae conivratio 34,3; 35,1; 49,1f. (Bibliotheca Teubneriana), 1954, 27 und 36. Die Catuli waren ein altes Patriziergeschlecht, deren Cognomen von den Zeitgenossen negativ gedeutet wurde. So berichtet Plutarch, man habe Cicero am Anfang seiner Karriere geraten, seinen lächerlichen Namen abzulegen, der sich von cicer, der Kichererbse ableite; dieser aber habe geantwortet, er wolle seinen Namen berühmter machen als die Namen Scaurus und Catulus, C.L. Lindskog – K. Ziegler (Bearb.), Plutarch, Vita parallelae (Bibliotheca Teubneriana), 1959, 313 (freundlicher Hinweis von Dr. Alheydis Plassmann). 93 Joseph Becker (Bearb.), Liudprand von Cremona, Antapodosis III, 39 (MGH SS rer Germ [41]), 31915, 92f. 94 Otto Hartwig (Bearb.) Chronica de origine civitatis, in: Ders., Quellen und Forschungen zur ältesten Geschichte der Stadt Florenz Bd. 1, 1875, 36–69, hier 49ff.; vgl. Chris Wickham, The Sense of the Past in Italian Communal Narratives, in: Paul Magdalino (Hg.), The Perception of the Past in Twelfth Century Europe, 1992, 173–189, hier 189. 95 Chronica de origine civitatis (wie Anm. 94) 56; vgl. Jörg W. Busch, Die Mailänder Geschichtsschreibung zwischen Arnulf und Galvaneus Flamma. Die Beschäftigung mit der Vergangenheit im Umfeld einer oberitalienischen Kommune vom späten 11. bis zum frühen 14. Jahrhundert (Münstersche Mittelalter-Schriften 72), 1997, 201 Anm. 78.

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uns jedenfalls am oberitalienischen Hof der Otbertiner viel wahrscheinlicher als am welfischen Hof in Altdorf oder Ravensburg96. Vermutlich wurde sie dann unter Welf IV. nach Oberschwaben importiert97. Bezeichnenderweise wurde Welf IV. nördlich der Alpen in der zeitgenössischen Historiographie als erster Welfe nicht nur ›Welf‹, sondern auch Catulus genannt98. So trägt er an einer Stelle des Carmen de bello Saxonico den lateinischen, und nicht wie sonst den deutschen Namen. Weiter heißt es dort über ihn, er stamme aus einem alten römischen Geschlecht99. Dies ist als deutlicher Hinweis auf die in der welfischen Hausüberlieferung behauptete Verwandtschaft der Welfen mit Catilina zu verstehen. Dieser Hintergrund ist bei der zeitgenössischen metrischen Lebensbeschreibung Erzbischof Thiemos von Salzburg zwar nicht ausdrücklich genannt, doch erhält Welf auch hier den Namen Catulus100. Der Dichter stand hier möglicherweise unter dem Einfluß des Regensburger Mönchs Otloh von St. Emmeram, der um 1070 in seiner Vita des heiligen Alto selbst Welfs Großvater Welf II. mit dem Namen Catulus ansprach. Auffällig ist, wie sehr sich Otloh bemühte, den volkssprachlichen Namen zu umgehen: Post obitum vero beati Altonis prepotens quidam ex Alemannia, parens videlicet eximius illius comitis, qui vulgo nomen quoddam est sortitus, quod Latine exprimitur Catulus …101. War es die neue, möglicherweise in Italien geprägte Be96 Vgl. Arno Borst, Der Turmbau von Babel, 4 Bde., 1957–63, hier Bd. 2,2, 670, der annimmt, Welf VI. habe die Catilina-Etymologie benutzt, um seine Herrschaft in Tuszien zu legitimieren, da Catilina dort einst Anhänger gefunden habe. 97 Vgl. Busch, Mathias von Neuenburg (wie Anm. 89) 115f., der die Sage über die römische Herkunft der Habsburger ebenfalls als genuin italienisches Gedankengut ansieht, das dem Ziel diente, Rudolf von Habsburg zum Italiener zu machen; in ähnlicher Weise wurden die Welfen in der Genealogia Welforum zu Italienern gemacht, und man kann fragen, in wessen Interesse dies lag, in dem der Welfen oder in dem der Otbertiner. 98 Die im folgenden behandelten Quellen hat bereits von Heinemann, Albrecht der Bär (wie Anm. 22) 317 Anm. 5, zusammengestellt; vgl. dazu auch Ursula Jentzsch, Heinrich der Löwe im Urteil der deutschen Geschichtsschreibung von seinen Zeitgenossen bis zur Aufklärung (Beiträge zur mittelalterlichen und neueren Geschichte 11), 1939, 4. 99 Oswald Holder-Egger (Bearb.), Carmen de bello Saxonico III, 63f. (MGH SS rer Germ [17]), 1889, 16: Hos Romanorum sequitur de gente vetusta / Dux Catulus nomen referens moresque genusque; vgl. Bernhard Vogel, Zum Quellenwert des Carmen de bello Saxonico, in: DA 52 (1996) 85–133, speziell zu dieser Stelle 123 mit Anm. 200. 100 Wilhelm Wattenbach (Bearb.), Passio Thiemonis archiepiscopi Iuvavensis I, 106, in: MGH SS 11, 1854, 29: Dux catulus socius sibi forte viae fuit huius …; vgl. Wilhelm Wattenbach – Robert Holtzmann, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Die Zeit der Sachsen und Salier. Teil 1–2, Neuausgabe besorgt von Franz-Josef Schmale, 1967, hier Teil 2, 560ff. 101 Georg Waitz (Bearb.), Otloh von St. Emmeram, Vita s. Altonis, in: MGH SS 15/2, 1888, c. 10, 844; zum Einfluß Otlohs auf den Dichter des Carmen vgl. Manfred Schluck, Die Vita Heinrici IV. Imperatoris. Ihre zeitgenössischen Quellen und ihr besonderes Verhältnis zum Carmen de bello Saxonico (VuF Sonderbd. 26), 1979, 62 Anm. 366, 82 Anm. 478; Vogel, Quellenwert (wie Anm. 99) 123 mit Anm. 200; zur Frage, wer der namentlich nicht genannte Verwandte Welfs gewesen sein könnte, Fleckenstein, Herkunft (wie Anm. 59) 84f.

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deutung des Namens ›Welf‹, die Otloh auch im folgenden dazu veranlaßte, den Welfen konsequent als Catulus zu bezeichnen102 ? Immerhin handelte er von jenem Kloster, das Imiza zu einem kritischen Zeitpunkt der Welfengeschichte entscheidend geprägt hat: Nach Altomünster versetzte sie 1056/57 jenen Weingartener Nonnenkonvent, den sie zugunsten ihres Enkels Welf IV. um das Erbe ihres Sohnes Welf III. gebracht hatte103. Auffällig ist jedenfalls, daß Catulus nördlich der Alpen für den Namen ›Welf‹ gebraucht wurde, seit der Italiener Welf IV. hier das welfische Haus repräsentierte. Heinz Thomas hat jüngst auf die große Bedeutung hingewiesen, die um 1080 die römische Antike auch nördlich der Alpen für das Herkunftsbewußtsein führender Kreise besaß104. So gründete für den Autor des Annoliedes Julius Caesar das römische Reich, das bis in seine Gegenwart fortbestand und von Heinrich IV. beherrscht wurde. Gleichzeitig war Caesar in den Augen des Dichters aber auch derjenige, der durch seine militärischen Siege über die Franken, Bayern, Sachsen und Schwaben diese zu einem Volk vereinte, bevor er mit ihrer Hilfe zum Alleinherrscher in Rom aufstieg. Dies mag als Beleg dafür gelten, daß die Anbindung der Welfen an die römische Antike über die CatilinaEtymologie auch nördlich der Alpen ihre Wirkung nicht verfehlt haben dürfte. Auch später war die Gleichung ›Welf‹ – Catulus durchaus noch geläufig. So berichtet Helmold von Bosau über die Heirat der billungischen Erbin Wulfhilde von Sachsen mit Catulus, dem Herzog von Bayern105. Da Helmold im selben Satz diesen Catulus auch noch als Vater Heinrichs des Löwen bezeichnet, kann man wohl davon ausgehen, daß er über die genealogischen Zusammenhänge der ersten Dezennien des 12. Jahrhunderts nicht besonders gut informiert war. Immerhin bezeichnet er Heinrich den Stolzen an anderer Stelle als Heinricus

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(Heinrich »mit dem goldenen Wagen«); Rudolf Goes, Die Hausmacht der Welfen in Süddeutschland, Phil. Diss., 1960, 83ff., 179f. (Anm. 470) (Kuno von Öhningen). Otloh, Vita s. Altonis (wie Anm. 101) c. 11 und 15, 844f. Otloh, Vita s. Altonis (wie Anm. 101) c. 15, 845; Imiza ließ sich später auch in Altomünster begraben und vertraute damit ihre memoria jenem Konvent an, den sie um das Erbe ihres Sohnes gebraucht hatte und den sie wohl zwangsweise von Weingarten nach Altomünster verlegt hatte; nach dem Zeugnis Otlohs beschenkte sie Altomünster immerhin reich, und auch den Austausch der Konvente stilisierte er zu einem großzügigen Gunsterweis Imizas, Otloh verfaßte die Vita Altonis im übrigen um 1060 und wohl noch zu Lebzeiten Imizas; vgl. Wilhelm Liebhart, Ida von Öhningen, Irmentrud von Luxemburg und das welfische Hauskloster Altomünster, in: Oberbayerisches Archiv 109 (1984) 233–241, hier 239f. Thomas, Julius Caesar (wie Anm. 91) 251ff.; Eberhard Nellmann (Bearb.), Das Annolied, 1975, c. 18ff., 24ff. Bernhard Schmeidler (Bearb.), Helmold von Bosau, Chronica Slavorum I, 35 (MGH SS rer Germ [32]), 31937, 69: Altera vero filiarum Vulfildis nomine data est duci Bawariae Catulo, quae peperit ei Heinricum Leonem.

