Luthers Auslegungen des Galaterbriefes von 1519 und 1531

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Luthers Auslegungen des Galaterbriefes von 1519 und 1531

Table of contents :
I. Kapitel: Das Evangelium als autoritative apostolische Verkündigung. Die Darstellung von 1519
I. Die Zusammengehörigkeit von Apostolat und Verkündigung des Evangeliums
II. Inhalt und Wesen der apostolischen Verkündigung
II. Kapitel: Der Gedankenkreis der Rechtfertigung
A. Die Darstellung von 1519
B. Die Darstellung von 153
III. Kapitel: Die Erscheinung der Anfechtung und ihre Überwindung
I. Die Überwindung der Anfechtung als worthaftes Geschehen (1531)
II. Die vergewissernde Lehre als Gestalt des Wortes (1531)
III. Die Anfechtbarkeit des Glaubens in Luthers Kornmentar von 1519
IV. Kapitel: Inhalt und Erfüllung des Gesetzes
A. Die Darstellung von 1519
B. Die Darstellung von 1531
V. Kapitel: Der Apostolat. Die Darstellung von 1531
I. Die apostolische Autorität als Autorität des Amtes
II. Die apostolische Autorität als Autorität des Evangeliums
Luthers Auslegungen von 1519 und 1531
Exkurse
Namenregister
Quellen- und Literaturverzeichnis

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KARIN B O R N K A M M L U T H E R S A U S L E G U N G E N DES G A L A T E R B R I E F S VON 1519 U N D 1531

ARBEITEN

ZUR

KI R C Η Ε Ν G Ε S CH I C Η Τ Ε

Begründet von Karl Holl f und Hans LietzmannjHerausgegeben von Kurt Aland, Walther Eltester und Hanns Rückert 35

LUTHERS A U S L E G U N G E N DES GALATERBRIEFS V O N 1519 U N D 1531 EIN VERGLEICH VON

KARIN BORNKAMM

WALTER D E GRUYTER & CO vormals G. J. Göschen'sehe Verlagshandlung · J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung

Archiv-Nr. 3 2 0 2 6 3 1 Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. ©

>963

by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30 Printed in Germany Satz und Druck: Walter de Gruyter & Co., Berlin 30

M E I N E N ELTERN in großer Dankbarkeit

VORWORT Zwischen Luthers Kommentar zum Galaterbrief aus dem Jahre 1519 und seiner sog. .großen' Galatervorlesung von 1531 liegen zwölf Jahre, in denen sich die entscheidende Klärung und Weiterentwicklung seiner reformatorischen Erkenntnis vollzog. Es lag daher nahe, beide Auslegungen, die durch den ihnen gemeinsamen biblischen Text notwendig in einer starken inneren Entsprechung zueinander stehen und zudem mit ihrer Thematik — Interpretation paulinischer Theologie — unmittelbar in die zentralen Fragen der Theologie Luthers hineinführen, zu vergleichen und von solchem Vergleich einen Beitrag zur Frage nach dem Verhältnis der früheren zu den späteren theologischen Aussagen Luthers zu erwarten. Wenn irgendwo, dann mußte hier der Niederschlag einer etwaigen Verschiebung oder Veränderung im theologischen Denken Luthers greifbar werden. Die Vorarbeiten zu der vorliegenden Untersuchung richteten die Aufmerksamkeit zunächst auf theologische Weiterbildungen, inhaltliche Akzentverschiebungen oder auch sachliche Differenzen, bei näherer Beschäftigung mit dem Stoff trat jedoch die theologische Einheitlichkeit beider Auslegungen über alle ζ. T. recht verschiedenen Einzelaussagen hinweg so überwältigend stark in den Vordergrund, daß es geraten schien, dies Gemeinsame zum eigentlichen Thema der Arbeit zu machen und ihm die zweifellos vorhandenen Differenzen einzuordnen. Daß dies Gemeinsame nur schwer formulierbar ist, hegt in der Sache selbst. Wenn wir nach ihm fragen, fragen wir hinter die exegetische oder systematische Einzelaussage zurück nach Art und Inhalt der theologischen Erkenntnis, der Luther mit der Fülle seiner Gedanken und Formulierungen Ausdruck zu geben sucht. Diese gemeinsame Grundstruktur und Grundaussage kann nur in der Interpretation der einzelnen Formulierungen und Gedankenkreise selbst gefaßt werden, Luther

VIII

Vorwort

löst sie niemals als selbständige theologische Aussage von dem sachlichen Zusammenhang ab, um den es ihm in seinem jeweiligen Auslegungsabschnitt geht. Damit war die Aufgabe gestellt, die exegetischen Sinneinheiten nach Möglichkeit nicht zu zerschlagen, sondern jeweils als ganze zu interpretieren und miteinander zu vergleichen. Dies Prinzip ließ sich jedoch wegen der ständigen gedanklichen Überschneidungen der einzelnen Abschnitte nicht rein durchführen, es erwies sich als notwendig, dennoch bestimmte Gedankenkreise herauszugreifen. Ich habe mich bemüht, dabei so behutsam wie möglich zu verfahren und die Einordnung der herangezogenen Einzelstellen in den übergreifenden Gesamtzusammenhang so weit als möglich deutlich werden zu lassen. Sachliche Wiederholungen bei der Interpretation verschiedener Abschnitte konnten daher nicht ganz vermieden werden. Bei der Fülle der in der Galaterbriefauslegung Luthers angesprochenen theologischen Fragen ließ sich die Arbeit nur bei strengster Beschränkung auf die Texte der Auslegungen selbst und auf den Gesichtspunkt des Vergleichs durchführen. E i n Weiterverfolgen der angeschnittenen Probleme in Schriften außerhalb der uns beschäftigenden T e x t e hinein hätte ins Uferlose geführt und den Rahmen der vorliegenden Arbeit rasch gesprengt. Ich habe deshalb fast durchweg darauf verzichtet. Die Nachteile solcher Beschränkung schienen mir durch die mit ihr gegebene Möglichkeit genauerer Einzelinterpretation aufgewogen zu werden, zumal bei Luther im Grunde jeder theologische Einzelabschnitt die entscheidenden Denkelemente seiner Theologie enthält. Die Vorlesung von 1 5 1 6 / 1 7 habe ich beiseite gelassen, der Vergleich mit ihr hätte ein für die Frage der Entwicklung des jungen Luther interessantes Sonderthema abgegeben, für unsere Fragestellung jedoch nichts Wesentliches ausgetragen, da sie im ganzen m. E . dem Kommentar von 1 5 1 g sehr nahe steht. Der Galaterbrief selbst ist nach dem von Luther 1 5 1 9 zugrundegelegten T e x t (in W A 2) bzw. dem von Rörer verwendeten T e x t aus dem Druck von 1 5 3 5 (in W A 40 I und II) zitiert. Die vorliegende Arbeit wurde im W S 1 9 5 8 / 5 9 bei der T ü binger Evangelisch-Theologischen Fakultät als Dissertation

Vorwort

IX

eingereicht, für den Druck wurde das ursprüngliche Manuskript teilweise umgearbeitet und ergänzt. In hohem Maße zu Dank verpflichtet bin ich Herrn Prof. D. Dr. Hanns Rückert. Nicht allein für das lebendige Interesse, mit dem er die Bearbeitung des von ihm angeregten Themas verfolgt hat, für hilfreichen und kritischen Rat und schließlich für die Befürwortung des Drucks, sondern darüber hinaus vor allem für die Erfahrung unbestechlichen historischen und theologischen Fragens, die er uns als Studenten in der gemeinsamen Arbeit zu erschließen verstand. Besonderen Dank schulde ich außerdem Herrn Prof. D. Helmuth Kittel. Ohne das, was ich in meiner Assistentenzeit an der Pädagogischen Hochschule Osnabrück, in der ich diese Arbeit weitgehend zum Abschluß brachte, theologisch bei ihm lernen konnte, hätte ich manche Fragestellung und manchen Ansatz bei Luther nicht in den Blick bekommen. Außer Herrn Prof. Rückert gilt mein Dank auch den beiden anderen Herausgebern der Arbeiten zur Kirchengeschichte, Herrn Prof. D. Dr. Walther Eltester und Herrn Prof. D. Dr. Kurt Aland, die der Aufnahme der Arbeit in diese Reihe zugestimmt haben. Für sorgfältige Hilfe bei der Korrektur möchte ich auch an dieser Stelle Frau Vikarin Dietlinde Beyer, Freiburg, und Herrn Pastor Rudolf Fischer, Osnabrück, sehr herzlich danken. Dem Lande Nordrhein/Westfalen danke ich für das für die Drucklegung gewährte Darlehen. Karin Bornkamm

INHALTSVERZEICHNIS Seite

I. K a p i t e l : Das Evangelium als autoritative apostolische Verkündigung. Die Darstellung von 1519 I. Die Zusammengehörigkeit von Apostolat und Verkündigung des Evangeliums 1. Einführung und grundsätzliche Bestimmung des Apostolates a) Die Einführung des Apostolates als Autorität (argumentum epistolae) b) Der Apostolat als Predigtamt (1,1 f.) 2. Luthers Durchführung des Autoritätsgedankens a) Die Betonung der Selbständigkeit des paulinischen Apostolates (2,1—2) b) Die Autorität des Apostolates als Autorität des Evangeliums (2,6) c) Die Geschichte des Paulus als Zeugnis für die Echtheit seines Apostolates (1,1 iff.)

1 3

6 12 17

II. Inhalt und Wesen der apostolischen Verkündigung 1. Die Konzentration auf die Rechtfertigung a) Die tropologische Interpretation der Auferstehung Christi (1,1) b) Die christologische Auslegung der Grußformel (1.3—5) 2. Die Vergegenwärtigung als Hauptunterschied zur exegetischen Tradition a) Vergleich mit der Exegese Fabers zu Gal. ι , ι . . . b) Vergleich mit der Exegese Hieronymus' und Lyras zu Gal. 1,3

II. K a p i t e l : Der Gedankenkreis der Rechtfertigung A. Die Darstellung von 1519 I. Literα und spiritus als Hauptbegriffe der Auslegung Luthers 1. Luthers Entfaltung der Thematik des Briefes (1,6— 2.15)

21 24

32 34

Inhaltsverzeichnis

XI Seite

a) Luthers Verwendung des augustinischen Schemas litera — spiritus b) Luthers Verwendung des augustinischen Schemas mendacium — Veritas c) Der Gegensatz von verbum hominis und verbum dei 2. Das Ineinandergreifen von systematischer und hermeneutischer Fragestellung (2,19. 4,22—24) a) Luthers systematische Verwendung von litera und spiritus b) Luthers hermeneutische Verwendung von litera und spiritus 3. Der Ubergang von der Frage des Verstehens zur Frage der Rechtfertigung (3,2. 5)

37 44 46

50 53 58

II. Die Rechtfertigung als geistliches Verstehen des Wortes 1. Luthers Darstellung der Rechtfertigung als Vollzug des geistlichen Verstehens a) Luthers Darstellung der Rechtfertigung zu Gal. 2,16 ff b) Luthers Darstellung der Rechtfertigung zu Gal. 3,22 und Gal. 5,21

64

2. Das Werk Christi als Handeln im Wort (2,i6ff. 3,i9ff. 1.4) a) Luthers Interpretation des Werkes Christi . . . b) Das Verhältnis von unio- und imputatio-Gedanke c) Das Handeln Christi und das Handeln des Geistes

65 76 84

Zusammenfassung

61

88

B. Die Darstellung von 1531 I. Luthers Entfaltung seiner Grundkonzeftion 1. Luthers Entfaltung seines Rechtfertigungsverständnisses zu Gal. 2,16—21 a) Luthers Aufheben der scholastischen Stufenfolge innerhalb des Heilsweges 89 b) Christus als forma fidei 93 c) Christus als persona des Menschen 100 d) Die Möglichkeit der Einordnung traditioneller Formulierungen in Luthers Gesamtbild vom Werke Christi 105 e) Die gemeinsame Grundkonzeption in Luthers Verständnis des Werkes Christi von 1531 und 1519 . . 107

XII

Inhaltsverzeichnis Seite

2. Die Rechtfertigung als Ansatz für Luthers Verständnis des Heilsgeschehens a) Das Werk Christi als Inhalt des rechtfertigenden Wortes (2,19t.) in b) Das Sterben des natürlichen Menschen als Frucht des Hörens (3,6) 120

II. Die Teilhabe des Glaubenden am Heilsgeschehen 1. Das Einbeziehen des Glaubenden in die Geschichte Christi (2,19. 3,13) a) Luthers Schilderung des Werkes Christi als duellum mirabile b) Luthers Lehrbildung von Christus als der maxima persona c) Die stärkere Zusammenschau von Rechtfertigung des Menschen und Geschichte Christi im Vergleich zu 1519 2. Das Heilsgeschehen als gegenwärtige Selbstoffenbarung Gottes (1,3—5) a) Das Verhältnis von Christus und Gott in Luthers Auslegung der Grußformel b) Die Wahrung der Einheit des Gottesbildes als Einheit personhaften Handelns c) Das Ergreifen Christi durch den Glaubenden als offenbarendes göttliches Handeln d) Die Konsequenzen von Luthers Denkansatz im Handeln Gottes für seine christologischen Aussagen

Zusammenfassung

127 132

135

138 142 148 151

153

III. K a p i t e l : Die Erscheinung der Anfechtung und ihre Überwindung I. Die Überwindung der Anfechtung als worthaftes Geschehen (1531) 1. Erscheinungsbild und Charakter der Anfechtung . . .

158

2. Die Frage »massiver« Vergewisserungen in Luthers Verständnis des Werkes Christi (3,13. 4,6) a) Luthers Einordnung der bildhaft-mythologischen Äußerungen in seine Gesamtaussage 165 b) Testimonia certitudinis zur Vergewisserung des Glaubens an Christus 173 3. Luthers Verwendung fester Lehrformulierungen als Hilfe für den Angefochtenen a) definitio Christi (1,3—5) 176 b) usus legis (3,19 ff.) 180

XIII

Inhaltsverzeichnis

Seite

4. Luthers Berufung auf die Heilige Schrift (1,3—5. 6ff. 2,16. 3 , 1 1 ) a) Die bei Luther selbst erkennbare Problematik . . . b) Luthers Ansatz zu einer Lösung des Problems in der Unterscheidung von echtem und falschem Hören 5. Luthers Darstellung der Überwindung der Anfechtung als Werk des Geistes (4,6) Zusammenfassung I I . Die

vergewissernde

Lehre

als Gestalt des

188 192 196 200

Wortes

(I53I) 1. Luthers doctrina-Begriff (4,7. 5,5. i , 6 f f . 5,9) a) Das Evangelium als verbum centrale 203 b) Evangelium und doctrina 208 2. Luthers inhaltliche Entfaltung der doctrina (argumentum epistolae; 2, 14) 212 I I I . Die Anfechtbarkeit mentar von

des Glaubens in Luthers

Kom-

151g

1 . Luthers Zusammenordnung von Gesetz und Gnade (3.i9ff) 2. Luthers Beschreibung des Glaubenden (2,17. 5,17) a) Die begriffliche Analyse b) Die verwendeten Bilder Zusammenfassung

224 227 229 232

IV. K a p i t e l : Inhalt und Erfüllung des Gesetzes A. Die Darstellung von 1519 I. Der Ansatz der Heiligung

im

Hören

1. VerstehenundethischerFortschritt(5,i4.5,5.5,6.4,4f.) 235 2. Die Ermöglichung der Paränese durch das Verständnis des Gesetzes als lex impleta 244 I I . Die Zusammenfassung

des Gesetzes im

Liebesgebot

1. Luthers Interpretation des Liebesgebotes (5,14) a) Luthers Entfaltung des Liebesgebotes 252 b) Das Liebesgebot als lex naturae 255 2. Die Einordnung der übrigen Gesetzesforderungen in das Liebesgebot a) Luthers Auslegung zu Gal. 5,2 f 262 b) Luthers Auslegung zu Gal. 2,3—5 266 I I I . Die Erfüllung

des Gesetzes

1. Die Diskrepanz zwischen Forderung und Erfüllung des Gesetzes (3,10—13)

XIV

Inhaltsverzeichnis Seite

a) Luthers Unterscheidung von facere opera legis und facere ea quae scripta sunt 270 b) Das Verhältnis von intentio legis und gratia . .273 2. Die Erfüllung des Gesetzes als Verwirklichung der im Hören empfangenen Gerechtigkeit (3,28. 2,5. 6,3) . . 277 a) Der Glaubende als homo sine persona 277 b) Die Bindung des Glaubenden an den Nächsten . 280 3. Erkennbarkeit und Maßstab des glaubenden Handelns a) Die Erkennbarkeit der als affectus verstandenen Liebe (5,14) b) Luthers Gleichsetzung von Liebe und Freiheit (5,1. 13) c) Die Wahrung der Freiheit des Evangeliums als Maßstab des Handelns (2,11—13) d) Der Verzicht auf Planung und Vollendbarkeit der eigenen Gerechtigkeit

282 286 289 294

IV. Die Frage des tertius usus legis 1. Usus legis

295

2. »Usus evangelii«

305

Zusammenfassung

314

B. Die Darstellung von 1531 I. Die Zusammengehörigkeit von Glaube und Werken 1. Die Wahrung der Zusammengehörigkeit von Glaube und Werken in Luthers Beschreibung des Handelns a) Luthers Einordnung der Liebe in den Glauben im Gegensatz zur fides charitate formata (5,6. 3 , n f . ) b) facere legem als Erfüllung des ersten Gebotes (3,10. 3,12) 2. Die Wahrung der Zusammengehörigkeit von Glaube und Werken in Luthers Beschreibung der Rechtfertigung (2,l6ff.) a) Luthers Betonung des Glaubens vor der Liebe im Gegensatz zur fides charitate formata b) Das 1. Gebot als rechtfertigendes Wort 3. Luthers Auslegung der paulinischen Paränese als consolatio (5,16—18)

316 320

235 327 328

II. Das Handeln im Glauben 1. Der Inhalt des Gesetzes a) Luthers Begrenzung der Geltung des Zeremonialgesetzes (2,3—5) 33 1

Inhaltsverzeichnis

XV Seite

b) Luthers Entfaltung des Liebesgebotes als weltliches Handeln (5,14. 2,20. 3,2—5. 5,1. 5,13) 333 2. Das Gesetz als elementum mundi (2,6. 3,28. 4,9. 3,14.10) a) Luthers Ansatz im Schöpfungsgedanken 340 b) Die Einheit von Schöpfungs- und Rechtfertigungsglaube 342 c) Duplex usus legis (3,19) 346 3. Die Erfüllung des Gesetzes (6,4 f.) a) Die Gewißheit gerechten Handelns 353 b) Das Nebeneinander von iustitia civilis und Notwendigkeit der Rechtfertigung 354 c) Die Gerechtigkeit des Amtes als Verwirklichung des in der Rechtfertigung gegebenen Gottesverhältnisses 356 Zusammenfassung

358

V. K a p i t e l : Der Apostolat Die Darstellung von 1531 I. Die afostolische

Autorität

als Autorität

des

Amtes

1. Luthers Betonung des Amtsgedankens in Abgrenzung gegen die Schwärmer (1,1 ff. 2,6) 361 2. Der Apostolat als geschaffene Ordnung I I . Die apostolische

Autorität

als Autorität

363 des

Evange-

liums 1. Die Bindung der Verkündigung an die Schrift (1,9. i.«f.) a) Luthers Gleichsetzung von paulinischem Evangelium und Schrift 369 b) Luthers Entfaltung des Schriftprinzips 370 2. Die Geschichte des Paulus als Zeugnis für die Göttlichkeit seines Evangeliums (1,1 ο ff.) a) Das Leiden des Apostels 374 b) Die Berufung des Pharisäers ins Apostelamt . . . 376 c) Die Unabhängigkeit des Paulus von den Uraposteln 377 Vergleich

der Darstellungen

von i$ig

und 1531

. . .

381

Luthers Auslegungen v o n 1519 und 1531

382

Exkurse

392

Namenregister

400

Quellen- und Literaturverzeichnis

401

I DAS E V A N G E L I U M A L S A U T O R I T A T I V E APOSTOLISCHE V E R K Ü N D I G U N G D i e D a r s t e l l u n g v o n 1519 1 I. D I E ZUSAMMENGEHÖRIGKEIT VON APOSTOLAT UND V E R K Ü N D I G U N G DES EVANGELIUMS

i . Einführung und grundsätzliche Bestimmung des Apostolates a) Die Einführung des Apostolates als Autorität Luther schickt in einem argumentum epistolae seinem Kommentar eine kurze Zusammenfassung über den Anlaß und den Inhalt des Galaterbriefes voraus 2 . Paulus schreibt an die galatischen Gemeinden, die von ihm im reinen Glauben an Christus unterwiesen waren, in seiner Abwesenheit jedoch unsicher wurden und sich der Gesetzlichkeit und Werkgerechtigkeit zuzuwenden begannen. Sie wurden verführt durch falsche Apostel, die die Beschneidung predigten, und in ihrer Gesetzesfrömmigkeit bestärkt durch die Autorität der Jerusalemer Apostel, auf die die jüdischen Prediger sich beriefen und deren freie, den Judenchristen zuliebe beibehaltene Erfüllung des Zeremonialgesetzes von den Galatern als verbindliches Vorbild für ihr eigenes Verhalten mißverstanden wurde. So hatten sie begonnen, die Werke des Zeremonialgesetzes als heilsnotwendig in ihr Glaubensleben aufzunehmen, ohne in dieser Frage auf Paulus zu achten, dessen Verhalten gegenüber dem Gesetz sie von dem Gedanken der Heilsnotwendigkeit des Gesetzes hätte freimachen können. Von seiner Haltung her wäre auch das Verhalten der übrigen Apostel für die Galater durchsichtig geworden, sie hätten es als Erfüllung des Liebesgebotes gegenüber 1 Alle folgenden Stellenangaben beziehen sich, soweit nicht anders 2 451. angegeben, auf W A . 2.

1

Bornkamm, Galaterbricf

2 Das Evangelium als autoritative apostolische Verkündigung (1519) ihrer judenchristlichen Gemeinde verstanden, nicht als Ausdruck gesetzlicher Frömmigkeit, und wären nicht verführt worden, ihr Vertrauen auf das Einhalten bestimmter Zeremonien und nicht auf Christus zu setzen. In dieser Situation, die durch eine Überschätzung der falschen Apostel und eine Mißachtung des Paulus entstehen konnte, macht Paulus mit allem Nachdruck sein Apostelamt geltend und gesteht weder den Pseudaposteln noch den Uraposteln in Jerusalem eine höhere Autorität zu: Paulus tanto aestu laborat Galatas revocare, ut et Petri et omnium Apostolorum prorsus nullam rationem habeat, quantum ad personam, conditionem (id est dignitatem) et quod dicunt qualitatem attinet3. Paulus schiebt die Autorität der übrigen Apostel auf Grund seines Amtes beiseite. Luther mißt dieser Berufung des Paulus auf seinen Apostolat grundsätzliche Bedeutung zu. Lehrreich ist ein Vergleich mit dem von Luther im Zuge seiner Exegese regelmäßig herangezogenen Kommentar des Hieronymus, dessen Argumente Luther hier stillschweigend übergeht. Hieronymus beobachtet wohl die stärkere Betonung des Amtes im Galaterbrief im Unterschied zum Brief des Apostels an die Römer — der im übrigen in der Thematik dem Galaterbrief eng verwandt ist: eandem esse materiam et Epistolae Pauli ad Galatas, et quae ad Romanos scripta est4 —, führt sie jedoch einfach zurück auf die Verschiedenartigkeit der Empfänger: die Römer sind fähig, tiefe Gedankengänge zu begreifen, im Schreiben an die törichten Galater jedoch (vgl. Gal. 3, 1!) ist Paulus gezwungen, seine Autorität zu gebrauchen: Quos ratio suadere non poterat, revocaret auctoritas. Auch Luther kann ähnliche Beurteilungen der Galater in seine Auslegung einfließen lassen5, doch hier fehlen sie. Die Betonung des Apostolates ist für ihn nicht einfach begründet in der Torheit der Galater — oder doch nur insofern, als sie sich von den Judaisten verführen ließen, nicht aber, weil sie feineren Argumenten nicht zugänglich wären —, sondern sie ist gefordert durch die Situation. Dem Verlassen des rechten Glaubens kann Paulus nur sein Amt ent8

451, 22ff.

6

8

Χ

4

MSL. 26, Sp. 333. 370 Β

47°. ; 5 3· 2; 518, 27 u. ö.

Einführung und grundsätzliche Bestimmung des Apostolates

3

gegensetzen, in dem für ihn die Legitimation für diesen Kampf liegt. Nicht die menschliche Unzulänglichkeit der Galater, sondern die Größe der geistlichen Gefahr, in der sie stehen, zwingt Paulus, so stark auf die Autorität seiner Verkündigung hinzuweisen — sanctissima quadam superbia!®.

b) Der Apostolat

als

Predigtamt

»Paulus apostolus« (Gal. ι, ι) — Luther entwickelt die hier erforderliche Bestimmung des Apostolates vom Begriff des apostolus als »missus« her7. Damit übernimmt er ein festes Stück der Tradition, schon Hieronymus bemüht sich um eine etymologische Deutung 8 , die von der Glossa® wieder aufgenommen und besonders anschaulich dann von Faber verwendet wird. Luther selbst beruft sich auf Hieronymus und Erasmus. Apostel, »Gesandter«, ist eine Amtsbezeichnung, die den Blick auf den Auftraggeber und den Amt und Recht des Apostels begründenden Auftrag freigibt. In dieser Eigenschaft als Amtsträger hegen Niedrigkeit und Hoheit des Apostels beschlossen. Seine Würde gehört nicht ihm, sondern dem Herrn, dem er dient, deshalb ist apostolus kein nomen dignitatis, das dem Amtsträger selbst irgendeine Ehre verliehe. Er ist nichts als Knecht, dem Willen des Herrn im Gehorsam hingegeben — Gedanken, die Luther in deutlicher Kritik an den Amtsträgern der römischen Kirche entwickelt und die offensichtlich ein festes Stück seiner Argumentation bilden10. Luther verdeutlicht sich das Wesen des Apostolates an dem Gegenbild der Diebe und Räuber, die nach den Worten Christi (Joh. 10, 8) kommen — ohne gesandt zu sein! —-, die die Schafe töten und ihren eigenen Gewinn an ihnen suchen, statt ihnen die rechte Nahrung zu bringen, d. h. das Wort dessen, der sie gesandt hat. Damit ist die Bestimmung des apostolischen Auftrages gewonnen, der hinter dem Apostel stehende Auftraggeber erscheint als Autor des 4 451, 25; vgl. Hieronymus z. St.: Non süperbe . . . sed necessarie (MSL. 26, Sp. 335, 373A). 7 8 452, 3ff. MSL. 26, Sp. 3^5f, 374· 9 10 Gl. int.: electus vel missus Vgl. ζ. B. W. 56, 161 f.

1*

4

Das Evangelium als autoritative apostolische Verkündigung (1519)

Wortes, sein A u f t r a g besteht in der Verkündigung der dem Gesandten anvertrauten Botschaft. Die in Assoziation zu »missus« zitierte Stelle R m . 10, 1 5 »Wie können sie predigen, wenn sie nicht gesandt sind?« erlaubt in freier Weiterführung in Anlehnung an den Zusammenhang des Textes — »Wer kann predigen, wenn er nicht Apostel ist?« — die Definition: Quis autem est Apostolus, nisi qui verbum dei apportat ? u , die nun das Stichwort für die inhaltliche Bestimmung der apostolischen Predigt enthält. Das W o r t Gottes steht im Gegensatz zum W o r t des Menschen, das den Menschen nicht zu heilen vermag, sondern sein Leiden nur schlimmer macht, wie die allegorische Auslegung der Geschichte vom blutflüssigen Weibe zeigt, das sich an viele Ärzte gewandt hatte, ohne daß diese ihr helfen konnten (Lk. 8, 43ff.). Ohne Bild: das W o r t Gottes schafft fröhliche, sichere Gewissen in Gott, während das W o r t des Menschen das Gewissen ängstet und es in sich selbst verschließt und damit der Anklage preisgibt, anstatt es zu erretten. Denn das Wort Gottes ist das gute, süße W o r t der Gnade und der Vergebung, das W o r t des Menschen dagegen das W o r t des Gesetzes, des Zornes und der Sünde. Mit dem Gedankengang apostolus — missus — missus a deo — verbum dei apportare und der Identifikation von verbum dei und verbum gratiae ist die Verbindung von Apostolat und Verkündigung und zugleich die inhaltliche Bestimmung dieser Verkündigung gegeben. Der Apostel ist beauftragter Prediger des Evangeliums. Als Predigtamt des Evangeliums ist der Apostolat nach L u ther für die Kirche konstitutiv. Christus selbst hat die Kirche mit diesem A m t ausgestattet und die Apostel beauftragt, über dem Worte Gottes zu wachen. U m dieses Wortes willen ist das apostolische A m t eingesetzt, denn das Wort Gottes ist das primum et maximum ecclesiae beneficium 12 , und es kann der Kirche kein tieferer Schade geschehen als durch die Vertauschung dieses Wortes mit Menschenwort und weltlichen Traditionen. Alles Menschenwort steht in schärfstem Gegensatz zum Worte Gottes, denn — hier gebraucht Luther das wie von A u gustin so auch von ihm immer wieder verwendete Psalmwort — : 11

4 5 2 , 28f.

12

4 5 3 , 33.

Einführung und grundsätzliche Bestimmung des Apostolates

5

Deus solus verax, omnis homo mendax (Ps. 116, n ) . Wie David Schätze zurückließ, damit Salomo den Tempel bauen könne, so ließ Christus der Kirche das Evangelium und die übrigen Schriften, damit sie auf ihnen und nicht durch menschliche Dekrete erbaut werde. Auf der Frage nach der Notwendigkeit der kirchlichen vocatio liegt in Luthers Auslegung 1 5 1 9 noch kein Gewicht. Wohl unterscheidet er im Anschluß an Hieronymus vier genera apostolorum 13 : die Urapostel und Propheten, die durch Christus bzw. durch Gott selbst direkt berufen sind; die, die wohl von Gott berufen sind, doch durch menschliche Vermittlung, die Schüler der Apostel und alle seither rechtmäßig berufenen Bischöfe und Priester; diejenigen, die nicht aus göttlichem, sondern nach menschlichem Ratschluß berufen werden, d. h. die sich selbst um eigener Vorteile willen zu dem Amte angeboten haben, anstatt auf ihre Berufung zu warten; und schließlich die Pseudapostel, d. h. alle, die ihre Berufung weder Gott noch anderen Menschen verdanken, sondern aus eigener Vollmacht aufstehen und aus Eigenem reden. Und wie für Hieronymus, so bedeutet auch für Luther die vierte Gruppe, die ab homine Berufenen, die sich selbst zum Amt gedrängt haben, die größte Gefahr für die Kirche. Ab hoc malo summe cavendum est ! 14 . Zu erkennen und von den wahren Aposteln und Predigern zu unterscheiden sind sie jedoch nur am Inhalt ihrer Verkündigung: da Gott nicht zu ihnen gesprochen hat, predigen sie Eigenes und damit Lüge. Es zeigt sich, daß Luthers Verständnis des Textes und der traditionellen Exegese geleitet ist vom Gedanken der Auseinandersetzung zwischen Predigern der gleichen kirchlichen Berufung, d. h. der Auseinandersetzung innerhalb der Kirche selbst, die als Institution noch alle umspannt. Im Unterschied zu 1 5 3 1 1 5 hatte er sich noch nicht unberufen auftretender Prediger zu erwehren. Wie fern ihm diese spätere Fragestellung damals noch lag, zeigt der Umstand, daß sich im Zuge der Auslegung sein Interesse an dieser Stelle völlig verschiebt: der nicht kirchlich zum Predigtamt Berufene erscheint im weiteren Text nicht als falscher 13 14

454, 3ff.; vgl. Hieron. z. St. M S L . 26, Sp. 335, 374f. 15 454, 21. S. u. S. 36iff.

6

Das Evangelium als autoritative apostolische Verkündigung

(1519)

Apostel, sondern als der Angefochtene, der sich zum Predigtamt verpflichtet glaubt, ohne doch die rechtmäßige Berufung dafür empfangen zu haben. Ihn tröstet Luther mit dem Hinweis darauf, daß nach Paulus allein die von Gott ergangene Berufung gültig ist, d. h. praktisch die Berufung durch die Kirche, die ohne eigene Meldung des Betroffenen erfolgen soll (hier wird Luthers eigene Geschichte sichtbar!). Wer sie nicht hat, darf getrost warten — Expecta vocantem: interim esto securus 1 9 —, ja er ist dazu verpflichtet, denn wer ohne Berufung lehrt, lehrt nicht ohne höchste Gefahr für sich und seine Hörer, denn Christus ist nicht mit ihm 17 . Luther selbst empfindet diese Auslegung als ein Anhängsel, er möchte sie jedoch nicht unterlassen, da sie das enthält, was er zu diesem Fragenkreis im Augenblick zu sagen hat 18 . Die Notwendigkeit der kirchlichen vocatio wird von Luther also selbstverständlich vorausgesetzt, er setzt diesen Gedanken jedoch nicht als tragende Kraft in seiner Auslegung ein. Die Frage nach der wahren Autorität des Apostels und der apostolischen Verkündigung stellt sich Luther als Frage nach den inhaltlichen Maßstäben.

2. Luthers Durchführung des Autoritätsgedankens a) Die Betonung der Selbständigkeit des paulinischen Apostolates Der Vorrang, den die Frage nach der inhaltlichen Begründung der apostolischen Autorität für Luther besaß, ermöglichte es ihm, nicht nur das Verhältnis des Paulus zu den Pseudaposteln, sondern gleichzeitig seine Position gegenüber den Uraposteln in den Blick zu bekommen. Ja, dieser innerkirchlichen Auseinandersetzung gilt sein eigentliches Interesse. Luther liest den Brief vom ersten Verse an auf den Apostelstreit in Antiochien hin. Von hier aus stellt sich ihm im Zusammenhang der Erörterung des Paulus über seinen Zug nach Jerusalem, der ihm seine lehrmäßige Ubereinstimmung mit den dortigen Aposteln be17 455. 3f454. 36. Non possum hic (etsi leviculum est) transire multorum . . . fatuam querelam . . . (454, 28L). 16

18

Luthers Durchführung des Autoritätsgedankens

7

stätigte, die Frage nach dem Abhängigkeitsverhältnis des Paulus von den Uraposteln sehr viel klarer als der Tradition. Er wird scharfsichtig für das Problem, das hinter dem Bericht des Paulus über seine Reise nach Jerusalem steht, das aber der Auslegungstradition vor ihm gar nicht bewußt geworden war, da es außerhalb des theologischen Horizontes des Mittelalters lag und so durch den Schleier eines selbstverständlichen scheinbaren Verstandenhabens verhüllt blieb, wie ja auch dann der Apostelstreit selbst in der Exegese um seine eigentliche Schärfe gebracht wurde19. »Deinde post annos quatuordecim iterum ascendi Hierosolymam cum Barnaba, assumpto et Tito (ascendi autem secundum revelationem) et contuli cum illis Euangelium, quod praedico in gentibus, seorsum autem iis, qui videbantur aliquid esse, ne forte in vacuum currerem aut cucurissem« (Gal. 2, if.). Für die traditionelle Auslegung fügt Paulus in diesem Reisebericht seinen bisherigen Argumenten für die Wahrheit seines Evangeliums eine weitere Bestätigung hinzu durch den Hinweis auf die Zustimmung der Urapostel, die er in Jerusalem erreicht hatte. Die Voraussetzung für diese Deutung ist die Auffassung, daß das Verhältnis des Paulus zu den Uraposteln ein Autoritätsverhältnis darstellt. Im Grunde handelt es sich bei diesem Zuge nach Jerusalem um die allmählich fällig gewordene Reise zur vorgesetzten Kirchenbehörde, wenn dies auch nicht in jeder Auslegung gleich eindeutig zutage tritt. Hieronymus etwa betont zwar bei der Erläuterung der von Paulus gebrauchten Vokabel conferre — contuli cum illis Euangelium (Gal. 2, 2) — das in ihr enthaltene Moment des pari consilio und hebt den Unterschied zu einem bloßen discere des Paulus deutlich hervor, fährt jedoch kurz darauf fort: post annos (ut ipse ait) decern et septem, plene cum eis loquitur, et se humiliat20. Wenn auch die Reise des Paulus nur erfolgt, um den heidenchristlichen Gemeinden seine lehrmäßige Übereinstimmung mit den Leitern der judenchristlichen Kirche zu erweisen, so bleibt doch der Geschmack einer Demütigung damit verbunden, der aus der von Hieronymus unausgesprochenen, ihm selbst vielleicht kaum 19

S. u. S. 289ff.

20

MSL. 26, Sp. 357, 398 C.

8

Das Evangelium als autoritative apostolische Verkündigung (1519)

klar bewußt gewordenen Vorstellung eines Obrigkeitsverhältnisses erwuchs. Sie mag weniger seiner Einschätzung des römischen Papsttums als dem ihm als Mönch in Fleisch und Blut übergegangenen Gehorsamsverhältnis im Kloster entsprungen sein — später, in der Auslegung des Apostelstreites, bezeichnet er Petrus als propositus21 —, in jedem Falle ist dies mehr als die unbefangene Annahme eines nur durch ihre früher liegende Berufung bedingten Vorrechtes der Jerusalemer Apostel vor Paulus. So scheint es eher Augustin zu sehen: für ihn war der Besuch des Paulus nötig, damit die übrigen Apostel etwas von der Tatsache des vollen paulinischen Apostolates erfuhren22. Sie erwies sich ihnen im Laufe der Besprechungen, die Paulus — um der Schwachen willen im Geheimen — mit ihnen führte. Dagegen spricht die Glossa ordinaria den qualitativen Vorrang der Jerusalemer Apostel sehr deutlich aus, er ist auf die Zwölf, die unmittelbaren Jünger Jesu, beschränkt. Paulus ist erst nach der Himmelfahrt Christi berufen, die Kirche aber lebt davon, daß das Wort der Apostel das Wort Christi selbst ist. Diese Identität wird allein verbürgt durch die leibliche Jüngerschaft oder, wie hier bei Paulus, wenigstens in der von ihm eingeholten Zustimmung der Apostel. Zweimal wird es betont: Aliter enim non crederet ecclesia ei qui non fuerit cum domino23. Bei Lyra endlich fallen die Begriffe »principales et a deo instructi«24, werden aber nicht näher präzisiert. Die angeführten Beispiele zeigen, mit welcher Selbstverständlichkeit die hier vorliegende Frage in der Auslegung gelöst wurde und wie wenig sie als Problem empfunden war. Auch Luther ist erst langsam auf die Bedeutung dieses Textes aufmerksam geworden. Noch 1516 spielte diese Frage für seine Auslegung so gut wie keine Rolle, seine Aufmerksamkeit galt auch bei diesem Abschnitt allein dem Hauptthema des Briefes: der Frage der Gesetzeswerke, die zwischen Paulus und den Aposteln 21

MSL. 26, Sp. 364, 407 A. Perfectionem ipsius opus erat ut scirent caeteri Apostoli (MSL. 35, Sp. 2 1 1 1 , 10). 23 Gl. ord. 2. St. 24 Z. St. f.; vgl. auch .principales apostoli', z. St. g; x. 22

Luthers D u r c h f ü h r u n g des Autoritätsgedankens

9

verhandelt wurde 2 5 . Anders ist das Bild 1 5 1 9 . Z w a r gilt Luthers Augenmerk auch hier hauptsächlich dem T h e m a der Auseinandersetzung selbst, doch das Verhältnis zwischen Paulus und den Jerusalemer Aposteln hat sich deutlich aus den einzelnen Glossen zu einem eigenen T h e m a der Auslegung entwickelt. Die B e gründung dafür liegt in Luthers eigener Geschichte 2 ®. D a s J a h r 1 5 1 8 hatte ihm den römischen Prozeß gebracht, der Ablaßstreit hatte zum gefährlichen Zusammenstoß mit der römischen Kurie geführt. Luther wurde gezwungen, sich über die Konsequenzen seiner theologischen Erkenntnisse im Blick auf das römischkatholische System klarzuwerden. Die klärende Rolle, die die Lektüre des Galaterbriefes dabei spielte, ist bekannt: die U n a b hängigkeit des Paulus verbürgt ihm die eigene, im Evangelium gegründete Freiheit, und an der gleichberechtigten Stellung aller 25

Vgl. die erste thematische Randglosse: Fortissimum a r g u m e n t u m hie ponit apostolus, quod opera legis non sunt necessaria, quia cum Titus licet gentilis et in medium J u d e o r u m ductus ac sic inter acerrimos legis zelatores hostesque libertatis constitutus non fuerit compulsus circuncidi, multo magis nulli alii debent compelli ad circuncisionem et alia legis opera (W. 57, 2. Abt. 12, i 8 f f . ) . Zwarstehen auch Luthers Glossen zum Reisebericht selbst (Gal. 2, 1 f.) deutlich im Gegensatz zur Tradition, er f ü h r t die Auseinandersetzung hier jedoch völlig unbetont. Der Grund f ü r die Reise des Paulus nach Jerusalem ist nach seinen eigenen Worten allein der Wille Gottes, der sich ihm in einer Offenbarung kundgetan h a t . Luther ist der einzige, der auf das .ascendi a u t e m secundum revelationem' des Textes W e r t legt und ihm ein ,ηοη secundum necessitatem' u n d ,ηοη pro necessitate euangelii' entgegensetzt. W e r schon 17 J a h r e gepredigt h a t , bedarf f ü r sein Evangelium keiner Bestätigung mehr! Der Gehorsam gegen den Befehl Gottes ist Grund genug zur Reise. ,Ad informandos eos, qui aliter sapiebant' ist Beweggrund f ü r den göttlichen Willen, nicht f ü r den Entschluß des Paulus. Von einer Verpflichtung gegenüber den Jerusalemer Aposteln ist keine Rede, der Handschlag, der die Ubereinkunft der Apostel besiegelt, wird noch schärfer als bei Lyra, der ihn als einen modus confirmandi fedus amicitiae bezeichnet, kommentiert als ein Zeichen dafür, d a ß die Verhandlungen zwischen Gleichgestellten stattgefunden haben, ohne superiores et magistri. Doch alle diese Äußerungen bleiben im R a h m e n der glossierenden Exegese, L u t h e r zeigt kein besonderes Interesse und zieht keine weiteren Konsequenzen. 26 Vgl. dazu Holl, Ges. Aufs. Bd. 3, S. 135ff. (Der Streit zwischen P e t r u s u n d Paulus in Antiochien in seiner Bedeutung f ü r Luthers innere Entwicklung).

Das Evangelium als autoritative apostolische Verkündigung (1519)

10

Apostel beginnt sich ihm die Spannung des Evangeliums nicht nur zu den Autoritätsansprüchen einzelner Vertreter des Klerus, sondern darüber hinaus zu der prinzipiellen Vormachtstellung des Papsttums als kirchlicher Institution aufzudrängen. Daß Luther der Frage nach dem Inhalt der Verkündigung grundsätzlich den Vorrang vor jeder formal begründeten Autorität zugesteht, hat es ihm in diesen Jahren ermöglicht, seine Überzeugung auch gegen die Autorität der Kurie durchzuhalten. Es blieb nicht ohne Auswirkung auf seine Exegese, daß ihm der Galaterbrief zur wesentlichen Hilfe wurde, sich seine Situation theologisch zu erhellen. Luther nimmt die beiden ersten Verse des zweiten Kapitels — den Bericht über die Reise und die Mitführung des unbeschnittenen Titus — als selbständige Einheit, ohne die Beziehung auf das Thema der folgenden Besprechungen herzustellen. Sie gelten ihm als Beweis, daß Paulus die gleich gewisse und sichere Offenbarung zuteil geworden sei wie den Aposteln — ut nullos prorsus homines, etiam Apostolos, sit veritus habere iudices, tum nullorum quoque importunitati cesserit27. Jedes Glied des ersten Verses dient jetzt als Nachweis der Unabhängigkeit des Paulus: die voraufgegangene 17jährige Predigttätigkeit, die keinerlei eigene Unsicherheit in seiner Verkündigung zuläßt28; die ausschließliche Begründung der Reise in dem ihm offenbarten Willen Gottes; die Tatsache, daß er nach Jerusalem, der Hochburg der Synagoge wie der judenchristlichen Kirche, zieht, ohne die Auseinandersetzung zu fürchten; schließlich ist sein Entschluß, Barnabas den Juden und Titus den Griechen mit sich zu nehmen, um seine Freiheit zu beweisen, ein deutliches Zeichen für seine Gewißheit—fiduciam eius vide29! Wir haben in der Zusammenstellung dieser Gedanken 1519 eine — durchnumerierte! —Anführung von Gründen für einen Leitgedanken vor uns, den der Unabhängigkeit des Paulus, nicht mehr eine glossierend am Text entlanggehende Exegese. 27 28

475. 29f-

Si enim dubitasset, verum ne an falsum doceret, insignis et inauditae temeritatis ac impietatis fuerat, dilata necessaria collatione tot populos 29 ludere incerta doctrina. (476, 2ff.). 476, 15.

Luthers Durchführung des Autoritätsgedankens

11

Zu den theologischen Erkenntnissen, die bei Luther schon bereitlagen, an denen auch die Lektüre des Galaterbriefes ihren Anteil hatte, und die es ihm ermöglichten, zur gegebenen Stunde die Wahrheit seines Evangeliums auch den Autoritätsansprüchen der römischen Kurie gegenüber festzuhalten, traten in steigendem Maße historische Einsichten, die ihm auch aus dem Brief an die Galater erwuchsen und auf die er im Zuge seiner Auslegung von Gal. ι und 2 aufmerksam wurde. »Es beginnt ihm zu dämmern, daß das Papsttum nicht göttliche Stiftung, sondern etwas von Menschen Gesetztes, geschichtlich Erwachsenes ist. . . Das künstlich von der katholischen Dogmatik hergestellte Bild des apostolischen Zeitalters beginnt sich ihm unter diesem Eindruck aufzulösen«30. Daß Paulus 14 Jahre nach seinem ersten Jerusalemer Besuch immer noch mindestens Petrus, Jakobus und Johannes in Jerusalem antrifft, ist ein neuer Beweis dafür, daß der Bericht über den gemeinsamen Auszug der Apostel im 13. Jahr nach der Auferstehung Christi Legende ist (fabulal). Viel wichtiger aber ist Luther die Beobachtung, daß im Urchristentum von einem ausschließlichen Primat des Petrus keine Rede sein kann. In seiner weiteren Auslegung (zu Gal. 2, 9) gewinnt die von ihm schon 1 5 1 6 getroffene Feststellung, daß Paulus an dieser Stelle Jakobus vor Petrus nennt31 — von Luther damals nur mit der Bischofsstellung des Jakobus in Jerusalem begründet32 —, jetzt ihre Bedeutung im Blick auf die Stellung des Petrus: alle Apostel waren gleichberechtigt, einen Vorrang einzelner gab es nicht, gemäß dem Evangelium Christi, daß der der Höchste ist, der sich selbst gering achtet. Das Streben nach Herrschaft und Macht war erst eine Folge temporis et vitiorum, wie Luther, sich auf Hieronymus berufend, formuliert33. 30

Holl, a. a. O. 1 4 0 ! Welcher Text lag Luther vor ? Zur Reihenfolge der Apostelnamen vgl. den kritischen Apparat bei Nestle und Schliers Angabe z. St. (Meyers Krit.-Exeget. Kommentar): Πέτρος vor 'Ιάκωβος haben D F G d f g vg syrP e ' hr , Tert., Hier., al (nach Nestle auch Ambst). Im Galaterkommentar Augustins ist der Text selbst nicht zitiert, Augustin referiert jedoch: Petrus autem et Jacobus et Joannes honoratiores in Apostolis erant. . . (MSL. 35, Sp. 21x3, 13). 32 88 W . 57, 2. Abt. 15, 5f. 481, 32; wo bei Hieronymus? 81

Das Evangelium als autoritative apostolische Verkündigung (1519)

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b) Die Autorität des Apostolates als Autorität des Evangeliums Wir hatten gesehen, daß die Entschlossenheit, mit der Luther die Unabhängigkeit des Paulus von allen übrigen Aposteln herausarbeitet und die Gleichberechtigung seines Apostolates betont, herrührt von der grundsätzlichen Überordnung des Inhaltes der Verkündigung über jeden formalen Autoritätsanspruch. Der Apostel als Zeuge des Evangeliums steht und fällt mit dem Anspruch der Wahrheit, mit deren Predigt er beauftragt ist. Von dieser Beauftragung mit dem Evangelium her entwickelt Luther an späterer Stelle positiv die Frage der apostolischen Autorität. Der Bericht des Paulus in Kapitel 1 und 2 über seine Berufung, seine Reise nach Jerusalem und seinen Zusammenstoß mit Petrus in Antiochien soll für Luther dazu dienen, die Gleichheit seines Apostolates und seiner Verkündigung mit der der Jerusalemer Apostel zu erweisen. Die Urapostel konnten ihn keines Irrtums überführen, sie stimmten in ihrer Lehre mit ihm überein: A b iis autem, qui videbantur esse aliquid, quales aliquando fuerint, nihil mea interest: deus personam hominis non accipit. Mihi enim qui videbantur nihil contulerunt (Gal. 2, 6). Mit der Nebenbemerkung »quales aliquando fuerint, nihil mea interest« wendet Paulus sich offenbar gegen Vorwürfe seiner Gegner, daß er sich nicht mit den übrigen Aposteln messen könne. Der Vers kann in doppelter Weise ausgelegt werden, je nachdem, ob der Vorwurf gegen Paulus sich auf seine Vergangenheit als Verfolger der Kirche bezieht oder darauf, daß er Jesus selbst nicht gekannt habe und deshalb den übrigen Aposteln an Rang unterlegen sei. Im ersten Falle brächte Paulus mit seiner Bemerkung zum Ausdruck, daß auch die Apostel Sünder waren, daß also eine Argumentation von der schuldhaften Vergangenheit her nicht nur Paulus, sondern ebenso auch die Urapostel träfe, im andern Fall wäre quales aliquando fuerint eine Anspielung auf ihre Jüngerschaft, der Paulus seine Gleichgültigkeit gegen einen solchen Vorzug entgegensetzt. Die Tradition teilt sich, Augustin und ähnlich der Ambrosiaster verstehen den Text im ersten, Hieronymus im zweiten Sinne, die Glossa stellt beide Meinungen zur Wahl 34 . A u g u s t i n exegesiert nach Lu34

Vgl. jeweils z. St.

Luthers Durchführung des Autoritätsgedankens

13

ther damit »ad indignitatem« 35 , er sieht in den Aposteln die ehemaligen Sünder, ebenso wie die Pseudapostel in Paulus. Für ihn fängt Paulus mit seiner Äußerung also einen fingierten, geschickt auf die Apostel bezogenen Einwand ab, der im Grunde den Einwand der Pseudapostel gegen ihn selbst beantwortet. Ihr gegenwärtiges Ansehen als Apostel beruht nicht auf ihrer eigenen Qualität, sondern auf der Einwohnung Christi, eine Lösung, der das Verständnis des videri esse aliquid als »Christus in illis est aliquid, non ipsi per se« zugrunde liegt. Die Verkennung dieses Tatbestandes stempelt die Pseudapostel zu fleischlichen Menschen, die, so kann man ergänzen, den Schein für die Wirklichkeit nehmen und Paulus, der durch die Einwohnung Christi zum bonus minister Dei geworden ist, nicht von dem ehemaligen Verfolger der Kirche scheiden können 36 . Vergangenheit und Gegenwart lösen einander ab durch die Einwohnung Christi, die Sünder sind zu Beauftragten Gottes geworden. Das Urteil über die gegenwärtigen Apostel ist im Verhältnis zu ihrer Vergangenheit ein positives. H i e r o n y m u s dagegen sieht in den Aposteln die ehemaligen Jünger Jesu. Das videri esse aliquid, von dem her Augustin exegesiert hatte, und der damit gegebene Unterschied von Schein und Sein spielt für ihn keine Rolle. Der Gegensatz Gegenwart — Vergangenheit hegt ihm daher nicht in einer neuen Qualität der Apostel, sondern in der Veränderung ihrer Verkündigung. Paulus steht für Hieronymus nicht im lehrmäßigen Einklang mit ihnen, sondern wendet sich gegen sie: non adversus eos loquor qui eo tempore Dominum sequebantur, sed adversum eos loquor, qui nunc legem praeponunt gratiae 37 . Jeder aus der Vergangenheit herrührende Anspruch ist durch die falsche Lehre hinfällig. Es wird nicht ganz deutlich, ob Hieronymus die Verkehrung des Evangeliums zur Gesetzlichkeit den galatischen Irrlehrern oder den Jerusalemer Aposteln zuschreibt. Im ersten Falle läge eine Inkonsequenz gegenüber dem Paulustext vor, im zweiten — doch wohl wahrscheinlicheren — Fall wäre damit ein Vorwurf gegen die Urapostel eingeschlossen, den Hieronymus in seiner weiteren Auslegung nicht durchhält. 85 37

36 479, 29. MSL. 35, Sp. 2112, 12. MSL. 26. Sp. 360, 402 A.

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Das Evangelium als autoritative apostolische Verkündigung (1519)

Es bliebe dann eine gewisse Unklarheit, durch seine Exegese des »quales aliquando fuerint« auf die ehemalige Jüngerschaft hin käme Hieronymus in die Verlegenheit, den Vorwurf des Paulus aussprechen zu müssen, ohne doch die Apostel selbst antasten zu wollen. Das angefügte Zitat aus Sir. 35, 16 »Deus enim personam hominis non accipit« ist für alle Ausleger nur eine Bestätigung ihrer Auslegung, die von anderen Begriffen des Textes her erfolgt. »Persona« ist der Mensch und bezieht sich inhaltlich auf die Vergangenheit der Apostel, umschließt bei Augustin also das Sündersein, bei Hieronymus die Zugehörigkeit zum Kreise der Jünger. Luther referiert kurz beide Auslegungsmöglichkeiten — ad indignitatem und ad dignitatem — und entscheidet sich mit Hieronymus für die zweite. Paulus gesteht den Aposteln ihre Jüngerschaft wohl zu, bestreitet aber den Vorrang, den die Pseudapostel, die angeblich im Namen der Jerusalemer Urapostel auftreten, auf Grund dieser Tatsache für die Urapostel gegen Paulus in Anspruch nehmen. Totum hoc nihil ad rem pertinere, quo ipsi inflantur38. Denn keine Lehre ist schon deshalb wahr oder gut, weil sie von einem angesehenen und heiligen Manne ausgesprochen wird — aut cuiuscunque tandem personae sit39 —, wahr und gut ist nur, was von Gott stammt. Nicht das äußere Ansehen, die larva, die externa apostolorum gloria40 ist entscheidend, sondern gültig ist allein das Wort Gottes, das dieser ohne solche persona offenbart und lehrt. Luther setzt in seiner Exegese gedanklich ein beim Begriff der persona, im Unterscheid zu den mittelalterlichen Auslegern, für die das Zitat »Deus enim personam hominis non accipit« nur die Bestätigung ihrer bereits abgeschlossenen Auslegung sein konnte, da sie persona einfach als Bezeichnung für den Menschen faßten. Luther wendet sich gegen die scholastische Definition von persona als rationalis individua substantia und setzt ihr seinen an der Bibel gewonnen persona-Begriff entgegen41. Persona ist für ihn auswechselbar mit facies, apparentia42, πρόσωπον 43 , der Begriff bezeichnet für ihn die externa qualitas 38

39 40 480, 3. 480, 5. 480, 7 f . 480, iff.; Stellennachweise bei Ficker, W. 57, 2. Abt. 67, Anm. zu Z. 20. 480, 17 f. « 480, 21. 41

Luthers Durchführung des Autoritätsgedankens

15

vitae, opens at conversationis44, das, was offenbar ist (ista patentia)46, was äußerlich in Erscheinung tritt 48 , d. h. alles, was der Mensch am Menschen wahrnehmen, loben und tadeln kann, was ihm vor Augen liegt und was er am anderen betrachtet 47 . Es ist das gleiche, was Luther an anderer Stelle als homo exterior48 oder mit in manifesto49 bezeichnet. Gegenbegriff zu persona ist cor60 als der Inbegriff dessen, was Gott sieht, was nur in spiritu wahrgenommen werden kann 81 , es ist gleichzusetzen mit homo interior52 und in abscondito53. Wir stoßen hier auf den für Luther charakteristischen Doppelaspekt in seiner Beschreibung des Menschen, den er ein Jahr später in seiner Schrift »Von der .Freiheit eines Christenmenschen« ausführlich dargelegt hat 64 und mit dem er die theologische Relevanz des scholastisch-philosophischen Menschenbildes bestritt und eine theologische Beschreibung des Menschen leistete56. Daß es Luther mit dieser Unterscheidung von persona und cor nicht einfach um eine Verinnerlichung des Bildes vom Menschen zu tun ist, zeigt schon der von ihm in diesem Zusammenhang auch verwandte Gegensatz der persona der Apostel und des verbum dei, dessen Träger sie sind66. Theologische und anthropologische Begriffe werden einander im Gegensatz zum persona-Begriff gleichgeordnet, es geht Luther nicht um eine Beschreibung des Menschen als eines 44

480,13.

45

480,17.

48

480, 22.

47

480, i 4 f .



5x7, 19.

49

486, 8.

60

Die

480, 16, nach 1. Sam. 16, 7 u. Ps. 7, 10. Zu ,cor* vgl. bes. Stomps, Anthropologie

Martin

Luthers,

S. 146ff.;

außerdem

Haikola,

Studien zu Luther und zum Luthertum, S. 23. 38 f., der allerdings — im Unterschied zu unserer Stelle —- auf das Herz als

Erkenntnisorgan

hinweist (vgl. im übrigen seinen Verweis auf Pierre d'Ailly, De anima). 61

480, 15.

56

E s ist nicht das Thema der vorliegenden Arbeit, das theologische

62

517, 19.

63

486, 8.

64

W . 7, 20ff.

Menschenbild Luthers zu entwerfen. Dazu wäre auch das in der Galatervorlesung enthaltene Material zu schmal, auch wenn einige wesentliche Gesichtspunkte mit ihm herausgearbeitet werden könnten. Zum Verhältnis

Menschenbildes

bei

Luther vgl. bes. Haikola, der es auf die Verhältnisbestimmung

des

philosophischen

und

theologischen

von

Gesetz und Evangelium zurückführt, und jetzt auch das ausgezeichnete Kapitel »Die theologische Menschenauffassung« in Asheim, Glaube und Erziehung bei Luther, S. 202ff., der die Frage nach dem Menschenbild einbezieht in seine Frage Pädagogik.

nach

*· 480, 7 ff.

dem Verhältnis

von Theologie

und

Das Evangelium als autoritative apostolische Verkündigung (1519)

16

isolierten Wesens, sondern um ein gedankliches Erfassen des Menschen in seinem Verhältnis zu Gott. Unter dem Gesichtspunkt der Beziehung zu Gott fallen weder die Werke noch das Ansehen noch das Betrautsein mit einem äußerlich sichtbaren Amt ins Gewicht, denn Gottes Aufmerksamkeit gilt allein dem Menschen selbst (cor) bzw. — das setzt Luther hier eigentümlich in eins — dem Menschen als dem Empfänger des göttlichen Wortes. Luther trägt seine doppelte Betrachtungsweise des Menschen an unserer Stelle als Hilfe zur Unterscheidung vor, ohne sie mit der Wertung Sünde — Gerechtigkeit zu verbinden. Die externa qualitas vitae wird festgestellt und in ihrer Bedeutung relativiert, verfällt aber keiner grundsätzlichen Verurteilung. Das Amt des Apostolates, das Luther hier als persona deutet, ist als solches nicht schlecht. An anderer Stelle weist Luther auf die Bedeutung der personalia für das irdische Leben hin 57 , er tut es im Anschluß an Augustin, und dieser Gedanke fügt sich seiner Gesamtkonzeption mühelos ein, ohne daß jedoch dieser Gedanke für ihn von besonderem Interesse wäre. Aber die Ansätze zu seiner späteren Auslegung unseres Textes, in der er der Frage nach der Bedeutung der persona breite Aufmerksamkeit schenkt, sind in der Konzeption von 1 5 1 9 bereits vorhanden. Obwohl Luther von der Exegese des Hieronymus ausgeht, scheint er in seinem Verständnis des Apostelamtes dann doch näher bei Augustin und der Glossa zu stehen, vgl. Augustins »Christus in illis est aliquid, non ipsi per se«, das auch die Glossa zitiert68. Aber gerade in dieser Nähe wird auch der Unterschied deutlich, der Luther von Augustin wie von Hieronymus gleicherweise trennt. Indem Luther in seiner aus seiner Rechtfertigungslehre herausgewachsenen Interpretation des persona-Begriffs die beiden Aspekte coram deo und coram hominibus für den gleichen Menschen festhalten kann, durchbricht er die Reihenfolge aliquando — nunc, die auch seine Auslegung zunächst bestimmt, und kommt so statt einer Beschreibung zweier Lebensabschnitte der Apostel zu grundlegenden theologischen Aussagen über den Menschen, die in ihrer allge67

Zu Gal. 3, 28; 530, 28ff.

68

MSL. 35, Sp. 2112, 12.

Luthers Durchführung des Autoritätsgedankens

17

meinen Gültigkeit auch die Frage der apostolischen Autorität umgreifen. Er kann so als einziger der Ausleger mit grundsätzlichen Ausführungen zu dem zur Debatte stehenden Thema des apostolischen Amtes schließen, die den Papst nicht weniger als die damaligen Apostel betreffen 59 . c) Die Geschichte des Paulus als Zeugnis für die Echtheit seines Apostolates Fällt die Autorität des Apostolates mit der des Evangeliums zusammen, so ist jeder Beweis für die Rechtmäßigkeit des apostolischen Autoritätsanspruchs sehr erschwert. Es ist sehr aufschlußreich, unter diesem Gesichtspunkt Luthers Auslegung des autobiographischen Berichtes durchzugehen, den Paulus gibt, um die Echtheit seines apostolischen Auftrags und damit seines Evangeliums zu erweisen. Seine Exegese besteht außer dem Aufgreifen der zur Debatte stehenden theologischen Streitfragen (Gal. i, Ii. 14) in kürzeren sachlichen Erläuterungen zu den einzelnen Versen und ist durchzogen von Hinweisen darauf, daß es Paulus in seinem ganzen Bericht um einen Nachweis für die Göttlichkeit seines Evangeliums geht: longo tractu multisque argumentis declarans, quod non humana sed divina docuerit 60 ; oportet i n t e l l i g i . . . ad confirmandum 61 ; Paulus ostensurus, se ex deo revelante docuisse Galatas 62 ; contentiose Apostolus agit, ut sese divina docuisse probet 63 ; hoc refert ad ostendendum . . , e 4 ; semper hue spectans et arcum narrationis eo tendens . . .®5 — und zu Anfang des zweiten Kapitels faßt Luther noch einmal zusammen: Postquam satis probavit, nullius hominis Magisterio se Apostolum factum, sed divina revelatione, nunc probat, se eadem revelationem tarn certam, firmamque habuisse . . . ββ . Der entscheidende Punkt ist immer der gleiche: der Erweis der Göttlichkeit des paulinischen Evangeliums. Paulus will zeigen, daß er nicht ex homine . . . errorem, sondern ex Christo veritatem predigt®7. 89

A t certe potestas Papae, cum sit persona quaedam hominis, a deo

non respicitur . . .: omnia sunt personalia . . . (480, 34ff.).

2

80

465, i2f.

el

467, 29.

82

470, 21.

44

472, 13.

96

474, 30.

ββ

475, 27 ff.

Bornkamm, Galaterbrief

68 e'

470, 30. 466, τ ί .

18

Das Evangelium als autoritative apostolische Verkündigung (1519)

Hier liegt die Möglichkeit einer Interpretation, in der der Text als Behauptung einer Autorität verstanden wird, die ihr Recht formal von einer direkten Autorisation durch Gott herleitet, gefährlich nahe. Besonders deutlich vertreten finden wir sie bei Hieronymus, auf den Luther selbst verweist® 8 . Sein Gedankengang, der für den Vergleich mit Luther aufschlußreich ist, sei hier kurz skizziert. Hieronymus wirft in diesem Zusammenhang (zu Gal. 1, 1 1 f.) die grundsätzliche Frage nach der Autorität des Evangeliums auf, die Vergangenheit wie Gegenwart in gleicher Weise betrifft: Quaeritur utrum totius orbis Ecclesiae Dei acceperint Evangelium, an hominis: quotus enim quisque nostrum per revelationem Christi didicit, et non homine praedicante cognovit89 ? Seine Antwort ist im Grunde nur die Ausführung einer kurzen, klaren Argumentation: 1. Christus ist deus, das Evangelium, das von ihm stammt, ist also göttlich; 2. Petrus und Paulus sind dii: das erweist einmal das Selbstzeugnis des Paulus — in me loquitur Christus (2. Kor. 1 3 , 3); Christus vivit in me (Gal. 2, 20) — , das Hieronymus auch auf Petrus überträgt, zum anderen die biblische Wendung »dii estis« (Ps. 82, 6), in der auf den Tod der beiden Apostel angespielt wird, die im Gegensatz zu den peccatores nicht wie Menschen sterben 70 ; 3. dii tradunt dei Evangelium, denn sie sind im Besitz des Geistes, der die Göttlichkeit des Gepredigten verbürgt, die nicht im wörthchen, sondern im geistigen Verständnis der Schrift besteht: Nec putemus in verbis Scripturarum esse Euangelium, sed in sensu: non in superficie, sed in medulla; non in sermonum foliis, sed in radice rationis 71 ; Ego quoqueipse, si Christum in me habeo, non habeo Evangelium hominis; si autem peccator sum(!) . . . 72 . D. h. die Göttlichkeit des Evangeliums wird bei Hieronymus gesichert durch die göttliche Qualität der Prediger, die im Gegensatz zum peccatorem esse gesehen wird. Die Beweisführung, die er bei Paulus festzustellen meint, geht über das Formale nicht hinaus, selbst die Verbindung von Evangelium und Heiligem Geist führt nicht weiter zu einem inhaltlichen Maßstab. •8 465, 16. 26. «» MSL. 26, Sp. 322, 386 A. 70 Wohl eine Anspielung auf den Märtyrertod. 71 MSL. 26, Sp. 347, 386 A. " Ib.

Luthers Durchführung des Autoritätsgedankens

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Luther hat die Auslegung des Hieronymus herangezogen, er zitiert ihn selbst, doch dessen Gedankengang wird für ihn entscheidend modifiziert durch die Zuordnung der ganzen Argumentation zu dem Gegensatzpaar error-veritas und damit die Einbettung in Luthers eigenen, wesentlich an Augustin gebildeten Gedankenkreis73. Paulus berichtet seine Geschichte, um zu zeigen: non enim posse eos nisi ex homine acceptum Euangelium vel potius errorem habere, se autem ex Christo veritatem74. Die Angabe des menschlichen oder göttlichen Ursprungs der Verkündigung bedeutet für Luther wesentlich eine Aussage über ihren Inhalt, vom Menschen her kommt Irrtum, Gott aber gibt Wahrheit. Beide Begriffe sind für Luther inhaltlich gefüllt: der vom Menschen ausgehende Irrtum, der als Gegensatz zur Wahrheit, als Lüge zu interpretieren ist, besteht im Rühmen der eigenen Werke, während die von Gott stammende Wahrheit der Glaube an Christus ist. D. h. durch die Zusammenordnung von error bzw. mendacium — sua opera laudare — ab homine und umgekehrt von veritas — in Christum credere — euangelium — a deo werden für Luther die Begriffe göttlich und menschlich, die bei Hieronymus die äußere Herkunft bezeichnen, zu Aussagen über den Inhalt der empfangenen Botschaft. Von diesem inhaltlichen Verständnis des ab homine und a deo her muß die leidenschaftliche Beweisführung des Paulus für den göttlichen Ursprung seines Apostolates verstanden werden. Sein »neque enim ego ab homine accepi illud neque didici, sed per revelationem Jesu Christi« (Gal. i , 12) weist für Luther, anders als bei Hieronymus, zugleich auf den Inhalt der Predigt hin. Damit ist die Gefahr, den Text als nur autoritativen Beweis für die Wahrheit der paulinischen Botschaft zu verstehen, umgangen. Wie den äußeren formalen Nachweis für die Echtheit und damit die verpflichtende Kraft der apostolischen Autorität des Paulus, so vermeidet Luther auch eine dogmatische Beweisführung für die Richtigkeit seiner Verkündigung. Er läßt Paulus mit dem Bericht über seine Geschichte nicht hinzielen auf die intellektuelle Zustimmung der Galater, sondern auf ihren Glauben, 78 464, 6 ff. Wir können diesen Zusammenhang hier nur andeuten. 74 Näheres s. u. S. 44ft. 466, i f .



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Das Evangelium als autoritative apostolische Verkündigung (1519)

die Galater sollen nicht die göttliche Autorität des Paulus und damit seiner Lehre anerkennen, sondern das Evangelium annehmen: Velit exemplo suo Galatas retrahere a lege, ut inter audiendum simul moneantur moveanturque 75 . Die Geschichte des Paulus soll den Galatern im Grunde kein Beweis, sondern selbst ein Hinweis auf das Evangelium sein, ja, Luther geht so weit, zu sagen, sie sei um ihretwillen geschehen, damit die Galater an ihr beispielhaft das Wesen des Glaubens und der Erkenntnis Christi erkennen sollten: ut iis omnibus intelligatis, quod fides et cognitio Christi non ex lege mihi (seil. Paulo) venerit. . . Quare nec vobis ex lege salus esse poterit78. Daß Luther die Geschichte des Paulus teleologisch auf den Glauben der Galater beziehen kann, zeigt, daß diese Einzelgeschichte für ihn ihren Sinn nicht in sich selbst trägt, sondern ein Beispiel ist für die Geschichte des Glaubens, d. h. die Geschichte des Kampfes von Glaube und Unglaube, von Evangelium und Gesetz, von Gott und Mensch, in die er durch seinen Brief auch die Galater hineinziehen will, die also auf ein neues Sichereignen drängt. Sie ist eine Veranschaulichung, die nicht auf sich, sondern auf das Evangelium bzw. auf Christus weist als auf den, der durch sie hindurch erkannt sein will. Indem Luther die Geschichte des Paulus in diesem Sinne als Beispiel versteht, löst er sie los von diesem selbst und entnimmt sie seiner Verfügung; sie wird in die immer neue Geschichte des Evangeliums bzw. Christi hineingezogen und erhält ihr Ziel von dorther jeweils zugeordnet. Sie ist auch von den historischen Empfängern des Briefes wieder ablösbar. Im vorhegenden Falle läuft sie zu auf die Galater, an dies Ziel ist sie aber ebensowenig gebunden wie an das Ziel des Glaubens des Paulus selbst, um dessentwillen sie ja zunächst geschehen ist. Von hier aus ergibt sich aus Luthers Verständnis plötzlich eine Forderung an den Ausleger des Briefes: die Ablösung des Zielpunktes der paulinischen Geschichte von den Galatern und die Herstellung einer direkten Beziehung auf die jeweilige Gegenwart. Luthers Auslegung der Geschichte des Paulus, deren Bericht der Verteidigung seines Amtes und seiner Predigt dienen soll, läuft damit hinaus auf eine Bezeugung des 78

468, 8f.

78

470, i f f .

Die Konzentration auf die Rechtfertigung

Evangeliums, das seine Wahrheit erweisen muß 7 7 .

an den Hörern

21

selbst

II. I N H A L T U N D W E S E N D E R A P O S T O L I S C H E N VERKÜNDIGUNG

i . Die Konzentration auf die Rechtfertigung a) Die tropologische Interpretation der Auferstehung Christi Nachdem wir uns die enge Zusammengehörigkeit der Autorität des Apostolats mit dem Inhalt der apostolischen Verkündigung vergegenwärtigt haben, müssen wir noch einmal genauer nach Luthers Bestimmung der apostolischen Predigt fragen. »Paulus Apostolus . . . per Jesum Christum et deum patrem, qui suscitavit eum a mortuis« (Gal. ι , i) — die Erwähnung der Auferstehung Christi in der Grußformel ist für Luther die erste Gelegenheit, das, was in seiner ersten Ausführung über den Apostolat an inhaltlicher Bestimmtheit des apostolischen Amtes anklang, etwas weiter zu entfalten und es über die Hinweise auf die Verbindung von Apostolat und Wort Gottes hinaus noch einmal tiefer zu begründen. Luther weicht auch hier deutlich ab von der Linie der traditionellen Auslegung. Zwar messen auch Augustin, die Glossa ordinaria und Hieronymus der Berufung des Paulus auf den Auferstandenen entscheidende Bedeutung zu. Für Hieronymus ist die Berufung auf den auferstandenen Christus der stärkste Beweis dafür, daß die Autorität des Paulus der der übrigen Apostel gleichzusetzen ist 7 8 ; für Augustin wird die Tatsache, daß Paulus der zuletzt berufene Apostel ist, dadurch aufgewogen, daß die Berufung der übrigen per Jesum Christum . . . adhunc mortalem, die des Paulus aber per Jesum Christum totum jam deum post resurrectionem ejus erfolgt ist 79 ; und die Glossa konstatiert mit der gleichen, von Augustin übernommenen Auslegung für Paulus sogar ein »dignior«80. 77 Vgl. zu diesen letzten Gedanken Hirsch, Die idealistische Philosophie und das Christentum, S. 15 ff.; Hirsch, Luthers deutsche Bibel, S. 42ff.; Ebeling, Evangelische Evangelienauslegung, S. 4i7ff. 78 MSL. 26, Sp. 335, 373 B. 78 MSL. 35, Sp. 2107, 2. 80 Gl. ord. z. St.

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Doch bei all diesen Interpretationsversuchen kann von einer theologischen Durchdringung des im Text liegenden Zusammenhanges keine Rede sein. Luther stellt bewußt die Frage nach dem theologischen Sinn: Quod autem resurrectionem Christi interserit (Paulus), videtur otiosum81 und sucht die Antwort, indem er die Erwähnung der Auferstehung Christi in die Verkündigung des Paulus einbezieht. Unter Heranziehung von Rm. 4, 25 — Christus mortuus est propter peccata nostra et resurrexit propter iustificationem nostram — exegesiert er tropologisch: wer an den sterbenden Christus glaubt, stirbt seiner Sünde mit Christus, wer sich an den Auferstehenden hält, ersteht durch den Glauben mit ihm und lebt in ihm. Durch diese Zusammenordnung von Christus und Rechtfertigung erhält unser Text für Luther die scharfe Spitze gegen alle Gesetzeswerke und jede Eigengerechtigkeit. Für seine Rechtfertigung ist das Tun des Menschen völlig belanglos, es liegt alles daran, daß er hineingenommen wird in Christi Auferstehung: Sine resurrectione Christi nemo resurgit, quantumlibet operetur bona: rursum, per resurrectionem quilibet resurgit, quantumlibet operatus sit mala82. Die Auferstehung des Menschen mit Christus geschieht durch den Glauben— credendo in Christum83, qui credit84, eadem fide85. Der Begriff des Glaubens schließt für Luther jegliches Werk aus86. Luther bedient sich bewußt der tropologischen Auslegung: solet Apostolus libenter resurrectionem commemorare, potissimum contra eos, qui iustitiam propriam confidunt87. Er bestimmt also den theologischen Ort dieser hermeneutischen Methode vom Gedankenkreis der Rechtfertigung her. Wir haben hier offenbar die methodische Umkehrung seiner theologischen Anfänge vor uns88. Ebeling schreibt, es sei seines Erachtens ver81

8e

455, II.

82

455, 23ff.

83

455, l8.

84

455, 20f.

85

455, 21.

Von dieser tropologischen Auslegung der Auferstehung Christi führt ein gerader Weg zu der Einbeziehung des Glaubenden in die Geschichte Christi, auf die wir in Luthers Vorlesung von 1531 stoßen 87 werden, s. u. S. i27ff. 450 I2f. 88 Der tropologische Sinn ist ihm während der Psalmenauslegung mehr und mehr zum Hauptsinn der Schrift geworden; vgl. Hirsch, Initium theologiae Lutheri (jetzt in seinen Lutherstudien, Bd. 2, S. 30); Holl, Ges. Aufs., Bd. 1, S. 546; Vogelsang, Die Anfänge von Luthers

Die Konzentration auf die Rechtfertigung

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kehrt, »das Neue in der ersten Psalmenvorlesung allein am Leitfaden der Äußerungen zur Frage der Rechtfertigung aufspüren zu wollen. Gewiß spielt die Frage der Rechtfertigung eine erhebliche Rolle in den Dictata. Aber sie ist von vornherein getragen von einem sehr viel breiteren Strom theologischer Gedanken, in denen sich das Neue ankündigt, das da im Werden ist. Wer die s p ä t e r e Entwicklung Luthers im Auge hat, vermag zu erkennen, daß die außerordentliche Bewegtheit in Luthers erster Vorlesung ihren verborgenen Richtpunkt hat in dem, was erst später als reformatorische Rechtfertigungslehre klare Gestalt gewonnen hat«. Ebeling sieht als die einheitliche Thematik »das Ringen um das hermeneutische Problem«89. Aus dieser Feststellung können wir für unseren Zusammenhang entnehmen, daß Luthers Rechtfertigungslehre offenbar eine Konsequenz seines hermeneutischen Ansatzes gewesen ist, eine Feststellung, zu der auch die folgenden Kapitel beitragen möchten. Für unser augenblickliches Beispiel ergibt sich, daß Luther hier nicht mehr von der tropologischen Exegese zur Rechtfertigungslehre geführt wird, sondern daß er um der Rechtfertigungslehre willen tropologisch exegesiert. Das läßt m. E . die Sicherheit der 1 5 1 9 gewonnenen Lehrbildung erkennen. Außer der thematischen Konzentration der apostolischen Verkündigung auf die Rechtfertigungslehre zeigt Luthers Wahl der tropologischen Exegese — auch wenn er selbst diese Reflexion nicht anstellt —, daß die Selbstkennzeichnung des Paulus als »berufen vom Vater Jesu Christi« für Luther ein Ausdruck dafür ist, wie unmittelbar die Beauftragung mit dem apostolischen Amt den Inhalt der apostolischen Verkündigung bereits in sich schließt. Der gleiche Gott, der Paulus berufen hat, hat Christus um unserer Rechtfertigung willen von den Toten Christologie, S. 27; E . Seeberg, Luthers Theologie, Bd. 2 Christus: »Die Rechtfertigungslehre ist die tropologische, auf den Menschen bezogene Anwendung der Anschauung Luthers von Christus.« (S. 11). Zum Verhältnis Seebergs in der hier angeschnittenen Frage zu Holl, Hirsch und Vogelsang s. E. Seeberg, a. a. O., S. 6 Anm. 4). 88 Ebeling, Die Anfänge von Luthers Hermeneutik, Z T h K . 48 (1951), Heft 2, S. 181.

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auferweckt, und Paulus als dem Boten dieses Gottes ist eben dies Heilsgeschehen als Inhalt seiner Botschaft aufgetragen. Indem Luther mit Paulus Gott in der Bezogenheit auf Christus versteht als den Vater Jesu Christi, der diesen von den Toten auferweckt hat, und die Rechtfertigung als Wirkung der Auferstehung Christi begreift, ist für ihn der apostolischen Verkündigung mit dem Wissen um ihren Ursprung zugleich der Gegenstand ihrer Predigt gegeben: die Rechtfertigung des Menschen, die geschieht in der Teilhabe an Christi Auferstehung. b) Die christologische Auslegung der Grußformel In der anschließenden Grußformel sieht Luther eine dem Brief vorangestellte, konzentrierte Zusammenfassung des paulinischen Evangeliums und ordnet in seiner Auslegung die ihm wesentlichen Elemente zusammen. »Gratia vobis et pax a deo patre et domino nostro Jesu Christi «(Gal. 1, 3). Auch die traditionelle Exegese liest aus dieser Formel den Gegensatz zur Predigt der Werkgerechtigkeit heraus, die Zusammenstellung von gratia und pax wird von Hieronymus, Augustin und der Glossa auf die Vergebung der Sünden bezogen 90 , ja Hieronymus weist ausdrücklich darauf hin, daß die Begriffe gratia und pax hier nicht wie in den übrigen Briefen verwandt seien — d. h. wohl nicht nur als übliche Eingangsformeln — , sondern daß Paulus sie hier mit Bedacht gewählt habe, um sein Anliegen gegenüber denen, die aus dem Gesetz gerechtfertigt werden zu können meinen, bereits hier zum Ausdruck zu bringen 91 . Die Zuspitzung auf die Frage der Rechtfertigung ist Luther also in der Tradition vorgezeichnet. Luther folgt diesem Ansatz, indem er gratia und pax zum Bußsakrament und damit zur Rechtfertigung in Beziehung setzt, er greift die gängige Bestimmung auf: gratia culpam, pax poenam aufert 92 . Er beschränkt sich jedoch nicht darauf, wie 90 Vgl. etwa die glossa interlin. z. St.: gratia: remissio peccatorum, pax: mentis et reconciliatio ad deum. 91 MSL. 26, Sp. 338, 376 A. 92 456, 35. Dafür, daß für Luther schon in dieser Begrifflichkeit sein Verständnis der Glaubensgerechtigkeit enthalten ist, vgl. etwa seine Defi-

Die Konzentration auf die Rechtfertigung

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die Tradition den Gegensatz von Glaubens- und Werkgerechtigkeit zu konstatieren, sondern nimmt den Text zum Anlaß, diese Alternative in den weiten Rahmen seiiter Theologie zu spannen93. Er setzt ein mit der Frage nach der Herkunft der von Paulus genannten Begriffe pax und gratia, damit sind ihm die Gegensatzpaare vorgegeben, die so kennzeichnend für Luthers theologisches Denken sind und die auch diesen Auslegungsabschnitt tragen. Der Gnade und dem Frieden Gottes stehen die Gnade und der Frieden, den die Welt geben kann, gegenüber94, auf die Seite des mundus treten im folgenden noch caro, homines und diabolus95. Gnade und Friede Gottes sind spiritualis und occulta96, non sensibilis97, invisibilis98, incomprehensibilis", sie gelten intus 100 , coram deo101 — von Friede und Gnade der Welt gilt das Gegenteil. Beide schließen einander aus102. Luther faßt ihr gegensätzliches Verhältnis in eine seiner bekannten zugespitzten Formeln: gratia dei et indignatio mundi: pax dei et turbatio mundi: gratia mundi et indignatio dei: pax mundi et turbatio dei103. Innerer Friede bringt äußeren Streit, die Gnade Gottes beschwört den Zorn der Welt und des Teufels erst wirklich herauf. Der Gedanke der Verborgenheit der göttlichen Gaben führt hin auf den heimlichen Mittelpunkt, in dem die ganze Exegese nition in den Resolutiones von 1518, Conclusio 7: Igitur remissio dei gratiam operatur, sed remissio sacerdotis pacem, quae et ipsa est gratia et donum dei, quia fides remissionis et gratiae praesentis . . . Non ergo prius soluit Petrus quam Christus, sed declarat et ostendit solutionem. Cui qui crediderit cum fiducia, uere obtinuit pacem et remissionem apud deum (id est certus fit, se esse absolutum) non rei, sed fidei certitudine, propter infallibilem misericorditer promittentis sermonem . . . (W. 1, 542, 7ff.). Zu Luthers Verständnis der poena vgl. noch seine Zusammenstellung der genera poenarum in Conlusio 5 (W. 1, 534ff.). 93 Ich halte mich im folgenden nicht streng an die von Luther entwickelte Gedankenfolge. Wesentliche Belehrung für das Verständnis dieses Auslegungsabschnittes verdanke ich dem bereits genannten Aufsatz von Ebeling, Die Anfänge von Luthers Hermeneutik, vgl. bes. S. i 8 7 f f . μ 456, 3 i f . μ 4 5 6 , 37. «* 456, 33· 88 99 100 » 457. 2· 457. 3457, 4457, 101 457, 5102 Vgi_ d a z u auch Luthers Ausführungen über den duplex homo, 517, 103 19ff. 457, 11 ff.

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dieses Verses zusammenläuft, auf den Gedankenkreis der Verborgenheit der göttlichen Offenbarung unter der menschlichen Natur Christi 104 .· Anlaß für diese inhaltliche Zuspitzung ist für Luther die paulinische Zusammenordnung von deus pater und dominus noster Jesus Christus in der zweiten Vershälfte. E r versteht diese Zusammenordnung von 1 . Kor. 1 5 , 24 her als Hinweis auf die einander ablösenden Herrschaften Christi und des Vaters 1 0 5 , des regnum gratiae und des regnum gloriae: die gegenwärtige Herrschaft, die Herrschaft der Gnade, wird von Christus in seiner menschlichen Gestalt ausgeübt, so daß wir Gott nur in fide et enygmate per humanitatem erkennen, doch vom jüngsten Gericht an wird Gott ohne Verhüllung selbst regieren, deus ipse per se, in specie et revelatione divinae naturae. Die Ablösung des regnum fidei durch das regnum gloriae am jüngsten T a g vollzieht sich nicht durch eine Veränderung der dargebotenen Güter, des äußeren Umfanges eines »Reiches«, sondern allein durch den Wechsel in der A r t der Herrschaft: nunc in fide et enygmate — tunc in specie et revelatione. Das Heraufkommen des regnum gloriae wird keine inhaltliche Veränderung bringen, es wird nicht ein aliud sein im Vergleich zur Gegenwart, sondern nur ein aliter, nur ein Umschlag des jetzt schon Bestehenden aus der Verborgenheit in das Offenbarsein, aus der Verhüllung in die Sichtbarkeit. W a s wir dann haben werden, haben wir schon jetzt, und was jetzt gültig ist, wird auch dann gelten. Luthers Zusammenordnung der quaedam bilibris—gratia dei, indignatio mundi u s w . — m i t dieser Interpretation der einander ablösenden Herrschaften innerhalb der E x e gese eines einzigen Verses zeigt, daß die Verborgenheit im strengen Sinne verstanden werden muß als eine Verhüllung sub contraria specie. Das Reich der Herrlichkeit ist als Reich des Glaubens verborgen unter der Feindschaft der Welt. Diese Aussagen Luthers über das Verhältnis Gottes zur Welt und der zukünftigen Gestalt der göttlichen Herrschaft sind für Luthers theologisches Denken jedoch nicht thematisch verhältnismäßig willkürliche Anwendungen des dem christologischen Gedankenkreis entnommenen Prinzips der Verborgen104

457, 20ff.

105

S. u. S. 151 Anm. 441.

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heit, sondern er legt sie von Anfang an aus auf die Existenz des Menschen und hält sie damit im Rahmen des Rechtfertigungsgedankens. Mundus, diabolus und ipse homo gehören zusammen. Der Friede, der von der Welt ist, ist der, den der Mensch sich selbst geben kann, und wenn Gnade und Friede Gottes da sind, so gilt: mox amittitur gratia et pax hominum, mundi, carnis, i. e. suiipsius et diaboli106. Mundus und ipse homo gehören zusammen—nicht so,daßder Mensch von der Welt her gedacht würde, sondern so, daß die Welt bestimmt wird vom Menschen. Diese biblische Sicht des Verhältnisses von Mensch und Welt findet Luther schon bei Hieronymus und Augustin vor 107 , spitzt sie aber in seiner Exegese der Wendung »saeculum nequam« aufs äußerste zu: die Errettung aus diesem bösen saeculum durch Christus ist die Errettung a te ipso ut omnium tibi pessimo hoste108. Diese Gleichsetzung der Errettung des Menschen von der Welt mit der Errettung von sich selbst zeigt, daß nicht die Welt, sondern der Mensch die Stelle ist, an der Welt und Reich Gottes ineinandergreifen. Er gehört zu beidem: als er selbst zur Welt, die erst durch ihn ihren spezifisch gottfeindlichen Charakter erhält, als Glaubender zum Reiche Gottes. Auch die Ablösung des regnum gratiae durch das regnum gloriae konzentriert sich auf ihn: der Umschlag der Herrschaften wird sich in seiner Existenz vollziehen, das in fide purgari wird zu einem in specie salvum esse. Luther kann sagen: (regnum) quod sumus nos109. Mit dem Heraustreten Christi aus seiner Menschheit und dem Offenbarwerden der Herrschaft Gottes fällt jede Verborgenheit innerhalb des Gottes Verhältnisses, die Feindschaft der Welt, die die Gestalt dieser Verborgenheit ist, hat ein Ende, und der Mensch wird als Gerechtfertigter offenbar. Die weitgespannten Aussagen über das Verhältnis Gottes 106

456, 3 7 ; statt ipse homo kann auch stehen caro sua (456, 39). ? Vgl. MSL. 26, Sp. 338f, 3 7 7 f . ; MSL. 35, Sp. 2108, 3: Saeculum praesens malignum propter malignos homines, qui in eo sunt, intelligendum est. 10

108

459» 21 f.; vgl. in diesem Zusammenhang auch: Sunt duo toti homines et unus totus homo: ita fit ut homo sibiipsi pugnet contrariusque sit, vult et non vult. Atque haec est gloria gratiae dei, quod nos fecit nobisipsis hostes (586, riff.); s.u. S. 227ff. 109

457. 32·

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zur Welt, die herauswachsen aus Luthers Interpretation von Gnade und Friede, laufen inhaltlich zusammen in einer theologischen Aussage über den Menschen. Dieser Widerstreit, in dem der Mensch sich vorfindet, wird hervorgerufen durch den Empfang der göttlichen Gnade: qui in gratia dei est, operatur, quae deo placent: ideo mox displicet diabolo, mundo . . .110. Das operari quae deo placent zieht dem Menschen also die Feindschaft der Welt auf den Hals. Befragt man den gesamten Textabschnitt nach dem Inhalt des quae deo placent, so ergeben sich folgende Äquivalente: deo iustum esse111, iustum esse112, conscientiae turbationem quietari113, in fide purgari114. Diese Aussagen werden interpretiert durch die zahlreicheren Beschreibungen des Gegenteils: dem deo placere steht ein sibi placere gegenüber116, das im einzelnen erscheint als peccare coram deo11®, amicum huius mundi esse117, pacem cum mundo habere118, hominibus placere119, als dasBestreben, per opera . . . virtutis aut satisfactionis gerecht zu werden120. Das operari quae deo placent muß inhaltlich als fides ausgelegt werden. Nur im Glauben kann der Mensch den Frieden Gottes fassen121, der ihm das Gewissen stillt122, ihm das Herz fröhlich macht — coram deo in absconditis123, der Glaube lehrt ihn darüber hinaus, die Feindschaft der Welt und seiner selbst als Unterpfand für seinen Frieden mit Gott zu begreifen124. Unsere Interpreta112 113 11" 456, 3 8 f . 1" 456. 39· 457. 17· 457. 18. 114 115 118 117 457, 33· 457, 5· 457, 5· 457, 6. 118 119 120 m 457, 7f· 457, 15· 457, i8f. 457, 3f122 457, 18. 456, 34. 121 Die Tatsache, daß Luther in der Beschreibung von pax intus und bellum intus, d. h. coram deo, nicht auf die Erfahrung, sondern auf Schriftstellen verweist (Joh. 16, 33; Jes. 48, 22), zeigt, in welch hohem Maße für ihn diese Dimension dem Menschen und seinen Kräften und Empfindungen unzugänglich ist. Dabei stuft Luther noch ab: die Feindschaft gegen Gott bleibt dem Menschen nur selten selbst ganz verborgen, den Frieden Gottes aber nimmt er mit seinen Sinnen fast nie wahr. Die Verborgenheit der göttlichen Gaben wird also mit besonderer Strenge gewahrt. Das heißt freilich nicht, daß sich für Luther der Glaube nicht auch immer wieder in sinnenhafter Erfahrung niederschlagen kann, ja wird — in einem späteren Zusammenhang heißt es: Quomodo potest fieri, ut hanc fidem, si sit in te, non sentias ? (458, 32f.). Aber der eigentliche Inhalt dieser Erfahrung ist nicht sie selbst, sondern die gegen den Augenschein und gegen sich selbst geglaubte Gnade Gottes.

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tion des operari quae deo placent auf die Glaubensgerechtigkeit hin wird durch den folgenden Auslegungsabschnitt bestätigt, in dem Luther — gemäß dem Text — das Werk Christi in diesen Zusammenhang hineinstellt. »(Jesus Christus) qui dedit semetipsum pro peccatis nostris, ut eriperet nos de praesenti saeculo nequam . . .« (Gal. i , 4). Auf der einen Seite erscheint eine Fülle von Begriffen, die die Werkgerechtigkeit umschreiben: liberum arbitrium, eruditio moralis philosophiae, virtus legum125, falsa iustitia, species virtutis, hypocritas incurabilis126, nostris viribus 127 , zusammengefaßt in der Feststellung: quid prodest virtus, si peccata manent128 ? Dem stellt Luther das semetipsum des Textes entgegen, das durch Luthers starke Betonung des pro nobis mit allem Nachdruck auf den empfangenden Glauben hin ausgelegt wird, es geht um das credere129, die fiducia 130 , die fides Christi131, in diesem Zusammenhang fällt nun auch der Begriff der Rechtfertigung: Haec fides te iustificat, Christum in te habitare, vivere et regnare faciet 132 . Im Blick auf die Eigengerechtigkeit bedeutet das ein desperare de iis omnibus (operibus)133 und einen vom Blick auf die selbst erworbene Gerechtigkeit freien Besitz der Tugenden134. Luthers Auslegung des Friedensgrußes stellt eine gedanklich sehr konzentrierte, mit einer ungewöhnlichen Kraft der Zusammenschau entwickelte inhaltliche Entfaltung des apostolischen Evangeliums als Evangelium der Glaubensgerechtigkeit dar. Die Denkmitte dieser Ausführung liegt offenbar im Fragenkreis der Christologie: die Verborgenheit der göttlichen Gaben und des göttlichen Handelns in der Welt findet ihre Interpretation in der Verborgenheit Gottes unter der Menschheit Christi, diese erfährt ihre Sinngebung durch ihre Bezogenheit auf den Menschen, d. h. in dem Ziel, vom Menschen im Glauben angenommen zu werden. Daß dieser Glaube rechtfertigender Glaube ist, wird gedanklich gewährleistet durch die Interpretation des 12S

127 128 1 2 6 458, 12f. 458, 9 f . 458, 18. 458, i 3 f . 130 457. 38. 458, 23. "i 458) I5. 132 4 5 8 > 2 4 f . 183 458, 14. 134 v g l . : ubi non fides Christi docetur, omnem virtutem non aliter habeamus quam velamen nequitiae . . .; 458, 1 5 ! Zu diesem Zusammenhang vgl. u. S. 2 77 ff. 129

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Todes Christi als Selbsthingabe »pro peccatis nostris«, der den im Glauben zu erfassenden abscondita den Inhalt gibt und den Begriff der fides als Gegenbegriff zu dem der opera verständlich macht. Luther hat hier die wesentlichen Elemente seines Gesamtverständnisses der paulinischen Theologie zusammengefaßt. Suchen wir uns diese christologische Auslegung noch ein Stück nach der hermeneutischen Seite zu erhellen, so ist auch hier ein tropologischer Ansatz nicht zu übersehen: die gratia dei läßt den Menschen tun, was Gott gefällt, und so gerät er in den Gegensatz zur Welt usw. 136 ; und der Christus traditus errettet den Menschen so aus dieser bösen Welt, daß dieser selbst der Welt gekreuzigt wird186. Das mit diesem tropologischen Ansatz gegebene existentiale Verständnis des Textes entfaltet Luther jedoch nun in den umfassenden Dualismus seines theologischen Denkens hinein, der — das wird aus dem genannten Aufsatz Ebelings deutlich — unter hermeneutischem Gesichtspunkt das Auslegungsschema litera-spiritus mit umschließt137, das uns im folgenden Kapitel noch beschäftigen muß. Luther selbst läßt an unserer Stelle wenigstens den begrifflichen Ansatz für diesen Zusammenhang erkennen: die gratia dei, von der Paulus spricht, ist spiritualis und occulta138, ebenso die Errettung aus dem saeculum nequam, von der im Text die Rede ist 139 . Der Begriff spiritualis erweist sich hier insofern als hermeneutische Kategorie, als er in beiden Fällen verbunden ist mit einer christologischen Interpretation des Textes 140 . 136 456, 38. Mir scheint hier die gleiche kausative Interpretation der auf Gott bezogenen Begriffe vorzuliegen wie bei den bekannten Beispielen iustitia dei, sapientia dei, via dei etc. 136 187 458, 39f. Vgl. Ebeling a. a. O., S. i87ff. 188 189 456, 33· 458, 39140 Vgl. Ebeling a. a. O., S. 199. Ebeling verfolgt in seiner Untersuchung den bei Luther vorliegenden Dualismus über die verschiedenen Gegensatzpaare hinweg (offenbar — verborgen, Gott—Welt, Gott — Teufel, Schöpfung •—- Erlösung; innerhalb eines jeden Gegensatzpaares arbeitet er Luthers existentiales Verständnis dieser Begriffe heraus) bis hinein in das Problem der Christologie, in der Gott dem Glaubenden nicht nur als absconditus, sondern als absconditus sub contrario erkennbar wird. Vom Kreuz her, in dem dies für den Glauben erkennbar wird.