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Leo106. Von daher hat Helmold entweder Heinrich dem Schwarzen den Namen (oder Beinamen) Catulus gegeben oder er hat diesen mit seinem Vater Welf IV. oder seinem Bruder Welf V. verwechselt. An diese beiden Möglichkeiten wird man auch im Falle Alberts von Stade denken müssen, der um 1240 Heinrich den Stolzen als filius filie ducis Magni Wulfildis et ducis Bawarie Catuli bezeichnete107. In den zwischen 1269 und 1277 verfaßten Chronica principum Brunsvicensium heißt Heinrich der Stolze dagegen ganz sicher Henricus Catulus108. Dieser Beiname diente dem Verfasser wohl auch zur Unterscheidung von den beiden anderen welfischen Herzögen mit Namen Heinrich, die er Henricus Niger und Henricus Leo nennt. Dasselbe gilt für die 1282 verfaßte Chronica ducum de Brunswick, wobei hier besonders auffällt, daß der Autor den Welfennamen von der Billungerin Wulfhild ableitet109. Ansonsten vermeidet er den Namen ›Welf‹ und äußert sich auch nur sehr vage zur genealogischen Anbindung an den Schwiegervater Ludwigs des Frommen. Dieser heißt bei ihm wie in den Chronica principum Brunsvicensium sowie der Braunschweigischen Reimchronik nur ›Eticho‹110. Auch in diesen späten Zeugnissen spürt man also noch etwas von der einstigen Ablehnung des Welfennamens und von dem Bemühen, die Welfen als Catuli anzusprechen. 106 Helmold von Bosau, Chronica Slavorum I, 56 (wie Anm. 105) 110; vgl. Schüssler, Der ›leo rugiens‹ (wie Anm. 14) 48; Oexle, Memoria (wie Anm. 11) 144f. 107 J. M. Lappenberg (Bearb.), Annales Stadenses a. 1136, in: MGH SS 16, 1859, 323; vgl. Wattenbach – Schmale (wie Anm. 50) 423ff. 108 Oswald Holder-Egger (Bearb.), Chronica principum Brunsvicensium, in: MGH SS 30/1, 1896, c. 4, 23: Predictus autem dux Henricus, gener regis, qui eciam et Catulus dicebatur, patrem habuit Henricum ducem Bowarie, qui Niger est appellatus. Igitur Henricus Niger ex Wilphilde genuit Henricum Catulum …; vgl. auch Schneidmüller, Landesherrschaft (wie Anm. 11) 87; zum Zusammenhang der Quelle mit der sächsischen Welfenquelle Nass, Reichschronik (wie Anm. 52) 139. 109 Ludwig Weiland (Bearb.), Chronica ducum de Brunswick, in: MGH Deutsche Chroniken 2, 1877, c. 11, 582: Iste dux [Henricus Catulus] matrem habuit Wilphildem filiam ducis Magni, unde et Catulus sive Welp dicebatur ; patrem vero Hinricum ducem Bawarie, qui Niger vocabatur. Igitur Hinricus niger ex Wilphilde genuit Hinricum Catulum, generum regis Luderii. Hinricus Catulus de Ghertrude filia regis unica genuit Hinricum Leonem …; vgl. Bernd Schneidmüller, Billunger – Welfen – Askanier. Eine genealogische Bildtafel aus dem Braunschweiger Blasius-Stift und das hochadlige Familienbewußtsein in Sachsen um 1300, in: Archiv für Kulturgeschichte 69 (1987) 30–61, hier 38; Ders., Landesherrschaft (wie Anm. 13) 87. Zu beachten ist auch August Potthast (Bearb.), Heinrich von Herford, Liber de rebus et temporibus memorabilioribus, 1859, 155f., der in seinem 1355/70 begonnen Werk aus Cronicis Saxonum zitierte, die ihrerseits dem Autor der Chronica ducum de Brunswick als Vorlage diente; vgl. Nass, Cronica Saxonum (wie Anm. 12) 557ff. 110 Chronicae principum Brunsvicensium (wie Anm. 108) c. 5, 23f. ; Chronica ducum de Brunswick (wie Anm. 109) c. 12 und 13, 582; Braunschweigische Reimchronik (wie Anm. 13) c. 27, 491 v. 2539ff.; beide Quellen hängen über die Chronica principum Brunsvicensium von der sächsischen Welfenquelle ab, vgl. Nass, Reichschronik (wie Anm. 52) 140.

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In diesen Zusammenhang paßt eine weitere Beobachtung. Die Genealogia Welforum nimmt die Erwähnung Welfs II. zum Anlaß, auf Catilina zu sprechen zu kommen. Welf II. besaß gerade für Welf IV. eine besondere Bedeutung, jedenfalls in der Darstellung der Genealogia. Er war dessen Großvater und unmittelbarer Vorgänger, denn in dieser Quelle wird der Sohn bzw. Onkel Welf III. einfach übergangen. Diese damnatio memoriae dürfte letztlich auf Welf IV. selbst zurückgehen, der das Testament seines Onkels mit Hilfe seiner Großmutter mißachtet und selbst das Erbe angetreten hatte. Vor allem in seinem Interesse lag daher die direkte Anbindung an den Großvater, um so seine Stellung zu legitimieren. Wenn diese Annahme richtig ist, dann geht vermutlich auch die Erzählung über Catilina auf ihn zurück. Ihr Inhalt entsprach bezeichnenderweise genau der welfischen Familienkonstellation beim Herrschaftsantritt Welfs IV. Wie dieser ein Enkel mütterlicherseits Welfs II. war, so soll auch der erste Träger des Namens Welf über seine Mutter ein Enkel von Catilina gewesen sein. Auf diese Weise stellt jedenfalls die Historia Welforum die Verwandtschaft dar, während die Genealogia Welforum allgemeiner von Blutsverwandtschaft spricht. Indem die Genealogia die Erwähnung Welfs II. zum Anlaß für ihren Exkurs über Catilina nimmt, wird dieser gleichsam zum Dreh- und Angelpunkt eines cognatischen Familienkarussels: Er selbst wird über die weibliche Linie von dem vornehmen Römer Catilina hergeleitet und trägt auch dessen Namen, während sein eigener Erbe ebenfalls in weiblicher Linie von ihm abstammt und wiederum seinen Namen trägt. Unter diesem Aspekt betrachtet, paßt die Catilina-Etymologie recht gut in den Kontext der Etablierung Welfs IV. als Erbe des patrimonium Altorfensium. Und ein letztes Indiz kann beigebracht werden. Wie kam gerade der welfische Genealoge auf den Gedanken, Welf von Catilina abzuleiten? Wie konnte er, dessen unbeholfenes Latein auf keinen hohen Bildungsstand schließen läßt, als erster die Anbindung der Welfen an die römische Antike konstruieren? Wie kam er auf die Begründung, die Welfen hätten ihren Namen eine Zeit lang urbanitatis causa abgelehnt111. Die urbanitas scheint mir einer der Schlüsselbegriffe zum Verständnis der Catilina-Anbindung zu sein. Aber was genau ist mit dem Wort gemeint? Mit »Weltläufigkeit« hat Bernd Schneidmüller es ins Deutsche übertragen112, Weltläufigkeit, die vor allem gebildete Geistliche und höfisch gewandte Adlige auszeichnete, wie Michael Richter und Thomas Zotz gezeigt haben113.

111 Genealogia Welforum (wie Anm. 51) c. 5, 78. 112 Schneidmüller, Welfen (wie Anm. 7) 23. 113 Michael Richter, Urbanitas – Rusticitas. Linguistic aspects of a medieval dichotomy, in: Derek Baker (Hg.), The church in town and countryside. Papers read at the seventeenth winter meeting of the Ecclesiastical History Society, 1979, 149–157; Thomas Zotz, Urbanitas. Zur Bedeutung und Funktion einer antiken Wertvorstellung innerhalb der höfischen

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Einen weiteren Aspekt hebt Otto von Freising in seinen Gesta Friderici hervor: Er beschreibt, wie die Langobarden einst große Teile Italiens eroberten und sich dann mit der einheimischen Bevölkerung vermischten, so daß sie wenigstens teilweise die römische Gesittung und Gedankenschärfe annahmen, Latini sermonis elegantiam morumque retinent urbanitatem114. Die urbanitas war also in seinen Augen eine der zentralen Eigenschaften der Bewohner Italiens. Jüngst konnte Renato Bordone darlegen, daß die urbanitas gerade im 11. Jahrhundert tatsächlich ein Begriff von zentraler Bedeutung für das sich entwickelnde städtische Selbstbewußtsein in Oberitalien war, das untrennbar mit einem hohen Bildungsgrad verbunden war115. Bereits der Geschichtsschreiber Wipo hatte in seinem Tetralogus aus ›deutscher‹ Perspektive die in Italien gängige, durch Schulen vermittelte Bildung gewürdigt116. Die urbana eloquentia galt dem Verfasser der Vita sancti Iohannis Gualberti als höchstes Lob117. Landulfus, einer der Führer der Mailänder Pataria, war für Bischof Bonizo von Sutri ex maiorum prosapia ortus, vir urbanus et facundissimus118. Nach Meinung Liudprands verfaßte Bischof Rather von Verona ein Buch über die Beschwerden seiner Verbannung satis urbanitate, in etwa zu übertragen mit

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Kultur des hohen Mittelalters, in: Josef Fleckenstein (Hg.), Curialitas, Studien zu Grundfragen der höfisch-ritterlichen Kultur (VMPIG 100), 1990, 392–451. Otto von Freising, Gesta Friderici II/14 (wie Anm. 1) 116. Bordone, La societ/ cittadina (wie Anm. 88) bes. 34ff.; vgl. auch Wattenbach – Holtzmann (wie Anm. 100) Teil 1, 313ff.; Peter Classen, Res gestae, Universal History, Apocalypse: Visions of Past and Future, in: Robert L. Benson – Giles Constable (Hg.), Renaissance and Renewal in the Twelfth Century, 1982, 387–417, hier 393, Nachdruck in: Peter Classen, Ausgewählte Aufsätze, hg. von Josef Fleckenstein (VuF 28), 1983, 347– 378; Helmut G. Walther, Die Anfänge des Rechtsstudiums und die kommunale Welt Italiens im Hochmittelalter, in: Johannes Fried (Hg.), Schulen und Studium im sozialen Wandel des hohen und späten Mittelalters (VuF 30), 1986, 121–162. Wipo, Tetralogus v. 190ff., in: Harry Bresslau (Bearb.), Wiponis Opera (MGH SS rer Germ [61]), 1915, 81: Tunc fac edictum per terram Teutonicorum / Quilibet ut dives sibi natos instruat omnes / Litterulis legemque suam persuadeat illis, / Ut, cum principibus placitandi venerit usus, / Quisque suis libris exemplum proferat illis. / Moribus his dudum vivebat Roma decenter, / His studiis tantos potuit vincire tyrannos; / Hoc servant Itali post prima crepundia cuncti, Et sudare scholis mandatur tota iuventus: / Solis Teutonicis vacuum vel turpe videtur, / Ut doceant aliquem, nisi clericus accipiatur ; vgl. Hagen Keller, Adelsherrschaft und städtische Gesellschaft in Oberitalien. 9.–12. Jahrhundert (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 52), 1979, 227f. Friedrich Baethgen (Bearb.), Vita sancti Iohannis Gualberti, in: MGH SS 30/2, 1934, c. 50, 1090; vgl. Giovanni Spinelli, Johannes Gualbertus, in: LMA (wie Anm. 17) 5, 1991, 580. Ernst Dümmler (Bearb.), Bonizo von Sutri, Liber ad amicum (MGH Libelli de lite imperatorum et pontificum 1), 1891, 591: … fuere duo clerici in prefata civitate [Mediolanense], quorum alter nomine Landulfus ex maiorum prosapia ortus, vir urbanus et facundissimus, alter vero vocabatur Arialdus, ex equestri progenie trahens ortum, vir liberalibus studiis adprime eruditus …; vgl. Werner Goez, Bonizo, in: LMA (wie Anm. 17) 2, 1981, 424f.; Paolo Golinelli, Landulfus »Patarinus«, ebd., Bd. 5, 1681.