Die Konzentration auf die Rechtfertigung

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Es ergibt sich: Luthers Auslegung der Grußformel ist bestimmt durch das Ineinandergreifen des tropologischen und des geistlichen Textverständnisses, das ihn zur christologischen Interpretation führt und die Rechtfertigung aus Glauben zum Inhalt hat. Luthers bereits zitierter Schlußsatz seiner Exegese wird durch seine eigene Auslegung inhaltlich gerechtfertigt: Vide ergo, quanto impetu sola salutatione percutit Galatas et eorum magistros, aptissimo exordio pro huius epistolae argumento141. »erhält der Begriff spiritualis seine Klarheit. Spiritualis ist alles, sofern es verstanden wird coram deo, und d. h. nun: im Lichte des Kreuzes Christi. Das Heil ist spiritualis, sofern es verstanden wird nicht als Sicherung des In-der-Welt-Seins . . sondern als ein Gekreuzigtwerden mit Christus . . . Der Glaubende ist spiritualis . . . Die Kirche ist spiritualis . . . Aber ebenfalls ist die Sünde geistlich, sofern sie gesehen wird coram deo in der propria iustitia . . . Geistlich ist . . . eine Kategorie des Verstehens.« (a. a. O.) Ein aufschlußreiches, Ebelings Ergebnis ebenfalls bestätigendes Beispiel scheint mir Luthers Auslegung des Begriffes »placere« zu Gal. 1 , 1 0 zu sein (»An quaero hominibus placere?«): Verbum autem »placere« hic in spiritu(!) intelligitur, hoc est pro voluntate placendi, quandoquidem non in nobis est, quibus placeamus vel displiceamus . . . Luther macht auf die dem Galatervers inhaltlich scheinbar entgegengesetzte Mahnung des Paulus i . Kor. 10,33 aufmerksam: »Placete omnibus per omnia« und erläutert: Quomodo omnibus places ? sequitur: non quaerens, quod mihi utile sit, sed quod multis. Ecce placere est quaerere, ut placeat omnibus, etiam si forte nulli aut paucissimis placeat. Canonicum est enim Christo et suis, ut, dum quaerunt placere,... displiceant . . . Ideo exemplo Christi perdenda sunt beneficia. . . (464, 32ff.).: D. h.: 1. Luther versteht placere tropologisch (kausativ!) als quaerere ut placeat. 2. Diese Auslegung erfährt ihre theologische Sinngebung, indem Luther sie christologisch und damit auf ihren Kontrast hin interpretiert und sie so unausgesprochen aber deutlich in den großen theologischen Gegensatz der visibilia und invisibilia etc. einordnet, in den für Luther auch das Schema literaspiritus gehört. 3. Luther bezeichnet diese Auslegung als »in spiritu intelligere«. In spiritu heißt auch hier »sofern es verstanden wird . . . im Lichte des Kreuzes Christi« und ergibt sich aus dem Ineinander tropologischer und inhaltlich vom Gegensatz litera-spiritus her ge141 dachter Auslegung. 459, 37 f.

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2. Die Vergegenwärtigung als Hauptunterschied zur exegetischen Tradition Mit der inhaltlichen Zuspitzung auf die Rechtfertigung ist in Luthers Exegese zugleich ein weiteres Kennzeichen der paulinischen Predigt gegeben, das ebenfalls auf das sola gratia als den Inhalt der apostolischen Verkündigung hinweist: die Vergegenwärtigung des vergangenen Heilsgeschehens wie der künftigen Vollendung des Heilsweges im Geschehen der Rechtfertigung, d. h. die Uberwindung der Zeitspanne zu Vergangenheit und Zukunft. Wir greifen noch einmal auf die eben schon herangezogene Auslegung der Grußformel zurück. a) Vergleich mit der Exegese Fabers zu Gal.

1,1

Wir sahen, daß die Erwähnung der Auferstehung Christi im ersten Verse des Briefes für die Auslegung vor Luther theologisch so gut wie gar nicht ausgewertet wurde, sondern höchstens zur Begründung der äußeren Gleichberechtigung des paulinischen Apostolates mit dem der übrigen Apostel diente. Erst Luther sah in ihr die entscheidende Inhaltsbestimmung der paulinischen Predigt und stellte sie damit in die theologische Gesamtaussage des Briefes hinein. Der einzige ernsthafte Versuch, innerhalb der vorlutherschen Exegese die Kennzeichnung Gottes, der Paulus berufen hat, als den, der Christus von den Toten auferstehen ließ, in den theologischen Zusammenhang einzubeziehen, findet sich bei Faber, dessen Auslegung sich aber von der Luthers charakteristisch unterscheidet. Mit der Erwähnung der Auferstehung Christi setzt Paulus uns die Güte Christi und den Willen des Vaters vor Augen, damit wir, die wir in den Übeln der Welt stecken, durch das Bedenken der Auferstehung des Herrn zur Hoffnung auf unsere künftige Auferstehung und damit zugleich zur Dankbarkeit und Liebe gegen Gott bewegt würden. Aus der Liebe zu Gott erwachsen Gnade und Friede, die den Menschen dann zum Lobe Gottes und zu dankbarem Tun treiben. Der ganze Gedankengang der Grußformel ist bei Faber hingeordnet auf das Lob Gottes und gipfelt in der Doxologie von Vers 5 »cui est gloria . . .«. Dieser gleiche Wille Gottes,

Vergegenwärtigung als Hauptunterschied zur exegetischen Tradition

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der uns an der Auferstehung Christi sichtbar wurde, ist es, den Paulus als Apostel und Gesandter dieses Königs zu verkündigen hat. Auf diese Weise ist bei Faber durch den Schlüsselbegriff des Willens Gottes die sachliche Verbindung zwischen dem apostolischen Auftrage und der Erwähnung der Auferstehung gezogen. Luther schließt durch sein tropologisches Verständnis vergangenes und gegenwärtiges Geschehen in ganz anderer Weise zusammen. Per resurrectionem (Christi) quilibet resurgit142 — schon das Ersetzen des propter aus Rm. 4, 25 durch per zeigt erneut, daß Luther bei der Auferstehung Christi nicht einfach an ein ein für allemal abgeschlossenes Faktum denkt, sondern an ein Handeln Gottes, in das der Glaubende stets neu hereingezogen wird. Noch deutlicher kommt dies in der präsentischen Aussage über Christus zum Ausdruck, die Christus in die Gleichzeitigkeit mit dem Glaubenden versetzt: qui credit in resurgentem(!) . . . et ipse resurgit143. Die Berufung Luthers auf Rm. 4, 25 zeigt, daß diese Auferstehung des Glaubenden die Rechtfertigung zum Inhalt hat. So ist die Auferstehung Christi für Luther nicht nur Grund einer Hoffnung wie bei Faber, sondern lebendiges, sich gegenwärtig am Glaubenden vollziehendes Geschehen. Damit ist zugleich gesagt, daß die Gleichzeitigkeit des damaligen und des gegenwärtigen Geschehens, auf die wir bei Luther stoßen, nicht nur den Abstand zur Vergangenheit, sondern auch die Zeitspanne zwischen Gegenwart und Zukunft überwindet. Wird der Glaubende in die Auferstehung Christi schon jetzt mit hereingenommen, so ist seine Teilhabe an ihr mehr als der Gegenstand einer nur auf die Zukunft gerichteten Hoffnung, die er durch die meditatio resurrectionis Christi in sich weckt. Das Leben der Auferstehung, bei Faber Inhalt der Hoffnung, ist für Luther im Glauben bereits gegenwärtige Wirklichkeit: resurrectio Christi e s t . . . vita nostra144. Was der Glaube erwartet, hat er bereits. So sind für Luther Vergangenheit und Zukunft in das gegenwärtige Geschehen eingeschlossen, zugespitzt formuliert: die Zukunft, die der Glaubende erwartet, ist seine Vergangenheit in der Auf142

3

455, 24f.

Bornkamm, Galaterbrief

143

455, 21.

144

4 5 5 , 2 2 f.

34

Das Evangelium als autoritative apostolische Verkündigung (1519)

erstehung Christi fertigung145.

und

seine Gegenwart

in der

Recht-

b) Vergleich mit der Exegese Hieronymus' und Lyras zu Gal. 1, 3

Die gleiche Aufhebung der Zeitspanne können wir bei einem Vergleich von Luthers Exegese mit der von Hieronymus und Lyra zu V. 3 beobachten. »Gratia vobis et pax . . .«: Hieronymus wie Lyra verstehen den Empfang der Gnade als eine, wenn auch sehr wesentliche Etappe des Glaubensweges, die über sich hinausweist auf das letzte Ziel, das Erlangen des ewigen Lebens und des Reiches Gottes, vor dessen Ergreifen außer der Gnade auch die eigene Anstrengung des Menschen gesetzt ist, die Aufgabe, das zu bewahren, was er durch die Mitteilung der Gnade empfangen hat. Durch diese Stufenfolge werden die bereits erwähnten Formulierungen über das Verhältnis von gratia und opera14® völlig entschärft, da sie sich nur auf die erste Stufe, die Rechtfertigung, beziehen, und bleiben so die letzte Antwort schuldig. Die Aussage des Hieronymus »Prudenter jam causam agit adversum eos qui fuerant a Lege praeventi, et putabant se posse ex operibus justificari« verliert alle Durchschlagskraft durch die Fortsetzung »ut scirent se salvos gratia, in eo perseverare debere quod coeperant«147. Und noch klarer als bei Hieronymus kommt diese stufenweise Abfolge bei Lyra zum Ausdruck: er verteilt beide Stufen auf die Textworte gratia und pax, die Gnade gilt in praesenti, Friede aber ist die Umschreibung der künftigen Glückseligkeit, quia quietat totaliter appetitum148. Luthers Ausführungen zu V. 3 über die beiden einander ablösenden Herrschaften Gottes haben zur Voraussetzung, daß die Zeitspanne zur Zukunft inhaltlich unwesentlich geworden ist. Er führt diese Konzeption durch, indem er die verbleibende 145

Dem gleichen Zusammenschluß von Vergangenem und Gegenwärtigem gibt Luther dort Ausdruck, wo er durch seine Betonung des pro nobis die Wirkung des vergangenen Heilsgeschehens in die Annahme des gegenwärtigen Wortes verlegt, vgl. 458, 2off. Zum Ganzen vgl. u. S. 58ff. 78f. l 147 148 « S. o. S. 24. MSL. 26, Sp. 338, 376 A. Z. St. k. 1.

Vergegenwärtigung als Hauptunterschied zur exegetischen Tradition 3 5

Zeitspanne durch den Gedanken der Verhüllung von der Christologie her interpretiert und die Rechtfertigung als das wesentliche Geschehen versteht. Der Glaubende hat das Heil im gegenwärtigen Ereignis der Rechtfertigung, es bedarf keiner Vervollkommnung mehr, die bleibende Spanne zu Vergangenheit und Zukunft erhält von diesem Geschehen her ihren Sinn. Auf die Vergangenheit bezogen, verbürgt sie dem Menschen das Zuvorkommen des Handelns Gottes vor seinem eigenen Tun, im Verhältnis zur Zukunft stellt sie sein Leben unter das Vorzeichen des Glaubens, bis dieser vom Schauen abgelöst sein wird. Indem Luther den Inhalt der apostolischen Verkündigung in seiner ganzen Breite auf ein gegenwärtiges Handeln Gottes zuspitzt, erfährt sie neben der Konzentration auf die Rechtfertigungslehre noch eine Näherbestimmung. Die Beauftragung des Apostels mit dem Worte Gottes ist nicht einfach Beauftragung mit der Predigt von Glaubenssätzen. Der Hörer soll dem verkündeten Wort gleichzeitig werden. Das ist nur möglich, wenn das Wort Träger des gegenwärtigen göttlichen Handelns ist. Beauftragung mit dem Worte Gottes ist Beauftragung mit dem rechtfertigenden Wort, das sich am Hörer, an den es sich wendet, vollzieht und so Vermittler des Handelns Gottes ist. Das verkündete Wort hat sein Echtheitszeichen daran, daß es sich als rechtfertigendes an den Herzen der Hörer erweist. Die Grußformel enthält für Luther bereits die summa doctrinae suae (Pauli)149. Zwei Bestimmungen für die apostolische Verkündigung hatten sich uns ergeben: die dem Apostel anvertraute Botschaft hat notwendig die Rechtfertigung zum festumrissenen Inhalt, und sie geschieht wesensgemäß in einer bestimmten Art und Weise: als gegenwärtiges Handeln Gottes, denn dem Rechtfertigungsgeschehen ist der Hörer nur gleichzeitig, wenn es sich wirklich vollzieht. Wie bei seinem Verständnis der Geschichte des Paulus als exemplum durchbricht Luther auch in dieser Beschreibung der apostolischen Verkündigung die ausschließliche Bezogenheit des Textes auf Paulus und die Galater, auch hier sind der jeweilige Ausleger und Hörer unmittelbar in die Interpretation einzubeziehen. Jede echte Ver149

3*

457. 16.

36

Das Evangelium als autoritative apostolische Verkündigung (1519)

kündigung hat diese Botschaft weiterzugeben, und jede Auslegung der Schrift hat diesem Ereignischarakter des Wortes gerecht zu werden. Es ergeben sich aus Luthers Auslegung der salutatio zwei Forderungen an den Exegeten, die wir als stillschweigende Voraussetzungen des gesamten lutherschen Kommentares selbst verzeichnen können: alles ist auf die große Antithese von Gesetz und Evangelium hin zu interpretieren — das ist nicht theologische Willkür, sondern entspringt dem Gehorsam gegen die Offenbarung Gottes; und trotz des bleibenden zeitlichen Abstandes muß die jeweilige Gegenwart umittelbar in das sich in der Auferstehung Christi offenbarende göttliche Handeln einbezogen werden.

II DER GEDANKENKREIS DER RECHTFERTIGUNG A. D i e D a r s t e l l u n g v o n 1519 1 I. L I T E R A UND SPIRITUS ALS H A U P T B E G R I F F E D E R AUSLEGUNG LUTHERS 2 i. Luthers Entfaltung der Thematik des Briefes

a) Luthers Verwendung des augustinischen Schemas litera-spiritus Im Anschluß an die Grußformel beginnt die eigentliche Auseinandersetzung des Briefes. In den Versen 6—10 charakterisiert Paulus die Situation, die er in den galatischen Gemeinden vorfindet, als ein convertere euangelium und ein transferri a deo in aliud euangelium und setzt der Irrlehre sein anathema entgegen. In diesen Formulierungen ist dem Brief seine Thematik vorgezeichnet. Ebenso wie der Leser durch diese Interpretation, 1 Alle folgenden Seitenzahlen beziehen sich, soweit nicht anders angegeben, auf W 2. 2 Zu Luthers Hermeneutik vgl. bes. Holl, Luthers Bedeutung für den Fortschritt der Auslegekunst, 1920 (Ges. Aufs., Bd. 1, S. 544ff.); Bauer, Die Wittenberger Universitätstheologie und die Anfänge der deutschen Reformation, 1928; Vogelsang, Die Anfänge von Luthers Christologie, 1929; Hahn, Luthers Auslegungsgrundsätze und ihre theologischen Voraussetzungen, ZsystTh. 12 (1935), S. 165ff.; Ebeling, Evangelische Evangelienauslegung, 1942; ders.. Die Anfänge von Luthers Hermeneutik, ZThK. 48 {1951), Heft 2, S. 172ff. — Es ergibt sich als übereinstimmender Befund, daß Luther seinen neuen hermeneutischen Standpunkt in den Jahren 1516—1519 gewonnen hat (vgl. zuletzt Ebeling, Die Anfänge . . ., S. 175). Die genannten Untersuchungen werden deshalb nur dort ausdrücklich herangezogen, wo sie unmittelbar zur Textinterpretation des Galaterkommentars etwas beitragen. Er steht für die Frage der hermeneutischen Entwicklung Luthers nicht im Mittelpunkt des Interesses der Forschung, das Ergebnis dieser Entwicklung läßt sich an ihm jedoch sehr klar verfolgen.

Der Gedankenkreis der Rechtfertigung (1519)

38

die Paulus den Vorgängen in Galatien gibt, in das Anliegen des Briefes eingeführt wird, findet der Exeget durch die Interpretation dieser Thematik den Schlüssel für sein Gesamtverständnis des Textes. Das gilt für die sehr streng und systematisch gedachte Auslegung Luthers nicht nur in gedanklicher, sondern auch in sprachlicher Hinsicht. Wir bekommen hier gleich zu Anfang der Auslegung die Begriffe zu fassen, die seine Interpretation des gesamten Briefes mit seinen verschiedenen theologischen Einzelthemen tragen3. Als beherrschend tritt sehr rasch das Augustin entnommene Schema litera-spiritus hervor. Seine ausführlichste Entfaltung gibt Luther zu Gal. 1, Ii 4 , in dem Paulus seine jüdische Vergangenheit beschreibt und sich als ehemaligen aemulator paternarum traditionum charakterisiert. Erst die Offenbarung Christi hat ihn von seiner einstigen Uberzeugung geschieden, sein gegenwärtiger Glaube an das Evangelium steht in scharfem Gegensatz zu seiner damaligen Haltung. Luther setzt sich in seiner Auslegung schroff gegen Hieronymus ab, der den von Paulus angedeuteten Gegensatz des Evangeliums gegen die paternae traditiones auf den Gegensatz von Evangelium und doctrinae pharisaicae bzw. mandata hominum beschränken will 5 , und interpretiert selbst paternae traditiones als lex im umfassenden Sinne. E r zieht zunächst Phil. 3, 4ff. als exegetischen Beleg für seine Auslegung heran: hier stellt Paulus selbst unmißverständlich die iustitia ex lege und illa iustitia quae ex fide est Jesu Christi einander gegenüber. Dann jedoch setzt er im Zuge der Interpretation den paternae traditiones den Begriff divinae traditiones entgegen — paternas traditiones quadam velut tapinosi opponit Euangelio, quod divinas traditiones vult haberi®, damit ist der Ubergang zu einer grundsätz3

Zum folgenden werden alle einschlägigen Äußerungen Luthers aus dem Auslegungsabschnitt zu Gal. 1,6—2,15 herangezogen. 4 468 f. 6 Paternas autem traditiones, non Domini mandata commemorans, et se Pharisaeum ex Pharisaeis indicavit . . . Usque hodie autem qui Judaico sensu Scripturas intelligunt, persequuntur Ecclesiam Christi, et populantur illam, non studio Legis Dei, sed traditionibus hominum 6 depravati. (MSL. 26, Sp. 349, 389 B/C). 468, 3of.

Luthers Entfaltung der Thematik des Briefes

39

liehen Gegenüberstellung von Gesetz und Evangelium mit Hilfe systematischer Kategorien gegeben. Luther beruft sich dabei ausdrücklich auf Augustins Schrift »De spiritu et litera« und bedient sich seiner Begrifflichkeit: das Gesetz als Uteralis traditio erhält die Prädikate occidens und peccatum faciens — im Gegensatz zu vivificans und iustificans —; ihm werden das Zeremonialgesetz, das Sittengesetz und das von beiden abgesetzte Gesetz Gottes — ipse sacratissimus decalogus aeternorum praeeeptorum dei7 — subsummiert, denn kein Gebot, auch das Gebot Gottes nicht, kann das Herz reinigen. Alles, was auf Grund der Gesetzesforderung geschieht, geschieht vel amore commodi sui vel timore poenae, solches Handeln aber ist Götzendienst, denn allein Gott gebühren timor und amor8. Dem so verstandenen Gesetz steht die fides gegenüber, die nach Ac. 15, 9 das Herz reinigt und gerecht macht, die doctrina fidei lehrt, wie die Gebote, die dem Menschen, gemessen an diesem Maßstab, unerfüllbar sind, nun doch erfüllt werden können: durch das Fliehen zur Gnade, d. h. inhaltlich: indem der Mensch Gott um den heiligen Geist bittet, durch den er rufen kann: »Abba, pater!«9. Das Verständnis dieses Rufes und seiner Bedeutung für den Gesamtzusammenhang des Glaubens, aus dem heraus er geboren ist, erschließt sich uns von Luthers Entfaltung der Rechtfertigung zu Gal. 2, 16 1 0 und Gal. 3, 22 1 1 her, in der die invocatio nominis domini im Geschehen der Rechtfertigung die entscheidende Rolle spielt. Eine eingehende Interpretation kann erst bei der Darstellung der Rechtfertigung selbst gegeben werden12, hier mag dieser Hinweis genügen, um zu zeigen, daß Luther, indem er innerhalb des Gegensatzes von litera und spiritus bzw. lex und fides der Gerechtigkeit des Gesetzes den Ruf »Abba, pater!« gegenüber stellt, inhaltlich auf den Akt der Rechtfertigung des Sünders, nicht nur einfach auf die Herstellung der geistgewirkten Gerechtigkeit eines dann tatsächlich Gerechten hinweist13. Durch diesen Zielgedanken erhält die augustinische Konzeption, die Luther begrifflich übernimmt, ihre wesentliche 7

8 468, 34. β 469, 3 f f . 469, i 6 f f . 11 12 490, 9 f f . 526, 20ff. S. u. S. 56. 18 V g l zu diesem ganzen Fragenkreis bes. unten S. 6 i f f .

10

40

Der Gedankenkreis der Rechtfertigung (1519)

Korrektur. Für Augustin zielt die Frage »quo modo fiant possibilia (seil, praeeepta)« auf die reale Gesetzeserfüllung durch den Menschen. Ihre Beantwortung ist der Inhalt seiner Schrift »De spiritu et litera«, er nimmt sie gleich zu Anfang thetisch voraus: es kann geschehen, daß der Mensch ohne Sünde lebt — wenn auch bisher noch kein Beispiel dafür nachweisbar ist; aber auch für andere in der Bibel genannte (oder auch erwähnte) Wunder fehlt ja jedes bestätigende Exempel, es ist ζ. B. noch nirgends geschehen, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gegangen ist 14 ! Allerdings gilt für alle Bemühung um ein sündloses Leben: illis acerrime ac vehementissime resistendum est, qui putant sine adjutorio Dei per se ipsam vim voluntatis humanae vel justitiam posse perficere, vel ad eam tenendo proficere16. Dieser Anfangsfrage nach der Möglichkeit eines faktisch sündlosen Lebens ist Augustins Schrift zugeordnet, er findet die Antwort im Hinweis auf den spiritus adiuvans et sanans16, der die Liebe in die Herzen der Glaubenden ausgießt; der heilige Geist ermöglicht ein gerechtes Leben — nicht einfach, weil er das Gesetz in der rechten Weise verstehen lehrt, sondern weil er die zum Wort der Schrift hinzutretende unmittelbare Hilfe Gottes selber ist, die den Menschen instand setzt, das Gehörte auch zu tun 17 . Diese Konzeption ist bei Luther durchbrochen, der das «quo modo fiant possibilia (praeeepta)« nicht mit dem Hinweis auf den Geist, der die Liebe in die Herzen gießt, beantwortet, sondern an die Stelle der Gesetzeserfüllung die Flucht zur Gnade Gottes und damit die Rechtfertigung setzt. Das Werk des Geistes besteht für ihn in diesem Zusammenhang darin, daß Gott durch ihn lebendige, brennende Buchstaben in unsere Herzen schreibt, durch die wir erleuchtet und angetrieben werden, ihn als Vater anzurufen18. 11

MSL. 44, Sp. 201, 1.

16

Non . . . littera docente et minante, sed spiritu adjuvante atque

16

MSL. 44, Sp. 202, 4.

sanante (MSL. 44, Sp. 208, 13). 17

Vgl. ζ. B . : bene vivere donum esse divinum; . . . nec . . . quia

praeeeptum

dedit

quo

doceat

. . ., sed quia

per spiritum

sanctum

diffundit charitatem in cordibus . . . Sündlosigkeit ist möglich: quia omnia possibilia sunt Deo. (MSL. 44, Sp. 214, 7; u. ö.). 18

469, 18 ff.

Luthers Entfaltung der Thematik des Briefes

41

Die gleiche Interpretation Augustins, die in Luthers Auslegung zu Gal. i, 14 nur andeutungsweise erkennbar wird, ist deutlich zu beobachten in seiner Darlegung des Verhältnisses von Gesetz und Evangelium zuV. 1 1 : Notum enim vobis facio, fratres, Euangelium ,.. 1 9 . Auch hier bedient sich Luther der augustinischen Begrifflichkeit: lex praedicat facienda et omittenda, der er nun allerdings seine eigene Formulierung entgegensetzt: euangelium autem remissa peccata et omnia impleta factaque, neben die Stimme des Gesetzes »redde quod debes« tritt die des Evangeliums »dimittuntur tibi peccata tua«20. Schon in der Wiedergabe des augustinischen spiritus oder lex spiritus oder lex fidei mit euangelium kommt die Abweichung Luthers von Augustin zum Ausdruck, der diesen Begriff nur selten verwendet21. Deutlicher wird sie in den knappen beigefügten Erläuterungen, z.T. einfach neutestamentlichen Zitaten: das Gesetz wirkt Zorn bei Gott (Rm 4, 15), das Evangelium bietet dem Menschen im Namen Jesu Christi Vergebung der Sünde an; es verkündigt dem Menschen, daß das Gesetz erfüllt ist, und weist dabei hin auf Tod und Auferstehung Christi, in denen dies Heil beschlossen Hegt: Sic oportuit Christum pati et a mortuis resurgere et praedicari in nomine eius ... poenitentiam et remissionem peccatorum in omnes gentes (Lk. 24, 46f.). Die Gnadengesinnung Gottes wird durch den Namen Christi verbürgt: nota insigniter »in nomine eius,« non »nostro«22. Luthers Begriff des Evangeliums, den er dem Gesetz entgegenstellt, ist christologisch gefüllt. Die Begegnung mit dem Evangelium ist für ihn nicht letztlich doch die Begegnung mit einer Norm wie bei Augustin — auch wenn das bei diesem nur darin zum Ausdruck kommt, daß im Evangelium die Hilfe zur Gesetzeserfüllung dargeboten wird —, sondern die Begegnung mit einer Person. Von hier aus gewinnt Luther seine Definition des Evangeliums als einer doctrina de filio dei Jesu Christo33, die ihn frei macht von jedem literarischen Evangelienbegriff. Alle Briefe des Paulus, Petrus und Johannes sind ebenso Evange19

20 466 f. 466, 3 ff. In der Schrift »De spiritu et litera« zum ersten Male in cap. X V , 27 (MSL. 44, Sp. 2 1 7 ) ; nach Hamel, Der junge Luther und Augustin, 22 23 Bd. 2, S. 52. 466, 8ff. 467, 22f. 21

42

Der Gedankenkreis der Rechtfertigung (1519)

lium wie die Schriften der vier Evangelisten, denn das Evangelium ist der nuncius pacis de filio dei24, und das heißt inhaltlich: quandocunque praedicatur gratia dei et remissio peccatorum per Jesum Christum facta, hic vere euangelium praedicatur25. Die Funktion, die Augustin dem spiritus gratiae zuschreibt und die für diesen die wesentliche Aussage über die der lex operum entgegengesetzte lex fidei26 ist: quod ipsa voluntas nostra, sine qua operari bonum non possumus, adjuvetur et erigatur27, wird bei Luther vom Gegenstand der fides getrennt und den doctrinae ... quae ultra fidem traduntur zugewiesen, den Vorschriften Christi oder der Apostel28. Die Scheidung zwischen lex und spiritus gratiae läuft bei Luther an einer anderen Stelle als bei Augustin, dafür verschiebt sich der Inhalt des Glaubensbegriffes. Für Augustin schließt er das Erlangen der tatsächlichen Gerechtigkeit als Forderung mit ein, vgl. die aufschlußreiche Äußerung im Anschluß an eine Ausführung über die superbi, qui ... justitiae Dei non sunt subiecti: Unde mihi videtur magis esse fidei filius, qui novit a quo speret quod nondum habet, quam qui sibi tribuit id quod habet: quamvis utrique horum praeferendus sit, qui et h a b e t et n o v i t a quo habet 2 8 . In welcher Weise Luther in seinem Kommentar Rechtfertigung und Heiligung einander zuordnet, soll uns später beschäftigen30. Unsere Stelle zeigt, daß auch für ihn die Heiligung eine Frucht des rechtfertigenden Evangeliums ist: die neutestamentlichen Gebote sind für den Glaubenden remedia und observationes, durch deren Beobachtung die empfangene Gnade und der Glaube in ihm bewahrt, ernährt und vollendet werden — wie ein Kranker gesundet31. Lassen wir die hier gegebene Deutung des Gesetzes zunächst auf sich beruhen32 — wichtig für unseren Zu26 467, i 6 f . 26 MSL. 44, Sp. 214, 22. 467, I 3 f . 2« 466, 1 7 « . 29 MSL. 44, Sp. 214, 22. MSL. 44, Sp. 212, 20. 30 S. u. Kap. 4. 31 Doctrinae eiusmodi, quae ultra fidem traduntur . . . sunt vel interpretationes legis, quibus peccatum clarius cognosceretur . . . vel sunt remedia et observationes, quibus gratia iam accepta et fides donata custodiretur, aleretur perficereturque, sicut fit, dum aegrotus incipit 32 Weiteres s. u. S. 295 ff. curari (a. a. O.). 24

27

Luthers Entfaltung der Thematik des Briefes

43

sammenhang ist, daß Luther trotz der Zusammengehörigkeit von Rechtfertigung und Heiligung den Gegenstand des Glaubens und den Inhalt des glaubenden Handelns nicht als gemeinsamen Inhalt der neutestamentlichen Verkündigung unter dem Begriff der lex fidei dem Gesetz gegenüberstellt, sondern trotz der engen sachlichen Zusammengehörigkeit scheidet zwischen dem Evangelium als dem Inhalt des Glaubens, durch das den Glaubenden Heil und Vergebung der Sünden verkündigt wird33, und den doctrinae ... quae ultra fidem traduntur, deren Funktion der des Evangeliums wohl zugeordnet ist, die aber doch sachlich klar von ihm abgehoben werden müssen, um den Inhalt des Evangeliums nicht zu verfälschen. In der Gegenüberstellung von Gesetz und Evangelium, die Luther in der Sprache Augustins als Gegenüberstellung von litera und spiritus beschreibt, erscheint das Evangelium in aller Reinheit allein als das vergebende Wort und wird bei Luther von Früchten, die es zeitigt, unterschieden. Zusammenfassend ist zu sagen: die augustinische Gegenüberstellung von litera und spiritus ist grundlegend für Luthers Darlegung des Verhältnisses von Gesetz und Evangelium und damit für seine Entfaltung der Thematik des Galaterbriefes. Das Schema selbst erfährt jedoch eine tiefgreifende Uminterpretation durch Luthers Evangeliums-Begriff, der streng christologisch gefüllt ist und den Luther wiederholt an die Stelle von Augustins spiritus, lex spiritus, lex fidei o. ä. setzt. Zwar ist der Begriff des Evangeliums durch den auszulegenden Text nahegelegt, trotzdem bringt seine Übernahme und Interpretation die von Augustin unterschiedene Sicht Luthers zum Ausdruck, die sich für Luthers eigenes Bewußtsein allerdings wohl sehr viel selbstverständlicher mit der Konzeption Augustins deckte als für den späteren Betrachter. Er wendet sich an keiner Stelle gegen ihn. Durch sein christologisches Verständnis des Evangeliums, auf das die fides sich richtet, erhält für ihn das ganze Schema von litera und spiritus, das bei Augustin ja ständig terminologisch abgewandelt als Gegensatz von lex literae und lex spiritus v e l 33

Vgl. auch: Ecce praedicatio remissionis peccatorum per nomen Christi, hoc est Euangelium (466, 12f.).

44

Der Gedankenkreis der Rechtfertigung (1519)

f i d ei erscheint, ganz von selbst einen viel stärker auf Christus bezogenen Sinn als für diesen. So ist Luthers Auswechseln von lex spiritus oder lex fidei mit euangelium nur der Ausdruck für eine Uminterpretation des augustinischen Schemas, die sich von seiner Auffassung des Evangeliums her ganz von selbst bereits in seinem Verständnis der augustinischen Begrifflichkeit selbst vollzogen hat.

b) Luthers Verwendung des augustinischen Schemas mendacium-veritas Von Luthers Verständnis des Evangeliums als nuncius ... de filio dei34 her ergibt sich in seiner Auslegung zu Gal. 1, 10 die spezifisch luthersche Unterscheidung von Gesetz und Evangelium als lex Mosi und verbum crucis35. »Verbum crucis« weist hin auf die Feindschaft der Welt und der Menschen, die dem erwächst, der das Evangeüum Christi annimmt. Die Wirkung des Evangeliums wird nicht darin gesehen, daß es dem Menschen eine neue ethische Qualität vermittelt, sondern darin, daß es den Glaubenden so eng mit der Person Christi zusammenschließt, daß ihm das gleiche Schicksal widerfährt wie diesem: Canonicum e s t . . . Christo et suis, ut, dum quaerunt placere ... displiceant38. Das Gewicht liegt nicht darauf, daß der ethische Zustand des Menschen sich ändert, sondern darauf, daß er durch seine Zugehörigkeit zu Christus, die mit dem Glauben an das Evangelium gegeben ist, in ein neues Verhältnis zu Gott, zur Welt und zu sich selbst37 tritt. Das Evangelium führt den Glaubenden als verbum crucis in die Anfeindung, weil sein Inhalt allem widerspricht, was dem Menschen als Menschen gefällt: Paulus... docet amore Christi contemnendos esse homines et non omittendum verbum, quo illis placeatur38. Auf diesem Weg der Entgegensetzung des Evangeliums gegen menschliche Worte und Gedanken, in der Luther die paulinische Gegenüberstellung »Modo 84

467,12.

38

465, i f . Von hier aus ergibt sich für Luther der Ruf zur Nachfolge:

86

464, 1.

Ideo exemplo Christi perdenda sunt beneficia . . . (465, 4). 37

464, 22.

88

464, 4f.

Luthers Entfaltung der Thematik des Briefes

45

enim hominibus suadeo an deo« (Gal. i, 10) übernimmt, läuft für Luther in unserem Abschnitt der Gegensatz von Gesetz und Evangelium fast von selbst auf das zweite augustinische Begriffspaar hinaus, das sich durch seine Ausführungen zieht, auf den Gegensatz von mendacium und Veritas. Den Ansatz bildet seine Verbindung von homo und mendacium, die Luther mit dem von Augustin häufig zitierten Psalmwort» Solus deus verax, omnis homo mendax« (Ps. 116, n ) belegt. Jeder Mensch ist voller Lüge und Haß auf die Wahrheit, weil er nach seiner ersten Geburt von Adam abstammt und fern von Christus und dem Glauben ist. Von dieser negativen Bedeutung des biblischen Begriffes homo her, dem in der Schrift die Bezeichnung der Gerechten als Götter gegenübersteht — Luther zitiert Ps. 82, 6: »Dii estis et filii excelsi omnes« —, wird die Unwahrheit des philosophischen und damit des scholastischen Menschenbildes deutlich, das den Menschen für sich beschreibt und nicht fragt, wie er in den Augen Gottes dasteht. Alle Aussagen über den Menschen secundum substantiam — der Mensch als homo rationalis, ausgestattet mit dem freien Willen und der Fähigkeit, gut zu handeln — verfehlen die Relation, in der allein der Mensch zutreffend erkannt werden kann: sein Verhältnis zu Gott. Non enim secundum substanti,am metaphisice ... sed Theologice et ut in oculis dei est eum nominat39. Die Unwahrheit des Menschenbildes, das aus seiner Bezogenheit auf Gott herausgelöst ist, besteht darin, daß in ihm dem Menschen die Ehre gegeben wird und nicht Gott 40 ; betrachten die Theologen den Menschen nur auf philosophische Weise, so entdecken sie nichts als Lobenswertes an ihm. Wird dem Menschen die Ehre gegeben, so wird 464, II ff. Diesen Inhalt hat auch der den Begriff des mendacium erläuternde Begriff vanitas, er ist nicht als ontologische Aussage über Sein oder Nichtsein aufzufassen. Wie wenig Luther an dieser Gedankenverbindung liegt, erhellt etwa daraus, daß Luther wohl 1 5 1 6 das »transferri« der Galater »in aliud evangelium« (V. 6) mit »de veritate in vanitatem« erläutert und demgemäß das abschließende »quod non est aliud« kommentiert: quod enim aliud ab vero est, falsum est et nihil, daß diese Erläuterung 1 5 1 9 jedoch fehlt und das »non esse aliud« ohne Reflexion auf die Seinsfrage einfach als die Aussage genommen wird: es gibt kein anderes. 39

40

46

Der Gedankenkreis der Rechtfertigung (1519)

sie Gott entzogen, der Wahrheit Gottes, die für Luther mit der Wahrheit des Evangeliums zusammenfällt, wird durch diese Verkehrung die Lüge entgegengesetzt. Wir stoßen hier auf eine Ablehnung des scholastisch-philosophischen Menschenbildes durch Luther, die deutlich von dem gegensätzlichen Verhältnis von Gesetz und Evangelium her gedacht ist 41 . Das Festhalten am philosophischen Menschenbild innerhalb der theologischen Aussage über den Menschen führt zur gleichen Verkehrung des Gottesverhältnisses wie das Festhalten am Gesetz als Heilsweg. Solche Verkehrung des Gottesverhältnisses, die Luther in jeder Form menschlichen Selbstruhmes erkennt, führt ihn zur Bezeichnung jeder der Wahrheit Gottes, d. h. des Evangeliums, widersprechenden Lehre als Götzendienst. Die eigene Gerechtigkeit aufzurichten, Christus abzusagen, Gnade und Wahrheit zu verwerfen heißt nichts anderes, als sich selbst zum Götzen zu erheben42. Der Gegensatz von Wahrheit und Lüge führt, zu Ende durchgedacht, auf den Gegensatz von Gottesdienst und Götzendienst. Die Entscheidung fällt in der Wahl zwischen Gesetz und Evangelium 43 . Der Glaube, der sich auf die Wahrheit richtet, die allein Gott ist, ist die verissima et interior latria44. cj Der Gegensatz von verbum hominis und verbum dei Beide Schemata, mit denen Luther die Thematik des Briefs zu erläutern sucht —· das beherrschende, ständig wieder auftauchende Begriffspaar litera-spiritus und das weniger in Erscheinung tretende, aber inhaltlich mitlaufende mendaciumveritas — , führen hin auf die von Paulus selbst nahegelegte Be41 Dieser Gesichtspunkt wird —• auf Grund von breiterem Material — besonders betont herausgearbeitet von Haikola, Studien zu Luther und zum Luthertum, vgl. bes. S. 49 ff. 42 460, 25 ff. 43 Deshalb sind bei Luther die Häretiker, die das malum fidei schafft, solche, die auf sich selbst vertrauen (vgl. die aufschlußreiche Gleichsetzung von haeretici, superbi, schismatici und impii!); die mali mores dagegen schaffen nur Sünder — salva fide!, denn sie wissen in ihrer Sünde, daß ihnen das, was sie haben sollten, fehlt. (461, 2ff.) 44 460, 37.

Luthers Entfaltung der Thematik des Briefes

47

Zeichnung von Gesetz und Evangelium als verbum dei und verbum hominis. Die Gegenüberstellung von Wort Gottes und Menschenwort am Anfang des Kommentars läßt ihre inhaltliche Zugehörigkeit zu dem Gegenüber von litera und spiritus erkennen. Im Zusammenhang seiner Erläuterung des Apostelbegriffs — der Apostel als Träger des göttlichen Wortes — führt Luther, unter allegorischer Verwendung der Geschichte vom blutflüssigen Weibe (Lk. 8, 43ff.), das seine Heilung nicht bei den Ärzten, sondern erst bei Christus fand, aus: Misit verbum suum, nempe deus, et sic sanavit eos. Venit homo et verbum suum, et haemorrhoissam peius habere facit, hoc est, ut clare dicam: quoties verbum dei praedicatur, reddit laetas, latas, securas conscientias in deum, quia est verbum gratiae, remissionis, bonum et suave, quoties verbum hominis, reddit tristem, angustam, trepidam conscientiam in seipsa, quia est verbum legis, irae et peccati, ostendens, quid non foecerit, et quanta debeat46. Das Entscheidende liegt in der Zusammenordnung von verbum dei und verbum gratiae und von verbum hominis und verbum legis. Die Funktionen der so voneinander unterschiedenen Worte fallen auseinander in ein sanare und ein ostendere, quid non foeceret et quanta debeat. Im Gegensatz zum menschlichen Wort besitzt das Wort Gottes eine Kraft, die es am Gewissen beweist, indem es als Wort der Gnade und der Vergebung das Gewissen aus seiner Gefangenschaft in sich selbst befreit und zu einem fröhlichen Gewissen in Gott werden läßt. Die luthersche Modifikation des ursprünglich augustinischen Gedankenganges wird wieder deutlich4®. 45

453. Iff. Die anschließende Interpretation des als Menschenwort gedeuteten Gesetzes als decreta, statuta und leges darf nicht einfach als inhaltliche Definition des durch den Begriff »Menschenwort« bezeichneten Gesetzesbegriffes verstanden werden, als ob in der Gleichsetzung von verbum legis und verbum hominis schließlich doch nur eine unzureichende Umschreibung dessen zu finden sei, was Luther unter »Gesetz« versteht, eine Beschränkung auf die Zeremonialgesetze, die dann weder Luthers ganzes noch sein tiefstes Verständnis des Gesetzes wiedergäbe. Die Dinge liegen hier ebenso wie zu V. 6, wo Luther die im einzelnen Hieronymus entnommene Exegese mit den Begriffen litera und spiritus von Augustin her versteht und im Blick auf seine Gegenwart als Frucht der Verkehrung 46

48

Der Gedankenkreis der Rechtfertigung (1519)

Auch von der Gegenüberstellung von deus verax und homo mendax her ergibt sich das Gegeneinander von verbum dei und verbum hominis. Der im Gegensatz von Wahrheit und Lüge enthaltene Gegensatz von Gottesdienst und Götzendienst erklärt es, daß die Begriffe verbum dei und verbum hominis von Luther mit diesem Bedeutungshintergrunde dort verwendet werden, wo von der Kirche die Rede ist47. Seine Ausführungen über die Institution des Apostolates durch Christus um der Reinerhaltung des göttlichen Wortes willen sind von hier aus zu verstehen: kein schlimmerer Schade kann der Kirche geschehen, als daß das Wort Gottes durch das Wort der Menschen und Traditionen dieser Welt verdrängt wird, denn: deus solus verax, omnis homo mendax (Ps. 116, 11). Dann hätte nach Luthers Voraussetzungen die Kirche aufgehört, Kirche zu sein, denn damit wäre der Gottesdienst in Götzendienst verkehrt. Durch die Schriften, die Christus der Kirche gelassen hat (relinquit!), nicht durch menschliche Satzungen wird die Kirche gebaut. Darum darf, wie Luther zu Gal. 1 , 1 1 f. im Anschluß an Hieronymus ausführt48, in der Kirche nicht ohne Offenbarung Christi gepredigt werden, damit nicht durch eine alles verkehrende Interpretation aus dem Evangelium Christi ein menschliches Evangelium wird (bis hierher Hieronymus!). Diese verkehrende Interpretation besteht für Luther an dieser Stelle aber nicht so sehr darin, dem Evangelium selbst einen Gebotscharakter zu geben, wie die gleiche Äußerung von dem Hintergrund der Begriffe litera-spiritus her zu interpretieren wäre — obwohl im Ergebnis natürlich beides auf eins herauskommt —, sondern im Zusatz menschlicher Traditionen und Glossen zum des Evangeliums, die vom spiritus zur litera führt, decreta Pontificum und traditiones hominum nennt (461, 8ff.). Die an beiden Stellen (u. ö.!) auftretende Identifikation des Gesetzes — im Rahmen seiner theologischen Deutung als litera und verbum hominis —• mit dem Zeremonialgesetz erklärt sich aus dem engen Ineinander von grundsätzlicher theologischer Reflexion und konkreter Anwendung auf die Mißstände der Zeit. Die Gleichsetzung von verbum hominis mit decreta und statuta zeigt die Illustration, die Luther seiner Deutung des Gesetzes an Hand der Verhältnisse seiner Gegenwart gibt, und kann nicht verstanden werden als zureichende Wiedergabe seines Gesetzesverständnisses. 48 « 453, 27ff. 465. 26ff.

Luthers Entfaltung der Thematik des Briefes

49

Text der Schrift, die im Unterschied zur göttlichen Wahrheit nur Lüge sein können. Deshalb sind in diesem Zusammenhang die angeführten humanae opiniones und proprio magisterio inventae (!) glossae nicht nur als Beispiele zu verstehen, sondern hier bezeichnen sie in vollem Umfange die Sache selbst und meinen Zusätze über das in der Schrift selbst Enthaltene hinaus. Daß Paulus seine Verkündigung als »non secundum hominem« beschreibt, ist für Luther nicht nur eine inhaltliche Bestimmung — obwohl dieser Gedanke bei ihm den Akzent trägt —, sondern weist auch zugleich auf die äußere Herleitung seiner Predigt von Gott hin, in der die Gewähr gegeben ist, daß Paulus nicht wie die Pseudapostel Irrtum von den Menschen, sondern von Christus Wahrheit empfangen hat 49 . Inhaltlich gehören die beiden nach ihrer gedanklichen Herkunft hier auseinander gehaltenen Färbungen des Begriffspaares verbum dei-verbum hominis für Luther natürlich aufs engste zusammen. Die beiden Definitionen des Apostels, die den Wahrheitsbeweis für die apostolische Verkündigung des Paulus enthalten — der mit dem Worte Gottes Beauftragte, das als Wort der Gnade und der Vergebung die Gewissen befreit, und der von Christus in der Kirche als Hüter der von Gott stammenden Wahrheit eingesetzte Zeuge —, ergeben ein Ganzes: das Kriterium für die Autorität der apostolischen Verkündigung wird gewonnen an ihrem Inhalt, der durch ihre Herkunft verbürgt ist, das aber heißt für Luther zugleich: ein ihrer sich als lebendig erweisenden Kraft. Wir fragten nach der Begrifflichkeit, in der Luther die Thematik des Galaterbriefes entfaltet und stießen auf die Begriffspaare litera-spiritus, mendacium-veritas und, von diesen beiden inhaltlich bestimmt, verbum hominis-verbum dei. Bücken wir auf das Gewicht, das den jeweiligen Begriffspaaren zukommt, so ist es keine Frage, daß das die Auslegung bestimmende Schema der Gegensatz litera-spiritus ist und daß die anderen Begriffe von dort her, d. h. von Luthers Interpretation von litera und spiritus auf Gesetz und Christus hin, ihre letzte und eindeutige Färbung erhalten. 49 4

466, if.

B o r n k a m m , Galatcrbrief

50

Der Gedankenkreis der Rechtfertigung (1519)

2. Das Ineinandergreifen von systematischer und hermeneutischer Fragestellung

a) Luthers systematische Verwendung von litera und spiritus Wir müssen Luthers Verwendung der Begriffe spiritus und litera nach dieser ersten Feststellung noch ein Stück weiter verfolgen. Wir werden auf diese Weise in die theologische Mitte seines Kommentars geführt. A m ausführlichsten arbeitet Luther mit ihnen in seiner Exegese zu Gal. 2, 19 — E g o enim per legem legi mortuus sum, ut deo v i v a m — und in seiner Erörterung des vierfachen Schriftsinns an H a n d der paulinischen Allegorie von Gal. 4, 22—24. Wir wenden uns hauptsächlich diesen beiden Stellen zu 60 . »Ego enim per legem legi mortuus sum«: die Unterscheidung von litera und spiritus dient Luther dazu, die Unterscheidung innerhalb des Gesetzesbegriffs zu verdeutlichen, die Paulus hier offenbar vornimmt. E r folgt damit der exegetischen Tradition: der Ambrosiaster unterscheidet lex fidei und lex Moysi, Hieronymus lex spiritualis und lex vetus, Augustin lex spiritualiter und carnaliter intellecta, L y r a lex nova und Mosaica, Faber lex nova und lex vetus 5 1 . Luther faßt die vorliegenden Unterscheidungen als den Gegensatz von lex spiritus et fidei und altera lex literae et operum 52 , der vom Schluß des Verses her interpretiert wird als der Gegensatz von deo vivere und peccato vivere. Deo vivere schließt den Sieg über die Sünde auf Grund der bereits erfolgten, im Glauben gegebenen Gesetzeserfüllung mit ein, zum peccato vivere gehört wesentlich das Streben nach der bisher nicht erreichten Erfüllung des Gesetzes, alle scheinbar bereits vorhandene Erfüllung ist nichts als simulata impletio. Dies Verständnis wird erläutert mit Augustins Unterscheidung des Handelns cum odio legis und cum dilectione legis, die weiterführt zur Gegenüberstellung von intus und foris 53 : der dem Ge50

498«. 549«·

61

Selbstverständlich dürfen die verschiedenen Begriffe einander nicht

einfach inhaltlich gleichgesetzt werden. 63

62

498, 22 ff.

Zu intus und foris vgl. bes. H. Bornkamm, Äußerer und innerer

Mensch bei Luther und den Spiritualisten, in Imago Dei, 1932, S. 85 ff. R . Bring, Das Verhältnis von Glauben und Werken in der lutherischen

Ineinander von systematischer und hermeneutischer Fragestellung

51

setz Verhaftete heuchelt Gerechtigkeit nach außen, doch im Inneren gehorcht er der Sünde; der Glaubende ist innerlich von der Sünde befreit und hat nur in seinem äußeren Leben noch mit ihr zu kämpfen. »Per legem legi mortuus sum« bringt demnach zum Ausdruck, daß der Mensch durch die lex spiritus oder fidei, d. h. durch die im Glauben gegebene Gesetzeserfüllung und die damit verbundene Liebe zum Gesetz, der lex literae, d. h. dem Zwang, das Gesetz zu erfüllen, entnommen ist. Beide leges, von denen die Rede ist, umschließen für den Menschen ein Doppeltes: das Gesetz des Glaubens und des Geistes verleiht die Rechtfertigung und das Vermögen, das Gesetz zu erfüllen und die Begierden des Fleisches zu kreuzigen64, das Gesetz Moses, der Sünde, des Zornes usw. klagt den Menschen an und tötet ihn und läßt zugleich die Begierden in ihm wachsen55. Damit ist für den Menschen in beiden Fällen eine doppelte Möglichkeit des Verhaltens gegeben. In der Begegnung mit der lex fidei kann er die ihm hier entgegentretende Rechtfertigung annehmen und als Gerechtfertigter den Kampf gegen die Begierden des Fleisches aufnehmen, er versteht sich selbst als gerechtfertigten Sünder, der weiß, daß er seine Gerechtigkeit allein von Gott empfangen hat und empfängt; er kann die lex fidei um ihres doppelten Inhaltes willen jedoch auch als Aufruf zu diesem Kampf mißverstehen, ohne die Gabe als erstes in den Blick zu bekommen, und sie damit für sich in ein Gesetz verkehren, durch dessen Beobachtung er in seinen Augen ein Gerechter ist. Entsprechend führt ihn die lex literae entweder zu dem Versuch, das Gesetz durch eigene Werke zu erfüllen — das aber mißlingt jetzt, wo der Mensch sich der Strenge des Gesetzes bewußt wird, doppelt, denn einmal gilt die Regel, daß jede Begierde durch das Gebot nur desto mächtiger wird, zum anderen wird unter dem Druck des Gesetzes die Überwindung dieser Begierden nur erreicht durch die Absicht des Menschen, das ihm vorgesetzte Ziel nicht zu verfehlen, und d. h. im Blick Theologie, 1955, S. n i f f . L. Haikola, Studien zu Luther und zum Luthertum, 1958, S. 25 ff. Intus bezeichnet in unserem Zusammenhang deutlich den Menschen in seinem Verhältnis zu Gott, foris den Menschen in seinem Verhältnis zu andern und zu sich selbst. 84 66 499, 27t. 499, 37 f. 4*

52

Der Gedankenkreis der Rechtfertigung (1519)

auf Lohn und Strafe (Augustins timore poenae und amore commodi), nicht aber aus der von Gott verlangten Liebe, die von sich selbst absieht. Mißlingt dem Menschen die Erfüllung des Gesetzes, so versteht der Mensch sich als Sünder, ohne durch seine Befangenheit im gesetzlichen Denken einen Ausweg aus seiner verzweifelten Situation zu sehen; bewältigt er das Gesetz in seinem Leben, so ist er auf Grund seiner Erfüllung der gesetzlichen Forderung in seinen Augen ein Gerechter. Oder aber die lex literae führt den Menschen an die Stelle, an der er den Schritt über das gesetzliche Verständnis seines Gottesverhältnisses hinaus tun kann: sie verhilft dem Menschen zur Erkenntnis seiner Sündhaftigkeit, indem sie ihn durch die Strenge ihrer Forderung überführt, sie übt damit an ihm ihre tötende Funktion aus und führt ihn an die Stelle, an der er nach der Gnade fragt. Hier versteht sich der Mensch als Sünder, der weiß, daß er seine Gerechtigkeit nur von Gott empfangen kann, aber auch darauf hofft, daß er sie von ihm empfangen wird. Der Ansatz für eine jeweils doppelte Möglichkeit des Selbstverständnisses in der Begegnung des Menschen mit der lex literae und der lex spiritus, die hier sichtbar wird, findet sich schon bei Augustin, doch bleibt bei ihm die doppelte Verstehensmöglichkeit vorwiegend auf die lex literae beschränkt. Die beiden Funktionen der lex spiritus, die wir in Luthers Konzeption wahrnehmen — Rechtfertigung und Kampf gegen die Begierden des Fleisches —, und an denen sich die doppelte Verstehensmöglichkeit entzündet, fallen bei Augustin in stärkerem Maße in eins. Für Augustin ließe sich die Reihenfolge beider Wirkungen umkehren, ohne daß für ihn ein gesetzliches Mißverständnis zu entstehen braucht; für Luther nicht, denn seine Rechtfertigungsvorstellung enthält den Gedanken der imputatio, der bei Augustin fast völlig — bis auf die nonimputatio des reatus culpae in der Taufe — fehlt66. Die jeweils doppelte Möglichkeit des Verstehens in der Begegnung mit Gesetz und Evangelium ist bei Luther deutlicher und schärfer profiliert als bei Augustin. 58 Vgl. auch an anderer Stelle die Luther geläufige Bezeichnung der lex spiritus und literae als iustificans und vivificans bzw. als occidens und peccatum faciens, ζ. B, 468, 35 f. — Vgl. Hamel, Der junge Luther und Augustin, Bd. 2, S. 86.

Ineinander von systematischer und hermeneutischer Fragestellung

53

b) Luthers hermeneutische Verwendung von litera und spiritus Doch Luther tut nun den entscheidenden Schritt über den bisher beschriebenen, mit Augustin weitgehend übereinstimmenden Tatbestand hinaus. Die sich angesichts der lex fidei und operum jeweils ergebende Doppelheit der Verstehensmöglichkeit läuft im Grunde hinaus auf eine doppelte Verstehensmöglichkeit überhaupt. Die falsch, d. h. gesetzlich verstandene lex fidei ist letztlich nichts anderes als die falsch verstandene lex literae. Sie bildet ebenso wie diese den Gegenpol zu dem Verständnis der lex literae als tötender Anklage, die zum Verlangen der Gnade treibt. Umgekehrt führt die recht verstandene lex literäe, die nach der Gnade fragen heißt, unmittelbar in das rechte Verständnis der lex fidei hinein, die als rechtfertigend ja eben diese Gnade anbietet und austeilt. Das richtige Verständnis der lex fidei bedingt zugleich das rechte Verstehen der lex literae, und das Mißverstehen der lex literae führt notwendig auch zum Mißverstehen der lex fidei. Diese Konsequenz bedeutet für Luther mehr als ein letztes Ausziehen der Linien seiner Auffassung von litera und spiritus, das gleichsam das letzte, verhältnismäßig zufällige Ergebnis noch festhält. Er formuliert diese beiden Möglichkeiten des Verstehens nun selbst und macht sie zur Grundlage weiterer theologischer Ausführungen, indem er mit ihrer Hilfe das Problem des Verstehens selbst in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt. Die ausgezogenen Konsequenzen werden bewußt für die Hermeneutik fruchtbar gemacht, und die doppelte Verstehensmöglichkeit wird methodisch auf das Verhältnis von Mensch und Offenbarung überhaupt angewandt. Vom hermeneutischen Aspekt her wird bei der Offenbarung nicht nach ihrer Wirkung, der tötenden oder lebendigmachenden, also nach Gesetz und Evangelium, sondern nach dem Verstehen des von ihr betroffenen Menschen gefragt. Von hier aus ergeben sich die Bezeichnungen Uteralis und spiritualis als hermeneutische Begriffe, die nicht einfach mit den bisher verwandten Termini litera und spiritus gleichgesetzt werden dürfen, sondern diese nach ihrem sachgemäßen oder unsachgemäßen Verstandensein bestimmen. Die Verschiebung im Ver-

Der Gedankenkreis der Rechtfertigung (1519)

54

ständnis des Inhaltes der gleichen Begrifflichkeit vollzieht sich zwanglos und unmerklich. Die Augustin entnommene Definition der lex spiritus als scripta digito solo dei in cordibus und der lex literae als scripta in tabulis lapideis67 steht einer hermeneutischen Deutung ohne weiteres offen, die noch dazu erleichtert wird durch die übliche Verwendung der Begriffe literalis und spiritualis ( = allegorisch!) als hermeneutischer Kategorien im origenistischen Sinne. So können für Luther nicht nur spiritualis und Uteralis intelligentia58, sondern abgekürzt auch einfach lex literae und lex spiritus hermeneutische Vokabeln sein, die er gegeneinander absetzt als quae nullis scribitur literis, nullis profertur verbis, nullis cogitatur cogitationibus und quae scribitur literis, dicitur verbis, cogitatur cogitationibus69. Von diesem Ansatz her wird für Luther das ganze ihm aus der Tradition überkommene Schema des vierfachen Schriftsinnes hinfällig. Unter »quae scribitur Uteris..., cogitatur cogitationibus« fällt nicht nur das geschriebene Wort, sondern jede hermeneutische Methode. Nicht nur der sensus UteraUs, sondern auch der in der Tradition als geistUch bezeichnete sensus tropologicus, allegoricus oder mysticus und anagogicus ist für Luther von hier aus litera 60 . Denn nicht der auslegende Buchstabe gibt der auszulegenden lex Uterae ( = Gesetz) geistüchen Charakter, sondern ihr Bezogensein auf die lex spiritus, auf die sie hinweist 67

Vgl. De spiritu et litera, MSL. 44, Sp. 218, 29 u, ö.

68 551. 35· 499, 20 f. 34f. 499. 35 f·: 551, 28 f. Für unsere Fragestellung nach litera und spiritus genügt diese zusammenfassende Feststellung. Für eine genauere Interpretation der Kategorien des vierfachen Schriftsinns z. St. vgl. Ebeling, Evangelische Evangelienauslegung, S. 285 ff. — Im ganzen spielt der vierfache Schriftsinn für Luther im Galaterkommentar keine Rolle, auch der für seine Psalmenauslegung so bedeutsame tropologische nicht. Der paulinische Text bietet für diese Auslegungsmethode so gut wie keinen Anlaß. Das hermeneutische Problem stellt sich für Luther durch den ihm vorliegenden T e x t einseitig in der Auseinandersetzung mit dem Auslegungsschema litera-spiritus, in die er durch die theologische Problematik des Galaterbriefes von selbst gerät. Der Forderung der existentialen, auf Christus bezogenen Aussage, der Luther bei anderen Texten durch die tropologische Exegese gerecht wird, kommt er im Galaterkommentar lehrmäßig durch die Konzentration aller Aussagen auf die Rechtfertigung und hermeneutisch durch die durchgehende Interpretation des Textes nach den Kategorien litera-spiritus nach. 68

60

Ineinander von systematischer und hermeneutischer Fragestellung

55

und zu der sie hinführt. Für die systematische Verhältnisbestimmung von Gesetz und Evangelium heißt dies, daß das Gesetz immer geistlich ist, da es auf die geistgewirkte Liebe hinweist : lex in se semper est spiritualis61, und: spiritualis est, quia spiritum fidei requirit62. Für den hermeneutischen Aspekt heißt diese Verhältnisbestimmung von litera und spiritus als signum und signatum, die auch der litera den Charakter der spiritualitas verleiht, daß jede lex literae, d. h. jedes geschriebene Wort der Schrift, durch den in ihr enthaltenen Hinweis auf die Gnade, d. h. die durch sie gesetzte Möglichkeit des menschlichen Selbstverständnisses als Sünder, geistlich ist, und daß die — hermeneutische — Bestimmung als literalis auf das unsachgemäße Selbstverständnis des Hörenden hinweist: nulla lex est quae non sit spiritualis: Tunc autem solum est literalis, quando gratia quae impleat non adest: tunc non sibi sed mihi est literalis63. Das bedeutet die klare Ablehnung der von Origenes und Hieronymus ausgehenden Auslegungsmethode, die durch ihren geistlichen Charakter — Allegorie — dem literalen Wort der Schrift erst die spiritualitas verleihen will. Für Luther ist es umgekehrt: das Wort der Schrift ist wie das Gesetz in sich selbst geistlich, die sachgemäße Auslegung besteht darin, dies Wort so wie es da steht zu Gehör zu bringen, d. h. dem Hörer das Wort so vor Augen zu stellen, daß ihm die im Wort enthaltene doppelte Möglichkeit des Verstehens durchsichtig gemacht und der Zugang zum Vollzug des sachgemäßen Verstehens durch keine zusätzliche Fehlinterpretation verstellt wird. Der Geist ist für Luther in der Schrift selbst enthalten und braucht nicht erst von außen an ihn herangetragen zu werden. Die Bezeichnung des Gesetzes als geistlich nur um ihres geschriebenen Charakters willen widerspricht der Aussage der Schrift selbst, Luther zitiert Rm. 7, 14: Seimus, quia lex est spiritualis64. Am Hörer entscheidet es sich, ob das Wort seinen geistlichen Charakter an ihm erweist. Die Entscheidung über Uterales oder spirituales Verstehen fällt also nicht in der Methode der Auslegung, sondern im Angeredeten. Das Wort zielt auf das sachgemäße Selbstverständnis 81

552, 3·

82

500, 22 f.

63

55 1 / 2·

M

500, 17, 552, 3.

56

Der Gedankenkreis der Rechtfertigung (1519)

des Hörenden, das er in seiner Antwort auf die an ihn ergangene Anrede gewinnt, und das sachgemäße Hören wiederum erschließt das Wort. Beide Glieder dieser Doppelbewegung gehören aufs engste zusammen, der Zirkel darf an keiner Stelle aufgebrochen werden. Wir wollen ihn uns noch an Hand eines Beispiels verdeutlichen. Wie das Wort auf das rechte Verständnis des Angeredeten zielt, so erschließt das rechte Hören das Wort — nicht nur intellektuell, sondern existentiell, das ganze Leben des Menschen hat teil am Erfassen der Verkündigung. Der stärkste Ausdruck für die rückhaltlose Beteiligung der gesamten Existenz bei der Aneignung des Wortes ist das Verständnis des eigenen Lebens als Veranschaulichung der Offenbarung. Auf das Aufdecken dieses Tatbestandes läuft Luthers Auslegung der beschwörenden Frage des Paulus hinaus, die dieser an die Galater richtet, nachdem er ihnen sein Evangelium entfaltet hat: »O insensati Galatae, quis vos fascinavit, non obedire veritati ? Ante quorum oculos Christus Jesus proscriptus est et in vobis crucifixus?« (Gal. 3, i)® 5 . Die gesamte Tradition bezieht das »Christus crucifixus« auf den historischen Jesus, die Auslegung ist dann im einzelnen bestimmt durch ein verschiedenes Verständnis des pro- bzw. praescriptus, das ζ. B. für Faber und Erasmus auf eine besondere Anschaulichkeit der paulinischen Predigt in Galatien über den gekreuzigten Christus hinweist88. Der theologische Gehalt des »Christus crucifixus« ist im Blick auf die Hörer ein positiver, sie werden auf die Heilstat verwiesen, die für sie geschehen ist — das Wort wird in bonum verstanden87. Luther weicht in seiner Exegese bewußt von der Tradition ab88. Ihn bestimmt die exegetische Beobachtung, daß »Christum in aliquo crucifigi« nirgends in der Schrift im positiven Sinne verstanden wird, er belegt sie mit Hebr. 6, 6 — 65

506 f. So auch in der heutigen Exegese, s. Schlier z. St. (Meyers Krit.Exeget. Kommentar); eine genaue Ubersicht über die verschiedenen Auslegungen der Tradition bei Luther selbst, S. 506. 67 506, 34. 68 Die Ausführlichkeit, mit der er an dieser Stelle die exegetische Tradition und seine Abweichung von ihr erörtert, zeigt, wie sorgfältig er sich im Blick auf die Tradition über seine exegetischen Entscheidungen Rechenschaft abgelegt hat. 66

Ineinander von systematischer und hermeneutischer Fragestellung

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dort wird von den Abgefallenen gesprochen als den rursum crucifigentes sibimetipsis filium Dei — und dem Hinweis auf den eben ausgelegten Vers Gal. 2,20, dessen »Christus vivit in me« er nun das »crucifixus in vobis« entgegenstellt: wie das Einwohnen Christi im Menschen durch den Glauben bewirkt wird, so heißt Christus kreuzigen, daß Christus im Menschen nicht lebt, sondern tot ist, d. h., daß der Glaube an ihn durch die Gerechtigkeit des Gesetzes im Menschen ausgelöscht ist®9. Damit wird der Bück der Hörer nicht auf das historische Kreuz, sondern auf sich selbst gelenkt: Ecce vosipsi cernitis70. Wohl schließt Luther sich in der Deutung des pro- bzw. praescriptus Faber und Erasmus an, nach welchen Paulus hier die Anschaulichkeit seiner Predigt betont, doch durch die Konzentration der ganzen Aussage auf den Christus in vobis wird die Predigt, die dieser Vers beschreibt, nun für Luther in höchstem Maße anschaulich und unanschaulich zugleich. Es geht um das Erfassen eines geistlichen Geschehens, um das Erkennen dessen, was sich im Gottesverhältnis der Galater vollzieht. Die Überzeugungskraft der paulinischen Predigt Hegt für Luther hier nicht in der Anschaulichkeit ihrer Darstellung, sondern in ihrer Konzentration auf das sola fide, das den Galatern in dem Augenblick anschaulich wird, in dem sie ihr eigenes Leben von hier aus sehen lernen. Damit ist für das Verständnis der paulinischen Predigt ein Glaube vorausgesetzt, der das Gegeneinander von Christus und iustitia legis nicht anders zu Gesicht bekommt, als daß zugleich das eigene Gottesverhältnis verwandelt wird, für den also Theologie und Frömmigkeit nicht auseinandertreten können, sondern der durch diese Predigt von Christus und der Gerechtigkeit des Gesetzes in seinem eigenen Gottesverhältnis ,e

506, 37 f. 507, 6; vgl. die Scholie zu Hebr. 6, 6 (WA. 57, 3. Abt., S. 182): Christum crucifigere heißt nicht, sich offensichtlich gegen das Gesetz vergehen, sondern: statt auf Christus auf die eigenen Werke vertrauen. Daß im Hebräerbrief für den offenbaren Sünder die Möglichkeit der Buße abgeschnitten wird, kann nicht sein: imo si non esset poenitentia, tota epistola ad Galatas nulla esset. Bei dem Christum crucifigere, für das der Hebräerbrief die Möglichkeit der Buße verneint, kann es sich nur um die bewußte, willentliche Abkehr von Christus zur Gesetzesfrömmigkeit handeln, die meint: extra Christum posse suis iusticiis salvari. 70

Der Gedankenkreis der Rechtfertigung (1519)

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angesprochen wird und ihre Allgemeingültigkeit begreift, indem er sich selbst ihrer Wirkung aussetzt. Die Anschaulichkeit der Predigt hilft nicht im eigentlichen Sinne zum Glauben, da der Glaube kein verstandesmäßiges Übernehmen einer gut entfalteten Erkenntnis ist, sondern durch den Glauben, der als Glaube an Christus den Vollzug des Heilsgeschehens im eignen Leben erfaßt, erhält die gepredigte Sache ihre Anschaulichkeit aus dem Leben des Hörers selbst. Nichtbeteiligten bleibt sie unsichtbar und damit unverständlich. Mit anderen Worten: es kommt in Luthers Auslegung dieses Verses aufs deutlichste zum Ausdruck, daß das Verstehen des Wortes für ihn nur möglich ist unter dem Hineingeben der eigenen Existenz. Wird nicht in dieser, vom Wort selbst intendierten Weise gehört, bleibt der Inhalt des Wortes verschlossen, der nicht in einer belehrenden Mitteilung besteht, sondern im Entbinden eines Geschehens im Leben des Glaubenden, in der Überwindung des »Christus in me crucifixus« durch das »Christus vivit in me«. 3. Der Übergang von der Frage des Verstehens zur Frage der Rechtfertigung Dieser Vorgang, der durch Predigt und Hören im Glaubensleben des Angeredeten entbunden wird und der in dem eben betrachteten Text als Vollzug des Heilsgeschehens beschrieben ist, wird von Luther gleich darauf in der Begrifflichkeit der Rechtfertigungslehre zum Ausdruck gebracht. Damit ist in aller Selbstverständlichkeit die Brücke von der Frage des Verstehens zur Frage der Rechtfertigung geschlagen. In der Frage des Paulus an die Galater, die an unseren eben behandelten Text anschließt — Ex operibus legis spiritum accepistis, an ex auditu fidei ? (Gal. 3, 2. 5) —, ist schon im Wortlaut des Textes selbst die Verbindung zur Rechtfertigung gegeben: ex operibus legis — ex auditu fidei. Auditus fidei bedeutet für Luther nach Erasmus die vernommene Predigt, d. h. das im Glauben gehörte Wort 71 . Im Hören empfängt der Mensch den Geist. Empfang des Geistes aber ist für Luther gleichbedeutend 71

508, 22ff.

Von der Frage des Verstehens zur Frage der Rechtfertigung

59

mit Rechtfertigung, wie seine Veranschaulichung des Textes durch die Kornelius-Geschichte (Ac. 10) und die Interpretation dieser Geschichte durch den Hinweis auf Abraham zeigen, der nach Rm. 4 aus Glauben gerecht wurde. Der Empfang des Geistes, d. h. die Rechtfertigung, widerfährt dem Menschen nicht im Tun der Werke, sondern im Hören des Wortes 72 . Die anschließenden Ausführungen zeigen, worauf es Luther hier ankommt73. Er knüpft an den Erörterungen des Hieronymus zur Stelle an, der in seinem Kommentar zunächst die Frage nach den taub Geborenen anschneidet, also beim Akt des äußeren Hörens einsetzt. Die Notwendigkeit des Hörens begründet Hieronymus mit dem Inhalt der Offenbarung: Gott als Vater und Schöpfer kann aus der Größe, Schönheit und Zweckmäßigkeit der Natur erkannt, Geburt, Kreuz, Tod und Auferstehung Christi jedoch können nicht ohne Mitteilung durch die Predigt gewußt werden74. Verhältnismäßig beziehungslos steht daneben dann der Hinweis auf das innere Hören des Herzens, von dem Paulus hier spricht; es wendet sich an die Ohren der Seele: quas qui habueret, non magnopere indigebit his auribus corporis ad Christi euangelium cognoscendum75. Die ganze Erörterung ist bei ihm im Grunde eine theologische Spielerei mit einem Grenzfall. Luther knüpft hier an, spitzt das Problem jedoch zu auf die Frage der Kindertaufe und erhebt es damit zum Gegenstand ernsthafter theologischer Diskussion. Das paulinische auditus fidei weist auch für ihn hin auf ein geistliches Hören, zu dem geistliche Ohren nötig sind, die allein der Geist schaffen kann. Kein Hören ist möglich, wenn nicht zugleich mit dem Wort der Geist gegeben wird: si spiritum non infundit, nihil differt audiens a surdo76. Erst dies Wirken des Geistes macht das Wort zum verbum virtutis et gratiae. Körperliches und geistliches Hören stehen jedoch für Luther nicht nebeneinander, die Gabe des Geistes ist für ihn nicht wie bei Hieronymus unabhängig vom Hören des Wortes, sondern Geist und Wort sind im Akt der Mitteilung zusammengeschlossen. Am Hörer liegt es, ob er das Wort so aufnimmt, daß der Geist in ihm wirken kann. Hier kommt 72 74

78

508, 7 ff. MSL. 26, Sp. 3-4, 419 C.

509, 4f-

73 75

508, 29 ff. MSL. 26, Sp. 375, 420 B.

Der Gedankenkreis der Rechtfertigung (1519)

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die Verbindung der Frage des rechten Hörens zur Frage der Rechtfertigung deutlich in den Blick: der Gegensatz ex operibus legis — ex auditu fidei zeigt, daß der Akt des Hörens an keine Vorbedingung auf Seiten des Hörenden gebunden ist, sondern im Gegenteil den Verzicht auf alles eigene Tun bedeutet. Deshalb wird für Luther die Kindertaufe zur besten Verdeutlichung dessen, was die Rechtfertigung ist. Sie zeigt, daß das Wirken des Geistes auch nicht an die Voraussetzung eines bestimmten verständigen Alters gebunden ist — ja, Luther geht bis hin zur Aufstellung der These, daß das geistliche Verstehen für Kinder bei der Taufe leichter zu vollziehen sei als für Erwachsene, da sie nicht durch eigene Werke abgelenkt werden: sonus v e r b i . . . eo facilius operatur per spiritum, quo parvulus verbi est capacior, i. e. patientior, nullis aliis rebus implicatus 77 . Das ist die zugespitzteste Exegese, die der Gegensatz von opera und auditus fidei erfahren kann. E s ergibt sich von hier aus von selbst, daß Luther dann auch das Hören dem meritum congrui invenire ad gratiam obtinendam entgegensetzt: nicht durch irgendein Verdienst, sondern im Hören empfängt der Mensch die Gnade! Die Antwort: » . . . id age, ut verbum dei vel audias intente vel recorderis diligenter« gilt der Frage nach der Rechtfertigung: »Si vis gratiam consequi...«. Denn »verbum, inquam, et solum verbum est vehiculum gratiae dei«78. Um genauer zu sehen, wie sich die Gedanken von Hören, Geistempfang und Rechtfertigung, deren Zusammengehörigkeit an diesem Text sehr deutlich geworden ist, für Luther auseinanderfalten, müssen wir nun zu seiner Darstellung der Rechtfertigung selbst übergehen. Luther selbst weist uns diesen Weg außer durch den Inhalt seiner Ausführungen auch durch die Hauptbelegstelle, mit der er sie begründet. Rm. 1 0 , 1 3 f. gibt ihm die Stufenfolge (gradatio) an, in der nach Paulus das Heil erlangt wird: die Apostel werden ausgesandt, sie predigen das Wort, der Angeredete hört es, glaubt dem Gehörten, ruft den Herrn an und empfängt so das Heil 79 . Luther zieht diesen ordo des Apostels 80 78 79 « 509, 5 « · 509,13 ff· 508, 30 ff. Vgl. nach einer kurzen Zusammenfassung seiner Rechtfertigungslehre: Haec sunt quae in populo tractari oportuit et eo ordine tractari, quo ab Apostolo traduntur . . . (591, 32f.). 80

Die Rechtfertigung als Vollzug des geistlichen. Verstehens

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wiederholt heran, offensichtlich wegen seiner Konzentration auf den Vorgang des Hörens. Er gibt ihm dann auch den Hintergrund für seine Entfaltung der Rechtfertigungslehre ab. II. D I E R E C H T F E R T I G U N G A L S

GEISTLICHES

V E R S T E H E N DES WORTES

i. Luthers Darstellung der Rechtfertigung als Vollzug des geistlichen Verstehens a) Luthers Darstellung der Rechtfertigung zu Gal. 2, 16 f f . Für Luthers Darstellung der Rechtfertigung kommen in erster Linie seine Auslegung zu Gal. 2 , 1 6 ff. und die Zusammenfassung der gleichen Gedanken zu Gal. 3, 22 und Gal. 5, 21 in Betracht 81 . Er benutzt die grundlegende Formulierung des Paulus »non iustificatur (homo) ex operibus legis nisi per fidem Jesu Christi« (Gal. 2, 16), mit der die eigentliche Entfaltung der zentralen theologischen Themen des Briefes beginnt, auch selbst zu einer systematischen Darlegung seines Rechtfertigungsverständnisses. Luther tut es in dem Bewußtsein, als einziger der Exegeten — Augustin ausgenommen — Paulus richtig zu verstehen. Verum hic locus quoniam absurdus videtur iis, qui Paulinae theologiae nondum assueverunt82. Und selbst über Augustin ist das Urteil einschränkend, es bezieht sich auf seine antipelagianischen Schriften, die übrigen genügen Luther nicht 83 ; von diesen allerdings gilt: Hic facilem tibi et apertum faciet Paulum84. Luther beginnt seine Auslegung von Gal. 2, 16 mit der Unterscheidung einer doppelten Gerechtigkeit: ad extra, ab operibus, ex propriis viribus und ab intra, ex fide. Im Blick auf die äußere Gerechtigkeit haben Gesetz und Werke eine 81

489«., 525«., 5 9 r f . ^489, i4f. Hierzu gehört wohl auch Augustins Galaterkommentar, obwohl Luther diesen an unserer Stelle nicht ausdrücklich erwähnt. Zum Umfang von Luthers Augustinkenntnis vgl. Bauer, Die Wittenberger Universitätstheologie und die Anfänge der deutschen Reformation, S. 32f.; Hamel, Der junge Luther und Augustin, Bd. 2, S. iff. i33ff. 84 489, 19 f. 83

Der Gedankenkreis der Rechtfertigung (1519)

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legitime Funktion, hier hat die philosophische Lehre von einer dem Gesetz entstammenden Gerechtigkeit — das aristotelische »operando iusta iustum fieri« — ihren Platz. Das Gesetz, in dessen Erfüllung diese Gerechtigkeit besteht, ist inhaltlich so umfassend wie möglich verstanden, es umschließt die Zivilgesetze, die kirchlichen Gebote von den Zeremonialgesetzen bis hin zum Dekalog und schließlich das höchste Gebot, das der Gottesliebe, dem die nominalistische Theologie durch den Aufruf zum actus diligendi deum super omnia ex naturalibus elicitus gerecht werden zu können meint. Doch für Luther ist die Gerechtigkeit, die der Erfüllung dieser Gebote entspringt, wenig wert; sie ist eine iustitia servilis, mundana, temporalis, ficta, humana usw., ihr Geltungsbereich ist dieses Leben, zur künftigen Herrlichkeit trägt sie nichts bei, denn sie geschieht — hier stoßen wir wieder auf die Sprache Augustins — aus Furcht vor Strafe oder in Erwartung des Lohnes. Luthers Darstellung dieser menschlichen Gerechtigkeit ist abwertend, er beurteilt sie nach ihrer Bedeutung für die Rechtfertigung vor Gott. Einen eigenen, positiv zu bewertenden Spielraum gesteht er ihr nicht zu. Im Gegensatz zu ihr steht die andere Gerechtigkeit, die iustitia ab intra, ex gratia, ex fide, ante deum. An ihr gemessen enthüllt sich die Gerechtigkeit aus den Werken als die höchste Ungerechtigkeit, die erkannt und preisgegeben werden muß. Das Aufgeben der äußerlichen Gerechtigkeit, die den Menschen zur Gerechtigkeit des Glaubens führt, vollzieht sich nun für Luther im Bekenntnis des Zöllners: »Gott, sei mir Sünder gnädig!«, denn dieser ging nach Luk. 18, 14 gerechtfertigt — iustificatus — in sein Haus. Mit diesem Text wird die Rechtfertigung gebunden an das Verzweifeln an der eigenen früheren Gerechtigkeit, an ein demütiges Flehen und Bekennen der Sünde. E s ereignet sich dort, wo der Mensch vor Gott gerät — proruit ante deum! — und wird von Luther ausgelegt als Anrufen des göttlichen Namens86. Damit ist die Brücke zu 85

Zur Bedeutung der invocatio für die Rechtfertigung vgl. Hermann, Das Verhältnis von Rechtfertigung und Gebet, 1925 (jetzt in: Gesammelte Studien zur Theologie Luthers, i960). Hermann untersucht die Stellung des Gebetes im Blick auf das Rechtfertigungsgeschehen

Die Rechtfertigung als Vollzug des geistlichen Verstehens

63

Rm. i o geschlagen. Der Name Gottes übt auf den Menschen die Funktion des Wortes aus. Er -wird dem Menschen als Wort gepredigt, in dem ihm Gottes Barmherzigkeit, Wahrheit, Gerechtigkeit, Tugend und Weisheit begegnen — dadurch aber lernt der Mensch seine Schuld, Lüge, Eitelkeit und Torheit erkennen, die seinen eigenen Namen ausmachen. Das Schuldbekenntnis heißt nichts anderes, als dem Namen Gottes im Gegensatz zum eigenen Namen die Ehre geben. So kann Luther diese dem Gesetz entsprechende Funktion des göttlichen Namens beschreiben in der Formel: Nomen autem dei est. . . sui nominis accusatio86. Im Anrufen des Namens Gottes vollzieht sich die Rechtfertigung, d. h. für Luther: das Hören des Wortes, das diesen Namen predigt, führt in ein Geschehen87. Daß es um ein wirkliches Geschehen am Menschen geht, zeigt Luthers Beschreibung: der Glaube, der nach Rm. io durch das Wort entsteht und in dem das Anrufen des göttlichen Namens geschieht, bewirkt den Zusammenschluß des menschlichen Herzens mit eben diesem Namen, und der Name Gottes, der auf diese Weise vom Herzen des Menschen angerührt wird und es seinerseits anrührt, gibt diesem Anteil an seiner Reinheit, Heiligkeit, Gerechtigkeit, all seinen Tugenden — virtutes! — , von denen er überquillt. So macht Gott das Herz im Glauben seinem Namen in allem ähnlich88. Hier ist der Ubergang von der göttlichen Heiligkeit und Gerechtigkeit zu der des Menschen vollzogen. Der Verwandlung des menschlichen Selbstverständselbst, auf die Buße und auf das Verhältnis von Glaube und Werken. Er hat damit das gleiche Verhalten im Auge, das wir hier als Hören bezeichnen. Echtes Hören = geistliches Verstehen äußert sich für Luther in der Antwort des Menschen an Gott und damit im Gebet. 86 490, 13 ff. 87 Vgl. Hermann, a. a. O., S. 19: »So wäre also das Gebet gleichsam der Hebel des Geschehens, das zwischen Gott und Menschen in der Rechtfertigung verläuft. Es liegt Luther entschieden daran, zu betonen, daß die Rechtfertigung ein lebendiger Vorgang, ein Werden und Geschehen ist, in das Gott selbst eintritt und in das er den Menschen hineinzieht.« 88 Diese Beschreibung des Rechtfertigungsgeschehens zeigt erneut, wie stark der Ansatz bei der tropologischen Auslegung das theologische Denken Luthers befruchtet hat. (Zu dem unserer Stelle sehr ähnlichen Gedanken in »Von der Freiheit eines Christenmenschen« [W. 7, 24] vgl. Vogelsang, Die Anfänge von Luthers Christologie, S. 1 3 5 ) .

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Der Gedankenkreis der Rechtfertigung (1519)

nisses, das sich vor Gott, unter dem Wort, im Hören seines Namens vollzieht und den Menschen zum Schuldbekenntnis und zur Anrufung Gottes treibt, korrespondiert ein Tun Gottes, der Zusammenschluß des Namens Gottes mit dem menschlichen Herzen, der ein Sichmitteilen Gottes bedeutet. b) Luthers Darstellung der Rechtfertigung zu Gal. 5, 21 und 3, 22 Damit ist genau die Linie eingehalten, die Luther in Rm. 10, 13f. findet und zu Gal. 5, 21 kommentiert: wer den göttlichen Namen anruft, wird erhört und darin gerettet, der Inhalt der Erhörung ist der Empfang des spiritus charitatis, auf Grund dessen der Glaubende nun im Geiste wandelt und Teil am Reiche Gottes erhält89. Eine Linie, die sich mit Luthers von Augustin übernommenem Verständnis von litera und spiritus deckt: der Geist schreibt — im Gegensatz zum Gesetz —• dem Menschen nicht nur vor, was er zu tun hat, sondern reicht ihm die Kräfte dar, das Erkannte zu tun, d. h. er teilt dem Hörenden die Fähigkeit zur Erfüllung des Gesetzes mit. So ist es verständlich, daß Luther seine kurze Zusammenfassung der Rechtfertigung zu Gal. 3, 22 in den augustinischen Gegensatz von litera und gratia einordnen kann: conclusit scriptura omnia sub peccato, ut promissio ex fide Jesu Christi daretur credentibus. Scriptura wird von Luther mit lex gleichgesetzt, promissio ist nichts anderes als die gratia benedictioque iustificationis90. Die Rechtfertigung, die wie zu Gal. 2, 16 auch hier an Hand von Rm. 10 entfaltet wird als ein demütiges Bitten 91 , läuft hinaus auf den Empfang der Gnade, die dem zuteil wird, der das Gesetz geistlich versteht: L e x . . . ostendit mihi, quis ego sim . . . Gratia diffusa in cordibus nostris per spiritum sanctum extinguit odium et concupiscentiam92. Die inhaltliche Umschreibung dieses Geistes als spiritus charitatis93 ist traditionell und entspricht der Zuspitzung des Gesetzes auf das Liebesgebot. So interpretiert Luther seine Beschreibung der Rechtfertigung als Vereinigung des menschlichen Herzens mit dem Namen Gottes β» 591, 26ff. 92 527, iff.

90 93

525, 25ff. 591, 27.

81

526, 23.

Das Werk Christi als Handeln im Wort

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an Hand dieser Begrifflichkeit 94 : Gott gibt den Glaubenden Macht, seine Söhne zu werden (Joh. i, 12), indem er den heiligen Geist in ihre Herzen gibt, der sie mit Liebe erfüllt, friedvoll und fröhlich macht und zu Tätern alles Guten, zu Siegern über alles Böse, ja zu Verächtern des Todes und der Hölle werden läßt. Damit ist das Gesetz erfüllt. Die Abhängigkeit Luthers von Aussagen und Formulierungen Augustins liegt auf der Hand. Das neue Element tritt aber nun hinzu durch das Einfügen des Imputationsgedankens. Die Möglichkeit, diesen zweiten Gedankenkomplex einzubeziehen, zeichnet sich bereits in Luthers Verwendung der von Augustin übernommenen Gedanken ab. Die an Hand von Rm. 10, 13 f. beschriebene Abfolge des Geschehens zwischen Gott und Mensch, die in der Mitteilung des spiritus charitatis gipfelt, vollzieht sich für Luther ausschließlich im Verhältnis des Menschen zum Wort, und zwar so, daß die Mitteilung des Geistes für ihn so eng an das Hören gebunden ist, daß sie nicht nur mit dem Vernehmen des Wortes in eins fällt, sondern dies Vernehmen des Wortes ist, nicht zum Hören hinzutritt, sondern sich im Vollzug des Hörens ereignet. Da das Wort in dem ganzen Prozeß die entscheidende Rolle spielt, kann nun auch der Inhalt des Wortes unmittelbar in diesen Vorgang mit einbezogen werden, sofern er deutlich genug so interpretiert ist, daß er an keiner Stelle aus seiner Bindung in den Akt des Hörens herausgelöst wird. Das biblische rechtfertigende Wort ist inhaltlich Wort von Christus — es ist also zu fragen, wo und wie bei Luther Christus und sein Werk in das eben charakterisierte Verhältnis des Menschen zum Wort und damit in das Geschehen der Rechtfertigung einbezogen werden. 2. Das Werk Christi als Handeln im Wort a) Luthers Interpretation des Werkes

Christi

In den beiden herangezogenen Darstellungen des Rechtfertigungsgeschehens ist die Beziehung auf Christus auf den ersten Blick auffallend gering. Die an Gal. 3, 22 anknüpfende 94

5

490, 2 7 ff.

Bornkamm, Galatexbrief

66

Der Gedankenkreis der Rechtfertigung (1519)

Entfaltung erhält ihre programmatische Zusammenfassung »Vides ergo, quid sit per fidem Christi iustificari«95 aus dem zu interpretierenden Text »Conclusit scriptura omnia sub peccato, ut promissio ex fide Jesu Christi daretur credentibus«, die Ausführungen selbst sind, wie wir eben sahen, an dem Gegensatz litera-spiritus orientiert, der die innere Struktur des Abschnittes bestimmt. Innerhalb des Gedankenganges wird die Beziehung zu Christus hergestellt durch die Gleichsetzung des Anrufens des göttlichen Namens mit dem Verlangen nach der Hand des Mittlers, der Rechten Christi96. Damit greift Luther auf Gal. 3, 19 f. zurück, wo Paulus von der Hand des Mittlers redet, die das Gesetz in ihrer Gewalt hat. Eine genauere Interpretation dieser Gleichsetzung fehlt. Der Hinweis auf Christus ist ohne weitere Erläuterung in die Gesamtschilderung der Rechtfertigung nach dem Schema litera-gratia eingefügt. Der Blick auf Luthers Auslegung zu Gal.3, 19 — »ordinata (lex) per angelos in manu mediatoris« —, auf die er sich hier bezieht, beleuchtet diesen Sachverhalt. Das Gesetz hegt in der Hand des Mittlers, tritt den Menschen jedoch zunächst in der Verordnung durch die Engel entgegen, bis der Mittler selbst erscheinen wird, um es zu erfüllen87 und die Menschen von dem Zwang des Gesetzes zu erlösen, das sie in ihren Sünden gefangenhält. Die Spannung ordinata per angelos — in manu mediatoris interpretiert Luther unter Heranziehung von 2. Kor. 3, 6 mit dem Gegensatz von litera und spiritus: die Engel bringen das Gesetz als litera, wenn der Mittler jedoch erscheint, so lehrt er das Gesetz selbst, und seine Werke sind Worte des Geistes und des Lebens98. In diesen Lehren besteht das Amt des Mittlers, das Luther unmittelbar darauf als ein reos per legem absolvere et iustificare beschreibt99. Die Rettung und Befreiung durch den Mittler ist völlig in den Vollzug der Predigt des Mittlers hineininterpretiert — ohne daß über den Inhalt der Worte des Geistes und des Lebens etwas Genaueres gesagt ist. 95 97

96 526, 20. 526, 23 ff. in manu mediatoris = in (manu) futuri Christi earn impleturi

(523. 9f·)· 88 523, 36f.

" 5 2 4 , if.

67

Das Werk Christi als Handeln im Wort

Das gleiche bringt eine kurze Gegenüberstellung von Mose und Christus als minister peccati und minister iustitiae100 zum Ausdruck, die Luther an die Zwischenfrage des Paulus anschließt, die dieser sich in seiner Erörterung der Rechtfertigung stellt: »Quod si quaerentes iustificari in Christo inventi sumus et ipsi peccatores, nunquid Christus peccati minister est? Absit« (Gal. 2, 17). Wieder zieht Luther 2. Kor. 3, 7 zur Interpretation heran: der Dienst Moses ist der Dienst, der durch den Buchstaben tötet, Christus aber erfüllt, was Mose fordert, er ist nicht legislator, sondern legis impletor. Von hier aus schlägt Luther die Brücke zu Gal. 3 , 1 9 : U n d e veterem legem non per seipsum, sed per angelos ordinavit: novam autem, id est gratiam, per seipsum dedit, misso spiritusancto de coelo101. Die Erfüllung des Gesetzes durch Christus, durch die der Glaube die Gerechtigkeit erhält, besteht in der Mitteilung der nova lex, d. h. der gratia. An allen drei bisher erwähnten Stellen ist das Wirken Christi ganz in das Schema von litera und spiritus eingefügt und damit als worthaftes Handeln gedacht. In ähnlicher Weise, jedoch genauer, wird die Funktion Christi in der breiteren Erörterung zu Gal. 2, 16 interpretiert. Christus tritt auf als Autor des Wortes, zunächst im rein äußerlichen Sinn: das Gleichnis vom Zöllner, der gerechtfertigt in sein Haus ging, stammt von Christus, ist also ein Stück seiner Verkündigung102. Im weiteren Verlauf erscheint Christus dann als der Prediger des Namens Gottes 103 , d. h. als der Autor des Wortes, das im Hörenden den Glauben stiftet und damit den Zusammenschluß des Herzens mit dem göttlichen Namen bewirkt, eine Bestimmung Christi, die durch die christologische Deutung einer Psalmstelle gewonnen wird: Narrabo nomen tuum fratribus meis usw. (Ps. 22, 23). Interpretiert wird die Vereinigung des menschlichen Herzens mit dem Namen Gottes, die diesem Anteil an den göttlichen »virtutes« gibt, mit Hilfe des Imputationsgedankens: der Glaubende erhält diese Gerechtigkeit nicht auf Grund seiner eigenen Verdienste, denn was er hier zu hören bekommt, hat er sich nicht erworben, sondern sie ist allein begründet im Namen Gottes — quoniam 100



494, 3ff.

101

494, 9ff.

102

490, 12.

108

490, 21.

68

Der Gedankenkreis der Rechtfertigung (1519)

bonum est104. Das heißt, diese Gerechtigkeit wird ihm um des Namens Gottes willen zugerechnet. Wobei der Gedanke der Zurechnung dem ganzen Zusammenhang nach deutlich den der Mitteilung der Gerechtigkeit nicht ausschließt, sondern die empfangene Gerechtigkeit von jeder selbst erworbenen scheiden soü. Erst nach Abschluß der ganzen Gedankenrefihe wird in einem neuen Absatz das beschriebene Geschehen mit dem Werk Christi in Verbindung gebracht, auf eine ebenso ungewöhnliche wie aufschlußreiche Weise: Ecce hoc est, quod Christus nobis meruit, scilicet praedicari nomen domini106. Die bereits angedeutete Funktion Christi als Autor und Prediger des Wortes, dessen Inhalt der Name Gottes ist, wird hier ausdrücklich als sein Werk definiert, wobei nun die Brücke zum genaueren Verständnis geschlagen wird: nicht nur sein Wort, sondern er selbst ist der Träger dieses Namens, in welchem der, der an ihn glaubt, gerettet wird. Nirgendwo hat Gott seinen Namen deutlicher geoffenbart als in Christus. In der Hingabe seines Sohnes hat er seine Gerechtigkeit und Güte erwiesen, hier lernt es der Mensch, sich das Unrecht zuzuschreiben, Gott aber die Ehre zu geben, hier wird Gott wahrhaft erkannt, nicht im tetragramma der Juden, dem Gott des Gesetzes. So bringt es schon der Name Jesus Christus zum Ausdruck: »Jesus« significat salutem et »Christus« unctionem misericordiae106. Sendung und Werk Christi bestehen damit in der Offenbarung des wahren göttlichen Namens, d. h. der Barmherzigkeit und Wahrheit Gottes 107 . Mit dieser Umschreibung versteht Luther Christus ausschließlich als das offenbarende Wort. Sein Werk ist die Offenbarung. Er verdient uns nicht etwas, was uns dann — auf Grund seines Werkes — mitgeteilt wird, sondern durch die Interpretation seines Werkes als Offenbarung des Namens Gottes, der den Anrufenden rettet (selig macht), und damit Gottes selbst wird der Inhalt dieses Werkes in einem als Mitteilung der Offenbarung und als Wirksamwerden dieser Offenbarung im Glaubenden bestimmt. Wohl ist es der heilige Geist, der in der Begegnung mit dem Wort, der Predigt des göttlichen Namens, den Glauben 104 4 9 0 ) 26.

105

490, 34f.

108

491, 28f.

107

490, 35.

Das Werk Christi als Handeln im Wort

69

mitteilt, durch den der Mensch gerettet wird, doch auch diese Erschließung des Wortes gehört in das Verdienst Christi: Fides per spiritum sanctum donatur merito Christi in verbo et auditu euangelii108. Christi Verdienst ist also streng genommen die Mitteilung seines »Verdienstes« — der Predigt des Namens Gottes — an uns. Das gepredigte Heilsgeschehen ist Grund und Vollzug der Rechtfertigung zugleich. Wenn Luther die Begründung der Rechtfertigung in einem »Christus meruit« sucht, so knüpft er damit an eine vorgegebene Begrifflichkeit an, offenbar, um in ihr das extra nos zum Ausdruck zu bringen109. Unsere Stelle zeigt, daß der wort108

So an einer späteren Stelle: 518, 21 f. Der Begriff des meritum schlägt die Brücke zum Imputationsgedanken, vgl. 49Λ 2 j f f . : Sic fit, ut . . . iustitia eis imputetur . . . non propter meritum ipsorum . . . — Nach V o g e l s a n g , Die Anfänge von Luthers Christologie, spielt der Imputationsgedanke in der ersten Psalmenvorlesung noch keine Rolle. Vogelsang vermutet, daß auch Luthers spätere Imputationslehre in seiner tropologischen Deutung des Werkes Christi ihren Ursprung hat und »im wesentlichen mit dem .tropologischen' Prinzip der Psalmenvorlesung übereinkommt« (a.a. O., S. 86f..) Hier scheint mir jedoch G y l l e n k r o k recht zu haben, der schärfer unterscheiden möchte — »Wenn Vogelsang recht hätte, wäre es schwierig, überhaupt irgendeinen Unterschied zwischen participanter und imputabiliter zu sehen« — und im Imputationsgedanken »eine neue Nuance« sieht, die der Anerkennung des »Christus in uns« durch Gott (Rechtfertigung und Heiligung, S. 128f.). — Zur Übernahme der traditionellen Begriffe meritum, satisfactio usw. durch Luther vgl. H o l l , der darauf hinweist, daß Luther mit diesen katholischen Ausdrücken einen anderen Sinn als die katholische Kirche verbindet und dies am Gegensatz der Lehre Luthers zu Anselms aut satifactio aut poena verdeutlicht (Ges. Aufsätze, Bd. 1, S. 69 Anm. 4). Zum Unsachgemäßen dieser Begriffe für Luthers Verständnis des Heilsgeschehens vgl. noch besonders V o g e l s a n g , a. a. O., und H a i k o l a , Studien zu Luther und zum Luthertum (Kap. 4, Die Gesetzeserfüllung Christi). V o g e l s a n g arbeitet (für die erste Psalmenvorlesung) den Gegensatz zwischen der anselmschen und melanchthonischen Versöhnungslehre und Luthers tropologischem Verständnis des Kreuzes heraus, von dem aus die einzelnen zu dieser Versöhnungslehre gehörigen Begriffe für Luther eine andere Bedeutung erhalten (S. iosff.). H a i k o l a verdeutlicht die Zusammengehörigkeit des meritum- und des satisfactio-Gedankens mit einem falschen Verständnis von Gesetz und Gehorsam — »Die Begriffe satisfactio und meritum sind notwendige Vorstellungen eines Versöhnungsdenkens, wo man von einem Bündnisgedanken ausgeht, der sich auf der Grundlage gegenseitiger 109

70

Der Gedankenkreis der Rechtfertigung (1519)

hafte Rahmen des Rechtfertigungsgeschehens durch die Berufung auf das Verdienst Christi nicht gesprengt wird. Der Gedanke der Versöhnung, der in dem mereri beschlossen ist, ist dem der Offenbarung eingeordnet, die offenbarende Predigt des Namens Gottes schafft durch ihr Geschehen Glauben und Gerechtigkeit. Wie deutlich für Luther der Gegensatz zum menschlichen Verdienst nicht in einer abgeschlossenen Tat Christi, sondern in seinem gegenwärtigen offenbarenden Handeln gesehen wird, geht auch daraus hervor, daß er als unmittelbaren Gegensatz zum Vertrauen auf die eigene Verdienstlichkeit nicht die Anrechnung der Gerechtigkeit um des Verdienstes Christi willen setzt, sondern die Zurechnung »propter nomen tuum, domine«110, d. h. um des Namens willen, der misericordia, Veritas . . . suique nominis accusatio 111 und damit Inhalt und Vollzug der Offenbarung in einem ist. An die Stelle des menschlichen Verdienstes tritt für Luther die Predigt, die zum Hören und damit zur Rechtfertigung treibt, die den Menschen dem Handeln Gottes, das durch das Wort geschieht, überantwortet. Von dieser Funktion Christi her wird die Gleichsetzung seines Namens mit dem Namen Gottes verständlich. Beide Namen werden gleicherweise als Gerechtigkeit umschrieben112, so daß der Zusammenschluß des menschlichen Herzens mit dem Namen Gottes auch christologisch bestimmt werden kann: der Glaube an den Namen Gottes bewirkt, ut Christi et Christiani iusticia sit una eademque ineffabiliter sibi coniuncta113. Damit ist der Gedanke der Vereinigung Christi mit dem Glaubenden gegeben. Der Glaubende erhält Anteil an der Gerechtigkeit, die ihm zum Brunnen des Wassers wird, das in das ewige Leben quillt (Joh. 4, 14), also, in den Gedänkengang von Rm. 5, 12 ff. übersetzt: er erhält Teil an der Gerechtigkeit des einen, der Verpflichtungen und Rechte aufbaut« (S. 108/9) — und zeigt das Unsachgemäße dieser Begriffe von Luthers Gesetzesverständnis her (S. 106 ff.). — Uns interessiert in unserem Zusammenhang weniger die inhaltliche Umprägung des meritum-Begriffs als solche als vielmehr sein Einbezogenwerden in Luthers Verständnis des Werkes Christi als Handeln im Wort. Eine inhaltliche Uminterpretation wird unter diesem Gesichtspunkt von selbst mit sichtbar. 110

112

490, 26. 490. 14; 491- 14·

111

113

490, i4f. 491. 14*·: s · o. S. 63.

Das Werk Christi als Handeln im Wort

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alle gerecht macht, so wie durch des einen Sünde alle sündig geworden sind. Gerade die Vereinigung mit Christus bedeutet für den Glaubenden das Anteilerhalten an der aliena iustitia 114 , die ihm wohl mitgeteilt wird, deren er sich aber nicht als ihm zugehörende Eigenschaft rühmen kann. Es ist der gleiche Sachverhalt wie bei dem Zusammenschluß des menschlichen Herzens mit dem Namen Gottes, auch dort wird das Anteilnehmen an den göttlichen Tugenden im Gegensatz zum eigenen Verdienst und zum eigenen Namen verstanden. Der Begriff der aliena iustitia bringt in den Gedanken der Vereinigung mit Christus oder dem Namen Gottes wie in den der Mitteilung des Geistes, der das Gesetz erfüllt, eine deutliche Spannung. Sie schafft den Raum, der notwendig ist, um das Werk Christi in der Weise, wie Luther es versteht, in die Rechtfertigungslehre einzubeziehen, das Werk Christi als das Wort des Evangeliums, das den Hörenden rechtfertigt und zum Menschen auch durch den Gedanken der unio in kein anderes Verhältnis als das des Predigens und Hörens tritt. In dem »Hoc est, quod Christus nobis meruit, seil, praedicari nomen domini«116, das Imputations- und unio-Gedanken im worthaften Verständnis des Werkes Christi zusammenschließt, scheint mir Luther die Formulierung gefunden zu haben, die seinem Verständnis des Werkes Christi, dem er in seinem Kommentar Ausdruck zu geben sucht, am nächsten kommt. Von dieser Einbeziehung des Werkes Christi — seines meritum — in das offenbarende und rechtfertigende Handeln Gottes her, das in der Vereinigung des glaubenden Menschen mit Christus gipfelt, erklärt sich der Nachdruck, den Luther an anderer Stelle auf das »pro nobis« der Heilstat Christi legt. Die Aussage, daß Predigt, Sterben und Auferstehen Christi für uns geschehen sind, schlägt die Brücke von der Vergangenheit in die Gegenwart, auf ihr beruht die Möglichkeit, daß der Glaubende Anteil erhält an den damaligen Geschehnissen. Daß Christus dem Gesetz unterworfen wurde (Gal. 4,4), geschah nicht um seinetwillen, sondern damit er als der Unschuldige die Strafen für unsere Sünden tragen sollte118. Deutlicher kann der 114

491,18.

i " 490, 34 f.

118

534. 36·

72

Der Gedankenkreis der Rechtfertigung (1519)

Gedanke der Stellvertretung nicht ausgedrückt werden. In unmittelbarem Zusammenhang der Stelle fehlt jeder Hinweis Luthers, wie er diese Äußerung verstanden wissen will. Die Augustin entnommene Bemerkung, daß Christus mit seiner einfachen Gebundenheit unter das Gesetz, die nur seinen Leib betraf, uns in unserer doppelten Gebundenheit an Leib und Seele gilt 1 1 7 , spricht den Gedanken der Stellvertretung nur noch einmal in anderer Wendung aus. Einen Hinweis auf das Verständnis gibt der nächste Vers, in dem Paulus selbst den Zielgedanken seiner Ausführungen über die Sendung Christi angibt: »Ut adoptionem filiorum reciperemus«. Diese Aussage interpretiert Luther auf die unio des Glaubenden mit Christus hin: die Sohnschaft empfängt der Mensch im Glauben an Christus, an Christus glauben aber heißt — nach Gal. 3, 28 — Christus anziehen, unum cum eo fieri 118 . Wird der Gedanke der Stellvertretung auch nicht ausdrücklich auf die unio bezogen, so steht beides doch im Rahmen der Auslegung in enger Nachbarschaft zueinander. Deutlicher wird die gegenseitige Bezogenheit beider Gedanken in Luthers Auslegung zu Gal. 3 , 1 3 »Christus... factus pro nobis maledictum«, in der er die gegenseitige Zuordnung beider Aussagen durch das Zitat von 2. Kor. 5, 2 1 Paulus selbst entnimmt: Christus ist alles für uns geworden, damit wir in ihm alles würden. Die im pro nobis enthaltene Stellvertretung zielt also hin auf die Vereinigung des Glaubenden mit Christus, in der er Anteil erhält an dessen Gerechtigkeit usw.; ein Anteilerhalten, das im einzelnen gedacht ist in der Form des Tausches 1 1 9 . Die klarste Entfaltung dessen, was Luther mit seiner Betonung des pro nobis zum Ausdruck bringen will, erhalten wir in seiner Auslegung zu Gal. 1 , 4 »(Christus) qui dedit semetipsum pro peccatis nostris« 120 . Im Blick auf die Selbsthingabe Christi 117 Nach De trin. IV, 3 (MSL. 42, 891) ? Vgl. u. S. 72. Der Gedanke stammt jedenfalls nicht aus Augustins Auslegung z. St. Vgl. im übrigen Luthers ähnlichen Gedankengang zu Gal. 3, 1 3 f . (517, 19ff.).

118 119

535. 24·

. . .: omnia pro nobis factus, ut omnia fieremus in illo. Hoc est: si credimus in eum, iam legem implemus et liberi sumus a maledictione legis. Nam hoc, quod nos merebamur, maledici et damnari, p r o n o b i s 120 subiit et exolvit (516, 34ff.). S. o. S. 29.

Das Werk Christi als Handeln im Wort

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erschließt sich dem Menschen das Wissen um die Größe seiner Schuld, die nur durch einen solchen Preis aufgehoben werden kann. Der Gedanke der Stellvertretung, der im Text zum Ausdruck kommt, wird von Luther zur scharfen Absage an jeden Versuch des Menschen, aus eigener Kraft gerecht zu werden, verwandt. Die Sünde kann der Mensch nicht aufheben; alles, was er vermag, ist, sie mit dem Schein falscher Gerechtigkeit und Tugend zu verdecken. Doch: Quid prodest virtus, si peccata manent ? 1 2 1 Die Selbsthingabe Christi ist der beste Beweis dafür, daß dem Menschen der Weg der eigenen Rechtfertigung nicht offen steht. Von einer Versöhnung des Zornes Gottes ist in diesem Zusammenhang nicht die Rede, die Hingabe Christi ist das Werk der dignatio et Charitas dei in nos 122 , Gott ist es, der den Menschen auf diese Weise aus dem aussichtslosen Bemühen der Selbstrechtfertigung befreit. Zu dieser allgemeinen Charakteristik tritt nun an unserer Stelle das Dringen auf die Aneignung des pro me durch den einzelnen Glaubenden. In sehr bezeichnender Berufung auf Jak. 2, 19 — T u credis quoniam unus est deus: bene facis: et demones credunt —• versteht Luther den Dämonenglauben (und den der Gottlosen! so Luther!) als den Glauben, der das Heilswerk Christi auf aller Sünden bezieht, nur nicht auf die eigenen 123 . Der wahre Glaube besteht in der persönlichen Aneignung der Hingabe Christi durch den einzelnen: haec fides te iustificat 124 , der Christus traditus errettet — si modo credas te eripi 126 . Die Errettung durch den Christus traditus, die dem Glaubenden geschieht, vollzieht sich nicht als nachträgliche Aneignung eines bereits abgeschlossenen Heilswerkes, sondern erst in diesem Glauben wird das Werk Christi wirksam, ja erst hier kommt es zu seiner Erfüllung. Dieser Glaube macht ihn gerecht und läßt Christus in ihm wohnen, leben und herrschen 126 . Das Werk Christi, durch das der Mensch gerechtfertigt wird, gipfelt und erfüllt sich in der Einwohnung Christi im Glaubenden. Wir können die gleiche 121

458, 14. 458, 7. 458, 20ff. im 4 5 8 j 2 4 . 458, 38. Nach Iwand, Rechtfertigung und Christusglaube, S. 26 Anm. 6 wird die strenge Verbindung von fides und pro me hier zum ersten Male kategorisch gefordert. Vgl. dazu Hamel, Der junge Luther 126 und Augustin, Bd. 2, S. 101. 458, 24t. 126

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Der Gedankenkreis der Rechtfertigung (1519)

Spannung von Imputations- und unio-Gedanken beobachten wie bei der Beschreibung des Werkes Christi als praedicatio nominis domini. Wie die Interpretation des Verdienstes Christi als Predigt des Namens Gottes die Rechtfertigung hinzielen läßt auf die Vereinigung Christi mit dem Glaubenden durch das Wort, so gibt Luthers Betonung des pro nobis dem gleichen Verständnis des Werkes Christi Ausdruck: das stellvertretende Werk Christi geschieht in seiner gegenwärtigen Gestalt als Einwohnung Christi im Glauben an die Verkündigung des pro me. Das heißt, das Heilsgeschehen erfüllt sich im Handeln Christi am Glaubenden durch das Wort. Eine interessante Bestätigung des eben Gesagten gibt uns Luthers kurze Betrachtung zu dem Begriff »mediator« zu Gal. 3, 21 »mediator autem unius non est«: die Bezeichnung »Mittler« läßt seine Aufgabe erkennen, er steht zwischen zweien, zwischen Gott und Mensch, die voneinander geschieden sind und der Vermittlung zueinander hin bedürfen. Könnte jedoch die Brücke zu Gott durch die Gesetzeserfüllung des Menschen geschlagen werden, so wäre der Mittler nicht nur überflüssig, sondern er könnte sein Amt nicht ausüben: . . . si iustificari potestis ex lege: ita fiet, ut nec vobis mediator esse p o s s i t , ut qui nolitis, nec deo, ut qui non egeat 127 . Das heißt doch: wo der Mensch in seiner vermeintlichen Gerechtigkeit den Mittler abweist, wird dessen Werk verhindert, d. h. es kommt nicht zu seiner Erfüllung. In das bisher gewonnene Bild fügt sich auch Luthers Verwendung der traditionellen Formel »propter Christum« ein, die als Träger des Imputationsgedankens 1519 ein fester Bestandteil der Rechtfertigungslehre Luthers ist 1 2 8. Gott rechnet die vorhandenen Sünden nicht zu propter Christum — doch diese Formel wird von Luther bezeichnenderweise nicht als Hinweis auf das verdienstliche Leiden und Sterben Christi interpretiert, sondern im Sinne der Vereinigung Christi mit dem Glaubenden 127

524, iöff. 495. 4^· Die Entwicklung des Imputationsgedankens in der Theologie Luthers können wir hier beiseitelassen. Nach Vogelsang ist die Reputationslehre Luthers erstmalig in der Römerbriefvorlesung festzustellen (Die Anfänge von Luthers Christologie, S. 85, Anm. 1). 128

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verstanden. Gott rechnet die Sünden nicht zu, um Christi willen, der, selbst ohne Sünde, eins mit dem Christen geworden ist und für ihn beim Vater bittet. Der Gedanke der Stellvertretung ist als gegenwärtige Fürbitte Christi in den Gedankenkreis der unio einbezogen. Diese Vereinigung geschieht kraft des Glaubens, die Sünde wird nicht zugerechnet um Christi willen, an den der Mensch glaubt 129 ; der Glaube ist so entscheidend, daß propter Christum und propter fidem parallel verwandt werden können: Gott rechnet die Gerechtigkeit zu propter fidem filii sui Jesu Christi, qui est propiciatorium nostrum130. Die Aussagen liegen im Gleichgewicht: spricht Luther von Christus als dem Grund der Rechtfertigung, so weist er in der Entfaltung dieses Gedankens den Menschen auf seinen Glauben, in dem Christus eins mit ihm wird, auf den Christus in ihm; spricht er vom Glauben als dem Grund für die Zurechnung der Gerechtigkeit, so wird der Mensch gerade damit auf das einmalige Heilswerk Christi gewiesen, das propiciatorium, an dem er im Glauben Anteil erhält. In beiden Fällen werden vergangenes Geschehen und gegenwärtiger Glaube als Begründung der Rechtfertigung zusammengefaßt. Sie sind eins in der Weise, daß es der mit dem historischen Jesus identische Christus ist, der jetzt im Gläubigen wohnt und für ihn eintritt, und daß das vergangene Leiden und Sterben Christi seinen Zweck erfüllt, wo es im Glauben angenommen wird, der die Absage an die eigenen Werke bedeutet. Damit erhält die Heilstat Christi ihren Platz in der gegenwärtigen Existenz des Menschen. Die bereits erwähnte Formulierung, daß dem Glaubenden die Sünden vergeben werden und die Gerechtigkeit zugerechnet wird »propter nomen tuum, domine«131, daß also das verkündende Wort, durch das der Mensch in die Situation der Rechtfertigung gerät, als Begründung der Rechtfertigung verstanden wird, fügt sich diesem Rahmen ohne weiteres ein. Auch hier kommt im Hören der Verkündigung das Werk Christi zur Erfüllung, das Ziel des damaligen Ereignisses ist der Glaube. Auch in Luthers Verwendung der Formeln propter Christum und propter fidem zeigt das Verhältnis des 128

497, i6f.

130

495, 12 f.

131

490, 26.

76

Der Gedankenkreis der Rechtfertigung (151g)

Menschen zum Heilsgeschehen die Struktur des Verhältnisses des Menschen zu dem dieses Heilsgeschehen verkündenden Wort132. b) Das Verhältnis von unio- und im-putatio-Gedanke

In den angeführten verschiedenen Äußerungen Luthers zum Werke Christi greifen durchgängig zwei Gedankenkreise ineinander: der Gedankenkreis der Imputation — Christus teilt dem Glaubenden die fremde Gerechtigkeit mit, auf Grund deren dieser dann gerecht ist, er bittet für ihn beim Vater — und der Gedankenkreis der Einwohnung und Herrschaft Christi, der die Glaubenden nach seinem Geiste leitet und die Sünde in seinem Fleische bekämpft. Die Spannung der beiden Gedanken132 Zu dem hier gewonnenen Ergebnis über das Verhältnis von Werk Christi und Wort bzw. Glaube vgl. zuletzt Haikola, Studien zu Luther und zum Luthertum (Kap. I V : Die Gesetzeserfüllung Christi), der, wenn auch von einer etwas anderen Fragestellung aus, zu einem entsprechenden Resultat kommt. Er setzt nicht ein mit der Frage nach dem Verhältnis von Verkündigung und Heilsgeschehen, die uns durch den Text vorgeschrieben war, sondern er arbeitet (unter Bezugnahme auf Vajta, Die Theologie des Gottesdienstes bei Luther, S. 122ff.) die Notwendigkeit heraus, im Unterschied zu rationalen Versöhnungstheorien Luthers Aussagen über die Versöhnung vom Gedanken des in der Geschichte geschehenen Ereignisses her zu erschließen. Unter diesem Gesichtspunkt »bewahrt die Versöhnung ihren ständig aktuellen Charakter«, und das mitteilende Wort erhält »eo ipso eine aktuelle Bedeutung für den jetzt lebenden Menschen.« Es ergibt sich: »Die Botschaft vom Versöhnungstod Christi enthält also für den Menschen nicht bloß eine intellektuelle Mitteilung über ein vergangenes historisches Ereignis, sondern sie bedeutet für ihn vor allem eine Befreiung aus seiner eigenen aktuellen Notlage. Es ist nicht irgendeine objektive, ruhende und überhistorische Zornesmacht, die versöhnt und überwunden wurde, sondern gerade die Macht, die ihn in seiner eigenen Lebenssituation anficht.« (a. a. O., S. 114). Zum ganzen Gedankengang vgl. weiter H. Bornkamm, Das Wort Gottes bei Luther (S. 3öff.; dort Hinweis auf Blanke, ZsystTh 4 [1926/7] S. 235ff.; E. Seeberg, Luthers Theologie Bd. 1, S. 196; E. Seeberg, Studien zu Luthers Genesisvorlesung, S. 86ff.; Gennrich, Die Christologie Luthers im Abendmahlsstreit, S. n 6 f f . ) ; E. Seeberg, Luthers Theologie, Bd. 2 Christus, S. 334ff., 351 ff.; Ebeling, Evangelische Evangelienauslegung, S. 417 ff.

Das Werk Christi als Handeln im Wort

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komplexe zueinander ist deutlich. Es könnte naheliegen, sie als Gedankenkreis der Imputations- und der Uniolehre voneinander zu scheiden und dann als in sich geschlossene Komplexe zueinander in Beziehung zu setzen. Damit würden wir jedoch dem Tatbestand nicht gerecht, daß alle Aussagen Luthers, mögen sie thematisch dem Kreis der imputatio oder dem der unio zugeordnet sein, durch dies Nebeneinander zweier Gedankenkreise eine spezifische innere Struktur erhalten. Das deutliche Nebeneinander zweier Aussagereihen ist nur der sinnenfälligste Ausdruck für die innere Spannung, die auch die einzelne Aussageweise prägt. Nur wenn wir noch einmal bei der inneren Struktur, die beiden Komplexen gemeinsam ist, ansetzen, kommt das unlösliche Ineinander beider Gedanken ganz in den Blick. Von hier aus ergibt sich dann auch das Verständnis für das Verhältnis der beiden thematisch verschiedenen Gedankenkreise im ganzen zueinander. Wir müssen uns daher jedem der beiden Gedankenkreise noch einmal kurz gesondert zuwenden, beide Male an Hand eines typischen Beispiels. Damit rückt zugleich der Gedanke der Heiligung deutlicher in unseren Blick, die Art der Zusammenordnung des unio- und imputatio-Gedankens bestimmt das Verständnis der Erfüllung des Gesetzes, zu der die Rechtfertigung führt. Der Imputationsgedanke bringt die völlige Gerechterklärung des Menschen durch Gott zum Ausdruck—imputative ist der Mensch ganz gerecht —, der unio-Gedanke enthält in sich den faktischen Kampf, den der Mensch mit der Sünde zu bestehen hat, im Blick auf ihn kann nur von einer teilweisen Gerechtigkeit des Glaubenden gesprochen werden. Das Nebeneinander von imputatio- und unio-Gedanke bedeutet im Blick auf die Gerechtigkeit des Menschen die Zusammengehörigkeit von Ganzheitsund Teilaussage. Der Mensch ist zugleich ganz und teilweise gerecht. Die Verhältnisbestimmung des einen Gedankenpaares bedingt die des anderen, an der gegenseitigen Zuordnung des unio- und imputatio-Gedankens läßt sich zugleich das Wesentliche über Luthers Verständnis der Heiligung ablesen. Aber das führt schon über den Bereich dieses Kapitels hinaus. Luther entfaltet die Imputationslehre im Rahmen der Frage nach Sünde und Gerechtigkeit des Christen, die sich an Hand

78

Der Gedankenkreis der Rechtfertigung (1519)

von Gal. 2, 17 ergibt. »Quod si quaerentes iustificari in Christo inventi sumus et ipsi peccatores, nunquid Christus peccati minister est?« — d.h. positiv ausgedrückt: wer in Christus gerechtfertigt wird, wird nicht mehr als Sünder erfunden. Hier muß die Frage nach der Wahrheit dieser Aussage aufbrechen. Luther formuliert sie selbst: Credo autem aliquos moveri, quod Apostolus hic negat peccatores esse eos, qui in Christum credunt et iustificantur, cum nullus sit hominum sine peccato . . , 133 . Kein Mensch ist ohne Sünde! In welcher Tiefe Luther dies Urteil verstanden wissen will, zeigt schon die Tatsache, daß er sich nicht auf die eigene Erfahrung des Menschen, sondern auf das Zeugnis der Schrift beruft 134 ; Maßstab für die Beurteilung des Menschen ist also nicht seine Selbsterkenntnis, sondern die Aussage, die von der Offenbarung Gottes her über ihm steht. Mit dieser Begründung der Sündhaftigkeit des Menschen erhält Luther zugleich die Möglichkeit, auch das Urteil »gerecht« nicht der Selbstbeurteilung des Menschen, sondern dem Wort der Bibel zu entnehmen. So stellt er zu V. 18, der in den Sinnzusammenhang von V. 17 gehört, die beiden Aussagen »gerecht« und »Sünder« als biblische Zeugnisse gegeneinander. Beide sind wahr, denn: Utrumque . . . scriptura statuit 136 , auch wenn sie sich gegenseitig auszuschließen scheinen. Die gegensätzlichen Äußerungen des 1. Johannesbriefes — wer aus Gott geboren ist, sündigt nicht, ja kann nicht sündigen (1. Joh. 5, 18; 3, 9), wer aber meint, keine Sünde zu haben, betrügt sich selbst und zeigt, daß die Wahrheit nicht in ihm ist (1. Joh. 1, 8 f.) — bringen dies für Luther ebenso zum Ausdruck wie der Widerspruch bei Hiob, den Gott einen gerechten Mann nennt (Hi. 1, 8) und der sich selbst doch Gott gegenüber als Sünder bekennt (Hi. 9, 20; 7, 21. Sein Schuldbekenntnis muß wahr sein, denn wenn er sich fälschlich vor Gott als Sünder bezeichnet und damit vor Gott gelogen hätte, hätte dieser ihn nicht gerecht genannt!). Die Zusammenfassung dieses biblischen Urteils über den Menschen gibt Luther in seiner bekannten Formel vom simul iustus simul peccator13®, die biblische Begründung aus 1. Johannesbrief und Hiob zeigt, daß damit zwei Ganzheitsaussagen 133

135

494, 37 ff.

497. ι·

134

m

Vgl. auch, oben S. 28, Anm. 124.

497. *3·

Das Werk Christi als Handeln im Wort

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und nicht zwei einander ergänzende Teilaussagen nebeneinandergestellt sind. Fleisch und Glaube sind ebenso wie Fleisch und Geist137 zwei Aspekte, unter denen der ganze Mensch in seinem Gottesverhältnis gesehen wird, sie umschließen beide sowohl offenbare Sünden als auch den Stolz auf die eigene Frömmigkeit und Gesetzeserfüllung. »Justus« ist das Urteil des Glaubens; si fidem spectes ist das Gesetz erfüllt und die Sünde zerstört, sodaß keine Gesetzesforderung mehr übrig bleibt, deren Erfüllung das Urteil »iustus« erst ermöglichen müßte. Beim Blick auf seine eigenen Möglichkeiten jedoch — si carnem spectes — kann auch für den im Glauben Gerechten nur das Urteil »peccator« gelten138. Es sind zwei Ganzheitsaussagen, die als Totalansprüche über dem Menschen stehen, in ihrer Totalität ein alienum; dem Fleische nach betrachtet steht der Mensch unter dem peccatum alienum Adams, in der Sicht des Glaubens ist er gerecht durch die aliena iustitia Christi139. Im Urteil vor Gott ist diese dem Menschen zugerechnete Gerechtigkeit in vollem Umfange gültig und bedarf keiner Ergänzung. Zu dieser Aussageweise tritt jedoch eine zweite, die für Luther ebenfalls mit dem Gedanken der Imputation gegeben ist. Die Aussagen über die zugerechnete Gerechtigkeit stehen, wie wir sahen, im größeren Rahmen der Antwort, die Luther auf die Frage nach Sünde und Gerechtigkeit des Christen gibt: jeder, der an Christus glaubt, ist gerecht — nondum plene in re sed in spe140, und es folgt das dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter entnommene Bild des halbtoten Menschen, der zu gesunden beginnt, wobei Luther iustificari mit sanari gleichsetzt141. Das Ziel der vollen Gerechtigkeit ist ein eschatologisches, der Kampf gegen die Sünde, den der Christ zu führen hat, währt sein Leben lang142, inzwischen jedoch wird dem Glaubenden die Sünde, die noch in seinem Fleische lebt und deretwegen er noch unter der zu erfüllenden Forderung des Gesetzes steht, um Christi willen nicht zugerechnet. Für den Glaubenden gilt, daß das Gesetz zum Teil erfüllt ist, daß er 137 v g L 139

z

β

491, 1 7 f f .

^og, 20ff. j 585, i o f f . 140

138

497, 22f.

495, 1.

141

Luther verweist hier selbst auf Augustin, D e natura et gratia.

142

497. 39-

80

Der Gedankenkreis der Rechtfertigung (1519)

zum Teil dem Gesetz nichts mehr schuldet, daß die Sünden zum Teil zerstört sind143, der Ganzheitsaussage »gerecht« und »Sünder« steht somit das »ex parte« der faktischen Gerechtigkeit gegenüber. Der andere Teil wird dem Glaubenden nicht zugerechnet — propter Christum, propter fidem, wobei die fides nicht mit dem Hinweis auf das propiciatorium interpretiert zu werden braucht, sondern auch erläutert werden kann als fides interioris hominis, qui deo conformis persequitur, odit, crucifigit peccatum in came sua144. Die Zurechnung der Gerechtigkeit wird begründet in dem im Glauben begonnenen Kampf gegen die Sünde. So ergibt sich nun doch eine Addition zweier verschiedener Größen: ein Teil der Gesetzeserfüllung wird vom Menschen im Glauben faktisch selbst geleistet, denn es gehört zum Glauben, daß er gegen die Sünde kämpft, die trotzdem noch vorhandene Sünde wird dann um Christi willen (vergeben und) nicht als Sünde angerechnet145. Beide Aussagereihen, die in den Kreis der Imputationslehre gehören, hängen aufs engste zusammen. Sie sind verbunden durch den Begriff des Glaubens: im Glauben ist das Gesetz erfüllt, denn ihm widerfährt die Anrechnung der Gerechtigkeit Christi, und zu seinem Wesen gehört es, die Sünde auszutreiben. Wie eng beides zueinander gehört, macht Luther im Bilde deutlich: so unmittelbar wie zu Christus das Regieren seines Leibes, der Kirche, gehört, so unmittelbar gehört zum Glauben, in dem der Mensch alle Gerechtigkeit hat, das Bekämpfen und Beherrschen der Sünde im eigenen Fleisch. Beides ist im gleichen Augenblick miteinander gesetzt, im Geburtsakt der fides146. Das gegenseitige Aufeinanderbezogensein kann je nach dem Zusammenhange in verschiedener zeitlicher Folge dargestellt werden: um des Glaubens willen, der die Sünde verfolgt, wird dem Menschen seine Sünde nicht zugerechnet147, oder: wenn das Herz durch den Glauben gerechtfertigt ist, d. h. wenn ihm um des göttlichen Namens willen die Sünden vergeben und die Gerechtigkeit zugerechnet wurde, so gibt Gott seinen Geist, 143

144 498, ι f. 497, 38 f. 497, 26 ff.; bei diesen Ausführungen liegt der Ton nicht auf der imputatio der Gerechtigkeit Christi, sondern der nonimputatio der 146 147 eigenen Sünden. 497, 18f. Vgl. 497, 37. 146

Das Werk Christi als Handeln im Wort

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der den Menschen nun zum Kampf gegen alles Böse und zum Tun alles Guten befähigt. Wichtig ist nicht das zeitliche Verhältnis im jeweiligen Augenblick des Glaubenslebens, sondern die sachliche Zuordnung; hier kann kein Zweifel bestehen, daß die Zurechnung der Gerechtigkeit das sachlich Primäre ist, aus dem dann die Verwirklichung dieser zugesprochenen fremden Gerechtigkeit im eigenen Leben des Glaubens herrührt und ermöglicht wird. Die gleiche innere Struktur wie der Gedankenkreis der imputatio haben Luthers Aussagen über die unio Christi mit dem Glaubenden. Am deutlichsten zeigt sich dies in dem Auslegungsabschnitt zu Gal. 2, 19f., in dem Luther den unio-Gedanken an die Deutung des Kreuzes Christi als sacramentum anschließt. Wir verdeutlichen uns zunächst sein Verständnis des Sakramentsbegriffs und wenden uns dann dem unio-Gedanken zu. »Christo confixus sum cruci: vivo autem, iam non ego, vivit vere in me Christus« (Gal. 2, 19f.). Für Luther beschreibt Paulus in diesem Verse die Art des Todes, durch die er dem Gesetz gestorben ist: iam modum huius mortis exprimit, qui est crux Christi148. Für seine Exegese greift Luther zurück auf Augustins Unterscheidung der Passion Christi als sacramentum und exemplum, er verweist selbst auf De trinitate IV, 3 und referiert kurz den ihm wesentlichen Zusammenhang. Der Vergleich seiner Ausführungen mit dem Text Augustins ist aufschlußreich. Der eine Tod Christi bedeutet für Augustin einen doppelten Tod für uns, er dient uns als interioris hominis sacramentum, exterioris exemplum. Augustin führt beide Gedanken breit aus: Interiorisenimhominis nostrisacramento data est ilia vox, pertinens ad mortem animae nostrae s i g n i f i c a n d a m . . .: »Deus meus, Deus meus, utquid me dereliquisti« (Ps. 21, ι ; Mt. 27, 46) ? . . . Crucifixio quippe interioris hominis poenitentiae dolores intelliguntur. . . usw. Iam vero ad e x e m p lum mortis exterioris hominis nostri Dominicae carnis mors pertinet, quia per talem passionem maxime hortatus est servos suos, ut non timeant eos qui corpus occidunt . . . 14e . Der Begriff des sacramentum hat für Augustin hier vornehmlich 118

6

501, 2gf.

Bornkamm, Galatcrbricf

148

MSL. 42, 891.

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signifikative Bedeutung. Ebeling, der diese Begrifflichkeit untersucht, erläutert dies mit der Feststellung, daß »für Augustin bei der Bezeichnung der Geschichte Jesu Christi als sacramentum der Gedanke der Stellvertretung und der Unterschiedenheit Christi von uns im Vordergrund steht«, während die applicatio auf den einzelnen dann gewöhnlich mit Hilfe der allegorischen Auslegung geschieht160. Luthers Entfaltung des sacramentum-Begriffs ist charakteristisch anders. Die passio Christi ist ihm sacramentum, quod s i g n i f i c e t et credentibus donet mortem peccati in nobis, exemplum dagegen, quod et nos imitari eum oportet patiendo moriendoque corporaliter161. Für ihn ist am Sakramentsbegriff also vornehmlich die effektive Seite von Bedeutung. Damit wird die vermittelnde applizierende Rolle der allegorischen Auslegung für ihn überflüssig, und die applicatio vollzieht sich in der verstehenden Annahme dieser Geschichte als Sakrament. Wir stoßen hier auf das gleiche Verständnis des Sakramentsbegriffs, das Ebeling in Luthers Auslegung von Evangelientexten beobachtet. Ebeling formuliert: »Sakramentale Auslegung des Textes heißt darum: Christi Geschichte als für mich geschehen auszulegen und so die Weise vorzuzeichnen, wie eben dies durch das so verstandene und geglaubte Wort an mir geschieht«162. Beide Verstehensmöglichkeiten — die sakramentale und die exemplarische — verdeutlicht Luther durch Schriftstellen, unseren Vers ordnet er den Belegstellen für die Deutung des Kreuzes Christi als sacramentum zu. Er gibt jedoch für die Auslegung dieser Stelle die Inhalte des exemplum-Gedankens nicht einfach preis, der mit der Nachfolge im äußeren Leiden (1. Pt. 2, 21) auch den Kampf gegen die Sünde mit einschließt (1. Pt. 4, 1!), sondern bezieht sie mit in sein effektives Verständnis des Kreuzes Christi und damit seine Interpretation des Textes als Sakrament ein. Der Sakramentsbegriff — Crucifixum se dicit Christo iuxta sacramentum, quod peccatum et concupiscentias mortificaverit 153 — wird von Luther durch den Glaubensbegriff erläutert: Fides . . . Christi, cum diligat legem concupiscentiae 150 Ebeling, Evangelische Evangelienauslegung, S. 424, vgl. auch 161 162 Anm. 3221 501, 35ff. Ebeling, a. a. O., S. 424/5.

1M

5°2. 3 f ·

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prohibitricem, iam idem quod lex iubet faciens, concupiscentiam aggreditur et crucifigit154. Die fides Christi steht dem Verhaftetsein des Menschen an das Gesetz gegenüber und wird von Luther an unserer Stelle dadurch charakterisiert, daß sie die Sünde bekämpft und nicht im Menschen vermehrt, wie es das Gesetz tut 155 . Durch diese Interpretation des Sakramentsbegriffs durch den Begriff der fides Christi wird in ihn die gleiche Spannung hineingetragen, die wir auch beim Imputationsgedanken vor uns hatten: durch das Kreuz Christi als sacramentum ist die Sünde im Glaubenden getötet, gerade das aber treibt ihn zum Kampf gegen sein Fleisch. Hier schließt sich in Luthers Ausführungen der Gedanke der unio an (beachte Luthers Zusammenfassung von .Christo confixus sum cruci' und ,vivo autem, iam non ego . . .' in einen Auslegungszusammenhang!). Der Glaubensbegriff schlägt die Brücke: wo der Mensch nicht mehr an das Gesetz gebunden ist, das seine Sünden stärkt, sondern wo er sie verfolgt, da lebt er sein Leben nicht selbst, sondern Christus lebt in ihm, denn: per fidem Christus inhabitat et influit gratiam, per quam fit, ut homo non suo sed Christi spiritu regatur 156 . Die unio mit Christus geschieht im Glauben, durch eben den Glauben, der durch das iuxta sacramentum beschrieben wurde. Durch den Begriff der fides Christi erhält Luthers Aussage über die unio auch an unserer Stelle das imputative Element. Es zeigt sich, daß der Begriff der unio und der des sacramentum von Luther inhaltlich parallel entfaltet sind, jeder enthält in sich sowohl den Gedanken des pro nobis wie den der Einwohnung Christi, der im Menschen den Kampf gegen die eigene Sünde entbindet. Beide Aussagen sind notwendig gegeben mit der Bindung des Glaubenden an Christus und können nicht voneinander gelöst werden. Das wird in unserem Abschnitt noch einmal deutlich an Luthers abschließender Zusammenfassung: Totum ergo Christo, non nobis dandum est, quod credimus, quod iusti sumus, quod legi mortui sumus, quod concupiscentias mortificamus 167 . Wie beim Gedankenkreis der imputatio, so liegen auch hier beide Aussagen ineinander, und 164



502, 8 ff.

156

502, 4 if.

166

502, 11 ff.

157

502, 15 ff.

84

Der Gedankenkreis der Rechtfertigung (1519)

auch die gegenseitige Zuordnung ist die gleiche: auch hier ist der Kampf gegen die Sünde getragen von der voraufgehenden Mitteilung der völligen Freiheit. Beide Beispiele — Luthers Auslegung zu Gal. 2, 17 und Gal. 2, 19 — zeigen das unlösliche Ineinander von Ganzheitsund Teilaussage im Blick auf die Gerechtigkeit des Menschen: er wird zugleich gerecht erklärt und faktisch gerecht gemacht, er ist völlig gerecht und muß doch erst gerecht werden. Es ist außerdem deutlich geworden, daß beide Aussagen nicht einfach gleichgeordnet nebeneinander stehen, sondern daß die Teilaussage von der Ganzheitsaussage her verstanden werden muß. Die Gerechtigkeit, die dem Menschen in der Rechtfertigung übereignet wird, ist der Ursprung seines beginnenden eigenen Gerechtwerdens. Die Heiligung ist mit dem Rechtfertigungsgeschehen selbst gesetzt.

c) Das Handeln Christi und das Handeln des Geistes Sowohl vom imputatio- wie vom unio-Gedanken her erscheint die Heiligung als Werk Christi. Daneben kann Luther sie jedoch auch als Wirkung des Geistes beschreiben, die Funktionen Christi und des Geistes sind dann deutlich voneinander unterschieden. Im Rahmen seiner Darstellung der Rechtfertigung zu Gal. 2, 16 hebt Luther beide Funktionen voneinander ab: um des Namens Gottes willen, den Christus predigt, werden dem Glaubenden die Sünden nicht zugerechnet — dem, der so im Herzen durch den Glauben gerecht geworden ist, wird dann der Geist mitgeteilt, der sein Herz mit Liebe erfüllt, ihn nun zum Täter alles Guten und Sieger über alles Böse macht 168 . Ein ähnliches Nacheinander kann Luther auch an anderer Stelle formulieren: Christus, der für uns das Gesetz erfüllt und die Sünde überwindet, sendet den heiligen Geist in die Herzen derer, die an ihn glauben, so daß sie durch diese Gabe Christi nun zu Gerechten und Liebhabern des Gesetzes werden 159 . Trotzdem muß nach den bisherigen Erörterungen an der Gleichzeitigkeit des Handelns Christi und des Geistes bei Luther 168

490, 27 ff.

168

560, 26 ff.

Das Werk Christi als Handeln im Wort

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festgehalten werden. Einmal ist es erst der Geist, der das rechte Verständnis der Verkündigung des Werkes Christi ermöglicht, die Rechtfertigung im Herzen um Christi willen ist durch Luthers Verständnis der Rechtfertigung als Hören immer zugleich Werk des Geistes. Zum andern wird durch das Verständnis des Werkes Christi als Wort das Handeln Christi am Glaubenden unmittelbar mit den Kategorien des Wirkens des Geistes beschrieben, es ist lex spiritus im Gegensatz zum literalen Verständnis der Schrift. Luther kann den literae legis, von deren Druck der Glaubende erlöst ist, Christus als den largitor spiritus libertatis entgegenstellen160, Christus tritt also unmittelbar in die Funktion des Geistes ein, dessen Werk sonst die Mitteilung des geistlichen Verständnisses ist. E s ist der gleiche Vorgang, der einmal als Handeln Christi, einmal als Wirksamkeit des Geistes beschrieben ist. Wie selbstverständlich beider Funktionen für Luther ineinanderfallen, mag seine kurze Ausführung über die zeugende Kraft des göttlichen Wortes zeigen: der ironische Wunsch des Paulus für die Irrlehrer: »Utinam abscindantur, quivos conturbant!« (Gal. 5 , 1 2 ) ist für Luther herzuleiten aus der Vorstellung des Paulus, daß die Verführer fremden Samen und damit ein ehebrecherisches Wort in die Gemeinde säen, während die rechten Lehrer Wissen und Gewissen mit dem Wort (des Evangeliums) befruchten. Durch die Vorstellung der Ehe und damit das Bild von Mann und Frau ist hier nicht der Geist, sondern Christus durch das Wort handelnd gedacht: Episcopus enim, immo Christus vir est ecclesiae, quam foecundat semine verbi dei 1 ® 1 . Die letzte systematische Begründung dafür, daß Christus und der Geist für Luther in ihrem Handeln am Menschen auswechselbar sind, liegt in der Trinitätslehre. Luther gibt in seinem Kommentar nur einen kurzen Hinweis auf diesen Sachverhalt, der aber faktisch einen großen Teil seiner theologischen Ausführungen trägt. Im Anschluß an die paulinische Bezeichnung des Geistes als spiritus filii (Gal. 4, 6) deutet er die trinitarischen Zusammenhänge kurz an — nur kurz, denn: haec sublimiora sunt ut huic loco conveniant 162 . Denen, die durch den Glauben 160

534. 4·

161

574. 8f.

182

536, 31 f.

86

Der Gedankenkreis der Rechtfertigung (1519)

an Christus Söhne Gottes sind, hat Gott den Geist seines Sohnes in die Herzen gegeben, daß sie rufen: »Abba, Vater!« — der Sohn, der wahrer Gott ist, lebt im gleichen Geist wie der Vater, deshalb kann ebensogut vom Geist des Sohnes wie vom Geiste Gottes gesprochen werden. Die Glaubenden, die Söhne sind, haben durch ihre Sohnschaft teil am gleichen Geiste. In den anschließenden Ausführungen unterscheidet Luther auch hier scheinbar zwei zeitlich voneinander getrennte Akte: durch den Glauben empfängt der Mensch die Sohnschaft, um ihretwillen erhält er den Geist, der ihm nun die Liebe ins Herz gibt und damit gerecht macht. Fides meretur ut spiritus detur1®3! Der rechtfertigende Glaube ist daher der Glaube, der durch die Liebe tätig ist (Gal. 5, 6). Doch obwohl Luther das Wirken Christi und des Geistes bei der Beantwortung der Frage nach der Rechtfertigung in dieser Abfolge beschreiben kann, muß für den eigentlichen Ansatz seines Denkens an der Einheit und Gleichzeitigkeit des Handelns Christi und des Geistes festgehalten werden, weil sich in beidem nichts anderes vollzieht als das Handeln des einen Gottes. Wohl wird die Sohnschaft, die die Mitteilung des Geistes nach sich zieht, im Glauben an Christus erworben, durch den der Glaubende eins mit ihm wird, dieser Glaube entsteht aber selbst wieder durch nichts anderes als durch das Wort, das ihn nur deshalb zu wecken vermag, weil im Wort der Geist am Werke ist 164 . Daß Luther dort, wo er in seiner Darstellung der Rechtfertigung von der faktischen Gerechtigkeit spricht, zu der der Glaubende gelangt, von einem solchen scheinbar zeitlichen Nacheinander reden kann, hat seinen Grund wohl darin, daß er die Rechtfertigung als geistliches Hören begreift und seine Aussagen über das Werk Christi ganz in diesen Akt des Verstehens einbezieht, ohne die von der traditionellen Rechtfertigungslehre vorgegebenen Aussagen über den Empfang und die Wirkungen des spiritus charitatis preisgeben zu können und zu wollen. Durch den Übergang vom Reden über die durch den Glauben an Christus zugerechnete Gerechtigkeit zum Reden über das Handeln des Glaubenden in der Liebe, das der Geist ermöglicht, ist er 183

5 37. 2f-

164

509. iff·

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gezwungen, erneut vom Akt des Geistesempfanges zu sprechen. So erklärt sich die Abfolge seiner Ausführungen zur Rechtfertigung: invocatio nominis domini — cohaerentia von cor und nomen domini — sic fit, ut credentibus ... iustitia ... imputetur »propter nomen ...« — justificato autem sie corde per fidem ... dat eis deus potestatem filios dei fieri, diffuso mox spiritu saneto in cordibus eorum ... Eine Abfolge, deren zeitlicher Charakter bereits durch die anschließenden, spezifisch lutherschen Ausführungen über das Werk Christi als Predigt des Gottesnamens und die damit bewirkte Vereinigung Christi mit dem Glaubenden aufgehoben wird 168 . So muß die Abfolge des gesamten hier dargestellten Rechtfertigungsgeschehens als inhaltlich-logische Entfaltung eines einzigen, zeitlich nicht mehr in einzelne Etappen aufteilbaren Aktes verstanden werden. Das Handeln Christi und das Wirken des Geistes gehen völlig ineinander über, sie sind auswechselbar. Es ist nicht möglich, die Anrechnung der Gerechtigkeit um des göttlichen Namens willen als den Anteil Christi, die Mitteilung der Liebe dagegen als Anteil des Geistes an der Rechtfertigung und der in ihr gegebenen Gesetzeserfüllung zu sehen, sodaß das »lex per fidem et charitatem est impleta«166 dann als Addition beider Wirkungen verstanden werden könnte, sondern wie der Geist nicht nur die Liebe mitteilt, sondern auch zum rechten Verstehen des Werkes Christi führt, so besteht Christi Werk nicht nur darin, die fremde, anzurechnende Gerechtigkeit für den Glaubenden zu erwerben, sondern er macht ihn auch selbst gerecht. Die Art ihres Handelns am Glaubenden ist die gleiche167. Die Verankerung der gesamten Konzeption Luthers im Bereich 185

1M Zu Gal. 2, 1 6 ; S. 490. 490, 3 2 f . «7 Vogelsang stellt die Frage: »Werden in der Psalmenvorlesung nicht .Christus in uns' und heiliger Geist gleichsam Synonyme ?« und kommt zu dem Ergebnis: »Klarheit schafft hier Luthers Lehre vom Wort und Offenbarung als Elementen der incarnatio spiritualis Christi: causa materialis des Glaubens ist Christus, causa efficiens der Heilige Geist, causa Instrumentalis das Wort, causa finalis die Gerechtigkeit.« (Die Anfänge von Luthers Christologie, S. 169). Diese Unterscheidung, die Luther in einer Tischrede selbst vorgenommen hat ( W A . T R . 3, Nr. 3 1 2 4 ; vgl. Vogelsang a. a. O.), läßt sich jedoch im Galaterkommentar nicht wirklich durchführen.

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Der Gedankenkreis der Rechtfertigung (1519)

des Verstehens läßt sich hier noch einmal ablesen. Sein Einsatz bei der Ganzheitsaussage über die Gerechtigkeit des Glaubenden weist auf den hermeneutischen Fragenkreis, er entspricht der augustinischen Bestimmung des Verhältnisses von litera und spiritus: was die lex literae fordert, enthält die lex spiritus und teilt es dem Hörenden mit. Wir fassen zusammen. An den herangezogenen Texten wurde deutlich, wie eng für Luther Werk Christi und Rechtfertigung zusammengehören: er kann sie als ein Geschehen beschreiben. Ermöglicht wird dies durch sein Verständnis des Werkes Christi als Wort, das erst in der hörenden Aneignung zum Ziel kommt. Diese Aneignung des Wortes aber ist nichts anderes als die Rechtfertigung. In dieser Konzeption liegt Luthers Lösung des Problems beschlossen, das jeder christlichen Theologie durch ihren Gegenstand gestellt ist, die Frage nach dem Verhältnis von Werk und Verdienst Christi und der Mitteilung dieses Werkes an den Glaubenden. Diese Problemstellung birgt zwei aufs engste ineinander verflochtene Fragenkreise in sich, deren Beantwortung in gleicher Weise von der jeweiligen Gesamtlösung abhängig ist: den Fragenkreis nach dem Verhältnis von Glaube und Werken und nach dem Verhältnis von vergangener Heilstat und gegenwärtigem Geschehen. Bei der Darstellung der Antwort Luthers wurde von selbst deutlich, wie eng beide Fragenkreise ineinanderliegen. Er selbst führt seine Konzeption thematisch durch an der Problematik von Glaube und Werken, sein Verständnis des Werkes Christi als verkündigendes Wort führt ihn dazu, den Menschen und seine Gerechtigkeit unter der Ganzheits- wie unter der Teilaussage stehen zu lassen, der Mensch ist für ihn sowohl totus iustus und totus peccator wie partim iustus und partim peccator, sein simul-simul umschließt beides. Deshalb gehört die Frage nach dem Ansatz der Heiligung in die Rechtfertigungslehre hinein. In dieser Konzeption ist zugleich das Problem der Vergegenwärtigung der vergangenen Heilstat gelöst, das damalige wie das gegenwärtige Werk Christi werden zu einer Einheit zusammengeschlossen. Im Gegensatz zur Frage nach dem Verhältnis von Glaube und Werken wird das Problem der Vergegenwärtigung von Luther im Galaterkommentar nicht

Luthers Entfaltung seines Rechtfertigungsverständnisses

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ausdrücklich gestellt und in die begriffliche Abstraktion erhoben, Luthers Lösung bleibt thematisch in seine Darstellung der Glaubensgerechtigkeit eingebettet und tritt nur an diesem Inhalt in Erscheinung. Es wird implizit mitbeantwortet, tritt für Luther selbst jedoch hinter der Frage der Glaubensgerechtigkeit zurück, obwohl beides, wie in seinen Ausführungen deutlich wird, nur zwei Seiten derselben Sache sind. Wir müssen fragen, ob und wie Luther die hier noch einmal zusammenfassend charakterisierte Grundkonzeption in seiner Auslegung von 1531 durchgehalten hat.

B. D i e D a r s t e l l u n g v o n ΐ 5 3 ΐ 1 β 8 I. LUTHERS ENTFALTUNG SEINER GRUNDKONZEPTION

i. Luthers Entfaltung seines Rechtfertigungsverständnisses zu Gal. 2, 16—21 a) Luthers Aufheben der scholastischen innerhalb des Heilsweges

Stufenfolge

Zur Frage der Rechtfertigung müssen wir auch in Luthers Vorlesung bei seiner Auslegung des Abschnittes Gal. 2,16—21 einsetzen, der Verse, in denen Paulus seine Rechtfertigungslehre zusammenfaßt, und die Luther 1531 wie 1519 zum Anlaß für eine zusammenhängende Darstellung seiner Konzeption werden169. »Scientes autem, quod non iustificatur homo ex operibus legis, nisi per fidem Jesu Christi ...« (Gal. 2, 16). Luthers Einsatz ist polemisch, er beginnt einleitend mit einigen scharfen Antithesen. Alles, was nicht Gnade ist, gehört in den Bereich des Gesetzes. Dabei umfaßt »opus legis« jede Art von Gesetzeserfüllung: lex est Iustitia quae potest parari sive virtute divina sive humana secundum legem170. Vor Gott gilt das alles nichts, gleichgültig, ob es sich um das Befolgen der Zeremonialgesetze 168 Alle folgenden Seitenzahlen beziehen sich, soweit nicht anders 1 , 8 2i7ff. 170 219. angegeben, auf W 40 I.

Der Gedankenkreis der Rechtfertigung (1531)

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oder des Liebesgebotes handelt. Alles, was nicht Gnade ist — d. h. rechtfertigende Gnade, Luther spricht von der gratia als Gesetz zum opus legis, nicht von einem opus gratiae —, gehört in den Bereich des Gesetzes171. Mit der Übernahme des Begriffes opus operatum aus der Sakramentslehre verdeutlicht Luther seinen prinzipiellen Widerspruch gegen die Sicht der Scholastik : vor Gott gilt kein opus operatum, kein Werk darf abgelöst werden von der Person dessen, der es tut, kein Werk, das im Stande der Todsünde geschieht, ist gut. Damit ist jedes gute Werk unmöglich gemacht, Todsünde heißt für Luther Feindschaft, Haß, Ungehorsam gegenüber Gott 172 . Nach dieser Vorbemerkung beginnt Luthers eigentliche Darstellung. Auch sie ist ausdrücklich polemisch bestimmt. Luther entwickelt seine Sicht in Auseinandersetzung mit der occamistischen Rechtfertigungslehre, die er zunächst skizziert173. Indem er sie mit sicherem Griff von dem ihm im Paulustext vorgegebenen Begriff des opus legis her entwickelt, wird bereits in dieser Darstellung der entscheidende Gegensatz zwischen der occamistischen Lehre und dem Ansatz Luthers deutlich. Das opus legis, das Paulus dem Glauben entgegensetzt, umschließt für Luther unterschiedslos sowohl die Werke, die der Mensch sich aus eigenen Kräften abringt, wie die, die er mit Hilfe der Gnade vollbringt. Opera legis possunt fieri vel post vel ante 174 —· im Rahmen der Rechtfertigungslehre wäre zu ergänzen: iustificationem, Luther zieht jedoch die Linie von der Heilsordnung zur Heilsgeschichte aus: die opera ante et post iustificationem werden durch Beispiele von opera ante et post Christum erläutert, alle werden als opera legis verworfen, die Tugenden Ciceros und Pomponius' sind der Befolgung der paulinischen Paränesen gleichgestellt, doch weder diese noch jene helfen für Luther dem Menschen zum Heil. Durch diese Gleichsetzung der in der Gnade gewirkten Werke christlicher Gesetzeserfüllung mit heidnischen Tugenden spitzt Luther seine Aussage aufs schärfste zu: es gibt keinerlei Verdienst, das dem Menschen in irgendeiner Weise ein Anrecht auf den Empfang des Heiles geben könnte. Indem 171

173

2 1 7 f. 2 2 2

f

172 174

219 221. 222, 17.

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Luther das im Paulustext abgelehnte opus legis auf diese Weise interpretiert, hebt er die gesamte innere Stufenfolge, die die occamistische Rechtfertigungslehre trägt, auf, das facere quod in se est, das dem Menschen das meritum de congruo einbringt, auf Grund dessen er die gratia iustificans bzw. gratia gratum faciens erhält, die ihn zu neuen Werken befähigt und damit zum Empfang des meritum de condigno führt, bis er schließlich als letzte Krönung die vita aeterna erlangt — de iure 176 ! Durch Luthers Verständnis des opus legis wird diese sorgfältig ineinandergreifende Abfolge menschlichen und göttlichen Handelns hinfällig. Dreierlei zeigt sich an Luthers kritischer Darstellung. E i n m a l : da es für ihn keinen Unterschied zwischen merita de congruo und de condigno gibt, ist auch die Annahme eines abgestuften Handelns Gottes unmöglich, d. h.: Rechtfertigung und ewiges Leben, in der scholastischen Rechtfertigungslehre deutlich voneinander unterschieden, fallen bei Luther inhaltlich in eins, beide Begriffe sind ihm Umschreibungen der dem Menschen bedingungslos zugewandten Gnade Gottes; eine inhaltliche Steigerung der Rechtfertigung zum ewigen Leben ist nicht möglich, da Luther durch seine Ablehnung des menschlichen Verdienstes die Bedingungslosigkeit zum entscheidenden Inhalt jeder göttlichen Gnadenzuwendung erhebt. Für die scholastische Abstufung und Bedingtheit der Gnadengaben ist durch die Verneinung des Verdienstgedankens kein Raum; wer die Gnade bzw. das Heil empfängt, empfängt es — da er sie bzw. es bedingungslos erhält — ganz. Wer gerechtfertigt ist, hat das ewige Leben. Etwas später formuliert Luther: tum ... habeo in spe promissam vitam aeternam176. Z u m a n d e r e n : Luther setzt sich zwar mit der occamistischen Form der Rechtfertigungslehre auseinander177, er faßt den Gegensatz jedoch so tief, daß jede andere scholastische Lehrausprägung zugleich in ihr getroffen ist. Seine Zusammenschau der opera ante et post zeigt, daß es Luther um den Verdienstgedanken geht und nicht primär um 175 223, 3; 222, 29. 177

17e

236, IOf.

Beachte Luthers Gleichsetzung von gratia gratificans und dilectio:

222, 30; 223, 3. Vgl. dazu Scheel, Martin Luther, Bd. 1, S. 2 i o f f ; Bd. 2, S. 161 f.

92

Der Gedankenkreis der Rechtfertigung (1531)

die Frage nach der Möglichkeit einer vom Menschen selbständig zu leistenden Kooperation — gegen diese wendet er sich auch, sie kommt jedoch lehrmäßig nur durch ihre Verbindung mit dem Verdienststreben in den Blick. Luthers Ablehnung der Möglichkeit einer menschlichen Kooperation ist seiner Polemik gegen den Verdienstgedanken unter- bzw. eingeordnet, psychologische Fragestellungen dürfen mit diesem streng theologischen Ansatz nicht ohne weiteres verbunden werden. Luthers Ausführungen zielen darauf, einen Rechtsanspruch des Menschen auf die Gnade Gottes zu verneinen. So setzt seine Auseinandersetzung mit der ihm vorliegenden Lehrform thematisch nicht ein bei der Frage nach der Mitwirkung des Menschen beim Empfang des Heiles, sondern bei der scholastischen Behauptung einer dem Menschen inhärenten ethischen Qualität, die einen Rechtsanspruch auf Gott begründet. Luthers Angriffspunkt ist das Einspannen der Gnadenwirksamkeit Gottes in das aristotelische Informationsschema, das die scholastische Rechtfertigungslehre trägt 178 , nach dem erst die eingegossene Liebe den Glauben, der als zu formende Materie vorliegt, zur wesenhaften Gerechtigkeit werden läßt, so daß erst die fides charitate formata den Charakter der iustitia formalis trägt 179 . Die iustitia formalis selbst ist verstanden als ethische Qualität. Damit aber verleiht erst die Liebe dem Glauben seine Wirklichkeit, wie in dem üblichen — wenn auch inhaltlich schwer nachvollziehbaren — scholastischen Beispiel erst die weiße Farbe die Existenz der Wand verwirklicht 180 . Die Gerechtigkeit des Menschen liegt nach dem aristotelischen Informationsschema in ihm selbst, das ewige Leben ist der Lohn für die vorhandenen Tugenden: Ubi habuero gratiam, facio opera secundum gratiam i. e. dilectionem et acquiro de iure vitam aeternam181. Luther 178 Vgl. dazu außer Seeberg, Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd. 3, auch Scheel, Martin Luther, Bd. 2, S. i 5 3 f f . 179

. . . isti iustitiae et habitui et formae inherenti anime tribuunt

iustitiam formalem et dignam aeterna v i t a : est formaliter iustus (226, 4f). 180

Das Weiße ist hier nicht als Zusatz zur Wand gedacht —

so

irrtümlich Thimme, Christi Bedeutung für Luthers Glauben, S. 69 — , sondern als ihre formalis qualitas, d. h. als der notwendige Faktor für den Übergang der Möglichkeit ,Wand' zur Wirklichkeit. 181

223, 2f.

Luthers Entfaltung seines Rechtfertigungsverständnisses

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fährt fort: da ist Christus remotus. Hier wird der d r i t t e entscheidende Punkt seiner Kritik deutlich: für Luther fällt die Rechtfertigungsfrage zusammen mit der Frage nach der Kraft und Bedeutung des Werkes Christi. Die scholastische Rechtfertigungslehre, in der dem ausführlich festgelegten Prozeß des Heilsempfanges und der Heilsaneignung Ausdruck gegeben wird, ist aufgebaut als Stufenfolge teils natürlicher, teils übernatürlicher menschlicher Verdienste, damit entfällt jedoch die ausschließliche Konzentration auf die Heilstat Christi. Das aber heißt für Luther: die Frage nach dem Werk Christi wird negativ beantwortet — da ist Christus remotus. bj Christus als forma fidei

Selbstverständlich werden auch im Rahmen der scholastischen Lehre die Verbindungslinien vom Gnaden- und Heilsempfang des Menschen zum Werk Christi gezogen. Das Erlösungswerk Christi ist in doppelter Weise für den Heilsweg des Menschen von Bedeutung: entsprechend dem doppelten Schaden der Erbsünde — dem über den Menschen verhängten reatus poenae und der Herrschaft der concupiscentia — hat Christus durch sein Versöhnungswerk einerseits den Erlaß der ewigen Strafe, d. h. die gnädige Zuwendung Gottes überhaupt, andererseits die Mitteilung der Gnade durch die Sakramente erworben. Die scholastischen Lehrabweichungen sind im einzelnen gering 182 — der Grundriß steht seit Alexander von Haies fest 183 —, überall läuft es im Grunde darauf hinaus, »daß die Passion Christi als Satisfaktion an sich einen Zustand der Straffreiheit erwirbt, daß aber konkret nur die hieran Teil erlangen, die auch durch die Wirkungen der Passion innerlich umgebildet oder mit der Liebesgnade ausgerüstet werden. Also kooperieren zur Aufhebung der Strafe im wirklichen Leben die Gott von Christus dargebrachte Satisfaktion und die von Christus zur Erneuerung des Menschengeschlechtes ausgehenden, die Sünde tilgenden Gnadenwirkungen sowie auch die durch letztere gewirkten ver182 183

Seeberg, Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd. 3, S. 784. Seeberg, a. a. O., S. 434; zu Duns vgl. ib. S. 663 f.

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dienstlichen Werke der Menschen«184. So schreibt Biel: quod, licet Christi passio sit principale meritum, propter quod confertur gratia, apertio regni et gloria, nunquam tarnen est sola et totalis causa meritoria. Patet, quia semper cum merito Christi concurrit aliqua operatio tanquam meritum de congruo vel de condigno recipientis gratiam vel gloriam186. D. h. der Primat des Verdienstes Christi bleibt durchaus gewahrt, wird aber eingeschränkt bzw. muß ergänzt werden durch die Verdienste des mit der Gnade ausgerüsteten Menschen. Das führt jedoch in der Durchbildung der Rechtfertigungslehre und der Anleitung der Glaubenden zum Erlangen der Gnade wie später des ewigen Lebens von selbst dazu, daß die Frage der eigenen Verdienste in den Vordergrund rückt und praktisch zur entscheidenden wird 186 , während die Begründung im Wirken Christi den Charakter eines feststehenden, vorausgesetzten Rahmens erhält. Die Frömmigkeit lebt praktisch aus dem sakramentalen Empfang der Gnade, die dem Menschen zuteil wird im Bück auf die nun ermöglichten und erforderlichen Verdienste. Die scholastische Theologie gibt dem Ausdruck, indem sie die Rechtfertigungslehre konzentriert auf die genaue Bestimmung des Verhältnisses von Verdienst und Gnade, wobei die Begriffe Verdienst, Gnade, Glaube, Liebe einander im Rahmen des Informationsschemas so zugeordnet sind, daß sie lückenlos ineinandergreifen. Das Verdienst Christi hat in diesem Schema, das die scholastische Rechtfertigungslehre trägt, keinen Raum. Hier ist für Luther Christus der Platz genommen, der ihm gebührt. Der Mensch blickt auf sich selbst anstatt auf ihn. So setzt er in seiner Auseinandersetzung beim Glaubensbegriff ein und damit bei dem Informationsschema, das den Menschen auf sich selbst weist und das Werk Christi aus dem Prozeß des Heilsempfangs verdrängt. In der scholastischen Rechtfertigungslehre ist der Glaube eine im Herzen ruhende untätige Qualität, die in sich keine Kraft besitzt, sondern erst der formierenden Liebe bedarf — wie ein toter Leib des Lebens —, um zur lebendigen Eigenschaft des Menschen zu werden, die ihm nun zu Tugenden Seeberg, a. a. O., S. 441. Coli. III d 19 a 2 concl. 5 ; zit.b. Seeberg, a. a. O., S. 786. 18« Seeberg, a. a. O., S. 483.

184

185

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und Verdiensten verhilft 187 . An die Stelle dieser Bestimmung des Glaubens in Hinsicht auf das, was er in sich selbst ist, setzt Luther sein Verständnis des Glaubens, das bestimmt wird durch das Gegenüber, auf das er sich richtet. Wahrer Glaube ist quaedam fiducia cordis et firmitas assensus quo apprehendo Christum188, er ist die Erkenntnis, die sich auf Christus richtet und ihn ergreift, obwohl er ihn nicht sieht; denn wie Gott im Allerheiligsten des Tempels, so thront auch Christus in der Finsternis, der Glaube aber faßt ihn und hat ihn gegenwärtig — quomodo non est cogitabile. Wo wahrer Glaube ist, ist Christus da 189 . Die wesentliche Aussage über den Glauben ist damit nicht seine Beschreibung als dem Menschen eignende Qualität, sondern als Vollzug der Vergegenwärtigung Christi: Christus adest. Darin, daß er Christus, diesen Schatz, gegenwärtig hat, beruht seine rechtfertigende Kraft, er macht die Gerechtigkeit des Christen aus: sie apprehensus (Christus) est iustitia Christiana190. Im allgemeinen begnügt Luther sich mit der bloßen Nennung Christi, doch im Zusammenhang ist es selbstverständlich, und es geht auch aus gelegentlichen, knapp formulierten Definitionen hervor — der Glaube ergreift und glaubt ohne Zweifel, daß dieser für die Sünden genug getan hat 1 9 1 , der Christ hat den im Herzen, der der Sieger über Tod und Sünde ist und das Gesetz in seiner Hand hat 1 9 2 — , daß er jeweils Christus als den Autor seines Heilwerkes im Blick hat. Indem Luther auf diese Weise den Glauben versteht als Vollzug der Vergegenwärtigung Christi, der für die Sünde genug getan und damit ihre Macht besiegt hat, erhält das Heilswerk Christi seinen Platz im aristotelischen Informationsschema, damit aber ist dieses dem Reputationsgedanken und mit diesem der lutherschen Darstellung der Rechtfertigung geöffnet. Den, der Christus im Glauben ergriffen hat, rechnet Gott für gerecht: quia credis in me et non dubitas de Christo, ideo sis iustus193, er wird sich halten, als sähe er die Sünde nicht, weil Christus davor steht, den der 187 Vgi_ Luthers eigenes Referat: fides bleibt corpus, Charitas leben (228, 7f), und: Sicut vos dicitis fidem hulssen et Charitasplenitudo, safft 188 228, 14t. 188 229, i f f . et krafft {228, gf.). 190

2 2

188

g

233, 6f.

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I O

191 2

3 2 j

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Glaube festhält 194 . Beruht demnach die rechtfertigende Kraft des Glaubens darin, daß er Christus gegenwärtig hat und daß Gott den Menschen um dessentwillen als gerecht annimmt, so übernimmt Christus damit die Funktion, die im Informationsschema der im Sakrament mitgeteilten Charitas zugeschrieben wird. So setzt Luther ihn an die Stelle der formierenden Liebe: Sicut vos dicitis charitatem ipsam imbuere fidem, sie dieimus nos Christum esse formam istius fidei195. Christus muß den Glauben schmücken19®, er ist die forma des Menschen197, seine formalis iustitia 198 . Auf Grund des so informierten Glaubens ist der Mensch gerechtfertigt: ... sie dieimus nos Christum esse formam istius fidei, et sie apprehensus est iustitia Christiana; propter hanc reputat nos iustos et donat vitam 199 . Luther bezieht das Heilswerk Christi auf dem Wege über den Glaubensbegriff in das ihm vorgegebene Informationsschema ein — damit wird dieses gesprengt. Anstatt sich auf seine eigenen Qualitäten zu konzentrieren, wird der Glaubende von sich weg auf Christus verwiesen, den er im Glauben faßt. Die Nötigung, die Luther aus diesem Schema erwächst, seine Aussagen in die Form zugespitztester Paradoxie zu kleiden, deren Tiefsinn sich letztlich dem Zugriff des Denkens entzieht — Christus est mea forma —, zeigt nur zu deutlich, wie ungeeignet dieser ganze Begriffsapparat war, um sein Verständnis der Rechtfertigung zum Ausdruck zu bringen. Doch obwohl Luther dies Schema einerseits durch seine Interpretation ad absurdum führt, so bietet es sich ihm andererseits doch auch zur Entfaltung seiner Gedanken an: das Eingespanntsein in dieses Schema wahrt jeder christologischen Aussage über den Grund des Rechtfertigungsurteils Gottes immer zugleich den Charakter einer Aussage über den Menschen. Der Glaube wird, indem er nicht durch die Charitas, sondern durch Christus zur lebendigen Kraft entbunden wird, auf ein außerhalb des Menschen liegendes Gegenüber verwiesen, zugleich aber stellt die Bestimmung Christi als forma dieses Glaubens die engste Bezogenheit Christi auf den glaubenden Menschen her. Wie die 194

234,

3.

we

229,

8f.

187

283,

7.



229,

2· Ι3·

» · 228, 199 229,

Ii.

9ff.

Luthers Entfaltung seines Rechtfertigungsverständnisses

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Form die Verwirklichung der Materie ist, ein Ganzes mit ihr und nicht von ihr zu trennen, so bilden Christus und der Glaube eine Einheit. Sie sind begrifflich auswechselbar: wie Christus die formalis iustitia ist, so kann an anderer Stelle auch der Glaube als iustitia formalis bezeichnet werden200. Diese Auswechselbarkeit ermöglicht Luther neben dem Ersetzen der formierenden Charitas durch Christus auch das Vertauschen dieser Charitas mit dem Glauben selbst, so daß er scharf antithetisch formulieren kann: opera sequentia non informant meam fidem et ornant, sed fides econtra201, und seine ganze Auseinandersetzung mit der scholastischen Rechtfertigungslehre beginnt mit der zugespitzten These: Loco istius charitatis accipe fidem202, die dann im folgenden dahin entfaltet wird, daß der Glaube Christus ergreift, der den Glauben schmückt. Mit einer solchen Aussage über Christus und den Glauben ist zugleich die Aussage über Christus und den Glaubenden gegeben. Was von Christus und dem Glauben gilt, gilt ebenso von ihm und dem glaubenden Menschen: Christus als forma fidei schmückt den Glauben, das aber heißt, daß der Mensch ein erfülltes und geschmücktes Herz und Gewissen besitzt, die um diesen Glauben bereichert sind203, ja, daß er Christus selbst, den er betrachtet, in seinem Herzen hat 204 . Durch diese Informierung durch Christus ist der Glaubende er selbst und nicht er selbst, er führt sein Leben, und doch ist es das Leben Christi. Luther benutzt später noch einmal die Begrifflichkeit des Informationsschemas, um das paulinische »Ich lebe, aber nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir« (Gal. 2, 20), auf das Paulus wie —• exegesierend — auch Luther den ganzen Zusammenhang hinzielen läßt, zu interpretieren: das heißt... quod Christus sit mea forma, sicut paries informatur albedine. Sic tarn proprie et inhesive, ut albedo in pariete, sie Christus manet in me et ista vita vivit in me, et vita qua vivo, est Christus205. Ein Zeichen, in welchem Maße dies Schema ihm nun doch geeignet erscheint, die Innigkeit des Aufeinander200

201 229, 7. 275, ι f. 228, 9; vgl. auch: Sic formalis mea iustitia est, non est Charitas quae informat fidem, sed fiducia cordis mei in rem quam non videt, et tarnen habet Christum praesentem (229, 2ff.). 203 204 208 235, 1 1 . 235, 6· 283. 7 « · 202

7

Bornkamm, Galaterbrief

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bezogenseins des geglaubten Christus und des Glaubenden zum Ausdruck zu bringen. Ja, das traditionelle Bild von der weißen Farbe und der Wand20® ist Luther noch zu schwach für die Innigkeit dieser Beziehung: propior mihi Christus quam paries207. Stärker als 1519 in seinem Kommentar läßt Luther 1531 seine gesamte Auslegung zu Gal. 2, 16—21 auf Gal. 2, 20 hinzielen: »Vivo autem, non iam ego, sed vivit in me Christus.« Der Gedanke der engen Zusammengehörigkeit des Glaubenden mit Christus ist in noch betonterer Weise das tragende Fundament seiner Aussagen. Das scholastische Schema von forma und materia ist ihm nur eine, wenn auch im Zuge seiner Polemik sehr geeignete Begrifflichkeit, um diesen Gedanken geltend zu machen, häufiger — und meist unmittelbar neben dem formaBegriff — bedient er sich der viel reicheren und ausdrucksfähigeren Sprache der Mystik, die er in seiner Auseinandersetzung mit der scholastischen Theologie zu Hilfe nimmt, um seine eigene Position deutlicher zu entfalten. Der Christ, der »herfährt« und Christus betrachtet, hat ihn in seinem Schatz, in seinem Herzen208, der Glaube hat diesen Schatz, Christus ist da209. Luther verwendet das dem Essen und Trinken des Fleisches und Blutes Christi geltende Wort »der bleibt in mir und ich in ihm« (Joh. 6, 56) 210 : der Glaubende ist in Christus211, sie sind wie sponsus et braud, in amplexione212, durch die conglutinatio und inhaesio fidei sind sie im Geiste wie ein Leib 213 , im Glauben sind der Glaubende und Christus ein Fleisch (Eph. 5, 30), doch wie das Bild der Farbe und der Wand, so ist auch dies Bild noch zu schwach: multo arctiore vinculo quam masculus et femina214. Daß Luther im Zusammenhang seiner Beschreibung Christi als forma fidei über den forma-Begriff hinaus zur mystischen Sprache greift, um die Innigkeit der Beziehung Christi zum Glaubenden zum Ausdruck zu bringen, zeigt, wieviel ihm am Gedanken der unio als Aussage der Rechtfertigungslehre gelegen ist. Der unio-Gedanke steht jedoch — wie 1519 — in 20,1 209 213

S. o. S. 92 zu Anm. 180. 210 229, 5. 241, if. 214 284, 6 f. 286, 1.

207 211

545, 8. 240, 12.

208 212

235, 6. 241, 2f.

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Spannung zum Gedanken der reputatio, dem Luther im gedanklichen Umkreise des forma-Begriffes mit der gleichen Intensität wie dem unio-Gedanken Ausdruck gibt. Christus ist die forma fidei, der durch diesen formierten Glauben angenommene Christus ist die christliche Gerechtigkeit, um ihretwillen rechnet Gott den Menschen für gerecht und schenkt ihm das (ewige) Leben 215 ; der Glaube, der Christus ergreift und Christus als die formalis qualitas in corde erkennt, ist der Glaube, der nichts sieht als Christus den Retter, d. h. den Christus, der begriffen wird als der, der für die Sünden genugtut, der forma-Gedanke läuft damit hinaus auf ein fide apprehendere Christum portantem peccata mundi, von Luther weitergeführt zum Begriff der reputatio21®; der Christ kann sich gegen die Anklage von Teufel und Gesetz behaupten, denn wer auf Christus blickt, hat den im Herzen, der Tod und Sünde besiegt hat und das Gesetz in seiner Hand hält 217 ; wer seinen Blick auf Christus richtet, d. h. auf den, der ihm näher ist als der Wand die weiße Farbe, sodaß er außer ihm nichts anderes wahrnimmt218, der findet seinen eigenen Tod in Christi Wunden und kann sich mit dem Bekenntnis zu ihm trösten 219 ; wo Christus die forma des Menschen ist, wo dieser so eng mit ihm verbunden ist, wie die weiße Farbe mit der Wand, sodaß — paulinisch gesprochen — Christus in mir lebt und das Leben, das ich lebe, Christus ist, da ist das Gesetz getötet, denn vor dem Angesichte Christi müssen Sünde, Tod und Gesetz weichen, das, was er umarmt, »nimpt er mit sich«, ergreife ich ihn, hebt er die Sünde in mir auf, in die Gerechtigkeit, in der er lebt, versetzt er auch mich220. Die angeführten Beispiele, die alle aus dem unmittelbaren Umkreis des forma-Gedankens genommen sind, lassen deutlich genug erkennen, daß die Vereinigung des Glaubenden mit Christus auch hier stets interpretiert wird durch die Vorstellung von der Zurechnung der Gerechtigkeit Christi, die dem Glaubenden durch Gott zuteil wird. Wir stoßen in Luthers Deutung Christi als der forma fidei auf die gleiche Spannung von unio- und reputatioGedanken, die wir schon von 1519 her kennen.

7*

229, i o f " 5 4 5 , 8 f.

218

218

2

219

232/3. 546. 2 ff.

217 220

23s, 6f. 283/4.

100

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c) Christus als -persona des Menschen Die meisten der an die Mystik anklingenden Aussagen stehen in enger Beziehung zum forma-Gedanken, den sie umschreiben und veranschaulichen. Terminologisch wichtiger und von Luther selbst inhaltlich stärker entfaltet als die Vielfalt mystischer Umschreibungen ist seine Darstellung der gleichen Zusammenhänge, die er mit dem forma-Gedanken zum Ausdruck bringt, mit Hilfe des persona-Begriffes, der im Auslegungszusammenhang zu Gal. 2 , 1 6 — 2 1 bei seiner Exegese zu Gal. 2, 20 auftaucht. ' »Vivo autem iam non ego, sed vivit in me Christus« (Gal. 2, 20). »Non iam«: i. e. non in persona, substantia mea . . . Quando volo disputare de Christiana iustitia, oportet abiicere personam 221 . Das Ich des Glaubenden, von dem im Text die Rede ist, fällt mit seiner persona zusammen, trotzdem kann der Mensch von seiner persona unterschieden werden, denn nur so ist es möglich, von einem abiicere personam zu reden. Zum Verständnis der Stelle müssen wir auf Luthers Exegese zu Gal. 2, 6 zurückgreifen — »Deus enim personam hominis non accipit« —, in der Luther, wie schon 1519 2 2 2 , den personaBegriff erläutert. (Die Auslegung zu Gal. 2, 6 soll hier nur so weit herangezogen werden, wie sie für unseren Zusammenhang wichtig ist.) Sachlich wie 1 5 1 9 , nur nicht mit der dort gegebenen exegetischen Ableitung, setzt er persona gleich mit facies, Ansehen 223 , larva 224 , worunter er in diesem Zusammenhang zunächst Apostolat, Episkopat, äußere Ehren jeder Art usw. rechnet 225 , dann aber wird der Begriff sofort erweitert zur zusammenfassenden Bezeichnung dessen, was den Menschen im natürlichen und politischen Leben trägt, ausweist, ja ausmacht 226 . Persona ist alles, was am Menschen in den schöpfungsmäßigen, natürlichen und politischen Ordnungen und Zusammenhängen, in denen er steht, in Erscheinung tritt und was in diesen Zusammenhängen geachtet sein will und soll, 221

222 223 282, 3 ff. S. o. S. 14 ff. 172, 10. 225 I74, 7. 172, II. 228 Regnum, Imperium, magistratus, praeceptor, discipulus, pater, mater, herus, domina, servus, ancilla sunt larvae, personae . . . (175, 3f.). 224

Luthers Entfaltung seines Rechtfertigungsverständnisses

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persona bezeichnet den Menschen naturaliter conditus227. Klar zu scheiden vom Bereich der persona ist der Bereich des Gottesverhältnisses. Luther zieht zur Verdeutlichung seine überall wieder auftretende Scheidung zwischen politia und religio, mundus undconscientiausw. heran: quando non est religio, deus, da gehört personatus228; zwischen den Menschen muß es die Verschiedenheit der personae geben — sed coram me hors alls auff 229 . Vor Gott steht der Mensch ohne seine persona, hier geht es nicht um die Schale, sondern um den Kern, nicht um das Haus, sondern um den Bewohner selbst. Persona und Wort stehen einander gegenüber, vor Gott gilt nicht, was der Mensch aus sich heraus ist und darstellt, sondern sein Verhältnis zum Wort230, nicht seine persona als homo naturaliter conditus, sondern, wie Luther antithetisch formuliert, die spiritualis persona231. Mit dieser Unterscheidung ist genau das angedeutet, was Luther dann an unserer Stelle — zu Gal. 2, 20 — entfaltet und ausführt. Wird der persona-Begriff, der den Menschen in seinen natürlichen Bezügen begreift, in den Zusammenhang der Rechtfertigungslehre übersetzt, so bezeichnet er den Menschen in seiner Bindung unter das Gesetz: persona subiicitur legi232. Eben diese Bindung aber wird durch das paulinische »Vivo autem, iam non ego, sed vivit in me Christus« negiert. Das »ego«, von dem hier die Rede ist, beschreibt den Menschen personaliter, als den, der seine persona vor Augen hat, also auf sich selbst blickt und damit dem Gesetz verfallen ist: Quis ille »ego«? qui debet operari, qui est una persona distincta a Christo233. Als solcher aber ist er tot bei Gott, denn er lebt in sich selbst, er hat den Glauben der Scholastiker, der als Eigenschaft des Menschen verstanden wird234, er gehört der 227

228 229 173/4. 178,6f. X78,9. 1 7 3 . 5 f f · ; dort auch: Sic in Paulo adorem et ipsum verbum quod ego de ore eius, et Christum loquentem. 231 174, 1. Hier leuchtet — wenn auch in etwas anderem Zusammenhang —• die gleiche Sicht des Menschen auf, die wir in Luthers Ausführungen von 1 5 1 9 finden: sunt duo toti homines et unus totus homo (W. 2, 586, i 6 f f . ; s. u. S. 212). 230

232 2 8 2 j 5 .

233 2 8 3j 5 f -

234 2g5> 2 f.

102

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(1531)

Hölle und dem Gesetz an236. Vor Gott ist er nicht nach seiner persona gefragt, sondern hier ist er allein durch Christus vor der Verdammnis sicher. Er muß von seiner persona absehen und sein Vertrauen ganz auf Christus setzen, ihm allein anhangen, denn nur dieser ist für den Glaubenden Leben und Gerechtigkeit238. »Vivo, non iam ego« heißt deshalb: »hereo intentus in isto obiecto, Christus237«. An die Stelle, die sonst die persona des Menschen einnimmt, tritt im Gottesverhältnis des Menschen Christus, ganz ähnlich wie er im Rahmen des Informationsschemas den Platz der Charitas übernimmt. Nur kann Luther in diesem Zusammenhang das zwischen Christus und dem Glaubenden entstehende Verhältnis nicht wie im Rahmen des Informationsschemas mit einem dritten, vermittelnden Begriff beschreiben — Christus mea forma238 — , denn der Mensch ist mit »persona« noch stärker in seiner Gesamtheit gefaßt als mit der »Charitas«, die in Luthers Umbildung des Informationsschemas durch Christus ersetzt wird. So spricht Luther hier in unmittelbarerer Weise von einer Vereinigung: Christus und der Glaubende werden quasi una persona239, und das Leben, das der Glaubende lebt, ist das Leben Christi, quae non mihi nata in persona mea sed donata per Christum in fide240. Das Verhältnis des Menschen zu seiner persona ist sein Verhältnis zu sich selbst, es rührt daher, daß er zwei Bestimmungen untersteht, der des Gesetzes und der der Gnade. In der Rechtfertigung wird die Bestimmtheit durch das Gesetz aufgehoben, vor Gott löst der Glaube den Menschen aus allen gesetzlichen Bindungen. Tritt Christus an die Stelle der menschlichen persona, so wird aus dem Verhältnis, das der Mensch zu sich selbst hat als zu dem, der unter dem Gesetz steht, das 236

283, 6f.

239

284, 3.

237

283,1 f.

238

283, 7.

285, 5. 240 288, if. Indem der persona-Begriff so auf den ganzen Menschen gerichtet ist, trägt er das Echtheitszeichen lutherschen Denkens; er eignet sich besser als das materia-forma-Schema zur Aussage dessen, was für Luther in der Rechtfertigung geschieht. Vgl. aber auch in Luthers Umprägung des Informationsschemas sein Drängen auf die Ganzheitsaussage: Christus ist nicht nur — wie die Charitas — die forma fidei, sondern eben damit in völliger Selbstverständlichkeit mea forma (283, 7). 241 285, 5 ff. 239

Luthers Entfaltung seines Rechtfertigungsverständnisses

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Verhältnis zu sich als zu dem, der im Glauben an die ihm in Christus begegnende Gnade dem Gesetz entnommen ist. Das Verhältnis zu Christus spielt an der gleichen innersten Stelle, an der der Mensch sich zu sich selbst verhält. Zur Beschreibung dessen, was sich hier vollzieht, kann Luther sich wieder nur einer an der Mystik gebildeten Sprache bedienen241: der Glaubende kann sich quasi Christus nennen, Christus und er sind ein Fleisch, ein Bein, es folgt das Bild von Mann und Frau, das durch die Innigkeit des Verhältnisses zwischen Christus und dem Glaubenden noch überboten wird. In der Vereinigung mit Christus vollzieht sich der selige Tausch: wie der Glaubende sich Christus nennen darf, so wird Christus zu dem Sünder, mit dem er sich verbindet. Doch wie Luthers Ausführungen über Christus als forma fidei von der Spannung zwischen unio- und Reputationsgedanke bestimmt waren, so laufen auch seine Äußerungen im Umkreis des persona-Begriffes nicht einfach auf die Vereinigung des Glaubenden mit Christus hinaus, sondern lassen die gleiche Spannung deutlich werden. Der Begriff der reputatio fällt zwar in diesem Zusammenhang nicht, durch den das Werk Christi mit in das Verhältnis des Glaubenden zu Christus als seiner forma einbezogen werden konnte, doch in der Beschreibung des Verhältnisses zu Christus wechseln die an die Mystik anklingenden Aussagen über die Vereinigung mit ihm, die sich im Fahrenlassen der eigenen persona vollzieht, mit anderen, die das gleiche Verhältnis als Absehen von der eigenen persona und Hinblicken auf Christus verdeutlichen: wenn ich auf mich sehe und Christus aus den Augen setze, »so bin ich dahin«, denn ich verliere den Christus aus den Augen, der mein Leben und meine Gerechtigkeit ist242. Seins- und Verhaltensaussagen des Menschen gehen unmittelbar ineinander über: der Mensch, der seine persona nicht betrachtet, ist keine von Christus getrennte persona, sondern Christus ist seine forma und damit das Leben, das er lebt243. Christus bleibt auch bei der engsten Vereinigung — conglutinatio, inhaesio fidei, quasi unum corpus in spiritu 244 — das Gegenüber des Glaubenden. Die Rechtfertigung gründet 242

282, 6 f f .

243

283, 3 ff.

244

284, 6 f.

104

Der Gedankenkreis der Rechtfertigung (1531)

sich deshalb nicht auf das Leben, das der Glaubende in der Vereinigung mit Christus führt, sondern allein auf das Werk Christi selbst246. »Qui dilexit me« (Gal. 2, 20): Ibi habes formam vel rationem iustificandi246, die nun mit traditionellen Wendungen in aller Buntheit angedeutet wird: Christus, der uns liebt, hat sich für uns gegeben247, er hat sich gegeben, um uns zu befreien, die Größe der menschlichen Sünde und des Zornes Gottes übersteigen jedes Maß einer dem Menschen möglichen Satisfaktion, die ganze Schöpfung hätte nicht ausgereicht, um Gott zu besänftigen, der Preis des Sohnes selbst war nötig, der Würde seiner Person wegen ist schon ein Tropfen seines Blutes kostbarer als die gesamte Schöpfung248; Christus opfert sich Gott für uns Sünder, um uns in Ewigkeit zu heiligen249, er ist der Priester, der zwischen Gott und dem Sünder steht250, ihre Beziehung zur Rechtfertigung des Menschen erhalten all diese Äußerungen als Beschreibung des Werkes Christi, den der Mensch im Glauben ergreift, der eins mit dem Menschen wird und dessen Werk deshalb im Gottesverhältnis an die Stelle der menschlichen Werke und Verdienste — merita de congruo so gut wie merita de condigno — tritt. Wer auf seine eigenen Werke blickt, hat Christus verloren, so ist Christus »hin weg«261, es hegt alles daran, festzuhalten, daß nicht der Mensch, sondern daß Christus den Anfang macht252. Wer selbst für seine Sünden genugtun und nicht durch das Opfer Christi gerettet werden will, weist Christus ab263, und wenn der Mensch den Weg zur Gerechtigkeit auch außerhalb der Gnade Christi finden kann, so ist Christus umsonst gestorben — Sed ehe das sol umb sonst seyn, velim, das legis et omnium Angelorum sanctitas Vor allen teufel were264! Das heißt: der Gedanke der Vereinigung des Menschen mit Christus in einer persona ist so gedacht, daß der Mensch durch sie Anteil am Heilswerk Christi erhält, auf Grund dessen Gott ihm die Gnade gibt, die er durch eigene Verdienste ver245

Zu den im Zuge der Auslegung von V. 19 hier zwischengefügten Ausführungen über die vita Christiana s. u. S. 285 f. 248 247 248 290, 13. 291, 4. 294, ioff., 295. 249 2 281 298, 3 f. 5« 299, 7f· 292, 5. 252 263 254 294, 6 ff. 301, 11 ff. 303, 8 ff.

Luthers Entfaltung seines Rechtfertigungsverständnisses

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geblich zu erringen suchte. Nicht in dem Werk, zu dem Christus durch seine Vereinigung mit dem Glaubenden den Menschen befreit, sondern in dem Werk, an dem der Glaubende durch seine Vereinigung mit Christus Anteil erhält, liegt die Bedeutung Christi für das Verhältnis des Menschen zu Gott. Der Gedankenkreis um die Beschreibung des Verhältnisses Christi zum Menschen durch den persona-Begriff zeigt die gleiche Spannung zwischen unio- und Reputationsgedanke wie der Gedankenkreis um die Deutung Christi als forma fidei.

d) Die Möglichkeit der Einordnung traditioneller Formulierungen in Luthers Gesamtbild vom Werke Christi Von diesem Gesamtverständnis des Werkes Christi her empfangen auch die von Luther übernommenen traditionellen Formulierungen ihre eigene Prägung. In den bisherigen Ausführungen wurde bereits deutlich, daß sich Luther 1531 in viel höherem Maße als 1519 traditioneller Wendungen und Bilder zur Umschreibung des Werkes Christi bedient. Christus gibt sich selbst zum Opfer, er leistet die notwendige Genugtuung, sein Verdienst tritt an die Stelle des menschlichen Verdienstes usw. Es wurde bereits angedeutet, daß diese Begrifflichkeit auch im scholastischen Lehrsystem zur Kennzeichnung des Werkes Christi dient, wir sahen jedoch auch, wie im engeren Bezirk der Rechtfertigungslehre die gleiche Begrifflichkeit außer zur Beschreibung des Werkes Christi auch in ihrer ursprünglichen Bedeutung, d. h. als Begrifflichkeit der Bußlehre, verwendet wird: zu dem Verdienst Christi muß das Verdienst des Menschen treten, die von Christus geleistete Genugtuung bedarf zur Ergänzung der genugtuenden Werke des Glaubenden, der Rechtfertigung und ewiges Leben begehrt 265 . Diese Doppelheit fällt bei Luther, satisfactio, sacrificium, meritum werden auch in der Darstellung des Rechtfertigungsverlaufes nur Christus zugeschrieben. Damit wandelt sich der Inhalt der Begriffe im Vergleich zur Tradition. Die im Rahmen der scholastischen Rechtfertigungslehre als Termini 488

s. o.

s. 93 ff.