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»geistvoll und wortgewandt«119. Indes reicht dies nicht aus, um die gesamte Bedeutungsbreite des Begriffs zu erfassen, der in zeitgenössischen Glossaren mit elegantia und facetia erklärt wird120. Die urbanitas stand also für Begriffe wie ›gebildet‹, ›elegant‹, ›städtisch‹ oder ›urban‹121. Bekanntermaßen existierte nun aber die für die übrigen Nachfolgereiche des karolingischen Imperium gültige Trennung zwischen der Stadt und ihren Oberschichten einerseits sowie dem auf dem Lande verankerten Adel andererseits in Italien nicht. Vielmehr war »die städtische Oberschicht weitgehend identisch mit dem Adel.«122 Die urbanitas war daher ein Begriff, der nicht nur in den Städten seine Bedeutung besaß, sondern auch in den Burgen und an den Herrenhöfen des Adels123. Von Italien aus dürfte daher der Begriff seinen Weg in den süddeutschen Machtbereich der Welfen gefunden haben – nach Lage der Dinge unter Welf IV. Für ihn war die urbanitas vermutlich eine für einen Adligen derart essentielle Eigenschaft, daß er sie auf seine nordalpinen Vorfahren übertrug. Wenn man sich unter Welf IV. tatsächlich in dieser Weise um den Ruhm des Welfennamens bemühte, dann liegt der Gedanke nahe, daß unter ihm die Geschichte des Geschlechts besondere Beachtung fand und vielleicht sogar erstmals schriftlich aufgezeichnet wurde. Als ältestes erhaltenes Zeugnis der welfischen Hausüberlieferung gilt die Genealogia Welforum, die auf eine schriftliche Vorlage zurückgeht. Dafür sprechen etwa ihre verworrenen Berichte, deren wichtigste Passagen nicht verständlich sind, wenn man die beiden anderen Welfenquellen nicht kennt124. Nach Lage der Dinge kann die Genealogia Welforum daher 119 Liudprand von Cremona, Antapodosis III/ 52 (wie Anm. 93) 101; Übersetzung: Albert Bauer und Reinhold Rau (Bearb.), Quellen zur Geschichte der sächsischen Kaiserzeit (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 8), 21977, 399. 120 Bordone, La societ/ cittadina (wie Anm. 88) 37, unter Verweis auf Antonio Viscardi, Storia letteraria d’Italia, Bd. 1 Le Origini, 1939, 470 und 475 (41966, 637 und 640f.); Andr8 Cantin, Les sciences s8culiHres et la foi. Lex deux voies de la science au jugement de S. Pierre Damien (1007–1072) (Centro italiano di studi sull’alto medioevo 5), 1975, 88ff., bes. 95 Anm. 43 (zu Petrus Damiani). 121 Vgl. auch Gerhard Köbler, Frühmittelalterliche Ortsbegriffe, in: BlldtLG 108 (1982) 1–27, hier 9. 122 Keller, Adelsherrschaft (wie Anm. 116) 6; vgl. neben Dems., Die Entstehung der italienischen Stadtkommunen als Problem der Sozialgeschichte, in: FMSt 10 (1976) 169–211; Giovanni Tabacco, La storia politica e sociale dal tramonto dell’Imperio alle primi formazioni di stati regionali, in: Storia d’Italia Bd. 2 Dalla caduta dell’Imperio romano al secolo XVIII, Teil 1, 1974, 142ff.; Ders., Adel (Italien), in: LMA (wie Anm. 17) 1, 1980, 129–131; exemplarisch: Hansmartin Schwarzmaier, Lucca und das Reich bis zum Ende des 11. Jahrhunderts (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 41), 1972. 123 Vgl. aber Keller, Adelsherrschaft (wie Anm. 116) 228; zu stadtfernen Adelsgeschlechtern ebd. 62–83, 380; Adriano Cavanna, La civilt/ giuridica longobarda, in: I Longobardi et la Lombardia. Saggi , (1978), 1–34, hier 9. 124 Die Genealogia Welforum galt daher zunächst als Exzerpt aus der Historia Welforum, ohne

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nur auf einem anderen, älteren Text beruhen, der möglicherweise unter Welf IV. entstanden ist. Dies hat als erster Hansmartin Decker-Hauff vor rund fünfzig Jahren angedeutet. Ihm erschien die Genealogia Welforum als ein Exzerpt aus einer älteren, möglicherweise kurz nach 1075 erstmals niedergeschriebenen Quelle, die sich vom Inhalt, nicht von der Wortwahl her über weite Strecken mit der Historia Welforum deckte125. Leider hat Decker-Hauff seine Ansicht niemals näher begründet; in der vorliegenden Form wurde sie zu Recht abgelehnt126. Dennoch wird man daran festhalten können, daß die Genealogia Welforum zwar die älteste überlieferte Schrift der welfischen Hausüberlieferung ist, daß aber eine noch ältere Version durchaus denkbar ist127. Welche Indizien weisen aber weiter auf Welf IV. hin? Nach Otto Gerhard Oexle kommt Bischof Konrad von Konstanz besondere Bedeutung innerhalb der welfischen Hausüberlieferung zu. Er war gleichsam der erste Kristallisationskern im welfischen Selbstverständnis128. Oexle hat die seiner Meinung nach erstmalige Aufzeichnung in Form der Genealogia Welforum mit der Heiligsprechung Konrads 1123 und der Suche Heinrichs des Schwarzen nach dem Grab des ältesten Welfen Eticho in Zusammenhang gebracht. Doch Konrad wurde schon lange vor der offiziellen Kanonisation 1123, wahrscheinlich bereits zu Lebzeiten Welfs IV., als Heiliger verehrt. Wohl 1089 ließ Bischof Gebhard III. von Konstanz die sterblichen Überreste seines Vorgängers erheben und in seiner Bischofskirche bestatten129. Damit forcierte er dessen Verehrung130. Gebhard und

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nähere Begründung Edmund von Oefele, Geschichte der Grafen von Andechs, 1877, 11; richtiggestellt von Waitz, Genealogia (wie Anm. 51) 1–15. Hansmartin Decker-Hauff, Zur ältesten Weingartner Geschichtsschreibung, in: Festschrift zur 900-Jahr-Feier des Klosters 1056–1956, 1956, 362–369. Oexle, Die »sächsische Welfenquelle« (wie Anm. 52) 438f., 457f., 460f., 477. Vgl. Oexle, Die »sächsische Welfenquelle« (wie Anm. 52) 485f., der diese in die Zeit Heinrichs des Schwarzen setzt. Oexle, Bischof Konrad (wie Anm. 52); vgl. jetzt auch Arnold Bihrer, Bischof Konrad von Konstanz. Zur Stiftung städtischer Identität durch Bischof Ulrich I., in: ZGO 148, 2000, 1–40. Georg Heinrich Pertz (Bearb.), Vita sancti Chounradi, De signis, in: MGH SS 4, 1841, c. 1, 441; zur Quelle vgl. Walter Berschin, Odalscalcs Vita S. Konradi im hagiographischen Hausbuch der Abtei St. Ulrich und Afra, in: Der heilige Konrad (wie Anm. 52) 82–106, hier 95 Anm. 46; Wattenbach – Schmale (wie Anm. 50) 284f.; Eugen Hillenbrand, Das literarische Bild des hl. Konrad von Konstanz im Mittelalter, in: Remigius Bäumer u. a. (Hg.), Kirche am Oberrhein. Festschrift für Wolfgang Müller, 1980, = Freiburger DiözesanArchiv 100 (1980) 79–108, hier 90ff.; zu den verschiedenen zeitlichen Ansätzen vgl. Michael Borgolte, Salomo III. und St. Mangen. Zur Frage nach den Grabkirchen der Bischöfe von Konstanz, in: Helmut Maurer (Hg.), Churrätisches und St. gallisches Mittelalter. Festschrift für Otto P. Clavadetscher, 1984, 195–225, hier 220 Anm. 151 (Literaturüberblick). Vgl. hierzu und zum folgenden Oexle, Bischof Konrad (wie Anm. 52) 8f., 14f.; dagegen meinte Renate Neumüllers-Klauser, Heiligsprechung, in: Der heilige Konrad (wie Anm. 52) 67–81, hier 73, die Translation habe keine Auswirkung auf den Kult gehabt; doch kann das Schweigen der Quellen zu diesem Punkt bei der geringen Überlieferungsdichte

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Begründungen

Welf IV. waren in der Auseinandersetzung mit Kaiser Heinrich IV. eng miteinander verbündet. Auch ihre persönlichen Beziehungen müssen gut gewesen sein, da Gebhard 1094 für Welfs Gemahlin Judith die Totenfeier abhielt und auch bei dessen eigenem Begräbnis in Weingarten anwesend war131. Gebhard, der zudem seine Wahl zum Konstanzer Oberhirten in erster Linie dem Welfen verdankte, wurde daher wahrscheinlich nur in engster Abstimmung mit diesem tätig, als er den Leichnam Konrads umbettete. Spätestens damals hat sich Welf vermutlich genauere Kenntnisse über seine Verwandtschaft mit dem ehemaligen Bischof von Konstanz verschafft – eine Verwandtschaft, die nach Lage der Dinge auch sein Bündnis mit dessen Nachfolger Gebhard stärken konnte. So bezog sich Welf IV. schon um 1094 im Weingartener Zensualenrecht explizit auf Konrad von Konstanz, den er zu den primi fundatores des Klosters zählte132. Zudem erinnerte kaum als Beweis gewertet werden; für eine entscheidende Förderung des Kultes durch die Übertragung des Jahres 1089 jetzt Helmut Maurer, Die Münsterweihe von 1089 und die Übertragung der Konrads-Reliquien in die Bischofskirche, in: Ders. (Hg.), Die Konstanzer Münsterweihe von 1089 in ihrem historischen Umfeld (Freiburger Diözesan-Archiv 109), 1989, 127–130; vgl. auch Ders., Die Konstanzer Bischofskirche in salischer Zeit, in: Stefan Weinfurter (Hg.), Die Salier und das Reich Bd. 2 Die Reichskirche in der Salierzeit, 1991, 155–186, hier 181; Ders., Konstanz im Mittelalter Bd. 1 Von den Anfängen bis zum Konzil, 1989, 93. Zur Verehrung Konrads vor der offiziellen Kanonisation vgl. weiter Joseph Clauss, Der heilige Konrad. Bischof von Konstanz. Sein irdisches Leben und sein Fortleben in der Kirche, 1947, 68, 70, 86, 92; Helmut Maurer, Der Bischofssitz Konstanz als Hauptstadt in Schwaben, in: Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung 91 (1973) 1–15, hier 5. 131 Vgl. den Beitrag von Helmut Maurer in diesem Band [Helmut Maurer, Bischof Gebhard III. von Konstanz und Welf IV. als Häupter der süddeutschen Reformpartei, in: Welf IV. – Schlüsselfigur einer Wendezeit. Regionale und europäische Perspektiven, hg. Von Dieter R. Bauer – Matthias Becher (Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte. BeiheftB24), München 2004, S. 314–338]. 132 Wirtembergisches Urkundenbuch Bd. 1, 1849, Nr. 244, 301: … a primis eiusdem loci fundatoribus, Heinrico scilicet et ipsius filio sancto Choˇnrado, Constantiensi episcopo, …; die Urkunde ist überliefert als nachträgliche Notiz in dem von Judith an Weingarten geschenkten Evangeliar (Fulda Aa 21, fol. 88r und 89r) und auch im Codex minor tradtionum aus der 2. Hälfte des 13. Jahrhundert; sie gilt als echt, vgl. Wilfried Krallert, Die Urkundenfälschungen des Klosters Weingarten, in: Archiv für Urkundenforschung 15 (1937) 235–304, hier 249 und 295; Ursula Riechert, Oberschwäbische Reichsklöster im Beziehungsgeflecht mit Königtum, Adel und Städten (12.–15. Jahrhundert). Dargestellt am Beispiel von Weingarten, Weißenau und Baindt (1986), 65ff.; aber gerade wegen des Epitheton sanctus rechnet Oexle, Die »sächsische Welfenquelle« (wie Anm. 52) 475 mit Anm. 147; Ders., Bischof Konrad (wie Anm. 52) 34 mit Anm. 97, mit »redaktionellen Einschüben«, die er auf Grund des Handschriftenbefunds auf die Zeit nach 1110/20 und weitergehend nach Konrads Heiligsprechung datiert; auch die Erwähnung von Konrads Vater Heinrich in der Urkunde deutet Oexle, Bischof Konrad (wie Anm. 52) 31f., in diese Richtung, da Heinrich nicht in das älteste Weingartener Necrolog eingetragen wurde, was für einen angeblichen Gründer des Klosters doch einigermaßen verwunderlich sei. Kurz: das sanctus für Konrad und die Nennung Heinrichs sind auch in Anbetracht der späten handschriftlichen Überlieferung der Urkunde im Gegensatz zur Erwähnung Konrads in der