106

Der Gedankenkreis der Rechtfertigung (1531)

der Bußlehre auftretenden Begriffe werden von Luther auf das Werk Christi übertragen, ohne daß die Bezogenheit auf den Menschen, die sie als Termini der Bußlehre haben, preisgegeben wird. Die satisfactio Christi ermöglicht nicht die satisfactio des Menschen, sondern schiebt sie beiseite, sein Verdienst ist nicht die Voraussetzung für ein verdienstliches Handeln des Glaubenden, sondern schließt es aus. Sein Werk wird so unmittelbar in die Existenz des Menschen hineininterpretiert, daß es an die Stelle des menschlichen Handelns tritt. Und zwar nicht nur ein für alle Mal als Faktum der Vergangenheit, sondern zugleich als gegenwärtiges Geschehen. Nur so ist es möglich, die Begriffe satisfactio, meritum, sacrificium ausschließlich auf das Werk Christi zu beziehen und zugleich ihren vollen Bedeutungsgehalt beizubehalten, d. h. die ihnen innewohnende Bezogenheit auf den Menschen nicht fahren zu lassen. Wo das Werk Christi nur als abgeschlossenes Faktum der Vergangenheit gesehen wird und der aneignende Glaube die Brücke von der satisfactio Christi zum Menschen schlagen soll, wird die ihm wesentliche Bezogenheit auf den Menschen aus dem Begriff der satisfactio herausgelöst und dem Glauben übertragen, der damit notwendig zum Werk wird. Die Reinheit des Glaubensbegriffes wie die Möglichkeit, die Begriffe meritum (sogar: de congruo!256), satisfactio usw. und nicht zuletzt den der iustitia formalis im vollen Umfange für das Werk Christi in Anspruch zu nehmen, hängt am Verständnis dieses Werkes als gegenwärtiges Handeln. Es ist daher nicht möglich, Luthers Aufnahme traditioneller Bilder und Beschreibungen gegen sein übriges Verständnis des Heilsgeschehens abzugrenzen. Sie empfangen ihre eigentümliche Prägung gerade erst von seiner Gesamtschau her, ja streng genommen ermöglicht ihm seine Gesamtkonzeption erst die Übernahme traditioneller Formulierungen — u. U. auch in großem Umfange — , ohne daß dadurch der Inhalt seiner theologischen Aussage selbst verschoben würde257. 251

. . . quod

(Christus)

pro peccatis satisfecerit

superabundanter . . . (232, iof.). 267

Weiteres s. u. S. 165 ff.

opere congrui

et

Luthers Entfaltung seines Rechtfertigungsverständnisses

107

e) Die gemeinsame Grundkonzeption in Luthers Verständnis des Werkes Christi von 1531 und 131g Das bisher gewonnene Bild des Werkes Christi, das sich uns aus der Betrachtung von Luthers Verwendung des forma- und persona-Gedankens ergeben hat, findet seine unmittelbare Bestätigung in der zweimaligen kurzen systematischen Beschreibung der Rechtfertigung, die Luther in Abgrenzung gegen das scholastische Verständnis der Rechtfertigung in seiner Auslegung zu Gal. 2, 16 gibt258. Der scholastischen Abfolge von meritum de congruo—• gratia gratificans — meritum de condigno — vita aeterna setzt Luther seine Abfolge von Gesetz und Evangelium entgegen. Durch das Gesetz soll der Mensch seine Schuld erkennen, er soll gewahr werden, daß er gegen Gott kämpft, soll singen(!) lernen »Tibi soli peccavi« (Ps. 51) und damit zur Demut und zur Einsicht in die Vergeblichkeit aller eigenen guten Werke kommen. Solches Hören des Gesetzes führt ihn zum Evangelium, denn: da ghet Timor dei an — Ibi ghet homo ad suspirium Mediatoris: Quis potest iuvare? Auf solches Verlangen hin wird dem Menschen das Wort des Evangeliums zuteil, genauer: kommt das heilbringende Wort — venit verbum! —, das ihm zuspricht: Glaube an Christus, er ist für deine Sünden gestorben, wenn du sie fühlst, wirf sie auf ihn259. Dies Kommen des Wortes, auf Grund dessen der Mensch nun gerechtfertigt wird, kann Luther ebenso als Kommen Christi selbst beschreiben; wenn das Gesetz den Menschen gedemütigt hat und der Mensch nach Rettung verlangt: Tum venit et revelat se vere. Dem gedemütigten und verzweifelnden Menschen gibt Christus sich zu erkennen — mit den Worten des ersten Gebotes: Ego sum deus tuus, ich will dich erretten, ich will dich beschenken, du brauchst nichts zu verdienen. Durch diese Anrede an den Menschen teilt Christus ihm seine Werke mit und verleiht ihm damit die divinitas260. Das heißt: in seiner Entfaltung der Rechtfertigungslehre setzt Luther das rechtfertigende Handeln Christi, in dem dieser dem Menschen 258

222 f., 230ff. 2«9 231 f. 2βο 224» 9ff.; vgl. 1519 die Bezeichnung dii für die Gerechtfertigten (W. 2, 464, 14; dort zit. Ps. 82, 6; s. o. S. 39).

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Der Gedankenkreis der Rechtfertigung (1531)

Anteil an seinem Werke gibt, mit dem Predigen und Hören des rechtfertigenden Wortes, das das Werk Christi zum Inhalt hat, parallel. Der Mensch wird gerechtfertigt durch den Glauben an das Wort, dessen Autor und Inhalt Christus ist. Beides kann nicht auseinandergerissen werden. Die Verkündigung der geschehenen Heilstat ist Teil des Werkes Christi selbst. Wir haben damit die gleiche Grundstruktur vor uns wie in den Aussagen über Rechtfertigung und Werk Christi im Kommentar von 15x9. Auch dort waren Luthers Ausführungen bestimmt durch die Aufeinanderbezogenheit der Gedanken der unio und der imputatio, die nicht gegeneinander isoliert werden durften, sondern in ihrer Spannung zueinander verstanden werden mußten. Wir hatten gesehen, daß die Zusammengehörigkeit beider Gedanken ein Verständnis des Heilswerkes Christi erkennen ließ, nach dem das sich in der Vergangenheit ereignete Heilsgeschehen seinen Abschluß und seine Erfüllung erst findet im gegenwärtigen Glauben, sodaß Sterben und Auferstehen Christi und Rechtfertigung des Glaubenden als einheitliches Handeln Christi begriffen werden konnten. Der gleiche Tatbestand läßt sich schon nach unseren bisherigen Ausführungen auch für 1531 feststellen. Die Verbindung beider Gedanken liegt auch hier im Glaubensbegriff: im Glauben vereinigt Christus sich mit dem Menschen, und in dieser Vereinigung vollzieht sich die Zueignung des Heilswerkes, das um dieser den Menschen rechtfertigenden Zueignung willen geschehen ist. Daß dieser Glaube keine menschliche Tat, sondern das Handeln Christi am Menschen ist, wird im Rahmen des Informationsschemas sehr deutlich: das Verständnis Christi als forma fidei bedeutet im Blick auf den Glauben, daß dieser primär kein Ergreifen Christi durch den Menschen ist, sondern wie die fides informis durch die Charitas erst durch Christus entbunden wird. J e häufiger Luther — außerhalb dieses Schemas — das Heilswerk Christi in traditionellen Wendungen beschreibt, desto häufiger erscheint der Glaube als die Haltung des Menschen, die dies geschehene Werk ergreift und es dem Menschen zueignet: der Glaube ergreift Christus als den Retter von der Schuld 261 ; wichtig allein ist, daß der Mensch vom Siege Christi 881

241, 7.

Luthers Entfaltung seines Rechtfertigungsverständnisses

109

über Sünde, Teufel und Hölle hört und diesen ohne Zweifel im Glauben ergreift262; der Glaube ergreift Christus, den Sohn Gottes, der für uns dahingegeben ist263 usw. Es bleibt jedoch im ganzen Zusammenhang immer deutlich, daß das Heilswerk Christi sich erst im Glauben vollendet: wenn ich Christus im Glauben ergreife, so hebt er das auf, was an Sünde und Tod in mir ist und nimmt es mit sich284; das Gesetz ist mir nur deshalb tot, weil ich glaube, daß Christus es gebunden hat: Christus . . . ligat meam legem et hoc credo. E r g o lex mihi ligata 265 ; nur in den Glaubenden ist es tot und gekreuzigt, abgesehen von ihnen leben Gesetz und Tod und regieren in der ganzen Welt 266 . In diesen und ähnlichen Äußerungen bringt Luther den paulinischen Gedanken zum Ausdruck, daß Christus vergeblich gestorben ist, wenn das Gesetz die Gerechtigkeit verschaffen kann (Gal. 2, 21). Wird das Werk Christi auf diese Weise in die Rechtfertigung einbezogen, so wird sein Handeln damit zugleich in die Gegenwart verlegt. Wie das Gesetz den Menschen immer wieder verklagt, so erficht Christus seinen Sieg immer von neuem. Greift das Gesetz den Menschen an, so spricht Christus: non damna 267 ; die Freiheit, zu der Christus den Menschen befreit hat, verbietet dem Gesetz, den Glaubenden zu binden: ligo tibi manus, lex, et captivo te, ut non captives etc. 268 ; das aber heißt, daß Christus die Sünde trägt und tötet 269 , daß er mir Gesetz, Teufel und Tod erwürgt und so den Satan zertritt 270 oder, positiv gewendet, mich in sich lebendig macht 271 . Dies ganze Geschehen vollzieht sich im Gewissen des Menschen272. Die Verlegung des Werkes Christi in die conscientia gibt erneut der unlöslichen Verbindung von Geschichte Christi und Rechtfertigung des Menschen Ausdruck. Der Mensch muß das Handeln Christi im Glauben ergreifen: sua morte tollit (peccata usw.), modo credo hoc verum 273 ; umgekehrt ist er im Glauben in die Geschichte Christi hineingegeben, ohne daß es noch einer besonderen Applikation bedürfte, um den Abstand zwischen damals und heute zu überwinden: Oportet . . . audire ista sie 262

274, 12.

288

297, 5 f .

294

284, i f .

286

281, I I ff.

288

282, i f .

287

274, 2f.

288

275, 8f.

28»

274, 8f.

270

276, gi.

271

278, 3.

272

270/1.

278

273, 8f.

110

Der Gedankenkreis der Rechtfertigung (1531)

g e r i et indubitata fide apprehendere274 — es heißt eben nicht: s i c g e s t a esse, wie Rörer diese Aussage in der Bearbeitung für den Druck korrigiert275. Ja, aus den Ausführungen des Paulus gewinnt der Glaubende die Zuversicht, daß Christus ihm der Henker des Gesetzes sein w i r d , dem er sonst ausgeliefert wäre: Christus e r i t mihi carnifex278. Das bisher Gesagte zeigt, in welchem Umfange die Konzeption von 1531 der von 1519 gleicht277. Die Zusammengehörigkeit von unio- und imputatio-Gedanke weist in beiden Fällen auf ein Verständnis des Werkes Christi als gegenwärtiges Handeln, das sich im rechtfertigenden Wort vollzieht. 1519 ließ es sich aufs deutlichste verfolgen, wie Luthers Zusammendenken des unio- und imputatio-Gedankens seinem Verständnis des Handelns Christi als Handeln im Wort Ausdruck gab. Wir sahen, wie sich diese Interpretation des Handelns Christi in den Rahmen der Rechtfertigungslehre einfügte, die als Vollzug des geistlichen Verstehens verstanden werden mußte. Die Spannung unio - imputatio war zu begreifen als Konsequenz des hermeneutischen Ansatzes in Luthers Verständnis der Rechtfertigung, sie ist die Frucht von Luthers Denken vom Wort her, in Hinsicht auf die Rechtfertigung wie auf das Werk Christi. 1531 treten die beiden Spannungspole plastischer hervor: die unio Christi mit dem Glaubenden wird reicher und rückhaltloser beschrieben, die Exegese zu Gal. 2, 16—21 gipfelt viel offen274

274, 12f.

278

279, 1. Die Zitate ließen sich aus dem Gesamttext beliebig ver-

276

275, I I .

mehren; hier sind nur Beispiele aus der Auslegung von Gal. 2, 19 angeführt. 277

Nur hinweisen möchte ich an dieser Stelle auf Bring, der die

Einheit der frühen und späten Aussagen Luthers über das Werk Christi betont: »Wenn Luther in den späteren Schriften besonders Christi Sieg über die Tyrannen betont, so ist dies im Hinblick auf das Motiv kein anderes Thema, als wenn er von Christi descensus ad inferos und der Gleichförmigkeit des Christen mit Christus spricht«; »Die Kampfbilder stellen . . . kein anderes Thema dar als der descensus ad inferos« (Bring, Das Verhältnis von Glauben und Werken in der lutherischen Theologie, S. i 7 3 f . Anm. 22). Brings Gedankengang verläuft, seiner Fragestellung entsprechend, anders als der hier entwickelte, gerade deshalb aber erscheint mir die Übereinstimmung im Ergebnis — inneren Einheit der lutherschen Position —

die Behauptung der

wichtig.

Rechtfertigung als Ansatz f. d. Verständnis des'Heilsgeschehens

111

sichtlicher in ihr als 1519, andererseits begegneten uns 1531 in der Deutung des Werkes Christi in weit höherem Maße traditionelle Formeln und Bilder als im Kommentar. Obwohl in beiden Fällen, besonders aber im zweiten, im Heranziehen traditioneller Wendungen, ein Unterschied zwischen Vorlesung und Kommentar nicht zu übersehen ist, wird die Struktur der Gesamtaussage durch die stärkere Betonung beider Pole weder verschoben noch gesprengt. Die beiden Gedankenkreise der unio und der imputatio sind 1531 ebenso eng aufeinander bezogen wie 1519. Das Gesamtverständnis, das in diesem Tatbestand zum Ausdruck kommt, bleibt das gleiche.

2. Die Rechtfertigung als Ansatz für Luthers Verständnis des Heilsgeschehens a) Das Werk Christi als Inhalt des rechtfertigenden Wortes

Als nächstes wäre zu fragen, ob Luther 1531 im Zuge der gleichen Gesamtkonzeption das rechtfertigende Handeln Christi auf die gleiche Weise entfaltet als Vollzug des geistlichen Verstehens, oder ob in der Art, in der er das Handeln Christi am Glaubenden beschreibt, eine Verschiebung zum Ausdruck kommt. Ehe wir uns jedoch dieser Frage zuwenden, muß noch eine andere aufgegriffen werden, die sich sowohl auf Luthers Sicht von 1519 als auch auf die von 1531 bezieht und die an dieser Stelle, an der wir uns über die gemeinsame Grundkonzeption beider Auslegungen klar geworden sind, zur Sprache kommen muß: die Frage nach dem Verständnis Christi als Urbild278. Indem wir das Werk Christi 1519 wie 1531 vom rechtfertigenden Wort her zu verstehen suchten, haben wir uns bereits implizit gegen das Verständnis Christi als Urbild abgegrenzt. Für unsere Texte kommt vor allem die Arbeit von Thimme in 278 y g i

dazu besonders Vogelsang, Die Anfänge von Luthers Christo-

logie, und: Der angefochtene Christus bei Luther;

Thimme,

Christi

Bedeutung für Luthers Glauben; E . Seeberg, Luthers Theologie, Bd. 2. Christus; kritisch dazu Beintker, Die Überwindung der Anfechtung bei Luther, bes. S. 152ff. Dort vor allem Auseinandersetzung mit Vogelsang.

112

Der Gedankenkreis der Rechtfertigung (1531)

Betracht, der das Problem der Bedeutung Christi vergleichend an Hand der Römer- und Hebräerbrief-Vorlesungen, der Galaterbrief-Vorlesung von 1531 und der Disputationen entwickelt. Die Frage soll deshalb in Auseinandersetzung mit ihm erörtert werden. Der Ansatz für Thimmes Untersuchung ist die Frage nach der Möglichkeit der Vergegenwärtigung des einmaligen geschichtlichen Heilsgeschehens, auf das Luther sich beruft, das aber andererseits für ihn auch im gegenwärtigen Glaubensleben des Menschen die entscheidende Rolle spielt. »Wie ist es möglich, daß das geschichtlich einmalige Faktum des Lebens Jesu — denn um dieses handelt es sich bei Luther — mit der göttlichen ewig-gegenwärtigen Gnade schlechthin in eins gesetzt werden kann, ja, daß in der Mehrzahl der Fälle nicht ihr, sondern ihm die alleinige Bedeutung für den Glauben zugemessen wird«279 ? Wenn Thimme sich auch bewußt ist, mit seiner Lösung nur eine Teilantwort zu geben, so ist sie für ihn doch ein Gedanke, der »an seinem Teil dazu beiträgt, Luthers Christologie als ganze zu erfassen«280. Er findet den Ansatz zu seiner Antwort in der engen Bezogenheit des Glaubens auf Christus und umgekehrt. »Der Glaube kommt von Christus, richtet sich auf Christus und besteht in Christus«281. Dieser Glaube, der »durch Christus bestimmt ist«, bildet für Thimme den »Ermöglichungsgrund« für das Verständnis Christi, der darin liegt, »daß zwischen Christus und dem Glauben eine Konformität besteht, die dem Gläubigen in Christus das ihn bestimmende göttliche Heil schlechthin begegnen läßt.« »Wie Christus, so verwirklicht sich auch die fides durch Kreuz und Tod hindurch, wie Christus, so führt auch sie ein vor der Welt verborgenes und angefochtenes Leben282« usw., sodaß der Glaubende »in Christus sein eigenes Geschick exemplarisch vorgebildet« findet283. Der Mensch erhält also deshalb durch den Glauben Anteil am Heilsgeschehen, weil er gerade im Glauben in das gleiche Geschick hineingegeben ist, das sich an Christus vollzogen hat. Nach Thimme findet bei Luther hier eine »sachliche Parallelisierung des im Gläubigen und in 281

Thimme, a. a. O., S. 71. Ib., S. 70. Ib., S. 71 f.

280 288

Ib., S. 71 Anm. 1. Ib., S. 73.

Rechtfertigung als Ansatz f. d. Verständnis des Heilsgeschehens

113

Christus wirksamen Geschicks« statt284, sodaß die Bedeutung Christi darin liegt, »daß er, an exponierter Stelle stehend, Tatsache und Besonderheit der göttlichen Heilswirksamkeit dem Glauben, und nur ihm, sichtbar manifestiert und so mit ihr schlechthin ineinsgesetzt werden und — vom Glauben aus gesehen — als Ursprung und Inhalt der Erlösung angesprochen werden kann und wird«286. Heilsgeschehen und Glaube sind damit durch die Funktion Christi als Urbild für das Geschick des Glaubenden — in Thimmes Terminologie: als exemplar — aneinandergekoppelt und aufeinander bezogen. Es ist selbstverständlich richtig, daß dem Menschen durch den rechtfertigenden Glauben ein Schicksal bereitet wird, das Luther als Sterben und neues Leben beschreiben kann und dessen Parallelisierung mit Tod und Auferstehung Christi auf der Hand hegt286. Wichtiger als diese Feststellung ist jedoch die Frage, ob Thimme mit dieser Konzeption des Werkes Christi in der Tat den Hauptgedanken der Christologie Luthers getroffen hat. Die Schwierigkeiten dieser Konzeption angesichts der Gesamtheit der Aussagen Luthers zeigen sich sofort. Da der Glaube für Thimme nicht im Ergreifen eines Tatbestandes besteht, sondern in die Gleichförmigkeit mit Christus führt, ist er gezwungen, Äußerungen Luthers, die sich diesem Rahmen nicht einfügen, als vereinseitigende Lehrbildungen zu verstehen, als Rückfall Luthers in im Grunde überwundene traditionelle Anschauungen, als Rückgriff auf formelhafte Wendungen und plastische Bilder, die von Thimme als sehr »massiv« empfunden werden und mit welchen Luther für ihn zu der »eigenen, durch die fides in ihren verschiedenen Bezügen zu charakterisierenden Grundhaltung« in Widerspruch gerät287. Er selbst kommt dadurch in die mißliche Lage, die Heilsbotschaft Christi gegen seine Heilsurbildlichkeit ausspielen und damit den weitaus überwiegenden Teil der Äußerungen Luthers in der Galatervorlesung288, die in wechselnden Bildern und Beschreibungen Christus als den Autor des Heils bezeichnen, als eine Weiterbildung ansehen zu müssen, die der Grund284 287

8

Ib., S. 73. Ib., S. 80.

Bornkamm, Galatelbrief

285 288

Ib., S. 74. Ib., S. 78.

286

Näheres dazu s. u. S. iaoff.

114

Der Gedankenkreis der Rechtfertigung (1531)

intention Luthers selbst nicht entspricht. Gegen solche A b weichungen und Weiterbildungen muß nach Thimme am Verständnis Christi als Urbild als der eigentlichen Intention Luthers festgehalten werden, in dieser Deutung des Verhältnisses des Glaubenden zu Christus liegt für ihn die Einheit der Aussagen des älteren Luther mit denen seiner früheren Schriften, in denen nach Thimme allerdings dies Grundverständnis sehr viel unmißverständlicher im Zentrum der Gedankenführung steht. Gegen diese vereinseitigende Sicht müssen jedoch die »massiven« Beschreibungen des Heilsgeschehens ernster genommen werden, als dies bei Thimme der Fall ist, und die Häufung der traditionellen Bilder und Formeln, auf die wir gerade in der Vorlesung von 1 5 3 1 stoßen, darf nicht einfach als letztlich unsachgemäße theologische Wucherung beiseitegeschoben werden. W i r sahen, daß diese traditionellen Wendungen durch ihre Einordnung in die Rechtfertigungslehre ihre Funktion und ihren Sinn erhalten, und daß von diesem Ansatz her die Einheit der Aussagen des jüngeren und des älteren Luther festgehalten werden kann. Sie ergibt sich zwangloser als vom Urbild-Gedanken aus, von dem her besonders Thimme die späteren Aussagen Luthers durch eine sehr kritische Akzentsetzung auf ihre Sachgemäßheit hin sichten zu müssen meint. Gegen die Deutung des Werkes Christi aus dem Urbildgedanken muß ein Verständnis seines Werkes vom rechtfertigenden W o r t her festgehalten werden. Das trifft mit dem Anliegen Beintkers zusammen, der es unternimmt, gegenüber einer »Urbild-Abbild-Theorie die Rechtfertigungslehre als die wirklich neue Mitte seiner (Luthers) Theologie wieder herauszustellen« 289 . 289

Beintker, Die Uberwindung der Anfechtung bei Luther, S. 159. —• Die Konzeption E. Seebergs unterscheidet sich insofern von der Thimmes, als er Christus bei Luther nicht nur als »Urbild«, sondern auch als »Wirklichkeit« versteht. Das heißt, er kennt ein zwischen Christus und Gott geschehenes einmaliges Versöhnungswerk Christi (das ist ein Aspekt dessen, was er »Wirklichkeit« nennt, s. E. Seeberg, Luthers Theologie, Bd. 2 Christus, S. 457ff.) außer der Funktion Christi, offenbarendes und schöpferisches Urbild für den Glaubenden zu sein. Er stellt diese Doppelheit — wenn auch mit sich verschiebender Nuancierung (dazu s. u. S. 125 Anm. 323) — für alle Perioden der Theologie Luthers fest (vgl.

Rechtfertigung als Ansatz f. d. Verständnis des Heilsgeschehens

115

Wir wenden uns der Hauptbelegstelle Thimmes zu, um das bisher Gesagte an Hand einer Interpretation zu verdeutlichen. Thimme greift als wichtigsten Beleg für seine Deutung aus dem Textabschnitt zu Gal. 2, 1 6 — 2 1 Luthers Auslegung zu Gal. 2, 1 9 — »ego sum Christo concrucifixus« — heraus und versucht, sich von hier aus den Zugang zu den Aussagen Luthers über Funktion und Werk Christi zu erschließen. E r zitiert a. a. O., S. 97: »Man sieht hier einigermaßen deutlich, wie eng mystische und positivistische Motive bei Luther verwoben sind, wie sehr die Theologie des jungen und des alten Luther — trotz aller Differenzen im Einzelnen — als Ganzes zusammengenommen werden kann«; weiter S. 3 6 ! ; 72f.; 84; 116; i97f.; 237t; 406!; 457ff.). E. Seebergs Konzeption ist also nicht so einseitig wie die Thimmes, da er auch »massive« Aussagen in ihr unterbringen kann, ohne Luther Inkonsequenz vorwerfen zu müssen. Sie führt jedoch insofern auch nicht aus dem Dilemma heraus, als er dies Nebeneinander zwar feststellt, Wirklichkeit und Idee jedoch so zueinander in Beziehung setzt, daß der Glaubende doch nur auf dem Wege über Christus als das Urbild seiner eigenen Existenz Anteil am Heil erhält. Die einmalige Versöhnungstat ist nach Seeberg bei Luther die Voraussetzung für das auf den Menschen gerichtete Erlösungshandeln Christi — beides faßt er zunächst unter den Begriff »Wirklichkeit«. »Noch einmal: Christus ist der Versöhner; er ist das wirklich; denn das, was zwischen Gott und Mensch geschieht, entscheidet sich dort, wo Menschenkraft und Menschenwille nicht hinreicht. Nur auf der Grundlage der Versöhnung Gottes schafft Christus die Erlösung. Ohne Versöhnung Gottes durch den Tod des Gottmenschen und durch sein stellvertretendes Strafleiden gibt es keine Erlösung, keine Sündenvergebung, keine Freiheit, kein Evangelium. Dann, aber erst dann schüttet Christus seine Gaben über die neue Menschheit aus . . .« (a. a. O., S. 460). Die Idee Christus — d. h. das Urbild — hat dagegen »dort ihre Stätte, wo Luther die Wirklichkeit des Christus-Schicksalsweges auf den Menschen anwendet« (S. 461). Als Urbild hat Christus umgestaltende, schöpferische Kraft. Im Grunde fällt dies mit dem, was Seeberg über das Erlösungshandeln Christi gesagt hat, zusammen, so formuliert er kurz darauf selbst: »Idee und Wirklichkeit gehen hier ineinander über.« (S. 463). Das heißt nichts anderes, als daß das Versöhnungswerk die dem Menschen letztlich unzugängliche Voraussetzung für seine Beziehung zu Christus ist, die sich praktisch in seiner Begegnung mit Christus als dem Urbild vollzieht. Vgl. nur den Schlußsatz des Buches: »Wer Gott in seinem Leben haben will, braucht dazu Christus, den Menschgewordenen, unser Urbild« (S. 464). In welchem Maße durch diese Sicht tatsächlich das rechtfertigende Wort aus dem Zentrum der Theologie gerückt ist, lassen die abschließenden Ausführungen Seebergs noch einmal mit aller Deutlichkeit erkennen. 8*

116

Der Gedankenkreis der Rechtfertigung (1531)

Luthers Exegese: »Si Christus est crucifixus legi, et ego. Per quid? per fidem. Sum crucifixus legi, nihil cum ea, quia ei crucifixus et econtra, quia commortuus Christo per ipsam gratiam et fidem. quando credo in ipsum, commorior et crucifigor legi . . ,289a« und findet in dieser und einigen anderen Stellen das Verständnis Luthers über Form und Ziel der Einigung des Menschen mit Christus: das Gleichgestaltetwerden mit dem Gekreuzigten. »Wie Christus, so verwirklicht sich auch die fides durch Kreuz und Tod hindurch.« (ib.) Mit dieser Deutung wird Thimme jedoch unserem Text nicht gerecht. Er übersieht, was sowohl aus den zitierten Sätzen Luthers wie vor allem aus dem ganzen Zusammenhang hervorgeht, daß das Mitgekreuzigtsein mit Christus, von dem hier die Rede ist, von Anfang an eindeutig als ein dem-Gesetz-gekreuzigt-Sein verstanden wird. Das »ego sum Christo concrucifixus« erhält seine Interpretation durch das unmittelbar vorangehende »ego autem per legem legi mortuus sum«, in dessen Auslegung Luther eine breite Darstellung des Werkes Christi als duellum mirabile gibt, in dem Christus Gesetz und Tod besiegt hat290. Das heißt: der Akzent der Gedankenführung liegt für Luther wie für Paulus weniger auf dem schmerzvollen Vorgang des Mitsterbens als vielmehr auf dem Totsein für das Gesetz, denn: sicut ipse mortuus legi, morti etc., sie tu per fidem concrucifigeris in spiritu291. Daß der Glaubende dem Gesetz gestorben ist, heißt, daß das Gesetz keine Möglichkeit mehr hat, ihn zu verklagen — lex amittit me!292 — , daß der Mensch in die Freiheit vom Gesetz versetzt ist. Daß dieses dem-Gesetz-gestorben-Sein, das dem Menschen im Glauben widerfährt, nicht notwendig als ein Gleichförmigwerden mit Christus verstanden zu werden braucht, zeigt schon die Unbefangenheit, mit der Luther erläuternde Bilder aneinanderreiht: der Christ ist ebenso frei vom Gesetz wie Christus vom Grabe, Petrus vom Kerker, Jairi Töchterlein von der Bahre 293 — die Auferstehung Christi erscheint als Bild neben anderen. Schon diese zwanglose Zusammenstellung der Vergleichsbeispiele läßt erkennen, daß es 289a

280, 4 f f . ; zit. Thimme, Christi Bedeutung für Luthers Glauben,

S. 71, Anm. 2. 291

280, gi.

280

Weiters dazu s. u. S. i 2 7 f f .

282

280, yi.

298

269, 5 f f .

Rechtfertigung als Ansatz f. d. Verständnis des Heilsgeschehens

117

sich für Luther im legi mori nicht notwendig um ein Geschehen handelt, das seine Prägung durch das Verständnis Christi als Urbild erfährt. Entscheidend ist die Teilhabe am Sieg. Der Glaubende, der Christus hat, kann das Gesetz zurückweisen: audio te legem murmurare, es mihi sicut vacuum sepulchrum294. Und auch wo Luther die Verbindung zwischen Glauben und Anteilhaben am Geschick Christi genauer formuliert, bleibt dies Freigewordensein der Inhalt: Sic, cum in Christo credimus, resurgimus cum illo et morimur nostro sepulchro i. e. legi 298 — doppelt deutlich in diesem Zitat, da das »dem-Gesetz-Sterben« erst die nachgestellte Umschreibung des »mit-Christus-Auferstehen« ist, so daß hier offensichtlich an ein geistliches Geschehen gedacht ist, dessen Vollzug im einzelnen dem Geschick Christi nicht notwendig parallel gesetzt zu werden braucht, obwohl es durch dieses verursacht und ermöglicht ist29®. 294

295 277, 1 1 . 270, 7 ff. 29« Vgl. auch die Reihenfolge der Aussagen: Cum in Christum credimus, resurgimus cum illo et morimur nostro sepulchro i. e. legi quae nos tenebat, evasimus eam et non habet ius accusandi me et retinendi, quia ego resurrexi (270, 8 ff.). — Die anderen von Thimme in diesem Zusammenhang angegebenen Belegstellen tragen seine Konzeption noch weniger: 1 . Thimme, a. a. O., S. 72 Anm. 1 . 2 : »Wie Christus in medio tenebrarum sedebat (Jes. 6, 1), so ist auch die fides quaedam cognitio quae nihil videt« (228, 1 5 ) : die tenebrae sind jedoch nicht auf das Leben Christi zu beziehen, sondern verdeutlichen das Glaubensverhältnis zu Christus als Vertrauen auf den, den der Glaubende nicht sieht. (Die biblische Belegstelle für das in medio tenebrarum sedere scheint mir eher 1. Kön. 8, 1 2 und 2. Chron. 6, 1 zu sein als der von Freitag angegebene Text Jes. 6, i f f . — Die von Thimme außerdem angegebene Stelle 365, 10 scheint ein Druckfehler zu sein). 2. Thimme, ib.: »Wie die Apostel, so hat auch Christus seine Anfechtungen: ita praeter externas tentationes etiam in corde habebant apostoli, ut Christus in horto« (637, 8): der Text bringt eine reine Parallelisierung zum Ausdruck, die zur Erläuterung keineswegs den Urbildgedanken erfordert. — 3. Thimme, ib.: »Wie Christus eine göttliche Natur im menschlichen Fleische trägt, so ist auch die fides mit den opera verbunden« — es folgen Luthers Ausführungen über die fides als die divinitas operum (417, 15) und die incarnatio der fides im Handeln (427, 1 ) : in beiden angegebenen Zusammenhängen sucht Luther das positive Verhältnis von Glauben und Handeln zu erläutern (dazu s . u . S. 3 i 6 f f . ) ; von einem »dauernden Neben- und Gegeneinander von Himmel und Erde, Gott und Mensch« (Thimme z. St.) ist hier gerade nicht die Rede. — 4. Thimme, a. a. O.,

118

Der Gedankenkreis der Rechtfertigung (1531)

Diese Beobachtung wird bestätigt in der Abgrenzung der concrucifixio gegen die imitatio, die Luther in seiner Auslegung zu Gal. 2, 20 vornimmt297. Sie ist in sich klar, steht nur merkwürdig unlogisch im Gesamtzusammenhang298. Die imitatio geschieht im Fleisch, für sie ist der gekreuzigte Christus das Beispiel, das auch die Glaubenden in die Nachfolge des Leidens ruft — Luther verweist auch hier, wie so oft in diesem Fragenkreis, auf 1. Petrus 2, 21 —, die Kreuzigung jedoch, von der hier die Rede ist, ist kein Stück der äußeren Leidensnachfolge, sondern sie ist sublimis, sie gilt Tod und Teufel. Jedoch nun bezeichnenderweise nicht so, wie man dem Zusammenhang nach erwartet und wie auch Thimme interpretiert: daß sie »gegen Tod und Teufel gerichtet« ist, sondern in Abbiegung des ursprünglichen Gedankenganges so, daß Tod und Teufel selbst die Getroffenen sind und als die Gekreuzigten erscheinen: loquitur de. . . sublimi. . . concrucifixione, ut crucifigatur diabolus, mors (nicht: diabolo, morti!)299. Diese Kreuzigung geschieht in Christus, nicht im Glaubenden, im Glauben erhält der Mensch jedoch Anteil an ihr und ist damit der Sünde gestorben und mit Christus gekreuzigt. S. 73: »Wie Christus, so lebt auch der Gläubige in der Richtung auf Gott und voll selbstloser Liebe gegen die Menschen«: die angeführte Stelle (650, 5ff.) verbietet aber gerade die Parallelisierung, da sie — wie die oben im Text behandelte Auslegung Luthers zu Gal. 2, 19 — den Glauben an das für uns geschehene Heilswerk einschließt und von hier aus zu den entscheidenden Aussagen über den Glaubenden kommt: Imago Christi, dei: ita sentire, affici, velle, intelligere, cogitare sicut Christus vel ipsum Christum. Est autem ista voluntas, spiritus Christi, quod mortuus pro peccatis nostris ad obedientiam patris. hoc credere est habere imaginem quam Christus (Sperrung von mir, B.) . . . istum volo in vobis formare, ut sitis affecti per omnia ut Christus. 297 280 ff. 298 Die Unterscheidung zwischen concrucifixio und imitatio ist an dieser Stelle klar durchgeführt. Daß Thimme meint, Luther bemühe sich hier um diese Unterscheidung, »ohne doch zu grundsätzlicher Klarheit durchzustoßen« (Thimme, a. a. O., S. 72 Anm.), liegt eben daran, daß er aus dem Zusammenhang eine Unterscheidung zwischen exemplar und exemplum herauslesen will, die Luther hier nicht trifft. (Vgl. dazu auch Ebeling, Evangelische Evangelienauslegung, S. 441). 299 281, 2ff.

Rechtfertigung als Ansatz f. d. Verständnis des Heilsgeschehens

119

Die logische Unstimmigkeit in der Auslegung dieses Verses, in der in fast unmerklichem Übergang als Subjekt des Gekreuzigtwerdens statt Christus bzw. dem Glaubenden Tod und Teufel erscheinen, findet unmittelbar anschließend zu Beginn der Interpretation des nächsten Verses ihre Erläuterung. Luther empfindet sie selbst, sucht sie jedoch nicht in seiner Exegese, sondern im Text des Paulus. Dieser spricht für ihn in V. 19 um der Antithetik zu V. 20 willen — »vivo autem« — von einem Mitgekreuzigtsein des Glaubenden, so daß wir nach Luther hier zwar eine der Logik des Ganzen widersprechende, aber echt paulinische Redeweise vor uns haben — das sind Paulinae phrases 300 — : gerade im Sterben erfährt der Glaubende das Leben, gerade in der Kreuzigung die Auferstehung — deshalb spricht Paulus vom Gekreuzigtwerden des Glaubenden, obwohl doch vielmehr das Gesetz gekreuzigt wird: sie dicendum, ut sit iueundior locutio 301 . Diese Bemerkung zeigt, daß für Luther der Gedanke des Gleichgestaltetwerdens mit Christus in der T a t in den Zusammenhang seiner Rechtfertigungsanschauung gehört, doch wird zugleich deutlich, daß er nicht zum einzigen Interpretationsprinzip erhoben werden darf. Im gleichen Abschnitt kommt die Intention, die für Luther den Zusammenhang beherrscht, erneut zum Ausdruck. Luther erläutert die Art der Zusammengehörigkeit von Kreuz und Auferstehung für den Glaubenden: die Kreuzigung, durch die ich dem Gesetz sterbe, ist eine Auferstehung, denn Christus tötet meinen Tod, kreuzigt den Teufel und bindet mein Gesetz —• et hoc credo. So ist das Gesetz mir tot und umgekehrt ich ihm 302 . Der Ton liegt nicht darauf, daß der Glaubende mit Christus getötet wird, sondern daß Christus das Gesetz für ihn getötet hat und daß er im Glauben daran Anteil erhält. Die Vorstellung von der Einigung des Glaubenden mit Christus wird also nicht primär von dem Gedanken der Gleichförmigkeit getragen, sondern wird interpretiert als Zueignung des Sieges Christi über Gesetz, Teufel, Tod und Zorn Gottes an den Menschen, dem im Glauben diese Einigung mit Christus zuteil wird. Die zentrale Bedeutung, die Luther Christus im 300

282, 2.

301

281,15.

302

2 8 1 , 1 1 ff.

120

Der Gedankenkreis der Rechtfertigung (1531)

Rechtfertigungsgeschehen zuschreibt, begreift sich nicht aus seiner Funktion als Urbild. Erst dies Ergebnis zeigt, wie tief sich Luther in seinem Denken von der Tradition der scholastischen wie der mystischen Frömmigkeit unterscheidet, trotz der freien und unbedenklichen Verwendung der mystischen Sprache und ihrer Bilder und trotz der Verwendung des scholastischen Informationsschemas, dessen Interpretation auf Christus als die forma des Glaubenden ohne weiteres den Weg zu mystischen Gedanken freigegeben hätte. Nach dieser Seite hin aber ist die Vorstellung von Christus als dem Urbild gefährdet. Beintker hat recht, wenn er betont, daß ein Verständnis Christi als Urbild des Glaubenden »keine deutliche Abgrenzung der von der Rechtfertigungslehre her bestimmten Christologie Luthers gegen die Gnadenlehre seiner Zeit« sei303.

b) Das Sterben des natürlichen Menschen als Frucht des Hörens Das Verständnis Christi als Urbild widerspricht dem worthaften Charakter, den das Heilsgeschehen auf Grund seiner Bindung in das Rechtfertigungsgeschehen für Luther hat. Das wird am deutlichsten sichtbar an Luthers Exegese zu Gal. 3, 6: »Abraham credidit deo, et reputatum est illi ad iustitiam«. Diese Auslegung enthält eine Thimmes Deutung entgegenstehende Darstellung der Rechtfertigung — reputatio! — und gibt doch zugleich, aufs nachdrücklichste dem Gedanken Raum, den Thimme in seiner Darstellung bei Luther herausarbeiten und zur Geltung bringen möchte. Thimmes Interesse am exemplar-Gedanken erklärt sich aus seiner Ablehnung eines »Heilsmechanismus«, der ihm mit dem Gedanken der Heilsautorschaft Christi verbunden zu sein scheint304. Zwar ist Luther ihm nicht verfallen, denn er vergißt nie, »diesen scheinbar mechanischen Prozeß der Heilserwerbung durch die Bedingung der fides einzuschränken«305, trotzdem führt »die Betonung der Heilsurheberschaft Christi, auch wenn 303

Beintker, Die Überwindung der Anfechtung bei Luther, S. 156.

804

Thimme, Christi Bedeutung für Luthers Glauben, S. 33, 99, 103.

305

Thimme, a. a. O., S. 103.

Rechtfertigung als Ansatz f. d. Verständnis des Heilsgeschehens

121

Luther sie nicht aus der gegenwärtigen Glaubenssituation herausgelöst sein läßt, dennoch zu Konsequenzen, die sich mit seinen ursprünglichen Gedanken nicht vertragen« 308 , denn hier »wird Luther gezwungen . . ., das Korrelationsverhältnis von Glaube und Gnade in ein Kausalverhältnis zu verwandeln und diese außerhalb unser selbst wirkende Gnade, um die freilich nur der Glaube weiß, in dem gesetzerfüllenden Leben Jesu begründet zu sehen« 307 . Im Gegensatz zu einer »mechanischen« Aneignung des Heiles als eines vorgegebenen T a t bestandes soll der Urbildgedanke die Wahrheit festhalten, daß Gott wie an Christus so auch unmittelbar am Glaubenden selbst tötend und lebendigmachend handelt. Dieser Gedanke, daß der Glaubende in der Rechtfertigung selbst in den Tod gegeben wird, also nicht ohne ein Geschehen an sich selbst, allein auf Grund des ohne eigenes Betroffensein ergriffenen Sterbens Christi — das hieße in Thimmes Sprache »mechanisch« — Anteil am Leben erhält, darf mit der Ablehnung des Urbildgedankens als Erklärungsprinzip der lutherschen Christologie nicht preisgegeben werden. E r klang in den bisher betrachteten Texten bereits mit an und findet in Luthers Auslegung zu Gal. 3, 6 seine besondere Ausprägung. In der Beschreibung Abrahams geht es Luther neben der Betonung der reputatio vor allem um die Lebensbewegung, in die der Glaubende herangezogen wird. Allerdings wird diese Lebensbewegung hier nicht als Sterben und Lebendigwerden des Menschen beschrieben, sondern als ein Abgetötetwerden seiner ratio durch den Glauben. Luther versteht den Glauben, um dessentwillen Abraham von Gott als gerecht angesehen wurde, als ein deo gloriam dare 308 , als ein reddere (deo) quod debet 3 0 9 , d. h. als ein Aufgeben aller eigenen Gerechtigkeit, mit der der Mensch den Zorn Gottes besänftigen und sich ihm gegenüber behaupten will. W e r dagegen auf seine eigenen Werke baut, macht sich selbst zum Gott 3 1 0 . E s ist der 806

Thimme, a. a. O., S. ioif. 807 Thimme, a. a. O., S. 103. Diese Sätze zu den Disputationen treffen für Thimme in der gleichen Weise auf die Galatervorlesung zu; vgl. a. a. O., S. 161 ff. 308 309 810 360, 2. 361, 1. 363, 6f.

122

Der Gedankenkreis der Rechtfertigung (1531)

Glaubensbegriff der iustificatio passiva, mit dem Luther hier die vom Text her als reputatio zu interpretierende Rechtfertigung Abrahams auslegt. Die Quelle aller Werkgerechtigkeit, die diesen rechtfertigenden Glauben immer wieder verhindert, ist die menschliche ratio, die den Menschen zu überzeugen sucht, daß die Wahrheit Gottes mit ihrer Auffassung des Verhältnisses zwischen Gott und Mensch zusammenfallen müsse: dicit . . . quae ipsa eligit, placent deo. Das aber hieße, die göttliche Majestät mit der ratio messen311. Darum ist die ratio der fons fontium omnium malorum, der schlimmste Feind Gottes, denn sie enthält ihm seine Ehre vor. Weder Abraham noch sonst eine Kreatur vermochte gegen sie anzugehen, das konnte allein der Glaube an die Verheißung Gottes, daß Sara trotz ihrer 90 Jahre noch einen Sohn gebären würde. Dieser Glaube überwältigt und tötet die ratio und mit ihr Haß, Unglauben, Verachtung Gottes, Auflehnung gegen seinen Zorn312. Er bringt Gott damit das höchste Opfer dar und gibt ihm allein die Ehre, indem er glaubt, daß er alles vermag und daß seine Werke wahr und heilig sind, und gesteht ihm so alle Gottheit zu 313 . Durch den Glauben ist jeder Christ höchster Priester, er tötet ständig seine ratio, die ihn auf seine eigenen Werke vertrauen heißt, und bringt Gott damit das tägliche Morgen- und Abendopfer. Es gilt das Gesetz: quantum est fidei, tantum sacrificii314. Wie kund man doch Christianum hominem hoher loben 315 ? Was Luther hier als Töten der ratio durch den Glauben beschreibt, ist sachlich das Gleiche wie das Sterben des natürlichen Menschen. Abraham, der seine ratio nicht töten kann, sondern dessen ratio vom Glauben besiegt werden muß, ist offensichtlich Abraham als natürlicher Mensch, und den Kampf des Glaubens gegen die ratio erfährt er als seinen Kampf mit sich selbst: istam luctam habuit cum seipso31®. So ist hier in der Tat von einem Sterben des Menschen die Rede, in das er durch Gott geführt wird. Sachlich entspricht der Gegensatz ratio - fides dem Gegensatz des Vertrauens auf die eigenen Werke zum Vertrauen auf Gott. Dieser Gegensatz wird in doppelter Weise inhaltlich ent311 315

361, 9 ff. 369, 9f.

312 318

365, 5ff. 362, 3.

313

363, iff.

311

369, 5.

Rechtfertigung als Ansatz f. d. Verständnis des Heilsgeschehens

123

faltet. Einmal für Abraham: der Glaube, dem er seine ratio opfert, richtet sich auf die Verheißung Gottes, daß er aus dem schon erstorbenen Leib Saras einen Sohn erhalten solle. Ein törichtes, lächerliches Wort! 317 Indem Abraham ihm glaubt, tötet er seine ratio, und Gott rechnet ihm den Glauben zur Gerechtigkeit. Zum andern für den Christen: Gott spricht auch hier töricht und gegen alle Vernunft: qui vult me placare, credat meum filium natum, passum, wer das glaubt, wird gerecht sein318. Daß der Mensch sein Vertrauen auf den Sohn Gottes setzen soll, der ins Fleisch gekommen ist, gelitten hat und gestorben ist, ist eine ebenso törichte und lächerliche Zumutung wie die Glaubensforderung an Abraham. Für die ratio enthält die Rede Gottes nur impossibilia, mendacia, stulta, infirma, abhominanda, heretica, diabolica319. Und ebenso wie für Abraham so ist auch für die Christen der Glaube an diese törichte Verkündigung die Gerechtigkeit, die Gott an ihm sucht: Christiana iustitia coram deo est credere in filium. Sic Abraham in semen320. Das Töten der ratio durch den Glauben, das Opfer, das der Christ als sein eigener Priester Gott darbringt — sie Christianus est in quotidiano sacrificio321 — , vollzieht sich im Annehmen der Botschaft von der Geburt, dem Leiden und Sterben Christi, um dessentwillen Gott die Sünde vergeben will. Christus begegnet uns in diesem Zusammenhang als Autor des Heils, der durch sein Leiden und Sterben die Vergebung der Sünden ermöglicht hat. Das Sterben des natürlichen Menschen wird nicht beschrieben als Gleichgestaltetwerden mit Christus — hier wäre immer zu fragen, auf welchem Wege diese Gleichförmigkeit erreicht wird! — , sondern sie vollzieht sich im Hören der Verkündigung der durch Christus gewirkten Erlösung. Das Schicksal des Glaubenden in der Begegnung mit dieser Botschaft erwächst aus dem Widerspruch der Forderung des Glaubens an die in Christus erschienene Gnade Gottes zu dem rechnenden Vertrauen auf die eigenen Werke, das dem Menschen eigentümlich ist, d. h. durch das glaubende Hören der Botschaft vom Tode Christi wird der Mensch nun seinerseits in das Sterben geführt, ohne daß in diesem Zusammenhang ausdrücklich eine 317 320

361, 5. 366, 6f.

318 321

365/6. 361, 6f. 369, 9.

319

361, 2f.

124

Der Gedankenkreis der Rechtfertigung (1531)

ursächliche Verbindung hergestellt würde. Das schließt selbstverständlich eine Parallelisierung des Schicksals des Glaubenden mit dem Schicksal Christi nicht aus. Wir sahen bereits zu Gal. 2, 19, daß Luther ebenso wie Paulus die Begriffe crucifixio und resurrectio für die Geschichte des Glaubenden verwendet, der Gedanke der Gleichheit mit Christus ist hier deutlich hinter den Ausführungen zu erkennen: In moriendo, crucifigendo vivo . . . quia ilia mors qua morior legi, est mihi vita. Ilia crucifixio qua morior legi, est resurrectio322. Trotzdem bleibt der grundsätzliche Unterschied zwischen dem Schicksal Christi und dem des Glaubenden deutlich sichtbar. Er besteht nicht einfach darin, daß Christus das Urbild ist, in das der Glaubende nach und nach durch das wie auf Christus so auch auf ihn gerichtete Heilshandeln Gottes hingestaltet werden soll, sondern er liegt — sehr viel prinzipieller — darin, daß Christus den Sieg erlangt hat, dessen Zueignung für den Glaubenden nun seinerseits mit dem Sterben verbunden ist, weil das Empfangen eines außerhalb seiner selbst durch Christus erwirkten Heiles den Tod seiner Selbstherrlichkeit und Selbstgerechtigkeit bedeutet. Damit — als Inhalt des rechtfertigenden Wortes —- ist dann auch der bildhaftesten und mythologischsten Beschreibung des Heilswerkes Christi Raum in den Aussagen zur Christologie wie zur Rechtfertigung gegeben, ohne daß ein Widerspruch zu Luthers Grundkonzeption konstatiert werden müßte. Indem die Heilstat Christi in den Rahmen der Rechtfertigungslehre eingefügt wird, treffen die beiden Linien aufeinander, die durch den Urbildgedanken nicht zusammengefaßt werden konnten: das Verständnis des Glaubensinhaltes als eines außerhalb des Menschen geschehenen Werkes Christi und die Parallelisierung des Glaubenden mit der Geschichte Christi, in der die Art und Weise des göttlichen Handelns mit dem Menschen offenbar geworden ist. Damit ist gleichsam eine doppelte Bezogenheit des Glaubens auf das Heilsgeschehen gegeben. Das Rechtfertigungsgeschehen ist der Rahmen, der für den Glaubenden ein Sterben und Auferstehen enthält, der von Luther natürlich sowohl als allein durch das Werk Christi ermöglicht gedacht wird als auch im 822 281, gff.; s. o. S. 119.

Rechtfertigung als Ansatz f. d. Verständnis des Heilsgeschehens

125

Vollzuge vom Ablauf der Geschichte Christi bestimmt verstanden ist, der aber doch tragend und selbständig genug ist, dem Glaubenden ein Sterben und Auferstehen zu bereiten, das ihm hier nun nicht im Blick auf den Vorgang der Geschichte Christi, sondern als Frucht des gepredigten Heilsgeschehens widerfährt. Das Heilsgeschehen hat damit abgesehen von seiner — man kann hier ruhig sagen: urbildhaften — Bedeutung sozusagen noch einmal seinen Platz innerhalb des als Rechtfertigung verstandenen Geschehensablaufes, in den der Mensch durch den Glauben gerät. Die Begegnung des Glaubenden mit der Heilstat Christi ist eine doppelte: einmal begegnet er ihr als dem sachlichen Gehalt der Verkündigung, die im Zuge des Rechtfertigungsgeschehens an ihn ergeht, zum andern begreift er die Geschichte Jesu Christi als Interpretation für das Geschehen, das durch die Begegnung mit dieser Verkündigung in seiner eigenen Existenz ausgelöst wird. So sind Tod und Auferstehung Christi Urbild für das durch die Verkündigung sich vollziehende Handeln Gottes am Menschen und Inhalt dieser Verkündigung in einem. Innerhalb dieser. Doppelheit vermag sich wohl der Akzent — je nach dem, was betont werden soll — etwas zu verschieben, sie darf aber nicht durch eine einseitige Betrachtungsweise verdrängt werden, die das Verständnis für die andere Seite dieses Tatbestandes erschwert oder gar unmöglich macht. Daß wir für Luthers Verständnis des Werkes Christi in seinem Kommentar 1519 ohne Rückgriff auf das Erklärungsprinzip des Urbildes ausgekommen sind, zeigt deutlich, daß eine solche Akzentverschiebung nicht einfach auf frühere und spätere Schriften Luthers verteilt werden darf. Auch 1519 ist Christus »Autor« des Heils323. 323 v g l auch Beintker für die Operationes in Psalmos, der E. Seeberg sachlich korrigiert, indem er die bloße Dialektik — in der Anfechtung die Freude, in der Verzweiflung das Leben usf. —, die dieser erst in den späteren Schriften Luthers überwunden sieht (Seeberg, Luthers Theologie, Bd. 2 Christus, S. 409), schon für Luthers frühe Schriften widerlegt: »Durch die E r h ö r u n g in der Trübsal und nicht durch Trübsal an sich lernt der Mensch, wie gut die Trübsal und der Herr sei«, vgl. dazu das Zitat: Tentati enim et liberati cognoscunt, quam bonus sit dominus, tentati autem et derelicti . . . non cognoscunt (W. 5, S. 609, 5; zit. Beintker a. a. O., S. 157). So gilt: »Uberwindung der Anfechtung . . .

126

Der Gedankenkreis der Rechtfertigung (1531)

Wie unauflöslich diese beiden Funktionen Christi zusammengehören, mag noch einmal ein Blick auf Luthers Ausführungen zur reputatio zeigen. Der Paulustext — »Abraham credidit deo et reputatum est illi ad iustitiam« (Gal. 3, 6) — gibt den Glauben als Grund der Zurechnung der Gerechtigkeit an. So bestimmen die Formulierungen propter fidem 324 , quia fidis 325 , quia credis326 das Bild. Doch wie 1519 dient auch hier gerade die Begründung propter fidem dazu, den Menschen von sich selbst fort auf Christus zu weisen, denn der Glaube rechtfertigt eben deshalb, weil er sich auf den verläßt, den Gott ihm vor Augen gestellt hat 327 und den ergreift, den Gott gesandt hat 328 ; um dieses obiectum willen, das der Glaubende faßt, gefällt er Gott 329 . Deshalb kann der Grund der Nichtzurechnung der Schuld — die reputatio wird von Luther an dieser Stelle meist so gefaßt — außer propter fidem auch heißen: non propter te . . . sed Christum in quem credis330, oder aber, am Anfang einer neuen Kollegstunde zusammenfassend und genau: propter fidem in Christum et propter Christum 331 . Wir finden die gleiche Aufeinanderbezogenheit und wechselseitige Interpretation von fides und Christus, die wir schon von 1519 her kennen 332 . Die Aussagen liegen in der Akzentuierung völlig im Gleichgewicht. Der breiten Entfaltung des Glaubens als Haltung, die Gott die Ehre gibt und ihn damit allein Gott sein läßt, entspricht die bildhaft-gegenständliche Beschreibung der stellvertretenden Rolle Christi: wer an Christus glaubt, hat über sich eine Zimmerdecke, die Vergebung der Sünden, sodaß Gott seine Schuld nicht sehen kann, er lebt hinter dem Vorhang des Fleisches Christi (Hebr. 10, 20), er ist durch die Feuersäule geschützt, sodaß Gott die Sünden nicht gewahr wird 333 . Luther hält an geschieht nur durch den Glauben, der sich auf Christi schlechterdings einmaliges Werk gründet, nicht durch ein Gleichgestaltetwerden an sich« (a. a. O., S. 154/5); »Der Rechtfertigungsglaube überwindet die Anfechtung, nicht das Wissen von der conformitas mit Christus als

Nachge-

staltung nach dem Urbild« (a. a. O., S. 155 Anm. 2); »So wie an Christus handelt Gott nicht an uns« (a. a. O., S. 157).

324

364, 8; 367, 2.6.

325

367, 10; ähnlich 364, 4; 366, 10; 371, 4.6.

828

368, 6; 369, 6.

327

367, 1.

830

368, 7 f ; 372, 6.

3.

328

370, 7.

332 s. 0- s

329

371, I i .

äsi

370>

333

367, 2 ff. Das letztgenannte Bild setzt sich offenbar zusammen

74f-

aus E x . 13, 2 1 : Wolken- und Feuersäule; Nu. 9, i 5 f f . : nachts eine feurige

Das Einbeziehen des Glaubenden in die Geschichte Christi

127

der Zueinandergehörigkeit beider Aussagen gegen Einwände seiner theologischen Gegner fest, denen die Überwindung des Zornes Gottes durch den Glauben an Christus zu billig erscheint: Non est pura reputatio, sed involvit ipsam fidem et apprehensionem Christi passi pro nobis, q u a e n o n l e v i s res 334 , d. h. das Hören des Wortes, das den für uns gestorbenen Christus predigt, ist nur möglich in der Form des sacrificium, in das der Glaube führt. Diese doppelte Bezogenheit des Glaubens auf Christus und seine Geschichte bei Luther ist erneut ein Zeichen dafür, in welcher Ausschließlichkeit Christus und das Wort für ihn zusammenfallen. Christus, der aus dem Hören des Wortes lebte, erlitt in diesem Hören die Geschichte seines Sterbens und Auferstehens und zieht uns in diese Geschichte hinein, indem er mit seiner Geschichte zum Wort an uns wird, das uns in ein Leben führen will, das im Hören auf dieses — man könnte sagen: durch das Hören Christi für uns entstandene —- Wort besteht. Der Glaubende erleidet im Hören des Wortes die gleiche Geschichte wie Christus, weil sich das Handeln Gottes mit dem Menschen als Töten und Lebendigmachen abspielt. Im Unterschied zur Geschichte Christi sind für den hörenden Menschen jedoch Christus und sein Schicksal selbst das Wort, das an ihn ergeht und das ihn, wenn er es hörend aufnimmt, in diese gleiche Geschichte hineinzieht335.

II. D I E T E I L H A B E D E S G L A U B E N D E N A M H E I L S G E S C H E H E N

i. Das Einbeziehen des Glaubenden in die Geschichte Christi a) Luthers Schilderung des Werkes Christi als duellum mirabile Wir waren ausgegangen von Luthers Darstellung der Rechtfertigung und hatten von ihr her den Zugang zu Luthers Deutung des Werkes Christi gesucht. Alle bisher angeführten ÄußeWolke über der Stiftshütte; Ps. 105, 39: Expandit nubem in protectionem eorum; x. Kor. 10, 1: patres nostri omnes sub nube fuerunt — als Bild der Taufe. 335

Zum

334

372, 8f.

Verhältnis

dieser

Geschichte,

in die

der

Glaubende

Hörender gerät, zur Geschichte Christi selbst vgl. das folgende.

als

128

Der Gedankenkreis der Rechtfertigung (1531)

rangen stehen im Zuge von Luthers Entfaltung der Rechtfertigungslehre, es liegt daher nahe, sie von hier aus zu interpretieren. Doch 1531 gibt Luther — in weit höherem Maße als 1519 — in einigen Abschnitten seiner Exegese eine eingehende Auslegung des Heilsgeschehens, die nicht von vornherein in den Rahmen einer Darstellung der Rechtfertigungslehre eingespannt ist. An diesen Ausführungen, die sich thematisch auf das Werk Christi und nicht auf die Rechtfertigungslehre konzentrieren, muß sich unser bisher gewonnenes Verständnis des Werkes Christi als worthaftes Geschehen bewähren. Ein Motiv tritt in Luthers Interpretation in besonderer Weise in den Vordergrund: das des Kampfes Christi gegen die Verderbensmächte. Schon in Luthers bereits ζ. T. angeführter Auslegung zu Gal. 2, 19 spielt es die beherrschende Rolle. Die paulinische Formulierung wird Luther zum Anlaß der Deutung Christi als lex legis — eine Wendung, an der sich Luthers ganze Freude am bildhaften sprachlichen Ausdruck entzündet, der in seiner Neuartigkeit und Kühnheit der Kühnheit des gedachten Gedankens am ehesten entspricht336. In Analogie zu Hos. 13, 14 »Ero mors tua, ο mors« usw. ist Christus ihm lex legis, captivitas captivitatis, infernus inferni, peccatum peccati337 — Formulierungen, die in ihrer Paradoxie die Uberwindung der genannten Mächte durch Christus zum Ausdruck bringen. Das Gesetz tötet und verdammt, gegen dies verdammende Gesetz hat der Glaubende jedoch ein anderes Gesetz, das das verdammende Gesetz nun selbst verdammt338. Zwar hätte Paulus hier von der Freiheit reden können, in die Christus den Glaubenden versetzt und in der das Gesetz überwunden ist, doch: ,Ego sum per legem legi mortuus' laut feiner quam, per libertatem', hetzt 1 legem an das ander339. Ist ein seer schon phrasis!340. Der Gedanke des Kampfes Christi gegen die Mächte des Verderbens, den Luther mit offensichtlicher Freude beschreibt, ist verbunden mit dem der Stellvertretung. Der Sieg über die Sünde ist um unsertwillen geschehen: Christus, der die Sünde über33β Vgl. auch Holl, der anläßlich einer ähnlichen Wendung — »der wunderliche Krieg« — von einem »Lieblingsausdruck Luthers« spricht 337 (Ges. Aufs., Bd. 1, S. 70). 267, i f . 338

267,4.

339

27 8 » i ° f -

840

266/7.

Das Einbeziehen des Glaubenden in die Geschichte Christi

129

wältigt hat, trägt auf seinen Schultern die Sünden der ganzen Welt 341 , er tötete die Sünde in seinem Leibe342, für den Menschen kommt es darauf an, dies Geschehen im Glauben zu hören343. Diese Gedanken, die in Luthers Auslegung zu Gal. 2, 19, also thematisch im Rahmen seiner Darstellung der Rechtfertigungslehre, zur Sprache kommen, finden ihre genauere Interpretation dort, wo Luther genötigt wird, das Heilsgeschehen ohne Einordnung in diesen durch den Text selbst vorgegebenen Rahmen zu entfalten. Anlaß dazu sind die paulinischen Deutungen des Werkes Christi durch Paulus »Christus nos redemit de maledicto legis, factus pro nobis maledictum« (Gal. 3, 13) 344 und »misit Deus filium suum . . . factum sub lege, ut eos qui sub lege erant, redimeret« (Gal. 4, 4f.) 345 . In beiden Abschnitten schildert Luther das Werk Christi als duellum mirabile, in dem Christus Teufel, Sünde und Tod überwunden hat. E r beschreibt es in großartiger dichterischer Sprache. Ein Gegensatzpaar gleitet in das andere über: die Sünde, die als Gegenspieler Christi personifiziert wird, tritt zum Kampf an gegen die ewige Gerechtigkeit, der Tod sucht an Christus seine Macht zu erweisen und wird vom Leben bezwungen, der Fluch, der als Ausfluß des Zornes Gottes über der ganzen Erde hegt, will auch Christus verdammen, wird aber überwunden von der ewigen Barmherzigkeit, dem ewigen Segen, der in Christus wohnt. Keine der angreifenden Mächte kann den Sieg erringen, die Gerechtigkeit, das Leben, die Barmherzigkeit behalten das Feld. Der Gedanke des betrogenen Teufels klingt mit auf, die Sünde hat den Heiligen nicht erkannt, er konnte nicht überwunden werden, denn sonst wäre Gott selbst überwunden worden. Der Sieg über Sünde, Tod und Zorn ist der Sieg Gottes346. Und ähnlich heißt es zu Gal.4, 4 ! : Christus ,der sich freiwillig dem Gesetz unterstellt hat, wird wie wir von diesem angegriffen, verklagt und verurteilt, es bedrängt ihn, sodaß ihm der Schweiß wie Blutstropfen ausbricht (Luk. 24, 44: Bedrängnis durch die lex! 347 ) — doch im Kampf bleibt Christus Sieger und erficht die mirabilis victoria, denn das 341 345

9

273,4. 564, ff.

342 349

Borakamm, Galaterbrief

274,9. 439 f.

343 347

344 274, 12. 432ff. S. auch 567,7.

130

Der Gedankenkreis der Rechtfertigung (1531)

Gesetz hat kein Recht an ihn. Dicit Christus: Vos, lex, maxima tyranna, Regina super omnes homines, quid feci, quod non accusatis, damnatis ? Ergo halt den hals her ! 348 Der erfochtene Sieg gilt für alle Zeiten, denn die Sünde des Gesetzes, die es an Christus begangen hat, ist unvergebbar, es ist zum ewigen Tode verdammt349. Dieser uns schon bekannte Gedanke des Kampfes aber ist hier in eine umfassende Deutung des Heilsgeschehens eingeschlossen. Voraussetzung dieses Kampfes ist die Menschwerdung Christi. Als Herr des Gesetzes hätte er mühelos siegen können, doch: Er hat sich geschlossen in eundem carcerem, tyrannidem, servitutem legis350; um der Menschen willen, die dem Gesetz unterworfen sind, »hab ichs potentiam ei vincirt: lies mich pavefirn, occidere, damnare . . .«3δ1. Dies »propter vos« heißt im Abschnitt zu Gal. 3, 13 non pro sua persona sed mea und wird dahingehend erläutert, daß Christus dem Glaubenden seine eigene unschuldige persona schenkt, durch welche dieser nun vom Fluch des Gesetzes befreit ist362. Das duellum mirabile wird also mit Hilfe des uns bereits bekannten persona-Begriffes als Kampf beschrieben, den Christus für den Menschen erfochten hat. Christus ist in personam meam getretten et mich auff sein hals genomen et dixit: ego feci peccatum, quod fecit Martinus353. Die Verwendung des persona-Begriffs wird in diesem Zusammenhang von Luther ausführlicher als in unseren bisher betrachteten Abschnitten begründet und über den bisherigen Rahmen hinaus erweitert. Luther setzt mit seiner ganzen Interpretation zu Gal. 3, 13 ein bei dem Begriff des maledictum, das er wie schon 1519 im Gegensatz zu Hieronymus versteht — dieser »reist den text, das sünd et schand«364 — als wirklichen, von Gott über Christus verhängten Fluch. Dieser Fluch Gottes gilt nach alttestamentlichem, von Paulus aufgegriffenem Verständnis jedem, der am Holze hängt, das aber heißt: er gilt Schuldigen und Räubern. So kann er auch Christus nur treffen, wenn dieser zu den Räubern und Sündern zählt365, um ihn 348

349 350 351 564 f. 566,4. 566, ι f. 565, 7f. 353 354 443, 5f. 442/3. 432, 6; vgl. W . 2, 516, 38ff. 356 Denn: quomodo potest Christus dici maledictus dei, qui suspensus in ligno, cum non fuerit latro ? (433, if.). 362

Das Einbeziehen des Glaubenden in die Geschichte Christi

131

zu erleiden, muß Christus also zum Räuber usw. werden 356 . Luther denkt hier diesen Gedanken von der Inkarnation im wörtlichen Sinne: Christus hat Fleisch und Blut angenommen, die zu Recht dem Fluche unterstehen, damit aber hat er sich hineingegeben in Sünde, Tod und alle Strafen — ideo submersus in omnia 357 . Die Tatsache der Fleischwerdung enthält bereits das ganze weitere Schicksal Christi in sich, denn in ihr ist die Gleichheit seiner Situation mit der Situation aller Menschen unter dem Gesetz gegeben, eine Gleichheit, die Luther so realistisch durchdenkt, daß er Psalmworte wie: »Domine miserere mei, sana animam meam, quia peccavi tibi« (Ps. 4 1 , 5) oder »Deus tu scis insipientiam meam« (Ps. 69, 6) Christus ebenso selbstverständlich in den Mund legt wie andere Worte des Psalters 358 . Christus ist zwar selbst ohne Sünde, wurde aber als Mensch ein Sünder und hat so alle Sünden begangen: non quod ipse, sed commiserit in suum corpus 359 , das aber heißt als der, der die persona der Sünder angenommen hat 3 8 0 . Hier erhält der persona-Begriff seine christologische Wendung. Daß Christus die menschliche persona angenommen hat, heißt, daß er als Fleischgewordener seine eigene persona noch nicht trägt (non iam gerit personam suam) 361 . Erst nach seiner Auferstehung ist er von Sünde und Tod und der larva mea befreit 362 . Denn Christus ist nicht in divinitate geboren, sondern als Sünder 363 . Damit schlägt Luther die Brücke zur Zweinaturenlehre und gibt dieser zugleich seine unerhört kühne Interpretation, die sich im Vorhergehenden bereits abzeichnete: daß Christus Mensch wird, heißt, daß er zum Sünder wird 364 . Damit ist bereits in Luthers Verständnis der Zweinaturenlehre die Voraussetzung und die Notwendigkeit für das von ihm als Inhalt des Werkes Christi beschriebene duellum mirabile gegeben. In Christus selbst prallen die höchsten Gegensätze aufeinander 365 , denn in ihm, der als Mensch peccator ist, wohnt 358

357 358 369 433, 6. 434, 3f. 435, 8ff. 433, 10. 381 435/6. 433, 8. 382 443, 9 ff. Uber die Entsprechung von persona und larva s. o. S. 14. 363 ioof., 365. 433, 9. 364 So schon in der ersten Psalmenvorlesung, vgl. dazu Vogelsang, 365 Die Anfänge von Luthers Christologie, S. 176 ff. 438, 10. 8,0

9*

Der Gedankenkreis der Rechtfertigung (1531)

132

zugleich die aeterna iustitia3®6. So spielt sich der Kampf mit dem Gesetz, Teufel und Tod, die ihr Anrecht auf Christus als Sünder geltend machen, in seiner eigenen persona ab 367 . Er siegt in der Kraft seiner Gottheit, denn wer in seiner eigenen persona das Gesetz besiegt, muß Gott sein. Also ist Christus der Sohn Gottes 368 . Gesetz und Tod in sich selbst zerstören heißt, in sich selbst Leben geben: dare vitam in seipso, das mus divinitas; Annihilare et creare est divinae maiestatis 369 . Hätte der Fluch gesiegt, so wäre Gott besiegt worden 370 . Die Aussage in Kol. 2, 15, daß Christus aus den Gewaltigen einen Triumph »in sich selbst« (in seipso) gemacht hat, ist für Luther die deutlichste Interpretation der Zweinaturenlehre: Nam ,vincere peccatum in seipso' gehört her zu, quando ,homo' (dicitur). ergo oportet sit verus deus 371 . b) Luthers Lehrbildung von Christus als der maxima persona Das Entscheidende an diesem Siege ist jedoch, daß Christus ihn nicht für sich erfochten hat, sondern für uns, denn er ist nicht für sich selbst, sondern für uns zum Fluch geworden — emphasis in: nobis372, Ideo sthets allein auff dem vocabulo: ,yper ymon' 373 . Diesen Aspekt bezieht Luther in einer sehr eigentümlichen Lehrbildung unmittelbar mit in den bisher angedeuteten Gedankenkreis ein. Bereits durch die Unterscheidung von Christi eigener persona und der von ihm angenommenen menschlichen ist der Ansatz für den Gedanken der Stellvertretung in der Beschreibung des Werkes Christi selbst gegeben; daß die Inkarnation für uns geschah, kommt in der Betonung der Übernahme einer ihm fremden persona durch Christus zum Ausdruck. Luther schöpft jedoch die sich 366

439»

J



E t hoc factum sine armis, proelio, sed in ipsa unica persona (440, 6f.). Der Begriff der persona gleitet leicht von seiner spezifischen Bedeutung als Bezeichnung der larva und facies des Menschen über zur allgemeinen Bezeichnung des Menschen; persona meint hier einfach 369 441,5t. 370 440,5. 368 569, 5ff. die Person Christi. 371 441, 3 ff. Luther wendet sich an dieser Stelle gegen Arius. 367

372

433. 4·

373

448. 2.

Das Einbeziehen des Glaubenden in die Geschichte Christi

133

ihm hier bietende Möglichkeit der Interpretation des Werkes Christi voll aus und vollzieht den Schritt hin zu der Formulierung, daß die Inkarnation Christi nicht nur die Annahme einer menschlichen persona sei, sondern daß sich hier die Übernahme der persona omnium peccatorum vollziehe374, daß Christus die persona omnium latronum trage 376 , daß seine Aussendung geschehen sei durch den Befehl des Vaters, die persona aller Menschen zu werden und damit aller Sünden zu begehen376. Damit wird Christus durch seine Menschwerdung zum Schuldigen der Sünden aller377, zum omnium maximus latro, blasphemus, sacrilegus, fur, er hat eille unsere Sünden begangen378, ergo reus factus omnium rerum379, so daß das Gesetz nun aller Sünden in ihm trifft. Deshalb ist der Kampf Christi gegen Gesetz und Sünde so tödlich, denn in Christus stößt die maxima iustitia mit dem maximum peccatum zusammen, oder, übergleitend in ein etwas anderes Bild, in der maxima persona läuft die Sünde als die maxima persona in mundo, die ihrerseits alle Könige, Heiligen usw. vereint, gegen die ewige Gerechtigkeit an und will nun auch Christus verschlingen380. Lex venit: Invenio peccata omnium hominum in illo; hin mit yhm und gekreuzigt! Durch den Kampf und Sieg des einen Menschen Christus ist darum nun die ganze Welt von Sünde und Tod befreit 381 . Deshalb gibt es dort, wo Christus mit seinen Gläubigen regiert, keinen Tod mehr382. Luther betont die Notwendigkeit des Glaubens auch in diesem Zusammenhang — wie so oft — mit dem Hinweis auf das pro nobis. Ideo sthets allein auff dem vocabulo yper ymon383. Im Gedankenkreis der »maxima persona« dient dieser Hinweis im Grunde nur als nochmalige Verdeutlichung, er bringt kein neues gedankliches Element hinzu, sondern formuliert nur noch einmal, was in der Beschreibung des Werkes Christi selbst mit Hilfe des Begriffes der maxima persona ohnehin schon gesagt ist: daß zu diesem Werk die Anteilgabe an den Glaubenden gehört. Das kommt sehr deutlich darin zum Ausdruck, daß Luther der Betonung des »für uns« die falsche scholastische 174 878 882

435/6433. 7ff· 440, 10.

375 379 383

433, 5. 436, I. 448, 2.

376 380

437, 7ff. 439, iff.

377 381

435, 2f. 437/8.

134

Der Gedankenkreis der Rechtfertigung (1531)

Lehre gegenüberstellt, die Christus betrachtet, ohne die Bezogenheit zum glaubenden Menschen zu beachten, die nichts von dem »für uns« weiß, sondern — und diese Wendung ist für uns aufschlußreich — ihn zu einer privata persona macht384. Sicher ist er, wie jeder Mensch, auch für Luther eine Person für sich — doch nicht darum wird er Christus genannt, sondern wenn dem Menschen diese innocentissima persona geschenkt wird, da ghet Christus an386. Als Antithese zu privata persona könnte Luther ebensogut wie das pro nobis die Begriffsbildung der maxima persona verwenden. Die merkwürdige Lehrbildung von Christus als der maxima persona, die alle Menschen in sich schließt, weil Christus durch seine Menschwerdung die Sünden aller auf sich lädt, ist im Grunde nichts anderes als die in die begriffliche Fassung des Werkes Christi selbst verwandelte Formulierung der Aussage, die in der üblichen theologischen Entfaltung mit der Betonung des pro nobis gemacht werden soll. Das Verständnis Christi als persona omnium peccatorum bringt als christologisch gewandte Formulierung zum Ausdruck, daß die Teilhabe des Menschen an dem damals stattgefundenen Geschehen nicht als eigener zweiter Akt zu dem Vollzuge dieses Geschehens hinzutritt, sondern daß dies Geschehen selbst die Anteilgabe an den Menschen umschließt. Von Christi Sieg über Sünde, Tod, Gesetz und Zorn Gottes kann durch Luthers Begriffsbildung der maxima persona nicht gesprochen werden, ohne daß der Mensch vom ersten Augenblick — d. h. von der Menschwerdung Christi — an teilhabend mit einbezogen ist. Das Erringen des Sieges und die Anteilgabe an den Menschen sind in ein Geschehen zusammengeschlossen, die Beziehung Christi zum Menschen wird mit dem Begriff der maxima persona so interpretiert, daß das Werk Christi mit der Zueignung an den Menschen in eins fällt. Der Mensch ist beteiligt auf Grund seiner Vereinigung mit Christus, die im persona-Begriff zum Ausdruck gebracht ist — 384

448, 3f.; vgl. als Illustration etwa den Lombarden: (Christus) meruit quidem membris redemptionem a diabolo, a peccato . . . Sed et sibi meruit impassibilitatis et immortalitatis gloriam . . . Humilitas ergo passionis meritum fuit exaltationis, et exaltatio praemium humili385 tatis (Sent. 1. 3 d. 18 c. 1). 448, 5ft.

Das Einbeziehen des Glaubenden in die Geschichte Christi

135

doch auch hier nicht einfach in dem Sinne, daß damit das Schicksal Christi zu seinem eigenen würde, sondern so, daß er in "das Geschehen selbst einbezogen ist als einer, für den gehandelt wird. Der Gedanke der Stellvertretung ist aufs engste mit dem Gedanken des Kampfes verbunden. Christus ist es, der in der persona, die er trägt, Sünde und T o d überwindet (oder anders gewendet: seine Gottheit ist es, die die Mächte, die sich an ihm auf Grund seiner Menschheit vergreifen, überwältigt). Zugespitzt gesagt: das Einbezogensein in das Heilsgeschehen bedeutet für den Menschen nicht T o d und Leben, sondern Leben, er erfährt die T a t Christi nicht als Anfechtung und ihr folgende Errettung, sondern eindeutig als Hilfe gegen Angriffe, die — wenn er ihnen ausgesetzt ist — nicht aus seiner Zugehörigkeit zur maxima persona Christus herrühren, sondern kraft dieser Zugehörigkeit überwunden werden 3 8 8 . In seiner Beschreibung der Heilstat Christi als dem duellum mirabile der maxima persona scheint mir Luther dem Verständnis des Werkes Christi, dem er in so vielfältiger Weise Ausdruck zu geben versucht, begrifflich am nächsten gekommen zu sein. Sein Verständnis des Handelns Christi, das die Teilgabe an den Menschen umschließt, und des Verhältnisses Christi zum Glaubenden, das in der Stellvertretung Christi besteht, ist hier in einer einzigen, die Heilstat Christi selbst beschreibenden Aussage zusammengefaßt. Mit anderen Worten: der mit der Bezeichnung Christi als maxima persona angedeutete Aussagekomplex schließt den Gedanken der unio wie den der imputatio in sich und bringt damit die gedankliche Struktur, die den verschiedenen Aussagen Luthers zu diesem Fragenkreis zugrunde hegt, klar zum Ausdruck.

c) Die stärkere Zusammenschau von Rechtfertigung des Menschen und Geschichte Christi im Vergleich zu 151g Suchen wir für diese Geschlossenheit der Aussageform eine Entsprechung in Luthers Kommentar von 1 5 1 9 , so stoßen wir dort auf das »hoc est quod Christus nobis meruit, seil, praesee Vgl o. S. 125 Anm. 323!

Der Gedankenkreis der Rechtfertigung (1519)

136

dicari nomen domini« als die Formulierung, die dem, was er zum Ausdruck bringen will, wohl am nächsten kommt387. Die Verschiedenheit beider Aussageweisen hegt auf der Hand. Indem Luther 1519 den traditionellen Begriff des meritum Christi als praedicatio nominis domini faßt, beschreibt er das als historisches Ereignis der Vergangenheit angehörende Heilsgeschehen mit den Kategorien des gegenwärtigen Geschehens des Predigens und Hörens. Damit wird der Ansatz seines Denkens im hermeneutischen Fragenbereich gewahrt, der das Gesicht des ganzen Kommentars von 1519 so einheitlich prägt. 1531 fehlen die die Auslegung von 151g tragenden Begriffe litera et spiritus, die Sprache Luthers ist reicher und originaler. So wird das Werk Christi 1531 nicht mit Begriffen aus dem Bereich des Hörens und Verstehens beschrieben, in dem es in der Gegenwart erfahren wird, sondern es wird in bildhafter Sprache geschildert, die dies Geschehen vornehmlich als einmal geschehene Heilstat Christi im Auge hat, in das der Mensch durch das Verständnis Christi als maxima persona mit einbezogen wird. Der wesentliche Gehalt der Aussage ist damit nicht verschoben — wir hatten uns die strukturelle Gleichheit deutlich gemacht —, doch der Glaubende wird in Luthers Sprache von 1531 in stärkerer Weise mit in die Geschichte Christi selbst hineingenommen. Die bildhaft-mythologische Aussageform, die in strengem Sinne weder an die Gegenwart noch die Vergangenheit gebunden ist, erleichtert das Ineinssetzen von gegenwärtigem und vergangenem Geschehen. Der Mensch erfährt Kampf und Sieg Christi in gegenwärtiger Bedrängnis als gegenwärtige Hilfe. Wir sahen bereits bei der Darstellung des Rechtfertigungsgeschehens, wie eng Luther dieses mit der Geschichte Christi ineinandersieht388. Das Gleiche zeigen Äußerungen, in denen Aussagen beider Komplexe miteinander vermischt sind: der Glaubensschritt hin zu Christus ist die Abkehr vom Vertrauen auf die eigenen Werke; wird er vollzogen, so beginnt die Geschichte Christi. Nicht nur so, daß er durch unsern Glauben zu uns, die wir nach dem Fleisch gegen alle Gebote Christi ver887 w

2>

34f.; s. o. S. 71.

388

S. o. S. iogf.

Das Einbeziehen des Glaubenden in die Geschichte Christi

137

stoßen, kommt 388 , wie ja auch in Luthers Darstellung der Rechtfertigung das Kommen des Wortes mit dem Kommen Christi ineinsgesetzt wurde 390 , sondern: wo uns die innocentissima persona Christi gegeben wird, da ghet Christus an 391 , denn: ex meis operibus wird nicht Christus392. Rechtfertigung und Heilsgeschehen fallen so in eins, daß die Beschreibungen jeweils ineinander übergehen. Ohne gleich schematisieren zu wollen, kann man doch im Vergleich der Darstellungen von 1 5 1 9 und 1 5 3 1 eine Akzentverschiebung dahingehend feststellen, daß in der Fassung von 1 5 1 9 das Heilsgeschehen stärker in die Gegenwart, 1 5 3 1 die Gegenwart stärker in das Heilsgeschehen hineininterpretiert wird. 1 5 3 1 muß der umfassende Rahmen nicht wie 15x9 die Rechtfertigung des Menschen sein, von dem her die Brücke zur Heilstat Christi durch ein pro nobis oder ein propter bzw. per Christum geschlagen wird, sondern umgekehrt kann 1 5 3 1 das Heilsgeschehen selbst als der Rahmen dienen, innerhalb dessen die Rechtfertigung des Menschen beschrieben wird. In beiden Fällen sind im Heilsgeschehen Gegenwart und Vergangenheit zusammengeschlossen, doch die Begrifflichkeit hat sich, aufs Ganze gesehen, vom hermeneutischen zum christologischen Aussagenbereich verschoben. Das zeigt sich besonders eindrucksvoll, wenn wir uns die beiden Auslegungen Luthers zu Gal. 2, 19 — Ego enim per legem legi mortuus sum — noch einmal zusammenfassend vor Augen führen. Im Blick auf den Kommentar von 1 5 1 9 wurde uns vor allem an der Exegese dieses Verses der Übergang von der systematischen zur hermeneutischen Verwendung der Begriffe litera und spiritus sichtbar. Luther traf in seiner Interpretation die Unterscheidung zweier Gesetzesbegriffe, die er exegetisch mit Rm. 8, 2 belegte — spiritus vitae und lex mortis et peccati, die für ihn sachlich auf 389

567, 10. »venit« muß präsentisch verstanden werden, trotz des folgenden Perfekts »et factus ut nos«. Das Nebeneinander zeigt gerade die Zusammengehörigkeit beider Zeiten! Luther ist im Gebrauch der Tempora völlig sorglos. Interessant der Druck: Nam secundum carnem quotidie adhuc contra omnia praecepta dei peccamus. Sed Paulus bene nos sperare iubet, cum inquit: »Deus misit filium suum« usw. (567, 33ff.). Hier weist Paulus den Menschen also auf das vergangene Heilsgeschehen 390 391 392 hin. S. o. S. 98. 448, 5ff. 446, 1 1 .

138

Der Gedankenkreis der Rechtfertigung (1531)

den Gegensatz von zwei Verstehensweisen — lex spiritus und lex literae bzw. einfach spiritus und litera — hinwies. Jede dieser Verstehensweisen schließt die andere aus. Per legem legi mori heißt hier, durch das geistliche Verstehen der Schrift dem buchstäblichen Verständnis gestorben zu sein, das aber bedeutet, als Gerechtfertigter in der unio mit Christus zu leben393. In der Vorlesung von 1531 enthält die Auslegung des gleichen Verses eine der ausführlichen Schilderungen des Werkes Christi als duellum mirabile. Christus ist es, der bildhaft lex genannt wird und das Gesetz besiegt, den Tod tötet und durch diesen Sieg den Menschen, dessen Sünde er durch seine Menschwerdung auf sich genommen hatte, vom Gesetz befreit, d. h. ihn kraft der Einheit, die zwischen Christus und dem Menschen besteht, rechtfertigt 394 . In beiden Auslegungen wird sachlich das gleiche ausgesagt — einmal in einseitig hermeneutischer, das andere Mal in einseitig christologischer Sprache. Von einer Verschiebung im Denkansatz kann trotz der verschiedenen Ausdrucksweise nicht die Rede sein. Unser Befund läßt die tiefe Verflochtenheit erkennen, in der für Luther die hermeneutische und die christologische Frage miteinander stehen, deren Ansatz wir bereits in seiner tropologischen Deutung der Auferstehung Christi zu Beginn des Kommentars von 1519 vor uns hatten 395 , wenn auch eine Akzent Verlagerung nicht zu übersehen ist. 2. Das Heilsgeschehen als gegenwärtige Selbstoffenbarung Gottes a) Das Verhältnis von Christus und Gott in Luthers Auslegung der Grußformel In den bisher behandelten Texten — der Beschreibung des duellum mirabile — waren lex, mors, peccatum, diabolus, ira dei unterschiedslos als angreifende Gegenmächte nebeneinandergesetzt, die von Christus überwunden wurden. Das scheinbare Gegeneinander von Christus und Gott wird jedoch schon in der Beschreibung des Kampfes selbst durchbrochen, der sich in Christus als der maxima persona abspielt, so daß sich 393

W . 2, 498ff.; s. o. S. 44ff.

998

S. u. S. 2 i f f .

394

W . 40 I 266 ff.; s. o. S. 127 ff·

Das Heilsgeschehen als gegenwärtige Selbstoffenbarung Gottes

139

bereits die Frage nach der Einheit des Gottesbildes selbst ergibt, ohne jedoch in diesem Zusammenhang besonders betont zu werden. Die Kraft der Überwindung der anfechtenden Mächte wird der Kraft Gottes zugeschrieben, die in Christus wirksam ist: lex, mors, ira (!) ut destruerentur, mus divina potentia sein396. Der Fluch, den der Segen in Christus übermochte, ist der Ausdruck der ira dei über der ganzen Welt. Doch er mußte weichen: quia si benedictio in Christo possit vinci, tum deus vinceretur397 u. a. Gott selbst ist also auf beiden Seiten im Spiel. Damit ist das Problem gestellt. Hilfe zur Beantwortung der hier aufbrechenden Frage nach der Einheit des Gottesbildes und seinem Verhältnis zu den anfechtenden Mächten finden wir in Luthers ausführlicher Exegese der Grußformel. Hier wird die Frage nach dem Heilsgeschehen, das sich in Christus ereignet, ausdrücklich bis in den Gottesbegriff hinein vorangetrieben. Wir müssen für unseren Gedankengang den Abschnitt als ganzen heranziehen398. 1531 benutzt Luther die Grußformel Gal. 1, 3—5 zu einem in sich abgerundeten christologischen Exkurs. Grundlage und Hilfe ist ihm das Schema der Zweinaturenlehre, Christus als homo und deus. Die Einbettung in die Frage der Anfechtung und Rechtfertigung ist bereits durch den voraufgehenden Friedensgruß gratia vobis et pax gegeben, denn wie 1519 sind diese beiden Begriffe, die für Luther den ganzen christlichen Glauben ausmachen, auf die Rechtfertigung bezogen: gratia remittit peccata, pax quietat conscientiam. Sünde und Gewissen aber sind unsere beiden Teufel, die Christus für dies wie das künftige Leben überwand. Im Gegensatz zur menschlichen Philosophie, die nichts von der Überwindung des Todes und des anklagenden Gewissens weiß, setzt die christliche Botschaft 399 den Menschen instand, Sünde und Tod zu besiegen400; wenn gratia und pax da sind, wird der Mensch stark, Sünde (!) und Kreuz zu tragen und in der wirksamen Kraft des Todes Christi über alle Bedrängnisse, ja den Tod selbst zu herrschen. Die efficacia in victoria mortis Christi beginnt, wenn Gnade und Friede gegeben sind401. Die Sendung Christi richtet 398 400

441, 5. 73, i f f .

397 401

440, 5. 75, 3ff.

398

72ff.

399

= doctrinal; dazu s. u. S. 208ff.

140

Der Gedankenkreis der Rechtfertigung ( 1 5 3 1 )

sich gegen Welt, Gesetz und Teufel. Luther spitzt diese Äußerungen jedoch nun von Anfang an zu auf das Gottesbild. Er begreift die Sendung Christi von seinem Gegensatz gegen das unmittelbare, rational einsichtige Gottesverhältnis her, das jeder Gesetzesfrömmigkeit zugrunde liegt und das um seiner Einsichtigkeit willen keines Mittlers bedarf, da es sich auf die jedem ohne weiteres verständliche und offenstehende Ordnung von Leistung und Lohn gründet. Hier ist kein Unterschied zwischen Papst und Türken, Juden und Schwärmern: Quotquot sunt, amoliuntur mediatorem de medio402 — sie alle leben nicht im Gegenüber des Mittlers, sondern des deus ipse, sie dringen mit ihrer Frömmigkeit unmittelbar vor bis zur göttlichen Autorität selbst, die in Gerechtigkeit vergilt, ohne daß sie dessen innewerden, daß diese Begegnung mit der Majestät Gottes für die Sicht der Bibel (Ex. 33, 20) dem Menschen schon rein körperlich nicht »leydüch« ist — taceo menti !403. Die Kluft zwischen Mensch und Gott ist zu tief, als daß sie einfach ohne Überbrückung übersprungen werden könnte, denn vor der Majestät Gottes ist der Mensch dessen vollem prüfenden und richtenden Anspruch preisgegeben. Hier erwächst die Bedrängnis durch Sünde, Gesetz und Tod. Dem Unterfangen des Menschen, auf Grund berechneter Leistung zu Gott vordringen zu können, setzt Luther die Offenbarung Gottes entgegen. Nur wo Gott selbst sich binden lassen will, kann er wirklich als der, der er ist, gefunden werden, statt das Gottesverhältnis auf die eigenen speculationes maiestatis zu gründen, gilt es, beim offenbarenden Handeln Gottes zu beginnen: incipe ibi, ubi incepit: in utero matris »factus homo et factus«404, et prohibe sensum speculationis405. Luther führt es aus: im Kind in der Krippe, das an der Brust der Mutter liegt, im heranwachsenden Knaben und im sterbenden Manne Jesus will Gott gefunden und erkannt sein40®. An diesen Menschen sollen wir uns hängen, ihn umfassen, mit ganzem Herzen an ihm bleiben407, denn darum wollte Gott geboren werden, daß er uns so deutlich wie möglich vor Augen träte und daß wir die Augen unseres Herzens 402 404 407

403 76, 6t. 76, 1 ; dazu s. u. S. 148 Anm. 426. 406 406 E r g . : sub lege; zit. Gal. 4, 4. 76, 10. 79, i 2 f . 77, 2 f.

Das Heilsgeschehen als gegenwärtige Selbstoffenbarung Gottes

141

fest auf ihn heften sollten408, allen eigenen Gedankengebilden und Spekulationen absagen und nichts tun als diesen einen ergreifen, der sagt:, halt dich an mich409. Kein anderer Gott geht uns etwas an, auf keinen anderen brauchen wir zu blicken, wenn wir uns an diesen hängen und ihn annehmen, den deus incarnatus und humanus deus410. Ja, gegründet auf die Offenbarung in Christus gewinnt Luther die Kühnheit, dem deus ipse der Gesetzesfrömmigkeit die klare Absage entgegenzustellen: nos excludimus eum —·, reposito mediatore411. In Christus findet er den ganzen Gott, findet hier alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis verborgen (zit. Kol. 2, 3), hier findet er Gott so, daß er seinen Anblick zu ertragen vermag, ohne zu vergehen: videbo maiestatem meo captui attemperatam 412 . Der Komplex dieser Ausführungen dient Luther zur Entfaltung der einen Seite des christologischen Dogmas: daß Christus Mensch war. Darin, daß Gott sich in diesem Menschen rückhaltlos geoffenbart hat, ist für ihn die Zusammenordnung Gottes und Christi in der paulinischen Grußformel begründet. In gleicher Weise wird diese Formel für Luther durch die andere Aussage des altkirchlichen Dogmas interpretiert: die paulinische Redeweise dient zur Stärkung unseres Glaubens, daß Christus wahrer Gott ist 413 . Durch das entschlossene, gegen alle anderen Stimmen taube Hängen an der Menschheit Christi kommen wir zum Vater, und erst in der Erkenntnis Gottes als des Vaters erkennen wir die Vollständigkeit der Offenbarung Gottes im Sohn. Die Gottheit Christi wird an dem Wissen um Gott erkannt, zu dem das Hängen an der Menschheit Christi führt: der Vater, zu dem wir durch Christus kommen, vergibt Sünden und verleiht Frieden — eben dasselbe tut Christus; Gott rechtfertigt, macht lebendig, befreit von Tod und Sünden — das gleiche widerfährt uns durch den Sohn. All dies aber sind ausschließlich göttliche Werke, sie stehen allein in der Macht des Schöpfers, nicht des Geschöpfes. Nicht einmal die Engel, nur Gott allein kann Gnade und Frieden geben, Tod und Sünden zerstören414. 408 412

78, 2f.

409

79. 4·

413

79, 3.

410

78, 6.

80, 3 ff.

414

80/1.

411

76, 8f.

142

Der Gedankenkreis der Rechtfertigung (1531)

Im Verhältnis Christi zu Gott, das Luther im Rahmen der Zweinaturenlehre zu formulieren sucht, liegt für ihn demnach eine Art hermeneutischer Zirkel vor: Christus führt den Menschen zur Erkenntnis Gottes, aus dieser Erkenntnis Gottes ergibt sich das klare Erfassen der Gestalt Christi. Auf die Situation zugespitzt, in der sich diese Erkenntnis vollzieht: in der Rechtfertigung, die dem Menschen widerfährt, wenn er die Menschheit Christi als volle Selbstof fenbarung Gottes annimmt416, liegt für Luther die Bestätigung für eben diese im Glauben ergriffene Einheit von Vater und Sohn, an der umgekehrt die Wahrheit und die Wirklichkeit dieser Rechtfertigung hängt. Luther benutzt in seiner Exegese zu Gal. 1, 3 den Wortlaut des Textes, in dem Paulus neben Gott auch Christus als den Geber von Gnade und Frieden nennt, zur Definition des Gottesbildes. Das Recht zur Absage an den deus ipse — nos excludimus e u m 4ie — liegt für ihn im offenbarenden Handeln Gottes selbst begründet. b) Die Wahrung der Einheit des Gottesbildes als Einheit personhaften Handelns Die Problematik der Antwort, die Luther hier auf die Gottesfrage gibt, hegt auf der Hand, und die Frage ist berechtigt, ob hinter der scheinbar so eindeutigen Antwort nicht doch der Januskopf eines doppelten Gottesbildes auftaucht, wenn Luther maiestas dei und maiestas meo captui attemperata, humanus deus oder deus incarnatus und deus ipse einander entgegensetzt. Eine Doppelheit, die ebenso für die Gestalt Christi gilt, denn: quod Christus est futurus iudex, non possum negare, eine Feststellung, der Luther das entschlossene »Si sie Christum mediatorem admitto iudicem, tum eum amisi« gegenüberstellt41 415 Vgl etwa die Formulierung: disputamus . . . de iustificatione et inveniendo deo iustificante, aeeeptante; qui ubi quaerendus est, complectere hanc humanitatem sonst nichts (77, 8 ff.). 416 76, 8f. «» 92/3.

Das Heilsgeschehen als gegenwärtige Selbstoffenbarung Gottes

143

Unsere Stelle ist der Hauptbeleg für Thimmes Erörterung dieses Problems. Für ihn findet hier eine »Vergröberung der lebendigen Dialektik des einen Gottes« statt, das »dynamische Polaritätsverhältnis« wird »in ein statisches Gegensatzverhältnis« umgewandelt418, es zeigt sich, daß Luthers Gottesanschauung »massiver« geworden ist, das »starre Schema zweier getrennter Hypostasen« taucht auf 419 . Thimme selbst liegt daran, das Gewicht der hier getroffenen Feststellungen auf das rechte Maß zu beschränken, im Grunde ist für ihn »das Neben- und Gegeneinander zweier Götter«, das hier bei Luther zu entstehen scheint, nur ein scheinbares, Luthers eigentliche Aussage bleibt das »dynamische Polaritätsverhältnis«. Trotzdem kann er nicht umhin, von einer »Vergröberung« zu sprechen, und wenn »Luther gelegentlich Christus als den deus humanus gegen den deus nudus ausspielt«, so ist ihm das zwar nicht der »Ausdruck eines Gegeneinander von Gott und Christus«, aber immerhin doch eine Gegenüberstellung der beiden Seiten des göttüchen Wesens, mit deren einer Christus als exemplar identifiziert wird420. So ergibt sich für ihn nicht nur im Bück auf das Verständnis des Werkes Christi, sondern auch auf das Gottesbild zwar keine grundsätzliche Wandlung, aber doch eine Verschiebung in den Aussagen des älteren Luther gegenüber seinen früheren Ausführungen. Eine Verschiebung, die nun aber doch so weit geht, daß Thimme von zwei »Seiten des göttlichen Wesens« spricht. Auf die Einschränkung, die Thimme sich selbst macht und durch die er die Einheit der Konzeption des jüngeren und des älteren Luther wahrt, muß jedoch alles Gewicht gelegt werden, und die in dieser Einschränkung zum Ausdruck kommende Interpretation scheint mir — in der Erklärung der Aussagen Luthers selbst wie in ihrer Einordnung in das Gesamtbild — entschlossener durchgehalten werden zu müssen, als das bei Thimme der Fall ist. Die Formulierung, es handle sich bei der Gegenüberstellung Christi und Gottes nur um eine »Gegenüberstellung der beiden Seiten des göttlichen Wesens«, wird trotz Thimmes Interpretation dem Tatbestand nicht gerecht. Ob und 118 419

Thimme, Christi Bedeutung für Luthers Glauben, S. 82. 420 Thimme, a. a. O., S. 81. Thimme, a. a. O., S. 82.

144

Der Gedankenkreis der Rechtfertigung (1531)

wie weit sie auf andere Äußerungen Luthers anwendbar ist, kann und soll hier nicht erörtert werden. An unserer Stelle verfehlt sie gerade das Pathos der Aussagen Luthers. Das Wesentliche unseres Textes liegt gerade darin, daß Luther nicht eine Seite Gottes zugunsten einer anderen so weit als möglich in den Hintergrund drängt, sodaß für ihn alle Aussagen über Gottes Barmherzigkeit doch unter dem Zeichen einer letzten Relativität ständen, sondern daß er sich bewußt ist, dem vom Gesetz Angefochtenen den ganzen, ungeteilten Gnadenwillen Gottes zu verkündigen, und sich von hier aus ermächtigt weiß, den ebenso ganzen und ungeteilten Vergeltungswillen völlig aus dem Gottesverhältnis auszuschließen: theologia Christiana est ista quae docet excludere ipsum deum quem Rottenses, Turca, Papa reponunt, — nos excludimus eum421. Die Formulierung zweier »Seiten des göttlichen Wesens« entspricht gerade nicht dem Tatbestand, um den es Luther geht422. Wir sahen bisher, daß Luthers bildhafte Schilderung des duellum mirabile und seine Übernahme traditioneller Bilder und Formeln streng in den Rahmen eines worthaften Geschehens eingefügt bleiben; das in Christus sich ereignende Heilsgeschehen wird daher — trotz verstärkter Betonung der Heilsautorschaft Christi — worthaft und damit als offenbarendes verstanden. Das Verständnis Christi als Autor des Heils und als Offenbarer Gottes ist im Grunde eines. Solches Verständnis des sich in Christus ereignenden Heilsgeschehens als offenbarendes, worthaftes Handeln Gottes hat aber nun zugleich entscheidende Konsequenzen für den Gottesbegriff, der hinter dieser Auffassung des Heilshandelns sichtbar wird: er ist eindeutig personhaft gedacht. Das Verständnis des Heilsgeschehens als Offenbarung weist hin auf ein worthaftes, das aber heißt personhaftes Handeln Gottes. Von dieser Feststellung her, 421

76, 7 ff.

422

Thimme spricht sogar von einer »Vergröberung der Dialektik des

Gottesbegriffs«, »derzufolge dessen beide

zusammengehörige .Hälften'

(153, 1)

gegen-

als zwei verschiedene

gestellt werden«

Personen

und

nebeneinander-

(a. a. O., S. 83). Die hier herangezogene

Belegstelle

trägt jedoch nicht. Luthers »sub Papa, sub Achab haben unser herr Gott halb« (153, 1) wird überzogen, wenn von hier aus zwei »Hälften« in seinem Gottesbegriff gefolgert werden.

Das Heilsgeschehen als gegenwärtige Selbstoffenbarung Gottes

145

die sich letztlich am Verständnis des Heilswerkes Christi entscheidet und aus ihm erwächst, ergibt sich ein verstärktes Zögern, früher als irgend nötig von Inkonsequenzen, Verschiebungen von dynamischen zu statischen Gegensätzen zu sprechen. Das Verständnis des Heilswerkes Christi als worthaftes Geschehen legt dies Zögern ebenso nahe wie Thimmes Feststellung einer von der ursprünglichen Konzeption abweichenden Gedankenbildung in Luthers Auffassung des Werkes Christi, die zu einer ähnlichen Feststellung hinsichtlich des Gottesgedankens einlädt. Aus dem Verständnis des Heilsgeschehens als Offenbarung ergibt sich die Nötigung, so eindeutig wie möglich die Personalität und Einheit des Gottesbegriffes herauszuarbeiten und zum Erklärungsprinzip für Luthers Äußerungen zum Gottesbild zu machen. Luthers Aussagen erschließen sich in dem Maße, in dem wir ernst machen mit ihrer Situationsgebundenheit. Die Gotteserkenntnis, die Luther hier zum Ausdruck bringen will, ist an die Rechtfertigung gebunden. Das heißt nicht, daß sie ausschließlich situationsbedingt und -gebunden ist, wohl aber, daß sie nicht ohne Gefahr der Vereinseitigung oder Verzerrung, bis hin zu ihrer Verkehrung in die Unwahrheit, von dieser Situation gelöst werden kann. Ohne Gefahr der Verfälschung hat man sie allein in Verbindung mit der Situation, der sie in erster Linie und am zugespitztesten gilt. Luthers Definition Christi ist die Antwort auf den verdammenden Spruch des Gesetzes, der den Menschen bis zur Verzweiflung ängstet: Ipse (diabolus) potest Christum profigere ut legislatorem, quasi ad me dicat: Sic fecisti, et accipit locum, ubi Christus insectatur peccatores. Da gehorn diese wort drauff, ut designate Christum propria Christi definitione423. Und es ist die persönliche Aneignung der in Christus gewirkten Vergebung — Pronomen exerce bene, ut tua peccata etiam ynn hauffen schlast —, für die gilt: E x ista definitione las dich nicht scheiden424. Mit dieser Bindung des Gottesbildes an die Rechtfertigung werden wir an den Bereich der letzten theologischen Grundentscheidungen Luthers herangeführt, die Luther selbst kaum je abstrakt formuliert, die 423

10

90, 2ff.

Born kämm, Galaterbrief

91, 4 f f .

146

Der Gedankenkreis der Rechtfertigung (1531)

sich aber immer wieder in seinen inhaltlich gebundenen theologischen Aussagen niederschlagen und von denen her diese erst im eigentlichen Sinne verständlich werden. Die Bindung der Gotteserkenntnis an den Vorgang der Rechtfertigung zeigt einmal, daß Mensch und Gott für Luther in ausschließlichem Sinne Person sind. In der Frage der Rechtfertigung spitzt sich für ihn die Frage nach dem Menschen, nach seiner Beschaffenheit, nach seinem Gottesverhältnis, nach seinem Heil in umfassender Weise zu. Hier ist der Mensch rückhaltlos als ganzer beteiligt, er hat nichts, was er außerhalb des Rechtfertigungsvorganges halten könnte. Dieser Vorgang selbst aber vollzieht sich für ihn nicht in einem sakramentalen Akt, der mit verschiedener Akzentsetzung mehr als Begegnung mit Gott als einem personhaften Gegenüber oder mehr als Anteilerhalten an einer objektiv-dinglich gedachten, von Gott zur Regelung seines Verhältnisses zu den Menschen eingesetzten Ordnung verstanden werden kann, aber immer beides zugleich enthält. Sondern — im Kommentar von 1 5 1 9 trat uns diese Bindung an das Wort eindrucksvoll entgegen — der Rechtfertigungsvorgang besteht für Luther ausschließlich in der Begegnung des Menschen mit Gott, ohne jedes Beiwerk, das diesen Rahmen sprengen und die Reinheit dieser nur personal verstandenen, sich allein in der persönlichen, willentlichen Zuwendung und Anrede vollziehenden Begegnung trüben könnte. Der Mensch ist als ganzer beteiligt — ebenso erfährt er auch die Zuwendung Gottes zu sich als eine ganze. Luther macht vollen Ernst mit dem Gedanken, daß Gott dem Menschen nicht als ein Etwas gegenübersteht, das ihm teils begreiflich ist, teils unbegreiflich bleibt, sondern daß Gottes Handeln aus einem einheitlichen, persönlichen Willen hervorgeht. Dies Ernstmachen mit der Personhaftigkeit Gottes läßt ihn hinter der Offenbarung Gottes in Christus vorbehaltlos die volle göttliche Autorität anerkennen, durch die die Gestalt Christi zur erschöpfenden Selbstoffenbarung Gottes wird, hinter der wohl noch mehr, uns nicht — noch nicht — Zugängliches, aber nichts grundsätzlich anderes stehen kann. In dieser Gewißheit setzt Luther mit aller Entschlossenheit den Gott der Gnade dem Gott des Gesetzes entgegen und findet in der maiestas meo captui

Das Heilsgeschehen als gegenwärtige Selbstoffenbarung Gottes

147

attemperata niemand anderen als Gott selbst, dessen volle Zuwendung zum Menschen durch keinen Hintergedanken an die maiestas des deus ipse relativiert werden dürfte und könnte. Luthers Begreifen Gottes als Person und sein Verständnis des Werkes Christi als Wort bringen das gleiche Grundverständnis des Verhältnisses zwischen Gott und Mensch zum Ausdruck. Werden Werk und Wort Christi im strengen Sinne als Wort verstanden, so wird dem Betroffenen die Personhaftigkeit Gottes erkennbar. An der Vollgültigkeit der Offenbarung Gottes in Christus, die wir in reinster Weise im Geschehen der Rechtfertigung erfassen, hält Luther fest, denn Gott ist Person. Hier taucht die Frage auf, ob die Ausschließlichkeit, mit der Luther im Rahmen dieses Geschehens den Gott der Gnade predigt, nicht doch in ihrer Allgemeingültigkeit begrenzt wird durch diese Bindung der Erkenntnis Gottes an eine bestimmte Situation, so daß die hier erwachsene Aussage über Gott letztlich doch von der Tatsache dieser Bindung her relativiert wird. Diese Situationsgebundenheit der Aussagen Luthers ist jedoch bedingt durch den Ursprung und Charakter seiner theologischen Erkenntnis überhaupt. Die Frage, die an sie gerichtet wird, gilt Luthers Theologie als ganzer. Für Luther bedeutet die Bindung an die Rechtfertigung keine Einschränkung der Gültigkeit der Erkenntnis, sondern sie ist ihm ein wesentlicher Bestandteil dieser Erkenntnis selbst. Es gibt für ihn kein Wissen um Gott, das nicht zugleich das Wissen um das eigene Gottesverhältnis einschlösse — die ständige Polemik gegen die fides historica und die sich in vielfacher Weise zur Geltung bringende Betonung des pro nobis zeigen das deutlich genug. Das heißt inhaltlich, daß für Luther ein wahrhaftiges Gottesverhältnis nur möglich ist, wenn der Mensch durch den Engpaß der Rechtfertigung hindurchgeht. Darum ist die Frage nach Gott für ihn immer zugleich die Frage nach seiner Rechtfertigung. Alles, was an dieser Stelle, an der es um letzte, über Leben und Tod des Menschen entscheidende Gewißheiten geht, keine gültige Antwort geben kann, muß für die Gottesfrage beiseite bleiben, deren letzte und gültige Erkenntnisse für Luther eben in dieser Situation gewonnen und bewährt werden. Deshalb kann es 10*

148

Der Gedankenkreis der Rechtfertigung (1531)

heißen: In ista causa.. . lasse faren maiestatis speculationem ... las Gott faren, quia iste intolerabilis hic . . . las yhn faren .. ,425. Nicht um einer bequemen Lösung, sondern um der Echtheit, Reinheit und Unzweideutigkeit der Gotteserkenntnis willen426. c) Das Ergreifen

Christi durch den Glauben als göttliches

offenbarendes

Handeln

Das Wissen um Gott ergibt sich für Luther nicht aus der theologischen Spekulation über Gottes Sein und Wesen, sondern es entsteht dort, wo Gott zum Menschen spricht. Das aber heißt: die Gotteserkenntnis entspringt einem Geschehen zwischen Gott und Mensch. Denn Gottes Reden ist echtes Reden, d. h. ein Handeln im Wort, und das Vernehmen des Wortes ist ein echtes Hören, es ist nicht nur die Korrektur einer falschen Einsicht. Damit ist gesagt, daß Gott und Mensch beide in das Geschehen, das sich zwischen ihnen ereignet, einbezogen sind. Das kommt schon darin zum Ausdruck, daß die Entscheidung für den in Christus geoffenbarten Gott nicht einfach als Entschluß und Haltung des Menschen beschrieben werden kann, sondern gleichzeitig selbst ein auf den Menschen zukommendes Handeln Gottes bzw. Christi ist. Darum spricht Luther von einem venire Christi als Beschreibung unseres ipsum Christum intelligere, und vom Menschen ist in passivischen Wendungen die Rede: trahimur, rapimur recta via ad patrem, denn Christus kommt, um uns zu ergreifen427. Indem wir Christus ergreifen, werden wir von ihm ergriffen. Luther wechselt im gleichen Satz mehrfach unvermittelt von der einen Aussage zur anderen über: In hoc venit, ut nos apprehendat — fixis oculis in eum — trahimur, rapimur recta via ad patrem — quia non speculandum nec sperandum, posse aliquid salutare sciri de deo patre nisi apprehenso Christo. Dieser Wechsel ist nicht Mangel an theologischer oder grammatischer Sorgfalt, er hegt in der Sache selbst begründet: die Einheitlichkeit des Geschehens von Ergreifen und Ergriffenwerden bleibt so unbedingt gewahrt, daß jeder Versuch, es durch ein Aufgliedern in göttliche und 425

77. 3ff·

421

Anm. s. u. S. 392.

427

98/9.

Das Heilsgeschehen als gegenwärtige Selbstoffenbarung Gottes

149

menschliche Faktoren noch weiter zu verdeutlichen, notwendig zu mißverständlichen Formulierungen führen muß. Das zeigt ein Blick aus der Handschrift in den Druck: Ideo Christus venit, ut nos apprehendat nosque vicissim(!) eum apprehendamus et sie (!) fixis oculis in eum recta (via) trahamur et rapiamur ad patrem428. Das unmittelbare Ineinander bei Luther, das sich zeigt in dem unvermittelt an das »venit, ut nos apprehendat« angefügten »fixis oculis in eum«, das seinerseits nichts ist als eine Näherbestimmung des das handelnde Subjekt des apprehendere wieder aufgreifenden Passivs »trahimur« und noch einmal auftaucht in dem »nisi apprehenso Christo«, ist im Druck ersetzt durch eine saubere logische Reihenfolge: dem Ergriffenwerden durch Christus antwortet unser Ergreifen, und so werden wir zum Vater gebracht. Im »vicissim eum apprehendamus« liegt nicht nur eine Wechselseitigkeit, sondern zugleich eine zeitliche Aufeinanderfolge, die Aussage über die Gegenseitigkeit ist als Inhalt des Nebensatzes abhängig von dem Hauptsatz »Christus venit«, das als erster, vorgegebener Schritt jede Wechselseitigkeit zur Antwort werden läßt, die auf diesen Schritt hin erfolgt. Zweifellos ist diese Reihenfolge richtig und wesentlich als Abgrenzung gegenüber jedem Versuch, das Erlangen des Heiles mit abhängig zu machen von einem gleichzeitig mit der Darbietung erfolgenden Zugreifen von selten des Menschen, das als dessen selbständiges Handeln verstanden wird. Doch auch das Aufstellen eines strengen Nacheinanders von göttlichem und menschlichem Handeln schließt die Möglichkeit des Mißverständnisses, daß das Heil mitbedingt wird durch die — wenn auch als zweiter Schritt verstandene — Entscheidung des Menschen, nicht aus. Der Fehler liegt nicht einfach in einer falschen zeitlichen Zuordnung von göttlichem und menschlichem Tun — auch der das Heil ergreifende Glaube kann als Werk verstanden werden — , sondern er steckt bereits darin, daß in dem im Glauben sich vollziehenden Geschehen der Heilszueignung eine von Gott und eine vom Menschen ausgehende Bewegung unterschieden werden. Eben das aber geschieht bei Luther nicht. Die Einheitlichkeit dieses Geschehens ist für ihn ein unteilbar Letztes. 428

98/9 Dr.

150

Der Gedankenkreis der Rechtfertigung (1531)

Das zeigt beispielhaft die kühne, an die augustinische Sakramentslehre anklingende Formulierung, mit der Luther die Absage an Christus als den zukünftigen Richter und das Ergreifen des Mittlers beschreibt: Si (Paulus) addit in definitione: non tortor, contristator, sed lapsorum erector et traditus etc., Ibi f i t verus Christus, sie relinquo speculationem maiestatis et hereo in humanitate429. Das Erfassen der definitio Christi ist nicht nur ein Erkenntnisvollzug, sondern dieser ist zugleich die Verwirklichung dessen, was in der Definition ausgesagt ist. Der Glaube fällt mit der Offenbarung Gottes in Christus in eins, ja, der Glaube ist dies Ereignis430. Christus kommt 431 , Christus zeigt uns den Vater 432 , ibi fit verus Christus433 — Luther zieht die hier ansetzende Linie aus bis hinein in das Bild Gottes selbst, der sich in diesem Geschehen als gnädig erweist. Auch auf der Seite Gottes geschieht etwas: Ibi perit facies irae etc. et apparet nullus alius deus nisi misericors434. Nach dem, was wir eben über den Ereignischarakter der Erkenntnis Gottes bei Luther sahen, ist es uns verwehrt, diesen Satz nur als Aussage über eine bloße Korrektur des menschlichen Gottesverständnisses zu verstehen. Er enthält mehr, als der voraufgehende Satz »Iste (Christus) ostendit mihi, istam gratiam non suae voluntatis sed patris« anzukündigen scheint. Die Ablösung der facies irae durch den deus misericors ist ein auf der Seite Gottes sich vollziehendes Geschehen, es ereignet sich, indem der Mensch Christus und seine Botschaft im Glauben ergreift. Damit sind wir auf den Anfang unseres Textes zurückverwiesen, auf die Gegenüberstellung von deus ipse436 und humanus deus bzw. deus incarnatus438. All diese Aussagen über Gott, die sprachlich bis hart an die Grenze des Ditheismus führen, dürfen nur verstanden werden als Beschreibungen der doppelten Verhaltensweise Gottes in seiner Geschichte mit dem Menschen. 429

93, 4 ff. 430 v g l . a u c h die bereits erwähnte Formulierung: quando datur tibi ista innocentissima persona, quod fit R e x et sacerdos meus, servit mihi, exuit sanetitatem et vult esse peccator: volo te portare; da ghet Christus 431 432 an (448, 5ff.; s. o. S. 134). 98, 12. 99, 2f. 439 433 434 436 93. 5· 99, 3 f. 76, 8. 78, 6.

Das Heilsgeschehen als gegenwärtige Selbstoffenbarung Gottes

151

Beide Aussagen gelten jeweils absolut, schon die Interpretation als zwei »Seiten des göttlichen Wesens«437 ist irreführend. Die Überwindung des einen Gottesbildes durch das andere ist zugleich Erkenntnisakt des Menschen und tatsächliche Verwandlung des zornigen Gottes in den gnädigen. Zwischen Gott und Mensch ereignet sich ein wirkliches Geschehen, in das beide einbezogen sind.

d) Die Konseqenzen von Luthers Denkansatz im Handeln Gottes für seine christologischen Aussagen Dieser Ansatz des theologischen Denkens im Widerfahrnis des göttlichen Handelns wird in unserm Text noch einmal deutlich sichtbar in Luthers Behandlung des christologischen Dogmas, das er, wie wir sahen, seiner Exegese von Gal. i , 3 als Rahmen zugrunde gelegt hat. Er entfaltet es nach beiden Seiten hin nicht in einer Seinsbestimmung beider Naturen, sondern in einer Beschreibung der jeweiligen Funktionen. Die Gottheit Christi wird nicht auf spekulativem Wege gefunden, sondern sie wird erkannt und erfahren an ihrem Wirken: Sünden vergeben, lebendig machen, rechtfertigen, von Sünde und Tod befreien sind opera unius, solius maiestatis 438 . Christus ist Gott,denn er verleiht Frieden, und:is sol nicht pacem geben qui non hat 439 . Das ist ein starkes Argument wider alle Arianer, denn am Handeln Christi erweist es sich, daß er nicht auf die Seite des Geschöpfes, sondern des Schöpfers gehört. Est verus deus, quia facit quae deus440, alle seine Werke dienen zur Verherrlichung der höchsten Majestät des Schöpfers, und dennoch hat er Macht, das Gleiche zu geben und zu schaffen: ergo oportet hunc esse verum deum441. Thimme, Christi Bedeutung für Luthers Glauben, S. 82. 439 81, 1. 440 82, gf. 81, 4 f f . 441 81, 9. Hier tritt der von Holl (Ges. Aufs. ,Bd. 1, S. 72) beobachtete modalistische Zug in Luthers Theologie zutage. Vgl. dazu auch die Selbstverständlichkeit, mit der Luther in seiner Auslegung zu Gal. 4, 6 »misit deus spiritum filii sui« Gott und Christus vertauschen kann: Christus etiam mittit spiritum, ut eundem spiritum habeam quem Christus (577, 6f.). — Holl weist a. a. O. darauf hin, daß Luther in seiner Trinitäts437

438

152

Der Gedankenkreis der Rechtfertigung (1531)

Ebenso ist es mit der Entfaltung der Menschheit Christi: er ist Mensch, nicht weil der göttliche Logos menschliche Natur angenommen hat und von einer menschlichen Mutter geboren wurde, sondern weil er sich uns durch sein Leben als Mensch erweist: lauf zur Krippe, et spectes eum suggentem, crescentem, morientem442, eine Linie, die Luther an anderen Stellen auszieht bis hin zur Schilderung der höchsten Anfechtungen, denen auch Christus ausgesetzt war und in denen sein Menschsein in der reinsten Weise zum Ausdruck kommt443. Der Ansatz der Gotteserkenntnis im Handeln Gottes, die Interpretation der Naturen Christi von ihrer Funktion her, die begründet ist in Luthers Verständnis des Werkes Christi als offenbarendes, den Menschen treffendes und an ihm handelndes Wort, ist Ausdruck für ein bisher in der Theologiegeschichte noch nicht dagewesenes Ernstnehmen der Geschichtlichkeit der Gestalt Christi und damit der Offenbarung Gottes überhaupt. Nur von hier aus ist es zu erklären, daß sich für Luther beim Bemühen um eine sachgemäße Formulierung die überkommene Terminologie als unzureichend erweist, den für sie bestimmten Inhalt aufzunehmen. Obwohl Luther den Rahmen des altkirchlichen Dogmas betont festhält als Beweis für die Katholizität seiner Lehre, wird er durch den Gegenstand, um dessen sprachliche Fassung er ringt, zu sprachlichen Neuschöpfungen gezwungen. Christus ist nicht nur Mensch und Gott, sondern deus incarnatus und humanus deus444 — hier stoßen wir auf neue, von Luther selbst geprägte Begriffe. Die Entfaltung des lehre sowohl dem Modalismus wie dem Subordinatianismus

(Luthers

Verwendung von 1. Kor. 15, 24!, s. ο S. 26) nahekommt. R . Seebergs Einwand, der diese Beobachtung als »offenbar unrichtig« beurteilt



»Man darf dabei nicht vergessen, daß es sich auch hierbei für Luther nicht um eine theoretische

Konstruktion handelt,

sondern um

den

eigenartigen Inhalt erlebten Glaubens« (Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd. I V , 1, S. 236 Anm. 1) — , trifft nicht, da Holl nicht von einer Übernahme dieser Lehre durch Luther, sondern von seiner Annäherung an die in diesen Lehrfassungen zum Ausdruck kommenden Inhalte spricht und den Fehler für diesen dogmengeschichtlich sehr ungewöhnlichen Tatbestand »nicht bei Luther, sondern beim alten Dogma« sucht. Vgl. auch E . Seebergs zustimmenden Verweis auf Holl (Luthers Theologie, Bd. 2 Christus, S. 52). 443

E t w a zu Gal. 4, 14; s. u. S. 147.

448

79, 12f.

444

78, 6.

Zusammenfassung

153

christologischen Dogmas findet für ihn nicht darin ihren Höhepunkt, daß beide Seiten jeweils unter Nichtbeachtung der Gegenseite bis zum Extrem gesteigert werden, sodaß ein vollendetes Paradox als Ergebnis stehen bliebe, sondern gerade in dieser äußersten jeweiligen Steigerung kommt die tiefe Zusammengehörigkeit beider Aussagen zum Ausdruck: Christus ist ganz Gott — nicht obwohl, sondern weil er ganz Mensch ist, und eben indem er ganz Mensch ist, kann er die Offenbarung Gottes sein: deus incarnatus und humanus deus. Wenn wir die Menschheit Christi im Glauben ergreifen, bekommen wir die Offenbarung der Majestät Gottes zu fassen. Wohl als maiestas meo captui attemperata, aber es ist die maiestas. Alles finden wir hier, alle Schätze der Weisheit liegen hier verborgen. Verborgen für die Welt — mundus non videt, quia respuit ut hominem445 —, dem Glauben aber gerade in der Menschheit Christi offenbar. Die Formulierungen »deus incarnatus« und »humanus deus« dürfen nicht als neue Spielarten einer ontologischen, an der Doppelheit zweier Naturen in Christus orientierten Beschreibung Christi verstanden werden, sondern müssen interpretiert werden als auf eine letzte, zugespitzte Formel gebrachte Versuche, die Selbsthingabe Gottes in die volle Geschichtlichkeit seiner Offenbarung zum Ausdruck zu bringen. Wir halten für einen Augenblick inne. Wir hatten unserer Darstellung des Gedankenkreises der Rechtfertigung in Luthers Vorlesung von 1531 einen anderen Aufbau geben müssen als der Darstellung seiner Gedanken 1519. Dort mußte der Darstellung der Rechtfertigung ein Kapitel über die Begrifflichkeit vorausgeschickt werden, von der her Luthers Darstellung zu erschließen war. Es zeigte sich, in welchem Maße er begrifflich und gedanklich dem Ansatz in der Frage des Verstehens verhaftet blieb. Hier — für 1531 — mußte auf die Darstellung der Rechtfertigung eine genauere Entfaltung des Werkes Christi folgen, dessen Verständnis die Rechtfertigungsdarstellung trägt. Schon in dieser Gegenüberstellung wird — wenn auch nur grob und 445

79, 4ff,

154

Der Gedankenkreis der Rechtfertigung

schematisierend — etwas vom Unterschied der Ausführungen von 1519 und 1531 deutlich. Es zeichnet sich in diesem Aufriß die Verlagerung des Rechtfertigungsgeschehens aus dem Akt des Hörens, der sich in der Geschichte des Glaubenden vollzieht, in ein Geschehen ab, das für den Betroffenen ein Einbezogenwerden in die Geschichte Christi bedeutet. Luther spricht statt in hermeneutischen jetzt vornehmlich in christologischen Kategorien. Er befreit sich von der vorgegebenen Begrifflichkeit litera und spiritus, die ihm 1519, wenn auch entscheidend uminterpretiert, die sprachliche und systematische Hilfe gaben, sein Verständnis des Evangeliums zum Ausdruck zu bringen, und kommt in größerer Freiheit zu einer Sprache, die seine Konzeption in unmittelbarer Weise christologisch auszudrücken vermag und damit seinem theologischen Ansatz genauer Ausdruck gibt. Wir sahen, wie Luther Augustins Begrifflichkeit christologisch deutet! Die zunehmende Übernahme traditioneller Formulierungen zur Interpretation des Werkes Christi spiegelt außer dem deutlichen Willen Luthers, die sachliche und sprachliche Kontinuität seiner Theologie mit der Verkündigung der Kirche zu wahren, auch sein Bewußtsein, sich mit seinem Ansatz in der Christologie die zentralen theologischen Aussagen der Bibel wie der Kirche erschließen und aneignen zu können. Trotz der Verschiebung von der hermeneutischen zur christologischen Begrifflichkeit bleibt das Verständnis des Rechtfertigungsgeschehens, das mit ihr beschrieben wird, das gleiche. Es wird bestimmt durch die Spannung des unio- und imputatioGedankens. 1531 steigert Luther beide Seiten zu extremeren Aussagen, trotzdem halten sich auch hier beide Gedanken das Gleichgewicht, die gegenseitige systematische Zuordnung bleibt bestehen. Damit bleibt die Unausweisbarkeit und Anfechtbarkeit des Rechtfertigungsgeschehens, die in dieser polar zu verstehenden Spannung begründet liegt, gewahrt. Ein Abgleiten der Rechtfertigungsbotschaft aus dem Bereich des Hörens und Glaubens in den Bereich unmittelbar vergewissernder »Massivitäten« findet trotz der Verschiebung von hermeneutischen zu christologischen Kategorien und der mit dieser Verschiebung verbundenen Zunahme »massiver« Formulierungen nicht statt.

Zusammenfassung

155

Eine ähnliche Erscheinung der Steigerung vorhandener polarer Spannungen bis hin zum Paradox, ohne daß dadurch die umschließende Einheit gesprengt würde, zeigte sich uns im Bück auf das Christus- und das Gottesbild: im extrem einseitigen Verständnis beider Naturen findet Luther gerade die Einheit des Gottmenschen gewahrt, und die bis an die Grenze des Dualismus führenden Aussagen über Gott als Richter und Erretter sind eben in ihrer jeweiligen Einseitigkeit ein Hinweis auf die Person und damit die Einheitlichkeit und Eindeutigkeit des Gottes, der hinter jeder von ihnen sichtbar wird. Wir sahen, daß die Einheit dieser Spannung nicht statisch in der Form des ausgewogenen Paradoxes gewahrt bleibt, sondern daß sie im Verständnis der Offenbarung als personhafter Begegnung des Menschen mit Gott liegt. Gottes Offenbarung ist jeweils gegenwärtiges Handeln, als Selbstoffenbarung umschließt es die Mitteilung seiner Person — d. h. es ist Wort, nicht Lehre, und muß als solches jeweils neu und einseitig gesprochen und gehört werden. Die Freiheit, in der Luther scheinbar dualisierende Aussagen macht, darf nicht als Zeichen bedenklicher Hypostasierung zweier Wesensseiten Gottes verstanden werden, sondern als Beweis für die Stärke seines personalen Gottesgedankens, der ihm diese Einseitigkeiten ohne Gefährdung für den inneren Zusammenhang seiner Theologie erlaubt. Die Einseitigkeit, in der Luther den gnädigen Gott gegen den zürnenden Richter geltend macht, wie sein Verständnis Christi als deus incarnatus und humanus deus — Begriffe, die wir als geschichtliche Kategorien zu verstehen suchten — weisen uns darauf hin, wie ausschließlich Luther vom Wort her denkt und in welchem Maße seine Theologie Frucht und Auslegung des Hörens auf das Wort ist. Luthers Konzeption von 1519 — sein Verständnis der Offenbarung als worthaftes Handeln Gottes —, die er mit Hilfe hermeneutischer Begriffe zum Ausdruck zu bringen suchte, ist in reicherer inhaltlicher Entfaltung und entsprechend veränderter Begrifflichkeit auch 1531 in aller Reinheit durchgehalten. Das Verschieben der Beschreibung der Rechtfertigung von einem Geschehen in der Geschichte des Glaubenden — Hören

156

Der Gedankenkreis der Rechtfertigung

und Verstehen — zum Anteilerhalten an einem Geschehen, das sich als Geschichte Christi vollzieht, bleibt selbst innerhalb des übergreifenden Rahmens von Luthers Verständnis des Verhältnisses zwischen Gott und Mensch. Diese Verschiebung ist offensichtlich möglich, ohne daß sie eine Veränderung in der Struktur der theologischen Aussagen nach sich zieht — es wird deutlich, in welchem Maße für Luther das gesamte Offenbarungs- und Rechtfertigungsgeschehen, ob es sich in der Geschichte Christi oder der des einzelnen Glaubenden vollzieht, nichts ist als die eine einzige Geschichte, die Gott mit dem Menschen führt, die sich in allen Zeiten in gleicher Weise ereignet und allen Zeiten in gleicher Weise gegenwärtig ist. Bei einer so entschlossenen Zusammenschau des Heilsgeschehens mit der Rechtfertigung in dem gegenwärtigen Handeln Gottes, wie wir sie bei Luther vor uns haben, fällt es für das Gesamtverständnis nicht ins Gewicht, welches Ereignis dieser Geschichte zum Ansatzpunkt für die Aussage dessen dient, was in ihr geschieht. Der Rahmen kann ebenso gut die Rechtfertigung des Glaubenden wie die Beschreibung des Werkes Christi sein.

III DIE ERSCHEINUNG DER ANFECHTUNG UND IHRE ÜBERWINDUNG Das Ernstnehmen der Geschichtlichkeit der Gestalt Christi, das sich darin zeigt, daß in Luthers christologischen Formeln die Unausweisbarkeit und Verborgenheit der Offenbarung wirklich zum Ausdruck gebracht wird, ist das Echtheitszeichen für Luthers Verständnis der Offenbarung als Wort. Die Überzeugungskraft des Wortes, das nicht im Dienste einer Belehrung oder eines Beweisverfahrens steht, sondern Anrede und Selbstmitteilung, Wort im eigentlichen Sinne, ist, liegt in keiner zusätzlichen Begründung und Vergewisserung, sondern allein in ihm selbst. Seine Wahrheit ist dem Außenstehenden verborgen, überzeugend unzweideutig ist es letztlich nur für den Angesprochenen. So ist die Verwandlung des zornigen Antlitzes Gottes in das des gnädigen Vaters kein Gegenstand eines zuschauenden menschlichen Begreifens, sondern ein Geschehen, das sich im Gottesverhältnis des Glaubenden ereignet und ihm im Glauben an das gehörte, das aber heißt unsichtbare Wort widerfährt. Im Blick auf die Gestalt Christi wird die Verborgenheit, die der rein als Wort verstandenen Offenbarung eigen ist, gewahrt durch die rückhaltlose Preisgabe seiner Gestalt in die Unbeweisbarkeit und damit die Vieldeutigkeit aller geschichtlichen Erscheinung. Das Urteil über die Gestalt Christi unterliegt für den Verstand der gleichen Ungesichertheit wie jede andere geschichtliche Erscheinung und ist für jede Frage der Vergewisserung ebensowenig als unmittelbarer Beweis greifbar wie das Wort. Indem Luther seine Theologie eine Theologie des Wortes sein läßt, nimmt er der Glaubenserkenntnis jede Stütze, die außerhalb ihrer selbst liegt. In dieser Unbeweisbarkeit des gesamten Offenbarungs- und Rechtfertigungsgeschehens liegt der Grund für die ständige Anfecht-

158

Die Erscheinung der Anfechtung und ihre Uberwindung (1531)

barkeit des Glaubens, auf die wir in der Theologie Luthers stoßen.

Die Wahrheit des vernommenen Evangeliums steht

gegen die einsichtigen Argumente von Gesetz und Vernunft ( = ratio) und muß sich gegen sie behaupten. Von hier aus muß die Frage nach Inhalt und Wesen der Anfechtung und der Art ihrer Uberwindung in den Blick genommen werden.

1. D I E U B E R W I N D U N G D E R A N F E C H T U N G A L S W O R T H A F T E S GESCHEHEN1

(1531)

i . Erscheinungsbild und Charakter der Anfechtung In Luthers Kommentar von 1519 spielt die Anfechtung als Thema keine Rolle, die Auslegung ist thematisch streng auf das Rechtfertigungsgeschehen beschränkt. Auch der Begriff der tentatio, der sich in dieser Zeit zum Hauptbegriff für die mit dem Wort »Anfechtung« charakterisierte Situation herausbildet 2 , fällt kaum; wenn Luther ihn überhaupt

gebraucht,

verwendet er ihn noch in dem allgemeinen Sinne von Versuchung zu einzelnen schlechten Taten, der der Glaubende widerstehen soll3. E r schenkt 1519 dem Phänomen der A n 1 Alle folgenden Seitenzahlen beziehen sich, soweit nicht anders angegeben, auf W . 40 I. 2 Nach Bühler, Die Anfechtung bei Luther, setzt der spezifische Gebrauch des Wortes tentatio für »seelische Not« erst im Jahre 1519 ein. Der Befund im Galaterkommentar bestätigt seine Beobachtung, daß Luther den Begriff auch dann noch häufig für die »Versuchungen zu allerlei Sünden« und nicht nur für »Glaubensanfechtung« verwendet (a. a. O., S. 86). Vgl. im übrigen Bühlers Bemerkung zu Luthers Operationes in Psalmos: »Luther beginnt die Anfechtung und den Trost für Angefochtene als das eigentliche Thema der Bibel zu sehen« (a. a. O., S. 87). Diese Feststellung wird von Beintker bestätigt (Die Überwindung der Anfechtung bei Luther, S. 59f.). 8 Paulus weiß, daß die Galater Menschen und damit der tentatio ausgesetzt sind, sich übereinander zu erheben (W. 2, 583, 1 5 ! ) ; durch den Geist die Werke des Fleisches töten heißt im Geiste wandeln und der tentatio des Fleisches widerstehen (W. 2,583,34L); die Ermahnungen des Apostels zeigen, was das christliche Leben ist: tentatio, militia und agon, zugleich gibt er ein Beispiel, wie die zu unterweisen sind, die von den verschiedensten tentationes heimgesucht werden (W. 2, 584,28 f.) ; u. ä.

Erscheinungsbild und Charakter der Anfechtung

159

fechtung keine besondere Aufmerksamkeit. Ganz anders ist das Bild 1531. Nach Luthers eigener Erklärung will er mit seiner ganzen Auslegung des Galaterbriefes Hilfe in der Anfechtung geben. So beginnt er seine erste Kollegstunde: Suscipimus enarrare Epistolam Pauli ad Galatas, non quia nova vel incognita legamus . . . sed quia periculum maximum et proximum . . . Et quantumvis etiam cognoscatur et perspiciatur, tarnen diabolus non est mortuus et caro vivit et omnes tentationes urgent4. Er weiß sich in dieser Tendenz seiner Exegese einig mit Paulus, der seinen Brief für die perturbati, afflicti, vexati, in fide miseri Galatae geschrieben hat, d. h. für die gleichen schwachen Christen, denen auch Luther in seiner Vorrede zum Druck 1535 seine Auslegung — die er meo magno sudore erarbeitet hat! —• übergibt5. Da sich Luther praktisch in seiner ganzen Auslegung auf diese Situation konzentriert und sein Kolleg in ständigem Gespräch mit dem Angefochtenen — dem Hörer wie sich selbst — hält, ziehen sich Schilderungen. Erwähnungen und Anspielungen auf diese Lage durch die ganze Vorlesung hindurch. Auch bei diesem Themenkreis kann nicht daran gedacht werden, das gesamte in der Vorlesung enthaltene Material auszuschöpfen, ich begnüge mich damit, die wichtigsten Stellen herauszugreifen. Die übrigen hier nicht erwähnten Stellen fügen sich ohne weiteres ein. Terminologisch konzentriert sich für Luther die Situation der Anfechtung im Begriff der tentatio. Zwar wird er immer wieder teils durch Parallelbegriffe wie tribulatio, perturbatio o. ä. interpretiert, teils im Verlaufe der Erörterung inhaltlich umschrieben, ohne ständig genannt zu werden, er taucht jedoch immer wieder als stichwortartige Zusammenfassung für das auf, was in solchen Umschreibungen entfaltet wird, und hat sich deutlich als Hauptbegriff durchgesetzt. Natürlich fehlt die Bedeutung »Versuchung« auch 1531 nicht. Wie 1519, so dient Luther der Begriff der tentatio auch in der Vorlesung zur Auslegung der Verse Gal. 5, 17f.: »Caro enim concupiscit adversus spiritum . . .«. Hier zählt er verschiedene tentationes auf: die Sinnlichkeit als Anfechtung des Jünglings®, die Ver4

39. 4«·

6

35. 37«·

Die Erscheinung der Anfechtung und ihre Uberwindung

160

(1531)

suchung zu Zorn7, Ungeduld8, Haß, Stolz9, Geiz10, die Anfechtung der Armut 11 . Die Bedeutung »Versuchung« liegt überall noch klar zugrunde. Art und Weise der Versuchung unterscheidet sich je nach dem Menschen: unus sie, alter sie12, doch erspart bleibt sie keinem, solange er im Fleische lebt. Luther gibt in seiner Vorlesung breite, immer neue Schilderungen der Anfechtung. Immer wieder begegnet uns in ihnen der anfechtende Geist der Traurigkeit. Heil und Fröhlichkeit gehören zusammen — die Traurigkeit erwächst aus dem Verlust des Glaubens an die Vergebung, quando Satan kompt sua pompa, putat quis se damnatum13. So kann tristitia für ihn als zusammenfassende Umschreibung des im Glauben angefochtenen, vom Wort gelösten Lebens stehen: Videtur tristitia dominari14. Traurigkeit, Verzweiflung und Mißtrauen sind in sich gleichwertige Erscheinungsformen der tentatio16, die die verschiedenen Menschen je nach ihrer Veranlagung und Geistesrichtung überfallen. Der Hang zur Schwermut ist Luther selbst von Jugend an eigen gewesen18, so sprechen die in den Paulusbriefen und Acta verstreuten Äußerungen unmittelbar zu ihm. Besonders aufschlußreich für Luthers Verständnis der tentatio ist seine Auslegung zu Gal. 4, 13 f. 17 . Das Lob, das Paulus den Galatern spendet, weil sie ihn in seiner Schwachheit nicht verachtet haben, füllt sich für ihn von hier aus sofort mit lebendiger Anschauung: die Schwachheit des Fleisches, von der Paulus hier spricht, ist für Luther im Angriff des Teufels, der tentatio diabolica18, begründet, der mit allen Mitteln gegen den Verkündiger des Evangeliums angeht. Zunächst dienen 2. Kor. 1 1 und 12 als Illustration: dreimaliger Schiffbruch, Kämpfe, Gefahren, falsche Brüder — das heist er 'infirmitates' 19 . Dieser 6

7 8 W . 40 II 98, 6f. W . 40 II 89, 6. W . 40 II 90, 7. 10 11 W. 40 I I 84, 4; 90, i. W . 40 II 84, 4. W. 40 II 91, 5. 12 13 14 W . 40 I I ΙΟΙ, 1 1 f W . 40 II 98f. W . 40 II 99, 5. 16 W . 40 II 102, i. 19 Vgl. Holl, Ges. Aufs., Bd. 1, S. 389; dazu W 2 6 0 1 , 1 7 f . : . . . nihil optem ardentius quam in angulo latere. 17 Scitis autem, quod per infirmitatem carnis evangelisavi vobis prius et tentationem meam in carne mea non sprevistis neque respuistis, sed sicut Angelum Dei aeeepistis me, sicut Christum Jesum (nach W . 40 I, 18 19 vgl. Anm. 20). 634, 7. 635, i f f . s

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161

Schwachheit des Fleisches steht allerdings um so überzeugender die Stärke des Geistes gegenüber, die gerade unter solcher Schwachheit verborgen ist. So kommt in der sichtbaren Schwachheit des Paulus das Ärgernis des Kreuzes zum Ausdruck. Aber das ist für Luther nicht alles, was er zur Schwachheit des Apostels zu sagen hat. Er greift tiefer und zieht den Begriff der tentatio, der im Text nur die Versuchung für die Galater bezeichnet, den Apostel wegen der äußeren Schwachheit und Kümmerlichkeit seines Auftretens zu verachten, inhaltlich noch zur Selbstaussage des Paulus und beginnt wie selbstverständlich den entsprechenden Abschnitt seiner Auslegung mit dem Wortlaut »meam tentationem«.20 Jetzt erst geht es für ihn auf das Eigentliche. »Tentatio« enthält wohl das Moment der infirmitas carnis in sich, ist aber nicht auf das Fleisch beschränkt, sondern läßt nun auch die den Glauben anfechtende Kraft erkennen, die in diesen äußeren Anfeindungen steckt. Paulus vermag es nicht, der infirmitas carnis ständig die fortitudo spiritus entgegenzusetzen21! Die ihm von außen entgegentretende Feindschaft führt ihn in die Verlassenheit und greift nun auch das Verhältnis zu Gott an. Zur äußeren Verlassenheit kommt die innere: er läßt das Heil, die Fröhlichkeit, die Vergebung der Sünden fahren22 und läßt sich damit den Glauben angreifen. Der Triumph des Geistes, der am Leben des Paulus abzulesen ist, wird nicht unmittelbar an der Stärke der Glaubenshaltung erkannt. Sichtbar ist allein die Schwachheit, gerade auch die des Glaubens. Diese Vertiefung dessen, was über die infirmitas carnis zu sagen ist, durch den mitherangezogenen Begriff der tentatio macht für Luther erst das eigentliche Ärgernis des Kreuzes aus. In dieser äußersten Schwachheit des Apostels wird für Luther die Schwachheit Christi sichtbar: außer den äußeren Anfeindungen haben die Apostel Anfechtungen im Herzen — wie auch Christus sie im Garten erdulden mußte23! Beschrieben werden sie mit den Worten des 22. Psalms, der den Blick auf den leidenden Christus lenkt, und den Äußerungen über den Apostel folgt das ohne 20

636, 8; auf Grund des Koine-Textes ? 1519 zitiert Luther „tenta-

tionem vestram", so die Vulgata und heute der Urtext (vgl. Nestle). 21

11

635, 10.

22

Born kämm, Galaterbrief

638, 5.

28

637,

7f.

162

Die Erscheinung der Anfechtung und ihre Uberwindung (1531)

jede vermittelnde Reflexion angefügte »et wird gecreutzigt«, verbunden mit der nach der Passionsgeschichte an Jesus gerichteten Spottrede:· »Er hat anderen geholfen . . .« und »Arzt, hilf dir selber!24« Das Ärgernis des Kreuzes wird so von Luther bis in die letzten und gewagtesten Tiefen hinein aufrecht erhalten. Er benutzt den Begriff der tentatio dazu, die äußeren Anfechtungen durch die Anfechtungen des Glaubens zu überhöhen und ihnen so erst ihren eigentlichen, gefährlichen Stachel zu geben. Auch das Ineinssetzen der Anfechtung des Apostels mit Anfechtungen Christi selbst hindert ihn nicht, diese auf ihren eigentüchen Sinn hin auszudeuten: Iactat salutem, leticiam, remissionem peccatorum26. Es ist ohne weiteres deutlich, daß bei den angeführten Stellen der Begriff der tentatio einen weit größeren, gefährlicheren Umfang hat als dort, wo sie auf einzelne, fest umreißbare Verfehlungen bezogen wurde. Im Blick auf diese kann Luther von inferiores tentationes sprechen28, Verzweiflung, Traurigkeit und Mißtrauen jedoch greifen bis hinein in das Gottesverhältnis. Über diesen höchsten Anfechtungen kann der Mensch wohl die niedrigeren vergessen27. Paulus spricht von spirituales tentationes: non auff ein hurichen gedeutet; sie ghet fein hin weg, quando venit sudes, da der teuffei ein mit spist, ut Teuffei28. Erst wo das Verhältnis zu Gott auf dem Spiel steht, beginnt die eigentliche Not. Doch das Verhältnis der Anfechtungen zueinander ist nicht einfach eine inhaltliche Unterscheidung in schwere und leichtere, wenn es auch auf den ersten Blick so scheint, sondern jede Versuchung zur Sünde kann zur höchsten Anfechtung werden, wenn der Satan kommt und dem mit der Versuchung ringenden Menschen ihretwegen die Gnade Gottes abspricht29. Hier steht die Anklage des Gesetzes auf, Traurigkeit und Verzweiflung nehmen von dem Menschen Besitz. So quält der Teufel das Gewissen und versetzt es in Furcht, daß es nur die Anschuldigungen hören kann30. In dieser Verbindung mit der Anklage des Gesetzes erhält der Begriff der tentatio seine eigentliche 24 28

638, 3ff. 637, 2f.

26 28

26 27 638, 5. W . 40 II 91, 4 f . W . 40 II 89, 5f. 30 W . 40 II 98/9. W. 40 II 12, 4 f .

Erscheinungsbild und Charakter der Anfechtung

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Prägung. Teufel, Gericht und Gesetz gehören zusammen: das ist ein so großer schalck . . . das sol einen so zuplagen, ut gratiae, Christi obliviscatur31. Luthers Beschreibungen der Gesetzesanfechtung nehmen den breitesten Raum ein. Das eindringlichste Beispiel ist ihm immer wieder das des Mönches, denn dieser steht in unentrinnbarer Weise unter dem Anspruch des Gesetzes. Das Gelübde, Mönch zu werden, ist der Versuch, dem anklagenden Gesetz die höchste Leistung entgegenzusetzen. Um sein dem Gesetz verfallenes Leben loszukaufen, gelobt er, bei Wasser und Brot zu fasten, barfuß zu gehen, die Ordensregeln zu halten32. Wie ein Hund, der seinen Brocken verloren hat und nicht aufhören kann, nach ihm zu suchen, kann er seine Augen nicht vom Gesetz lösen und setzt ständig ein Gesetz neben das andere, er begreift nicht: Mulgere hircum et supponere cribrum, Das ist lege iustificari. Es ist eine Sisyphusarbeit33. Mit der Summe der Gebote wächst die Zahl der Übertretungen, je mehr er läuft, desto mehr kommt er zurück, wie der Krebs; je ernster das Gesetz genommen wird, desto ernster verklagt es, und alles Fasten und Tragen rauher Kutten hilft darüber nicht hinweg. Jeder ernstliche Versuch, dem Gesetz Genüge zu tun, führt in nur immer größere Verzagtheit. Die Ungewißheit, ob er dem Gesetz gerecht geworden ist, bleibt auch beim gottwohlgefälligsten Tun, beim Lesen der Messe, denn Gottes Richterspruch dringt tiefer und ist schonungsloser als der des Menschen34. Die Unmöglichkeit, dem Gesetz nachzukommen, führt in die Verzweiflung, ja, Luther spricht von einem habitus desperationis35. Utinam fuissem ein sewhird!36 — ein Wort, das die ganze Ausweglosigkeit des Mönchseins nur zu deutlich erkennen läßt. Im Laufe der Vorlesung führt Luther zweimal das den Vitae Patrum entnommene Beispiel des Vaters Arsenius an, der nach einem für menschliches Urteil reinen Leben drei Tage vor seinem Tode zitternd, mit zum Himmel emporgewandten Augen dastand und seines Schreckens nicht Herr werden konnte: aha sunt iudicia Dei, alia hominum! 31

129, 6ff. 489, 3 f.; so ist in diesem Zusammenhang wohl das facere leges zu verstehen. 33 34 85 616/7. W . 40 I I 14f. 615, 8f. »· ib. 82

11*

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Die Erscheinung der Anfechtung und ihre Uberwindung

(1531)

Die Schrecken Gottes waren ihm aufs Herz gefallen et stossen zu boden yhn, sua opera37. Luther bekennt es von sich selbst, der sich dem Gesetz schonungsloser preisgegeben hat als seine Gegner: ego bin tieffer in monachatu gesteckt usque ad dilirium et insaniam capitis38. Was er über die verzweifelten Anstrengungen des Mönches, durch Gesetzeserfüllung gerecht zu werden, schreibt, weiß er aus eigener Erfahrung: Ego 20 annis cum peccatis meis me gebissen et volui placare iram dei studiis etc. Es heist aber: ie lenger, erger39. Selbstverständlich bleiben die Gesetzesanfechtungen nicht auf den Mönch beschränkt, er ist nur ein besonders deutliches Beispiel. Ebensowenig gilt der Brief des Paulus nur den Galatem. Jeder Christ ist dem Angriff des Gesetzes und des Teufels ausgesetzt: Nemo putet, quod soli Galatae vexentur fascinatione, sed unusquisque cogitet etc40. Luthers Beschreibung der Anfechtung läuft inhaltlich wieder hinaus auf die Anfechtung durch das Gesetz. Von daher wird der Übergang von der Situation der Anfechtung zu der der Rechtfertigung fließend, Luthers Beschreibung der Wirkung des Gesetzes, die den Menschen zur rechtfertigenden Gnade treibt, läuft seiner Schilderung der Anfechtung völlig parallel. In seiner Auslegung zu Gal. 3, 19ff., der breiten Ausführung über die Funktion des Gesetzes, dient ihm die Beschreibung der Gesetzgebung am Sinai zur Verdeutlichung. An Hand dieses Beispiels entsteht ein großes Gemälde von der Kraft des Gesetzes, das alle menschliche Heiligkeit zum Schweigen bringt. Auf die Ankündigung der Erscheinung Gottes hin begann das Volk sich zu reinigen: Ey, wie ein gros heiligkeit hub sich da!... Et da ghets an: videt nigras nubes et fulgura discurentia . . . Da war nemo da heim; keiner konnte diesen Anblick ertragen — ebensowenig wie der Mensch das Gesetz Moses ertragen kann41. Trotz aller Vorbereitung treibt es die, die es hören, in die Verzweiflung. Es ist nur eine selbstverständliche Folge, daß 37

38 258, 6ff.; W . 40 I I 16, 8 ff. 134, 3 f. 85, gf.; vgl. auch: Ego expertus in me ipso et aliis (W. 40 II 14,9); Res ipsa facit, ut intelligamus Paulum (634, 6 ff.). 40 318, 4f.; fascinatio = falsa opinio de statu Christiano ( 3 1 7 , 7 ) . 39

41

483. 5«·

»Massive« Vergewisserungen im Verständnis des Werkes Christi

165

das Volk das Gesetz, das es nicht hören kann, flieht und haßt, daß es nichts gibt, dem es widerwilliger begegnet, ja daß es den Tod mehr liebt als das Gesetz. Nicht anders ergeht es dem Menschen, dessen Herz das Gesetz mit seinen Strahlen durchdringt. Wo Furcht vor dem Gesetz herrscht, erlischt der Wille zur Gerechtigkeit, ja der Haß auf das Gesetz steigert sich über sich hinaus zum Haß auf Gott: revelata lege sequitur infinitum odium cordis humani contra deum. Das thut lex42. Schilderungen dieser Art zeigen, wie direkt für Luther der Fragenkreis der Anfechtung in den der Rechtfertigung übergeht. Der Textzusammenhang, dem diese Beschreibungen entnommen sind, stellt thematisch eine Schilderung des theologicus usus legis dar, zielt also auf die Rechtfertigung hin, um deretwillen der Mensch zunächst in die Bedrängnis durch das Gesetz geführt wird.

2. Die Frage »massiver« Vergewisserungen in Luthers Verständnis des Werkes Christi a) Luthers Einordnung der bildhaft-mythologischen Äußerungen in seine Gesamtaussage Führt uns die Frage nach dem Charakter der Anfechtung unmittelbar hinein in den Fragenkreis der Rechtfertigungslehre, so müssen wir auch die Möglichkeit der Überwindung der Anfechtung im Themenkreis der Rechtfertigungslehre suchen. Als vergewissernde Hilfe für das angefochtene Gewissen bietet sich am selbstverständlichsten die Berufung auf das für den Menschen geschehene Werk Christi an. Günter Jacob und Thimme, der sich auf ihn beruft, leiten die verstärkte Bildhaftigkeit der Sprache Luthers in der Galatervorlesung, die »massiv-mythologische Verdichtung«43 in seinem Verständnis des Werkes Christi, seine Neigung zu »doktrinärer Verkapselung« und »lapidaren Formeln«44 von dieser Funktion des Heilsgeschehens her, Gegenstand der Berufung und Vergewisserung in den Nöten der 42

496, 12.

43

Jacob, Der Gewissensbegriff in der Theologie Luthers, S. 39.

44

Jacob, a. a. O., S. 55.

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Die Erscheinung der Anfechtung und ihre Uberwindung (1531)

Anfechtung zu sein. Die »Massivität, Starrheit und doktrinäre Verknöcherung«, die für Jacob die Kennzeichen der Theologie des späteren Luther sind, haben für ihn ihren Ursprung im Kampf gegen die Anfechtung, er begreift sie als »Ausdruck des immer tiefer durchlittenen Stehens innerhalb der Polarität von Verbum und Satan« 45 . Auch für Thimme ist es die Steigerung der Anfechtungen, die Luther zwang, seine Gedanken »kompakter« zu gestalten4®. Luther stellt die »exemplarische Bedeutung des geschichtlichen Lebens Jesu« zugunsten der »aus ihr sich ergebenden handgreiflichen Folgenrungen« zurück47, »in starrer Kompaktheit wird Christus den Anfechtungsmächten gegenübergestellt«48, Luther greift »zu derben Bildern«, »um sich der Realität des Heils zu vergewissern«49, er braucht »möglichst kompakte Verbürgungen seines Erlösungsglaubens«, die ihm »in ihrer Kompaktheit die Erlösung sinnenfällig garantierten« 60 . Das heißt: das Werk Christi wird so zentral als Hilfe in der Anfechtung verstanden, daß seine Darstellung und Deutung von der Situation der Anfechtung her erschlossen wird. Die Steigerung der Anfechtung führt zu einem »massiveren« Verständnis des Heilsgeschehens. Zweifellos ist ein Zunehmen bildhaft-mythologischer Wendungen in der Sprache der großen Galatervorlesung zu beobachten. Diese Entwicklung scheint mir jedoch mit der Ineinanderschau der Geschichte Christi mit der Rechtfertigung des Menschen zusammenzuhängen. Wo die Geschichte Christi mit der Rechtfertigung des Menschen in eins gesetzt wird, ist der Personifizierung der angreifenden Mächte selbstverständlich Raum gegeben. Je mehr die Geschichte des Menschen mit dem Wort, das in sein Leben tritt, als Anteilerhalten an der Geschichte Christi begriffen wird, desto mehr kann auch das anfechtende Geschehen, das dem Menschen aus seiner Bindung an das Wort bzw. an Christus erwächst, Züge der Geschichte Christi annehmen, die dann, wenn sie als Kampf und Sieg verstanden ist, von selbst zur Personifizierung der angreifenden bzw. be45 4* 47 18

Jacob, a. a. O., S. 56. Thimme, Christi Bedeutung iür Luthers Glauben, S. 78 f. Anm. 2. 48 Thimme, a. a. O., S. 79. Ib. 50 Thimme, a. a. O., S. 76. Thimme, a. a. O., S. 80.

»Massive« Vergewisserungen im Verständnis des Werkes Christi

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siegten Mächte lex, peccatum, mors etc. anleitet. In Christus hat der Glaubende eine alia lex, die das ihn verklagende Gesetz zum Schweigen bringt und bindet51, einen Tod, der seinen Tod tötet62, er hat den, der seinen Tod an seinem eigenen Leibe entmächtigt53, usw. Die Beschreibung des Zusammenstoßes des Menschen mit den anfechtenden Mächten ist wie die Beschreibung des duellum mirabile von dieser Personifizierung der Mächte bestimmt. So scheint mir schon von hier aus die bei Jacob und Thimme vollzogene Verbindung der Frage nach der Ursache dieser Erscheinung mit der Frage nach Stärke und Uberwindung der Anfechtung in der Theologie des späteren Luther den Tatbestand — jedenfalls wie er uns in der Galatervorlesung vorliegt, der jedoch Thimmes Beobachtungen entstammen — nicht zu treffen. Auch von unseren Ausführungen über die Rechtfertigungslehre her muß diese Gedankenverbindung in Frage gestellt werden. Jacob und Thimme verstehen das Werk Christi so primär als Hilfe in der Anfechtung, daß sie seine Darstellung und Deutung von der Situation der Anfechtung her zu erschließen suchen. Die Steigerung der Anfechtung führt sie zu einem »massiveren« Verständnis des Heilsgeschehens. Uns ergab sich jedoch die umgekehrte Gedankenfolge: die Strenge, mit der Luther an der Worthaftigkeit und d. h. an der Verborgenheit der Offenbarung, die ja für ihn mit dem Werk Christi wie der Rechtfertigung zusammenfällt, festhielt, verbot jede Vergewisserung. Aus dieser nicht aufhebbaren Verborgenheit dieses Geschehens entspringt die Anfechtung; der Zweifel wird immer wieder geweckt durch die Unausweisbarkeit des Evangeliums — es ist nicht möglich, zugleich von einer Steigerung der Anfechtungen und kompakteren, eindeutigeren Vergewisserungen zu reden, wenn diese Vergewisserungen in den gleichen Glaubensinhalten gesucht werden, in deren Ungesichertheit die ständige Anfechtbarkeit des Rechtfertigungsglaubens und damit des Heilsgeschehens überhaupt begründet liegt. Zudem erhebt sich die Frage, ob Luther seine Formeln tatsächlich in der Weise als massiv und kompakt verstanden 51

275. 5ff·

62

276, 5·

63 2

74> 9-

168

Die Erscheinung der Anfechtung und ihre Überwindung (1531)

hat, in der Jacob und Thimme sie interpretieren. E r selbst ist sich der Bildhaftigkeit und damit der Uneigentlichkeit seiner bzw. der paulinischen Redeweise durchaus bewußt: Paulus spricht häufig vom Gesetz, als ob es eine Person sei. E r gebraucht mit dieser Redeweise ein Bild, das der Mensch leicht in sein Gewissen fassen kann: das Gesetz hat den Sohn Gottes ans Kreuz gebracht, doch der Auferstandene erwürgt es; auf diese Weise ist das Gesetz für uns in Ewigkeit vergangen 54 . E r begründet die paulinische Identifikation Christi mit dem Fluch Gottes, der ihn getroffen hat, mit der größeren Kraft, die einer so personifizierenden Aussage innewohnt: cum peccator venit in damnationem, Non solum sentit se maledictum concretive, adiective, sed subiective, ut non videatur sibi malus, sed malitia, maledictio. Quia maxima res portare peccatum, mortem, tum homo plene est ipsa mors, peccatum. Diese Personifikation ist für ihn ein Kennzeichen der biblischen Redeweise: das ist scripturae phrasis etc. 66 . Luther hat selbst Freude an der starken Ausdruckskraft des Paulus: die Bezeichnung Christi als lex legis, die er aus Gal. 2, 19 herausliest und abwandelt in peccatum peccati, mors mortis und aus der er seine große Schilderung des duellum mirabile herauswachsen läßt, ist »ein seer schon phrasis«56. Sicher muß die dichterische Sprachgewalt Luthers hier mit in Rechnung gestellt werden. Luther selbst weiß um die letzte Uneigentlichkeit dieser Redeweise, so ist es nicht einfach möglich, wie Thimme von Massivierung, Vergröberung, Kompaktheit, handgreiflichen Folgerungen usf. zu reden. Sicher, es läßt sich eine Verschiebung vom begrifflichen zum bildhaften Reden hin beobachten. Doch indem das Bild von Luther selbst als solches verstanden wird, kann eine einfache Identifikation dessen, was in dieser Sprachform zum Ausdruck gebracht ist, mit der gemeinten Sache selbst ebensowenig vollzogen werden wie bei einer begrifflichen Aussage 67 . 54

566, 5ff.; vgl. auch: in illam imaginem mus man hinsehen (443, 12). 448/9. μ 266/7. 67 Zur Frage der bildlichen Redeweise bei Luther vgl. Friedrich Schumann, Gedanken Luthers zur Frage der Entmythologisierung, jetzt greifbar in seiner Aufsatzsammlung »Wort und Gestalt«, LutherVerlag Witten 1956, S. 165 ff. Ohne seine These allein an Hand der 66

»Massive« Vergewisserungen im Verständnis des Werkes Christi

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Das ist aber im Grunde das, was geschieht, wenn von Massivierung und Kompaktheit geredet wird, denn was sonst sollte damit gemeint sein ? Zu dieser Feststellung, daß die Art der Aussage selbst das Urteil der Massivität nicht ohne weiteres erlaubt, tritt die theologische Einordnung der bildhaft-mythologischen Äußerungen, die Luther ihnen gibt. Sie zeigt sich ζ. B. sehr deutlich in seiner Auslegung zu Gal. 3, 1 3 , die in hohem Maße durch massiv-mythologische Beschreibungen des Werkes Christi bestimmt ist. Aufschlußreich ist der Beginn der einzelnen Absätze innerhalb des Auslegungskomplexes: Hoc bene notandum 68 , es handelt sich im folgenden um eine cognitio69, um die iucundissima doctrina 60 , die Schilderung des Kampfes und Sieges Christi enthält die capitalia nostrae theologiae81, es ist ein Bild, das nur mit der ratio illuminata per fidem ergriffen werden kann 62 . Der gesamte Komplex, der der diabolica illusio63, d. h. der Anfechtung gegen die eigene Sünde, entgegengesetzt wird, enthält für Luther die speculationes, die gegen alle vermeintliche Rechtfertigung aus den Werken gelten64. Das heißt: die bildhafte Aussage ist Inhalt der Lehre und muß im Glauben ergriffen werden, allein der Glaube rechtfertigt, denn er allein ergreift diese imago 66 , — ideo leits dran, ut bene credas 66 . Die Geltung der ins Bild gefaßten Aussagen für den Menschen hängt am Glauben: qui hoc credit, habet 67 , bzw.: quatenus credit, eatenus habet 88 . Wie stark diese Einbettung des Werkes Christi in die Form einer lehrhaften theologischen Aussage auch Texte bestimmt, die thematisch ganz auf die Uberwindung der Anfechtung hin zugespitzt sind, soll ein Blick auf Luthers Exegese zu Gal. 4, 6 Galatervorlesung nachprüfen und verfolgen zu können — es fehlen hier die entscheidenden Reflexionen Luthers über diese Redeweise, auf die man sich stützen müßte —, sei hier nur auf eine Bemerkung verwiesen: »Die Exegese der figuralen Sprache der Schrift hätte . . . diese Sprache . . . gegen die doppelte Gefahr der Einebnung in direkte Begrifflichkeit wie der Vergröberung in massive Vorstellungen der vorfindlichen Welt zu schützen . . (S. 172). 68 59 el 434. 5· 435. 5· 60 437. 544 1 · τ · 42 63 M 1 f 6 443. ΐ3· 444. 4· 44 . " · ' 444· ββ 47 444» 5· 443, 12. 68 444, i f .

170

Die Erscheinung der Anfechtung und ihre Überwindung (1531)

zeigen. Dieses Textstück ist in diesem Zusammenhang deshalb von besonderem Interesse, weil von der Exegese der vorangehenden Verse her — Christus ist unter das Gesetz getan — , die die Beschreibung des duellum mirabile enthält, eine nicht näher interpretierte Berufung auf das Werk Christi besonders nahe gelegen hätte. »Quoniam autem estis filii, misit deus spiritum filii sui in corda vestra clamantem: abba, Pater«. Anfang und Ende der Auslegung dieses Verses bilden zwei gedanklich völlig parallele Absätze 69 . Der zweite ist der Beginn einer neuen Kollegstunde (16. und 17. Okt.), in der Luther wohl einfach noch einmal auf die Gedanken des Vortages zurückgegriffen hat, als Zusammenfassung der ganzen vorangegangenen Exegese. Ich schiebe hier beide Abschnitte einfach ineinander. Zunächst wird die Anfechtungssituation geschildert: die in Gal. 4, 4 — 6 gepredigte Erlösung, Sohnschaft und Mitteilung des Geistes wird vom Menschen deshalb so schwer im Glauben erfaßt, weil die Neuschöpfung, die ihm durch den Empfang des Geistes widerfährt, unsichtbar bleibt. Wohl schafft der Geist, der mit dem Wort kommt, andere Menschen — doch: non apparet, quasi alii simus 70 . Wie jeder andere ehrenhafte Mensch verrichtet der Glaubende seine weltlichen Aufgaben, er ist der Sünde, dem Irrtum, dem Teufel ebenso preisgegeben wie jeder andere auch, äußerlich ist kein besonderer Unterschied zu bemerken. Der Besitz des Geistes zeigt sich allein in seinem Verhältnis zum Wort, im Verlangen nach ihm, in dem novum iudicium über alle Gesetze und Lehren, das dem Glaubenden aus ihm zuwächst, und im Bekenntnis zum Wort in der Verfolgung. Im übrigen aber gilt: Christianus sol peccator bleiben 71 . Hier entspringt die Ungewißheit im Papsttum. Solange der Mensch angeleitet wird, auf seine Werke zu sehen, muß er am Besitz des Geistes zweifeln 72 . Dagegen ist der Inhalt des Wortes zu setzen: der Glaubende ist heilig, nicht um seiner selbst, sondern um Christi willen, der für ihn unter das Gesetz getan ist; soweit er an ihm hängt, ist er in der Gnade, keine Sünde kann ihn

49

572—79· 586—91.

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572, II.

71

573.5.

M

575. If·. 9f.;

589.4t·

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171

verdammen, denn Christus hat Gesetz und Sünde die Gewalt genommen, der Glaubende darf gewiß sein um dessentwillen, der selbst gewiß ist73. Wer aber in der Gnade ist, hat auch den heiligen Geist74, wer Gott gefällt — um Christi willen — , ist damit notwendig im Besitz des Geistes, denn ohne den Geist ist es unmöglich, Gott zu gefallen75. Das heißt: das Ergreifen des Werkes Christi entnimmt den Menschen der Anklage durch das Gesetz. Doch nicht so, daß dem Werk Christi die Beziehung zur Existenz des Glaubenden fehlte. Der Hinweis auf die erlösende Tat Christi ist gegen das Vertrauen auf die eigenen Werke gesetzt, das Ziel dieser Predigt ist, den Bück des Menschen von sich selbst zu lösen, sie führt ihn aus der Ungewißheit, weil sie ihn hinweist auf ein Gegenüber. Die Beschreibung des Werkes Christi spielt im einzelnen keine Rolle. Es geht um die Absage des Menschen an sein eigenes Vermögen und damit um eine theologische Entscheidung. Das »extra nos«, auf das Luther den Angefochtenen verweist, bezieht sich nicht auf das isolierte Werk Christi, sondern auf die Zusage Gottes, in der dem Menschen die Teilhabe an der Erlösung in Christus zugesprochen wird: hereo in eo, qui non potest mentiri, qui dicit: do filium meum sub legem, ut redimat etc., ut tua peccata in eius dorso, ergo non possum dubitare7®. Ob sich dies letzte »ergo non possum dubitare« auf die Zusage Gottes oder unmittelbar auf das Werk Christi selbst zurückbezieht, ist nicht ganz klar, mir scheint das erste wahrscheinlicher. Das folgende, den Hauptgedanken zusammenfassende »Ideo nostra theologia est certa, quia ponit nos extra nos« gibt jedenfalls eine eindeutige Interpretation dessen, was die Berufung auf Christus für Luther in der Anfechtungssituation bedeutet: der Mensch soll sich nicht gründen auf seine conscientia, seine sensualis persona, seine opera, sondern auf die göttliche Verheißung und Wahrheit, die ihn nicht täuschen können77. Bezeichnenderweise taucht hier bei der Erörterung des extra nos wie auch am Anfang des Auslegungsabschnittes im Zusammenhang der Betonung des propter ilium78 der 73

576/7·

74

5 77» 6f·

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576. if·



589, 6 f.

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172

Die Erscheinung der Anfechtung und ihre Überwindung (1531)

Begriff der theologia auf: nostra theologia est certa, quia ponit nos extra nos, und: da ghehort theologia hin, daß der Mensch nicht nur für sein Amt, sondern gerade auch für seine eigene Person der Gnade gewiß ist, weil er an Christus glaubt 79 . Die Berufung auf Christus, die dem Angefochtenen das Heil verbürgen soll, geschieht also nicht durch emotionale Ausmalung, Verdichtung, »Massivierung« einzelner Züge des Werkes Christi, sondern sie vollzieht sich in der Klarheit theologischer Reflexion und dringt auf die Absage an jedes Vertrauen auf das eigene Vermögen vor Gott. Alle Äußerungen Luthers laufen immer wieder hinaus auf das »ideo leits dran ut bene credas«80. Thimme, der diese Einordnung der bildhaften Vorstellung vom Werke Christi in die fides deutlich sieht, empfindet gerade hier eine starke Spannung. Wohl werden die Bilder in ihrer Massivität »immer wieder durch die Bedingung der fides eingeschränkt«, doch scheint es ihm Luther selbst nicht bewußt zu werden, daß er, indem er »zu derben Bildern greift, um sich der Realität des Heils zu vergewissern«81, im Grunde aus dem ihm eigentümlichen Verständnis des Glaubens herausfällt, der eben nicht im Ergreifen eines vorgegebenen Tatbestandes besteht, sondern — im Zuge der Interpretation Thimmes — zur conformitas mit Christus führt. Durch diesen Glaubensbegriff, der das Verständnis Christi als Urbild voraussetzt, entfällt die Möglichkeit, auftretende »Massivitäten« sinnvoll in das Gedankengefüge Luthers einzuordnen. Damit ist Thimme gezwungen, von Luther selbst nicht bemerkte Inkonsequenzen und Widersprüche anzunehmen, demgegenüber dann das Grundverständnis seiner Aussagen — eben der Urbildgedanke — herausgearbeitet und als Zentrum seiner Gedankenführung festgehalten werden muß. Daß das Anliegen Thimmes, den Rechtfertigungsglauben zu wahren, auch ohne das alleinige Erklärungsprinzip des Urbildgedankens in Luthers Konzeption voll zur Geltung kommt, indem Luther traditionelle Begriffe und Bilder durch den Zusammenhang der Rechtfertigungslehre in Antithese zur Werkgerechtigkeit setzt und ihnen damit notwendig den Bezug 79

576. 4*·

80

444, 5.

81

a. a. O., S. 80.

»Massive« Vergewisserungen im Verständnis des Werkes Christi

173

zur Existenz des Glaubenden gibt, sahen wir bereits. So scheint es mir nicht möglich, eine Verstärkung der Bildhaftigkeit der Sprache in Gegensatz zu dem Glaubensbegriff zu bringen, in dem die existentielle Beziehung der im Bilde gemeinten Sache zum Glaubenden ihren theologisch formulierten Ausdruck findet. Die »Bedingung der fides« darf nicht als Einschränkung der Bilder verstanden werden; sie bringt nur die Funktion zum Ausdruck, die Luthers bildhaft-mythologische Ausführungen selbstverständlich in seinem Gedankengefüge haben und von der her sich die genauere Durchgestaltung, die er ihnen gibt — maxima persona! —, erklärt. Die gedankliche Zuordnung des Bildes zum Glaubensbegriff ist wie die Konzeption des Bildes selbst Ausdruck des Bemühens um die gleiche theologische Aussage, in der die existentielle Bezogenheit auf den Glaubenden notwendig mitgesetzt ist. Das gilt ebenso dort, wo statt der Bindung an die fides die Einordnung in lehrmäßige Formulierungen auftaucht — wie etwa: hoc bene notandum, cognitio, iucundissima doctrina etc.82. Die Verbindung der bildhaft-mythologischen Aussagen Luthers zum Glaubensbegriff, die Luther ständig herstellt, bzw. ihre Fassung als Lehrformulierung schränkt die Bilder nicht ein, sondern interpretiert sie in ihrem von Luther intendierten Sinne.

b)

Testimonia

certitudinis

des Glaubens

zur an

Vergewisserung

Christus

Luther fordert vom Menschen eine Glaubensentscheidung, deren Schwere durch keine gesteigerte »Kompaktheit« in der Schilderung des Werkes Christi gemildert werden kann. Das zeigt auch der auffällige Tatbestand, daß er n e b e n die Berufung auf das Werk Christi den Hinweis auf testimonia certitudinis setzt. Er lenkt den Blick dessen, der seines Heiles nicht gewiß ist, auf Wort, Taufe und Kirche. Aus ihnen lebt der Glaubende, 82

Die speculatio theologica, divina, mit der allein Christus ergriffen werden kann, wird von Luther in den Gegensatz von vita contemplativa und activa eingeordnet, sie besteht also wie die fides im Gegensatz zum Handeln nach dem Gesetz im Hören und Betrachten des Wortes Gottes.

174

Die Erscheinung der Anfechtung und ihre Uberwindung (1531)

als persona, die hier gründet, gefällt er Gott 88 . Läßt der Mensch sich von der pästlichen Predigt der Heilsungewißheit zum Evangelium rufen, so hat er in Taufe, Sakrament und der Gemeinschaft der Kirche84 alle Vergewisserung der göttlichen Gnade, denn: si non faveret, non daret ista 86 . Wort, Sakrament und Kirche verbürgen die Gnade Gottes. Es ist auffällig, daß in der Zusammenstellung dieser testimonia certitudinis die Erwähnung Christi fehlt. Selbstverständlich ist im Zusammenhang beider Stellen von Christus und seinem Erlösungswerk die Rede, sie stehen ja innerhalb des eben dargelegten Gedankenganges; die Berufung auf verbum, baptismum und societas ecclesiae kann sogar dem credere in Christum parallel stehen8®. Trotzdem bleibt die genannte Dreiheit eine Gruppe für sich, Luther beruft sich offenbar auf sie zur Vergewisserung eben des Heilsglaubens, der inhaltlich Glaube an Christus ist. Mit anderen Worten: die Berufung auf Wort, Taufe und Kirche dient ihm als Hilfe, die Wahrheit des Christusglaubens zu ergreifen und sich gegen die Anfechtung zu behaupten. Für das Verständnis dieser testimonia certitudinis gilt jedoch das gleiche, was sich uns im Blick auf das Werk Christi zeigte: daß eine bloße Berufung auf »massive« Tatbestände — sei es nun Werk Christi oder Kirche oder Taufe — allein noch keine Hilfe für eine Uberwindung der Anfechtung darstellt. Wohl verweist Luther den Angefochtenen hier auf Tatbestände, die er außerhalb seiner selbst vorfindet — darin liegt die Vergewisserung, die er durch sie erfährt —, trotzdem scheint er gerade dabei daran interessiert zu sein, den Angefochtenen auf Tatbestände hinzuweisen, an denen dieser, für sich selbst ohne weiteres einsichtig, Anteil hat. So formuliert Luther an der ersten Stelle nicht objektivierend, sondern gerade so, daß der Mensch mit einbezogen ist: ut sciant . . . quod deo placeo pro persona, quae erudita per verbum, baptisata, vivit in societate 83

576, 6f. Die der Druck sehr schön erläutert mit potestas clavium (591, 25); oder ist hier der lebendige Kirchenbegriff Luthers bereits zur Bezeichnung einer vom Amt getragenen Kirche geworden ? 85 86 591, i f f . 576, 6ff. 84

»Massive« Vergewisserungen im Verständnis des Werkes Christi

175

ecclesiae87. Im zweiten Zusammenhang begnügt er sich mit der gegenständlichen Aufzählung: ubi. . . vocavi te ad Euangelium, ibi habes baptismum, Sacramentum, societatem istius ecclesiae88, und doch wird auch hier der Mensch selbst mit hereingenommen: diese testimonia certitudinis dienen ihm nicht nur allgemein zur Vergewisserung: quod deus propicius, sondern verbürgen es ihm persönlich: quod salvus fiam 89 . Zur Vergewisserung des Glaubens an den Inhalt des Evangeliums greift Luther offensichtlich nach Zeichen und Erweisen der göttlichen Gnade, die für den Angefochtenen erfahrungsmäßig zugänglich sind. Das heißt, er sucht die Gewißheit des Christusglaubens nicht durch inhaltliche Massivierung zu stärken, sondern durch den Hinweis auf den Boden, der unmittelbar erkennbar die Existenz des Glaubenden trägt90. Noch deutlicher wird sein Bestreben, sich auf Tatbestände zu berufen, die dem Angefochtenen existentiell einsichtig sind, im Zusammenhang seines Hinweises auf Christus, der »dem legi et peccato die gwalt genomen« hat 91 und darauf dem Glaubenden den heiligen Geist mitteilt. Als vergewissernde Anzeichen für den Besitz des Geistes führt Luther das testimoninium internum und signa externa an. Der Mensch soll im Herzen die Gewißheit fühlen, daß Christus fest steht und daß Gott ihn um dessentwillen gnädig ansieht, auch wenn er selbst irrt und sündigt. Daneben aber gelten die signa externa: Lehren, Hören, Bekennen, Danken, Loben, sein Amt wohl versehen, den Bruder trösten; wer Gott von Christus predigen hört, wer sich am Fortgang des Evangeliums freut, der hat den Geist, denn dies kann allein Christus bewirken92. Zusammenfassend begründet Luther dann die Gewißheit, den Geist zu haben, mit dem Glauben an Christus: habeo spiritum sanctum, quia non 87

88 89 576, 5 ff. 591, 2 f. 591, 5 f. Auch Pinomaa scheint mir diesen Tatbestand zu verzeichnen, wenn er schreibt: »Die Tiefe der Anfechtungsnot hatte Luther früh schon gelehrt, daß alle subjektiven Stützen unzureichend sind. Dem Menschen muß daher mit dem Objektiven geholfen werden. Von diesem Objektiven ist zuerst der Bruder im Glauben zu nennen. Die große objektive Hilfe aber ist iiir Luther das Wort Gottes.« (Der existenzielle Charakter der Theologie Luthers, S. I9if.). Zum Wort als Hilfe in der Anfechtung 91 92 s. u. S. i88ff. 577, 5. 577, 8ff. 90

176

Die Erscheinung der A n f e c h t u n g und ihre Uberwindung (1531)

dubito, quin Christus salvator, qui sub lege factus et redemit me a lege. Hier beginnt die Gewißheit, der Kampf ab incertitudine ad certitudinem, der die Meinung erstickt, der Mensch dürfe der Gnade nicht gewiß sein93. So wird dem Menschen der Besitz des Geistes, den er auf Grund der in Christus geschehenen Erlösung hat, zur Gewißheit erhoben durch den Hinweis auf seine eigene Existenz: habeo spiritum sanctum, quia non dubito, quin Christus salvator . . . Das geschieht wohl so, daß er dabei ständig auf das verwiesen wird, was außerhalb seiner selbst liegt und aus dem er lebt — der Gegenstand des docere, audire, laudare etc. steht ihm gegenüber, aber doch wird ihm die vorhandene Beziehung auf dies Gegenüber nicht durch verdeutlichende Ausführungen über dies Geschehen selbst, sondern mit dem Hinweis auf sein eigenes Verhalten zu ihm gewiß zu machen versucht94.

3. Luthers Verwendung fester Lehrformulierungen als Hilfe für den Angefochtenen a) definitio

Christi

Der Vorrang, den nach Luther das theologische Verständnis des Werkes Christi vor der scheinbar größeren Unmittelbarkeit »massiver« Tatbestände für den hat, der durch das Gesetz angefochten wird, wird am deutlichsten dort, wo Luther der Anfechtung nicht nur mit einer Berufung auf das Werk Christi gegenübertritt, das allerdings bei genauerem Zusehen in einen bestimmten theologischen Rahmen gespannt ist, sondern ihr eine feste Lehrformulierung entgegenstellt. Das zeigt ein noch83

579, 2 if.

94

V g l . auch Luthers Ausführungen im a r g u m e n t u m epistolae: die

iustitia passiva gründet darin, d a ß der Mensch Christus kennt, der zur R e c h t e n des Vaters sitzt und über den T o d triumphiert h a t

(48ff.).

W i e wenig jedoch auf dieser F o r m der Aussage ein besonderes Schwergewicht liegt, zeigt der Hinweis auf das in ihr ausgesprochene extra nos in der Anfechtungssituation: ego baptisatus, vocatus ad

Euangelium,

regnum Christi; da b e y sol mea conscientia bleiben (50, 7f.). A u c h hier ist die Tendenz zu beobachten, d e m Menschen in der A n f e c h t u n g sein eigenes Betroffensein durch das W e r k Christi einsichtig zu machen.

Feste Lehrformulierungen als Hilfe für den Angefochtenen

177

maliger Blick auf seine Auslegung der Grußformel. Zunächst läßt der Text erkennen, wie selbstverständlich der Gedankenkreis der Rechtfertigung und der der Anfechtung für Luther ineinanderliegen. Eine inhaltliche Unterscheidung ist nicht möglich, eine terminologische nur deshalb, weil Luther hier die Rechtfertigung als Verwandlung des zornigen Antlitzes Gottes in das gnädige faßt, die sachlich mit dem Heilsgeschehen identisch ist, während er die Anfechtung an dieser Stelle dem Teufel zuschreibt', von dem der Mensch nur errettet werden kann, wenn er Christus ergreift. Luthers bereits angeführte Darlegung über die Funktion Christi und die Verwandlung des zornigen Antlitzes Gottes in ein gnädiges95 wird unterbrochen durch eine Auseinandersetzung des Glaubenden mit dem Teufel, der diesem — in Übereinstimmung mit dem zornigen Gott! — seine Sünden vorhält und damit die Gnade streitig macht 96 . Durch die verschiedene Zuweisung des inhaltlich gleichen Geschehens an Gott bzw. den Teufel wird der Charakter der Anfechtung sehr deutlich: teuflisch, und damit hier zur Anfechtung gehörend, ist noch nicht das Vorhalten der Sünde, denn zur Erkenntnis der Schuld führt gerade auch die Predigt des Todes Christi: qui hoc perpendit, intelligit peccatum kein scherz 97 ; denn an der Ungeheuerlichkeit des Preises, den Christus gezahlt hat, wird die Tiefe der menschlichen Sünde und damit zugleich die Aussichtslosigkeit aller menschlichen Versuche, für die eigene Schuld genugzutun, offenbar 98 ; gerade angesichts des Todes Christi lernt der Mensch es begreifen, daß mit einem bloßen gewohnheitsmäßigen Schuldbekenntnis noch gar nichts geschehen ist 99 . Es ist jedoch das Werk des Teufels, den Menschen in der Erkenntnis seiner Sünde so zu fangen, daß er es nicht mehr vermag, den eigentlichen Inhalt der Predigt des Todes Christi zu vernehmen, das »traditus pro peccatis nostris«. Hier fällt im Text der Begriff der tentatio100. Die Anfechtung durch den Teufel besteht also darin, daß er dem Menschen das Bild Christi, in dem dieser den wahren Gott finden und ergreifen soll, durch das Bild des zornigen Gottes verdun86

S. o. S. 138ff.

88

88, i f f .

87

84, 8.

88

84, i f f .

88

87, i f f .

100

87,4.

12 Bornkamm, Galaterbricf

178

Die Erscheinung der Anfechtung und ihre Uberwindung (1531)

kelt, so daß der Mensch auch an dieser Stelle, an die er von Gott selbst gewiesen wird als den Ort, an dem er sich finden lassen will, nur auf Anklage und Gericht stößt. Die Überwindung dieser Anfechtung, d. h. das Wiedergewinnen des wahren Christusbildes statt seiner teuflischen Entstellung, kann nicht anders aussehen als das Ergreifen des in Christus geoffenbarten Gottesbildes angesichts des göttlichen Zornes. Wie sich der Mensch in loco iustificationis, d. h. unter dem Zorn Gottes, an Christus halten soll, so muß er in der Anfechtung des Teufels das wahre Bild Christi ergreifen. Hier gibt Luther Hilfe, indem er dem Menschen die propria definitio Christi vorhält: Christus ist Gottes und der Jungfrau Sohn, für meine Sünden dahingegeben und gestorben, diese Definition gilt dem Menschen gerade dann, wenn der Teufel den Menschen verklagt: »da gehorn diese wort drauff« 101 . Christus ist nicht exactor, sondern propiciator, wer in ihm nur den Richter sehen kann, muß die rechte definitio ergreifen: Christus ist eine Person, die nicht fordert, erschreckt, verwirrt, »wil nicht rechnung haben«, sondern er trägt die Sünden, kreuzigt und erstickt sie in sich selbst. E x ista definitione las dich nicht scheiden102. Nicht die Verkündigung des Gesetzes ist sein eigentliches Amt, sondern nach seiner definitio ist er der Versöhner der Sünden, der Geber der Gnade, der sich nicht um einer Krone oder um Ruhmes willen, sondern wegen meiner Sünde dahingegeben hat 103 . Wie hier als Hilfe zur Überwindung der Anfechtung, so begegnet uns die Lehrformulierung der definitio Christi in Luthers Vorlesungen vor allem noch einmal in seiner Darlegung der Rechtfertigungslehre (zu Gal. 2, 16). Fragt der Mensch nach der Rechtfertigung, so muß er wissen, quid Christus definitive, daß er nicht Verdienste begehrt, sondern selbst für die Sünden genuggetan hat 104 ; steht diese Lehre fest, so ist das Gewissen frei 105 ; Christus ist definitive der Heiland und Erlöser von den Sünden, tritt das Gesetz an seine Stelle, so verliert er Namen und Ehre 104 . Es ist falsch, es ist eine definitio phanatica et alieni Christi, daß er ein Verkläger des Menschen ist! 107 101

90, 4 f f . w» 236, 3.

102 104

90/1. 249, 7.

103 107

92, if. 320, 7f.

104

232, 8ff.

Feste Lehrformulierungen als Hilfe für den Angefochtenen

179

Inhaltlich läuft die definitio Christi auf die Betonung des pro nobis hinaus. 'Nostra'; da von handeln wir, quid agendum cum peccatis non aliorum sed etiam nostris108. Die verschiedenen Bezeichnungen Christi führen ständig auf das »pro peccatis nostris« des Paulustextes hin (Gal. i , 4), ob er als filius dei 109 oder filius dei et virginis 110 , als propitiator 111 , donator gratiae 112 , mediator 113 oder pontifex 114 beschrieben wird, als der, der um der Vergebung willen gestorben ist 115 , der meine Schuld auf dem Rücken trägt 116 , als Person, die nicht schreckt, sondern die Sünde in sich selbst erstickt 117 . Der Teufel argumentiert mit der Sünde, er will das »für uns« aus dem Spiel setzen — das Ergreifen der definitio Christi ist inhaltlich nichts anderes, als dies »für uns« zu fassen. Anfechtung und Vergewisserung konzentrieren sich — unabhängig von der Beschreibung des Werkes Christi im einzelnen — auf diesen zentralen Sachverhalt. Bildhafte Schilderungen des Heilswerkes fügen sich diesem Rahmen ein, haben in diesem Zusammenhang jedoch kein selbständiges Interesse. Jededie Anfechtung überwindende Kraft, die ihnen eignen könnte, steht und fällt mit der Aneignung der definitio Christi, d. h. sachlich des pro nobis. Für den, der diese definitio nicht gegen das Verständnis Christi als Richter durchzuhalten vermag, haben sie aus sich selbst heraus keine überzeugende Gewalt, gleichgültig, wie »massiv« sie sein mögen. Wie die Uberwindung der Anfechtung durch die Berufung auf Christus in Luthers Auslegungen zu Gal. 4, 6 durch den Vollzug einer theologischen Erkenntnis geschieht, unabhängig von der »Kompaktheit«, in der das Werk Christi im einzelnen gedacht sein mag, so vollzieht sie sich in Luthers Exegese der Grußformel nicht durch das Anhäufen und Ergreifen massiver Formeln, sondern durch die Ermöglichung einer theologischen Unterscheidung. Die propria definitio Christi wird gegen das falsche Christusbild gestellt. In beiden Fällen handelt es sich um den Vollzug einer Glaubenseinsicht, die, in welcher Weise sie auch terminologisch beschrieben sein mag, den Menschen jeweils vor die gleiche Situation — Absage an die eigenen Werke und 108

112 116

12·

83,7f. 9 2 (

89, IO.

109

US 117

110

85,3. g 2 >

4 ;

9 3 >

91, 3 f.

r

114

90,6. 9 2 >

5

.

111

116

90,9. 8 ? (

4

f.

Die Erscheinung der Anfechtung und ihre Uberwindung (1531)

180

Ergreifen der bedingungslosen V e r g e b u n g — s t e l l t . Die Massivität der Formulierungen spielt für dies Geschehen keine Rolle. Trotz allem Gewicht, das auf der theologisch genauen Lehrformulierung liegt, darf die Uberwindung der Anfechtung nicht losgelöst werden v o m Geschehen der Rechtfertigung, d. h. der Ereignischarakter muß festgehalten werden. Wie die Erkenntnis des gnädigen Gottes nicht nur eine Aufklärung des Menschen darstellt, sondern wie im Vollzuge dieser Erkenntnis wirklich etwas zwischen Gott und Mensch geschieht — irae et apparet nullus alius deus nisi

Ibi perit facies

misericors 118

— , so greift

auch das Erfassen der definitio Christi bzw. das Durchhalten der in ihr enthaltenen theologischen Einsicht, als das sich das Fassen

des Evangeliums

in

der Anfechtungssituation

auch

zeigen kann, unmittelbar ineinander mit dem sich offenbarenden göttlichen Handeln. In der Frage der Rechtfertigung soll der Mensch sich aller spekulierenden Gedanken enthalten und sich allein an den Menschen Christus hängen, dann trifft er aber auch wirklich auf die maiestas meo captui attemperata und findet alle verborgenen Schätze der Weisheit 1 1 9 , — und wo ein Mensch die Kunst versteht, den Satan mit der Berufung auf Christus abzuweisen, da werden Teufel und T o d wirklich besiegt 120 . Luthers lehrmäßige Hilfe und Aufforderung für den Angefochtenen —

die: scriptum

statuas Christum in iride

est

»pro peccatis« 121 ;

iudicantem 1 2 2 ;

non

das sich selbst er-

innernde und vergewissernde: da sol ich sprechen: das ist der leidige Teuffei selber 123 u. ä. — t r ä g t nicht den Charakter einer belehrenden Mitteilung, sondern enthält die ganze K r a f t des Evangeliums in sich, die den Menschen tatsächlich befreien kann. Nur so, durch diese rechtfertigende Funktion, kann die Lehrformulierung zur wirklichen Hilfe in der Anfechtung werden.

b) usus legis -· Der Hilfe durch die Formel der definitio Christi läuft die Hilfe durch Luthers Lehre vom usus legis parallel, die er besonders in seiner Auslegung zu Gal. 3, 1 9 f f . entfaltet. 118 121

99, 3f. 87/88.

119 122

79, 3if. 90/91.

120 123

89/90. 97, 5.

Die

Feste Lehrformulierungen als Hilfe für den Angefochtenen

181

Gedanken überschneiden und wiederholen sich in diesem Abschnitt mehr als einmal, es ist daher nötig, zunächst einen kurzen Überblick zu geben. Luther führt seinen Grundgedanken an Hand einzelner Verse oder Versgruppen des Textes mehrfach durch. Die Durchführung gliedert sich allein nach dem Text, die Verteilung auf einzelne Kollegstunden spielt keine Rolle. Der erste Gedankenkreis liegt bereits in der Auslegung zu Gal. 3, 19. »Quid igitur lex ? propter transgressiones apposita est. Donee veniret semen, cui promissum fuerat.« Luther legt seiner Exegese die Unterscheidung des duplex usus legis zugrunde 124 . Daß das Gesetz nichts zur Rechtfertigung beiträgt, macht es nicht ungültig, sondern: si definio earn in sua definitione, usu, officio, tum est optima res; wird jedoch dies Wissen um den usus nicht eingehalten, so wird die theologia pervertiert 125 . Luther zitiert 1. Tim. 1, 8: »Seimus quod lex bona, si quis legittime utatur«, i. e. utatur lege ut lege 126 . Luther geht dann kurz über das Amt des Gesetzes in civili sensu hinweg — Obrigkeit, Eltern, Lehrer usw. sind von Gott verordnet, um 124

So zusammenfassend zu Beginn der nächsten Kollegstunde, 491, 1. Weiteres zum Begriff usus legis s. u. S. 297 Anm. 213. 125 476/7· 126 476, ι ο ί . Ebeling (Zur Lehre vom triplex usus legis in der reformatorischen Theologie, ThLZ 75 (1950), Sp. 235ff.) untersucht Luthers Verwendung dieser Stelle (a.a.O., Sp. 243): Luther zitiert sie in der ersten Psalmenvorlesung (vermittelt durch Augustin, vgl. Hamel, Der junge Luther und Augustin, Bd. 1, S. 120 Anm. 3), dann auch in der ersten Galaterbriefvorlesung (W. 57, 2. Abt., 43, 19f.; 72, 1—4), »ohne daraus schon terminologische Konsequenzen für seine Lehre vom Gesetz zu ziehen«. Ebeling ist nicht der Meinung, daß Luther durch diese Stelle zur Bildung des Begriffes usus legis angeregt worden sei, die Wurzeln dafür scheinen ihm tiefer zu liegen (s. u. S. 297 Anm. 213), er verweist dabei auch auf die schon vorher von Luther verwandte Kategorie »Nutz und Brauch«. Wiederholte Zitationen von 1. Tim. 1,8 durch Luther lassen nach Ebeling erkennen, »daß sich Luther des Zusammenhanges seines Begriffes usus legis mit 1. Tim. 1,8 bewußt ist.« Ebeling verweist auf die beiden vom Herausgeber nicht als Zitat erkannten Stellen W. 40 I 508, gf. und 522, 9f.; zu ergänzen wäre unsere von Luther selbst als solche gekennzeichnete Zitation, die den anderen beiden Stellen voraufgeht und den Begriff in die weiteren Ausführungen hineingibt.