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der Name eines seiner um diese Zeit geborenen Enkels an den einstigen Bischof von Konstanz. Dieser Konrad wurde von seinem Vater Heinrich dem Schwarzen bezeichnenderweise zum Kleriker bestimmt133. Aber die Erinnerung der Welfen an den Bischof von Konstanz reichte wohl noch weiter zurück, hatte doch bereits Welf II. einen seiner Söhne vermutlich nach Konrad benannt134. Welf IV. griff diese Tradition auf und versuchte, mit ihrer Hilfe seine Beziehungen zu Gebhard von Konstanz noch enger zu gestalten. Fragen wir nach Konrad von Konstanz in den älteren Quellen der welfischen Hausüberlieferung. In der Genealogia Welforum ist er der Sohn Heinrichs und der Enkel des angeblichen Stammvaters Eticho. Die Erinnerung an diesen wurde der sächsischen Welfenquelle zufolge lange Zeit durch mündliche Überlieferung135 lebendig gehalten, aus der Welfs IV. Sohn Heinrich der Schwarze von diesem ersten Eticho erfuhr. Heinrich wollte dem auf den Grund gehen, ließ Etichos Grab freilegen und über diesem eine Kirche errichten; weiter habe er den Leichnam Bischof Konrads erheben lassen136. Vergleicht man die Genealogia Welforum und die sächsische Welfenquelle, so fallen die vollkommen anderen Vorstellungen des sächsischen Autors von der welfischen Frühzeit auf137. Der älteste Welfe erhielt hier neben ›Eticho‹ auch den Namen ›Welf‹, der sächsische Verfasser wußte, daß dessen Tochter ›Judith‹ und nicht ›Hildegard‹ hieß und daß dessen Schwiegersohn Ludwig der Fromme und nicht Ludwig der Stammler war. Während die Genealogia Welforum also ungefähres Wissen über die Vergan-

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Tat verdächtig; ähnlich auch schon von der Nahmer, Heinrich der Löwe (wie Anm. 13) 215 Anm. 32; vgl. dazu auch die folgenden Ausführungen über die Rolle Konrads in der welfischen Hausüberlieferung. Historia Welforum (wie Anm. 22) c. 15, S. 26; vgl. den Beitrag von Alheydis Plassmann in diesem Band [Alheydis Plassmann, Die Welfen-Origo, ein Einzelfall?, in: Welf IV. – Schlüsselfigur einer Wendezeit. Regionale und europäische Perspektiven, hg. von Dieter R. Bauer – Matthias Becher (Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte. Beiheft B 24), München 2004, S. 56–83]. Zu diesem Konrad vgl. oben, Anm. 78. Oexle, Die »sächsische Welfenquelle« (wie Anm. 52) 472 mit Anm. 136. Anhang IV der Sächsischen Weltchronik (wie Anm. 52) 85f.: De Heinric, Welpes broder, de darvore bescreven is, de horde van alden tiden van deme ersten Ethiken, we he sime sone untweken were unde were gevaren an’t gebirge unde were darbeleven an sines lives ende unde were aldar begraven; unde wolde de warheit bevinden. He let upgraven si graf unde dere de mit eme dar begraven weren. Do he de warheit dar bevant, he let ene kirken buwen uppe dat gebeine; he let oc den lichnamen bishop Conrades upnemen, den de Got mit menegen tekenen erede, alse he vore hadde gedan.; Annalista Saxo a. 1126 (wie Anm. 52) 764f.: Qui Heinricus a longevis audiens ea que superius dicta sunt de Ethicone primo, veniens ad loca montana, in quibus a filio secedens habitaverat, ubi quoque sepultus fuerat, causa experientie, iussit sepulcrum illius et eorum qui cum eo tumulati fuerant aperiri; veraque esse conprobans, eclesiam in eodem loco super ossa illorum fabricari iussit. Ipso etiam presente, corpus iam dicti sancti Conradi de tumulo honorifice levatum est. Vgl. dazu Oexle, Die »sächsische Welfenquelle« (wie Anm. 52) 458f. mit Anm. 91 (Verweis auf die ältere Literatur).

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Begründungen

genheit enthält, hat der Autor der sächsischen Welfenquelle das gleiche Basiswissen besessen, sich aber anscheinend zusätzlich in schriftlichen Quellen über die karolingische Heirat kundig gemacht138. Um beide Aussagen in Übereinstimmung bringen zu können, gab er dem Schwiegervater Ludwigs des Frommen zwei Namen – Eticho und Welf. Auch im Zusammenhang mit Konrad von Konstanz zeigt er sich besser informiert, denn er bemühte sich anders als der welfische Genealoge nicht, den karolingischen Traditionskern durch pseudo-genaue genealogische Konstruktionen mit der Generation des Bischofs von Konstanz zu verbinden139. So nennt der Autor der sächsischen Welfenquelle Konrads angeblichen Vater Heinrich nicht bzw. ordnet ihn der karolingischen Frühzeit des Geschlechts zu140. Ansonsten beschränkt er sich auf die Angabe, Konrad und seine Brüder Rudolf und Eticho-Welf hätten zur selben Familie gehört und zur Zeit König Heinrichs I. gelebt. Konrad rühmt er noch als Zeitgenossen Ulrichs von Augsburg141. Ab da wechselt er vorübergehend deutlich seinen Stil und beschränkt sich auf dürre genealogische Angaben. Unter Auslassung Welfs III. überbrückt der Autor mehrere Generationen, um erst über Azzo wieder etwas ausführlicher zu handeln142. Seine Generationenfolge stimmt also ab Konrad von Konstanz mit der des welfischen Genealogen überein143, da beide auch Rudolf, den Bruder Kon-

138 Oexle, Die »sächsische Welfenquelle« (wie Anm. 52) 459f. 139 Vgl. Oexle, Die »sächsische Welfenquelle« (wie Anm. 52) 473f. zur Gliederung des gesamten Textes ebd., 445ff.; Ders., Bischof Konrad (wie Anm. 52) 27f. 140 Anhang IV der Sächsischen Weltchronik (wie Anm. 52) 81ff.; Annalista Saxo a. 1126 (wie Anm. 52) 764. 141 Anhang IV der Sächsischen Weltchronik (wie Anm. 52) 83: Van deme slechte van tide to tide quemen der brodere, en Rodolph, Welp unde Conrad. Dese waren bi koning Heinrikes tiden, de vader was keiser Otten des groten, de Maideburch stifte.; Annalista Saxo a. 1126 (wie Anm. 52) 764: Ex qua progenie per successiones temporum descenderunt tres fratres, Rodolfus, Eticho, qui et Welphus, et Conradus; qui tempore Heinrici regis, patris Ottonis Magni, extiterunt. Ex quibus Conradus Constantiensem rexit eclesiam, et cum sancto Othelrico Augustensi episcopo prudentia et sanctitate vite claruit; der Verweis auf Ulrich legt eine Verbindung mit der Heiligsprechung Konrads nahe, da Ulrich in der damals verfaßten Vita Konrads eine besondere Rolle spielt, vgl. Oexle, Die »sächsische Welfenquelle« (wie Anm. 52) 473f.; Ders., Bischof Konrad (wie Anm. 52) 27f. 142 Anhang IV der Sächsischen Weltchronik (wie Anm. 52) 83: Rodolf gewan greven Welpe, greve Welp gewan Cunizam. Cuniza ward gegeven marcgreven. Azoni van Langbarden van den burgen Calun unde Esten.; Annalista Saxo a. 1126 (wie Anm. 52) 764: Rodolfus genuit Welphum comitem, Welfus genuit Cunizam, Cuniza nupsit Azoni marchioni de Langobardia de castris Calun et Estin, que in Langobardia sita sunt, genuitque ei Welfum seniorem; zu den Unterschieden zwischen der Weltchronik und dem Annalisten vgl. Oexle, Die »sächsische Welfenquelle« (wie Anm. 52) 451ff. 143 Vgl. auch Oexle, Die »sächsische Welfenquelle« (wie Anm. 52) 476 mit Anm. 150, der dies auch für die Historia Welforum annimmt und dabei übersieht, daß diese Welf III. verzeichnet.

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rads, und Rudolf, den Vater Welfs II., zu einer Person zusammenziehen144. Hier ist also ein gemeinsamer Bestand beider Texte zu erkennen. Sie dürften daher auf eine gemeinsame Vorlage zurückgehen, die bis zu Bischof Konrad zurückreichte, während die karolingischen Verbindungen bis in die Zeit Heinrichs des Schwarzen mündlich erinnert und wohl beginnend mit der Aufzeichnung der Genealogia Welforum allmählich konkretisiert und korrigiert wurden145. Im gemeinsamen Grundstock beider Texte war auffälligerweise kein Platz für Welf III.; dies weist auf Welf IV. hin, den Welf III. ja gerade nicht zum Erben eingesetzt hatte und über den deshalb eine damnatio memoriae verhängt wurde, an die sich erst die Historia Welforum um 1170 nicht mehr anschließen mußte. So läßt sich vermuten, daß Welf IV. stark auf das Traditionswissen seiner Familie eingewirkt hat, ja daß er es möglicherweise erstmals aufzeichnen ließ. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, daß man auch im Kloster Zwiefalten über die Verwandtschaft zwischen Bischof Konrad und Welf IV. unterrichtet war. Diese Information dürfte auf Welf selbst zurückgehen, der als der erste frei gewählte Vogt des Klosters fungierte. Bezeichnend ist nun, daß unser Gewährsmann, der Chronist Berthold von Zwiefalten, dieselbe Generationenund Namenfolge angibt146, wie sie auch in der Genealogia Welforum und der sächsischen Welfenquelle zu finden ist, obwohl er diese nicht gekannt hat147. Er beginnt mit Konrad und dessen Bruder Rudolf, nennt dann dessen Sohn Welf II., den er mit seinem gleichnamigen Sohn zu einer Person zusammenzieht, samt seiner Tochter Kuniza und endet mit Welf IV. Die anderen Welfen, die in Wahrheit noch zwischen den genannten einzuordnen sind, nennt Berthold ebensowenig wie den Sohn und Nachfolger Welfs IV. in der Vogtei, Heinrich den Schwarzen, den er lediglich an anderer Stelle erwähnt. Möglicherweise haben wir also hier eine frühe Spur der welfischen Hausüberlieferung vor uns, die auf den geborenen Italiener Welf IV. zurückgeht. Dafür spricht eine weitere Beobachtung. Heinrich der Schwarze, unter dem die Genealogia aufgezeichnet wurde, schenkte dem Namen ›Welf‹ augenscheinlich geringere Beachtung als der Autor dieser Quelle, denn der Herzog nannte seinen ältesten Sohn ›Heinrich‹ und erst der zweite erhielt den Welfen144 Oexle, Bischof Konrad (wie Anm. 52) 29. 145 So bereits Oexle, Die »sächsische Welfenquelle« (wie Anm. 52) 476ff. 146 Erich König – Karl Otto Müller (Bearb.), Chronicon, Die Zwiefalter Chroniken Ortliebs und Bertholds (Schwäbische Chroniken der Stauferzeit 2), 1941, c. 29, 230 = Luitpold Wallach (Bearb.), Berthold of Zwiefalten’s Chronicle: Reconstructed and Edited with an Introduction and Notes, in: Traditio 13 (1957) 153–248, hier c. 31, 215: Hic [sanctus Counradus] nobilissimo Alamannorum sanguine apud Altdorf est procreatus. Nam Couniza feminarum nobilissima, Welphonis primi nostri advocati mater, filia fuit Welphonis Carintiorum ducis, qui fuit Roudolfi fratris sancti Counradi filius; vgl. Oexle, Bischof Konrad (wie Anm. 52) 39. 147 Vgl. Wattenbach – Schmale (wie Anm. 50) 314 und 316.