182

Die Erscheinung der Anfechtung und ihre Überwindung (1531)

dem Teufel zu wehren 127 — .desto eindringlicher wird der andere Gebrauch, der altior 128 , sanctus 128 , proprius 130 , absolutus usus 131 beschrieben. Das Gesetz ist der Hammer in der Hand Gottes, um die Selbstgerechtigkeit des Menschen zu zerschlagen, ist Donner und Blitz des göttlichen Zornes, die den Menschen so in Verzweiflung führen, daß sie sich hencken et erseuffen wolten 132 . E s folgt die Schilderung der Gesetzgebung am Sinai. Hat das Gesetz den Menschen in die Verzweiflung an sich selbst gebracht, so ist seine Funktion erfüllt. E s ist das Licht, das Sünde, Tod, Hölle, Zorn und Gericht Gottes enthüllt — ihm muß nun das Licht des Evangeliums entgegengesetzt werden, das dem Sünder die Vergebung und die Gerechtigkeit des ewigen Lebens zeigt 133 . Dies Werk des Gesetzes führt zur rechten Erkenntnis Gottes, nur so wird er als der Gott der Zerschlagenen und damit als der creator ex nihilo erfahren 134 . Zu Anfang der nächsten Kollegstunde wird der gleiche Gedankengang noch einmal wiederholt, nun in Auslegung des »donec veniret semen« als Beschreibung der Begegnung des einzelnen Menschen mit dem Gesetz: dieser wird durch das Gesetz so tief in die tentatio 13B (!) geführt, daß allein das tröstende Wort des Bruders ihm heraushelfen kann: dessen Wort ist als Erfüllung der Verheißung, die über diesem usus des Gesetzes liegt — donec veniret semen! —, das geistliche Ende des Gesetzes 136 . »(Lex) ordinata per Angelos, in manu Mediatoris. Mediator autem unius non est: Deus autem unus est« (Gal. 3, 19f.). In seiner Auslegung des Begriffes mediator 137 bringt Luther den gleichen Gedankenkreis zum Ausdruck: weil der Mensch die Schrecken des Gesetzes nicht zu ertragen vermag, bedarf er des Mittlers. Wieder dient die Gesetzgebung am Sinai zur Erläuterung: das angesichts des brennenden und bebenden Berges zitternde Volk kann dem wiederholten, tötenden »Ego, Dominus« nicht standhalten, so muß Mose zwischen die Israeliten und das redende Gesetz treten 138 . Ergo lex non iustificat nec potest, sed contrarium 139 . Von Mose führt ihn der Begriff des 127

131

138 139

479/80. 482, 3.

493. 5· 7· 497/8.

128

132

138

480, 8. 483, 2.

493. 2·

129

133

137

480, 13. 486, iff.

494.

Ilff

·

130

134

138

481, 4. 488, 5.

495/6.

Feste Lehrformulierungen als Hilfe für den Angefochtenen

183

Mittlers weiter zu Christus: wo Mose ist, wird das Gesetz nicht in seiner Schärfe erfahren, wo er jedoch fehlt, muß ein anderer mediator kommen140, der den, den das Gesetz in seiner vollen Kraft trifft, am Leben erhält, ohne die Schärfe des Gesetzes zu verdunkeln, d. h. der sich dem Zorn des Gesetzes stellt, ihn auf sich nimmt und ihm so durch sich selbst an seinem eigenen Leibe Genüge leistet, der es vermag, ohne das Gesetz zu verhüllen, an der Stelle zu stehen, an der peccator homo und deus iustus aufeinandertreffen, und dem Menschen dabei das Leben zu bewahren141. Die Begegnung mit diesem Mittler führt den Menschen in die Rechtfertigung, hier gilt dann: longe seponenda lex, quia hie ponitur mediator142. Wieder ist deutlich: nicht das Gesetz rechtfertigt, sondern dieser Mittler. Den Menschen zu schrecken und ihn zum Verlangen der Gnade zu treiben, wird als ultimatus finis legis erkannt143. Der zu Gal. 3, 21 neu ansetzende Gedankenkreis144 schließt sich um Gal. 3, 21 f.: »Num igitur lex adversus promissa Dei? Absit . . . Sed conclusit scriptura omnia sub peccatum ut promissio ex fide Jesu Christi daretur credentibus«. Luther gibt, unter Wiederaufnahme des usus-Begriffs, im wesentlichen eine Wiederholung der ersten ausführlichen Darlegung. Lex macht den Herrn Christum tewer . . . Ein hunger ein guter (Koch); facit sitire, esurire145. Gal. 3, 23 beginnt die Beschreibung des Gesetzes als Zuchtmeister auf Christus: »Antequam veniret fides, sub lege custodiebamur, conclusi in earn fidem, quae revelanda erat«. Das Schwergewicht der Ausführungen Luthers verschiebt sich allmählich hin zur Erörterung über das Ende des Gesetzes. Gott hat das Gesetz nicht um des Tötens willen gesetzt — das wer nicht fein legem gegeben14® —, sondern er gebraucht diese Wirkung des Gesetzes in bonum usum, lests nicht da bey bleiben147. Er muß den Hammer des Gesetzes haben, denn hätte er nicht das Gesetz und mit ihm die Drohung der Hölle, um den Menschen zu schrecken, so wers ein (wohl: guter Mann)148. Doch es ist aufs genaueste darauf zu achten, daß aller Schrecken 140 144 148

499/500. 5°7—5 l 6 · 519, iof.

141 145

502, 7ff. 5°9. 7·

142 144

504,5t. 5Χ7. 6 f.

143 147

506, 4. 517, 12t.

184

Die Erscheinung der Anfechtung und ihre Uberwindung (1531)

des Gesetzes nur um des Endes, des Heils, Christi willen gesetzt ist. Demütigung durch das Gesetz und Glaube sind sachlich149 — speculative160 — so weit auseinanderzuhalten wie möglich — plus quam contradictoria!151 —, doch im Affekt — quando ad practicam kompt —, d. h. im Betroffenen selbst, müssen sie aufs engste miteinander verbunden bleiben182. Nur von Eingeschlossensein zu wissen: das wer der Teufel 163 . Das ist das Schicksal Kains, Sauls, Judas' 164 . Das ist der Teufel 156 . Denn wo das Gesetz den Menschen einschließt, trifft er auf seine zarteste Stelle, das Gewissen, und nimmt ihn mit einer Strenge gefangen, daß ihm Himmel und Erde zu eng wird und er keinen Ausgang mehr findet, quia deus ist da, qui est infinitus16®. Aus dieser Gefangenschaft kann der Mensch sich selbst nicht lösen, er ist angewiesen auf den Bruder, der ihm sagt: Frater, conclusus es 167 . Urheber der Bedrängnis, in die der Mensch durch das Gesetz geführt wird, ist Gott selbst. Er gebraucht das Gesetz, um den Menschen zu Christus zu treiben. Die Beschreibung des Werkes, das das Gesetz am Menschen tut, unterscheidet sich nicht von der Beschreibung der teuflischen Anfechtungen. Das Gesetz als Wort Gottes, als Blitz des göttlichen Zornes kann den Menschen so zur Verzweiflung bringen, daß er sich lieber henken und ersäufen will, als ihm noch weiter ausgesetzt zu sein168. Und Gott ist es, der dem Menschen das Entfliehen unmöglich macht, da ist und jeden Ausweg verlegt169. Trotzdem taucht auch hier die Gestalt des Teufels auf, in der gleichen Rolle wie im oben behandelten TextGal. 1, 3—5 1β0 . Er eischeint nicht als Urheber der Bedrängnis — die Frage nach dem Urheber ist für den Menschen, der nach dem Ausgang fragt, zweitrangig —, doch als der, der den Menschen in dieser Bedrängnis durch Gott festhält. Gott schließt den Menschen ein, um ihn zu befreien — Bedrängnis ohne dies Ziel: das wer der Teufel 1 ® 1 ; das ist der Teufel 1 ® 2 . Deshalb ist es wohl Aufgabe des Gesetzes, den Menschen zu verklagen, sodaß er seine Gerechtigkeit 149 153 157 181

520. 7f· 5 2 0 , 9. 5 2 2 , 5. 5 2 0 , 9.

180 184

168 182

151

5 2 0 , 7 f.

152

5 2 1 , i f f . , 5 2 2 , 8.

155

5 2 1 , 6.

158

483. 2. 521, 6.

169

521, 12.

180

523. 2f.

5 2 3 , 2 f. 521, ioff. S . o. S . 1 7 6 ff.

Feste Lehrformulierungen als Hilfe für den Angefochtenen

185

und seinen Stolz aufgeben muß et conscientia dem Teufel zugehoret163, doch der Mensch, dem das Gesetz ins Gewissen dringt, soll sich mit eben dieser Erkenntnis von ihm lösen: in conscientia faciamus eam (legem) diabolum1®4. Das Werk des Teufels besteht in der Verhinderung des Evangeliums; wo Gott dem Gesetz das Ende bereiten will, beginnt der Teufel sein Gegenspiel, indem er dem Menschen am göttlichen Wort des Gesetzes festhält. Damit wird das Werk des Gesetzes vom göttlichen zum teuflischen verkehrt. Die entscheidende Hilfe zur Überwindung der Situation, in die der Mensch durch das Gesetz gerät, ist auch hier die theologische Erkenntnis, das Ergreifen der rechten Unterscheidung. Luther erschließt sich den ganzen Fragenkomplex des Gesetzes mit dem usus-Gedanken: alles ist in Ordnung, wenn jeder Sache die ihr gebührende Stelle, ihr officium und ihr usus zugewiesen wird. Das gilt auch dem Gesetz: si definio earn in sua definitione, usu, officio, tum est optima res1®6. Alles hängt daran, den rechten usus zu kennen, die Hochmütigen und Verzweifelten verwandeln den usus in den abusus1®®, umgekehrt: gerade hierin gründet die Verzweiflung, daß in der Anfechtung die Gewalt des Gesetzes erfahren wird, ohne daß das Ziel erfaßt wird, der abusus führt zur Verzweiflung167. Der rechte Gebrauch des Gesetzes vollzieht sich in der Erkenntnis, daß die Wirkung des Gesetzes in seiner Funktion begründet und durch sie begrenzt ist. So liegt alles daran, diese Erkenntnis herauszuarbeiten und festzuhalten. Luther spricht von usum tribuere1®8, definire1®9, distinguere170 und distinctio171, docere172 und doctrina173, von discernere174, dicere175, discere17®, iudicare177, intelligere178, scire179. Das Erfassen des rechten usus, das vor der Verzweiflung rettet, erscheint als geistiger Akt. So geht Luther von der Darlegung immer wieder zur Aufforderung über: unterscheide das Evangelium vom Gesetz wie den Tod 1Θ3 511* 5*· Ιββ 534. 4*·: 531, 9«· 169 476, II. 178 522. 5· 176 525. 5: 536, 4· 178 531. 12·

164 558, 7. 187 531, 13. 170 512, 14. 173 486, 5. 178 526, I I . 179 532, 1 4 ·

185 168 171 174 177

476, 476, 486, 486, 527,

II. 3 ; 477, I . 3 ; 5 1 1 , 2. 6. I.

186

Die Erscheinung der Anfechtung und ihre Uberwindung (1531)

vom Leben180, lerne (den Text des Paulus), um die erschrockenen Gewissen trösten zu können181, der angefochtene Bruder ist zu lehren: frater, conclusus es182, und im Anschluß an einen Hinweis auf die Aufgabe des Gesetzes, dem Menschen seine Sünde und den Zorn Gottes zu zeigen: nicht hoher las ghen in Christiana theologia (das Gesetz)183. Wer unter dem Druck des Gesetzes steht, soll wissen, daß er für den kommenden Christus bereitet wird184. Luther kann dem Menschen sogar zurufen: reflecte te a tempore legis185. In dem Zusammenhang dieser Äußerungen, die vom Angefochtenen den Akt der geistlichen Entscheidung verlangen, gehört auch die Aufforderung, das Gesetz recht zu gebrauchen: wenn du betrübt (contritus) bist, so gebrauche diese Betrübnis recht 186 . Der Mensch selbst erscheint als der autor usus, wo er das Gesetz recht gebraucht, hat es ein gutes Amt 187 , er gebraucht es in seiner Bedrängnis dann rechtmäßig (legitime), wenn er es in futuram fidem versteht 188 . Die Hochmütigen und Sünder gebrauchen das Gesetz falsch189. Luther bekennt von sich selbst: das ist optimus et perfectissimus usus legis . . . ich weis nicht, ob ichs noch kan vel nicht 190 . Doch wenn wir die Gesamtheit von Luthers Äußerungen zum usus legis ins Auge fassen, so wird auch hier wieder der Charakter der theologischen Einsicht deutlich, die der Angefochtene ergreifen soll und die — wie der Begriff der definitio Christi — als Lehrformulierung erscheint. Den Äußerungen, die den Menschen zum autor legis werden lassen, stehen Aussagen gegenüber, in denen Luther von der lex in usu spricht, ohne ausdrücklich auf den Autor zu reflektieren: die lex in maximo suo usu steht den Verheißungen nicht entgegen191, das Gesetz erfüllt die Verheißungen nicht, und doch nützt es uns magno usu192. Der Christ ist der Zeit des Gesetzes ausgesetzt: quotidie in . . . Christiano . . . invenitur tempus legis, gratiae193, es ist der Brauch des Gesetzes, daß die Menschen bewacht und bedrängt werden 1 9 4 , und quando lex in istum usum kompt, wird der Mensch in die Verzweiflung getrieben195. Vor allem 180 184

512/3· 532.

Μ· 188 5 2 2 , IO. 192 5 1 2 , 3 .

1

181 5 2 6 , I I f . 185 5 2 7 . 418« 5 3 3 . 3f· 193 524. i f .

182 5 2 2 , 5· 188 4 9 0 , 2 f . 190 490, 4 f f . 191 53°. 19.

183

505. 187 489, 191 5°9. 195 482,

3 f-

8 f. 4·

9.

Feste Lehrformulierungen als Hilfe für den Angefochtenen

187

aber wird Gott selbst als der Autor des Gesetzes genannt: das Gesetz ist der Hammer, dessen er bedarf 196 , er ist es, der es in Kraft gesetzt hat und für seinen Zweck gebraucht: deus, qui earn (legem) constituit, utitur hoc effectu legis in bonum usum, lests nicht da bey bleiben 197 . Hier ist ausdrücklich die Rede von einem Tun Gottes, in Abgrenzung gegen den Teufel, dessen Werk es ist, den Menschen unter dem Gesetz gefangen zu halten. Dies Nebeneinander der Aussagen über den autor legis zeigt deutlich, daß der rechte Brauch des Gesetzes, obwohl er als lehrbare Erkenntnis erscheint, nicht in der Verfügung des Menschen steht. Die Einsicht des Menschen in die Lehre vom Gesetz, die als uti des Gesetzes durch den Menschen beschrieben werden kann, ist zugleich das Handeln Gottes, der das Gesetz in der Hand hält. Der Mensch gebraucht das Gesetz recht, indem er den usus ergreift, durch den Gott die ihm wohlgefällige Wirkung des Gesetzes an ihm geschehen läßt 1 9 8 . Von daher erhält die lehrmäßige distinctio ihre unmittelbare Nähe zum verie

« 518, 4 f . w 517, 12f. In Luthers Verwendung sind die Begriffe intelligere, scire und audire, docere, dicere und praedicare nicht unterschieden. Denken und Hören, verstehende Einsicht und glaubendes Ergreifen fallen ineinander. Von dieser Ineinandersetzung göttlichen Handelns und menschlichen Verstehens her erhalten die Stellen ihre Interpretation, in denen Luther den Heiligen Geist als den Urheber der rechten Glaubenserkenntnis bezeichnet: da gehört spiritus sanctus zu, ut dicat, ubi lex officium fecit —· was nun bezeichnenderweise fortgesetzt und erläutert wird mit der anthropologischen Wendung: voluntas, ut non solum lege occidereris, sed ut cognosceres te esse filium mortis (556, 6ff.). Weiteres zur Wirkung des Geistes s. u. S. 182 ff. — Die oben ausgeführten Beobachtungen zum autor usus bestätigen Ebelings — an Hand der Antinomerdisf.utationen gewonnene — Feststellung, daß das Subjekt des usus legis »entweder Christus oder der Teufel« ist. Denn »tarn diabolus quam Christus utitur lege in terrendis hominibus, sed fines sunt dissimillimi et prorsus contrarii« (W 39 I 426, 32f.). Insofern könnte freilich auch gesagt werden, daß der Glaube allein Subjekt des uti lege sei, weil hier sowohl die finalis praesumptio als auch die finalis dubitatio ausgeschlossen ist«. (Zur Lehre vom triplex usus legis in der reformatorischen Theologie, ThLZ. 75 (1950) Sp. 244). Vgl. auch Haikola, Usus legis: »Christus, Geist und Glaube sind Subjekt des rechten Gebrauchs des Gesetzes.« (S. 132). 198

188

Die Erscheinung der Anfechtung und ihre Uberwindung (1531)

kündenden Wort. Die Zusammengehörigkeit von theologischer Lehre und Wort Gottes spiegelt sich auch im Blick auf den Lehrenden, hier als Ineinander von Lehren und Hören. Lehrmäßige Darlegung und eigenes Betroffensein gehen in der gesamten Auslegung Luthers ständig ineinander über, vgl. etwa seine Entfaltung der Gesetzeslehre, die mit der Anweisung beginnt: Si vis disputare de lege, materiam legis accipe, quae est peccator et impius; ihm den Tod vor Augen zu stellen und ihn der Sünde zu überführen — das ist lex. Darauf muß die rechte Handhabung des Gesetzes folgen, die Luther nun nicht mehr beschreibt, sondern in die direkte Rede des Bedrängten an das Gesetz faßt: non sic me humilias et ponis peccatum ob oculos, ut desperem, sed constituta (es) a deo, ut humilies me mittendo ad consolatorem 199 . Die Grenze zwischen systematischer Entfaltung der usus-Lehre und eigenem Bekenntnis ist hier nicht mehr zu ziehen. So zeigt sich im Blick auf den Angesprochenen, dem sie zur befreienden Hilfe werden kann, wie auf den Lehrenden, der unter dem Lehren selbst zum Betroffenen wird, daß die Lehrformulierung, die dem Angefochtenen dargeboten wird, wirksames Wort ist.

4. Luthers Berufung auf die Heilige Schrift a) Die bei Luther selbst erkennbare Problematik Die Anfechtung wird überwunden in der Erkenntnis des usus legis, des officium Christi, seiner definitio etc. — d. h. mit Hilfe des Inhaltes von Lehrformulierungen, die ihren Ursprung im Hören haben und denen von daher die Kraft des lebendigen Wortes innewohnt. Fragen wir nach dem Ursprung des Wortes, das zur so bewußt einseitig formulierten Lehraussage führt, so ergibt sich zunächst die einfache Antwort: Luther gründet sich auf den Text, den er exegesiert, oder allgemeiner gesagt: auf die Schrift. Den falschen Gebrauch des Gesetzes zu ergreifen und durch das Gesetz gerechtfertigt werden zu wollen, ist contra scripturam 200 , d. h. gegen Gal. 3, 2 1 ; die Heilige Schrift 1M

535. iff.

200

510, gf.

Luthers Berufung auf die Heilige Schrift

189

ist es, die alles unter den Fluch stellt, damit keiner durch eigenes Tun gerechtfertigt werden kann 201 ; und Luthers Gedankengang vollzieht sich im lebendigen Gespräch mit der Schrift, er läßt seine Ausführungen in den Gedanken des nächsten Verses ausmünden: sed quid dicit scriptura da zu? 2 0 2 Für die Frage nach der Begründung der von Luther so einseitig herausgearbeiteten definitio Christi und damit zugleich der definitio dei203 gilt zunächst die gleiche Antwort. Luther gewinnt und rechtfertigt sein Gottesbild von der Schrift her, die Aussagen des Paulus ,die er exegesiert, sind für seine Ausführungen normativ. Dabei steht Paulus in Ubereinstimmung mit dem Zeugnis der übrigen Schrift: Sepe audivistis hunc Canonem urgendum in sacris litteris204 (daß der Mensch die Majestätsspekulationen fahren lassen soll). Daß Christus wahrer Gott ist, wird mit dem Paulustext belegt, der Christus die gleichen Werke zuschreibt wie dem Vater 205 , wobei Luther hier allerdings die über die Richtigkeit des Textes selbst reflektierende Bemerkung anfügt, daß diese Äußerung ein Sakrileg sei, wenn die Wahrheit des Satzes, Christus sei Gott, nicht feststünde206. Wäre dieser Satz nicht wahr, so hätte jedoch Paulus ohne Zweifel etwas anderes gesagt207. Gegen die Vernunft führt Luther ohne weiteres Petrus und Paulus ins Feld 208 , und die Inhalte der definitio Christi sind den auszulegenden Versen des Galaterbriefes entnommen (qui dedit semetipsum pro peccatis nostris; Gal. i, 4). In kürzester Zusammenfassung erscheint die Berufung auf die Schrift als Hilfe gegen den Teufel: scriptum est »pro peccatis«209, die kurz darauf noch unterstrichen wird durch die Mahnung an den Hörer: Ideo halt ista verba pro seriis210. Auch wo Luther in anderem Zusammenhang auf die definitio Christi zu sprechen kommt, beruft er sich auf die Schrift: die definitio phanatica, daß Christus der Ankläger des Menschen ist, steht im Gegensatz zur Schrift, die ihn Heiland und Versöhner nennt 211 ; in der Rechtfertigung erkennt der Glaubende, quid Christus definitive, denn die Rechtfertigung wird ihm zuteil, indem das heilbringende Wort kommt: 201 205

20»

513,11.

202

80,

204

8 8 j

8f.

210

513, 4f.

203

80/1.

207

8 8 ( 8-

603,1.

204

75, 9f.

81, II. 211 3 2 0 ( 8 .

208

82,

8.

190

Die Erscheinung der Anfechtung und ihre Uberwindung (1531)

Glaube an Christus, er ist für deine Sünden gestorben212; und wo der Glaube die Auslegung des Textes Gal. 3, 6 hört — Abraham credidit Deo, et reputatum est illi ad iustitiam —, stimmt er zu: Ego credo tibi deo loquenti213. Die umfassendste Berufung auf die Schrift gibt Luther in seiner großen Entfaltung des Werkes Christi zu Gal. 3 , 1 3 — Christus als persona omnium hominum (s. o. S. 90ff.): es ist das Zeugnis der gesamten Schrift und des Bekenntnisses, daß meine Sünden auf Christus liegen214. Und doch ist es auffallend — auch wenn man bedenkt, daß letztlich alle Ausführungen Luthers selbstverständlich als Auslegung der Heiligen Schrift verstanden sein wollen —, wie selten Luther in seiner Vorlesung mit diesem Argument arbeitet. Der Grund kann nicht darin gesucht werden, daß die Berufung auf die Schrift für ihn unwichtig ist, dafür steht die Autorität der Schrift für seine Theologie zu fest. Auf die Schrift gründet sich sein Widerspruch zur Papstkirche, die Kirche hat für ihn keine Lehrgewalt über die Schrift, auch wenn der Kanon durch ihre Zustimmung entstanden ist 216 , deshalb sind alle Prediger nicht Meister, sondern Zeugen der Schrift 216 , und wo die Kirche nicht in Ubereinstimmung mit der Schrift und dem göttlichen Worte lehrt, irrt sie. Luther kann die Begriffe Schrift und Wort Gottes synonym gebrauchen: ecclesia, ubi docet extra scripturam et verbum dei, errat 217 . Seiner eigenen Lehre ist Luther gewiß, weil sie in allen Artikeln auf die Schrift gegründet ist 218 . Und doch tritt in der Situation der Anfechtung die Schwierigkeit eines solchen Argumentierens deutlich zu Tage. Die Situation, in der das anscheinend so unbezweifelbare »scriptum est: pro peccatis«219 gesprochen wird, zeigt, wie wenig dies Argument einfach nur als schlichtes, unreflektiertes Zurückgehen auf die Schrift verstanden werden darf: das Wort wird dem Teufel entgegengehalten, der dem Gewissen als Christus erscheint, d. h. der sich in die Gestalt Christi verwandelt, indem er den Angefochtenen mit dessen Gerichtsworten bedrängt220. Damit steht Bibelwort gegen Bibelwort, die Berufung auf die Schrift trägt keinen so eindeutigen Charakter, daß sie nicht der An212 214

220

232,3f. I20, 6t. 90, 3 f.

213 217

361, i f . 132, 6.

214 218

437,4. W. 40 II 52, 4 f .

215 219

119,6ff. 88, 1.

Luthers Berufung auf die Heilige Schrift

191

fechtung durch andere Schriftworte preisgegeben wäre. Die formale Berufung auf die Schrift hat keine letzte Beweiskraft — die Annahme eines Teufels, der sich Worte der Schrift aneignet, macht das unmöglich. Das zeigt bereits der weitere Text in Luthers Auslegung der Grußformel. Daß Christus der zukünftige Richter ist, kann auch Luther nicht leugnen, und sein Argument: Si sie Christum mediatorem admitto iudicem, tum eum amisi221, das sachlich dem eben zitierten »scriptum est« parallel steht, beleuchtet nur zu deutlich dessen ganze Ungeschütztheit. »Tum eum amisi« und das folgende »tunc furcht ich mich fur Christo« ist ein nicht ohne weiteres einleuchtender Gegengrund gegen der Schrift entnommene Droh- und Gerichtsworte Christi selbst. Die unterschiedliche Wertung der Gnadenund Gerichtsworte Christi in der Anfechtung, die hier zu Tage tritt, zeigt: nicht nur das Gottesbild wird durch die Ineinsschau mit Christus genauer bestimmt, auch die Gestalt Christi selbst wird nicht ohne weiteres als Summe all seiner Ausdrücke aus der Bibel erhoben, sondern auch sie bedarf der klaren Definition, mit deren Hilfe dann richtige und falsche, d. h. in der jeweiligen Situation richtig oder falsch verwendete, von ihm selbst gesprochene und ihm vom Teufel in den Mund gelegte Schriftworte unterschieden werden können. Natürlich erfolgt die definitio Christi auf Grund des Schriftzeugnisses — »tradidit«, »agnus dei«222 sind die tragenden Begriffe der weiteren Auslegung, von welchen aus dann der Gegensatz von Christus und Mose, von seiner Hingabe und den menschlichen satisfaktorischen Werken ausführlich dargelegt wird. Trotzdem müssen sie anderen Aussagen der Schrift gegenüber behauptet werden, die von diesen Äußerungen her als Argumente des Teufels erklärt werden. Deshalb dienen Luther die theologischen Erkenntnisse und Begriffe, die er aus der Schrift gewonnen hat, nun umgekehrt dazu, im Gespräch mit der Schrift die rechte definitio der Gestalt Christi herauszuarbeiten. Seine Unterscheidung von officium Christi proprium und alienum, seine Lehre vom duplex usus legis, nicht zuletzt seine aus der Gesamtsicht seiner Rechtfertigungslehre herausgewachsene Interpretation aller gottwohlgefälligen Taten, von 221

93, ι f.

222

83, 1. 6; zit. Joh. 1, 29.

192

Die Erscheinung der Anfechtung und ihre Überwindung (1531)

denen in der Bibel die Rede ist, als Früchte eines theologice facere, d. h. eines Handelns, das aus dem rechtfertigenden Glauben erwächst, helfen ihm, seine Erkenntnisse gegen die scholastische Theologie und Exegese und ihren Schriftbeweis festzuhalten. Das heißt: das eindeutige Zeugnis der Schrift wird methodisch erhoben im Gespräch zwischen Schrift und Theologie, die gewonnene Einsicht wird anderen Äußerungen der Schrift gegenüber festgehalten. Unter dem Gesetz dieses Verfahrens steht jeder Umgang mit der Schrift 223 , auch der scheinbar unreflektierteste und voraussetzungsloseste. Die Äußerungen Luthers zeigen, daß er sich der Unumgänglichkeit dieses Verfahrens klar bewußt ist und von daher eine entschiedene Stellungnahme gegen Aussagen der Schrift nicht scheut — daß er aber andererseits den Maßstab zur Unterscheidung zwischen Wort Gottes und Menschen- oder Teufelswort so bestimmt, daß er nicht in die Hand des Auslegers geraten kann und damit der theologischen Willkür preisgegeben ist, sondern aufs engste gebunden bleibt an das lebendige Wort des Evangeliums und den A k t echten Vernehmens.

b) Luthers Ansatz zu einer Lösung des Problems in der Unterscheidung von-echtem und falschem Hören Luther gibt sich über diesen Tatbestand selbst Rechenschaft. Er denkt die Frage allerdings nicht in erster Linie durch am 223

Von hier aus sieht Luther den Brief des Paulus als Zeugnis einer

wie ihn selbst so auch den Apostel verpflichtenden Wahrheit an, von der her

er bei der Betrachtung des Textes unbefangen seine Bewertung,

seine Übereinstimmung mit den Motiven zu bestimmten Äußerungen u. ä. ausspricht: Paulus will christliche Theologie lehren, die nicht oben, sondern von unten her beginnt (79, 9f.). Zutreffend nennt Paulus die Welt ein saeculum nequam (95, 6). Diese Bezeichnung ist nicht eitel, sondern wahr (96, 7), und Luther versteht aus eigener Erfahrung, warum Paulus die Heilsbedeutung Christi so betont: Scio, cur Paulus sie signate definiat (90, 8). Vgl. auch seine abschließende Bemerkung zur Auslegung von Gal. 2, 20: sine dubio hoc potuit ipse loqui, ideo so fein text gsetzt (300, 4 f . ; beachte hier wie oft den sprachlichen Unterschied zum Druck: Paulus

hoc

firmissime

loquitur (300, 21 f.)).

credidit,

ideo

etiam

cum

tanta

plerophoria

D i e E r s c h e i n u n g der A n f e c h t u n g u n d ihre U b e r w i n d u n g

(1531)

193

Problem des Verhältnisses zur Schrift, sondern an der Frage des Verhältnisses zu ihrem Inhalt, dem in der Schrift bezeugten Heilsgeschehen. Er sucht die Antwort mit Hilfe einer Differenzierung des Glaubensbegriffes, die er im Zusammenhang seiner Polemik gegen die scholastische Unterscheidung von fides informis oder acquisita und fides infusa gewinnt224. In seiner Auseinandersetzung mit der scholastischen Rechtfertigungslehre betont er ständig, daß der Glaube im Gegensatz zur scholastischen fides informis, die für sich nichts ist und keine rechtfertigende Kraft hat, Christus so ergreifen muß, daß der Glaubende Anteil an ihm gewinnt. So heißt es in seiner großen Auseinandersetzung mit der scholastischen Lehre (zu Gal. 2, 16), daß der Glaube Christus ergreifen muß, der den Glauben schmückt 226 ; nicht auf eigene Werke kommt es an, sondern auf den Glauben, der Christus ergreift und zur formalis qualitas im Herzen macht226, sonst ist Christus otiosus, er muß aber im Glauben ergriffen werden, weil er uns rechtfertigt227 etc. Ebenso dort, wo Luther die apostolische Verkündigung des Paulus beschreibt: der Glaube muß Christus, den Edelstein, ergreifen228, er ist die Sache, die ich im Glauben ergreifen soll, die mir von Gott geschenkt wird229. Am deutlichsten kommt diese Fassung des Glaubensbegriffes zum Ausdruck in Luthers Auslegung zu Gal. 3, 11, der nach Hirsch »wohl reifsten Gestalt 224 v g l .

r

S e e b e r g , L e h r b u c h der D o g m e n g e s c h i c h t e ,

B d . 3, S. 7 1 9

z u m G l a u b e n s b e g r i f f O c k a m s : >>Es g i b t . . . e i n e n a u f n a t ü r l i c h logischem

Wege

Assensus h a t

...

entstehenden

Glauben,

d e r die A r t

eines

psycho-

natürlichen

I n v i e l e n e i n z e l n e n A k t e n e r g r e i f t dieser G l a u b e

die

e i n z e l n e n G l a u b e n s a r t i k e l , u n d d a d u r c h e n t s t e h t i n der S e e l e eine S u m m e v o n H a b i t u s . D i e s e m a c h e n die f i d e s und

Habitus

der

Anerkennung

der

acquisita

aus . . . Diese

Glaubensartikel

sind

nun

Akte

freilich

n o t w e n d i g , u n d o h n e sie i s t k e i n w i r k l i c h e r G l a u b e d e n k b a r . A b e r z u m Glauben

werden

m i t der f i d e s

diese

Assensusakte

infusa ...

erst d u r c h

Diese Vielheit

ihren

Zusammenhang

(der H a b i t u s ) soll . . .

an der

f i d e s i n f u s a ihre E i n h e i t h a b e n . D i e s e h a t n ä m l i c h z u m G e g e n s t a n d e i n e n S a t z , der alle e i n z e l n e n G l a u b e n s a r t i k e l n o t w e n d i g i n s i c h s c h l i e ß t .

Es

ist der S a t z : o m n e r e v e l a t u m a d e o e s t v e r u m s i c u t r e v e l a t u r esse v e r u m . D i e f i d e s i n f u s a i s t also d e r G l a u b e , d a ß d i e O f f e n b a r u n g in ihrer k o n kreten G e s t a l t die W a h r h e i t 225 229

13

228, i o f .

226

141,8.

B o r n k a m m , Galaterbrief

232, 6 f .

ist.« 227

251/2.

228

167, 6f.

194

Die Erscheinung der Anfechtung und ihre Überwindung (1531)

der Polemik gegen den scholastischen Glaubensbegriff«230. Luther wendet sich gegen die vana opinio fidei, den Glauben, der von Christus, Gott, dem Geheimnis der Inkarnation und Erlösung hört, aufs beste darüber zu reden versteht und es gedanklich erfaßt, der aber im Herzen des Menschen doch nur einen dumpfen Ton (bombum) hinterläßt, der nichts zu tun hat mit dem Evangelium, das Herz und Leben des Menschen ändert und einen neuen Menschen schafft 231 . Das heißt, umgedacht auf das Verhältnis zur Schrift: der Mensch kann das ihm vorgehaltene Wort mit nur historischem, leerem, vergeblichem, gedanklichem Glauben ergreifen oder aber es sich aneignen, indem er es wirklich in sein Leben hereinnimmt. Daran, daß Luther grundsätzlich ein doppeltes Verhalten gegenüber dem Inhalt der Schrift unterscheidet, zeigt es sich, daß in sein Verhältnis zur Schrift das echte Hören mit einbezogen ist und daß seine Berufung auf die Schrift ohne das vertiefende Moment des echten Hörens, das über die Anerkennung einer allgemeinen, weltanschaulich bedingten Verbindlichkeit der Bibel hinausgeht, nicht gedacht werden kann. Damit trägt Luthers Berufung auf die Schrift, mit der er der Anfechtung widersteht, selbst das Element der Anfechtbarkeit in sich. Muß das Wort der Schrift in echtem Hören ergriffen werden, so steht seine Gültigkeit eben damit dem Einspruch des Teufels offen, der dies Hören zu verhindern sucht. Andererseits ist dort, wo das Wort des Evangeliums gehört und gegen den Teufel oder den zornigen Gott selbst geltend gemacht wird, bereits durch das Hören der erste Schritt zur Überwindung der Anfechtung getan. Luther selbst bringt während seiner Auslegung der Schrift die Schwierigkeit des Hörens wiederholt zum Ausdruck. Paulus, der seine Gewißheit der Rechtfertigung so klar aussprechen kann, ist ein Beispiel der Glaubensgewißheit, wer ihm das »Ich lebe, aber nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir« (Gal. 2, 20) in beständigem Glauben nachsprechen könnte, der wäre ein Christ232. Und wer seinem Beispiel zu folgen und das »Christus hat sich für mich gegeben« ebenso zu ergreifen vermöchte wie er, der wäre ein 230 231

Hirsch, Lutherstudien, Bd. 1, S. 205 Anm. 1. 421, 8 f. 291, 2 f.

Luthers Berufung auf die Heilige Schrift

195

rechter künftiger Disputator gegen das Gesetz, wie Paulus selbst es war233. Denn im Glauben Christus zu ergreifen, der die Sünden der Welt trägt: das heist ein gros ding234. Hier wird der Unterschied zwischen dem gültigen Wort der Schrift und der Schwachheit des Menschen, es zu ergreifen, sehr deutlich sichtbar. Der Artikel des Evangeliums ist leicht versehrt, deshalb liegt alles daran, daß es sicher begriffen ist 235 , denn die Sache des Evangeliums ist gebrechlich gegen die starken Argumente der Pseudoapostel. Schwierig ist sie allerdings nur uns, in sich selbst ist sie gewiß23®. So gilt für den Einzelnen, daß er so viel hat, wie er ergreift237, daß der Satan ihn selbst leicht verstört, daß das Evangelium selbst jedoch vom Teufel nicht zugrunde gerichtet werden kann238. Die Scheidung zwischen echtem und falschem Hören der Schrift verläuft also nicht an der Stelle der intellektuellen Einsicht, ob »die Offenbarung in ihrer konkreten Gestalt die Wahrheit ist«239 oder nicht, wie bei dem occamistischen Unterschied von fides acquisita und infusa, sondern sie spiegelt Luthers Verständnis der in der Schrift enthaltenen Offenbarung als echtes Wort. Mit diesem Ansatz bei dem Verständnis der Offenbarung als Wort ist jeder Berufung auf die Schrift die Problematik des richtigen und falschen Hörens mitgegeben. Von daher verliert sie grundsätzlich für den Angefochtenen wie für den Nichtglaubenden ihren allein auf die Autorität als heiliger Schrift begründeten vergewissernden Charakter. Diese letzten Konsequenzen der Problematik des Verhältnisses von Glaube, Theologie und Schrift bleiben in Luthers Berufung auf die Schrift noch verhüllt240. Daß auch Worte der Schrift zu Trägern teuflischer Anfechtungen werden können, widerspricht für ihn der selbstverständlichen, allgemein anerkannten autoritativen Geltung der Schrift nicht, die für ihn nicht nur eine Überzeugung des Glaubens, sondern zugleich ein Element des geistigen Bewußtseins seiner Zeit war. Die Autorität der Schrift steht für das 16. Jahrhundert weltanschaulich 233 237 240

13*

234 235 236 196/7. 233, 1. 168, 8 f. 1 4 1 , 3. 238 239 535, 18. 1 1 4 , 8f. S. o. S. 193 Anm. 224. Vgl. Hirsch, Lutherstudien, Bd. 1, S. 2 i y f f .

196

Die Erscheinung der Anfechtung und ihre Uberwindung (1531)

fest, nur so kann die überführende Kraft verstanden werden, die Luthers Nachweis von der Ubereinstimmung seiner Theologie mit der Schrift innewohnte. Trotzdem war uns aufgefallen, wie selten Luther in seiner Vorlesung mit der bloßen Berufung auf die Schrift argumentiert. Seine Bekenntnisse über die Schwierigkeit des rechten Hörens sprechen eine deutliche Sprache über die innere Problematik, der eine solche Argumentation in der Anfechtungssituation ausgesetzt ist. Daß sie in der theoretischen Besinnung nicht in ihrer ganzen Schärfe heraustritt, hat seinen Grund darin, daß Luther noch nicht genötigt war, seine in der Unterscheidung der beiden Glaubensbegriffe angelegte Differenzierung zwischen allgemein einsichtiger und persönlich zu ergreifender Wahrheit nun auch im Blick auf die autoritative Geltung der Schrift als ganzes durchzudenken. In ihrer Zuspitzung bricht diese Frage erst zu einem späteren Zeitpunkt der Theologiegeschichte auf, doch Luther hält — wie auch bei anderen Problemen — die Elemente für eine Antwort bereits in der Hand, da diese in ihrer ganzen Tiefe erst nach ihm aufbrechenden Fragen theologisch in der Konsequenz seines eigenen Ansatzes liegen.

5. Luthers Darstellung der Uberwindung der Anfechtung als Werk des Geistes Die Beobachtungen, die wir bisher an Luthers Texten zur Überwindung der Anfechtung machten, liefen in der einen Feststellung zusammen, daß die Uberwindung der Anfechtung ein einheitliches, sich im Reden und Hören vollziehendes Geschehen ist, das nicht noch einmal in göttliche und menschliche Faktoren zerlegt werden kann. Der Mittelteil von Luthers Auslegung zu Gal. 4, 6 fügt sich diesem Bilde ein, läßt uns aber noch einmal einen genaueren Bück in das Geschehen tun. E r soll deshalb noch herangezogen werden. Die Kennzeichnung des Geistes, die Paulus hier gibt, macht für Luther die Situation deutlich, der das Wort des Apostels gilt. Gott schickt den Geist, der »Abba, Pater« ruft. Das weist auf die tentatio hin, der der schwache Christ ausgesetzt ist, der dem Evangelium, das ihm verkündet

Die Überwindung der Anfechtung als Werk des Geistes

197

wird, nicht glauben kann 241 . Hier schiebt sich die Anfechtung in das Geschehen des Redens und Hörens ein, das wir bisher als Uberwindung der Anfechtung kennengelernt haben.

Das

ist die höchste N o t : audio Christum praedicare, modo non apprehendam; voluntas non attingit, nihil quam v o x praedicatoris. Der Mensch ist nicht imstande, die Predigt des E v a n g e liums, die ihn aus der Anfechtung erretten soll, zu ergreifen! Hier droht die Einheit des Gott und Mensch umschließenden Geschehens zu zerbrechen: das Wort Gottes ergeht an den Hörenden und vermag doch die Antwort nicht zu entbinden. Doch gerade an dieser Stelle wird erst ganz deutlich, in welchem Maße Predigen, Hören und Antworten das eine Werk Gottes sind, das am Menschen geschieht: wo der Mensch das Wort nicht ergreifen und ihm antworten kann, da ghet spiritus sanctus . . . et clamat 2 4 2 ; dann schickt G o t t den Geist in das Herz des zum Glauben Unfähigen, der nun statt seiner mit »unaussprechlichem

Seufzen«

(Rm. 8,26)

zu

Gott

schreit.

Der

Angefochtene selbst hört diesen Ruf »Abba« nicht, doch Gott, der den Geist kennt, vernimmt ihn 243 . Der geringste Seufzer ist vor G o t t ein solches Geschrei, daß der Lärm des Teufels, des Gesetzes, der Sünde verstummt 244 , dieser clamor dringt durch die Wolken 2 4 6 , und der Seufzer wird zu solchem gemitus, daß auch die Engel noch nichts dergleichen gehört haben24®. T u gemis et nescis, quantum facis isto gemitu; sed dico tibi: du riehst ein geschrey an, das himel et erden zu schaffen hat 2 4 7 . Sodaß Gott

selbst sagt: nihil audio clamari in toto mundo

quam unum gemitum, qui totum coelum replet 248 . Dem Menschen geht es wie Mose, den das Volk in der Wüste bedrängte: Cur eduxisti 249 , der zur Verzweiflung getrieben und zum Schwächsten aller wurde —

den Gott anredet: quid clamas? obwohl

er nichts weniger konnte als beten. Ibi conclusus undique war stumm geworden —

heists denn clamare? 2 5 0 U n d doch ist

dies clamare, auf das Gott ihn anspricht, Wirklichkeit, Luther selbst formuliert es, als er das Bild zum zweiten Male aufgreift: ein gemitus war da: Domine, du hast michs geheissen, Iam 242

580, 4 f f .

248

581, 8.

244

582, 8f.

* » 581, 1.

246

582, gi.

247

583. 4·

248

586, 3f.

585, 1.

250

583/4·

241

249

579, 11 f.

198

Die Erscheinung der Anfechtung und ihre Überwindung (1531)

hulffe! Ideo dicit: Cur clamas etc. 251 , obwohl im Text nichts davon steht (vgl. E x . 14, 15). Der Übergang vom clamare des Geistes, von dem der Mensch nichts vernimmt, obwohl es in seinem Herzen entspringt, zum Seufzen des Angefochtenen selbst ist fließend. Er hört das abba-Schreien des Geistes nicht, sein Glaube ist so schwach wie irgend denkbar252, aber schon der schwächste Seufzer ist ein Einstimmen in das Rufen des Geistes: clamare heist edere infirmissimum singultum, gemitum cordis. Es genügt das kürzeste Wort: Abba, Pater, Paulus fügt nicht einmal hinzu: miserere mei. Denn: Mit den worten redt mans nicht, sed tantum affectu . . . Si solt wort da zu brauchen, musten all rethores da zu komen et tarnen esset 'inenarrabilis'253. Darum richtet Luther an den in seiner Schwachheit Angefochtenen nun doch die Aufforderung: halt fest254, las ein suspirium ghen255, apprehende Christum minima vocula266. Wenn der Mensch die Augen auf die Verheissung Gottes heftet, so stösst er damit schon den leisesten Seufzer aus — oportet. . . oculos infigere in promissionem, et sie omittetur gemitulus —, und damit ist alles geschehen, denn dieser bringt allen Lärm des Gesetzes zum Schweigen267. So geht es darum, an Christus zu hängen, so daß das Herz beginnt, »Pater« zu sagen258. Es ist die Verheißung Gottes, die dem Menschen diesen Seufzer abgewinnt: ista promissio bringt, ut dicis: Pater269. Hier ist kein Unterschied der Sprachen: diversa lingua dicunt Grecus: Pater, Ebraeus: Abba, sed in gemitu ists als gleich, uterque dicit: Pater 260 . In dieser Darstellung wird das ganze Geschehen der Überwindung der Anfechtung im höchsten Maße Gott zugeschrieben. Bereits dort, wo der Mensch die Fähigkeit des Hörens so verloren hat, daß er auch von dem ihm gepredigten Wort nichts mehr vernimmt, setzt die Hilfe Gottes und damit die Überwindung der Anfechtung ein: Gott erhört das Schreien des Geistes, den er selbst in das Herz des Menschen geschickt hat. Stärker kann es nicht zum Ausdruck gebracht werden, daß Gott allein die Errettung des Menschen bewirkt. Und doch 261 255 269

585. 3f585. 7592, 8.

252

581, 7.

263

586, i f f .

259

585.

287

592.

2,0

593. i f -

9-

4«·

254 258

581, 5· 582, 4.

Die Überwindung der Anfechtung als Werk des Geistes

199

tritt die Erwähnung des eigenen Seufzers des Angefochtenen unmittelbar hinzu, so daß Luther die Aufgabe des Geistes — nach Rm. 8, 26 — als Hilfe für die Schwachheit des Menschen2®1 verstehen kann: Si potens es, hat spiritus sanctus suum officium ausgericht; sed quando officium (adest?), ghets ut Moses262. Trotzdem darf kein additives Verständnis Platz greifen. Schon das unmittelbare Ineinander der beiden Gedanken, daß der Geist Gottes ohne Wissen des Menschen in seinem Herzen zu Gott ruft und daß der Mensch nun doch schwächsten Glauben hat, an Christus hängt, »Pater« zu sagen beginnt, das uns in Luthers Text entgegentritt, sträubt sich gegen die Darstellung in einer geordneten zeitlichen Abfolge; außerdem kann Luther auch hier — wie an anderer Stelle — die Reihenfolge umkehren. Das »Esto, las ein suspirium ghen« wird erläutert durch die anschließende Aufforderung: Apprehende Christum et hoc est spiritum sanctum habere in mediis clamoribus2®3. Der Besitz des Geistes, der den Menschen gerade in seiner Unfähigkeit, das Evangelium zu ergreifen, vor Gott vertritt, ist hier ineins gesetzt mit dem Ergreifen der Christusbotschaft, die der Angefochtene von sich aus eben gerade nicht fassen kann, ja abhängig gemacht von ihm. Das Vertretenwerden durch den Geist und das — wenn auch äußerst schwache — Greifen nach dem Wort lassen sich nach Luthers Ausführungen letztlich nicht auseinanderhalten, sondern gehen so unmittelbar ineinander über, daß hier von einem und demselben Geschehen gesprochen werden muß. Luthers Darstellung, die von den eben ausgeführten beiden Gedanken getragen ist, ist im Grunde in ihrer eigenen Struktur nichts anderes als der Niederschlag seines vom Wort her gedachten Verständnisses vom Verhältnis des Menschen zum Heiligen Geist bzw. seines worthaften Verständnisses des Geistes. Wie der Geist den Menschen vertritt ohne dessen Zutun und Vernehmen, so stiftet das an den Menschen ergehende Wort einen Tatbestand, der auch ohne dessen Zutun und Vernehmen Gültigkeit besitzt. Wie jedoch die Stellvertretung durch den Geist nur dem aus der Anfechtung hilft, der sie wahrnimmt und damit nun doch bereits zu einer ersten eigenen 261

5 8 1 , 2.

2 2

·

584, 7 f f .

" » 585, 7 f .

200

Die Erscheinung der Anfechtung und ihre Überwindung

Antwort gelangt ist — und was umschließt der Gebetsseufzer »Pater« anderes als das nun doch vorhandene Wissen darum, daß Gott in jedem Falle auf der Seite des Angefochtenen steht — , so erschließt sich der in der Anrede des Wortes gesetzte Tatbestand nur dem, der ihn — wie schwach auch immer — hörend und antwortend wahrnimmt. So ist dieser Abschnitt, in dem es um die höchste Anfechtung geht, um die Stelle, die bei einem nur worthaften Verständnis des Verhältnisses von Gott und Mensch die gefährlichste ist: Was geschieht, wenn der Mensch das Wort nicht zu hören vermag?, gerade indem er nichts von diesem Verständnis des Verhältnisses von Gott und Mensch preisgibt, sondern nur das Wesen eines solchen Verhältnisses noch einmal aufs Genaueste zum Ausdruck bringt und eben darin den Weg aus der Anfechtung nun doch nicht nur zeigt, sondern führt, noch einmal ein großartiges Zeugnis dafür, mit welcher Folgerichtigkeit und systematischen Kraft Luther dies Verständnis des Gottesverhältnisses in den verschiedenen theologischen Aussageformen durchhält. Es hat sich gezeigt, in welcher Reinheit Luther sein vom Wort her gedachtes Verständnis der Anfechtung und ihrer Uberwindung festhält. Keine »handfeste« Vergewisserung reicht in die Tiefen der Entscheidung hinein, die Luther in seiner dem Angefochtenen geltenden Predigt anspricht. Und weil er sich in diesen letzten Glaubensentscheidungen die — scheinbare ? — Erleichterung massiver Verbürgungen versagt, bleibt das Ergreifen des vorgehaltenen Wortes für ihn das Schwerste, was es für den Menschen gibt. Das zeigt ein Blick auf den Abschluß seiner oben herangezogenen Auslegung zu Gal. 4, 7: Disce, quam ardua sit doctrina fidei!264 Das Fleisch steht der Strenge dieser Glaubensforderung entgegen. Und doch liegt hier allein alle Hilfe: Si perfecte crederet, moreretur in suavitate et gaudio, ut ein ebrius hin schleift 265 . Die Anfechtung kann nur durch diesen Schritt zum Glauben überwunden werden, der für den Angefochtenen trotz der einseitigen Predigt des Evange244

599.1-

Zusammenfassung

201

liums Tod und Leben in einem umschließt. Darum führt keine »Massivierung« der theologischen Sprache Luthers herum. Hinzu kommt ein weiteres: die Erscheinung der Massivierung und Vergröberung wird von Thimme, der sie mit Jacob aus der Situation sich steigernder Anfechtungen herleitet, deutlich als von Luther selbst nicht bemerkte Inkonsequenz seiner theologischen Gedankenbildung herausgearbeitet. Ist man jedoch gezwungen, diese theologische Entwicklung Luthers als Inkonsequenz zu interpretieren, so gerät man in eine mißliche Lage. Auf diese Weise wird entweder der Wichtigkeit, die dieser Entwicklung dadurch beigemessen zu werden scheint, daß sie als Hilfe in der Anfechtung, und d. h. doch in der für Theologie und Frömmigkeit elementarsten Situation, verstanden wird, praktisch nun gerade doch nicht Rechnung getragen. Oder man mißt diesen Gedanken das ihnen aus dieser Situationsangabe zukommende Gewicht wirklich bei — dann aber erhebt man mit diesen Interpretationen den tödlichsten Einwand gegen die Theologie des frühen Luther, der gegen sie erhoben werden kann. Denn dann läuft diese Interpretation im Grunde auf die Feststellung hinaus, daß die frühe Theologie Luthers auf die Dauer zur Überwindung schwerer Anfechtungen offensichtlich nicht ausgereicht habe. Jedenfalls ist mit diesem Erklärungsprinzip der theologischen Entwicklung Luthers die Vorliebe für die frühe Gestalt seiner Theologie — wie sie etwa in der Arbeit Thimmes zum Ausdruck kommt — nicht im Ernst vereinbar. Der schwerste Einwand gegen das Verständnis der mythologisch-massiven Beschreibungen des Werkes Christi und, parallel dazu, der Betonung von Kirche, Sakrament und Lehre als die entscheidende Hilfe zur Vergewisserung in der Anfechtungssituation hegt jedoch in den Konsequenzen, die dieser Ansatz der Interpretation für die Einheit des Gottesbegriffes beim späteren Luther hat. Wir sahen bereits im vorigen Kapitel, daß Thimme die Einheit des Gottesbildes festhält, daß er aber dadurch, daß er Luthers bildhaft mythologisches Reden von der Heilsautorschaft Christi nicht als Inhalt des Wortes inter245

598, 6f.; dem Druck ist dies Bild zu anstößig, vgl.: Imo homo perfecte hoc credens non diu superstes maneret, nam statim immodico gaudio absorberetur (598, 23f.).

202

Die Erscheinung der Anfechtung und ihre Überwindung

pretiert, sondern Luthers Verwendung traditioneller Bilder und Formeln und seine bildhaften Beschreibungen als in sich gesteigerte Reaktion auf sich steigernde Anfechtungen versteht, doch in die Nähe der Annahme einer zunehmenden gegenseitigen Abkapselung zweier einander entgegengesetzter Seiten in Luthers Gottesbegriff gerät2 ββ. Da er den Akzent nicht auf die Worthaftigkeit, sondern die Massivität der Anfechtung und ihrer Überwindung legt, wird er schneller als nötig in ein statisches Verständnis der Spannung im Gottesbegriff hineingezwungen. Für Jacob, auf den Thimme sich weitgehend beruft, und der in seiner Analyse der Anfechtung den »Charakter der konkreten Gegenständijkeit« der angreifenden Mächte und die »intensive Realität des Gegenüber« sehr eindeutig herausarbeitet287, löst sich die Einheitlichkeit des Gottesbegriffes vollends in einen Dualismus auf. Der deus absconditus der Anfechtung, der mit Satan und Gesetz zusammengehört, steht gegen den deus revelatus. »Die konkrete Gegenständigkeit des Deus absconditus im Horizont der Zornesmächte . . . erfordert die konkrete Gegenständigkeit des Deus revelatus. Die Polarität von Deus revelatus und Deus absconditus entspricht in ihrer Struktur derjenigen von Verbum und Satan«268. Damit stehen Christus und sein Werk gegen den zornigen Gott. Ihr Gegenüber ist ein Polaritätsverhältnis, wobei die bei Luther »betonte inhaltliche Erfülltheit der Mächte (Christus, Verbum) in genauer Entsprechung zu der Undurchdringlichkeit und massiv-mythologischen Verdichtung steht, durch die die Zornesmäcfite ausgezeichnet sind«, zu denen für Jacob auch der deus absconditus gehört. Die Massivität der angreifenden Mächte erzwingt für ihn die Massivität des Gegenpoles, »die eigentümliche Verkapselung des positiven P o l s . . . ist zu verstehen aus dem immer elementarer und massiver werdenden Charakter der Anfechtungen«. Wobei er allerdings diese »Verkapselung der Pole« 2e«

S. o. S. 142. Jacob, Der Gewissensbegriff in der Theologie Luthers, S. 23. 268 Jacob, a. a. O., S. 47 f.; vgl. auch S. 23 Anm. 1: »Wenn unter dem Deus absconditus der in den Mächten der conscientia be-gegnende zornige Gott verstanden wird, so ist der enge Zusammenhang von Satan und Deus absconditus deutlich . . .«. 267

Luthers doctrina-Begriff

203

nicht als »Abgleiten aus einer ursprünglichen und freien Geistigkeit« verstanden wissen will, sondern als »Ausdruck der immer unheimlicher sich vertiefenden Intentität der Spannungen«2®9. Doch durch das Verständnis der Anfechtung als polarer Spannung, in der die Pole selbst in einem statischen Gegenüber stehen, zerbricht ihm die Einheit des Gottesbildes. Sowohl in Luthers Auslegung der Grußformel mit seinem Pochen auf die definitio Christi wie in seiner Konzeption der usus-Lehre kommt unmißverständlich zum Ausdruck, daß ihm alles daran hegt, die Einheit des Gottesbildes zu wahren, ja daß für ihn die höchste Steigerung der Bedrängnis darin liegt, das Gesetz als Stimme Gottes hören zu müssen, die er auch nach der Befreiung durch das Evangelium nicht einfach als Stimme des Teufels hinwegschieben kann. Seine Darlegungen zeigen deutlich, auf welche Weise teuflische Anfechtung und tötendes Amt des göttlichen Gesetzes für ihn ineinanderliegen. Es gelingt ihm beides: in der Gewißheit des Rechtfertigungsglaubens die Anfechtung durch das Gesetz als satanisch zu bezeichnen und doch zugleich von dieser im Rechtfertigungsglauben gegebenen Überwindung der Anfechtung her das tötende Werk des Gesetzes als Handeln Gottes zu begreifen. Letztlich hegt nur hierin, daß er es vermag, das ganze Geschehen in sein Gottesbild miteinbegriffen sein zu lassen, die Berechtigung dafür, angesichts des den Gesetzesschrecken preisgegebenen Menschen diese Schrecken dem Teufel zuzuweisen.

II. DIE VERGEWISSERNDE LEHRE ALS GESTALT DES WORTES (1531)

i . Luthers doctrina-Begriff a) Das Evangelium als verbum centrale Die entscheidende Hilfe in der Anfechtung ist das Wort. Wir hatten bisher gesehen, daß nicht nur das verkündende, sondern auch das belehrende Wort hier seinen Platz hat, da auch dieses 2M

Jacob, a. a. O., S. 39.

204

Die Erscheinung der Anfechtung und ihre Überwindung (1531)

so stark durch seinen Ursprung im unmittelbaren Hören geprägt ist, daß es das direkte Reden und Hören nicht hindert, sondern selbst zum rechten Hören führen kann. Nach ihm müssen wir noch einmal genauer fragen. Wir beginnen mit einem Blick auf Luthers Auslegung zu Gal. 4, 7 — der conclusio und summa summarum der vorausgegangenen Ausführungen 270 — und schlagen von dort aus die Brücke zu den für unseren Zusammenhang wichtigen Texten. Luthers Auslegung zu Gal. 4, 6 findet ihren Abschluß in seiner Exegese des folgenden Verses »Itaque iam non est servus, sed filius: Quod si filius: et heres Dei per Christum«. Dieser Vers erläutert für ihn noch einmal das Geschehen zwischen Gott und Mensch. Sagt der Mensch: Abba, so ists decretum in coelo. Gott erklärt den Menschen durch Christus zu seinem Sohn und verspricht sich ihm damit als Vater — econtra ego respondeo per istum gemitum et dico: Pater! est tantum gemitus filii, qui apprehendit fiduciam in tribulatione: tu promittis et vocas me filium et ego te patrem 271 . So steht alles auf dem Wort, die Haltung des Menschen kann nur eine passive sein, er wird zur neuen Kreatur geschaffen, er wird zum Sohn geboren durch das Wort. Verbum dei est uterus divinus, in quo nascor; et ista navitate, qua fio, — hec me creat et facit filium 272 . E s ist deutlich: durch das Wort der Anrede wird das Vater-Sohn-Verhältnis zwischen Gott und Mensch gestiftet. Wer Sohn ist, ist Erbe. Erhält der Glaubende in der Gegenwart nur das Wort, so steht das Erbe offenbar noch aus. Hier tritt uns die eigentümliche Verhältnisbestimmung von Gegenwart und Zukunft bei Luther entgegen, die sich aus dem Verständnis des Heiles als Wort ergibt und das eschatologische Verständnis der Gegenwart in sich schließt. Im Wort hat der Mensch bereits die Mitte, in der alles beschlossen liegt, die Sohnschaft, die das Knechtsein ablöst und damit ein Leben bedeutet ohne Gesetz, ergo ohne Sünde, ergo ohne Tod, ergo salus, ergo nihil malorum, ergo filiatio secum universum regnum et aeternum cum omni salute etc. Das centrum hat der Glaubende schon jetzt, die circumferentia wird er nach seinem 270

593. 3*·

271

593 f·

272

597. 6 ff.

Luthers doctrina-Begriff

205

Tode erblicken. So steht das Erbe in der Tat noch aus. Andererseits ist jedoch in dem Wort, das er empfängt, schon alles enthalten: Promissio infinita, quamquam includatur in verbum centrale273. Wenn er das Wort im Vertrauen annehmen könnte, würde er vor Freude sterben274, die Welt wäre für ihn vergangen276; Si perfecte crederet, moreretur in suavitate et gaudio, ut ein ebrius hin schleift278. Doch daran hindert ihn sein Fleisch, das ihn gefangen hält, das ihm eine schwerere Last ist als selbst der Tod 277 , das es nicht vermag, Gottes Gnade so hoch einzuschätzen, wie es ihrer würdig ist278. Um dieser Schwachheit willen bleibt es die ständige Aufgabe des Menschen, sich um das Wort zu mühen — Zuthun, ut ego sim lector279 —, und der Geist mus helffen gemere280. So läuft das Verhältnis des Menschen zu dem ihm als Sohn zugesprochenen Erbe hinaus auf das paradoxe »In fide . . . apprehendens nihil habet quam auditum et sonitum promittentis, et in ea habeo quae maior quam coelum et terra«281. Das »noch nicht«, das hierin enthalten ist und das sich im Leben des Glaubenden realisiert in der Anfechtung des Fleisches und Unglaubens, die ihn nicht zum rückhaltlosen Vertrauen auf das Wort kommen läßt, wird erst mit seinem Tode aufgehoben sein. Der entscheidende Begriff dieses Absatzes ist der des verbum centrale, der erläutert wird durch das in fide habere. Der mit diesen Vokabeln angedeutete Gedankenkomplex führt uns hin auf Luthers Erörterung des Verhältnisses von fides und spes, die er in seiner Auslegung zu Gal. 5, 5 gibt: »Nos enim Spiritu ex fide spem iusticiae expectamus«282. Luthers Gedanken sollen hier nur so weit deutlich gemacht werden, als sie für unsere Frage nach dem Wort, das die Anfechtung zu überwinden vermag, wichtig sind. Im Paulustext selbst ist zweierlei gegeben: einmal die Unterscheidung von fides und spes, obwohl für Luther beide aufs engste zusammengehören — differentia, 273

274 275 276 596, iff. 597, 13f. 599, 3f. 598, 6f. 278 279 280 598, 9. 599. 4 « · 599, 7598, 6. 281 596, 5 ff. 282 W. 40 II 22 ff. Zu dem gesamten Fragenkomplex von fides und spes vgl. jetzt die allerdings auf frühe Luthertexte (bis 1518) bezogene Arbeit von R. Schwarz: Fides, Spes und Caritas beim jungen Luther (Berlin 1962). 277

206

Die Erscheinung der Anfechtung und ihre Überwindung (1531)

quam difficillime nos differamus! 283 —, zum andern die Konzentration auf die Frage nach dem Verhältnis von fides und spes zur Gerechtigkeit. Damit ist von vornherein aus der umfassenden Gegenüberstellung, die Luther zu Gal. 4, 7 anläßlich der Unterscheidung von centrum und circumferentia gab, ein Gedanke — der für Luther entscheidende — herausgegriffen, zur spes gehört: ergo etiam sine peccato284. E r unterscheidet ein doppeltes Verständnis der spes: pro re operata und pro affectu sperantis285, einmal bezeichnet der Begriff der Hoffnung die künftige Gerechtigkeit selbst, im zweiten Falle die Haltung dessen, der auf die Gerechtigkeit hofft. In beiden Fällen kommt zum Ausdruck, daß der Mensch die Gerechtigkeit nicht besitzt, sondern erhoffen muß: Sic iustitia nostra non in re, sedin spe286. Beide Bedeutungen von spes können für unseren Text zutreffen, die zweite jedoch enthält für den Angefochtenen den höchsten Trost: wird er im Kampf mit dem Teufel durch den Affekt der Hoffnung getröstet, so begreift er die Hoffnung in usu 287 . In diesem Sinne wird der Begriff der Hoffnung im folgenden von Luther verwandt. Die anschließende genaue Differenzierung arbeitet den Unterschied von fides und spes heraus288. Die Unterscheidung289 empfängt ihr Profil aus der Zuordnung des Glaubens zum Intellekt, der Hoffnung zum Willen des Menschen; von hier aus wachsen beiden verschiedene Ämter zu. Der Glaube muß belehren, die Hoffnung anspornen und ermahnen; ihre Objekte sind verschieden: der Glaube richtet sich auf die Wahrheit, auf Christus, das verbum rei, die Hoffnung auf das erwartete Gut (bonitas), die res verbi; die Hoffnung folgt dem Glauben, der ohne Anfechtung durch Aufnehmen der Lehre über Christus ergriffen wird und den die Hoffnung dann in Kreuz und Kampf festhält290, so haben sie verschiedene Gegner, der Glaube kämpft 284 W. 40 I I 25, 1 3 . 596, i f . 287 2 8 6 W. 40 I I 24, 6 f . W. 40 I I 2 3 , gf. W. 40 I I 2 5 , 5ff. 2 8 8 Ich halte mich bei dieser Gegenüberstellung neben dem nicht ganz klaren Text der Kollegnachschrift an Luthers eigene Präparation zur 289 Vorlesung, W . 40 I 2 1 , I 5 f f . 21, 15ft. 2 9 0 Vgl. auch dazu: Fides incipit sine tribulatione, audio doceri Christum sine tribulatione et cruce, sed kompt bald drauff (W. 40 I I 29, 4*f·)·

283

285

Luthers doctrina-Begriff

207

gegen Irrlehren und Häresien, die Hoffnung gegen Kreuz und Anfechtung. Zusammengefaßt: der Glaube ist der doctrina zugeordnet, die Hoffnung der exhortatio. Doch trotz dieser durchgeführten begrifflichen Unterscheidung können sie voneinander nicht getrennt werden, so wenig wie die beiden Cheruben auf der Bundeslade291, denn im Vollzug des Glaubens wirken sie zusammen: Si credo in Christum et verwag mich toto corde, ut suscipiam, quod tarnen sine voluntate non fit, ibi sum iustus hac sententia. Ubi hoc fit, venit diabolus et conatur extinguere doctrinam et vi opprimere; ibi spes apprehendit rem in fide compraehensam282. Sie gehören zueinander wie Rhetorik und Dialektik, wie Besonnenheit und Stärke: tradunt sibi mutuas operas293. Der Text geht nun in die genauere Darstellung der Anfechtungssituation über, die durch diese Unterscheidung von fides und spes eine Klärung erfährt. Die im Glauben ergriffene Wahrheit wird durch die Welt, das Fleisch, den Teufel angegriffen294, und das eigene Bewußtsein des Menschen gibt diesem Angriff recht: er fühlt sich gefangen in der Sünde, fühlt nichts als Schuld und Tod296. Dagegen ist die Wahrheit des Glaubens zu behaupten: revera non est, sed meus sensus iudicat ita 29e ; der Mensch muß sich trösten, daß er die Gerechtigkeit besitzt, weil Gott ihm die Schuld vergeben hat 297 . So muß er kämpfen: si senseris te captum, noli credere. Etiam aversus, Christus non est aversus et deus etc.298. Von der Anfechtung durch den Zorn Gottes ist hier nicht die Rede, sie läßt sich aber nach d e p Bilde, das sich uns bei der Betrachtung der Gruß292 w. 40 I I 25, 15. W. 40 II 26/7. W . 40 I I 27, 8ff.; dort: Si rethor non habet dialecticam, tum est wesscher, Si simplex dialecticus, nihil monet. Sed Rethor habens dialecticam, der kans treiben, das lebt. 294 W . 40 I I 28, 5 f. 295 W . 40 I I 30, 6ff. Luther gebraucht in diesem ganzen Passus den affektgeladenen Begriff «sentire»: Sensus peccati perturbat te; (te) captivantem sentis; aliud nihil sentis quam te absorptum in peccato; nihil sentiam quam peccatum, mortem; si senseris te captum . . . Auch das Wissen um die Vergebung kann auf diese Weise beschrieben werden: etsi tenuiter sentio, tarnen apprehendo Christum . . . (W. 40 I I 30f.). 296 287 298 W . 40 I I 30, 8. W. 40II 3 1 , 4 f . W . 40 II 31, 8ff.

291 293

208

Die Erscheinung der Anfechtung und ihre Uberwindung ( 1 5 3 1 )

forme! ergeben hat, ohne weiteres in diesen Zusammenhang hineindenken. Dieser Kampf ist die Aufgabe der spes299, die die von der fides ergriffene Wahrheit durchhält. Die Begründung und Ermöglichung der Anfechtung liegt im Gegenstand des Glaubens selbst, in der Spannung von Gegenwart und Zukunft, von Verborgenheit und Offenbarsein, die dieser Gegenstand in sich trägt. Die Gerechtigkeit, die dem Menschen im Glauben gegeben ist und die er gegen die Anfechtung verteidigen soll, ist eine iustitia incepta und revelanda300. Der Wille muß deshalb durch den Glauben belehrt werden, bis unsere Gerechtigkeit offenbar wird: Fide incepimus, spe perduramus, revelatione totum habebimus301. So kann Luther sagen: Propter credere patimur 302 , d. h. der Glaube ist anfechtbar, da sein Inhalt im Wort beschlossen liegt. Im Rückgriff auf den oben referierten Text könnten wir sagen: da sein Inhalt das verbum centrale ist. Die Hoffnung widersteht der Anfechtung — die Wahrheit, die sie durchhält, ist inhaltlich keine ihr eigene Wahrheit, sondern die der fides. Will man die gegenseitige Abhängigkeit von Glaube und Hoffnung bestimmen, so müßte man sagen: Notwendigkeit und Vorhandensein der Hoffnung hängen am Gegenstand der fides, in ihm ist das Element der Hoffnung mit gegeben, denn in ihm als dem verbum centrale ist der Tatbestand des Habens und Nichthabens enthalten, ihn in der Anfechtung fassen heißt eo ipso, die spes mit ergreifen. Hilfe in der Anfechtung, die durch die Hoffnung bestanden werden muß, ist allein der Gegenstand der fides selbst, das Wort, das die Hoffnung in sich birgt. b) Evangelium und doctrina

In unserem Text fällt zur Kennzeichnung dieses Wortes der Begriff der doctrina303. Im Zusammenhang selbst ist er verursacht durch die Gegenüberstellung von doctrina und exhortatio, im Zuge des Vergleiches von fides und spes. Sein 299 w . 40 II 31, i o f . : Das heißt consolari per spem etc. 300 303

302 W. 40 II 31, 4. «»ι w . 40 II 28/9. W. 40 II 29, 2. W. 40 II 26, ι . 2. 4; vgl. auch W. 40 I 21, 29.

209

Luthers doctrina-Begriff

Sinn und seine Verwendung ist jedoch nicht von dieser Gegenüberstellung herzuleiten, er taucht immer wieder innerhalb der Vorlesung auf und hat sein eigenes Schwergewicht. In Luthers Auslegung des 5. Kapitels spielt er seit Gal. 5, 2 eine Rolle, der Text des Paulus »Si circumcidamini, Christus vobis nihil proderit« richtet alle religiones und doctrinae304, und sein Vorwurf »Evacuati estis a Christo« (Gal. 5, 4) zeigt das fulmen doctrinae nostrae806 an, das sich gegen alle Gesetzesgerechtigkeit richtet. Es geht um maximae doctrinae, die der doctrina des Papstes entgegenstehen306, und die Güter des Glaubens sind größer und wichtiger als zehn Welten: uns leit mher an unser doctrina quam yhn an yhrm ding307. Der Begriff der doctrina dient als Zusammenfassung für den Inhalt des Rechtfertigungsglaubens. In dieser Bedeutung begegnet er uns bereits am Anfang der Vorlesung, besonders in Luthers Auslegung zu Gal. 1, 6ff., wo nach dem einleitenden argumentum und der salutatio nun die Situation der galatischen Gemeinden und die Absicht, die Paulus mit seinem Briefe verfolgt, zur Sprache kommt. Es geht um eine Frage über Leben und Tod: die Bewahrung der galatischen Kirchen in der sana doctrina308. Paulus muß so stark auf die Behauptung seines Evangeliums dringen, weil die Galater schwach sind und ihnen die doctrina noch nicht wirklich ins Herz gedrungen ist 309 . Sie sind den Irrlehren ausgesetzt, die »das Euangelium gern gar ausroten« wollen, dem Satan, der die doctrina aufheben will310. Es liegt alles daran, daß jeder seiner doctrina gewiß sei 311 . Darum setzt Paulus den Irrlehrern seine eigene doctrina entgegen, die er nicht von Menschen empfangen hat 312 , ebenso wie Luther seine doctrina nicht dem Papst verdankt 313 . Die Wahrheit seiner Lehre erweist sich darin, daß sie Gott und nicht den Menschen die Ehre gibt314 und daß auch er selbst in seiner doctrina — parallel steht: praedicatio! — nicht seinen eigenen Ruhm sucht. Wie könnte das auch anders sein, wenn ihr Inhalt ist, daß alle Gerechtigkeit und Weisheit des Menschen verdammt und vom Teufel sind und allein die 304 367

310 318

14

W. 40 II 10, 2 f. W. 40 II 21, 8f. X13, 6f. 145. 4ff·

Bornkamm, Galaterbrief

305 308 su 314

W. 40 II 19, 4. 147. 9f. 133.4· 131. 4·

30e

W. 40 II 20, ι ff.

312

127, I I f.

so» i o 3 , 7 f.

210

Die Erscheinung der Anfechtung und ihre Uberwindung (1531)

bloße Gnade Gottes dem Menschen seinen Wert gibt? 3 1 5 . Solches predigen — »das heist nach schlegen (gerungen)«31®, doch darin kann die pura doctrina erkannt werden: daß sie nichts Eigenes enthält, sondern das, was dem Prediger aufgetragen ist. Eine syncera doctrina lehrt das Wort, die Gnade, die Barmherzigkeit, das Werk Gottes 317 . So spricht Luther von der doctrina, wenn auch im Text selbst (Gal. 1, 6f.) vom Evangelium Christi und dem aliud euangelium der Irrlehre die Rede ist. Die inhaltlich am stärksten entfaltete Gleichsetzung von doctrina und Evangelium gibt Luther dort, wo Paulus selbst den Inhalt des in der Offenbarung Empfangenen beschreibt ». . . ut revelaret filium suum in me« (Gal. 1, 16). Hier fließen die Begriffe doctrina und evangelium völlig ineinander 318 ; für beide gilt in gleicher Weise, daß sie den filius dei zum Inhalt haben — hier fällt die schöne Formulierung: Euangelium est nosse Jesum Christum 319 —, damit stehen beide gegen die in Mose geschehene Offenbarung von Gesetz, Hölle, Sünde, Zorn und Gericht Gottes. Das soll das Evangelium lehren — dies genus doctrinae kann jedoch nicht vom Menschen, sondern allein von Gott und seinem Wort gelernt werden, der es durch den Heiligen Geist offenbart 320 . Evangelium und doctrina können also von Luther synonym gebraucht werden. Natürlich liegt die Frage nahe, ob sich in dieser Gleichsetzung eine Erstarrung und Intellektualisierung des ursprünglich lebendigen Evangelium-Begriffes abzeichnet. Unsere bisherigen Beobachtungen wiesen jedoch eher in die umgekehrte Richtung: daß der Begriff der doctrina von dem ihm mit dem Evangelium gemeinsamen Gegenstande geprägt wird. Das bestätigt Luthers ausführliche Darlegung seines Verständnisses der doctrina, seine Auslegung zu Gal. 5, 9: »Modicum fermentum totam massam corrumpit«. Der Vers erhält hier ein ganz anderes Gewicht als 1 5 1 9 . Luther wendet sich sofort gegen konkrete Gegner: die Schwärmer, genauer: die Zwinglianer, die den Vorwurf gegen ihn erheben, daß er um eines einzigen Glaubensartikels willen die Liebe verletze und ihnen die Gemeinschaft verweigere 321 . Gegen solche Stimmen 315 319

i2i, iff. 141, 4.

318 320

122, 2f. 142, i f f .

317 321

318 140, gff. 122, gff. W. 40 II 45, i f f .

Luthers doctrina-Begriff

211

setzt Luther in aller Schroffheit die Unterscheidung von doctrina und Charitas. Die Liebe glaubt auch der Lüge322, sie trägt alles, sie gehört dem Leben zu, dessen Gestaltung in unserer Hand liegt, die Lehre richtet sich auf Gott323 und ist an die Wahrheit gebunden324. Steht die Wahrheit des Evangeliums auf dem Spiel, so muß die Liebe zurückstehen, hier ist sie nicht zuständig326. Von der Liebe gilt: Quid nocet, quod alius me bescheisset? Das schad mir nichts326, von der doctrina jedoch: Debet doctrina esse pura durch aus327. Denn in der doctrina geht es um das Wort Gottes, das kein leichtfertiges Spiel duldet328. Ohne Liebe und Einigkeit mit den Sakramentariern »kan ich ad coelum komen«, doch: sine fide, verbo, doctrina non salvus. Denn die Lehre ist das Licht, das uns zum Himmel führt 329 . Jeder Artikel ist wichtig, wer einen einzigen beiseite drängen will, der sei »anathema« — und bei den Schwärmern geht es um das Sakrament des Altars! Deshalb ist höchste Entschlossenheit gefordert330. Wer gegen einen Artikel verstößt, verstößt gegen alles — Luther wendet diesen dem Gesetz geltenden Vers des Jakobusbriefes (Jak. 2, 10) auf die doctrina an! —, deshalb: Doctrina debet esse rotundus et aureus circulus sine rima331. Luthers Sorge um die Reinheit und Unverletztheit der Lehre wurzelt nicht in einem systematischen Perfektionismus, sondern wächst heraus aus seinem Verständnis der doctrina und ihrer inneren Struktur. Hier tritt die Zusammengehörigkeit von Lehre und Wort am greifbarsten zu Tage. Die Schwärmer wissen nicht, daß sie mit einem Artikel alles verlieren, daß der Teufel, wenn sie ihn an einer Stelle hineinlassen, alles verwüstet332. Kennten sie das Wort, so wüßten sie: omnia verba esse unum et unum omnia333. Denn Gott ist in allen Artikeln 322

823 324 W . 40 II 49, 4 f. W . 40 I I 46, ηί. W. 40 II 49, 5. 32β Vgl.: pereat Charitas, ut stet fides (201, i f . ) . 828 327 W . 40 II 48, i f . W . 40 I I 5 1 , i f . 828 Man schertz mir nicht cum verbo dei (W. 40 II 45, 3); nolumus ludere in doctrina (ib. 47, 9); sehet euch fur, doctores et auditores, schertzt mir nicht cum doctrina (ib. 48/9). Beachte wieder die Parallelisierung von verbum und doctrina! 329 330 331 W . 40 II 5 1 , 2ff. W. 40 I I 5 1 / 1 . W . 40 II 47, 3f. 332 333 W . 40II 46, 9 f. W . 40 I I 47, n f .

1*«

212

Die Erscheinung der Anfechtung und ihre Überwindung (1531)

ganz da, verneine ich ihn in einem, so verneine ich ihn in allen, ich verliere den Schöpfer, das ewige Leben 334 . Was nützt den Juden ihr Glaube an alle Artikel der Heiligen Schrift, wenn sie den einen articulus ablehnen: Christus 335 . Hier kommt die Konzentration aller Lehre auf das Evangelium am deutlichsten zum Ausdruck. Die Verletzung eines Glaubensartikels ist deshalb so tödlich, weil er nicht eine Teilwahrheit enthält, sondern auf Christus weist und so die Botschaft von ihm in sich schließt. Anders gesagt: jeder Artikel der Lehre enthält durch seine Hinordnung auf Christus die Rechtfertigungsbotschaft. Deshalb geht es für Luther in Lehrfragen um den locus iustificationis et doctrinae 336 , und deshalb gibt es in Fragen der Lehre keine Vergebung. Denn wenn die Lehre angegriffen wird, ist das Wort Gottes, das die Vergebung bringt, aufgehoben 337 . So deckt sich für Luther der Inhalt der doctrina in der Tat mit dem verbum centrale. Wohl ist sie die Form des Wortes, in der dieses bewahrt und verteidigt wird, doch nur so, daß in ihren einzelnen Artikeln sein auf die Rechtfertigung konzentrierter Gehalt auch wirklich gewahrt bleibt. In ihrer Definition müssen die Elemente der Definition des Wortes enthalten sein. Sie trägt bei allem lehrhaften Gehalt den Charakter der auf den Menschen gerichteten Verheißung, sie enthält das worthafte Element der Unsichtbarkeit und der Hoffnung in sich, sodaß mit ihrem Inhalt immer zugleich die lebendige Hoffnung mitgegriffen wird. 2. Luthers inhaltliche Entfaltung der doctrina Zwei Gesichtspunkte erwiesen sich für den Begriff der doctrina als wichtig: die Hinordnung aller ihrer Aussagen auf die Rechtfertigung und, aufs engste damit zusammenhängend, ihr worthafter Gehalt. Was das für eine zusammenfassende Entfaltung der Glaubenswahrheit bedeutet, zeigt in unserer Vorlesung am besten das subiectum vel argumentum, das *** W. 40 II 48, 5. W. 40 II 52. i f .

336

W. 40 II 47, 4 f .

M· W. 40 II 45, 4.

Luthers inhaltliche Entfaltung der doctrina

213

Luther — wie üblich — seiner Auslegung vorausschickt und das eine Art thematischer Zusammenfassung des Briefinhaltes darstellt. Gegen den Kommentar von 1 5 1 9 fällt schon im argumentum die unvergleichlich größere Fülle festgeprägter Formulierungen auf, in der Luther das Thema anspielt. E r selbst betrachtet seine Ausführungen als Entfaltung der doctrina des Paulus, der in seinem Briefe die doctrina iusticiae, fidei, gratiae, remissionis peccatorum befestigen will338. Denn der Satan ist dabei, seine in den Galatern gepflanzte syncera doctrina zu zerstören339. Geht jedoch diese doctrina verloren, so geht alles zugrunde.340 Wir können demnach Luthers folgende Formulierungen mit Recht als Entfaltung seines doctrina-Begriffes betrachten. Das argumentum führt uns in lebendiger Gedankenfolge in die mit dem Begriff der iustitia passiva 341 und der von hier aus aufstehenden Frage nach dem Gesetz gegebenen Inhalte; von ihm gilt das bereits angeführte »Amissa hac doctrina et articulo amisimus omnia«342. Die Bezogenheit auf die Situation der Anfechtung wird ständig sichtbar. Ich greife die für uns wichtigen Begriffe heraus und halte mich in der Darstellung nicht streng an die Reihenfolge des Textes. Mit kühnem Griff setzt Luther gleich zu Anfang die christliche Gerechtigkeit allen anderen — politischen, moralischen und religiösen — Gerechtigkeiten entgegen. Sie ist die i u s t i t i a p a s s i v a , der alle anderen Gerechtigkeiten als i u s t i t i a a c t i v a 343 gegenüberstehen. Luther selbst gibt die Deutung: die aktive Gerechtigkeit besteht im operari, die passive im pati alium operari in nobis, scilicet deum344, die eine ist ein facere346, die andere ein omittere34', die eine ist die Gerechtigkeit aus 838

839 340 40, 2f. 52, 3ff. 39, iof.; 48, 10. Nach Hirsch (vgl. Vogelsang, Die Anfänge von Luthers Christologie, S. 58 Anm. 2) entwickelt Luther den Begriff der iustitia passiva erstmalig in »De servo arbitrio« (W. 18, 768f.); außer dieser Stelle zuerst hier, vgl. Loofs, ThStKr. 1917, S. 3 7 ! Weitere Literaturhinweise bei Ficker W 56, 220 Anm. 1 (zu Rm. 3, 7). Auf den viel verhandelten Begriff soll hier nicht näher eingegangen werden, er soll uns — wie die übrigen Lehrformulierungen des argumentum epistolae — nur dazu dienen, den doctrina-Begriff Luthers zu erhellen. 842 843 844 48, 10. 42, 6f. 41, 4 f . 845 848 40, 13. 47, 3. 841

214

Die Erscheinung der Anfechtung und ihre Überwindung (1531)

Werken347, die andere weiß Christus als ihren Inhalt 348 . Die Begriffe aktiv und passiv bezeichnen die Haltung des Menschen in Bezug auf seine Rechtfertigung vor Gott. Die Abgrenzung beider Gerechtigkeiten deckt sich mit der Abgrenzung von Gesetz und Gnade. Uberall, wo Gebote oder Vorschriften laut werden, ist der Bereich der aktiven Gerechtigkeit. Iustitiae peiores sunt ex legibus349. Dabei ist es gleich, ob es sich um politische Gesetze, zeremonielle Vorschriften oder die göttlichen Gebote des Dekaloges handelt, und gleich, ob die Erfüllung aus den eigenen natürlichen Kräften erwachsend oder durch die Hilfe Gottes gewirkt gedacht ist360. Sie alle bestehen in einer — wie im einzelnen auch immer gearteten — Erfüllung eines Gesetzes. Die passive Gerechtigkeit entsteht jedoch im reinen Empfangen und ist damit nicht an das Gesetz gebunden, allein sie ist die Christiana iustitia 351 . Trotzdem hat auch die aktive Gerechtigkeit ihr Recht: überall, wo es nicht um die Frage der Rechtfertigung geht, hat das Gesetz seinen notwendigen und unbestrittenen Platz. Hier ist es das Höchste, das der Mensch hat, denn es ist die tragende Grundlage jeder Art menschlichen Gemeinschaftslebens, es bestimmt Politik und Sitten352, außerhalb des Gottes Verhältnisses gilt es als höchste Weisheit, das Gesetz zu kennen und zu achten363. So ist beiden Gerechtigkeiten ihr Bereich zugewiesen. Luther faßt diese Scheidung in den Begriff zweier W e l t e n : Nos vero quasi duos mundos constituimus, die himmlische Welt, die frei ist von aller Gesetzlichkeit, und die Welt des Irdischen. Ihr Verhältnis zueinander wird als ein räumliches beschrieben, wie sich der Himmel über der Erde breitet, so liegt die himmlische Welt der Gerechtigkeit über der irdischen, durch die himmlische Gerechtigkeit steigt der Mensch über alle Gesetze empor. Stößt das Gesetz in diesen Bereich vor, so übersteigt es seine Grenze. Aber die irdische Welt gehört ihm 364 . Neben die inhaltliche Abgrenzung beider Welten voneinander scheint die Unterscheidung der Menschen zu treten, die diesen Welten zugehören. E x t r a p o p u l u m d e i i s t die Kennt347 318 350 41, 1. 47, 3f. 349 40, 12. 41, if. 351

4Ij

3_

3B2

5I> I2-

363 ^

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354 ^

yff.

Luthers inhaltliche Entfaltung der doctrina

215

nis des Gesetzes die höchste Weisheit, ihr steht die höchste Kunst der C h r i s t e n gegenüber, das Gesetz zu ignorieren und zu handeln, als ob es kein Gesetz gäbe356. Diese Trennung der Menschen in zwei Gruppen hält Luther jedoch nicht durch, trotz der Unterscheidung von »Christian!« und solchen »extra populum dei« sind es die gleichen Menschen, denen beides, Gesetz und Gnade, zu lehren ist: Mira res: debeo ego discere et docere homines, ut ignorent legem utque agant, quasi nulla sit lex, et econtra in mundo sie instare et urgere legem, quasi sit nulla gratia366. »In mundo« bezeichnet hier in erster Linie einen Existenz-, nicht einen Personenbereich. Diese beiden einander entgegengesetzten Lehrweisen des Gesetzes sind auf verschiedene Ziele gerichtet: einmal geht es um das salvum fieri367, das andere Mal darum, das Böse im Zaum zu halten358. Mit solcher doppelten Zielsetzung, die je einer der beiden Welten entspricht, spitzt sich die Unterscheidung beider Bereiche auf eine Unterscheidung innerhalb des einzelnen Menschen zu. So treten zu den beiden zunächst räumlich voneinander abgegrenzten Welten mit der vorläufigen Personenbestimmung »extra populum dei« und »Christian!« als Näherbestimmung die Begriffspaare car ο u n d spiritus 3 6 9 bzw. v e t u s und n o v u s homo. Lex et vetus homo gehorn zu samen. Ad spiritum gehört kein lex, dem alten Menschen, dem Fleisch, dem sol man den stecken aufflegen, er darf an der Freiheit des Geistes und der Gnade in diesem Leben keinen Teil erhalten380. In dem Augenblick, in dem beide Gerechtigkeiten und beide Welten, die durch Gesetz und Gnade gekennzeichnet sind, mit den auf den Menschen bezogenen Aussagen Fleisch und Geist in Verbindung gesetzt werden, zeigt es sich, daß die von Luther hier vorgenommene Unterscheidung nicht einfach als räumlich bzw. inhaltlich gedachte Grenzziehung verstanden werden kann, die zwei voneinander getrennte Gebiete bestehen läßt. Der Mensch gehört zu beiden Welten als ganzer, darum betreffen ihn auch beide Gerechtigkeiten ganz, er untersteht als ganzer dem Gesetz und als ganzer der Gnade. Anthropologisch beschrieb Luther diesen Tatbestand 1519 mit der bekannten 355

43, 7 ff.

3B«

43, 9 ff.

357

44, 2.

358

45, I I ff.

369

45, I. 12 .

360

45, I. 6. 12.

216

Die Erscheinung der Anfechtung und ihre Uberwindung (1531)

paradoxen Formulierang »duo toti homines et unus totus homo«8®1, in der Vorlesung verzichtet er auf diese paradoxe Umschreibung und sucht, die totale doppelte Betroffenheit und doch zugleich die Einheit des Menschen in einem einzigen Begriff zu fassen: dem der c o n s c i e n t i a . Da sie als der Begriff, in dem die Einheit des Menschen zusammengefaßt und gewahrt ist, seine Zugehörigkeit zu beiden Welten, sein Betroffensein durch das Gesetz wie die Gnade, seine Doppelheit von Fleisch und Geist, von altem und neuem Menschen zum Ausdruck bringen muß, sind die Aussagen über sie widersprüchlich und enthüllen damit die Schwierigkeit der bisher getroffenen Distinktionen. Die der conscientia zugehörige Welt ist die himmlische, die der Gnade, ihr Reich ist securitas leticiae3®2. Will das Fleisch zu diesem Reiche emporsteigen und den Frieden des Herzens stören, so überschreitet es seine Grenzen8®8. Die Freiheit von der Herrschaft des Gesetzes liegt außerhalb des Menschen selbst: ego baptisatus, vocatus ad Euangelium, regnum Christi — doch darauf darf sich das Gewissen nun verlassen: da bey sol mea conscientia bleiben3®4. Denn so lebt der Mensch in der christlichen Gerechtigkeit, in der weder das Gesetz noch Vorwürfe des Gewissens Raum haben, hier ist das Gewissen sicher, es kann nicht fallen 365 . Tritt jedoch in der Anfechtung das Gesetz an den Menschen heran mit dem Anspruch, alles Recht über ihn zu haben, so trifft sein Angriff die conscientia, die nun, wenn dem Menschen das Wissen um die iustitia passiva verloren gegangen ist, natürlicherweise mit dem Gesetz in Zusammenstoß gerät36®, denn nun steht sie für den Menschen, der filius Adam ist und den das Gesetz in voller Schärfe verklagen kann 367 . Hier fügen sich weitere Äußerungen Luthers über die conscientia an, aus seiner Auslegung zu Gal. 1, 3 a »Gratia vobis et pax«, wo der Begriff durch das »gratia remittit peccata, pax quietat conscientiam«368 gegeben ist. Die pax mundi, die den Frieden des Besitzes und des Leibes gewährt, verleiht ein friedliches, frohes Leben — in carne! Im Reich des Gewissens hat sie nichts zu suchen: cum ad conscientiam venit, ist der pax 861 W II 586, i6f. sM50i7f. 8,7 47/8.

382 3,5 388

51, if. 47. 5f· 73. if·

383 368

50, 5ff. 41, gi.

Luthers inhaltliche Entfaltung der doctrina

217

auß 389 . Das Gewissen findet keine Ruhe, wenn es nicht durch diese Gnade den Frieden empfängt. Wo die Vergebung fehlt, wird das Gewissen ganz von den angreifenden Mächten mit Beschlag belegt, es greift nun selbst an, gemeinsam mit Gesetz und Sünde, ja, peccatum und conscientia sind nostri duo diaboli370. Christus aber hat beide überwältigt371. Der Überblick über diese Äußerungen zeigt, daß im Begriff der conscientia die Doppelheit des Menschen tatsächlich in Erscheinung tritt: das Gewissen greift an und wird angegriffen, es klagt an und wird verklagt, es zerstört den Frieden und kann doch nur durch den Frieden der Gnade zur Ruhe kommen, es hat in Christus Ruhe und Frieden, ist aber gleichzeitig unter die Sünde des alten Menschen gebunden und steht damit dem Zugriff des Gesetzes offen. Es gehört zur legitimen Aufgabe des Gesetzes, den Menschen sich als vetus homo erfahren zu lassen, denn es ist gesetzt ad terrendem, humiliandum, vexandum372. Dem quasi sit nulla lex der passiven steht das quasi sit nulla gratia der aktiven Gerechtigkeit gegenüber373. Indem sich beide Ansprüche mit der ihnen auf Grund des »quasi sit nulla . . .« innewohnenden Totalität auf den Menschen richten, der sowohl vetus wie novus homo ist und trotzdem jedem Betroffensein durch Gesetz oder Gnade jeweils als ganzer gegenübersteht — das verbürgt der Begriff der conscientia —, zeigt es sich, daß Luthers zwei Welten nicht einfach nur als Nebeneinander zweier Bereiche gedacht werden können. Der Begriff der Grenze — der gläubige Familienvater, der die Seinigen unterweist, soll das Gesetz so mäßigen, daß es innerhalb seiner Grenzen bleibt 374 — erscheint für diesen Zusammenhang problematisch, und doch fällt er gerade in diesem Zusammenhang erneut: lex habet suos limites — jetzt aber entscheidend interpretiert: usque ad Christum; quando is venit, hört auff lex375. Damit ist die Grenze als Zeitbegriff charakterisiert, und der für die iustitia legis abge389

870 74/5· 73. if·. 9f73. 3*· Zu der hier vorliegenden Identifikation von conscientia und lex bzw. peccatum scheint mir das gleiche gesagt werden zu müssen wie oben S. i68f. zu Luthers bildhafter Redeweise. 872 878 874 876 44. 543/4· 44. 6f45. 7*· 871

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Die Erscheinung der Anfechtung und ihre Überwindung (1531)

grenzte Bereich des alten Menschen, des Fleisches, ist über die inhaltliche Angabe hinaus eine Zeitbestimmung. Das Nebeneinander von Gesetz und Gnade, die ihn als alten und neuen Menschen betreffen, ist dem Menschen erfahrbar in der zeitlichen Folge eines Nacheinander. Die zeitliche Interpretation des Verhältnisses beider Gerechtigkeiten beschreibt die Aneignung des simul iustus simul peccator, sie ist die Übersetzung des simul in die Erfahrbarkeit des Menschen. Nicht indem jeweils eine Ganzheit aufgehoben wird, doch so, daß sich für die Erfahrung des Menschen die Akzente von einer Ganzheitsaussage auf die andere so verschieben, daß beide Aussagen im Nacheinander erkannt werden. Weil das simul, das den Menschen als alten wie als neuen charakterisiert, bis zu seinem Tode über dem Leben des Menschen steht, darf dies zeitliche Verhältnis beider Gerechtigkeiten nicht als einmalige Abfolge verstanden werden. Das Gottesverhältnis, in dem der Mensch als alter wie als neuer steht und das durch Gesetz und Gnade bestimmt ist, ist nur mit Hilfe des Zeitbegriffes — eines Nacheinander — in die Erfahrbarkeit umzusetzen, andererseits erhält eben diese Zeitenfolge durch ihre Bezogenheit auf die stets gleichbleibende Bestimmtheit des Menschen als vetus und novus homo den ihr eigentümlichen Charakter eines ständigen Neubeginns. Die Verhältnisordnung des Menschen zu beiden Gerechtigkeiten steht damit unter der Bestimmung des tempus: Iam tempus recipiendi alteram iusticiam quae est passiva378 — dann, wenn das Gesetz mit der Forderung der iustitia activa seine zeitliche Grenze erlangt hat, d. h. wenn das usque ad Christum erreicht ist. Dann hat das Gesetz abzutreten: Tum cogitare debeo: Caro, vis ascendere in regnum conscientiae, vis dominari et tollere pacem cordis, tu ghes extra limites tuos . . . Da kanstu nicht hin377. An dieser Stelle wird es deutlich, daß die Gesamtheit der klar durchgeführten, aufeinander bezogenen und das Gottesverhältnis des Menschen in sich fassenden Unterscheidungen nicht in der Verfügbarkeit des Menschen steht. Die Grenze des 376

45. 3*.