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Begründungen

namen148. In der Genealogia fällt die positive Rolle des ersten Trägers des Namens ›Heinrich‹ auf, dessen Lehnseid dem Kaiser gegenüber vollkommen wertfrei mitgeteilt wird. Auch in der sächsischen Welfenquelle, aufgezeichnet unter Heinrich dem Stolzen, spielte jener Heinrich bezeichnenderweise eine besondere Rolle, wird doch die Wandersage vom listigen Landerwerb (hier mit dem goldenen Pflug) auf ihn bezogen149. Er war nicht in Weingarten begraben worden und hatte auch keinen Eingang in das Weingartener Necrolog gefunden150. Nicht nur Eticho, sondern folglich auch er mußten ›gesucht‹ werden, bevor man sich ihrer erinnern konnte. Dabei wird man Heinrich dem Schwarzen und seinem Sohn Heinrich dem Stolzen ein besonderes Interesse an ihren Namensvettern unterstellen dürfen, während ›Welf‹ für sie wohl nur von sekundärer Bedeutung war. Daher und wegen ihrer engen Beziehungen zu Heinrich V. und Lothar von Supplinburg ist es recht unwahrscheinlich, daß unter ihnen die Anbindung an Catilina konstruiert wurde151. Da auch Welf V. kaiserlich gesinnt war, kann sie nur unter Welf IV. entstanden sein, wenn man solche Überlegungen nicht schon für die Zeit Welfs II. oder Welfs III. annehmen will. Zusammenfassend bleibt festzuhalten: Die Gleichsetzung von Welfe mit Löwe über die Gedankenkette Welf – catulus – catulus leonis – leo, wie sie bei den Welfen des 12. Jahrhunderts zu beobachten ist, ist nur eine der damals geläufigen Etymologien des Welfennamens. Sie hat den Nachteil, daß sie zeitgenössisch nicht belegt und lediglich von der Forschung erschlossen ist. Ganz anders die gedankliche Verbindung von Welf und Catilina über das Wort catulus. Die Behauptung der Genealogia Welforum, der Welfenname sei von den Angehörigen des Geschlechts eine Zeit lang urbanitatis causa abgelehnt worden, wies auf das ambivalente Verhältnis der Welfen zum Namen ›Welf‹ hin, dessen Bedeutung ›junger Hund, Hündchen‹ durchaus Anlaß zum Spott geben konnte. So wollten sie ihren Namen in einen alten und vornehmen Kontext stellen, einen Kontext, der dem Selbstverständnis der Familie angemessen war. Welf II. war der Genealogia Welforum zufolge der erste Träger des Namens ›Welf‹ überhaupt, eines Namens, der von dem vornehmen Römer Catilina abgeleitet wurde. Es war eher ein genealogischer Zufall, daß Welf von seinem gleichnamigen Sohn beerbt wurde. Aber damit zeichnete sich eine Namengebungstradition in der Familie 148 Vgl. Seiler, Furor (wie Anm. 8) 145. 149 Weitere Beispiele bei Jakob Grimm, Deutsche Rechtsaltertümer Bd. 1, 41899, 124ff.; vgl. allgemein etwa Gerd Althoff, Gloria et nomen perpetuum. Wodurch wurde man im Mittelalter berühmt? in: Gerd Althoff u. a. (Hg.), Person und Gemeinschaft im Mittelalter. Festschrift für Karl Schmid zum 65. Geburtstag, 1988, 297–313; Thomas Zotz, Odysseus im Mittelalter?. Zum Stellenwert von List und Listigkeit in der Kultur des Adels, in: Harro von Senger (Hg.), Die List, 1999, 212–240, der 239 auch kurz auf Heinrich eingeht. 150 Oexle, Bischof Konrad (wie Anm. 52) 32f. 151 Auch der pro-staufische Burchard von Ursberg verzichtete darauf, Catilina in diesem Zusammenhang zu erwähnen, Burchard von Ursberg, Chronik (wie Anm. 53), 8f.

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ab, die von seinem italienischen Enkel aus dem Haus der Otbertiner ganz gezielt aufgenommen wurde, als dieser als Welf IV. das Erbe der Welfen in Süddeutschland antrat. Er kommt daher am ehesten für den Versuch in Frage, dem Namen in eine möglichst alte und vornehme Tradition einzuordnen. Sein Widerstand gegen Heinrich IV. paßt sehr gut zu dem altrömischen Aufrührer Catilina. Auch der Hinweis der Genealogia Welforum auf die urbanitas weist auf den italienischen Hintergrund dieser Etymologie hin und damit abermals auf Welf IV. Und schließlich war dessen Großvater der älteste ihm bekannte ›Welf‹, und bezeichnenderweise nahm der welfische Genealoge gerade dessen Erwähnung zum Anlaß, um den Welfennamen von Catilina abzuleiten. Damit bot sich an, die Rolle Welfs IV. neu zu bewerten, der vermutlich den Anstoß für die Beschäftigung der Welfen mit ihrer Vergangenheit gab. Unter ihm wurde wohl ein Text, vermutlich in Form einer Genealogie, abgefaßt, der die Familiengeschichte seit Bischof Konrad von Konstanz verzeichnete.

Orts- und Personenregister Im Register erscheinen folgende Abkürzungen: Bf. = Bischof; Br. = Bruder ; Ebf. = Erzbischof; Gem. = Gemahlin; Gf. = Graf; Gfn. = Gräfin; Hl. = Heiliger ; Hzg.=Herzog; Hzgn. = Herzogin; Kg. = König; Ks. = Kaiser; Ksn. = Kaiserin; M. = Mutter ; S. = Sohn; Schw. = Schwester ; T. = Tochter.

Aachen 52, 56–57, 97, 293, 295, 303, 306–307, 310, 314–315, 319 Abdinghof 86 Abraham, bibl. Patriarch 39 Achis, S. Maochs 142 Adalbero, Bf. von Metz 63 Adalbert II., Gf. von Ballenstedt 211, 213 Adalbert II., Gf. von Ebersberg 75 Adalbert, S. Berengars II. 123 Adalbert, Ebf. von Hamburg-Bremen 209–211, 216–217, 219–220, 222 Adalbert, Ebf. von Mainz 92–93, 96–97 Adalhard, Abt von Corbie 295, 317–318, 320 Adam von Bremen, Geschichtsschreiber 88, 216, 219 Adela von Flandern, Gem. Kg. Knuts II. von Dänemark 86 Adela, Gem. Markgf. Ottos von Meißen u. Markgf. Dedis von der Niederlausitz 211 Adelheid von Burgund, Gem. Ottos I., Ksn. 124 Adelheid, Markgfn. von Turin 66 Aethelbald, Kg. von Mercien 285 Agilolfinger 254, 264, 273–275 Agnes, Gem. Heinrichs III., Ksn. 72, 204–205 Aistulf, Kg. der Langobarden 195 Albert Azzo II. d’Este, Markgf. von Mailand 61, 66–69, 77, 80, 338–340, 350 Albert, Abt von Stade, Geschichtsschreiber 343

Albinus, Kämmerer Leos III. 291, 293, 308–309 Alemannen 123, 138, 161, 191, 204, 272 Alemannien, auch Alamannien 264, 267, 278, 332, 335 Alkuin, Abt von Saint-Martin in Tours, Gelehrter u. Berater Karls des Großen 294–296, 303, 307–314, 317, 319–320 Alpen 93, 123–124, 127 Altaich 71, 74, 212–214, 216 Altdorf 61, 63, 66, 74, 76, 80, 322–323, 341, 338 Altmann von Hautvillers, Hagiograph 239, 241, 256 Altmann, Abt von Ebersberg 75 Alto, Hl. 341 Altomünster 80, 342 Altsachsen 131, 140, 147–148, 152–153, 165, 207 Ammersee 74 Ammianus Marcellinus, Geschichtsschreiber 138 Andhunus, Adressat im Umfeld des Bonifatius 179–181, 184 Andreas I., Kg. von Ungarn 72 Andreas, Hl., Apostel 318 Angelsachsen 130, 134–135, 137–139, 141–143, 146, 148, 152, 158, 165, 286 Annalista Saxo, anonymer Geschichtsschreiber 88 Anno II., Ebf. von Köln 209, 222 Aquitanien 30, 111, 113–114, 118, 261, 264–265, 282 Aregund, Gem. Kg. Chlothars I. 108

356 Argengau 328 Aribert, Ebf. von Mailand 68 Arn, Ebf. von Salzburg 294–296, 303, 306–308, 310–313, 315, 319–320 Arnsberg 93–94 Arnsberger 92 Arnulf von Kärnten, Kg. des Ostfrankenreiches, Ks. 54–55, 119–120, 122 Arnulf III., Gf. von Flandern 89 Arnulf, Bf. von Metz 251 Arnulfinger 112, 173, 176–177, 179, 181, 183, 185–186, 188, 191, 196–197, 227, 230–231, 243–244, 258, 282, 286–287 Arpaden 220 Asdod 142 Askalon 142 Astronomus, anonymer Geschichtsschreiber 51–52 Attigny 56 Augsburg 64 Austrasien 110, 227–228, 232–234, 238, 240–241, 244–246, 248–255, 257, 259, 264–265, 267, 269, 277, 280, 287 Aventinus (Johann Georg Turmair), Geschichtsschreiber 279 Balduin V., Gf. von Flandern 89, 219 Balduin VI., Gf. von Flandern 79, 89 Balduin VII., Gf. von Flandern 86 Balthild, Gem. Chlodwigs II. 233–234, 252–255 Barden 131, 163–164 Bardengau 163–164, 167 Bayern 47, 54–55, 70–72, 76, 115, 117, 123, 189, 191, 204, 206, 264, 271–275, 278, 285, 325, 342 Beatrix, Gem. Markgf. Bonifaz’ III. 66, 73, 77 Beda Venerabilis, Geschichtsschreiber 133–144, 146–150, 152–153, 156, 158 Beichlingen 211 Benediktbeuren 76 Berengar I., Markgf. von Friaul, Kg. von Italien, Ks. 122 Berengar II., Markgf. von Ivrea, Kg. von Italien 122–123

Orts- und Personenregister

Bernhard, Kg. von Italien 29 Bernhard II., Hzg. von Sachsen 58, 88–90, 220 Bernhard III., Gf. von Werl 90–91 Bernhard, S. Karls des Dicken 119 Bernold, Geschichtsschreiber 67 Bertha von Turin, Gem. Heinrich IV., Ksn. 77, 210 Berthold, Hzg. von Kärnten 221 Berthold, Abt von Zwiefalten, Geschichtsschreiber 351 Berthold von Reichenau, Geschichtsschreiber 73–74 Bertrada, Gem. Pippins des Jüngeren 41, 188, 195, 277, 289 Bilichild, Gem. Kg. Childerichs II. 228, 255 Billunger 88, 90–91, 206, 217–220, 222, 342 Bocholt 160 Bodman 77 Bonifatius, Missionar u. Bf. 41, 131, 179, 180, 189, 275, 278, 283–288 Bonifatius, Förderer des Klosters Weißenburg 239 Bonifaz III., Markgf. von Tuszien 66 Bonitus, Bf. von Clermont 243–244 Bonizo, Bf. von Sutri 345 Braunschweig 323–325, 343 Brenner 64 Brˇetislav I., Hzg. von Böhmen 69 Britannien 138, 148–149 Brukterer 131, 154, 166 Brun, S. Ottos I. des Großen 337 Brun, Ebf. von Köln 123 Brun, Bf. von Würzburg 75 Brunisberg 159 Bruno, Bf. von Merseburg, Geschichtsschreiber 200, 203, 205–209, 211, 213, 218–219 Bruno, einer der optimates der Engern u. Ostfalen 159, 165, 167 Buckigau 159 Burchard II., Bf. von Halberstadt 206 Burchard, Bf. von Münster 94

Orts- und Personenregister

Burchard, Propst des Stiftes Ursberg, Geschichtsschreiber 81, 330–332, 335 Burgscheidungen 211 Burgund 120, 241, 264–265, 267, 269, 280–282, 287 Burgunder 20, 24 Byzantiner 104, 123, 127 Byzanz 38, 40, 42, 44–45, 59, 104, 114, 121, 221, 304 Cäcilie, T. Kg. Knuts II. von Dänemark 86 Caedwalla, früher Kg. der Westsachsen 146 Caesar 339–340, 342 Calvelage-Ravensberg 94 Campulus, saccelarius 291, 306–307 Candidus (Wizo), Schüler Alkuins 308 Catilina, röm. Senator 333–334, 336, 339–342, 344, 352–353 Catulus (Quintus Lutatius), röm. Konsul 340 Charibert I., Kg. der Franken 108 Charibert II., Kg. von Aquitanien 26, 110 Charibert, Gf. von Laon 277 Chelles 262, 269 ChHvremont 270–271 Chiemsee 68 Childebert I., Kg. der Franken 25, 106–108 Childebert II., Kg. der Franken 21, 26, 238, 247 Childebert III., Kg. der Franken 230 Childebertus adoptivus 26, 228–231, 235–246, 248–252, 254, 256–257, 259 Childebrand, Halbbr. Karl Martells, Fortsetzer der Fredegarchronik 42, 173–176, 184, 256, 265–268, 279, 281–282, 288–289 Childerich II., Kg. der Franken 228, 244–245, 248, 253–255 Childerich III., Kg. der Franken 26, 179, 191 Chilperich I., Kg. der Franken 26, 108, 236, 247 Chimnechild, Gem. Kg. Sigiberts III. 228–229, 248–250, 252–255, 259