377

5°. 5 ff·

Luthers inhaltliche Entfaltung der doctrina

219

usque ad Christum, die dem Gesetz gezogen ist, setzt es sich nicht selbst — gerade die Unbegrenztheit seines Anspruches befähigt es ja zum terrere und humiliare —, sondern sie wird ihm gesetzt: quando is venit, hört auff lex 378 . Das Gesetz begrenzt sich nicht selbst, sondern wird begrenzt, es überschreitet seine Grenze nicht, indem es sie selbst nicht einhält, sondern indem es sich von Christus keine Grenze setzen läßt. Durch diese Umsetzung des Grenzbegriffes in die Zeit stehen alle Distinktionen, mit denen die doctrina iustitiae aufgerichtet werden soll — zwei Gerechtigkeiten, Gesetz und Gnade, zwei Welten, alter und neuer Mensch, Fleisch und Geist — an der entscheidenden Stelle, auf die sie alle hinführen, d. h. in ihrer Bezogenheit auf die conscientia, dem Handeln Gottes offen. Sie sind begründet in dem »quando is venit« und halten den Menschen in der Erwartung dieses Kommens. Da in der Bedrängnis durch das Gesetz die Grenze für dessen Wirksamkeit zeitlich vor dem Menschen liegt, erfährt er diese als tentatio: Ach, were ich nur from . . . Ach, wie hab ich mein zeit zubracht, quam perdite vixi 379 . Hier taucht wieder die Gestalt des Teufels auf, der dem Gesetz die Freiheit des Verklagens wahren möchte und das Gewissen um die Ankunft Christi, die der Bedrängnis ein Ende macht, zu betrügen sucht, indem er ihm die Gesetzesworte Christi entgegenhält und damit die Gestalt Christi in einen Gesetzgeber verwandelt. Da ist dann jede Offenheit zu einem usque ad Christum unterbunden, verfällt der Mensch dieser Täuschung, so ist er dem Gesetz ausgeliefert. Tum halt ich Christum pro legislatore, so bin ich verloren380. Die Situation des Wartens auf das Kommen Christi ist die Angriffsstelle des Teufels, der alles daransetzt, die rechte Einsicht in die rechte Lehre zu zerstören. Von daher ergibt sich unmittelbar die Wichtigkeit der von Luther getroffenen Unterscheidungen. Sie sind »leichtlich gesagt«, doch in der Erfahrung der Anfechtung die schwierigste Anforderung381, denn in der Bedrängnis fügen sich die beiden unterschiedenen Gerechtigkeiten »neher, quam alicui lieb ist«382. 378

45, ηί.

332 ^2, 2.

379

42, 2 f f .

380

50, 4 f .

381

50, 1.

220

Die Erscheinung der Anfechtung und ihre Überwindung (1531)

Luther bekennt selbst von sich, daß er die Unterscheidung von iustitia passiva und activa noch nicht wisse883, es ist die höchste Kunst der Christen384. Wer sie jedoch in der Anfechtung verfehlt, kann nicht bestehen, so muß sie aufs sorgfältigste betrachtet werden385. Sie zu treffen, steht nicht im Vermögen des Menschen, dennoch gibt es keine andere Hilfe als die, die iustitia passiva zu ergreifen. So haben wir wieder die uns bereits bekannte Paradoxie vor uns, daß der Mensch zur Glaubensentscheidung aufgefordert wird, die doch nicht in seiner Hand steht. Dicendum: non quaero activam iustitiam. Hier greifen bei Luther nun wieder menschliches und göttliches Handeln ineinander: der Mensch soll das Gesetz aus den Augen tun — und es erleiden, daß er gerechtfertigt wird, er soll die iustitia ergreifen, die Gott gibt und die er deshalb an sich geschehen lassen muß38®. Vor dem »summa ars Christianorum« steht »Det deus saltem«387, und das Eintreten in den Bereich des Lebens, des Heiles, der Freude geschieht durch ein nihil facere sed omnia omittere, das aber heißt: ein nihil scire de lege und ein Ergreifen der Botschaft, daß Christus unsere Gerechtigkeit ist388. Deshalb gilt für den Angefochtenen non doch: legendum, exercendum in tentatione389, er muß sich selbst vergewissern: da bey sol mea conscientia bleiben390; Tum cogitare debeo . . . 391 . Auf die Kenntnis dieser Unterscheidungen legt Luther alles Gewicht. Gegen Ende der ersten Kollegstunde prägt er es seinen Studenten ein: Non frustra haec inculco et velim omnibus maxime curam istarum rerum apprehendendarum. Si volumus esse doctores, oportet nos ista diligentissime scire392. Der Prediger muß es verstehen, die verschiedenen Gerechtigkeiten recht voneinander zu trennen393. Wenn er einen angefochtenen und verzagten Menschen vor sich hat, muß er ihn unterweisen, daß er den Blick von der iustitia activa wendet und die iustitia passiva ergreift394. Diese Unterscheidung zu treffen ist die Aufgabe der Theologie — wenn Christus verborgen ist und kein Mensch getröstet werden kann, ist die Theologie zur Jurisprudenz oder zur Zeremonialvorschrift geworden. Sine ista 888 387 S91

41, 7f. 43, 6f. 5 0 >

5

.

884 888 392

43, 7f. 47, 2ff. 4 9

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5

o.

885 889

41, 7f. 50, 2.

393 ^

6

.

888 890

42, 7ff. 50, 8.

391 ^

j- f f .

Luthers inhaltliche Entfaltung der doctrina

221

distinctione non poterimus servare nostram theologiam ! 396 Die Lehre der Theologie soll die Erkenntnis Christi und das Ergreifen der Rechtfertigung ermöglichen. Vergleichen wir das Ergebnis der inhaltlichen Entfaltung der doctrina mit unserer zuvor gewonnenen Bestimmung des doctrina-Begriffs. Das Festhalten des Menschen an den ihn gelehrten Unterscheidungen kann das Kommen Christi nicht herbeizwingen, es geschieht jedoch in der Erwartung dieses Kommens, denn das Wissen um die Begrenzung des Gesetzes im usque ad Christum und quando is venit gehört zum Inhalt der Unterweisung, die als doctrina an ihn ergeht. Insofern wird mit dem Ergreifen der doctrina die Hoffnung mitgegriffen, in der Hoffnung aber vermag der Mensch die Anfechtung zu bestehen. Daß es zum Ergreifen der doctrina kommt, steht weder in der Macht des Menschen noch des Predigers, es bleibt jedoch die Aufgabe, sie so zu entfalten, daß sie dem Menschen die Hoffnung vorhält und so zur unmittelbaren Hilfe in der Anfechtung zu werden vermag, ja, daß sich die Erfüllung der Hoffnung als Annehmen dieser doctrina vollziehen kann. Das heißt: in Luthers Entfaltung der doctrina ist das Element der spes mitenthalten, die doctrina nähert sich inhaltlich aufs stärkste dem Wort. Die allgemeinen Kennzeichen, die wir für Luthers Verständnis des doctrina-Begriffes feststellten, haben sich bei der genaueren Betrachtung einer Entfaltung seiner doctrina bestätigt. Natürlich kann eine zusammenfassende Darlegung seiner Lehre im einzelnen auch anders aussehen, trotzdem scheinen mir die Grundzüge dessen, was er in seiner Vorlesung doctrina nennt, an diesem Beispiel deutlich sichtbar zu werden: die Konzentration auf die Frage der Rechtfertigung, von der her andererseits nun in großer Weite die Gesamtheit des Lebens einbezogen wird —- duos mundos constituimus ! 39e — , und die Offenheit für das lebendige, im Wort geschehende Handeln Gottes, für das der entscheidende Platz ausgespart bleibt 397 . 396 46, 7. 45, 9 f. 8β7 Vgl. auch Luthers Auslegung zu Gal. 2, 14, in der er fast die gleichen Begriffe zusammenstellt, ein Zeichen, daß wir hier wirklich ein Stück seiner doctrina vor uns haben. Im Streit des Paulus mit Petrus 395

222

Die Erscheinung

der A n f e c h t u n g und ihre U b e r w i n d u n g

(1531)

Zweifellos liegt 1531 für Luther auf dem Begriff der doctrina ein stärkerer Akzent als in seinem Kommentar 1519. Das scheint sich mir sehr einfach daraus zu erklären, daß er in der Zwischenzeit genötigt wurde, seine Erkenntnisse in stärkerem Maße als bisher für die entstehende evangelische Kirche lehrmäßig durchzubilden und gegen Irrlehren zu verteidigen. Sie verleugnet jedoch ihren Ursprung im Hören nicht, und die Verbindung mit dem lebendigen Worte bleibt gewahrt, sowohl in der einseitigen Gestalt ihrer unmittelbar der Situation der Anfechtung geltenden Aussage wie auch, wie der letzte Text zeigte, in der die Funktion von Gesetz und Evangelium beschreibenden Formulierung, die zum Ereignis des Kommens Christi hin geöffnet ist und so die Hoffnung in sich schließt. Da die doctrina auf diese Weise dem Worte Raum gibt, ist sie die entscheidende theologische Hilfe, die dem Angefochtenen gegeben werden kann. Auch in der traditionelleren, »massiveren« Beschreibung des Werkes Christi bei Luther ist ein Unterschied zu seinen früheren Äußerungen zu beobachten. Daß jedoch nicht die zunehmende »Massivität« und »Vergröberung« als Hilfe in der Anfechtung dient, sondern die doctrina, zeigt, wie genau Luther seinem theologischen Ansatz treu geblieben ist und wie wenig von Unstimmigkeiten innerhalb seiner Entsteht die U n t e r s c h e i d u n g v o n Gesetz

und E v a n g e l i u m auf

dem

P e t r u s h a t d u r c h s e i n f a l s c h e s B e i s p i e l , d a s er d e n G a l a t e r n g a b ,

Spiel. Gesetz

u n d E v a n g e l i u m v e r m i s c h t — f e c i t u n u m p r o d u c t u m e x lege e t E u a n g e l i o —,

so w i e der P a p s t G e i s t l i c h e s u n d

Politisches ineinandermengt

und

a u s d e m E v a n g e l i u m G e s e t z e m a c h t (209, i f f . ) . G o t t h a t j e d o c h G e s e t z u n d E v a n g e l i u m u n d die b e i d e n G e r e c h t i g k e i t e n , d i e v o n i h n e n h e r r ü h r e n , voneinander

geschieden

wie

Himmel

und

Erde

und

Tag

und

Nacht.

D a s R e i c h d e s G e w i s s e n s m u ß v o r d e m G e s e t z u n d seiner G e r e c h t i g k e i t b e w a h r t bleiben, wie u m g e k e h r t das E v a n g e l i u m nicht für den Bereich der irdischen G e r e c h t i g k e i t z u s t ä n d i g ist. Q u a n d o p e c c a t u m e t lex v e n i t i n c o n s c i e n t i a m , so s t o s s t m a n a l l e b e i d e b u b e n h i n a u s : n e s c i o d e l e g e e t p e c c a t o . Si e c o n t r a — : stal

(208, 5 f f ) . —

E u a n g e l i u m h i n a u f f , n o n es g a s t i n d e m seu

( V g l . L u t h e r s p l a s t i s c h e P r ä g n a n z der

Formulierung

m i t Rörers Ü b e r a r b e i t u n g i m D r u c k und mit der Ubersetzung v o n Menius! D r : T u n o n d e b e s v e r s a r i i n h a r a e t s o r d i b u s c o r p o r a l i s v i t a e , sed s u r s u m pertines in c o e l u m

e t c . (208, 2 3 f f . ) . M e n i u s : H ö r e s t u , dir g e b ü r t n i c h t

a u f f m S c h w e i n s k o b e r u n d i n der M i s t p f ü t z e n dieses l e i b l i c h e n l e b e n s z u w a n d e l n u n d w o n e n , . . . (208, A n m . ) . )

Luthers inhaltliche Entfaltung der doctrina

223

wicklung gesprochen werden kann. Die Betonung der doctrina ist nichts als der Ausdruck für die alles andere überragende Bedeutung des Wortes in Luthers Theologie. Das Wort verlangt Verstehen. Je mehr alles auf dem Wort steht und je weniger Raum ein theologisch ungeklärtes Sichberufen auf »objektive« und »massive« Heilstatsachen und »Realitäten« irgendwelcher Art hat, desto genauer muß das Verstehen sein. Deshalb entspricht Luthers Betonung der pura doctrina nur der lebensnotwendigen Forderung, die an eine Theologie des Wortes gestellt werden muß, die allerdings nicht schon damit erfüllt ist, daß das Wort des Evangeliums in eine lehrmäßig fixierte, in sich abgerundete Mitteilung verwandelt wird, sondern nur dann, wenn die doctrina als Klärung des Gehörten ihren Ursprung im Wort auch selbst erkennen läßt. Das aber ist bei Luther der Fall. Doctrina ist für ihn nichts anderes als das ausgelegte Wort 398 . säe w i e wichtig die Rolle ist, die das Verstehen in der Theologie Luthers spielt, zeigt der Tatbestand, daß Luther in der klärenden Entfaltung des Gehörten tatsächlich eine Art Bestätigung für die Wahrheit seiner Aussage findet. Daß Christus wahrer Gott ist, wird erkannt an seinen Werken, deren Inhalt die göttliche Herkunft verraten: habet opera quae non sunt creaturae sed creatoris: gloriam et pacem dare (82, 10f.). Erkenntnisse, die Luther auch zu Gal. 3, 19 in seiner Darlegung über die tötende Wirkung des Gesetzes ausspricht: Gott ist ein Gott der Demütigen, Verzweifelten, Nichtigen: quia natura sua: ex nihilo facere, . . . peccatores iustificare; als Schöpfer erschafft Gott alles aus dem Nichts! (488, 3ff.). Einsichten dieser Art, die Luther durch das Ergreifen des Evangeliums und damit des gnädigen Gottes gegenüber der Scholastik zu einem neuen, tieferen Erfassen der natura Gottes führen, besitzen in sich bestätigende und vergewissernde K r a f t : es ist göttlicher zu vergeben als zu verurteilen, lebendig zu machen als zu töten, zu schaffen als zu vernichten. Eine wirkliche Begründung für die Absage an den zornigen Gott haben wir jedoch in diesen Erwägungen nicht vor uns, das zeigt schon die relative Unbetontheit dieser Gedanken im Ganzen des Zusammenhanges, sondern hier stoßen wir auf Reflexionen und Erkenntnisse, die sich für Luther aus dem ergriffenen Gottesbild ergeben. Das Zustandekommen der Entscheidung für den Gott der Liebe gegen den des Gesetzes läßt sich von solchen Erwägungen her nicht einfach ableiten, doch in ihnen liegt in der Tat eine Art nachträglicher Vergewisserung (Vgl. dazu Holl, Ges. Aufsätze Bd. 1, S. 40 Anm.). Wir stoßen überall auf das gleiche Bild: die lehrmäßig formulierbare Erkenntnis wird aus der Schrift erhoben, doch nicht auf dem Wege des

224

Die Erscheinung der Anfechtung und ihre Überwindung (1519)

III. D I E A N F E C H T B A R K E I T

DES GLAUBENS

IN

LUTHERS

KOMMENTAR VON 1519 3 9 ·

i. Luthers Zusammenordnung von Gesetz und Gnade Von dem Bilde her, das wir in diesem Kapitel von Charakter und Uberwindung der Anfechtung in Luthers Vorlesung gewonnen haben, müssen wir noch einmal zurückfragen nach seinem Kommentar von 1519. Wir haben bereits festgestellt, daß die Anfechtung hier thematisch so gut wie gar nicht ins Blickfeld kommt. Trotzdem ist es keine Frage, daß die Phänomene, von denen wir zu reden hatten, auch in der Auslegung von 1519 zu beobachten sind, auch wenn sie dort in großer Strenge dem Thema der Rechtfertigung zugeordnet bleiben; wo Luther in seinem Kommentar von einer Bedrängnis des Menschen redet, spricht er von der Wirkung der lex occidens, die durch ihre Zuordnung zum spiritus oder verbum vivificans als in den Bereich der Rechtfertigung gehörig erkennbar ist. Die Frage nach Rolle und Überwindung der Anfechtung führte über die Beobachtung des Erscheinungsbildes hinaus zur Frage nach der theologischen Konzeption, die hinter diesem Phänomen steht. Um sie geht es beim Vergleich der Aussagen Luthers von 1519 und 1531 in erster Linie. Wir wollen deshalb noch zwei Beispiele aus dem Kommentar heranziehen, die uns den Ansatz für die Anfechtungserfahrung in Luthers Ausführungen von 1519 noch einmal besonders klar erkennen lassen. Wir fragen nach der Weise der Zuordnung von Gesetz und Gnade, die Luther in seiner Auslegung zu Gal. 3, 19 ff. gibt — dem Abschnitt des Briefes, der die Frage nach der Bedeutung des Gesetzes noch einmal thematisch zusammenfaßt: quid igitur lex? — , und nach dem Bild des Glaubenden, das er in seinen bekannten Äußerungen zu Gal. 2, 17 und 5, 17 entwickelt. logischen Schließens, sondern hörend. Sie verhilft dem Glaubenden zu vertiefter Einsicht, der Glaube führt zum Verstehen. Der Inhalt des Gehörten kann als Lehraussage formuliert und durchgedacht werden, doch die in ihr ausgesprochene Einsicht bleibt eine Folge des Hörens und gibt nicht ein für alle Mal eine schlüssige Begründung für die Wahrheit des Gehörten ab. 389 Alle folgenden Stellenangaben beziehen sich, soweit nicht anders angegeben, auf W 2.

Luthers Zusammenordnung von Gesetz und Gnade

225

Bei der Darstellung von Luthers Rechtfertigungslehre sahen wir bereits, daß Luther die Wirkung des Gesetzes ausschließlich auf das Gottesverhältnis bezieht. Er schaltet den Gedanken, das Gesetz sei um der Gerechtigkeit des Menschen oder um guter Sitten willen, also als Zuchtmittel zur Ordnung, gegeben, fast völlig aus. Das Gesetz überführt den Menschen seiner Sünde, sodaß er sie erkennt, er wird gedemütigt und zur Verzweiflung getrieben400, umso mehr, als er unter dem Druck des Gesetzes das Gesetz zu hassen beginnt und sich damit nur tiefer in die Sünde verstrickt, denn das Gesetz als solches ist gut, das Gesetz hassen heißt deshalb die Wahrheit, die Gerechtigkeit, die Heiligkeit hassen401. Der Druck des Gesetzes stärkt und vermehrt die Sünde402, und auch diese Steigerung der Sünde angesichts des Gesetzes wird durch das Gesetz offenbar; so gerät der Mensch nur immer tiefer in die Verzweiflung. In dieser Situation wird er von selbst zum Suchen, zum Erbitten, Erhoffen und Erwarten der Gnade getrieben. Nicht zur Gnade als Hilfe und Erfüllung und damit zur letzten Konsequenz des Gesetzes, sondern zur Gnade als dem bloßen Erbarmen Gottes403. Daß es die Aufgabe des Gesetzes ist, den Menschen zur Gnade zu treiben, kann dieser dem Gesetz nicht entnehmen, das ihn gerade unter der aussichtslosen Anklage festhält. Wer unter dem Gesetz steht, kann die Gnade nur erhoffen. Daß das Gesetz seine Funktion im Dienste der Gnade ausübt, erkennt der Mensch erst, wenn ihm die Gnade widerfährt und er das Evangelium hört, d. h. wenn ihm die verklagende Stimme des Gesetzes nicht mehr gilt. Besonders deutlich wird dies in Luthers Auslegung zu Gal. 3, 2 4 ! , wo das Verhältnis des Menschen zum Gesetz mit dem des unmündigen Knaben zum Pädagogen verglichen wird. Den Nutzen des Gesetzes erkennt der Knabe erst, wenn er zum mündigen Erben geworden ist — so erkennen auch wir erst, wenn wir zum Glauben gekommen sind, wie heilsam das Gesetz ist404. Werden Gesetz und Gnade als auf einer Linie liegend gedacht, d. h. liegt die Gnade innerhalb der Reichweite dessen, was der Mensch aus 400

402 404

15

522, 2öff.; 525, 20. 525, 33. 5 2 4 j 27.

522> 3 3

401 403

527, 34. 522, 3 4 ; 524, 25. 525, 23.

528, 26ff.; weiter vgl. u. S. 244ff. 295ff.

Bornkamm, Galaterbrief

226

Die Erscheinung der Anfechtung und ihre Uberwindung (1519)

dem Gesetz ablesen kann, so haben wir im Grunde das origenistische Schema von Verheißung und Erfüllung vor uns, im Gesetz liegt schon die heimliche Intention hin zur Gnade. Der Ablauf dieses Prozesses ist bekannt und kann im Voraus, auch unter dem zeitweiligen Druck des Gesetzes, gewußt werden, die Überführung durch das Gesetz ist ein pädagogischer, für den Wissenden bereits im Vollzuge durchschaubarer Akt. Ist aber das Gesetz nur überführend, so kann der, der unter dem Gesetz steht, schlechterdings nichts von ihr wissen, bis er sie erfährt. Das Verständnis des Gesetzes als paedagogus in Christum setzt ein anderes existentielles Verhältnis zum Gesetz voraus als das, von dem in dieser Formulierung die Rede ist. Es entspringt dem Glauben an das Evangelium und kann nur im Rückblick auf die Bedrängnis durch das Gesetz gewonnen werden. Alle rückschauende Beschreibung dieses Vorganges ist letztlich unsachgemäß, weil er so den Anschein einer überschaubaren pädagogischen Abfolge erhält. Gerade aber die Uberschaubarkeit widerspricht ihm zutiefst. Wohl ist es eine Abfolge, aber sie entspringt der Pädagogik Gottes, der in gleicher Weise ganz hinter der vollen Gesetzes- wie der vollen Gnadenverkündigung steht und selbst dafür sorgt, daß die jeweilige Predigt ernstgenommen wird und keinen über sie hinausgreifenden Überblick auf eine andere Verkündigung zuläßt. Auch die Gnade erhält durch dies Gesetzesverständnis erst ihre volle Selbständigkeit und Freiheit. In diesem völligen Ernstnehmen des Gesetzes und der Gnade, die einander nicht ergänzen, sondern ausschließen, hegt die Unzulänglichkeit jeder systematischen Aussage über das Verhältnis von lex und gratia in der Sicht Luthers. Luther trägt dem an anderer Stelle durch die Zusammenordnung der widersprüchlichen Aussagen »non est intentio legis ut in gratia servetur« und »lex cogit gratiam quaerere« Rechnung405. Die Zusammenstellung dieser Gedanken spart in der Verhältnisbestimmung von Gesetz und Gnade den vermittelnden Schritt aus, der nur im Hören des Gesetzes wie des Evangeliums getan werden kann und in dem allein beide Aussagen in ihrer Be405

Zu Gal. 3, 13; 5x6, 9ff., dazu s. u. S. 2 7 3 f f .

Luthers Beschreibung des Glaubenden

227

ziehung zueinander erfaßt werden. Das hier ausgesprochene theologische Wissen kann nicht ohne weiteres als Wissen behauptet werden, es ist ein Niederschlag des Hörens und trägt den Stempel dieser Herkunft an sich. Erlangt und festgehalten werden kann es nur, indem der Bück von ihm weggewandt wird auf das Wort der Gnade. Mit dieser Koppelung des Wissens um die theologische, durch das Ziel der Vergebung begrenzte Funktion des Gesetzes mit dem Hören des Evangeliums steht das Wissen um die Bedeutung des Gesetzes jeder anfechtenden gesetzlichen Einrede offen. Es zeichnet sich hier die gleiche Einordnung der Lehrformulierung in das Wort ab, die wir in den sehr viel breiteren und detaillierteren Ausführungen Luthers von 1531 beobachten konnten.

2. Luthers Beschreibung des Glaubenden a) Die begriffliche Analyse Das gleiche Bild der grundsätzlichen Anfechtbarkeit des Glaubens ergibt sich uns beim Blick auf Luthers Beschreibung des glaubenden Menschen. Wir waren bereits — in anderem Zusammenhang — auf die Doppelheit seiner Aussage, auf das simul iustus simul peccator und partim iustus et peccator, gestoßen 406 und wollen uns jetzt, unter der Fragestellung der Anfechtbarkeit, noch einmal einem ähnlichen Textabschnitt zuwenden 407 . »Caro enim concupiscit adversus spiritum, spiritus autem adversus carnem«. Luther erläutert zunächst kurz die Begriffe caro und spiritus als Bestimmungen, die jeweils dem ganzen Menschen gelten, lehnt von hier aus die traditionelle Dreiteilung des Menschen in caro, anima und spiritus ab und 408

Zu Gal. 2, 18 (S. 497); s. o. S. 78.

407

Eine Auseinandersetzung mit der Literatur zu dieser Stelle, die

Luthers »klassische Zusammenfassung seiner christlichen Anthropologie« darstellt —

»oder soll man sagen, daß sie dank der Lutherforschung

.klassisch' geworden ist ?« (Gyllenkrok, Rechtfertigung und Heiligung, S. 95) ·— kann in diesem Rahmen nicht geleistet werden. Ich selbst habe für mein Verständnis des Textes am meisten gelernt von Gyllenkrok (a. a. O., S. 86ff., 95ff.); dort auch Hinweise auf die weitere einschlägige Literatur. 15»

228

Die Erscheinung der Anfechtung und ihre Uberwindung (1519)

entwickelt anschließend seine eigene Sicht des Glaubenden408. Wie verwundetes oder angekränkeltes Fleisch zugleich gesund und krank genannt wird — gesund, da die Heilung begonnen hat, krank, da die noch vorhandene Wunde oder Krankheit die Heilung noch nicht abgeschlossen sein läßt — , so ist der gleiche Mensch Geist und Fleisch: quatenus sapit, quae dei sunt, spiritus est, quatenus carnis movetur illecebris, caro est. Fleisch und Geist bezeichnen zwei Willensrichtungen, denen der Mensch gleichzeitig untersteht. Völlig Fleisch wäre er, wenn er nur der Willensrichtung des Fleisches zustimmte, völlig Geist wird er sein, wenn einmal jeder fleischliche Wille in ihm verschwunden ist — quod fiet quando corpus erit spirituale. Caro und spiritus esse sind nicht Teil-, sondern Ganzheitsbestimmungen, beide jeweils dem gleichen ganzen Menschen geltend, totus caro und totus spiritus esse sind die beiden Möglichkeiten, die doppelte Ganzheitsbestimmung zu einer einzigen zusammenfallen zu lassen. Der Gegensatz von quatenus sapit, quae dei sunt, spiritus est und dem erst der Zukunft zugehörigen totus spiritus esse ist kein Gegensatz zwischen einer Ganzheits- und einer Teilaussage, die durch eine zweite Teilaussage begrenzt wird, sondern die gegenseitige Begrenzung des caro bzw. spiritus esse, die in dem quatenus ihren Ausdruck findet, besteht allein darin, daß gleichzeitig eine zweite Ganzheitsaussage über den ganzen Menschen gemacht werden muß. So fährt Luther kurz darauf fort: Totus homo est qui castitatem amat, idem totus homo qui illecebris libidinis titillatur. Sunt duo toti homines et unus totus homo: ita fit, ut homo sibiipsi contrariusque sit, vult et non vult. »Unus totus homo« bringt zum Ausdruck, daß es derselbe Mensch ist, der (als ganzer) vom Geist und (als ganzer) vom Fleisch bestimmt wird — es handelt sich m. E. nicht um einen neutralen Ichbegriff 409 — , »duo toti homines« weist darauf hin, daß der Mensch beides ganz ist, die Entzweiung des Menschen mit sich selbst wird als ethischer, psychologisch erfahrbarer Tatbestand beschrieben. Der Ubergang zur theologischen Aussage vollzieht sich im nächsten Satz: atque haec est gloria 4»8 585 f. 408

So Schott, Fleisch und Geist nach Luthers Lehre, S. 50 ff.

Luthers Beschreibung des Glaubenden

229

gratiae dei, quod nos fecit nobisipsis hostes, der ethische Gegensatz wird zum religiösen410. In der psychologisch erfahrbaren Entzweiung des Menschen mit sich selbst spielt sich der Kampf zwischen Gnade und Sünde ab (sic enim [gratia] superat peccatum . . .), d. h. anthropologisch zwischen dem aus Gnade gerechten neuen und dem der Sünde gehörenden alten Menschen. Hinter der doppelten Willensbestimmtheit des Menschen wird das doppelte theologische Urteil sichtbar, unter dem er steht, nun wieder jeweils als ganzer. Die doppelte Totalität, von der hier die Rede ist — nos fecit nobisipsis hostes —, übersteigt die psychologische Erfahrbarkeit, denn sie entspringt der Tat Gottes. Die Gnade Gottes entzweit den Menschen so mit sich selbst, daß neben den alten ein neuer Mensch der Gnade gesetzt wird, ein zweiter totus homo. Die Beschreibung des Menschen als duo toti homines enthält also ein Doppeltes: die Beschreibung der Entzweiung des Menschen mit sich selbst, die als doppelte Willensrichtung erfahren wird, wobei der Wille als »die zentrale Eigenschaft des Menschen, ja als totus homo«411 betrachtet wird, und die theologische Aussage, daß diese Entzweiung als Wirkung der göttlichen Gnade verstanden werden muß, die neben den alten einen neuen Menschen gesetzt hat. Die Beschreibung des Menschen als unus totus homo dagegen wahrt einmal die psychologische Einheit des Menschen, der sich in derDoppelheit seines Willens doch als einer weiß, zum andern ist darin die Glaubensaussage enthalten, daß es der gleiche Mensch ist, der alt war und den die Gnade Gottes zu einem neuen gemacht hat.

b) Die verwendeten

Bilder

Luther erläutert seine Beschreibung des glaubenden Menschen durch Bilder. Der Christ gleicht dem kranken Fleisch, das zu gesunden beginnt, der Morgendämmerung, die sich dem Tage zuneigt, und dem Verwundeten, der dank der Fürsorge des Samariters anfängt, geheilt zu werden. Luther spricht vom 4X0 vgl. Gyllenkrok, Rechtfertigung und Heiligung, S. 98. 411 Vgl. Gyllenkrok, ib.

230

Die Erscheinung der Anfechtung und ihre Überwindung (1519)

Wasser, das man dem Abendmahlswein beimengt, das zunächst von ihm unterschieden ist und dann gänzlich von ihm aufgesogen wird, und dem Sauerteig, der unter den Teig gemischt wird und schließlich alles durchsäuert. Es sind Bilder, die natürlich psychologisch verstanden werden können und im Zusammenhang zunächst auch so verstanden werden sollen, die aber schon durch die ihnen innewohnende Zielstrebigkeit auf den theologischen Hintergrund hindeuten — die Krankheit nähert sich immer mehr der Gesundheit, die Morgendämmerung wird immer mehr zum Tage, sodaß sie sowohl Tag als auch Nacht genannt werden könnte, magis autem dies! —, die sich aber durch die jeweilige Interpretation dann deutlich als theologische Aussage über den Menschen erweisen. Im Bild vom Sauerteig greift Luther auf das bereits zu Gal. 5, 9 angeführte und allegorisch auf Christus gedeutete412 Gleichnis vom Sauerteig zurück (Matth. 13), die tropologische Deutung an unserer Stelle auf den neuen Menschen läßt den Blick frei auf die allegorische Deutung auf Christus, die Luther dort gegeben hatte. Die Entzweiung des Menschen mit sich selbst kann auch als Folge seiner Vereinigung mit Christus verstanden werden, der Glaubende wird zum Verständnis der Situation, in der er sich vorfindet, über sich hinaus auf seine Stellung gegenüber Christus verwiesen. Ebenso verwendet Luther das Bild der Morgenröte in allegorischer Deutung, er gebraucht es gern zur Veranschaulichung für den Anbruch des Evangeliums in der Geschichte — d. h. in seiner Zeit —: das Licht der evangelischen Wahrheit geht wieder auf — wie bisher nur zur Zeit der Apostel —, nach der Finsternis der papistischen Irrlehre413. Im Galaterkommentar taucht das Bild noch einmal auf in der offenbar Hieronymus entnommenen etymologischen Deutung des Namens Arabia als occasus vel vesper, qui vergit in noctem (von der von Luther auf Gesetz und Synagoge hininterpretiert wird, die beide im Untergang begriffen sind, während die Kirche und das Evangelium an vielen Stellen 418 Fermentum novum Christus est, verbum Christi, opus Christi ac omnis Christian!, id est doctor, doctrina, exemplum. (570, if.). 418 Eine Fülle von Belegen bei Preuß, Martin Luther, Der Prophet, S. 23of.

Luthers Beschreibung des Glaubenden

231

— (wo ?) — matutinum genannt wird und die Gnade am Zenit der Ewigkeit steht und regiert414. Auch diese Deutungen sind gegeneinander offen, der Sieg des Morgens, der im Glaubenden anbricht, ist nicht einseitig in der Beschreibung seiner Person zu fassen, sondern ist zugleich der Sieg des Evangeliums und damit der Kirche. Und dem Verwundeten, der vom Samariter aufgehoben und der Genesung entgegengeführt wird, gleichen auch wir, weil auch wir gesund werden — in der Kirche415. D. h: das tiefere Verständnis des Widerstreites, in den der Glaubende gestellt ist und den Luther mit diesen Bildern beschreibt, erschließt sich dem Menschen bei genauerem Zusehen nicht einfach im Blick auf sich selbst, sondern erst dort, wo Christus, das Wort des Evangeliums, die Kirche, in der er Christus und das Wort hört, mit einbezogen werden; d. h. dort, wo der Mensch sich nicht isoliert, sondern sich als Gegenüber und als Antwortenden versteht, der er selbst nur ist im Verhältnis zu Christus bzw. als Glied der Gemeinde Christi, d. h. als Hörer des Evangeliums. Damit ist sein Glaube nicht auf die Wahrnehmungen gestellt, die er an sich selbst macht, und es wird ihm die Unterscheidung zwischen ethischen und theologischen Aussagen über sich selbst ermöglicht. Sein Selbstverständnis als Gerechter ist dadurch gekennzeichnet, daß für ihn die ethischen Kategorien ihren Platz innerhalb der Kategorien des Glaubens haben, deren Wahrheit und Gewißheit nicht in ihrer Verbindung mit der Sittlichkeit, sondern mit Christus und dem Wort beschlossen liegen. Was dieser Tatbestand für die Frage der Anfechtbarkeit des Glaubens bedeutet, liegt auf der Hand, wenn wir Luthers Verständnis des Evangeliums als gegenwärtige Anrede Gottes und des Werkes Christi als Handeln im Wort heranziehen. Wie die gegenseitige Zuordnung von Gesetz und Evangelium nur im Vollzug der glaubenden Annahme des Evangeliums erfaßt werden kann, so kann der Mensch sich selbst als Gerechten, als Zugehörigen zu Christus und als Glied der Kirche verstehen nur im vernehmenden Glauben. Da der Glaube immer wieder allein dem Gegenüber des Wortes zugeordnet wird, ist er jeder Anfechtung preisgegeben. 414 416

555. äff. . . . ista et nos in ecclesia sanamur (586, 14).

232

Die Erscheinung der Anfechtung und ihre Überwindung

Wir fragten in diesem Kapitel nach Rolle und Uberwindung der Anfechtung in Luthers beiden Auslegungen des Galaterbriefes. Die Antwort sollte uns einen Beitrag liefern für die Verhältnisbestimmung beider Auslegungen zueinander. Daß die Anfechtung im Kommentar von 1 5 1 9 thematisch keine Rolle spielt, fällt angesichts anderer Äußerungen derselben Zeit — vgl. nur die Operationes in Psalmos! — nicht entscheidend ins Gewicht, wenn die Grundstruktur der theologischen Konzeption, in der die Anfechtbarkeit des Glaubens begründet liegt, die gleiche ist. Das aber hat sich aus den herangezogenen Texten ergeben. Wir blicken noch einmal zurück. Luthers Konzeption der Rechtfertigung als geistliches Verstehen, sein Verständnis des Werkes Christi als Handeln im Wort, die Art seiner Zusammenordnung von Gesetz und Gnade und seine theologische Analyse des Glaubenden, die wir in seinem Kommentar von 1 5 1 9 fanden, lassen die Strenge erkennen, in der er das Wort als einzigen Inhalt der Offenbarung festhält und so zum einzigen Inhalt seiner theologischen Aussage macht. Deshalb ist die Anfechtbarkeit für seinen Glaubensbegriff konstitutiv. Das gleiche Bild ergab sich uns bei der Betrachtung der vielfältigeren, direkt dem Thema der Anfechtung geltenden Ausführungen Luthers in seiner Vorlesung von 1 5 3 1 : in seiner Differenzierung des Glaubensbegriffes, seiner Unterscheidung zwischen echtem und unechtem Hören auf den Inhalt der Schrift kommt die gleiche theologische Einsicht zum Ausdruck wie in seiner hermeneutischen Unterscheidung von literalem und spiritualem Schriftverständnis: sein Verständnis der Offenbarung als Wort, das nicht gewußt werden kann, sondern gehört werden muß; scheinbar »massive« Vergewisserungen fallen nicht aus dem Rahmen der worthaften Mitteilung heraus; und wo wir auf die Lehrformulierung stießen als Hilfe ,den Weg zum rechten Hören zu zeigen, zeigte es sich, daß sie selbst den Ursprung im Hören erkennen läßt und im Grunde selbst nichts ist als eine andere Gestalt des Wortes. Mit dem Verständnis der Offenbarung, das hier zum Ausdruck kommt, ist in Luthers Theologie von 1 5 3 1 das Element der Anfechtbarkeit in der gleichen Weise gegeben wie 1 5 1 9 . Wird dies Offenbarungsverständnis nicht durchgehalten, so wird — 1 5 1 9 — das spirituale Verständnis

Zusammenfassung

233

der Schrift in ein literates bzw. — 1531 — der lebendige, aneignende Glaube in die fides historica und das lebendige Wort in ein Lehrgebäude verwandelt, das im Falle der Anfechtung das gegenwärtige »pro me« nicht greifen kann. Inhaltlich bedeutet das Durchhalten des Offenbarungsverständnisses als Wort das Festhalten an der lebendigen, polaren Spannung von Gesetz und Evangelium, die den Menschen beide ausschließlich beanspruchen. Dieser doppelte Totalitätsanspruch ermöglicht die immer neue Begegnung des Menschen mit der Offenbarung als gegenwärtig ergehender Anrede. Wird diese Spannung aufgehoben, so wird der Mensch aus dem Hörer des Wortes zum Empfänger einer zeitlos gültigen Mitteilung. Das aber bedeutet eine inhaltliche Verschiebung: das Evangelium wird zugunsten des Gesetzes preisgegeben, denn das Evangelium als Verkündigung der gegenwärtigen Vergebung Gottes kann gegenüber der sich immer neu aktualisierenden Schuldverfallenheit des Menschen nicht als zeitlose Wahrheit gewußt werden. Ob das worthafte Verständnis der Offenbarung durchgehalten wird, entscheidet sich an der Entschlossenheit und Einseitigkeit, in der der jeweiligen Predigt des Gesetzes oder Evangeliums Gehör verschafft wird; diese doppelte Einseitigkeit ist aber nur dort möglich, wo alles theologische Bemühen darum kreist, die Reinheit des Evangeliums dem Gesetz gegenüber geltend zu machen. Die betonte Einseitigkeit, in der Luther den gnädigen Gott predigt, hat hier ihren Platz. Wir fragten in unserem Kapitel auch nach Luthers Verhältnis zur Schrift. Hier muß dem bisher Gesagten noch ein Letztes hinzugefügt werden. Auch die Aussagen der Schrift stehen als Gesetz und Evangelium systematisch unvermittelt nebeneinander. Eben darin sind sie für den Hörenden Träger des lebendigen Wortes. Luthers Theologie, die den Hörenden jeweils vor ebenso einseitige Einsichten stellt, ist damit in einer Tiefe schriftgemäß, die über den Nachweis einzelner exegetischer Richtigkeiten oder Unrichtigkeiten wie auch über die Frage einer bis ins Letzte durchgedachten Theorie über das Verhältnis von Theologie und Schrift hinausführt. Seine Theologie ist, wie die Schrift, Bezeugung des Wortes, das er, nun allerdings anders als Paulus und die Evangelisten, nicht aus der vorneutesta-

234

Die Erscheinung der Anfechtung und ihre Überwindung

mentlichen Uberlieferung, sondern aus der Bibel als der ihn verpflichtenden, ihm das Wort bezeugenden Tradition erhebt. Es zeigte sich an Luthers Ausführungen, daß die Anfechtbarkeit wie die Gewißheit des Glaubens nur in diesem Wort beschlossen liegt, das allein Gegenstand der Theologie wie des Glaubens ist. Das gilt für 1 5 1 g wie 1 5 3 1 in gleicher Ausschließlichkeit.

IV INHALT UND E R F Ü L L U N G DES G E S E T Z E S A. Die D a r s t e l l u n g v o n 1 5 1 9 1 I. D E R A N S A T Z D E R H E I L I G U N G IM HÖREN

i. Verstehen und ethischer Fortschritt Mit der Frage der Rechtfertigung ist die Frage nach Inhalt und Erfüllung des Gesetzes gegeben. Bei unserer Betrachtung der Rechtfertigungslehre hatten wir bereits darauf hingewiesen, auf welche Weise der Ansatz zum gerechten Handeln in der Rechtfertigung selbst beschlossen liegt. Wir hatten gesehen, wie für Luther die dem Menschen in der Rechtfertigung übereignete Gerechtigkeit der Ursprung seines eigenen beginnenden Gerechtwerdens ist, wie unio- und imputatio-Gedanke für ihn ineinanderliegen und wie damit das unlösliche Ineinander von Ganzheits- und Teilaussage im Blick auf die Gerechtigkeit des Menschen gegeben ist. Von hier aus müssen wir uns der Frage nach Inhalt und Erfüllung des Gesetzes im einzelnen zuwenden. Luther kann das Geschehen, das dem Menschen in der Rechtfertigung widerfährt, nicht nur als Handeln Christi, sondern ebenso auch als Wirkung des Geistes beschreiben. Wir sahen bereits, daß sein Einsatz bei der Ganzheitsaussage deutlich auf den Ursprung seiner Konzeption im hermeneutischen Fragenkreis hinweist, er entspricht der augustinischen Bestimmung des Verhältnisses von litera und spiritus: die lex spiritus enthält, was die lex literae fordert, wer sie hört, erhält den Geist und die Gnade, die die Erfüllung der Forderung des Gesetzes sind2. 1 Alle folgenden Seitenzahlen beziehen sich, soweit nicht anders angegeben, auf W 2. 2 499f.; s. o. S. 84ff. Zur Entfaltung der Frage der Heiligung vom hermeneutischen Fragenkreis her vgl. Ebeling, Die Anfänge von Luthers

236

Inhalt und Erfüllung des Gesetzes (1519)

Dies Verstehen ist keine allmähliche Entwicklung, sondern ein ganzheitlicher Vorgang, in ihm gelangt der Hörende vom verbum zur res3, vom signum zum signatum4 oder zur substantia, von der figura zur veritas, von Mose zu Christus und damit vom Gesetz zur Erfüllung des Gesetzes, vom Fleisch zum Geist, von der Sünde zur Gnade5. Damit ist der Hörende nicht mehr auf dem Wege, sondern am Ziel, durch den Geist, der ihm im Hören zuteil wurde. Im Vorgang des Hörens aber liegt es zugleich begründet, daß dieser Schritt vom verbum zur res kein einmaliger Akt ist, sondern sich bei jedem Hören neu vollzieht, weil das Hören selbst Jmmer neu geschehen muß. Denn was heute, im Akt des Vernehmens, spiritus ist, ist morgen als Vernommenes und Fixiertes schon wieder litera. Paulus wirft den Irrlehrern vor, daß sie das Evangelium zu verkehren suchen — für Luther heißt das, daß sie der Gemeinde das, was vor ihnen liegt, hinter den Rücken bringen wollen, und ihnen das, was sie bereits hinter sich haben, wieder vor die Augen stellen; d. h. sie wollen stehen bleiben bei dem, was erreicht ist, sehen auf das, was sie besitzen, und nicht auf das, was sie noch nicht haben. Dadurch wird das Evangelium zur litera, und die litera tritt an die Stelle des Evangeliums. Der litera eignet ein statisches Moment, es vollzieht sich keine neue Geschichte, es kann daher von keinem Fortschreiten geredet werden, sondern nur von einem revocari dessen, was die Gemeinde bereits weiß und hat. Hermeneutik, ZThK 1951, S. 207 f.; an ihn anschließend Gyllenkrok, Rechtfertigung und Heiligung, S. 99 ff. — Bring beschreibt den gleichen Ansatz Luthers nicht von der hermeneutischen, sondern von der systematischen Seite her: »Luthers Rechtfertigungslehre und im Zusammenhang damit seine Anschauung vom Inhalt des Glaubens und des christlichen Lebens kann am besten im Zusammenhang mit seiner Christologie verstanden werden« (Das Verhältnis von Glauben und Werken in der lutherischen Theologie, S. 42; vgl. sein — auf Vogelsang zurückgreifendes — Verständnis der christologischen Aussagen Luthers als Ergebnis tropologischer Auslegung (a. a. O., S. 43ff.)). Auf das gleiche kommt es Prenter an, der Rechtfertigung und Heiligung mit dem Begriff der fides Christi zusammenschließt; ähnlich wie er sieht auch Watson den Zusammenhang (vgl. die beiden Aufsätze »Luthers Lehre von der Heiligung« (Pr.) und »Luther und die Heiligung« (W.) in: Lutherforschung heute, Berlin 1958, S. 64ff., 75ff.). 3

500, 7 . 5 7 6 , 2. I i .

4

500, 7.

s

576, i o f f .

Verstehen und ethischer Fortschritt

237

Das literale Verhältnis des Menschen zum Wort ist ein Stagnieren. Dagegen gehört zum Evangelium als der doctrina spiritus et gratiae die Bewegung nach vorn zum ständig neuen Hören und Empfang des Geistes, der nur beim Vernehmen des Wortes mitgeteilt wird. Das geistliche Verhältnis des Menschen zum Wort ist daher ein in spiritum libertatis magis ac magis proficere: Euangelium, quod est spiritus et gratiae doctrina, conantur illi retrorsum in literam iam diu post tergum relictam revocatum iri, cum per euangelium id effectum sit, ut in spiritum libertatis magis ac magis proficeretur®. Der Begriff des proficere ist aber nicht nur eine Beschreibung des sachgemäßen Verhältnisses des Menschen zu dem jeweils neu an ihn ergehenden Wort, sondern er ist immer zugleich inhaltlich gefüllt. Die naheliegendste Begründung für die sprachliche Fassung dieses Gedankens bei Luther scheint mir im Begriff des Geistes zu liegen, in dem zwei Bedeutungsbereiche ineinandergreifen: er ist sowohl die Beschreibung des sachgemäßen Verhältnisses des Menschen zum Wort wie der durch das Wort mitgeteilte Inhalt selbst. Von daher darf auch das in spiritum proficere nicht als Beschreibung des rechten Hörens verstanden werden, ohne daß der Inhalt des Geistbegriffes mit zur Geltung kommt. Luthers Bezeichnung des Geistes als Geist der Freiheit — . . . ut in spiritum libertatis magis ac magis proficeretur — hat daher doppelten Klang: sie kennzeichnet das Wesen des Geistes, das in der immer neu zu empfangenden Freiheit vom Buchstaben besteht, enthält aber zugleich die Möglichkeit, den Begriff des Geistes nach seiner ethischen Seite hin zu entfalten. Im Zusammenhang dieser Stelle, an der es dem auszulegenden Text nach allein um die Abkehr vom Evangelium zum Gesetz geht (Gal. i , 6), fehlt bei Luther eine solche Entfaltung, doch in späteren Zusammenhängen, in denen der Begriff der Freiheit auch im Blick auf seine ethische Seite mehr im Mittelpunkt steht, wird der Schritt des Glaubens nicht nur als Schritt vom verbum zur res beschrieben, sondern zugleich als Schritt von der Freiheit von der Gerechtigkeit zur Freiheit von der Sünde und vom Dienst der 6

461, 11 ff.

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Inhalt und Erfüllung des Gesetzes (1519)

Sünde in den Dienst der Gerechtigkeit7. Damit kommt ein ethisches Moment in den Übergang von Ganzheitsaussage zu Ganzheitsaussage hinein, das nun innerhalb dieses sich in jedem Hören neu vollziehenden Schrittes vom Buchstaben zum Geist, vom Wort zur Sache, von der Sünde zur Gnade zugleich die Teilaussage fordert. Das heißt, der progressus, von dem Luther spricht, darf nicht nur vom hermeneutischen Aspekt her als Zeitbegriff verstanden werden, sondern für den ständig neu das Evangelium hörenden Menschen vollzieht sich unter dem wiederholten ganzheitlichen Übergang zugleich ein Wachsen und Fortschreiten in der tatsächlichen Gerechtigkeit8. In einer kurzen prinzipiellen Erörterung, in der Luther im Anschluß an die in sich abgeschlossenen Aussagen Gal. 4, 4 L »deus misit filium«, »estis filii«, »misit spiritum«, »non est servus sed filius et haeres« etc. den Sinn solcher u. ä. Wendungen noch einmal zusammenfassend erläutert, gehen diese beiden Aspekte in aller Leichtigkeit ineinander über9. Das, was hier als einmaliges Geschehen geschildert ist, vollzieht sich im Glaubenden immer wieder völlig neu, wir sind erlöst und werden ständig erlöst, wir haben die Sohnschaft empfangen und empfangen sie, wir sind zu Söhnen Gottes gemacht, sind sie und werden sie, der Geist wurde geschickt, wird geschickt und wird geschickt werden, wir erkennen und werden erkennen — eine Fülle sich ständig wiederholender Schritte in die Ganzheit eines neuen Lebens. Und doch wird der hier angedeutete Weg als Weg durch die Wüste in das Land der Verheißung verstanden, als via crucis et passionis — damit ist nicht nur ein zeitliches, sondern zugleich ein inhalt7

. . . recte superius dictum est, Servituten! spiritus et libertatem peccati seu legis eandem esse, sicut servitutem peccati et legis esse eandem cum libertate iusticiae seu a iusticia et spiritu. (576, 7ff. zu Gal. 5, 14; vgl. die »figura« 560, i f f . zu Gal. 5, 1). 8 Damit ist selbstverständlich keine stetige ethische Höherentwicklung auf ein Vollkommenheitsideal hin gemeint. Mit hineingedacht werden muß die »Diskontinuität« des Glaubens und Liebens — auch wenn Luther sie in diesem Zusammenhang im Galaterkommentar kaum betont (s. u. S. 244) — wie die Verborgenheit des Ziels im planenden Handeln Gottes (dazu s. u. S. 272ff.) und nicht zuletzt der eigentliche Inhalt der Gesetzesforderung (vgl. die folgenden Abschnitte). 8 535, 2 6 f f .

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liches Ziel angegeben10. Deutlich zumal im Blick auf den folgenden Abschnitt, in dem Luther von der Bewegung des transitus als der eines profectus de vitiis ad virtutem spricht und sich in diesem Zusammenhang absetzt von der scholastischen Lehrmeinung, daß der erste Grad der Charitas ausreiche, das Heil, zu erlangen: die Liebe ruht nicht müßig im Herzen wie der Wein im Glase, sondern sie kreuzigt das Fleisch und kann mit dem erreichten Grad nicht zufrieden sein, sondern will den ganzen Menschen durchdringen und reinigen. Die via crucis et passionis ist also nicht nur ein Weg immer neuer Leiden und Beschwerden, sondern zugleich ein Weg der Reinigung und des Kampfes gegen das eigene Fleisch. Das Ineinander beider Gedanken, des hermeneutischen und des ethischen, kommt begrifflich zum Ausdruck in den beiden Bestimmungen, die Luther an unserer Stelle dem profectus außer der Kennzeichnung de vitiis ad virtutem gibt: de claritate in claritatem, de virtute in virtutem, ein Zitat zweier Bibelstellen (Ps. 83, 8; 2. Kor. 3, 18), die Luther häufig für den Gedanken des Fortschreitens anzuführen pflegt 11 . Wichtig für ihr Verständnis und damit auch für unsere Stelle ist ihre Verwendung in der Scholie zu Rm. 1, 17, wo sie als erläuternde Analogie zu der Wendung ex fide in fidem angeführt werden12. Die Ablehnung Luthers, 10

Für diesen Zusammenhang ist Gyllenkroks Erläuterung des »incipere a novo« als »neu anfangen von dem jeweiligen terminus a quo« hilfreich: »Dieser terminus a quo verschiebt sich ständig nach vorne, indem der Christ je und je einen neuen terminus ad quem erreicht, der im selben Augenblick, wo er ihn erreicht, zum terminus a quo wird . . . Die nun übliche Interpretation von incipere geht fälschlich davon aus, daß der Christ immer wieder von demselben Punkt aus anzufangen hätte« (Gyllenkrok, Rechtfertigung und Heiligung, S. i n f . ) . Allerdings wird in diesem Zusammenhang nicht deutlich, daß es sich dabei nicht notwendig um eine kontinuierliche Aufwärtsbewegung handeln muß. Der terminus ad quem kann auch wesentlich »tiefer« liegen als der terminus a quo, insofern das ad quem durch das erneute Hören des Wortes gesetzt wird. Hier scheint mir auch Haikola mit seinem kritischen Einwand gegen Joest Recht zu haben (Haikola, Usus legis, S. 140 Anm. 98). 11

Vgl. R. Hermann, Luthers These »Gerecht und Sünder zugleich«, S. 265ff.; dort auch Nachweise. 12 W 56, 173, ioff.; hier wird der Zusammenhang zwischen Prenters Ansatz der Heiligung in der fides Christi und dem hier entwickelten

240

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hier mit Lyra zwei Arten des Glaubens, eine fides informis und eine fides formata, zu unterscheiden, zeigt, daß für ihn der Fortschritt, von dem hier die Rede ist, kein Fortschritt ist, der über den Umfang des ursprünglich Gegebenen hinausführt. Möglich ist allein ein ständiges Sich-Vertiefen des Glaubens, besser: ein Bewähren und damit ein Reifen. So unterscheidet Luther hier seinerseits zwischen der fides incipientium und der fides perfectorum und spricht von einem magis ac magis credere, das aber über den Bereich des credere nicht hinausführt, der bereits zu Anfang angenommen wurde. So ist auch das de claritate in claritatem und das de virtute in virtutem an unserer Stelle nur als Fortschreiten und Bewähren innerhalb des bereits vorgegebenen Bereiches zu verstehen. Innerhalb dieses als Ganzes vorgegebenen Bereiches aber kann durchaus, ja muß nach Luther von einem ethischen Fortschritt geredet werden, der aber nur ein »Ausmessen des Raumes« ist, der den Glaubenden bereits umgibt13. Von hier aus muß auch die spezifisch luthersche Exegese zu Gal. 5, 5 verstanden werden. »Nos enim spiritu ex fide spem iusticiae expectamus«14: Luther unterscheidet ein fleischliches und ein geistliches Erwarten, der Unterschied liegt im Verständnis des Erwarteten, der spes iustitiae. Die fleischliche Erwartung richtet sich auf die Hoffnung der eigenen Gerechtigkeit, sie lebt aus den Werken und ist getrieben von der Furcht vor Strafe und dem Verlangen nach Lohn. Dabei ist es gleichgültig, ob man das spem iustitiae suae expectare als ein Erwarten des Lohnes um der bereits vorhandenen Gerechtigkeit willen versteht oder als ein Erwarten der vollen eigenen Gerechtigkeit, die aber nicht ihrer selbst, sondern des ihr verAnsatz im Hören besonders greifbar. (Prenter, Luthers Lehre von der Heiligung, in: Lutherforschung heute, S. 71). 13 Vgl. Joest: »Die Teilschritte, mit denen wir den Weg des Progressus gehen, streben nicht nach einem fernen Raum der Vollendung hin, sondern sie messen den Raum nur aus, der uns schon umfängt« (Gesetz und Freiheit, S. 99). Dabei muß jedoch die Möglichkeit, daß, wie Haikola formuliert, »ein neues Gericht Gottes plötzlich alle reale Heiligung ruinieren (kann), die der Christ durch die Übung des Glaubens bisher erreicht hatte« (Usus legis, S. 140 Anm. 98), immer mit hinzugedacht 14 werden. 564 f.

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heißenen Lohnes wegen begehrt wird. Spes iustitiae muß dann in jedem Falle verstanden werden als eine an den Besitz der Gerechtigkeit geknüpfte und damit über sie selbst hinausweisende Hoffnung, die inhaltlich den Lohn für diese Gerechtigkeit enthält. Für das geistliche Erwarten jedoch, von dem Paulus hier spricht, ist die Hoffnung nicht auf diese Weise von der Gerechtigkeit zu trennen. Iustitia ist nähere Bestimmung zu spes, sie bezeichnet das, an dem die Hoffnung teilhat, indem sie sich darauf richtet. Ein Sprachgebrauch, den Luther dem allgemein üblichen Sprachgebrauch der spes als res sperata, die in keiner notwendigen inhaltlichen Beziehung zum erläuternden Genetiv iustitiae steht, als tropus scripturae entgegensetzt16. Spem iustitiae expectare heißt also: in Erwartung der künftigen Gerechtigkeit leben; wie iustitia die inhaltliche Bestimmung zu spes ist, so ist spes die Zeitbestimmung zu iustitia. Erwartet wird kein Lohn, sondern die Gerechtigkeit um ihrer selbst willen, die Glaubenden sind nicht von der Aussicht auf Lohn, sondern von der Liebe zur Gerechtigkeit getrieben. Sie erwarten die Gerechtigkeit ex fide, für den Glauben aber gilt dasselbe wie für die Hoffnung: auch er hat Anteil an der Gerechtigkeit, auf die er sich richtet. Ex fide spem iustitiae expectare meint demnach ein Erhoffen der künftigen Gerechtigkeit auf Grund des Anteils an der Gerechtigkeit, den der Glaubende hat. Dabei wird Anteil als adhaesio verstanden, darf also nicht einfach als Teilaussage interpretiert werden; sondern die Gerechtigkeit wird erwartet, weil der Glaubende sie schon hat, d. h. die Gerechtigkeit bestimmt das Leben des Christen als zu ergreifender Inhalt, der ihm durch den Glauben schon gehört; sie ist damit nicht Forderung, der nachgekommen, sondern Eigentum, das in Besitz genommen werden muß. Und weil der, der sie hat, weiß, daß in ihr alles gegeben ist, kann er über sie hinaus nichts anderes mehr erhoffen. Damit sind auch hier das Ineinander von Ganzheits- und Teilaussage wie das rechte Verhältnis beider Aussagen zueinander auf das Genaueste gewahrt. 16

E g o scio, quod Tropus scripturae ferme h a b e t , u t illud fidei e t

spei tribuat, quod fide et spe attingitur. Sic enim dii vocantur, v o c a n t u r veraces, iusti, sancti, quae solius dei sunt, cuius participatione et adhaesione tales sunt, ita spes, quia futuris inhaeret, eorum adhaesione speratio seu res sperata vocatur . . . (565, I 3 f f . ) . 16

Bornkamm. Galaterbricf

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Inhalt und Erfüllung des Gesetzes (1519)

Die angeführten Beispiele zeigen, daß bei Luthers Verständnis der Wirksamkeit des Geistes am Glaubenden überall die doppelte Funktion des Geistes eine Rolle spielt. Wie das hermeneu tische Verständnis des Geistes so in das systematische einbrach, daß in der systematischen Beschreibung der lex spiritus der A k t des Hörens mit einbezogen werden mußte 18 , so durchdringen umgekehrt die systematischen Inhalte des Geistbegriffs, die seine ethische Qualität zum Inhalt haben, den hermeneutischen Aussagebereich. Beide Aussagen gehören unlöslich zusammen: der Geist entbindet den Vorgang des Hörens und Verstehens des Wortes und teilt dem Hörenden damit, daß er das Wort als lex spiritus und nicht als lex literae zu Gehör bringt, zugleich die Kraft zu seiner Erfüllung mit. Das Wort als lex spiritus hören heißt, es erfüllen, die lex spiritus ist zugleich intellectualis lux mentis und flamma cordis 17 . Damit werden alle Werke, die im Geist geschehen, verstanden als unmittelbar mit dem A k t der Rechtfertigung selbst gesetzte Erscheinungen und nicht als Vorbedingungen zur Rechtfertigung oder von ihr zu lösende Konsequenzen. Luther kommt auf diesem Wege zum engsten Zusammenschluß von Glaube und Liebe. Anläßlich der paulinischen Formulierung der fides quae per charitatem operatur (Gal. 5, 6) läuft diese Zusammenordnung auf eine Verbindung beider Aussagen im Glaubensbegriff selbst hinaus. Luther benutzt die Definition des Paulus zur Ablehnung der scholastischen Lehre von der fides infusa und acquisita 18 . Nach Occam wird dem Kind in der Taufe die fides infusa mitgeteilt, im Laufe der christlichen Unterweisung, die es erhält, ergreift es in einzelnen Glaubensakten die verschiedenen Glaubensartikel, auf diese Weise entsteht in der Seele eine Summe von habitus, die zusammen die fides acquisita bilden. Die einzelnen Glaubensakte sind auch dem ungetauften Heiden möglich, daher werden die Assensusakte zum wirklichen Glauben erst durch ihren Zusammenhang mit der fides infusa, wie umgekehrt diese erst in den bewußten Akten der fides acquisita zum wahren Glauben wird 1 9 . 18

17 18 S. o. S. 53 ff. 499, 26. 566, 28 ff. Nach Seeberg, Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd. 3, S. 7 1 9 ; dort auch Stellennachweise für Occam. 19

Verstehen und ethischer Fortschritt

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Das übliche Beispiel für diese letzte Aussage, das auch Luther anführt, um die von ihm gemeinte scholastische Lehre kurz zu apostrophieren, ist ein Kind, das zwar in der Taufe die fides infusa empfangen hat, das aber ohne christliche Unterweisung aufwächst und darum nicht zum Glauben kommen kann. Luther lehnt diese Folgerung scharf ab: natürlich kann ein unter Ungläubigen aufwachsendes getauftes Kind wissen, was vom christlichen Glauben zu wissen notwendig ist — zeigen doch umgekehrt die täglichen Beispiele, wie alle Unterweisung vergebens geschieht, wenn nicht der Geist Gottes selbst es ist, der lehrt! Alles hängt am Wirken des Geistes. Wen Gott lehrt, der weiß, spricht und — das interessiert uns in unserem Zusammenhang — handelt aufs Richtigste; wenn Gott anfängt, einen Menschen zu lehren, geschieht nicht weniger, als wenn er von neuem einen Menschen schafft, den ja auch er allein zum Leben, Sehen, Fühlen, Sprechen und Handeln bringt. Mit dieser Zuordnung des Handelns zum Glaubensbegriff ersetzt Luther das intellektualistische Glaubensverständnis der Scholastik, das hinter der Lehrmeinung von der fides infusa und acquisita steht, durch den paulinischen Begriff des lebendigen, tätigen, in der Liebe wirksamen Glaubens. Für ihn lehrt der Geist den Getauften nicht nur das richtige Wissen, sondern auch das rechte Tun, es ist nicht die Rede von einer Zustimmung zu einzelnen Glaubensartikeln, sondern Luther spricht vom Hören und vom Hängen am Wort, das, wo es richtig gehört wird, zur Liebe zu Christus führt und dem Glaubenden den spiritus charitatis verleiht. Gerade die Selbstverständlichkeit, mit der Luther den vom Geist gelehrten Glauben nicht als Anreicherung theologischer Erkenntnis, sondern als Liebe beschreibt, ist noch einmal ein deutlicher Hinweis darauf, wie unlöslich Glaube und Liebe in einen Akt zusammenfallen20. Alle Aussagen Luthers über das Verhältnis von Glaube und Werken haben letztlich in den hier geschilderten Zusammen20 Das Gleiche zeigt Bring von seinem Ansatz in der Christologie her (s. o. S. 235 Anm. 2); »aus dem Obenstehenden dürfte es hervorgehen können, daß es unmöglich ist, innerhalb Luthers Theologie überhaupt »Glaube« und »Liebe« als Gegensätze einander gegenüberzustellen« (Bring, Das Verhältnis von Glauben und Werken . . ., S. 44).

16*

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Inhalt und Erfüllung des Gesetzes (1519)

hängen ihren Platz. Für alle Beschreibungen gilt die gleiche Grundstruktur — ob Luther seine bekannte These aufstellt: »Non iusta faciendo iustus fit, sed factus iustus facit iusta«21, ob er davon spricht, daß der Glaube im Menschen wachsen und allein in ihm regieren müsse, damit die Herrschaft Gottes Wirklichkeit werde (ut sic fiat regnum dei)22, ob er es, negativ gewendet, als Werk des Glaubens bezeichnet, das Fleisch zu züchtigen und die Sünde zu zerstören, oder ihn positiv als fermentum versteht, das den ganzen Menschen durchwirkt, wie Sauerteig den Teig durchsäuert23, ob er betont, daß nicht die Nachfolge zur Sohnschaft, sondern die Sohnschaft zur Nachfolge führe24, ob er bewußt den paulinischen Sprachgebrauch der F r ü c h t e des Geistes im Gegensatz zu den Werken des Fleisches aufnimmt26 oder ob er in einer stärker anthropologisch gefärbten Begrifflichkeit vom Vordringen der Gerechtigkeit vom Geist oder vom Herzen ins Fleisch26 spricht usw. Luther kann in solchen Zusammenhängen auch in völliger Unbefangenheit von einem Fortschritt und Rückschritt reden—hic invenies. . . quantum proficias aut deficias!27 —, die Mahnung des Paulus, im .Geist zu wandeln (Gal. 5, 16), mit »proficite et magis spirituales efficiamini« umschreiben28 und das paulinische incedere (Gal. 5, 25, abgewandelte Form von spiritu ambulare) interpretieren als Üben der Liebe, als Beharren und Voranschreiten29. 2. Die Ermöglichung der Paränese durch das Verständnis des Gesetzes als lex impleta Glaube und Liebe gehören zusammen. Umgedacht auf die Frage nach dem Verhältnis des Glaubenden zum Gesetz heißt 21

492, 2 1 ; Scheel, Martin Luther, Bd. 2, S. I54f. macht nachdrücklich darauf aufmerksam, daß dieser Satz nicht »der Reformation vorbehalten«, sondern »Gemeingut der mittelalterlichen Scholastik« ist. — Der Unterschied, der diesen Satz nun doch zu einer neuen Wahrheit werden läßt, liegt im Rechtfertigungs- bzw. Gnadenverständnis. 23 563. 3· 2« 577. 2; 588ff. 2 7 579. 33; dazu s. u. S. Formulierungen, die den Entwicklung ausspricht. 22

25

2 4 518. 16. 57°. i6ff497. 27. 30ff.; 562, 9ff. 284. Dies ist die einzige der hier anzuführenden Gedanken der Diskontinuität der ethischen 29 28 5 8 3 , 3 2 . 598, 11 ff.

Das Verständnis des Gesetzes als lex impleta

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das: der Glaubende beginnt, das Gesetz zu erfüllen. Das Gesetz ist ihm in seinem Inhalt verbindlich geblieben, wenn er auch durch die Rechtfertigung den Schrecken vor ihm verloren hat. Der Inhalt des Gesetzes stimmt mit seinem eigenen Willen überein, das Gesetz ist ihm nicht mehr verhaßter Feind, sondern Freund30. Ehe wir uns der genaueren Betrachtung des Gesetzesinhaltes und schließlich der Funktion, die das so »entschärfte« Gesetz für den Glaubenden hat, zuwenden, wollen wir uns die Tatsache und die Begründung dieser Verwandlung des Verhältnisses zum Gesetz noch an einigen Ausführungen Luthers verdeutlichen. Paulus selbst gibt Luther die Bilder vom Gesetz als Kerker oder als Zuchtmeister an die Hand (Gal. 3, 23 ff.), die Luther gern aufgreift: Pulchra certe similitudo31. Bis zur Offenbarung des Glaubens ist der Mensch durch das Gesetz gleichsam gefangengehalten — lex ipsa . . . quidam carcer est32 —, bzw. er ist wie ein Knabe, der unter dem Schulmeister seiner Mündigkeit entgegenwächst. In beiden Fällen wird das Gesetz als drückender Zwang empfunden, und das Verhältnis zu ihm wird durch Furcht, ja Haß bestimmt: der Mensch haßt seinen Kerker, der ihm die Freiheit vorenthält, und die Heranwachsenden werden allein durch die Furcht in Disziplin gehalten, die leicht in Haß gegen den Schulmeister umschlägt, und ein williges Sichfügen wird nur durch Belohnungen erreicht. Erst später, wenn er mündig geworden ist, begreift der Knabe den Nutzen dieser Erziehung, der paedagogus wird ihm zum amicus, und er unterscheidet sich jetzt als Sohn vom Sklaven, er freut sich am Gesetz, während dieser in der Knechtschaft der Furcht bleibt33. Luthers Ausführungen über timor und amor legis sind nicht einfach psychologische Beschreibungen des menschlichen Glaubensweges. Wohl ist seine an Paulus gebildete Auffassung des Verhältnisses des Menschen zum Gesetz so stark durch die psychologisierende Durchbildung bestimmt, die dies Verhältnis im Laufe des Mittelalters — Augustin, Mönchtum! — erfahren 30 31 83

560, 28: legis amatores! 528, 37. 574, 36. 32 528, 17. 527, 26f. 537, 14ff. 532, 3ff. 560, 7ff. 574, 21 ff.

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Inhalt und Erfüllung des Gesetzes (1519)

hat, und damit zugleich durch seine eigene Geschichte mit dem Gesetz als Heilsweg, daß in seinen Ausführungen über Haß oder Liebe zum Gesetz die theologische Aussage fast ununterscheidbar mit der psychologischen verbunden ist. Schon die Begriffe, mit denen dies Verhältnis umschrieben wird, sind psychologischer Art — Furcht, Haß, Liebe! Luthers Aussagen haben jedoch trotz ihrer oft psychologisierenden Durchführung einen streng theologischen Charakter. Die Last der vom Gesetz geforderten Werke besteht darin, daß sie für heilsnotwendig erklärt werden, nicht in ihrer Zumutung an die ethische Kraft des Menschen (auch der Glaubende kämpft gegen sein Fleisch!). Wird das Gesetz als Heilsweg verstanden, so hegen seine Forderungen als Zwang auf dem Menschen, der sie wohl timore poenae oder amore mercedis erfüllen kann, sie aber immer als Nötigung empfinden und nie frei bejahen wird. Allein der Gerechtfertigte, der vom Zwang des Gesetzes befreit ist, kann das Gesetz selbst lieben34. Luther beschreibt das gegensätzliche Verhältnis des Menschen zum Gesetz mit verschiedenen Begriffspaaren, die aber alle dem gleichen Inhalt Ausdruck geben: . . . (si) per timorem poenae et amorem mercedis senti(a)mus non legis amorem sed odium potius in nobis augeri . . . 35 ; lex . . . facit servos, quae timore minarum et amore promissorum . . . ab illis impletur — fides . . . facit, ut . . . libere ac stabiliter legem faciamus 36 ; für die fleischlich verstandene Freiheit gilt: odit legem et opera eius37 — für die geistlich verstandene: ex hostibus legis efficimur amici legis38; non ex tristitia aut necessitate sed hilaritate ac suavitate impletur lex domini39; legem odiente — spiritu gratiae 40 ; non coacte — sed hilariter41; usf. Der hier auf vielfältige Weise von Luther hervorgehobene Gegensatz gehört seiner Herkunft nach auch wieder hinein in die augustinische Beschreibung des Verhältnisses von spiritus et litera. Das Gesetz als litera fordert, der Mensch kommt der Forderung 34 Der starke Akzent, den Luther auf die Feindschaft des natürlichen Menschen zum Gesetz legt, zeigt deutlich, wie fern ihm ein idealistisches Verständnis des Gesetzes lag!, vgl. u. S. 2 5 5 f f . 35 3e 37 38 532, 24f. 574, 21 ff. 575, 21 f. 574, 36. 39 588, 19f. « 492, 3 9 f. « 575, 3 f . u. ö.

Das Verständnis des Gesetzes als lex impleta

247

nach amore commodi sui vel timore poenae 42 , seine Gesetzeserfüllung ist darum geheuchelt, nur Haß kann die Wirkung dieser lex operum beim Menschen sein43. Die lex fidei dagegen entzündet das Herz, daß der Mensch die Gerechtigkeit liebt 44 , daß er dem Gesetz aus Liebe zu ihm dient 46 , sie reinigt das Herz, daß es ,wie es sich gebührt, allein Gott Furcht und Liebe zukommen läßt 46 . Das Begriffspaar litera-spiritus verweist uns auch hier wieder in den hermeneutischen Fragenbereich —• im Hören der lex spiritus, hermeneutisch: durch das geistliche Verstehen des Wortes empfängt der Mensch die Möglichkeit, das Gesetz zu lieben. Dieser Tatbestand, der noch einmal deutlich macht, daß für Luther alle Heiligung im geistlichen Hören und Verstehen des Wortes beschlossen liegt, muß uns bei der Frage nach der Funktion des Gesetzes noch einmal beschäftigen 47 . In unserem augenblicklichen Zusammenhang müssen wir die Verwandlung, die der Glaube im Verhältnis des Menschen zum Gesetz bewirkt, noch ein Stück weiter verfolgen. Das verwandelte Verhältnis des Gerechtfertigten zum Gesetz bedeutet, wie schon am Anfang dieses Abschnittes angedeutet, nicht einfach eine inhaltliche Veränderung der göttlichen Forderung. Luther ist sich dessen bewußt, daß der der paulinischen Theologie entstammende Begriff der lex mehrschichtig ist und Inhalt wie Funktion des Gesetzes bezeichnet: Tropum Apostoü satis supra commendavi, quod legem et opera legis pro eodem habet 48 . E r selbst behält den Begriff in seiner Mehrschichtigkeit bei, unterscheidet jedoch sachlich genau und läßt sich u. U. dort, wo es ihm um eine sorgfältige Differenzierung geht, begriffliche Hilfe vom auszulegenden Text geben. So trifft er in seiner Auslegung zu Gal. 2, 1 6 — Scientes quod ex operibus legis non iustificatur homo etc. 49 — die Unterscheidung von lex und opera legis, um sich mit dem falschen Gesetzesverständnis des Hieronymus auseinandersetzen zu können, der die im Glauben geschehende abrogatio legis als inhaltliche mißversteht und die von Paulus verurteilten opera legis auf die E r 43 « 46g, 4. 498, 25. 48 47 469, 7. S. u. S. 300. 49 Zitiert nach Luther 491, 24.

44 48

499. 29. 520/1.

48

498, 27 f.

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Inhalt und Erfüllung des Gesetzes (1519)

füllung der Zeremonialgebote beschränkt. Luther sieht die Ursache dieser Fehlinterpretation in einer falschen Einheitlichkeit des Urteils über den Inhalt der Gesetzesforderung und die Erfüllung im Werk. Für Hieronymus trifft das negative oder positive Urteil jeweils für beide in gleicher Weise zu: die Erfüllung der Zeremonialgebote ist dem Christen nicht mehr erlaubt, denn das Zeremonialgesetz ist seit Christus abgetan, die Erfüllung des übrigen Gesetzes aber ist gut, denn das Gesetz selbst ist gut, da es von Gott kommt. Hieronymus kann das negative Urteil des Paulus über das Gesetz also nur übernehmen, indem er inhaltlich zwischen verschiedenen Gesetzen differenziert. Für Luther ist das Gesetz unteilbar. Da seine negative Bewertung des Gesetzes lediglich der Verwendung des Gesetzes als Heilsweg gilt, also nur seiner falsch verstandenen Funktion, kann er ohne Schwierigkeiten das gesamte Gesetz inhaltlich als Ausdruck des göttlichen Willens und damit als gerecht und gut annehmen und ist nicht genötigt, die abgelehnten Gesetzeswerke auf einen bestimmten, notgedrungen ebenfalls abzuwertenden Teil des Gesetzes zu reduzieren50. So kann er bei aller Schärfe des Kampfes gegen die Gesetzlichkeit, den er weit entschlossener führt als Hieronymus, anders als dieser an einer positiven Beurteilung selbst des Zeremonialgesetzes festhalten: lex ceremonialis, sicut fuit ita nunc quoque est bona et sancta, quia ab ipso deo statuta 61 . Das Gesetz als Wille Gottes ist gut und heilig, die Liebe des Glaubenden zum Gesetz beruht auf keiner inhaltlichen Veränderung der gesetzlichen Forderungen62. Sie beruht aber auch nicht einfach auf der Anerkennung des Gesetzes als Ausdruck des göttlichen Willens. Damit wäre das 60

. . . apostolum plurimi non intelligunt, qui opera legis non nisi iusta

et bona intelligere possunt, quando lex ipsa bona est et iusta: ideo coacti sunt per legem intelligere ceremonialia, quod ilia fuerint tunc mala et mortua (492, 12ff.). 61

492, 1 5 f . ; vgl. auch an anderer Stelle: legem odisse est veritatem,

iusticiam, sanctitatem odisse (527, 34f.). 62

Die Frage, ob der Glaube ein besseres Verständnis der Gesetzes-

forderungen ermöglicht, ist von dieser Feststellung zu unterscheiden! I n dem Falle ändert der Glaube den Inhalt des Gesetzes nicht ab, sondern versteht ihn richtiger; vgl. u. S. 262 ff. die Einordnung der lex ceremonialis in das Liebesgebot.

Das Verständnis des Gesetzes als lex impleta

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Gesetz strengste Forderung, aber noch nicht amicus. Zur freien Bejahung durch den Menschen kann es nur dadurch kommen, daß die Verhältnisordnung sich verwandelt hat, daß das Gesetz dem Menschen nicht mehr als lex implenda, sondern als lex impleta gegenübertritt. An den Hauptstellen, an denen Luther auf das Verhältnis des Glaubenden zum Gesetz zu sprechen kommt, verweist er auf Christus als den Erfüller des Gesetzes, Christus ist der impletor legis, angesichts dessen muß und darf der Mensch von den eigenen satisfactiones Abstand nehmen63. Das so erfüllte Gesetz hat für den Menschen den Schrecken verloren. Es dient ihm nun zur Bekämpfung des eigenen Fleisches wie als Aufforderung zum willigen Dienst am Nächsten, d. h. zur Charitas. Beide Gedankenkreise entwickelt Luther unter dem Hinweis auf das bereits erfüllte Gesetz. In seiner breiten Entfaltung des simul iustus simul peccator zu Gal. 2, 18 unterscheidet er: si fidem spectes, lex impleta est, peccata destructa, nullaque lex superest: sed si carnem, in qua non est bonum, iam peccatores cogeris fateri eos qui iusti sunt in spiritu per fidem64. Per fidem heißt inhaltlich propter Christum, in quo credunt66. Und wie Christus, der dem Gesetz übergenug getan hat, seinen Leib, die Kirche, regiert und übt, so hat der spiritus iusti, der im Glauben bereits sündlos ist, dasselbe mit seinem widerspenstigen Körper zu tun, damit auch dieser frei von Sünden werden möge66 und — damit sind wir bei unserem Ausgangsgedanken — (ein Stück vorher): ut sie lex dei non modo in spiritu et corde p l a c e a t et impleatur, sed et in carne67. Ebenso wichtig wie für die Möglichkeit, mit Hilfe des Gesetzes — ohne daß dies den Glaubenden verdammen darf — das eigene Fleisch in Zucht zu halten, ist das Wissen um die in Christus gegebene impletio legis für die Ermöglichung, sich dem 63

54 65 68 561, 3 5 f f . 497, 22ff. 497, i6f. 497, 27ff. 497, 20f.; zur ganzen Stelle vgl. o. S. 77ff. Ähnlich läuft Luthers Gedankengang in seiner Auslegung zu Gal. 2, 1 7 : Christus ist im Gegensatz zum legislator Mose legis impletor (494, 10), wer an ihn glaubt, ist gerecht (493, 33f.). Damit ist die Möglichkeit der Werkgerechtigkeit verneint. Die Gerechtigkeit des Glaubenden existiert nondum plene in re, sed in spe, das iustificari et sanari hat begonnen (495, iff.). E s fehlt in der Erörterung der Gedanke der Liebe zum Gesetz, der aber von der Auslegung zu V. 18 her (s. o.) ohne Schwierigkeit zu ergänzen ist. 87

Inhalt und Erfüllung des Gesetzes ( 1 5 1 9 )

250

Nächsten in freier, d. h. von der Frage nach der eigenen Seligkeit befreiter Liebe zuzuwenden. Zu Gal. 5, 1 führt Luther aus: Christus, pro nobis legem adimplens et peccatum exuperans, spiritum charitatis in corda eorum, qui credunt in eum, mittit quo efficiuntur iusti et legis amatores68. Es ist interessant zu sehen, wie Luthers Verständnis der lex als lex impleta und seine Unterscheidung der lex als Inbegriff des guten und heiligen Gotteswillens von den der Selbstrechtfertigung dienenden opera legis für Gal. 2, 18 eine eigene, von der gesamten Tradition abweichende Exegese ergibt89. »Si enim, quae destruxi, iterum haec reaedifico, praevaricatorem me constituo«: dieser Satz wird in der exegetischen Tradition auf das Wiederaufrichten der Gesetzeswerke bezogen, die durch die Evangeliumspredigt bereits überwunden sind, bei Hieronymus auf die ceremonialia, bei Augustin auf die Werke des ganzen Gesetzes, dessen Erfüllung durch Werke mit der superbia glorians verbunden wird und deshalb Sünde ist. Luther wird durch sein Verständnis der lex als gut und heilig daran gehindert, den Begriff destruere aufdielex zubeziehen, er sucht durch Rückgriff auf andere paulinische Stellen den Gesamtzusammenhang mit der paulinischen Theologie herzustellen, innerhalb dessen er dann den Begriffen destruere und aedificare an Hand von Rm. 3, 31 und Rm. 6, 6 ihren Ort zuweist. Legem ergo destruimus per fidem? absit: sed legem statuimus (Rm. 3, 31) — der Glaube richtet sich wohl gegen die Werkgerechtigkeit, nicht aber gegen den Inhalt des Gesetzes. Nach Rm. 6, 6 ist es dagegen der Leib der Sünde, der durch das Mitsterben mit Christus zerstört wird — destruere kann sich demnach im Munde des Paulus nur auf die Sünde beziehen, nicht aber auf die Werke des Gesetzes. Sünde gibt es, solange das Gesetz unerfüllt ist, d. h. so lange es als lex implenda gepredigt wird, denn Sünde heißt legem nondum implesse, und jede auf Erfüllung drängende Predigt bedeutet eine Schwächung des Gesetzes, weil gerade in ihr deutlich wird, daß der Intention des Gesetzes, die sich auf die Erfüllung richtet, offenbar keine Wirklichkeit entspricht. Die Predigt der Erfüllung des Gesetzes dagegen, die im Glauben 58

560, 2 6 f f .

69

495 f.

Das Verständnis des Gesetzes als lex impleta

251

an Christus gegeben ist, läßt keinen Raum für die Sünde als legem nondum implesse und bedeutet durch die Bezeugung der geschehenen Erfüllung ein Errichten des Gesetzes in voller Kraft, da Anspruch und Wirklichkeit hier zusammenfallen. Für Luther spricht Paulus in Gal. 2, 18 von einer Zerstörung der Sünde, die in der Nichterfüllung des Gesetzes besteht, durch die Predigt des Evangeliums als der lex impleta. Jede neue Predigt der lex als implenda würde die Sünde wieder aufrichten. Das auch in dieser Auslegung zum Ausdruck kommende Wissen um Christus als den impletor legis trägt Luthers gesamte Ausführungen über den Glaubenden. Fehlte es, so wären die Adjektive »gerecht« und »frei« hinfällig, und es blieben nur die Bestimmungen servus und peccator. Das Wissen um die lex als die lex impleta steht auch hinter Luthers Darlegung über die Funktion des Gesetzes als des paedagogus ad Christum. Die Aufgabe des Zuchtmeisters besteht nicht einfach darin, den Menschen zu erschrecken, sondern darin, ihn zu Christus zu treiben: Non ergo lex solum posita est, ut peccatum revelaret et augeret (alioqui melius dilata fuisset ad extremum iudicium, ne duplici contritione contereremur), sed ut per peccatum revelatum humiliaret et ad Christum urgeret60. Das Erkennen dieser Funktion des Gesetzes setzt den Glauben voraus. Wird die lex nicht als lex impleta verstanden, so ist dieser Rückblick auf die lex, die ad Christum, ad fidem, ad haereditatem quaerendam et suspirandam61 treibt, nicht möglich62, dann bricht das Gesetz über den Menschen herein und verbreitet nur Schrecken, bis 60

528, i f f . μ 529, 6f. Vgl. dazu Ebeling, Zur Lehre vom triplex usus legis in der reformatorischen Theologie, T h L Z 75 (1950), Sp. 244: »In dieser seiner eigentlichen Funktion wird das Gesetz nicht per sese zum paedagogus in Christum, sondern .Evangelium facit ex lege paedagogum in Christum' (W 39 I 446, 22f.)«. An ihn anschließend Haikola, Usus legis, S. 1 3 8 : »Der zu Christus treibende Zug des Gesetzes liegt jedoch nicht im Gesetz selber, sondern stammt aus dem Evangelium . . . Würde das Gesetz allein wirken, so würde es nur zur desperatio führen. Im Dienst des Evangeliums dagegen treibt die vom Gesetz gewirkte desperatio an allem Eigenen zur vollen Gerechtigkeit in Christus.« (vgl. auch ib. S. 108, S. 119). Vgl. o. S. 225. 62

Inhalt und Erfüllung des Gesetzes (1519)

252

Christus ihm ein Ende setzt. Auch im Zusammenhang dieser Aussage über das Gesetz wird deutlich, daß das positive Verhältnis des Menschen zum Gesetz dem rechten Hören entspringt. Mit unserer letzten Beobachtung haben wir bereits die Frage nach der Funktion des Gesetzes angeschnitten. Ehe wir uns ihr zuwenden, müssen wir uns jedoch Luthers inhaltliches Verständnis der Gesetzesforderung verdeutlichen.

II. DIE ZUSAMMENFASSUNG DES GESETZES IM LIEBESGEBOT

i. Luthers Interpretation des Liebesgebotes a) Luthers Entfaltung des Liebesgebotes

Die Liebe zum Gesetz, die im Glaubenden entbunden wird, enthält inhaltlich zweierlei: den Kampf gegen das eigene Fleisch und die Liebe zum Nächsten. Je nach dem Zusammenhang hebt Luther das eine oder das andere hervor. Sachlich ist der Kampf gegen sich selbst nur die Kehrseite der Erfüllung des Liebesgebotes. Fragen wir daher nach dem Inhalt des Gesetzes, das der Glaubende in seinen Willen aufnimmt, so müssen wir nach dem Gebot der Nächstenliebe fragen. Es ist selbstverständliche, in der Bibel begründete Tradition, daß das Liebesgebot als Zusammenfassung des gesamten Gesetzes gilt. »Omnis enim lex in uno sermone hoc impletur: Diliges proximum tuum sicut teipsum«— dieserauchim Galaterbrief von Paulus formulierte Gedanke (Gal. 5, 14) gibt Luther Anlaß zu einer breiten, in sich geschlossenen systematischen Interpretation, die das Gerüst der folgenden Erörterungen bilden soll63. Weiterführende oder interpretierende Ausführungen aas dem übrigen Kommentar werden jeweils eingefügt. Mit der Zusammenfassung des gesamten Gesetzes im Liebesgebot.stößt Paulus für Luther zum Ursprung, zur Wurzel, zur Quelle aller übrigen Vorschriften des Gesetzes vor, denn hier ist das Herz des Menschen getroffen, der Affekt zum Inhalt des 43

576«:.

Luthers Interpretation des Liebesgebotes

253

Gesetzes gemacht, der alle übrigen Handlungen trägt, das Liebesgebot richtet sich an die Mitte des Menschen, die bestimmend hinter allen einzelnen Handlungen steht. Es gibt nichts Innerlicheres und Geheimeres im menschlichen Herzen als die Liebe. Ist dieser Affekt in die richtige Richtung gelenkt, so bedürfen die übrigen Glieder keiner weiteren Anweisungen, denn alles fließt aus ihm. Wie er ist, so ist alles, was der Mensch tut. Mit Augustin 64 sieht Luther in der Liebe den fons omnium bonorum und setzt sie der cupiditas als der radix omnium malorum entgegen. Damit kommt sein Verständnis der Liebe als Inbegriff der Gerechtigkeit deutlich zum Ausdruck, der Gegensatz zu cupiditas ist für Luther — anders als für Augustin, für den der Begriff einen sexuellen Akzent trägt — der Gegensatz zur Wurzel der Sünde, die in der Ichbezogenheit des Menschen liegt. Allein das Befolgen des Liebesgebotes geschieht daher ohne Qual und Mühe, denn es fließt unmittelbar aus dem Herzen und kann dem Herzen darum Ruhe geben; alle anderen Einzelwerke — fasten, wachen, Almosen geben, ja das Martyrium erleiden — können nicht ohne Schmerz, Furcht und Mühe geschehen66. Die Formulierung des Liebesgebotes läßt für Luther das Wesen der Liebe klar erkennen66. Einmal weist es hin auf die Liebe als die nobilissima virtus, eben weil es kein äußeres Werk vorschreibt, sondern sich an das Herz des Menschen wendet. Zum anderen zeigt es dem Menschen das nobilissimum obiectum: den Nächsten. Luther trifft hier die uns bereits bekannte Unterscheidung67 zwischen dem Menschen und seinen larvae oder facies: alles, was den Menschen von anderen unterscheidet, Reichtum, Macht, Weisheit, Gerechtigkeit, Schönheit usw., gehört — ebenso wie Armut, Schwäche, Niedrigkeit, Torheit, Sünde — nur als seine persona zu ihm, er selbst muß von all diesem unterschieden werden, als homo ist er der, 64

Vgl. etwa das Zitat Augustins beim Lombarden (Sent. 1. 3. d. 31

c. 1, 218): Quia radix omnium malorum est cupiditas, et radix omnium bonorum est Caritas; simul ambae esse non possunt: nisi una radicitus evulsa fuerit, alia plantari non potest (MSL: poterit). (Sermo C C L X X , Appendix; M S L 39, Sp. 2248, 1.) 65

576, 24ff.

86

577, 14ff.

· ' s. o. S. 14L

254

Inhalt und Erfüllung des Gesetzes (1519)

der er vor Gott ist, vor welchem alle Unterschiede hinfällig sind. Die einfache Formulierung »proximus tuus« weist auf diesen homo, ohne jede Rücksicht auf irgendeine nähere Differenzierung. Mit dieser Interpretation setzt sich Luther scharf von der theologischen Tradition mit ihren sorgfältigen Unterscheidungen und Abstufungen im Verständnis des Nächsten ab68. Drittens schließlich setzt das Liebesgebot dem Menschen das nobilissimum exemplum vor Augen: sicut teipsum. Damit wird die Frage nach dem Inhalt des Liebesgebotes aus der Frage an das Gesetz zur Frage des Menschen an sich selbst. Ist das Verhältnis des Menschen zu sich selbst Beispiel für die dem Nächsten geschuldete Liebe, so bedarf es keiner Lehrer und Gesetze, um einzelne Konkretionen vorzuschreiben. Der Mensch ist in seinem Umgang mit sich selbst die Bestätigung dafür, daß die Liebe alle Konkretionen von selbst weiß: non literis . . . sed ipso experientiae sensu®9. Die stets lebendige, geschäftige, einfallsreiche Eigenliebe des Menschen ist Maß und ständige Mahnung für das, was er dem Nächsten schuldet. Hier gilt das Sprichwort nicht, daß der Mensch sich selbst ein schlechter Lehrmeister ist: optimus et minime omnium fallax magister 88 Der Lombarde zitiert u. a. Ambrosius, der im Anschluß an Cantic. 2, 4: »Ordinavitinmecaritatem« ausführt: »MultorumCaritasinordinata est: quod in primo est, ponunt tertium vel quartum. Primo Deus diligendus est, secundo parentes, inde filii, post domestici; qui,siboni sunt, malis filiis praeponendi sunt. Secundum hoc in Evangelio ad cuiusque dilectionem proprium ponit: .Diliges Dominum Deum tuum ex toto corde tuo, et ex omnibus viribus tuis et proximum tuum sicut te ipsum', et inimicos non ex tota virtute, non sicut te ipsum, sed simpliciter. Sufficit enim, quod diligimus et non odio habemus« (Sent. 1. 3 d. 29 c. 2, 204). Und etwas später: Quod vero Augustinus dicit, pariter omnes esse diligendos, et pari dilectione omnibus vitam optandam, ita accipi potest, ut paritas non ad affectum referatur, sed ad bonum, quod eis optatur, quia caritate omnibus optare debemus ut paria bona mereantur, sicut Apostolus, dicit: ,Volo, omnes homines esse sicut me'. Optanda est enim minoribus perfectio maiorum, ut ipsi fiant perfecti et sie mereantur parem beatitudinem; vel pari dilectione, id est, eadem dilectione omnes diligendi sunt. Item, quod ait: »Ut tantum diligamus fratres, quantum nos«, ita intelligi potest, id est ad tantum bonum diligamus fratres, ad quantum nos, ut tantum bonum eis optemus in aeternitate, quantum nobis, etsi non tanto affectu; vel ibi »quantum« similitudinis est, non quantitatis 69 577, 32f. (ib. 206).

Luthers Interpretation des Liebesgebotes

255

tuiipsius hie fueris, caeteris omnibus fallacibus70. In diesem Verständnis des Liebesgebotes wird das Wort des Deuteronomiums über das Gesetz bestätigt, daß das Wort dem Herzen des Menschen nahe ist, damit er danach tue (5. Mose 30, 14)71. b) Das Liebesgebot als lex naturae72

Das Maß des Liebesgebotes, der amor sui, ist mit dem Menschen untrennbar verbunden, er ist »per se in omnibus«73, er ist in denen, die das Liebesgebot Christi hören, immer schon vorhanden74. Doch auch das Gesetz, das an Hand dieses Maßstabes die Liebe zum Nächsten fordert, ist dem Menschen immer schon bekannt. Luther lehnt die inhaltliche Unterscheidung zwischen lex naturae, lex scripta (d. h. dem alttestamentlichen Gesetz) und lex euangelica ausdrücklich ab 75 . Die Liebe ist die Summe eines jeden Gesetzes, ob es in die goldene Regel gefaßt ist, als Liebesgebot im Alten Testament formuliert oder im Evangelium ausgesprochen wird, es gibt nur ein Gesetz, das durch alle Zeiten hindurchgeht und allen Menschen bekannt ist. Die dreifache Unterscheidung des Gesetzes spiegelt nur die jeweils verschiedene Einsicht in seinen Inhalt. Das Liebesgebot als Zusammenfassung des ganzen Gesetzes Gottes ist lex . . . scripta in omnium cordibus . . . quam spiritus dictat in cordibus omnium sine intermissione76. Die einzelnen religiösen und völkischen Gesetze, die nicht die ganze Menschheit verpflichten, sondern einzelnen Völkern, Juden oder Heiden, eigentümlich sind, treten als propriae leges hinzu, sind aber, wie die Völkerschaften selbst, in ihrer Geltung zeitlich begrenzt. »

578» i 9 f ·

72

Zu einer Diskussion der Literatur zu Luthers Begriff der lex naturae

71

578. " f .

reichen die Äußerungen des Galaterkommentars nicht aus. Hier kann es nur darum gehen — außer einzelnen Literaturverweisen — , die sich m. E . eindeutig aus den vorliegenden Texten ergebende Sicht Luthers zu entfalten und die vorgelegte Interpretation durch ihre Einfügung in Luthers Gesamtverständnis von Gesetz, Rechtfertigung und Heiligung auf ihre Richtigkeit zu prüfen. 79

580, 31.

74

581, 3 f.

78

580, 7 ff.

78

580, 18 ff.