357 Chlodoald, S. Kg. Chlodomers 25 Chlodomer, Kg. der Franken 24, 106 Chlodulf, Bf. von Metz 255 Chlodwig I., Kg. der Franken 27, 42, 105–110, 137, 139, 143 Chlodwig II., Kg. der Franken 110, 233–234, 239, 240–242, 245, 251–252 Chlodwig III., Kg. der Franken 254 Chlodwig, Thronprätendent 251 Chlothar I., Kg. der Franken 25, 106–110, 236, 251 Chlothar II., Kg. der Franken 26, 110, 245, 247 Chlothar III., Kg. der Franken 228, 245, 251–252, 254–255 Chramn, S. Chlothars I. 107–108 Chrodechildis, Gem. Kg. Chlodwigs I. 25, 106 Chrotrud, Gem. Karl Martells 286 Chunsina, M. Chramns 108 Cicero 218, 339 Clichy 279 CompiHgne 46 Corbeny 48 Dagobert I., Kg. der Franken 45, 110, 233–234, 241, 245, 252, 254 Dagobert II., Kg. der Franken 26, 228, 230, 233, 244, 248–250, 253–255 Dänemark 131, 220 Dänen 87, 219 Daniel, bibl. Prophet 158 Darius I., Herrscher von Persien 140 David, bibl. Kg. 40, 43, 142 Dedi von der Niederlausitz, Markgf. 206, 211–214, 222–223 Dedi II., S. Markgf. Dedis von der Niederlausitz 212 Detmold 160 Dido, Bf. von Poitiers 233, 250, 253 Diedenhofen 58 Diemel 131 Dietrich II., Hzg. von Oberlothringen 97 Dietrich V. der Friese, Gf. von Holland 89 Dietrich VI., Gf. von Holland 97 Dietrich von Elsass, Gf. von Flandern 98

358 Dietrich von Irsee, Gefolgsmann der Welfen 78 Dietrich von Winzenburg, Bf. von Münster 94 Dionisius, Hl. 46, 279 Dodiko, Gf. von Warburg 79 Donau 69 Dortmund 93 Dreingau 160 Droctegang von JumiHges, Abt 192 Drogo, S. Pippins II. des Mittleren 112, 232 Drogo, S. Karlmanns, N. Pippins III. des Jüngeren 171–172, 174–185, 188–197, 232 Düren 159, 180, 189 Dussel 79 Eberhard, Hzg. von Franken 123–124 Eberhard, Gf. von Nellenburg 210, 216–218 Ebersberg 69, 75–76, 80, 337 Ebroin, Hausmeier 252, 254, 277 Edgitha, Gem. Ottos I. des Großen 124 Edilla, adlige Dame 79 Egino, Vasall Ottos von Northeim 212–213, 215 Eichstätt 72 Einhard, Biograph Karls des Großen 39, 45, 176, 186, 191, 196 Eisleben 92, 167 Ekkehard I., Dekan des Klosters St. Gallen 335 Ekron 142 Elbe 131, 158, 160, 163–164 Eleutherius, Hl. 46 Elisa, bibl. Prophet 40 Elisina, Hof in der Lombardei 64 Engern 132, 153–156, 158–163, 165–169 Ppinay-sur-Seine (Spignolio villa) 233 Erchanbert, Chronist 175 Eresburg 159 Ernst, Hzg. von Schwaben 65 Erpho, Gf. von Padberg 87 Eschwege 216 Este 62, 324

Orts- und Personenregister

Eticho, Stammvater der Welfen 332, 334, 336, 343, 347, 349, 350, 352 Ewalde, Brüder u. angelsächs. Missionare 134–135, 143 Felix, Bf. von Urgel 314, 319 Fiesole 340 Flandern 84–90, 96–98 Flechtdorf 96 Flodoard von Reims, Geschichtsschreiber 55–56 Florentius I., Gf. von Holland 89 Florentius II., Gf. von Holland 97 Florenz 73, 340 Fluvius Vidula (Vesle) 240 Folcbraht, amicus u. familiaris Lebuins 151 Forchheim 120 Formosus, Papst 122 Francia 114, 127, 160, 164, 258, 273, 275, 282 Franken 18, 20, 23–24, 26–28, 33, 37. 39, 42, 45, 47, 52, 55, 103–104, 106, 108, 119–121, 123, 130, 132, 136–140, 144–145, 147, 149, 152–153, 155, 159–162, 166–168, 171, 178–182, 185, 188, 190–196, 202–205, 213, 229, 232–234, 237, 239, 245–246, 248–251, 253–254, 256–258, 269–274, 278, 281, 291–293, 295, 298–311, 313, 315–316, 318–320, 335, 342 Frankenreich 15–16, 26, 35, 38, 46, 48, 103, 105, 108–110, 112–114, 125–126, 135, 158, 184, 238, 245–247, 253, 255, 258–259, 263–264, 267, 269, 272, 280, 282, 297–299, 303, 332 Frankfurt 196 Fredegar (sog.), Geschichtsschreiber 41–42, 52, 102, 176, 233–234, 241, 243, 256–258, 262, 264, 266–268, 272, 278, 281–283, 287–288 Freyja, nord. Göttin 329 Friedrich I. Barbarossa, Ks. 79, 321 Friedrich, Hzg. von Lothringen 63 Friedrich II., Hzg. von Schwaben 83, 93 Friedrich, Pfalzgf. 206

Orts- und Personenregister

Friedrich der Streitbare, Gf. von Arnsberg 92–96 Friedrich, Gf. von Berg 206 Friedrich, Ebf. von Köln 83, 85, 91–93, 96–98 Friesen 92, 135, 164 Friesland 90, 135 Fulda 53–55, 165, 330 Fulrad, Abt von Saint-Denis 275–276 Gairefrid, Gf. von Paris 275–276 Galbert von Brügge, Geschichtsschreiber, gräflicher Notar 83 Gallien 43, 139, 193 Gath 142 Gaza 142 Gebhard, Bf. von Eichstätt 72 Gebhard III., Bf. von Konstanz 347–349 Gebhard, Bf. von Regensburg 69–70, 72–73, 76 Germanus, Hl. 146, 87 Gerold, bayer. Präfekt 318 Gertrud von Haldensleben, Hzgn. von Sachsen, Gfn. von Formbach 94 Gertrud von Braunschweig, Markgfn. von Meißen 94 Gertrud von Northeim, Gfn. von Ballenstedt 97 Gertrud von Sachsen, Gem. Gf. Florentius’ I. von Holland u. Gf. Roberts I. von Flandern 88–90 Gertrud/Petronilla, Gem. Gf. Florentius II. von Holland 97–98 Gertrud, Äbtissin von Nivelles 250, 252 Geza I., Arpadenhzg. 221 Gisela, Gem. Ks. Konrads II., Ksn. 66 Gisela, Schw. Karls des Großen 262 Giselbert, Hzg. von Lothringen 56, 124 Gleiberg 63 Goslar 94, 96, 200, 202, 212, 214, 216, 223 Gottfried III., Hzg. von Lothringen 219 Gottfried der Bärtige, Markgf. von Tuszien 73, 77 Gottfried, Gf. von Cappenberg 95 Gottfried, Gf. von Namur 83

359 Gottfried von Cuyk, Gf. von Werl-Arnsberg 95 Gregor VII., Papst 67, 222 Gregor, Bf. von Tours, Geschichtsschreiber 25, 106, 108, 138, 247, 251 Grifo, S. Karl Martells 171, 173–174, 176, 184–185, 188–190, 192–194, 196–197, 264–272, 276–289 Grimoald, Kg. der Langobarden 254 Grimoald, bayer. (Teil-)Hzg. 272 Grimoald I. der Ältere, Hausmeier 227–228, 230–237, 239, 241, 243–250, 252–259 Grimoald II. der Jüngere, Hausmeier 112, 231 Gundowald, dux 26 Gundowald, Thronprätendent 251 Gunhild, T. Kg. Knuts des Großen 219 Gunthar, S. Kg. Chlodomers 25 Guntheuca, Gem. Kg. Chlodomers 25 Gunthram(n), Kg. der Franken 26, 108, 238, 247 Hadeln 131 Hadrian I., Papst 291, 306 Hadubrand, S. Hildebrands u. Figur des Hildebrandlieds 327 Harald III. Hardrada, Kg. von Norwegen 220 Harald [Klak], Heriold, dän. Herrscher 52 Hardrad, fränk. Gf. 49 Haruden 131, 165 Harz 200 Harzburg 199, 222–223 Hasung 216 Hatto, Ebf. von Mainz 121 Hattuarier 166 Heddo, Bf. von Straßburg 278 Heinrich I., Kg. des Ostfrankenreichs 55–56, 123, 127, 350 Heinrich II., röm.-dt. Kg. u. Ks. 36, 58, 63–65, 204–205, 218, 222 Heinrich III., röm.-dt. Kg. u. Ks. 63, 68–78, 81, 204, 215–216, 218–219

360 Heinrich IV., röm.-dt. Kg. u. Ks. 71, 77, 90, 199–202, 204–205, 208–223, 342, 348, 353 Heinrich V., röm.-dt. Kg. u. Ks. 83–84, 91–94, 96, 352 Heinrich I., Hzg. von Bayern 123 Heinrich V., Hzg. von Bayern 63–64 Heinrich IX. der Schwarze, Hzg. von Bayern 80, 330, 343, 347, 349, 351–352 Heinrich X. der Stolze, Hzg. von Bayern u. Sachsen 331, 342–343, 351–352 Heinrich der Löwe, Hzg. von Bayern u. Sachsen 321, 323–325, 342 Heinrich von Schweinfurt, Markgf. 223 Heinrich, Gf. von Rietberg 92–93 Heinrich, Vogt des Paderborner Hochstiftes 94 Heinrich, S. Ottos I. des Großen 337 Heinrich »mit dem goldenen Wagen«, welf. Stammvater 332, 349–350 Heinrich, Br. Welfs II. 336–337 Heinrich II., Bf. von Paderborn 86, 90–93, 95 Heinriche von Waiblingen 321 Helmhold von Bosau, Geschichtsschreiber 342–343 Hemma, Gem. Ludwigs des Deutschen 334 Heribert II., Gf. von Vermandois 56 Hermann IV., Hzg. von Schwaben 66 Hermann Billung, Gf. im Bardengau, sächs. dux 89, 206, 222 Hermann, Br. Hzg. Ordulfs von Sachsen 217–218 Hermann von Reichenau, Geschichtsschreiber 66, 70–71 Hersfeld 206, 214 Hessi, einer der optimates der Engern u. Ostfalen 165, 167 Hezilo, Bf. von Hildesheim 212 Hibernicus exul, anonymer Dichter 47 Hildebrand, Held des Hildebrandlieds 327 Hildegard, T. Etichos in der Genealogia Welforum 334, 349

Orts- und Personenregister

Hildegunde von Geseke, M. Dodikos u. Sigebodos von Warburg 79–80 Hildesheim 212 Hiltrud, T. Karl Martells 278 Hilwartshausen 79 Hinkmar, Ebf. von Reims 5 Hohenseeburg 167 Hohensyburg 159 Honorius Augustodunensis, Geschichtsschreiber 65, 68 Hötensleben 205–206 Hugbert, Hzg. von Bayern 272–274 Hugbert, Pfalzgf. 272, 277 Hugo Capet, Kg. des Westfrankenreiches 125 Hugo von Vienne, Kg. von Italien 122 Hugo der Große, dux Francorum 56 Hugo Abbas, S. Konrads des Älteren 332 Hugo, S. Kg. Lothars II. 54–55 Hugo, Enkel Gf. Welfs 332 Humber 148 Hunald, Hzg. von Aquitanien 263 Ida, Gem. Gottfrieds von Cappenberg 95 Imiza, Gem. Welfs II. 61–67, 76–78, 80–81, 338, 342 Ingrid, T. Kg. Knuts II. von Dänemark 86 Ingund, Gem. Kg. Chlothars I. 108 Iren 137 Irland 134, 138–139, 165, 228, 230, 248–250, 253–254, 259 Irmentrud, Gem. Gf. Isenbarts, Sagengestalt 329 Irmgard, Gem. Ottos von Schweinfurt 66 Irmina von Oeren, Gem. Pfalzgf. Hugberts 272, 277 Irminfrid, Kg. der Thüringer 57 Isenbart, Vorfahre der Welfen, Sagengestalt 329 Isidor, Bf. von Sevilla 65, 68, 326 Island 17 Italien 29, 55, 61–62, 64, 66, 69, 73, 76–77, 93, 113, 119–120, 122–124, 127–128, 176, 193, 196, 261, 301, 305, 325, 338–341, 345–346, 353

361

Orts- und Personenregister

Jerusalem 86 Josua, bibl. Prophet 173 Judith, Gem. Ludwigs des Frommen, Ksn. 116, 322, 332, 334, 349 Judith-Sophie, Gem. Kg. Salomons von Ungarn 221 Judith von Flandern, Gem. Welfs IV. 348 Justinian I., byzant. Ks. 40 Kaiserswerth 204, 209 Kapetinger 125 Karl I. der Große, Kg. der Franken, Ks. 15, 23, 27–29, 33, 38–39, 46–51, 56–57, 104, 108–109, 112–115, 130, 132, 152, 155, 157–160, 163–164, 166–167, 176–177, 181, 183, 185–188, 197, 202, 234, 239, 256, 261–263, 265, 288–289, 291–320 Karl II. der Kahle, Kg. der Franken 30–32, 52–53, 55, 116, 118, 276, 334 Karl III. der Dicke, Kg. der Franken, Ks. 53, 55, 117, 119, 122 Karl von der Provence, Kg. der Franken 117 Karl von Aquitanien, Kg. der Franken 118 Karl der Jüngere, Kg. der Franken 15, 28–29, 113–114, 160, 315–316 Karl, Hzg. von Niederlothringen 125 Karl der Gute, Gf. von Flandern 83–87, 89, 91, 96–98 Karl Martell, Hausmeier 112, 166, 173, 177, 185, 195, 227, 231–232, 242, 256–258, 261–283, 285–286, 288–289 Karlmann, S. Kg. Pippins III. des Jüngeren, Kg. der Franken 33, 46, 48, 112–113, 187–188, 277 Karlmann, Kg. von Bayern und Italien 54, 117 Karlmann, Kg. des Westfrankenreiches 53–54, 119 Karlmann, S. Kg. Karls des Kahlen 118 Karlmann, Hausmeier 171, 172, 167, 174–186, 188–197, 231, 263–271, 278, 280, 282–287, 289 Kärnten 63, 69, 71–72, 76

Karolinger 16, 27, 30–32, 41, 43, 45, 47, 50, 59, 103, 106, 118, 122–123, 127–128, 168, 172–173, 182, 184, 191, 202, 231–232, 234–235, 238, 244, 256, 261–262, 264, 267, 269, 271–272, 274, 288–289, 318, 322, 334, 346, 350–351 Kassel 216 Knut der Große, Kg. von Dänemark 219–220 Knut II., Kg. von Dänemark 86–87 Köln 92, 96–97, 134 Konrad I., Kg. des Ostfrankenreiches 123, 335 Konrad II., röm.-dt. Kg. u. Ks. 59, 65–66, 68, 204 Konrad I., Hzg. von Bayern 70–73 Konrad I. der Ältere, Gf. im Argengau 328, 332 Konrad II. der Jüngere, Markgf. von Transjuranien 332 Konrad II., Gf. von Werl-Arnsberg 90–91 Konrad, Enkel Gf. Welfs, Gf. von Ponthieu 332 Konrad, S. Welfs II. 337 Konrad, Bf. von Konstanz 347–351, 353 Konrad, Propst des Busdorfstiftes 87 Konrad von Bayern, S. Hzg. Heinrichs IX. des Schwarzen 349 Konstantin I. der Große, röm. Ks. 316 Konstantin VI., byzant. Ks. 295 Konstantin VII., byzant. Ks. 40 Konstantin II., (Gegen-)Papst 305, 319 Konstantinopel 304 Konstanz 348–349 Krain 75 Kunigunde, Gem. Heinrichs II., Ksn. 63–64, 66 Kuniza, Gem. Markgf. Albert Azzos 61, 66–67, 69, 80, 324, 337–338, 351 Kuno, Ministeriale, Erzieher Heinrichs IV. 215 Lambert, Kg. von Italien, Ks. 122 Lampert von Hersfeld, Geschichtsschreiber 79, 202–203, 207–209, 213–217, 219

362 Landulfus, Anführer der Mailänder Pataria 345 Langobarden 33, 47, 104, 107, 116, 190, 192–195, 254, 257–258, 261, 273–274, 305, 318, 345 Laon 269, 271, 277–278, 283 Lebuin, Missionar 133, 143, 149, 151–152 Lenne 166 Leo III., Papst 38–39, 41, 291–320 Leobardus, Hl. 242 Leopold, Markgf. von Österreich 83 Lesum 220 Leutfrid, Abt von Croix-Saint-Leufroy 277 Linzgau 328 Lippe 160, 166 Lippeham 160, 310, 316–317, 319 Liudger, Anwesender bei der Wahl Heinrichs II. 58 Liudolf, Hzg. von Schwaben 29, 124, 337 Liudolfinger 123, 203–205 Liudprand, Bf. von Cremona 340, 345 Liupold, Gf. von Werl 87 Liutprand, Kg. der Langobarden 258, 273 Loches 263 Lochtum (Goslar) 210 Lognai 131 Lombardei 64 Lorsch 45, 164, 167, 186, 235 Lot, bibl. Figur 39 Lothar I., Kg. der Franken, Ks. 30–32, 115–117, 121, 334 Lothar II., Kg. der Franken 54, 117 Lothar III. von Supplinburg, Hzg. von Sachsen, röm.-dt. Kg. u. Ks. 83, 85, 91–98, 352 Lothar, Kg. des Westfrankenreiches 125, 127 Lothar, Kg. von Italien 122 Lothar, S. Kg. Karls des Kahlen, Abt von Saint-Medard in Soisson u. Echternach 118 Lothringen, Lotharingien 53–54, 93, 118, 120–121 Lothringer 55–56, 204

Orts- und Personenregister

Ludwig I. der Fromme, Kg. der Franken, Ks. 15, 28–30, 32, 51–52, 57, 113–116, 118, 121, 127, 164, 196, 262, 271, 276, 315–316, 318, 328, 332, 334, 343, 349–350 Ludwig II., Kg. von Italien, Ks. 116–117, 119 Ludwig III. der Blinde, Kg. von Italien, Ks. 119, 122 Ludwig II. der Deutsche, Kg. des Ostfrankenreiches 30–31, 54, 116–118, 165, 328, 334 Ludwig II. der Stammler, Kg. des Westfrankenreiches 54, 118–119, 334, 349 Ludwig III. der Jüngere, Kg. des Ostfrankenreichs 54–55, 117–119 Ludwig III., Kg. des Westfrankenreiches 119 Ludwig IV. das Kind, Kg. des Ostfrankenreiches 55, 120–121 Ludwig IV. der Überseeische (transmarinus), Kg. des Westfrankenreiches 56 Ludwig V., Kg. des Westfrankenreiches 125 Ludwig VI., Kg. von Frankreich 84 Ludwig I., Landgf. von Thüringen 92 Lul, Bf. von Mainz 287 Lüneburg 80, 88, 206, 217–219 Lupus von FerriHres, Abt 39 Lüttich 270 Luxemburger 63–64 Magdeburg 206 Magnus I., Kg. von Norwegen 219–220 Magnus Billung, Hzg. von Sachsen 210, 216–219, 221–222 Mailand 345 Maine 118 Mainz 55, 93, 96, 121, 211, 214 Malliacum (Mailly) 240 Mantua 315 Marklo 132–133, 140, 149–152 Markus, Hl. 291 Marseille 239, 244, 254

363

Orts- und Personenregister

Martin, Unterstützer Pippins II. des Mittleren 277 Martin, Hl. 46, 61, 80 Märzfeld 45, 47 Mathilde, Gem. Heinrichs I. 123–124 Mathilde von England, Gem. Heinrichs V., Ksn. 92 Mathilde, Markgfn. von Tuszien 93 Maursmünster 242 Maurus, Attentäter oder Befreier Papst Leos III. 308 Maximianus, Hl. 308 Mazo, Bf. von Verden 93 Medefeld 160 Meder 140 Meersen 31 Mercia 138 Mering 64 Merowech, S. Chilperichs I. 247–248 Merowinger 24, 26–27, 36, 43, 45, 59, 103, 106–107, 109, 111, 127–128, 164–165, 171, 179, 181–182, 184–185, 191–192, 227–231, 237–239, 242–244, 246, 249, 251, 254–259, 263, 274, 277, 280, 279, 322 Merseburg 58, 70 Metz 53, 258, 262, 265–266, 268–270, 272, 280–282, 287–289, 299 Minden 165 Moissac 164 Mons Soracte 193 Montagnana 62 Monte Cassino 194 Münster 93–94 Nathan, bibl. Prophet 40 Neustrien 118, 189, 234, 239–241, 245–246, 250, 252–256, 264–265, 267, 269, 280, 287 Niederaltaich 73, 278 Niederlothringen 97, 125 Niederrhein 92–93 Nithard, Geschichtsschreiber 53, 145 Nivard, Bf. von Reims 240–242 Nivelles 250, 252, 255 Nordsee 131, 134, 139, 164, 168

Normannen 54, 130 Northeim 79 Norwegen 17, 219–221 Noyon 48 Oberitalien 61, 77, 261, 305, 341, 345 Oberschwaben 341 Ocker 159 Odilo, Hzg. von Bayern 274–275, 278–279, 285 Opizo, Geistlicher im Umfeld Heinrichs III. 69 Optatus, Abt 194 Ordulf, Hzg. von Sachsen 210, 217, 219–221 Orhaim 162 Orlamünde 91 Osnabrück 94 Ostfranken 31–32, 56, 120, 123, 165, 196 Ostfrankenreich 35, 55, 103, 119–120, 123–125 Otbertiner 61–62, 66, 69, 77, 339, 341–353 Otloh, Mönch des Klosters St. Emmeram in Regensburg 341–342 Ottmar, Hl. 335 Otto I. der Große, Kg. des Ostfrankenreiches, Ks. 21, 29, 56–57, 79, 123–125, 127, 222, 337 Otto II., Kg. des Ostfrankenreiches, Ks. 57–58, 123–125, 127, 337 Otto III., Kg. des Ostfrankenreiches, Ks. 58 Otto von Northeim, Hzg. von Bayern 94, 205–206, 212–223 Otto, Markgf. von Meißen 211 Otto, Gf. von Rheineck 97 Otto von Cappenberg, Gf. 95 Otto, Hausmeier 233–234 Otto, S. Liudolfs, Enkel Ottos I. 29 Otto von Schweinfurt, Hzg. von Schwaben 66 Otto, Bf. von Freising, Geschichtsschreiber 84, 321–322, 345 Ottonen 59, 77, 127, 203, 205, 322

364 Paderborn 79, 86–88, 91, 94–95, 160, 291, 294–295, 298, 303, 309–310, 313–317, 320 Pader 317 Paris 108, 233, 235, 259, 276 Paschalis, primicerius 291, 306–307 Passau 73 Paulus Diaconus, Geschichtsschreiber 254 Pavia 258, 315 Pectavensum, Bischofsstadt in Scocia 233 Perctarit, Kg. der Langobarden 254 Persenbeug 75 Petronilla, siehe Gertrud/Petronilla Petrus, Apostel, Hl. 174, 192–193, 292, 305–306, 319 Petrus Damiani, Hl., Eremit, Kirchenlehrer 210 Pilitrud, Tante Swanahilds 272–274 Pippin I. der Ältere, Hausmeier 233, 334 Pippin II. der Mittlere, Hausmeier 112, 227, 231, 238, 255, 257–258, 272–273, 277, 280 Pippin III. der Jüngere, Hausmeier u. Kg. der Franken 41, 46–48, 52, 112–113, 135, 167, 171–197, 263–270, 275–276, 278–287, 289, 305, 318 Pippin (Karlmann), Kg. von Italien 15, 28–29, 113–114 Pippin I. von Aquitanien, Kg. der Franken 30, 115–116 Pippin II. von Aquitanien 30, 118 Pippiniden 190, 227, 229–231, 237, 241, 246, 250, 255, 282, 286–287 Pistoia 340 Plectrud, Gem. Pippins II. des Mittleren 112, 231, 272–274, 279 Poeta Saxo, anonymer Geschichtsschreiber 133, 143, 155, 157, 202 Poitiers 250, 263 Ponthion 315 Poppo, Abt von Stablo 327 Praetextus, Bf. von Rouen 247 Prokopius von Cäsarea, Geschichtsschreiber 40 Provence 267 Prudentius, Bf. von Troyes 32

Orts- und Personenregister

Quierzy

159, 277, 279, 315

Rather, Bf. von Verona 345 Ratold, S. Arnulfs von Kärnten 119–120 Rauching, Thronprätendent 251 Ravenna 122, 316 Ravensburg 322, 330, 341 Regensburg 53, 58, 73, 341 Regino, Abt von Prüm, Geschichtsschreiber 53 Regintrud, M. Pilitruds 272 Reichenau 274 Reims 56, 239–241, 277, 315 Reinboldus, Paderborner Domdekan 87 Reinhard von Irsee, Gefolgsmann der Welfen 78 Remigius, Bf. von Reims 56 Rhein 85, 131, 138, 143, 159–160 Rheme 160 Richlint, Gem. Gf. Adalberos II. von Ebersberg 75 Rietberg 95 Robert I., Kg. des Westfrankenreiches 56 Robert II., Kg. des Westfrankenreiches 125 Robert I. der Friese, Gf. von Flandern 79, 86, 88–90 Robert II., Gf. von Flandern 86 Roger Borsa, Hzg. von Apulien 86 Roggerus, Paderborner Domprobst 87 Rom 19–21, 37–38, 40, 42, 116, 182, 186, 192–193, 237, 246, 292–320, 340, 342 Römer 19, 40, 139, 344, 352 Römer (Stadtbewohner) 39, 40, 43, 104, 130, 291, 209, 300, 305–310, 318, 320 Rorik(o), Hzg. der Normannen 54 Rotgar, Gf. 56 Rüdenberg 94 Rudolf I., Kg. von Hochburgund 120, 332 Rudolf II., Kg. von Hochburgund 56 Rudolf von Rheinfelden, Hzg. von Schwaben, Gegenkg. 208, 221–222 Rudolf, Markgf. von Stade 91 Rudolf II., Gf. von Altdorf 335–336, 351 Rudolf von Fulda, Geschichtsschreiber 155

Orts- und Personenregister

Rudolf, Br. Bf. Konrads von Konstanz 350–351 Rudolf, Abt von JumiHges u. Saint-Riquier 332 Ruhr 166 Rumold, Bf. von Konstanz 77 Rusticius, Hl. 46 Ruthard, fränk. Sachverwalter 335–336 Saale 163 Sachsen 36, 44, 58, 79, 85, 88–89, 91–92, 97, 123, 127, 130–136, 139–140, 142, 144–146, 152–155, 158–162, 164–166, 168–169, 199–214, 217, 219–220, 222–223, 233, 261, 271, 302, 309–311, 316, 330–331, 342, 349, 352 Saint-Amand 314 Saint-Bertin 53, 89–91 Saint-Calais 177 Saint-Denis 178, 254275–276, 279–280 Saint-Vaast 54 Salier 63, 68, 72, 75, 85, 90, 127, 199, 202–205, 207–208, 212–213, 219–221 Sallust, Geschichtsschreiber 339–340 Salomo, bibl. Kg. 43 Salomon, Kg. von Ungarn 221 Salvian, Presbyter von Marseille 204 Salzburg 274 Samoussy 277 Samuel, bibl. Prophet 141 Sarazenen 263 Saul, bibl. Kg. 40 Schaumburg 94 Schottland 249 Schwaben 77, 200, 208, 218, 342 Siegburg 96 Siegfried I., Ebf. von Mainz 209–211, 222 Siegfried, Abt von Gorze 327 Sigebodo, Gf. von Warburg 79 Sigibert I., Kg. der Franken 26, 108 Sigibert III., Kg. der Franken 110, 227–228, 230, 233, 240–246, 248–252, 254, 256, 259 Silvester, Hl. 312 Simon, Hzg. von Oberlothringen 97–98 Skandinavien 17, 130

365 Slawen 156, 219 Soisson 41, 48, 277 Sophia, Gem. Markgf. Ulrichs I. von Krain u. Magnus Billungs 221 Spanien 167 Spoleto 303, 315–316, 320 St. Emmeram, Regensburg 341 St. Erasmus, San Erasmo in Monte Celio 291, 293, 308, 319 St. Gallen 73–74, 238–239, 256, 335 St. Maurice im Wallis 315 St. Michael, Lüneburg 80, 331 St. Peter, Rom 291, 298–300, 302, 308, 318 St. Stephan u. Silvester, San Silvestro in Capite 58, 291–293, 308, 319 St. Zeno 74 Stablo-Malm8dy 176–179 Staingaden 79 Staufer 125, 321–322 Stephan II., Papst 113, 177, 182, 185, 192–193, 195, 197, 315, 318 Stephan III., Papst 305 Stephan IV., Papst 315, 318 Stephan V., Papst 122 Stephanus (Eddius), Hagiograph 249 Straßburg 58, 139 Südtirol 64–65 Sueben 272 Sven Estridson, Kg. von Dänemark 217, 219–220 Swanahild, Gem. Karl Martells 264–265, 260, 271–281, 286–289 Tacitus, Geschichtsschreiber 18–20 Tassilo III., Hzg. von Bayern 46–48, 50, 52, 183, 196, 231, 262 Thegan, Geschichtsschreiber 328 Theodericus Saxo, sächs. Anführer 167 Theodo, S. Hzg. Tassilos III. von Bayern 47 Theodolt, bayer. (Teil-)Hzg. 272 Theudebert I., Kg. der Franken 25–26 Theuderich I., Kg. der Franken 57, 106 Theuderich III., Kg. der Franken 26, 230, 244–245, 254

366 Theuderich IV., Kg. der Franken 242–243, 257–258 Theudoald, Br. Kg. Theudeberts I. 26 Theudoald, S. Kg. Chlodomers 25 Theudofrid, Bf. von Toul 248 Thiemo, Ebf. von Salzburg 341 Thietmar, Br. Hzg. Bernhards II. von Sachsen 215, 220 Thietmar, Bf. von Merseburg, Geschichtsschreiber 57–58, 165, 203 Thietmar, Bf. von Verden 93 Thietmar, Abt von Helmarshausen 87 Thüringen 160, 165, 200–201, 211, 216, 264, 267, 283–284, 286–288 Tiber 303 Tirol 336 Toul 248, 253 Tours 313–314, 320 Tribur 71–72 Trient 65 Turin 77 Udo, Gf. von Stade 210 Uffeln 160 Ulm 76 Ulrich I. von Weimar-Orlamünde, Markgf. von Krain 75, 221 Ulrich, Bf. von Augsburg 350 Ungarn 69–72, 219–220 Utting, Gut am Ammersee 74 Venantius Fortunatus, Dichter 108 Verden 30, 32, 93, 116 Verona 69, 74 Vicenza 62 Vienne 195 Vieux Poitiers 264–265, 267–269, 282–283 Virgil, Bf. von Salzburg 274 Vladivoj, Hzg. von Böhmen 58 Wala, Gf., Abt von Corbie u. Bobbio 51 Waldrada, Konkubine Kg. Lothars II. 55 Wales 145 Warin, fränk. Sachverwalter 335–336 Weihenstephan 64

Orts- und Personenregister

Weimar 75, 91 Weingarten 78, 80, 342, 348, 352 Weißenburg 72, 239 Welf, Stammvater der Welfen 322, 328, 332, 334 Welf, Gf. im Argen- u. Linzgau 328, 332 Welf II., Gf. von Altdorf 64–66, 80, 330, 334–336, 338–339, 341, 344, 349, 351–352 Welf III., Hzg. von Kärnten u. Markgf. von Verona 61–63, 65, 67, 69, 72–78, 80–81, 336–339, 342, 344, 350–352 Welf IV., Hzg. von Bayern, Markgf. von Mailand 62, 66–68, 76–78, 80–81, 216, 324, 330, 338–339, 341, 343–344, 347–353 Welf V., Hzg. von Bayern 343, 352 Welf VI., Markgf. von Tuszien 79 Welf, Enkel Gf. Welfs 332 Welfen 61–66, 69, 72, 77, 79, 81, 120, 321–322, 324, 333, 336–338, 340–341, 344, 346, 350 Welfesholz 92–93 Werden 149 Werl 86, 90–92, 95, 97 Werner, Ebf. von Magdeburg 206 Werner, Bf. von Straßburg 58 Weser 131, 149, 159–160, 164 Westfalen 85, 90, 92, 96–97, 132, 153–156, 158–163, 165–169 Westfranken 32, 56, 118–119 Westfrankenreich 31, 53, 103, 119, 125, 127 Westgoten 19–20, 104 Westreich, römisches 240, 246 Westsachsen 139 Wewelsburg 95 Wido von Spoleto, Kg. von Italien, Ks. 122 Widukind, sächs. Anführer 159, 165, 167, 231 Widukind von Schwalenberg, Vogt des Paderborner Hochstiftes 94–95 Widukind von Corvey, Geschichtsschreiber 22, 56–57, 133, 155–158, 203 Wigbod, Kleriker 40 Wigmodien 158, 163–164

Orts- und Personenregister

Wigmodier 167, 169 Wilfrid, Ebf. von Canterbury 249–250 Wilhelm II., Hzg. von Aquitanien 56 Wilhelm I. Clito, Gf. von Flandern 98 Wilhelm, Gf. von Ballenstedt, Pfalzgf. bei Rhein, Gf. von Weimar-Orlamünde 97 Wilhelm von Ypern, Burggraf von Ypern u. Lo, Earl of Kent 86 Wilhelm I., Bf. von Utrecht 206 Wilhelm, Bf. von Pavia 67 Willehad, Bf. 163 Willibald, Presbyter von Mainz 189–190, 192 Willibrord, Missionar 135 Winigis, Hzg. von Spoleto 291, 293, 298–302, 319–320

367 Wipo, Geschichtsschreiber 59, 203, 345 Wirund, Abt von Stablo 298–320, 307, 319 Wulfetrud, T. Grimoalds I. 252, 255 Wulfhilde von Sachsen, Gem. Hzg. Heinrichs IX. von Bayern 342–343 Wulfoald, dux, Hausmeier 253 Würzburg 75, 93 Zacharias, Papst 188, 190–191, 194 Zürich 76–77 Zwentibold, Kg. von Lotharingien 55, 119–121 Zwiefalten 351