256

Inhalt und Erfüllung des Gesetzes (1519)

Das Liebesgebot ist also wie die Selbstliebe zugleich mit der menschlichen Existenz gesetzt. Doch es ist nicht eine dem Menschen von Natur innewohnende Willensrichtung — iam inesse eis voluntatem et amorem sui! 77 —, sondern es ist lex. Der Gesetzescharakter ist damit gegeben, daß das Gebot dem Menschen von außen durch den Geist ins Herz geschrieben ist, oder besser: ununterbrochen zugerufen wird. Dies Verständnis des Liebesgebotes als lex dicta et scripta macht deutlich, daß der Mensch in seiner Existenz auf willentlichen Gehorsam hin angfesprochen ist. Der Inhalt der Forderung ist formal, er enthält die Hinwendung zum Nächsten. Indem sie aber an den amor sui anknüpft, der gerade nicht Gebot, sondern per se in omnibus ist, fordert sie den Menschen als den, der er per se ist, der ohne weitere Unterrichtung immer schon um den jeweils geforderten Inhalt weiß. Der Mensch ist durch seine Existenz zugleich in das Gespräch mit dem Gesetz gestellt, das ihn zum Nächsten schickt. Damit ist er, wenn das Wort Gottes ihm begegnet, immer schon unentschuldbar78. Das Liebesgebot ist für Luther nicht spezifisch christlich. Zwar unterscheidet er drei voneinander unterschiedene »Gesetze« — lex naturae, lex scripta und lex euangelica —, doch sind diese ihm nur verschiedene Interpretationen dieser einen Forderung: Ciarum est, tres has leges non tarn officio quam falso sensu intelligentium differe79. Sowohl das von ihm vorgetragene Verständnis des Nächsten, auf den die Liebe sich richten soll, wie seine Auffassung der geforderten Liebe selbst sind für ihn eine Entfaltung der Inhalte, die im Liebesgebot als solchem angelegt sind, gleichgültig in welcher Gestalt es an den Menschen ergeht, und nicht erst vom Evangelium her an das Gebot herangetragen werden müssen. Sein Verständnis des Nächsten, das er in seiner Auslegung von »proximus tuus« vorträgt, verleugnet seine Herkunft aus dem Bereiche des Glaubens nicht: wir sahen, daß er zwischen homo und persona scheidet80, d. h. dem Menschen apud deum und dem, was er coram hominibus darstellt, und so die Möglichkeit gewinnt, jeden Menschen, ohne jede Einschränkung, zum Nächsten zu 77

581, 3f.

« 580, 19.

?» 580, I3f.

eo s. o. S. 12ff.

Luthers Interpretation des Liebesgebotes

257

erklären. Doch obwohl diese Scheidung deutlich vom Evangelium her gedacht ist, ist diese Erläuterung für Luther doch nur die theologische Entfaltung dessen, was im Grunde in der gleichen Schärfe bereits durch die lex naturae gewußt wird, denn auch in der goldenen Regel ist ohne jede Differenzierung oder Einschränkung von den homines die Rede, auf die die Wohltat sich richten soll. Luthers Verständnis des Nächsten stellt eine theologische Interpretation der lex naturae dar, ohne ihr jedoch neue Inhalte hinzuzufügen. Die abgelehnte scholastische Lehre, in der der Begriff des »Nächsten« von den Eltern bis hin zu den Feinden differenziert und abgestuft wird, bleibt demnach für ihn hinter dem allgemein verbindlichen natürlichen Gesetz zurück. Ebenso ist es mit seinem Verständnis der geforderten Liebe. Auch hier durchleuchtet Luther das Liebesgebot in einer Weise, die das Gesetz aus seinem eigenen Wortlaut heraus auf seine ganze Höhe hinaufinterpretiert. Er bemüht sich um eine Widerlegung der scholastischen Lehrmeinung, daß im Wortlaut des Liebesgebotes die Selbstliebe nicht nur vorausgesetzt, sondern vor der Nächstenliebe geboten sei81. Noch zögernd im Aussprechen, doch sehr entschieden in der Sache, argumentiert er zunächst mit der Formulierung des Gebotes selbst, in dem die Liebe zu sich selbst offensichtlich nicht geboten, sondern nur als der amor suiipsius per se in omnibus vorausgesetzt wird82, beruft sich dann aber auf den Gesamtcharakter der neutestamentlichen Forderungen selbst: nach Paulus sucht die Liebe gerade das, was nicht das Ihre ist, und Christus predigt, der Mensch solle sich verleugnen und seine Seele hassen. Gebietet das Liebesgebot wirklich die Liebe zu sich selbst, so muß es als Forderung der suiipsius recta Charitas verstanden werden, als Forderung der Liebe, für die die Selbstliebe nicht nur Maßstab für die in einem zweiten Akt aufzubringende Liebe zum andern ist, sondern im gleichen Akt, mit der gleichen Liebe sich und den Nächsten liebt: Non enim aliam sed eandam esse, 81

580, 2 8 ff.

82

Christus, quando M a t t . V I I

dicit .Omnia quaecunque vultis

ut

faciant vobis homines', certe declarat, iam inesse eis v o l u n t a t e m et amorem sui, nec praecipit ibi eandem, u t claret (581, 2f.). 17

Bornkamin, Galaterbrief

258

Inhalt und Erfüllung des Gesetzes (1519)

praeceptum hoc iubet83. Eine Forderung, die Luther mit dem traditionellen Bilde der Zusammenarbeit der verschiedenen Glieder des Körpers erläutert, die alle füreinander da sind und einander dienen. Luther deckt in dieser Deutung die innere Widersprüchlichkeit des Gebotes auf, das den im Menschen vorhandenen perversus amor voraussetzt und an ihn anknüpft, aber die recta Charitas fordert. Damit kommt in seiner Auslegung des Gebotes der immer schon schuldige Mensch in den Blick, der das Gesetz, das ihm ins Herz geschrieben ist, dann, wenn er es genau auf seinen Inhalt hin abhört, nie im idealistischen Sinne als Bestätigung seiner selbst mißverstehen kann, sondern es immer als anklagend und überführend vernehmen muß. Der Wortlaut des Gesetzes, in dem die Selbstliebe zum Maßstab für die Nächstenliebe gemacht wird, enthält das richtende Urteil Gottes über den Menschen bereits in sich. Der Mensch wird gefordert und in dieser Forderung zugleich in einer Weise schuldig gesprochen, die zeigt, daß er die Forderung nicht erfüllen kann. Damit weist diese Interpretation des Liebesgebotes über sich hinaus — ohne daß jedoch in Luthers Erklärung ein Nachdruck darauf hegt. Nur die Tatsache des Liebesgebotes wird von ihm ausdrücklich in einer Richtung begründet, die den Inhalt des Liebesgebotes durch die Erwähnung der göttlichen gratia transzendiert: si homo suiipsius rectam charitatem haberet, iam gratia dei non egeret84. Wie Luthers Interpretation des Nächsten, so ist auch dies zur höchsten Schärfe gesteigerte Verständnis der geforderten Liebe nichts spezifisch Christliches85. Und doch drängt sich bereits bei diesen beiden Fragen die Beobachtung auf, daß der Inhalt der lex naturae in seiner letzten Tiefe letztlich erst vom Evangelium her erschlossen wird. Das wird noch deutlicher im folgenden Abschnitt, in dem Luther die scholastische Liebesordnung nun doch in eigener Interpretation zu übernehmen sucht: Si omnino amorem sui hic primum ordinari concedendum 83

580, 39.

85

Vgl. auch Luthers Erläuterung des Freiheitsbegriffes: . . . non gen-

Μ 5 8o ( 38.

tilis illa (libertas), quam nec gentilis Persius satis esse novit (560, 20); s. u. S. 287.

Luthers Interpretation des Liebesgebotes

259

est. . .!8β Er hilft sich mit der in der Scholastik üblichen Auslegung des amor sui, der so geboten ist, daß der Mensch sich in bono und propter deum heben soll. In gleicher Weise ist dann auch der Nächste zu heben. Sich selbst in Gott oder um Gottes willen Heben heißt hier: sich selbst heben, weil man gerecht ist, oder um gerecht zu werden. Das Gleiche gilt für den Nächsten87. Luther legt im Zuge seiner Interpretation in das seipsum in deo diligere, das er formal von der Scholastik übernimmt, die ganze fordernde Unbedingtheit seiner Auffassung des Gottesverhältnisses hinein, die den Eudämonismus der scholastischen Konzeption durchstößt, da bei Luther für eine Verbindung von in bono und propter deum kein Raum ist. Sich in Gott lieben heißt für ihn, sich lieben extra seipsum, Eigenwillen und Selbstliebe aufgeben und nur danach fragen, daß der Wille Gottes in einem selbst geschieht. Gefordert ist damit die rückhaltlose Hingabe an den göttlichen Willen, der Mensch wird promptus ad mortem, ad vitam et ad omnem formam figuli mei88. Mit diesem Gebot ist der Mensch überfordert, solche Übereinstimmung mit Gott ist ihm von Natur aus nicht möglich. Mit der gleichen Unbedingtheit soll der Nächste in Gott geliebt werden: auch in ihm soll allein der Wille Gottes, in keiner Weise sein eigener geschehen. Mit dieser Interpretation weist Luther auf ein Verständnis der Forderung des Liebesgebotes hin, das im Grunde doch nur vom Evangelium her erschlossen werden kann, denn daß der Mensch sich selbst in Gott und dem Willen Gottes gemäß nur 86

5 8 1 , 1 2 ff.

87

Vgl. den Lombarden: Caritas est dilectio, qua diligitur Deus propter

se et proximus propter Deum vel in Deo (Sent. 1. 3 d. 27 c. 2, 187); und im Kapitel »De modo diligendi«: Das L'ebesgebot fordert, den Nächsten zu lieben ad quod et propter quod te ipsum diligere debes: in bono enim et propter Deum te ipsum diligere debes, in bono ergo diligendus est proximus, non in malo, et propter Deum. Zur weiteren Auslegung zieht er Augustin heran: Qui ergo amat homines,

»vel quia iusti sunt, vel ut

iusti sint amare debet, hoc est in Deo vel propter Deum; sie enim et se ipsum amare debet, scilicet in Deo vel propter Deum, id est, quia iustus est, vel ut iustus sit. Qui enim aliter se diligit, iniuste se diligit, quia ad hoc se diligit ut sit iniustus, ad hoc ergo ut sit malus: non ergo iam se diligit. ,Qui enim diligit iniquitatem odit animam suam'« (ib. c 5, 190). 88

17·

581, i 6 f .

260

Inhalt und Erfüllung des Gesetzes (1519)

lieben kann voluntate mei et amore mei prorsus mortuo89, lernt er allein durch das Wort des Evangeliums. Trotzdem darf die inhaltliche Übereinstimmung von lex naturae, lex scripta und lex euangelica, die Luther zum Ausdruck brachte, nicht aufgelöst werden: Ciarum est, tres has leges non tam officio quam falso sensu intelligentium differe!90 Auch die Inhalte, die durch die Auslegung des Liebesgebotes vom Evangelium her als scheinbar neue zu Tage treten — den Willen Gottes, der gegen jeden Eigenwillen besteht, im Leben des anderen geschehen zu lassen —, greifen nicht über das hinaus, was von Anfang an in der lex naturae enthalten ist. Daß das Liebesgebot im Lichte des Evangeliums eine neue Gestalt annehmen kann, läßt die Verkehrung erkennen, der schon das Verständnis des ins Herz geschriebenen Gesetzes durch den Menschen unterworfen ist91. Dabei ist es wichtig •—• wir müssen hier schon einmal kurz vorgreifen92 —, daß das Liebesgebot für Luther nicht nur ein Ethos gebietet, sondern die Forderung eines Lebens im Glauben enthält, daß also die Unfähigkeit des natürlichen, in der Selbstliebe gefangenen 89

90 581,15· 580,13! An dieser Stelle hat besonders Heckel die Fragestellung vorangetrieben. Sein Ansatz sei hier nur vermerkt, zu einer Stellungnahme reicht die Textgrundlage nicht aus. In seinem Aufsatz über »Naturrecht und christliche Verantwortung im öffentlichen Leben nach der Lehre Martin Luthers« (in: Zur politischen Predigt, hrsg. v. Ev.-Luth. Dekanat München, 1952, S. 35ff.) setzt er Luthers Zwei-Reiche-Lehre zur Frage des Naturrechts in Beziehung und stellt bei Luther »den Dualismus eines göttlichen Naturgesetzes und eines menschlichen Naturrechts« fest. »Wie es zwei Reiche gibt, so auch eine zweifache Art Naturrecht« (S. 45). »Das weltliche Naturrecht verdankt seine Entstehung der Tatsache, daß das göttliche Naturgesetz auch nach dem Sündenfall dem menschlichen Herzen eingeprägt geblieben i s t . . . Aber da infolge der Erbsünde die geistliche Anlage des Menschen zerstört und nur die leibliche Übriggeblieben ist, so wird nunmehr auch das Naturgesetz leiblich statt geistlich verstanden«; es ergibt sich: »Aus dem göttlichen Naturgesetz entspringt durch infralapsarische Auslegung des natürlichen Menschen das weltliche Naturrecht«, zu dem auch der Dekalog gehört (S. 4Öf.). Diese These wird dann in Heckeis großer Untersuchung »Lex charitatis« in aller Breite ausgeführt, vgl. bes. S. 46 ff. Zustimmend zu dieser Zusammenordnung von Rechtslehre und Zwei-Reiche-Lehre E . Wolf, Peregrinatio, S. 193 f. (Zur Frage des Naturrechts bei Thomas von Aquin und bei Luther). 92 Näheres s. u. S. 270 ff. 91

Luthers Interpretation des Liebesgebotes

261

Menschen nicht einfach eine ethische ist, sondern die Unfähigkeit zu glauben. Luthers Interpretation des Liebesgebotes ist eine Beschreibung des Lebens aus dem Glauben, das dem Menschen in der Rechtfertigung erschlossen wird: der Nächste wird als homo von seiner persona unterschieden — wie der Glaubende in der Gemeinde bei Luther als homo sine nomine erscheint93; die ihm geschuldete Liebe ist Ubereinstimmung mit dem Willen Gottes, der in seinem Leben geschehen soll; die Selbstliebe, das Maß des Gebotes, besteht in der Hingabe an den göttlichen Willen, der diesem, im eigenen Leben Raum läßt — eben dies aber vollzieht sich in der Rechtfertigung. Die Forderung des Liebesgebotes enthält die Forderung der Absage an ein Leben, das vom eigenen Willen getragen wird, und die Übernahme eines Lebens, das sich in der Hingabe empfängt. Hingabe an Gott und Hingabe an den Nächsten sind hier eins. Denn wo der Ursprung dieses Anspruchs auf den eigenen Liebeswillen und die Zielsetzung für die dem Nächsten geschuldete Liebe im Willen Gottes gesucht wird, ist der Nächste nicht nur Träger seiner eigenen, sondern eben damit der göttlichen Forderung, das Liebesgebot enthält dann nicht nur die unkontrollierte Hingabe an den Nächsten, deren Normen und Ziele im einzelnen sehr verschieden aussehen können, sondern es enthält die Forderung der rückhaltlosen Zuwendung zu Gott, die: Übergabe des eigenen Willens an den seinen und eben darin die bedingungslose Zuwendung zum Nächsten. Willfährt der Mensch dem Anspruch des andern im Bewußtsein des Gehorsams gegen Gott, so steht er in dem Leben, in dem er den Willen Gottes an sich geschehen läßt und so in ein Leben tritt, in dem er sich von Gott getragen wissen darf. Beziehen sich Hingabe an den Nächsten und Hingabe an Gott so aufeinander und interpretieren sie sich gegenseitig in der Weise, in der wir es in unserem Text vor uns haben, so enthält das Liebesgebot tatsächlich die Forderung, ein Leben zu leben, das der Mensch nicht aus sich selbst lebt, sondern nur in der Hingabe an den Willen Gottes empfangen kann. Anders gesagt: indem Luther das Liebesgebot als Forderung des Gottes interpretiert, 93

530, 1 1 ; s. u. S. 279.

262

I nhalt und Erfüllung des Gesetzes (1519)

den er aus dem Evangelium kennt, schließt es für ihn notwendig die Forderung des Glaubens ein. Es umschreibt die dem Nächsten zugewandte Seite der Rechtfertigung und ist damit eine Auslegung des Evangeliums. 2. Die Einordnung der übrigen Gesetzesforderungen in das Liebesgebot a) Luthers Auslegung zu Gal. 5, 2/. Für Luther ist das Liebesgebot zugleich von Gott dem Menschen ins Herz geschriebene lex naturae wie Forderung des Lebens im Glauben — damit wird es ihm zur umfassenden Äußerung des göttlichen Willens, dem alle übrigen Gesetzesforderungen zugeordnet werden müssen. Die Einordnung des Dekalogs und weiterer moralischer Gebote in das Liebesgebot macht keine Schwierigkeiten, eine grundsätzliche Besinnung erfordert jedoch die Zuordnung rein religiöser Gebote, d. h. in unserem Falle: des Zeremonialgesetzes. Die scholastische Theologie beantwortet diese Frage, indem sie die Zeremonialgebote allegorisch versteht und ihnen damit einen moralischen Sinn verleiht — das Gebot der Beschneidung fordert die Beschneidung des Herzens, usf. — , auf diese Weise können sie ohne weiteres in den Inhalt des Liebesgebotes einbezogen werden94. Allein in dieser Form haben die Zeremonialgebote noch Gültigkeit für den Christen. Als buchstäbliche Vorschriften sind sie durch Christus überholt und abgetan. Selbstverständlich vertritt auch Luther die Meinung, daß für den Christen die jüdischen Zeremonialgesetze aufgehoben sind. Die Juden waren verpflichtet, ihnen bis zum Erscheinen Christi 94

Petrus Lombardus, Sent. 1. 3 d. 36 c. 3, 254: Cum duo sint prae-

cepta caritatis, in q u i b u s . . . ,tota L e x pendet et Prophetae', advertendum est, quomodo hoc sit, cum in Lege et Prophetis multa fuerint caeremonialia mandata, quae, si ad caritatis sanctificationem pertinuissent, viderentur nondum debere cessare. Quia vero non iustificationis gratia, quam facit Caritas, instituta sunt, sed in figura futuri et in onus imposita; ideo clarescente veritate, cessaverunt velut umbra. Verumtamen et ipsa caeremonialia secundum spiritualem intellectum, quem continent, et omnia moralia ad caritatem referuntur.

Die Einordnung d. übrigen Gesetzesforderungen i. d. Liebesgebot

263

zu dienen, denn bis zu Christus galten die Verheißung Abrahams und das Gesetz Moses. Die Ankunft Christi aber bedeutet das Ende von Gesetz und Verheißung: certe simul finita est promissio et pactum promissionis cum signaculo suo95. So selbstverständlich jedoch für Luther die abrogatio dieser Gesetzesinhalte ist, als Antwort auf die grundsätzliche Frage nach der Verbindlichkeit und Unverbindlichkeit des Zeremonialgesetzes reicht sie nicht aus. Das Zeremonialgesetz ist für ihn von dem Gesetz als ganzem nicht zu trennen, vor der Frage nach der theologischen Bedeutung des Gesetzes wird jede inhaltliche Differenzierung gleichgültig. Post Christum igitur Circumcisio nihil est, neutra tarnen et licita . . quanquam nec ante Christum aliquid erant, quando sine interiore iusticia fiebant . . . Sed et opera decalogi extra gratiam erant et sunt finienda, ut succedant vera opera illius in spiritu96. Das Durchstoßen von der Erörterung über das Zeremonialgebot zur Frage des ganzen Gesetzes ist besonders klar zu sehen in Luthers Auslegung zu Gal. 5, 2f. 97 , wo Paulus ausdrücklich die Frage nach dem Verhältnis von Beschneidung, ganzem Gesetz und Glauben aufwirft: »Ecce ego Paulus dico vobis, quoniam, si circumcidamini, Christus vobis nihil proderit. Testificor autem rursus omni homini circumcidenti se, quoniam debitor est universae legis faciendae.« Auf Grund des Gegensatzes von Beschneidung und Christus steht es Luther von vornherein fest, daß Paulus sich nur aus pädagogischen Gründen auf die Beschneidung beschränkt hat, da die Frage nach dem Gesetz an Hand dieses Beispiels am leichtesten zu entwickeln sei — in operibus ceremonialibus facilius est cognoscere f alsam iustitiae fiduciam quam in operibus moralibus decalogi98. Paulus hebt nur das offensichtlichste Gesetzeswerk heraus, um an ihm das ganze Problem des Gesetzes zu erörtern. Selbst dort also, wo der Text jede Beschränkung auf das Zeremonialgesetz unterstützt, schlägt Luther sofort die Brücke zum Gesetz als ganzem. Von hier aus entwickelt er dann das Verhältnis von Gesetz und Glauben in uns bereits bekannten Gedankengängen. Jeder 85

566, i4f.

88

566, 15ff.

87

561 ff.

98

561, 14ff.

264

Inhalt und Erfüllung des Gesetzes (1519)

Versuch, von sich aus dem Gesetz Genüge zu tun, führt in die Verzweiflung oder zur Werkerei, beides ist in gleichem Maße unfromm. Die einzige Gesetzeserfüllung ist der Glaube (credere purissimum!)99. Der Weg zur Gesetzeserfüllung ist daher die Verzweiflung an sich selbst100, die zum Glauben an Christus führt, der Glaube ist die Erfüllung aller Gesetze propter Christum impletorem, der dann im Glaubenden lebt und handelt 101 . Für den Glaubenden gilt es, von allen eigenen Werken zu feiern und Christus in sich wirken zu lassen102. Diese Verhältnisbestimmung von Glaube und Werken ist für Luther ein fester, in sich abgeschlossener Zusammenhang, von dem aus alle Ausführungen des Paulus zu Einzelfragen verstanden werden müssen: Impossibile est, legem impleri sine Christo . . ., hoc enim pro constanti hypothesi Apostolus habet 103 , und kurz darauf noch einmal: Apostolus ex hypothesi sua loquitur104. Von diesem Verständnis her lösen sich für Luther auch zwei scheinbare Einwände gegen den Text. E i n m a l scheint Rm. 2, 25 »die Beschneidung ist wohl nütz, wenn du das Gesetz hältst« dem eben entwickelten Gedankengang offensichtlich zu widersprechen106. Von der theologischen Grundthese des Paulus her bietet sich jedoch ein Weg zur Lösung an, ohne daß es der exegetischen Mühen des Hieronymus bedürfte: das Gesetz kann nur der erfüllen, der Christus im Glauben hält und ihm als dem Erfüller des Gesetzes dient, dem Glaubenden aber dient nach Rm. 8, 28 alles zum Besten. So hängt das prodesse, das der Beschneidung zugeschrieben wird, am Glauben, in dem sie geschieht, und nicht an ihr selbst. Sie selbst steht dem Glaubenden frei und ist für ihn gleichgültig. So gleichgültig, daß Luther das prodesse ebensogut mit nihil nocere wiedergeben kann, ohne den Sinn zu verschieben106. Alles hängt ihm an Christus, über den hinaus es für den Glaubenden keinen »Nutzen« gibt, so daß jedes prodesse gefaßt werden kann als ein Nichtantasten und Nichtanfechten des in Christus bereits empfangenen Heiles. Und zum andern: wie kann Paulus behaupten, daß der, der sich beschneidet, zum Schuldner des »» 561, 37 103 561, 23f.

100 104

562, 8 563, 23f.

101 106

563, 35f. 561, 20ff.

"a 564, 22 f. ι«® 561, 30f.

Die Einordnung d. übrigen Gesetzesforderungen i. d. Liebesgebot

265

ganzen Gesetzes wird ? Dient er nicht gerade dem Gesetz, zum mindesten der lex circumcisionis 107 ? Auch hier muß wieder vom theologischen Grundgedanken des Apostels her gedacht werden. Die Gesetzeserfüllung ist nur dem Glauben möglich, jedes äußere Werk kann also nur dann als Erfüllung angesehen werden, wenn es aus einem glaubenden Herzen heraus getan wird. D a die Beschneidung in der paulinischen Sprache der Inbegriff der Gesetzeserfüllung ohne Glauben ist, gilt nach Jak. 2, 10, daß der, dem an einer Stelle in seinem Verhältnis zum Gesetz der Glaube mangelt, dem ganzen Gesetz von neuem anheimgefallen ist. So ist die Aussage des Apostels — daß der Beschnittene zum Schuldner des ganzen Gesetzes geworden sei — , die auf der Annahme beruht, daß die Beschneidung als solche keine Erfüllung sein kann, sachgemäß, gemessen an seinen eigenen theologischen Voraussetzungen. Luther schließt seine Erörterung ab: Recte ergo dicit »qui se circumcidit sine fide . . . universae autem legi adhuc debet« 108 . 107

563, 20 f. 563, 37ff. Ein Vergleich, der Auslegung Luthers mit der des Hieronymus läßt die verschiedene Konzeption bei fast gleicher Begrifflichkeit beispielhaft erkennen. Die Auseinandersetzung über Glaube und Beschneidung zu Gal. 5, 2 f. zielt für Luther nicht auf eine Diskussion über äußerliche Werke, sondern auf die Frage der opinio legis, der interior conscientia (zu diesem Begriff vgl. Hirsch, Lutherstudien, Bd. i, S. 127 Anm. 7; S. 141): hoc verbum .circumcidamini' non tarn opus externum quam internum votum opens exprimere: in spiritu enim loquitur Apostolus de interiore conscientia (562, 28f.). Formal könnte Luther sich hier auf Hieronymus berufen, der anstatt der bloßen circumcisio carnis, die nichts nutzt, nach Hes. 44, 9 die circumcisio cordis fordert (MSL 26, Sp. 422, 479 C) — doch für diesen bedeutet die erforderliche circumcisio cordis die Vergeistigung der Gesetzesforderung, für Luther die Befreiung vom Gesetz überhaupt. Der Gegensatz zum Handeln im Glauben liegt für ihn nicht in der Äußerlichkeit des Werkes, sondern in der Bindung des Gewissens in die Gesetzlichkeit; setzt Paulus dem Glauben die äußere Beschneidung entgegen, so muß diese in spiritu verstanden werden, er spricht von der Beschneidung, die nicht äußerlich, sondern zugleich als Gesetzeswerk in der interior conscientia geschieht. Die scheinbar mit Hieronymus übereinstimmende Begrifflichkeit läßt einen anderen Inhalt erkennen: der Begriff der circumcisio cordis, die gefordert ist, bezeichnet für Luther den von keinem Gesetz gebundenen Glauben; die Vergeistigung der Beschneidung, die circumcisio cordis des Hieronymus, ist für Luther die Beschneidung in spiritu bzw. in interiore conscientia, die Bin108

266

Inhalt und Erfüllung des Gesetzes (1519)

b) Luthers Auslegung zu Gal. 2, 3—5 Außer in der Auslegung zu Gal. 5, 2 f. zeigt sich Luthers Ineinandersehen der Frage der Beschneidung mit der des ganzen Gesetzes deutlich in seinem Verständnis des paulinischen Berichtes über den Aufenthalt des Apostels mit Titus in Jerusalem: Titus wurde nicht zur Beschneidung gezwungen, die Wahrheit des Evangeliums blieb gewahrt (Gal. 2, 3—5). Luthers Exegese ist hier in hohem Maße von seiner Auseinandersetzung mit Hieronymus bestimmt. Bei Hieronymus selbst findet sich zu unserem Zusammenhang keine grundlegende Äußerung, erkennbar wird seine Auffassung erst in seiner Auslegung der Verse 7—9. Die zusammenfassende Wiedergabe seiner Position hat Luther offenbar Lyras Ausführungen zu Gal. 2, 14 entnommen, der selbst im einzelnen keine Fundstelle angibt. Nach Lyra unterscheidet Hieronymus die Verbindlichkeit der Zeremonialgesetze vor und nach Christus: ante passionem Christi hatten sie entsühnende Kraft, post passionem sind sie todbringend, jeder Christ, der sie hält, begeht eine Todsünde. Eine dritte Möglichkeit ist grundsätzlich nicht gegeben; wird trotzdem in den judenchristlichen Gemeinden an Zeremonien festgehalten, so handelt es sich um ein Übergangsstadium, Hieronymus spricht später von denen, die adhuc legem observandam putabant 109 . Er beantwortet damit die Frage nach der Notwendigkeit der Beschneidung und damit allgemein der Zeremonialgesetze mit dem Hinweis auf den von Christus abgetanen Inhalt dieser Gebote. Gegen diesen Ansatz wendet sich Luther, denn: Tota vis huius controversiae consistit non in operibus legis, quaecunque ilia sint, sed in necessitate et libertate operum legis 110 . Weil Hieronymus diesen Ausgangspunkt mißversteht, muß er sich mit einer Unterscheidung im Inhalt des Gesetzes helfen und die lex als legalia interpretieren, die er nun ganz allgemein durch Christus abgetan sein lassen kann, da sie den alttestamentlichen dung des Gewissens in die Gesetzlichkeit, und damit der schärfste Gegensatz zum Glauben. Das äußere Werk, für Hieronymus die Antithese zur circumcisio cordis, ist für Luther indifferent. 109 110 M S L 26, Sp. 363, 406 C; zu Gal. 1, 1 1 . 477, 29 f.

Die Einordnung d. übrigen Gesetzesforderungen i. d. Liebesgebot

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Zeremonialgesetzen entsprechen. Die Frage nach dem Zeremonialgesetz läßt sich für Luther von der Frage nach dem Gesetz als ganzem nicht trennen, durch das Evangelium ist die Gesetzesordnung im Gottesverhältnis aufgehoben, bestimmend wird allein der Glaube an Christus 111 . Die damit gegebene Freiheit vom Gesetz ist für Luther jedoch echte Freiheit, d. h. sie besteht nicht in einem Verbot der Gesetzeswerke, auch nicht der des Zeremonialgesetzes — damit wäre nur eine neue, umgekehrte Gesetzlichkeit gegeben —, sondern sie ermächtigt den Menschen, die Zeremonien zu halten oder nicht, wenn er sie nur aus dem Gottesverhältnis ausschließt. Als Beispiel dient Luther Paulus, der den Juden ein Jude — quasi sub lege essem, cum ipse non essem sub lege —, den Griechen ein Grieche war — tanquam sine lege essem — (i. Kor. 9, 2of.) 112 . Die abrogatio legis besteht nicht darin, daß die Gebote nicht mehr getan werden dürfen, sondern darin, daß ihre Erfüllung für das Verhältnis zu Gott bedeutungslos geworden ist 113 . Sie sind Adiaphora, ob es richtig oder falsch ist, sie zu halten, entscheidet sich nicht an ihrem Inhalt, sondern an dem, der sie tut. Deshalb konzentriert sich Luthers Exegese auf die Begriffe compulsus est, libertas, servitus, subiectio114, Begriffe, die nicht das materiale Gebot, sondern die Verhältnisordnung von Mensch und Gott betreffen. Nicht die Beschneidung ist schlecht, sondern der Zwang zur Beschneidung, darum Hegt der Akzent des Textes nicht darauf, daß Titus nicht beschnitten wurde, sondern daß die Jerusalemer Christen ihn nicht zwangen, sich beschneiden zu lassen 116 . 111 113

112

478, 1 1 f. :

478, 6f.

477. 3 ° ff· Non enim opera legis et lex ipsa sic sunt mortificata et finita per Christum, ut ea nullo modo liceat operari.... Sed tantum ut absque eis salus esse credatur per solum Christum... 478, 30 f. 115 In der Tradition legt allein Augustin nach dieser Richtung hin aus, er legt als einziger den Ton auf das compulsum esse und formuliert ähnlich wie an späterer Stelle Luther: Non enim tali circumcisione salutem docebat auferri sed si in ea constitueretur spes salutis, hoc esse contra salutem ostendebat (MSL 35, Sp. 2 1 1 1 , 1 1 ) . Doch an die Stelle der Heilsnotwendigkeit der Beschneidung tritt bei ihm — nach 1. Kor. 7, 19 —· die Heilsnotwendigkeit der observatio mandatorum dei. Zum rechten Verständnis muß Augustins Konzeption von spiritus und litera herangezogen werden, er setzt der äußeren Beschneidung nicht wie Hieronymus

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Inhalt und Erfüllung des Gesetzes (1519)

In dieser Indifferenz der Riten und Gebräuche liegt für Luther die Möglichkeit, auch das Zeremonialgesetz dem Liebesgebot einzuordnen. Wenn die Scholastik mit Hieronymus hier, wo es um die bleibende Verbindlichkeit auch für den Christen geht, die allegorische Deutung zu Hilfe nimmt, wird der gesetzliche Rahmen des Gottesverhältnisses im Grunde nicht gesprengt. Luther erhält durch sein wörtliches Verständnis der Zeremonialgebote und ihre theologische Gleichsetzung mit dem ganzen, durch Christus überwundenen Gesetz die Möglichkeit, sie nun durch ihre Bindung an das Liebesgebot in der gleichen ungesetzlichen Weise für den Christen verpflichtend machen zu können wie jedes andere Gesetz. Da die Rücksicht auf das Gottesverhältnis wegfallen kann, kann die Liebe zum Nächsten zum einzigen Beweggrund des Handelns werden. Was um des Nächsten willen geschieht, ist gut, gleichgültig, ob es sich um ein Erfüllen oder ein Nichtbeachten des Zeremonialgesetzes handelt. Wenn die Rücksicht auf den Nächsten die Beschneidung erfordert, so gilt: iam non modo sine pericolo, immo cum multo merito circumcideris119. Beides kann dem Glaubenden von der Liebe her geboten sein. Luthers Exegese ist selbst der beste Beweis, wie gleichwertig ihm beide Entscheidungen sind, die beide die christliche Freiheit zum Ausdruck bringen: er antwortet in seiner Auslegung gleichzeitig auf die Auslegung des Hieronymus, der die Zeremonialgesetze in diesem Zusammenhang, der nicht ausdrücklich der Frage nach ihrer Zugehörigkeit zum Liebesgebot gilt, überhaupt mit dem Verdikt belegt, wie auf die Haltung des Klerus seiner Zeit, der sich auf Grund seiner Teilhabe an Meß- und anderen Zeremonien ein geistliches Vorrecht über andere anmaßt 117 . Später, bei der Exegese des Apostelstreites, wird das Bild von die Vergeistigung des Zeremonialgesetzes entgegen, sondern die geistgewirkte Erfüllung der Gebote. Doch da dieser Erfüllung, auch wenn sie vom Geist gewirkt ist, der Charakter der Heilsnotwendigkeit zugesprochen wird, trifft auch Augustin — obwohl er tiefer vorstößt als Hieronymus — hier die Frage nach der heilsnotwendigen Funktion des Gesetzes, um die es Luther hier geht, letztlich nicht. Auch bei Luthers Exegese des Apostelstreits liegt ihm alles am Begriff des cogere; dazu s. u. S. 292. 118 478, 20 f. 117 479, 10 ff.

Die Einordnung d. übrigen Gesetzesforderungen i. d. Liebesgebot

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dem Ubergewicht, das die kirchlichen rituellen Vorschriften in Luthers Gegenwart praktisch über das Liebesgebot haben, noch verdeutlicht durch den Hinweis auf die Unfreiheit des einzelnen Christen, um der brüderlichen Liebe willen Vorschriften oder Statuten zu übergehen, ohne sich dafür eigens Ablaß oder Dispens eingeholt zu haben 118 . So hätte es aus Luthers gegenwärtiger Situation heraus nahegelegen, mit dem Text selbst den Akzent darauf zu legen, daß der Christ wie Paulus und Titus die Freiheit habe, kirchliche Riten unerfüllt zu lassen. Gegen Hieronymus jedoch muß an der Freiheit zur Erfüllung festgehalten werden, und Luther ist an unserer Stelle so in der Auseinandersetzung mit ihm begriffen und im Blick auf seine Gegenwart durch den ganzen Kommentar hindurch immer wieder so besorgt um die Einheit der Kirche, daß dies zweite, obwohl es dem Akzent des Textes nicht entspricht, in seiner Auslegung den Hauptton enthält: er betont, daß die Weigerung des Paulus, Titus zu beschneiden, nicht dem Haß oder der Verachtung von Gesetz und Gesetzeswerken entspringe 119 , daß die Beschneidung kein malum, sondern, wenn sie dem Bruder zuliebe geschieht, sogar ein meritum ist 120 , daß es, obwohl das Gesetz nicht heilsnotwendig ist, um der Liebe willen erlaubt sei, das Gesetz zu halten —- legem operari, sed non ut legem121. Ähnlich sind Luthers Ausführungen in seiner Exegese des Liebesgebotes selbst, in der er die Frage nach dem Verhältnis von Liebesgebot und Zeremonialgesetzen ausdrücklich stellt. Auch hier liegt der Ton darauf, daß dem Glaubenden, der vom Gesetz frei ist, um der Liebe willen das Halten aller Gesetze erlaubt sei: das Liebesgebot verpflichtet dazu, den Frieden zu wahren, Schismen und Spaltungen dürfen nicht um sich greifen: ita serviendum est legibus imperialibus, pontificiis, municipalibus, politicis ac provincialibus, solum ne eos, ut Christus ait, scandalisemus et charitatem et pacem laedamus122. 118

119 120 121 487, 4 ff. 477, 15 f. 478, 21 ff. 479,21. 582, 9 f.; vgl. auch weiter unten Zeile 24 ff. Die Sorge um die Einheit der Kirche zieht sich durch den ganzen Kommentar hindurch. Es ist ergreifend, zu sehen, mit welcher Entschiedenheit Luther noch 1519 die Abspaltung der Böhmen von der Römischen Kirche verurteilt und sich 122

270

Inhalt und Erfüllung des Gesetzes (1519)

Die angeführten Beispiele genügen, um zu zeigen, daß Luther in der T a t alle Gesetze in den Dienst des Liebesgebotes stellt. E s gibt für ihn keine Forderung, die nicht im Liebesgebot beschlossen wäre: sunt plane omnia summa in isto brevissimo praecepto, ut verissime sit summa, caput, perfectio, finis omnium legum 1 2 3 .

III. D I E E R F Ü L L U N G DES G E S E T Z E S i . Die Diskrepanz zwischen Forderung und Erfüllung des Gesetzes a) Luthers Unterscheidung von facere opera legis und facere ea quae scripta sunt Ist die Liebe die summa des Gesetzes, so ist sie doch nicht ohne weiteres dessen Erfüllung. Das lateinische impletur — Omnis enim lex in uno sermone hoc impletur: Diliges proximum tuum sicut teipsum (Gal. 5, 14) — wird von Luther in Anlehnung an Hieronymus vom griechischen T e x t her (άνακεφαλαιοϋται) als gleichbedeutend mit instauratur, capitulatur, summatur verstanden 1 2 4 . Die Erfüllung des Gesetzes aber selbst von jeder ähnlichen Absicht distanziert. Zu Gal. 6,2 — alter alterius onera portate.. — führt er aus: Ecclesia enim tunc semper fuit optima, quando agebat inter pessimos... Consequens est, quod Boemorum discidium a Rhomana ecclesia nulla possit excusatione defendi, quia sit impium et Christi omnibus legibus contrarium, quia contra charitatem, in qua omnes leges summantur, perstat. Nam hoc, quod unice allegant, sese timore dei et conscientiae defecisse, ne inter malos sacerdotes et pontifices viverent, hoc eos maxime omnium accusat... Itaque claret, totam Boemicae istius charitatis gloriam esse meram speciem et lucem, in quam se angelus Satanae transfigurat. Luther selbst weiß sich in seiner Stellung zur Römischen Kirche dem Liebesgebot verpflichtet: Nunquid et nos, qui ferimus onera et vere importabilia monstra Rhomanae curiae ideo fugimus et discedimus ? Absit, absit. Reprehendimus quidem, detestamur, oramus, monemus, sed non scindimus ob hoc unitatem spiritus, non inflamur adversus eam, scientes, quod Charitas super omnia eminet, non tantum super rerum corporalium damna, sed etiam super omnia monstra peccatorum: ficta Charitas est, quae non nisi commoda alterius ferre 123 124 potest (605, 6ff.). 578, 9 f . 575, 35.

Die Diskrepanz zwischen Forderung und Erfüllung des Gesetzes

271

geschieht nicht durch die Errichtung eines neuen Gebotes, auch nicht durch das Liebesgebot, sondern die Erfüllung verlangt den Durchstoß vom verbum zur res: s u m m a t u r ergo hoc verbo omnis lex, sed gratia impletur 1 2 6 . Das Liebesgebot ist dem Menschen nicht erfüllbar, schon die Tatsache des Gebotes weist darauf hin, daß der Mensch der Gnade bedarf. Wenn der Mensch die nach Luthers Interpretation richtige Selbstliebe hätte, in der er in den gleichen Liebesakt, mit dem er sich selbst liebt, den Nächsten einbezieht, so brauchte er die Gnade nicht126. Gnade ist hier deutlich verstanden als Hilfe zur Erfüllung des Gesetzes. Es ergibt sich der Tatbestand, daß das Gesetz jedem Menschen ins Herz geschrieben ist, daß die Erfüllung seiner Forderung jedoch den Empfang der Gnade voraussetzt. Wir stoßen hier erneut auf die bereits oben angedeutete Beobachtung 127 , daß das Liebesgebot für Luther nicht nur ein bestimmtes Ethos verlangt, sondern daß es auf eine andere Erfüllung hinzielt, als seine Forderung auf den ersten Blick erkennen läßt. Diesem Verhältnis von Forderung und Erfüllung des Gesetzes bei Luther müssen wir noch einmal genauer nachgehen. Daß die Gnade die Erfüllung des Gesetzes ist, weiß die Theologie vor Luther auch. Wir greifen den Auslegungsabschnitt zu Gal. 3, io—13 heraus, in dem wir die deutlichsten Äußerungen Luthers zu unserer Frage finden. In seiner Auslegung zu Gal. 3, 10 haben wir eine aufschlußreiche Abweichung von der traditionellen Exegese vor uns. »Quicunque enim ex operibus legis sunt, sub maledicto sunt. Scriptum est enim: Maledictus omnis, qui non permanserit in omnibus, quae scripta sunt in libro legis, ut faciat ea«. (Gal. 3, 10; zit. 5. Mose 27, 26). Für den Ambrosiaster, die Glossa interlinearis und Lyra enthält die Wendung ex operibus legis esse die Unvollkommenheit der Gesetzeserfüllung, sie erhält also ihre Deutung aus dem folgenden Deuteronomiumzitat: Wer aus dem Gesetz lebt, untersteht dem Fluch, weil er das Gesetz nicht wirklich erfüllen kann. Paulus und Mose sagen das gleiche, Mose droht: Verflucht ist, wer nicht allem Folge leistet, was im Gesetz geschrieben steht, d. h. was das 125

576, 4 f.

128

580, 37ff.

127

s. o. S. 258.

Inhalt und Erfüllung des Gesetzes (1519)

272

Gesetz verlangt — Paulus weiß, daß sich dieser Drohung keiner entziehen kann, und gewinnt daraus die Konsequenz: Verflucht ist deshalb, wer durch seine Gesetzeserfüllung gerecht sein zu können meint. Der selbstverständlich eingeschlossene Zwischengedanke, daß es unmöglich ist, das Gesetz zu erfüllen, wird mit Ac. 15, 10 begründet, wo Petrus vom Joch des Gesetzes spricht, das »weder unsere Väter noch wir« tragen konnten. Der Grund dafür, daß der Mensch das Gesetz nicht durch die gebotenen Werke erfüllen kann, liegt in seiner Sündhaftigkeit, deshalb muß ihm die Gnade zu der geforderten Erfüllung verhelfen. Interpretiert werden muß im Grunde nur die Wendung ex operibus legis esse, es heißt das gleiche wie non permanere in omnibus quae scripta sunt, das ea quae scripta sunt meint selbstverständlich die Forderung des Gesetzes. Die Aussage des Paulus stimmt dann mit Mose überein, leitend für die Deutung ist das klar verständliche alttestamentliche Zitat. Luthers Exegese wird geleitet von seinem Verständnis des Pauluswortes, das er aus dem Gesamtzusammenhang der paulinischen Theologie erklärt128. Von dort her kommt er zur Deutung des von Paulus zur Bestätigung seiner Ansicht verwandten Mosezitates. E x operibus legis esse enthält für ihn nicht die unvollkommene Gesetzeserfüllung, sondern die falsche, die meint, durch das Gesetz vor Gott gerecht werden zu können. Paulus weist also gerade hin auf geleistete Werke! Aus dieser falschen Haltung heraus — extra fidem sunt! — sind es zwar Werke des Gesetzes, aber damit ist das Gesetz nicht erfüllt: operantur quidem opera legis, sed legem non implent. Opera enim legis simulata opera sunt129. Alles scheinbar so gerechte Tun ist Heuchelei, denn ohne Gnade kann der Mensch weder das Herz noch den Leib reinigen. Auch das gerechte Tun des Unreinen ist unrein. Der Fluch trifft nach Paulus nicht nur die, die die Werke des Gesetzes nur unvollständig tun, sondern die, die durch das Tun der Werke die Gerechtigkeit vor Gott zu erlangen meinen. Von hier aus emp128 129

5 J 3· 29ff-

5 1 3 , 29ff.; vgl. auch Luthers Verwendung von Mt. 13, 1 3 : operantes opera legis non implent legem et facientes non faciunt, sicut audientes non audire et videntes non videre Christus dixit (514, 2 ff.).

Die Diskrepanz zwischen Forderung und Erfüllung des Gesetzes

273

fängt das Mosewort seine Deutung. Das Bleiben in dem, was geschrieben ist, das allein den Menschen dem Fluch entziehen kann, ist nicht die Forderung des Gesetzes, sondern die Erlösung durch Christus, der uns vom Fluch des Gesetzes befreit hat. So kommt Luther zu der Unterscheidung des paulinischen facere opera legis und des mosaischen facere ea quae scripta sunt 130 : das eine umfaßt die vermeintliche Erfüllung des Gesetzes durch Werke (simulare impletionem!), das andere die wirkliche Erfüllung, das aber heißt den Glauben an Christus. Luther ist sich bewußt, damit eine neue Exegese des Textes zu versuchen, er überläßt das Urteil dem Leser und setzt ein fortasse davor 131 . Nicht Paulus wird nach Mose interpretiert, sondern Mose wird zum Kronzeugen der paulinischen Theologie: Omnino tropus est Pauli, ut dixi, eos qui operantur opera legis non facere quae scripta sunt in lege, in qua nimirum fides scribitur. Haec sola facit omnia legis 132 . Die Erfüllung des Gesetzes, das die verschiedensten Forderungen umschließt und im Liebesgebot gipfelt, ist der Glaube.

b) Das Verhältnis von intentio legis und gratia133 Mit der Deutung des Mosezitates auf »Christus, der uns vom Fluch des Gesetzes erlöst hat« greift Luther voraus auf die Formulierung von V. 1 3 , der für ihn der Skopus des Textzusammenhanges ist 134 und daher in Luthers Auslegung sowohl die Interpretation der vorangehenden Verse bestimmt als auch dann in seiner Exegese selbst durch die Problemlage des voraufgegangenen Textes bestimmt wird. (Die Verse 1 1 und 1 2 dienen Luther zur Erläuterung der zu V. 10 aufgestellten These, daß der Mensch nur aus dem Glauben vor Gott gerecht wird) 135 . 132 131 514. 25· 28. »«· 514, 25ff· 514. 34ff· 183 Ygi Q 224ff., wo der gleiche Problemkreis — an Hand von Luthers Auslegung zu Gal. 3, 19 ff. — unter dem Gesichtspunkt der Anfechtbarkeit des Glaubens zur Sprache kommt. 134 Beachte das »quod statim dicet« (514, 16)! 134 Anm. s. u. S. 396 f.

18

Bornkamm, Galaterbrief

274

Inhalt und Erfüllung des Gesetzes (1519)

Zu Gal. 3 , 1 3 erfolgt dann die eigentliche Auseinandersetzung init der Tradition, diesmal nicht der exegetischen, sondern der systematischen. Hier ist eine viel präzisere Abgrenzung und Auseinandersetzung möglich als gegenüber den allgemeinen, dehnbaren Formulierungen der Exegeten, die die paulinische Ablehnung der Gesetzesgerechtigkeit durch die Berufung auf Ac. 15, 10 erläutern — weder unsere Väter noch wir konnten das Joch des Gesetzes tragen —, eine Stelle, die praktisch jede Interpretation offen läßt, gerade auch in dem Sinne, daß der sich bemühende Mensch durch die Gnade unterstützt wird. »Christus nos redemit de maledicto legis, factus pro nobis maledictum (quia scriptum est: Maledictus omnis, qui pendet in ligno), ut in gentibus benedictio Abrahae fieret in Christo Jesu, ut pollicitationem spiritus accipiamus per fidem« (Gal. 3, 13). Luther wendet sich mit scharfer Ironie gegen die, »die weder unter dem Fluch des Gesetzes stehen noch Christus als Erlöser brauchen«136, d. h. gegen die, die den Unterschied der Verstöße contra legem und contra intentionem legis lehren, gemäß dem Satz: »Contra legem agens peccat, sed contra intentionem legis non peccat, tantum a bono deficit«, eine Unterscheidung, die, positiv gewendet, hinausläuft auf ein implere secundum substantiam facti oder aber secundum intentionem praecipientis: das Gesetz fordert die vorgeschriebenen Werke, die Intention des Gesetzes richtet sich auf die Liebe; wer die Werke nicht tut, sündigt, wer aber die Liebe nicht hat, sündigt nicht im strengen Sinn, sondern er weicht nur noch vom Guten ab. Diese Differenzierung im Verständnis der Sünde und der Erfüllung des Gesetzes muß gesehen werden auf dem Hintergrund der franziskanischen Lehre vom meritum de congruo und de condigno. Das meritum de congruo wird verdient durch das facere, quod in se est, d. h. per liberum arbitrium ex suis naturalibus 137 ; es führt zur Rechtfertigung, in der die Schuld ausgetrieben (expulsio culpae) und die Gnade eingeflößt wird; der so 138

516, gff. Biel in sent. 1. 2 dist. 28k; zit. b. Holl, Ges. Aufs., Bd. 1, S. 1 7 3 Anm. 4. Zum Ganzen vgl. Holl, a. a. O., S. 161 ff., bes. S. 1 7 3 I ; Seeberg, Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd. 3, S. 767f., 7 8 j f . ; Scheel, Martin Luther, Bd. 2, S. 453f., 165, I 7 2 f . ; und die entsprechenden Zitate. 187

Die Diskrepanz zwischen Forderung und Erfüllung des Gesetzes

275

mit der Gnade ausgestattete Mensch vermag nun das meritum de condigno zu verdienen, d. h. die Seligkeit zu erlangen. Durch die eingeflößte Gnade wird die bloße observantia zur observantia formata. Diese Formation geschieht durch die Mitteilung der Charitas, durch die nun auch die Intention des Gesetzes erfüllt ist. Der Satz, daß die Liebe die Erfüllung des Gesetzes ist, muß gesehen werden im Zusammenhang mit der Frage nach der Möglichkeit, das ewige Leben zu erlangen, die intentio legis, die auf die Charitas abzielt, ist eben damit die intentio praecipientis, que est consecutio salutis nostre138. So heißt es bei Biel unter Aufnahme der Frage des reichen Jünglings (Mt. 19, 17): si quis voluerit ingredi ad vitam eternam, necesse est, ut servet mandata ex charitate, quia necesse est, ut servet mandata meritorie et per c o n s e q u e n s e x charitate 139 . Damit ist die Gnade in das gesetzüche Schema von Leistung und Lohn eingeordnet. Jeder, auch der durch die Gnade gewirkten Handlung entspricht eine mit der Verheißung des Lohnes gekoppelte Forderung des Gesetzes. Gegen diese Einordnung richtet sich Luthers Angriff. Gesetz und Gnade dürfen nicht miteinander vermischt werden: Non est . . . intentio legis, ut in gratia servetur, tanquam sit gratia exactio quaedam, Sed intendit lex, ut servetur140. Zweierlei ist in dieser Aussage enthalten: das Zurückweisen jeder Abstufung der Gesetzesforderung und das Betonen der völligen Freiheit der Gnade von der Ordnung des Verhältnisses zwischen Gott und Mensch, die im Gesetz gegeben ist. Intendit lex ut servetur: das Gesetz fordert Erfüllung, ohne besondere Gnadenhilfe, und zwar völlige Erfüllung, äußere im Vermeiden der bösen und im Tun der guten Werke und innere in der Reinheit des Herzens von den Regungen des Zorns, des Begehrens, der Unfrömmigkeit usw. Damit bringt das Gesetz den Menschen zum Scheitern und zum Verlangen der Gnade. Hier aber greift die andere Aussage Luthers ein: Non est intentio legis, ut in gratia servetur, tanquam sit gratia exactio quaedam. 138

Biel, ib. Biel in sent. 1. 3 dist. 37qu. unica Ρ a. 3 dub. ι ; zit. b. Holl, a. a. O., S. 174 Anm. 1. 140 516, igf. Zum Begriff exactio vgl. auch 49g, 8f. 139

18*

276

Inhalt und Erfüllung des Gesetzes (1519)

In diesem Satz tut Luther den entscheidenden Schritt, hier geht es nicht mehr nur um die Höhe der Forderung, auf Grund deren das Gesetz nicht Heilsweg sein kann, sodaß der Mensch der Gnadenhilfe bedarf, sondern es geht um die Konzeption des Gesetzes überhaupt: das Gesetz soll nicht Heilsweg sein. Gesetz und Gnade sind aufs strengste zu scheiden, die Mitteilung der Gnade darf nicht einfach als ein in der ganzen Konzeption bereits vorgesehener Bestandteil — und sei er die Krönung des Ganzen! — in das vom Gesetz vorgegebene Schema eingefügt werden. Wo das geschieht, wird die Gnade zum Mittel, auf das der Mensch angewiesen ist, um das Heil zu erwerben, sie hat keinen Selbstzweck, sondern sie ist die unumgängliche Station auf dem Wege, die Seligkeit zu erlangen141. Gesetz und Gnade liegen dann im Grunde auf einer Linie. Diesem Bild steht Luthers Zusammenordnung von Gesetz und Gnade entgegen. Wohl führt das Gesetz zum gratiam quaerere, doch nicht so, daß die Gnade verstanden ist als Hilfe zur Ausführung der im Gesetz enthaltenen Forderungen und so letztlich dem Gesetz untergeordnet wird. Die Mitteilung der Gnade entspricht nicht einfach dem Wesen des Gesetzes, sondern dies zielt allein ab auf ein servari, ohne Hilfe durch die Gnade. Diese selbst ist etwas Neues, im Gesetz selbst nicht Angelegtes und dem Gesetz nicht Entsprechendes, das allein auf Grund des freien göttlichen Ratschlusses dem Gesetz entgegengestellt wird. Die Gnade soll dem Menschen nicht zur Erfüllung des Gesetzes verhelfen, sondern sie soll ihn aus der ausweglosen Situation herausführen, in die das Gesetz ihn gebracht hat. Das aber geschieht nicht durch Werke, sondern durch den Glauben an Christus, der — Luther zitiert in diesem Zusammenhang 2. Kor. 5, 21 — für uns zur Sünde geworden ist, auf daß wir in ihm die Gerechtigkeit Gottes seien, und das, was wir verdient hätten, auf sich genommen hat. So heißt es bei Luther: si credimus in eum, iam legem implemus142, und die gratia ,die dem Gesetz entgegengestellt wird, ist die gratia fidei143. Daß für Luther mit dem Glauben an Christus zugleich eine tatsächliche Erfüllung der Gebote beginnt, zeigt in unserem Zusammen141

. . . servari autem non potest sine gratia, ideo cogit quaerere 142 143 gratiam; ib. 516,30ff. 516,22.

Die Verwirklichung der im Hören empfangenen Gerechtigkeit

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hang der Satz: non peccat (homo) non occidendo etc., sed peccat intus odiendo, concupiscendo, cupiendo latenter et irritatus evidenter. Ista enim immunditia occulta cordis et carnis non tollitur nisi fide per gratiam Christi144. Dieser Gedanke läuft für Luther an unserer Stelle allerdings nur selbstverständlich mit, er hebt ihn nicht besonders hervor. Die Erfüllung der Gebote ist ihm nur eine Folge, nicht der Grund der Gnadenzuwendung. Die Erfüllung des Gesetzes, in die der mit der Gnade beschenkte Mensch dann eintritt, entspricht .obwohl sie inhaltlich dem Gesetz gerecht wird, gerade nicht der Intention des Gesetzes, dessen Stimme an den Menschen ergeht. 2. Die Erfüllung des Gesetzes als Verwirklichung der im Hören empfangenen Gerechtigkeit Inhalt und Erfüllung des Gesetzes werden von Luther nicht ohne weiteres zusammengesehen. Von zwei Seiten her ist uns das bisher deutlich geworden: an Luthers Verständnis der Heiligung und an seiner Darstellung des Verhältnisses von Forderung und Erfüllung des Gesetzes. Die Heiligung ist verstanden als Frucht des Hörens, und seine Darstellung der Forderung und Erfüllung des Gesetzes zeigte, daß diese einander nicht ohne weiteres entsprechen. Von diesen Feststellungen her muß noch einmal genauer nach Luthers Verständnis von Art und Inhalt der Erfüllung des Gesetzes durch den Glauben gefragt werden. a) Der Glaubende als homo sine persona

Wird die Erfüllung des Gesetzes als Frucht des Hörens verstanden, so ist damit das Handeln im Glauben als Verwirklichung der im Hören empfangenen Gerechtigkeit gekennzeichnet. Die Gerechtigkeit des Glaubenden besteht für Luther im Eintritt in ein neues, durch das den Menschen anredende Wort gestiftetes Verhältnis zu Gott, das dem Glaubenden im Ver516,16 ff.

278

Inhalt und Erfüllung des Gesetzes (1519)

hältnis zu Christus erschlossen ist und das Luther sich durchsichtig macht mit Hilfe der spannungsvollen Einheit des unio- und imputatio-Gedankens145. Die Frage nach der Verwirklichung dieser Gerechtigkeit des Glaubenden ist daher gleichbedeutend mit der Frage nach der Art und Weise, in der dies Verhältnis zu Christus in seinem Leben in Erscheinung tritt. Wir stießen bisher auf die beiden für Luthers Bild vom Glaubenden maßgeblichen, eng zusammengehörigen Gedanken vom Töten des Fleisches und dem Ausüben der Liebe14®. Ein Stück tiefer in Luthers eigenes theologisches Denkens führt uns seine Auslegung zu Gal. 3, 27 f. Sein Verständnis des Christen als homo sine persona, das er hier entfaltet, macht den Platz, den die beiden genannten Gedanken innerhalb seiner theologischen Gesamtkonzeption einnehmen, erst wirklich deutlich. »Quicunque enim in Christo baptisati estis, Christum induistis. Non est Judaeus non est Graecus, non est servus, neque über, non est masculus neque femina. Omnes enim vos unum estis in Christo Jesu« (Gal. 3, 27f.). Dem Text entsprechend steht für Luther der Gedanke der unio mit Christus völlig im Vordergrund147. Wer auf Christus getauft ist oder, wie Luther parallel formuliert, wer an Christus glaubt, hat Christus angezogen148, er ist eins mit ihm149. Die Vereinigung mit Christus bedeutet für den Menschen jedoch nicht nur eine Bindung, sondern ist zugleich eine Zertrennung der Einheit, in der der Mensch bisher gelebt hat, der Einheit mit seinen Werken150. Die in Christus gegebene Erlösung richtet sich ausschließlich auf den Menschen selbst, sie ist auf keinerlei Weise durch sein Handeln bedingt, allein durch Christus, d. h. ohne seine Werke, wird der Mensch gerecht gemacht — solam fidem Christi sufficere 161 . Für die Werke des Gesetzes gilt: si habeas, non ideo melior es coram deo, si careas, non ideo peior152. Alles außer diesem von 1 1 8 S. o. S. 76ff., 84ff. u. ö. S. o. S. 76ff. 147 W i e selbstverständlich allerdings auch hier der imputatio-Gedanke mitläuft, zeigt die unmittelbar anschließende Wendung in der Auslegung 149 148 530, 4. zu V. 29 (531, 9ff.). 531, 12. 150 Zur Erläuterung dieses Abschnitts ziehe ich Luthers Auslegung zu Gal. 2, 3—5 (zur Frage der Beschneidung des Titus) heran, die Luther selbst auf die Gedanken von Gal. 3, 18 hinauslaufen läßt; 477 ff. 151 162 478, 27f. 478, 11 f. 146

Die Verwirklichung der im Hören empfangenen Gerechtigkeit

279

allem abgetrennten Menschen ist unwichtig, die Gnade richtet sich nur auf ihn, der durch sie allein, ohne Werke, gerecht ist, nicht auf seine Werke, die er in der Kraft dieser Gnade tun kann, als ob er erst durch diese dann wirklich gerecht würde. Nulli prorsus uni externo operi sumus alligati! 163 Der Glaubende muß daher beschrieben werden als homo sine nomine, sine specie, sine differentia, sine persona164, denn wer Christus angezogen hat, ist nicht mehr Jude oder Grieche, Sklave oder Freier, Mann oder Frau. Die hier vollzogene Scheidung läßt sich in andere Gebiete weitertreiben, Luther deutet es in seinem Kommentar an: Werke des Gesetzes sind zeitliche Dinge wie Reichtum, Ehre, Macht, bürgerliche Gerechtigkeit — von all diesem wird der Mensch selbst abgesondert durch den Empfang der rechtfertigenden Gnade 165 . Luther kann gelegentlich von dem, was dem Menschen in der Rechtfertigung widerfährt, als von einer Wandlung des Menschen sprechen. Es scheint mir deutlich, daß diese Wandlung inhaltlich letzten Endes in diesem Abgesondertsein von den eigenen Werken besteht. Der Gedanke von Gal. 3, 28 — hier ist nicht Jude noch Grieche —, mit dem Luther im Zusammenhang seines Berichtes über die Beschneidungsfrage bei Titus die christliche Freiheit erläutert, wird von ihm weitergeführt durch das Zitat x. Sam. 10, 6f.: Mutaberis in alium virum und dessen Fortsetzung: fac, quodcunque invenerit manus tua, dominus tecum est16®. In seiner Auslegung zu Gal. 3, 28 selbst verwendet Luther zwar nicht den Begriff der mutatio, wohl aber den inhaltlich sehr verwandten der nova creatura. Er stellt diesem — in Anlehnung an Gal. 5, 6 — die Bindung an Beschneidung oder auch Nichtbeschnittensein entgegen, also das Verhaftetsein des Menschen an rituelle Gesetze und damit an Gesetzeswerke, und legt das »nova creatura« dann positiv aus mit der Beschreibung des Christen als homo sine nomine, sine specie, sine differentia, sine persona167. Die Wandlung der menschlichen Existenzform zur Existenz eines homo sine nomine, in welche dieser durch das ihn im Wort 153

154 165 478, 38. 530, 1 1 . 478, 20f. 479» 6; vgl. auch seine Erläuterung des Begriffs der christlichen Freiheit: Christiana libertas est, quando non mutata lege mutantur ho167 mines (560, 22f.). 530, 10f. 166

280

Inhalt und Erfüllung des Gesetzes (1519)

treffende Geschehen der Rechtfertigung, der Vereinigung mit Christus, versetzt wird, betrifft seine Existenz vor Gott.

Im

irdischen Leben sind, wie Luther im Anschluß an Augustin ausführt 1 6 8 ,

die

mannigfachen

menschlichen

Unterschiede

nötig und sollen von den Christen beachtet werden —

befahl

doch Christus selbst, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist! — , im Verhältnis zu G o t t jedoch spielen sie keine Rolle. Die in dem Gedanken des homo sine persona enthaltene B e schreibung der Gerechtigkeit des Glaubenden zeigt noch einmal die große systematische K r a f t , mit der Luther seinen Ansatz der Rechtfertigung im Hören festhält und durchführt.

b) Die Bindung des Glaubenden an den Nächsten Mit dieser Existenz vor Gott als homo sine persona ist aber zugleich eine nicht überbietbare Nähe zum Nächsten gegeben. Der Glaubende erkennt auch den andern als Menschen, der durch die Vereinigung mit Christus vor Gott als homo sine persona lebt. Das den Glaubenden wie seinen Nächsten treffende Geschehen der Rechtfertigung, die unio mit Christus, aus der sie beide leben, setzt sie auch untereinander in die engste B e ziehung, über Christus sind auch sie miteinander eins. Die gemeinsame Anteilhabe an Christus, durch die alles, was Christus ist, nun vom Glaubenden gilt 1 5 9 , schließt die Christen untereinander zur Einheit zusammen, sodaß nun auch

zwischen

ihnen alles von allen gemeinsam gilt: In Christo omnia omnibus communia, omnia unum et unum omnia 1 6 0 . Alle menschlichen Unterschiede und Qualitäten werden damit als Gaben Gottes verstanden, die dem einen v o m andern zugute kommen sollen. Luther entwirft an anderer Stelle —

zu Gal. 6, 3 —

158

Frei nach Augustin z. St.; M S L 35, 2125, 28.

159

531, i o f .

ιβο

gf

sein be-

Hier führt Luther weiter zum Kirchenbegriff: Die Glau-

benden gehören zu Christus und dadurch zueinander wie die Glieder zum H a u p t (531, 12f.), die Kirche ist ihrem Wesen nach verborgen (530, 16), weil sie durch diese gemeinsame Anteilhabe ihrer Glieder an Christus konstituiert wird, die sich als unitas.fidei in spiritu (530, 30) unter allen personalia (530, 34) dieses Lebens vollzieht.

Die Verwirklichung der im Hören empfangenen Gerechtigkeit

281

kanntes schönes Bild der christlichen Gemeinde, in der alles in den Dienst des Nächsten gestellt wird: meine Bildung gehört den Ungebildeten, meine Reinheit den Sündern, meine Ehre soll dienen, um die Schande anderer zu verhüllen, meine Weisheit gehört den Törichten, meine Macht den Unterdrückten, mein Reichtum den Armen, meine Gerechtigkeit den Schuldigen — wie Christus dem Glaubenden getan hat und für ihn vor Gott steht, so soll dieser mit allem, was er ist und hat, für den Nächsten eintreten: his omnibus.coram deo stare et mediare debemus pro iis, qui ea non habent 181 . Wer sich so dem Nächsten zuwendet, erfüllt die lex Christi — der Begriff stammt aus dem Paulustext: »Alter alterius onera portate, Et sie implebitis Legem Christi« (Gal. 6, 2)! —, denn der Inhalt der lex Christi ist die Liebe, und lieben heißt nach dem fragen, was der andere braucht 1 ® 2 . Die Wandlung, die sich mit dem Glaubenden in der Rechtfertigung durch die Vereinigung mit Christus vollzieht, besteht in der Scheidung zwischen ihm und seinen Werken durch das rechtfertigende Wort, das an ihn ergeht, und befreit ihn damit aus der Gefangenschaft in sich selbst zur echten Zuwendung zum Nächsten. Erst von solcher Klärung dessen her, was das Handeln Christi in der Rechtfertigung am betroffenen Menschen bewirkt, die Verwandlung in den homo sine persona, erhalten die häufigen Aussagen Luthers, daß der Glaubende den spiritus charitatis empfängt und dem Menschen die Liebe im Zusammenhang der Rechtfertigung mitgeteilt wird, ihren von der scholastischen Auffassung deutlich unterschiedenen, in sich selbst wirklich verständlichen Sinn. Das Verständnis der Gesetzeserfüllung fügt sich an das, was wir zu Luthers Verständnis des Liebesgebotes als lex naturae sagten. Als lex naturae ist das Liebesgebot dem Menschen mit seiner Existenz gegeben, das heißt inhaltlich, daß dem Menschen mit seiner Existenz der Widerspruch zu sich selbst gesetzt ist. Amor suiipsius per se in omnibus est 163 ! Vor allem Handeln ist der Mensch bereits unentschuldbar. Wie der Widerspruch, so ist bei Luther nun auch die Erfüllung des Gesetzes dem 161

606, i f f .

162

604, 21 ff.

163

580, 30f.

282

Inhalt und Erfüllung des Gesetzes (1519)

Menschen vor allem Handeln gegeben: die Einigung mit Christus, die dem Glaubenden im Hören zuteil wird, scheidet ihn von seiner persona, sodaß nun alles Handeln aus dieser Einigung mit Christus fließt. Auf diese Weise ist der geistliche Mensch — der Mensch, sofern er glaubt! — aus dem Widerspruch zur lex naturae entnommen und, wenn man die Linien hier einmal ausziehen darf, obwohl Luther selbst das in seinem Kommentar von 1519 noch nicht tut, in die Übereinstimmung mit der Schöpfung zurückversetzt, aus der er als natürlicher Mensch gefallen ist. Wir waren ausgegangen von der Frage nach Art und Inhalt der Erfüllung des Gesetzes. Die bisherigen Erörterungen haben gezeigt, daß für Luther die Erfüllung des Liebesgebotes nicht in der Wirkung einer — wo auch immer im einzelnen hergeleiteten — neuen ethischen Qualität des Gerechtfertigten besteht, sondern daß für Luther dort, wo die Forderung der Nächstenliebe erfüllt wird, das Verhältnis zu Christus in Erscheinung tritt, in das der Mensch durch das rechtfertigende Wort gerät. Es bestätigt sich uns hier noch einmal Luthers Ansatz der Gesetzeserfüllung im Hören. 3. Erkennbarkeit und Maßstab des glaubenden Handelns a) Die Erkennbarkeit der als affectus verstandenen Liebe Scheidet für das Verständnis dessen, was in der Erfüllung des Gesetzes durch den Glauben geschieht, der Gedanke der Verwirklichung eines ethischen Maßstabes aus 164 , so stellt sich die Frage nach dem Maßstab, an dem das Handeln des Menschen als Handeln aus dem Glauben und damit als Erfüllung des Gesetzes erkannt und geprüft werden kann. A m klarsten führt 194

E s geht hier um die grundsätzliche Klärung des Sachverhaltes.

Selbstverständlich spielt dieser Gedanke praktisch immer wieder mit herein. Doch wird er dadurch, daß er in den oben entfalteten Rahmen eingefügt wird, in seiner Bedeutung für das Verständnis der Heiligung völlig verändert und muß aufs schärfste von jeglicher Art gesetzlicher Bindung geschieden werden.

Erkennbarkeit und Maßstab des glaubenden Handelns

283

uns hier die Auseinandersetzung Luthers mit dem scholastischen Liebesbegriff weiter, die er in seiner ausführlichen, verschiedene Fragen aufgreifenden Auslegung zum Liebesgebot Gal. 5, 14 vornimmt 166 . Luther referiert die scholastische Lösung. Sie beruht auf dem Verständnis der Charitas als einer qualitas quieta latensque, die der Seele durch die Gnade eingeflößt wird, aber von keiner Empfindung begleitet und daher der unmittelbaren Erfahrung nicht zugänglich ist. So bleibt der Mensch in ständiger Ungewißheit, ob er im Besitz der geforderten Liebe ist oder nicht — denn kein Werk ist gut, das nicht in der Liebe getan wird! — , und wenn er von hier aus nach seinem Heilsstande weiterfragt, bleibt er notwendig auch über diesen im Ungewissen. Eine Hilfe zur Vergewisserung, wirklich gute Werke zu tun, kann daher nur die Vielfalt und Genauigkeit der einzelnen Vorschriften geben, der Gehorsam gegen die Weisungen der kirchlichen Vorgesetzten — und darüber hinaus die Teilhabe am sakramentalen Leben der Kirche — , ohne daß damit doch die letzte Ungewißheit vom Glaubenden genommen wäre. Da auch für Luther die Liebe die Zusammenfassung des Gesetzes ist, bejaht er die scholastische Lehre, daß kein Werk gut sei, das nicht in der Liebe getan wird1®8. Gegen das Verständnis der Charitas als einer in die Seele eingegossenen Qualität setzt er jedoch seine Definition der Liebe als affectus cordis, als pulsus vitae, der den ganzen Menschen durchdringt und aufs lebendigste erfahren wird. Selbstverständlich weiß der Mensch, ob er den anderen liebt oder haßt, ihm flucht oder ihn segnet1®7! Er betet in Liebe für den andern, wenn er Liebe für ihn empfindet, alles tut er dann in Liebe für ihn, wenn er, ohne für sich selbst einen Vorteil daraus zu erwarten, das im Sinn hat, was dem andern gut und hilfreich ist1®8. Dem Einwand, daß der Liebesaffekt ebenso der von der Gnade gewirkten wie der natürlichen Liebe entspringen könne, setzt Luther den Hinweis auf das Kreuz als den lydius lapis charitatis entgegen1®9. Er gibt die Gleichheit des natürlichen und des von der Gnade gewirkten Affektes und die damit verbundene Unsicherheit der Unterscheidung zu — doch gilt dies nur, solange der Liebe keine leg

578. 22ff.



57 8,

25ff.

169

579, 12ff.

57Qj

28ff.

1« 578, 3 3 f f .

284

Inhalt und Erfüllung des Gesetzes (1519)

Ablehnung und Feindschaft entgegengebracht wird. In dem Augenblick, in dem ihr widerstanden wird, scheiden sich natürliche und durch die Gnade gewirkte Liebe aufs deutlichste, die eine schlägt um in Unmut und Haß, die andere bleibt unverändert die gleiche, weil sie dem Geist entstammt und sich auf den Nächsten selbst richtet, nicht auf seine Liebenswürdigkeit, und deshalb von seiner Freundschaft wie von seiner Feindschaft unabhängig ist. Gerade hier, wo die Echtheit der Liebe erprobt wird, täuscht der Liebesaffekt nicht, er zeigt den Sieg der Gnade über die Natur und ist damit eindeutig ein Zeichen für den neuen Menschen. Wer in aller Anfeindung seine Liebesgesinnung fühlt, kann gewiß sein, daß diese Liebe eine Gabe Christi ist, die ihn über seine Natur hinausgehoben hat; wer aber beginnt, Verbitterung bei sich wahrzunehmen, muß wissen, daß seine eigene Natur die Oberhand gewinnt und daß er erneut der Liebe Christi bedarf. D. h.: im Tun selbst kann der Glaubende der ihm geschenkten Liebe innewerden. Allerdings nur hier, nur angesichts des konkreten Nächsten, dem er sich zuwendet und dessen Bedürfnis die Situation und den Inhalt seines Handelns bestimmen, der für ihn in diesem Augenblick in einem Ziel und Maß seines Handelns ist. Der Mensch kann die Liebe erkennen, die er übt, doch nur der an sich selbst nicht interessierte Blick erfährt sie, ihre Erkenntnis ist allein die unbeabsichtigte Nebenfrucht des Handelns. Diese ganze Erörterung gehört in die Gegenüberstellung des Verständnisses der Liebe als qualitas latens oder als affectus, die Verbindung von der Erkenntnis des eigenen Tuns als Tun in der Liebe zur Erkenntnis des eigenen Heilsstandes wird in diesen Ausführungen noch nicht hergestellt. Erst im folgenden Absatz rückt sie in den Blick: Ecce haec eruditio docebit te, quantus sis in Christianismo170. Hier, in der Prüfung der eigenen Liebe durch das Kreuz, entdeckt der Mensch, wen er hebt und wen er nicht liebt, er sieht, um wieviel er vorangekommen ist oder wie weit er zurückgeworfen wurde. Für diese auf sich selbst reflektierende Betrachtung gelten nun aber die strengsten Maß170

579, 32 ff·

Erkennbarkeit und Maßstab des glaubenden Handelns

285

Stäbe: gibt es auch nur einen, gegen den der Mensch keine Liebesgesinnung verspürt, so bleibt er das ganze im Glauben geforderte Tun schuldig und ist »nichts« •— nichts, gemessen an dem hier angelegten Maßstab der geforderten Vollkommenheit der guten Werke. Jede Selbstprüfung führt den Fragenden zu der Erkenntnis, wie weit er noch von der Verwirklichung der Gerechtigkeit entfernt ist 171 . Trotzdem wird ihm bei aller Schärfe des Urteils das Christsein selbst nicht abgesprochen, es bleibt bei dem » q u a n t u s sis in Christianismo«, Luther sagt nicht »utrum sis«! Der Schluß von den Werken auf den Heilsstand läßt sich nicht ohne weiteres ziehen. Wohl bringt der Glaube Werke der Liebe hervor, die der Mensch erkennen kann, der Glaube entfaltet sich und zeigt sich in ihnen, wohl läßt das Fehlen dieser Werke das Ungenügen im eigenen christlichen Leben erkennen — doch die Tatsache des Christseins selbst liegt nicht hier begründet und kann von hier aus nicht schlüssig beurteilt werden. D. h.: wird die dem Glauben geschenkte und von ihm geforderte Liebe als affectus verstanden, so führt die auf diese Liebe reflektierende Betrachtung stets zur Erkenntnis der eigenen Schuld. Die Frage nach dem eigenen Heilsstand verstellt gerade die Erkenntnis des eigenen Tuns als Tun in der von der Gnade geschenkten Liebe. Wie der konkrete Inhalt des Liebesgebotes nur in der Hingabe an den Nächsten erkannt wird, so wird auch die Gewißheit über seine Erfüllung nur in der Hingabe an die Geschichte mit dem Nächsten zuteil. In dem Augenblick, in dem der Mensch sich über die Hingabe an den Nächsten hinaus der Richtigkeit seiner Werke vergewissern will, fragt er nach einem für jede Situation gültigen gesetzlichen Maßstab und erkennt in dieser Selbstreflexion unter dem Gesetz seine Schuld und sein Ungenügen. Damit aber beginnt erneut das Gespräch mit dem Gesetz. Tritt der Mensch durch gesetzlichvergewisserndes Fragen aus dem antwortenden Handeln heraus, 171

Und damit zur Zurückhaltung im Urteil über andere; vgl. Opus (suum) ... probat, si videat quam diligens sit in charitate ad portandum alienas infirmitates. E t certe, qui hoc observaret, facile sibi a temerariis iudiciis et detractionibus temperaret, ut qui inveniret se aut diligere aut non diligere proximum (607, 1 8 f f . ; zu Gal. 6, 4).

286

Inhalt und Erfüllung des Gesetzes (1519)

in dem sich seine Geschichte mit dem Nächsten als der lebendigen Liebesforderung Gottes vor Gott vollziehen soll, so ist er wieder an die Geschichte gewiesen, die Gott durch sein Wort mit ihm führt. Denn wo der Mensch vor das Gesetz gerät, ist er von Gott über seine Werke hinaus nach seinem Verständnis des Gesetzes gefragt. Luthers Verständnis der Liebe als affectus ergibt so einen doppelten Befund: im Vollzuge des Tuns selbst kann der Mensch die Richtigkeit seines Handelns erkennen — wenn er auf diese Richtigkeit reflektiert und nach dem eigenen Heil fragt, zergeht ihm diese Erkenntnis unter den Händen. b) Luthers Gleichsetzung von Liebe und Freiheit Wenn Luther das Liebesgebot immer wieder in Gegensatz setzt zur Fülle der kirchlichen Gesetze 172 , so kommt darin nicht nur die Kritik am Inhalt vieler Vorschriften, der schon als solcher dem Gebot der Liebe widerspricht, zum Ausdruck, sondern darüber hinaus weist diese durchgängige Polemik darauf hin, daß das Liebesgebot selbst den Rahmen jeder Gesetzlichkeit sprengt. Die Fülle der Gebote leitet an zur Selbstvergewisserung. Mit solch vergewisserndem Fragen verschließt sich der Mensch nicht nur die Erkenntnis des eigenen Tuns, sondern er verschließt sich darüber hinaus die Möglichkeit, das Liebesgebot überhaupt zu erfüllen. Denn wo nach einem gesetzlichen Maßstab gefragt wird, gilt die Aufmerksamkeit nicht dem Nächsten, sondern dem eigenen Verhältnis zum Gesetz, und alles Handeln geschieht letztlich nicht dem Nächsten, sondern sich selbst zuliebe. Die Einordnung des Liebesgebotes in das Gesetz, das Verständnis der Liebe als gesetzliche Forderung bedeutet die Unterwerfung der Liebe unter die Heteronomie der Gesetzlichkeit. Die Erfüllung des Liebesgebotes als der summa legis ist nur möglich im Vergessen des Gesetzes, das aber heißt: das Liebesgebot impliziert die Freiheit vom Gesetz. Zu den beiden Versen in Gal. 5, in denen Paulus von der Freiheit des Christen spricht und in denen es um die Fragen 172

487, 4ff.; 500, 36ff.; 576, i7ff.; 582, 24ff.; 599, 37ff. u. ö.

Erkennbarkeit und Maßstab des glaubenden Handelns

287

Freiheit und Knechtschaft und Freiheit und Liebe geht 173 , arbeitet Luther den Unterschied zwischen fleischlicher und geistlicher Freiheit heraus. Nicht humano more 174 ist der Christ von der Herrschaft des Gesetzes befreit, sodaß er nun die Freiheit hätte, zu tun und zu lassen, was ihm beliebt 176 , und den Inhalt des Gesetzes nach seiner Willkür verkehren könnte, sondern divino (more) et theologico176, in welcher der Mensch vom Feind zum Liebhaber des Gesetzes wird und spontan und fröhlich tut, was im Gesetz gefordert wird 177 . Die Befreiung vom Gesetz besteht in der Befreiung zu seiner fröhlichen, dem eigenen Willen entspringenden Erfüllung. Darum ist die Liebe die inhaltliche Umschreibung der Freiheit. Der menschliche178, fleischliche179, heidnische180 Freiheitsbegriff dagegen spiegelt das Verhältnis des natürlichen Menschen zum Gesetz. Dies wird um der Sünde willen als drückende Knechtschaft empfunden — non . . . differunt servus peccati et servus legis, wer sein Verhältnis zum Gesetz als Knechtschaft empfindet, ist immer Sünder 181 . Der Widerstand des Menschen gegen das Gesetz beruht zunächst einfach auf dem inhaltlichen Widerspruch des Gesetzes zur Sünde, denn das Fleisch treibt uns, nach uns selbst zu fragen und den Nächsten zu vergessen, d. h. jede Freiheit zu gebrauchen, um uns selbst zu dienen und den Nächsten zu übergehen und zu verachten 182 . So wird das Gesetz gefaßt als Hindernis, dem eigenen Willen zu folgen. Doch es ist nicht nur der Inhalt des Gesetzes, der dem Begehren des Menschen entgegengesetzt ist, der den Haß auf das Gesetz erzeugt, sondern die Koppelung von Inhalt und richtender Funktion, der der Mensch sich gegenüber sieht. Wir sahen, daß für Luther die lex naturae nicht Ansporn, sondern Druck und Last ist, weil sie dem Menschen stets als Anklage begegnet183. Der Mensch findet sich angesichts des Gesetzes immer schon vor als einer, der in sich selbst ver173 175 179

180

Gal. 5, i. 13; vgl. 5 5 9 f f . , 574 f f · 176 177 560, 1 2 . 5 7 4 , 35f. 5 6 0 , 1 2 f.

174

574. 35·

178

560, 22.

560, I i . 574, 34.

560, 20; beachte dabei: . . . non gentilis illa (libertas), quam nec gentilis Persius satis esse novit! 181 182 188 560, 15 f. 575, 23ff. S. o. S. 255f.

288

Inhalt und Erfüllung des Gesetzes (1519)

krümmt ist und damit dem Inhalt des Gesetzes widerspricht, den Inhalt also immer zugleich als richtende Norm erfährt. Es ist nicht nur der Inhalt des Gesetzes, sondern das Gesetz selbst, dem der Haß des Menschen gilt, Luther spricht vom odi legem et opera eius184. Liebe zum Inhalt des Gesetzes wird erst dann möglich, wenn die Herrschaft des Gesetzes über den Menschen aufgehoben ist. Wo das Gesetz als Heilsweg verstanden ist, scheint nach dem vermeintlichen Erringen der eigenen Gerechtigkeit endlich die Befreiung von der Herrschaft des Gesetzes erreicht zu sein, die nun sogleich zur Absage an die Forderung des Gesetzes benutzt wird: humana iustificatio per opera fit, ideo libertas et otium iusticiae post finem acquisitae iusticiae intelligitur 188 . Und doch kann hier von wirklicher Freiheit keine Rede sein, gerade die Freude am Entkommen aus dem Anspruch des Gesetzes ist ein Zeichen dafür, daß seine Herrschaft noch besteht—es ist die bereits zitierte gentilis libertas, quam nec gentilis Persius satis esse novit 186 . Im Grunde weiß der Mensch, daß ihm immer nur eine Erfüllung des Gesetzes in speciem operum 187 gelingt und daß er damit die Erfüllung schuldig bleibt. Die Herrschaft des Gesetzes über den Menschen wird erst dort aufgehoben, wo es seine maßgebliche Stellung im Gottesverhältnis verliert, d. h. in der Rechtfertigung. In der Rechtfertigung wird an der Stelle des Gesetzes als verklagender Norm Gott selbst zum Gegenüber des Menschen als der, der ihn der Anklage des Gesetzes entnimmt. Damit ist dem Menschen der Weg zur Liebe zum Gesetz und zur echten Freiheit von ihm freigegeben. Wo Gott den Menschen in seinem Verhältnis zum Gesetz von ihm als der maßgeblichen Instanz befreit, vermag dieser zugleich zu erkennen, daß es nirgends, auch im Verhältnis zum Nächsten nicht, die letzte Instanz ist. D. h. er erkennt, daß der Inhalt des Gesetzes der Herrschaft, die das Gesetz im usus propriae iustificationis 188 über ihn ausgeübt hat, widerspricht, weil der Inhalt des Gesetzes nicht nur darin besteht, daß es den Menschen in seinem Tun an den Nächsten weist, sondern darin. 184

575» 2 I f·

188

560, 20; s. o. S. 287 Anm. 180. 188 575, 15. 560, 17.

187

185

575. 15 f-

Erkennbarkeit und M a ß s t a b des glaubenden Handelns

289

daß es ihn so an den Nächsten weist, daß der Nächste und nicht das Gesetz zur Norm des Handelns wird. Die Vergebung der Schuld, die den Zirkel von Schuld, Anklage und Gesetzlichkeit durchbricht, versetzt den Menschen durch die Aufhebung der Anklage in ein Verhältnis zum Gesetz, in dem er im Liebesgebot die ihm geschenkte Freiheit vom Gesetz als Inhalt des Gesetzes selbst erkennt. Darum ist die Erfüllung des Liebesgebotes eine andere Erfüllung des Gesetzes als das Einhalten der Beschneidung: Circumcidi. . . servitutis est, sed diligere proximum libertatis 189 . So erschließt der Rechtfertigungsglaube den Weg zur Freiheit vom Gesetz und eben darin zur Erfüllung des Gesetzes in der Liebe zum Nächsten. Est enim libertas ista, quam in Christo nos habere gloriatur, quod nulli prorsus uni externo operi sumus alligati, sed liberi in quodlibet, ad quemlibet, quocunque tempore et modo, nisi ubi fraterna Charitas et pax offenditur 190 ; haec est enim libertas, quod non nisi proximum diligere debemus 191 — diese Formulierungen Luthers enthalten keine Beschränkung der Freiheit vom Gesetz, sondern interpretieren diese aufs genaueste. Alle menschliche Freiheit, die den Menschen der Willkür seines eigenen, dem Inhalt des Gesetzes widersprechenden Willens überläßt, bleibt eben in ihrem Widerspruch gegen das Gesetz seiner Herrschaft unterworfen. Immer wieder wendet sich Luther gegen die Lehre vom freien Willen als einer menschlichen Erfindung 192 , denn in bezug auf die Freiheit gilt, daß Freiheit von der Sünde — und damit Freiheit vom Gesetz — Dienst der Gerechtigkeit bedeutet und Befreiung von der Gerechtigkeit zur Knechtschaft unter die Sünde führt. c) Die Wahrung der Freiheit des Evangeliums als Maßstab des Handelns Wir fragten nach der Erkennbarkeit und dem Maßstab für die Richtigkeit des aus dem Glauben geborenen Handelns und sahen, daß die Erfüllung des Gesetzes nur im Vollzug des

19

«e

574, 2 5 f .

192

I n unserem Zusammenhang 560, 9 f.

Bornkamm, Galaterbricf

190

478,

37

ff.

191

575, 6f.

290

Inhalt und Erfüllung des Gesetzes (1519)

liebenden Tuns als solche erkannt werden kann. Will man daher nach einem Maßstab fragen, so muß er in der Situation selbst gesucht werden, konkret: im Anspruch, den der Nächste auf mich hat. Doch bereits im Zusammenhang der neutestamentlichen Interpretation der lex naturae zeigte sich, daß der Anspruch des Nächsten nicht ungeprüft feststeht, er wird entschieden in der Einsicht dessen, an den der Anspruch ergeht. Für den Christen heißt die Forderung, den Nächsten wie sich selbst zu lieben: begehren, daß in dessen Leben — wie im eigenen — allein der Wille Gottes geschieht und in keiner Weise sein eigener 193 . Damit erhält die Forderung der Liebe nun doch ein inhaltliches Maß. Unsere letzten Betrachtungen, die zeigten, wie das Liebesgebot als summa legis mit der Freiheit vom Gesetz in eins gesetzt werden kann, führen ein Stück weiter. Eben in dieser Gleichsetzung von Liebe und Freiheit des Evangeliums liegt das gegenseitige Maß für Liebe und Freiheit beschlossen: alle echte Freiheit vom Gesetz ist erkennbar an ihrer Bewährung in der Liebe, umgekehrt ist die Richtigkeit alles liebenden Handelns greifbar an dem Maß der Freiheit, die in ihm verwirklicht wird. D. h. das Tun der Gerechtfertigten und damit die Erfüllung des Gesetzes im Glauben empfängt in der Wahrheit des Evangeliums ihr Maß. Was es heißt, daß die Wahrheit des Evangeliums Maß des Handelns ist, zeigt am deutlichsten Luthers Verständnis des Apostelstreits (Gal. 2, 1 1 ff.) 1 9 4 . Bekanntlich stehen an dieser Stelle die Auslegungen Hieronymus' und Augustins scharf gegeneinander, die Auseinandersetzung zwischen beiden zieht sich durch die mittelalterliche Auslegung bis Luther, der sich deutlich gegen Hieronymus auf die Seite Augustins stellt. Auf eine breite Gesamtdarstellung dieses ganzen Sachverhaltes soll hier verzichtet werden 1 9 5 . Luthers Exegese soll nur unter dem Gesichtspunkt unserer Fragestellung in den Blick kommen. Für Hieronymus handelt es sich in der öffentlichen Auseinandersetzung des Paulus mit Petrus um ein Scheingefecht vor der 195

194 581, 20; vgl. o. S. 259. 484ff. Vgl. dazu Holl, Ges. Aufs., Bd. 3, S. i 3 4 f f . (Der Streit zwischen Petrus und Paulus zu Antiochien in seiner Bedeutung für Luthers innere Entwicklung; 1919.) 196

Erkennbarkeit und Maßstab des glaubenden Handelns

291

aus Heiden- und Judenchristen gemischten Gemeinde. Die Übernahme des Zeremonialgesetzes durch Petrus, um deretwillen Paulus ihn angreift, ist für ihn eine seelsorgerisch bedingte Maßnahme, eine utilis simulatio 198 , um den Judenchristen entgegenzukommen und sie erst allmählich von der sorgfältigen Beobachtung der ihnen überkommenen Regeln zum vollen Verständnis des christlichen Glaubens, und d. h. der Freiheit von diesen Geboten, zu führen 197 . Der Vorwurf des Paulus kann für Hieronymus im Grunde kein ernsthafter sein, da er sich selbst in judenchristlichen Gemeinden der gleichen simulatio unterzogen hat: er hat Timotheus beschnitten, sich in Kenchräa das Haar abgeschoren, sich ein Gelübde auferlegt usw. (vgl. Ac. 16. 18. 21) 1 9 8 . So handelt es sich bei dem Auftritt vor der Gemeinde im Grunde um eine simulatio des Paulus 199 , der sich nun seinerseits zornig stellt, um seine eigene, durch das Verhalten des Petrus beunruhigte heidenchristliche Gemeinde von dem Recht ihrer Praxis zu überzeugen. Für sich selbst stimmen beide Apostel im Verständnis des Evangeliums überein, ihre verschiedenen Haltungen sind nur pädagogisch bedingt, sie nehmen das Interesse ihrer verschiedenen, ihnen von Gott anvertrauten Gemeinden wahr und kommen damit ihrem Auftrage als apostolus circumcisionis und apostolus praeputii nach. Auf unsere Frage zugespitzt: für Hieronymus handeln sowohl Petrus wie Paulus im Sinne des Liebesgebotes. 196

M S L 26, Sp. 364, 407 C. i»7 Vgl auch Hieronymus zu Gal. 2, 7 — 9 : Nec hoc dicimus, quod Petrus . . . Judaeus sit aliquis, an gentilis, quasi oblitus priorum (Hieronym. spielt auf Ac. 10 an), super Evangelii gratia, Legem putaverit observandam: sed ut ipse quoque Legem custodire se simulans, paulatim Judaeos ab antiquo vivendi more deduceret. Non enim poterant tantum observationis laborem, et veteris vitae cautissimam conversationem, quasi purgamenta subito et damna contemnere (MSL 26, Sp. 364, 403B). 198 M S L 26, Sp. 364, 407 Α Β. 189 Unde et Paulus eadem arte qua ille simulabat, ei restitit in faciem, et loquitur coram omnibus; non tarn ut Petrum arguat, quam ut hi, quorum causa Petrus simulaverat, corrigantur, vel ut etiam Judaeis superbia, gentibus desperatio tolleretur (MSL 26, Sp. 3 >7, 410 A). Vgl. auch Sp. 364, 407 A : . . . quasi in publico contradicens, ut ex eo quod Paulus eum arguens (Petrum!) resistebat, hi quicrediderant ex gentibus, servarentur. 19*

292

Inhalt und Erfüllung des Gesetzes (1519)

Für Luther ist der Einspruch des Paulus ernst. Die Haltung des Petrus hat mit früheren Verhaltensweisen des Paulus in judenchristlichen Gemeinden, in denen auch er sich dem Gesetz unterwarf, nichts zu tun. Paulus wendet sich nicht gegen das Handeln des Petrus als solches, denn sowohl das gentiliter vivere wie das ad iudaismum reverti 200 sind erlaubt, sondern er erhebt dagegen Einspruch, daß Petrus nicht situationsgemäß handelt: reprobat, quod venientibus Judeis subtrahebat ac segregabat se a cibis gentilium201. Petrus beachtet nicht, daß er in der gespannten Lage, die in der Frage des Gesetzes zwischen Juden- und Heidenchristen bestand, durch seinen Haltungswechsel der Erfüllung der Zeremonialgesetze den Anschein einer notwendigen Verpflichtung geben und ihnen damit den Charakter einer freien Glaubensentscheidung nehmen mußte. Petrus handelte wider besseres Wissen — aus Furcht vor den Judenchristen, nicht aus Unkenntnis 202 ! —, er machte sich also der Heuchelei schuldig, die im Blick auf die Gemeinde eine Verleugnung der Wahrheit des Evangeliums und damit ein crimen infidelitatis, ein scandalum fidei et aeternae damnationis ist 203 . Für Luthers Lehre geht es nicht wie für Hieronymus um den mit Hilfe des Glaubens meßbaren Inhalt des Tuns. Da für Hieronymus grundsätzlich beides erlaubt ist — judenchristliches wie heidenchristliches Verhalten —, können für ihn die Vorwürfe des Paulus nur scheinbare sein. Tadelnswert ist letztlich keiner, im Gegenteil, zieht man die Linien aus, so erfüllen beide Apostel durch ihr pädagogisches Verhalten an ihrer Stelle das Gebot der Liebe zu den ihnen anvertrauten Gemeinden. Das Maß für die Beurteilung ihres Handelns ist letztlich ein gesetzliches, beide Verhaltensweisen sind dem Christen prinzipiell erlaubt, damit ist die Richtigkeit der Haltung des Petrus wie des Paulus von vornherein erwiesen, beide machen auf verschiedene Weise von ihrer Freiheit gegenüber dem Zeremonialgesetz Gebrauch. Die im Evangelium geschenkte Freiheit wird hier in der Beurteilung des Handelns als gesetzlicher Maßstab 200

202 485, 1 3 f . 2«1 485, 7f. 485, 12. 485, 34ff. Das Urteil darüber, ob Petrus hier eine Todsünde begangen habe oder nicht bleibt bei Luther offen. 203

Erkennbarkeit und Maßstab des glaubenden Handelns

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verwandt. Dabei geht sie jedoch praktisch selbst verloren, und die Wahrheitsfrage, die in diesem Zusammenhang auf dem Spiele steht, bleibt unbeantwortet. Luthers Exegese dagegen bringt den dem Liebesgebot innewohnenden Maßstab der Freiheit des Evangeliums zum Ausdruck. Die Richtigkeit des Handelns entscheidet sich für ihn nicht schon darin, daß die im Evangelium geschenkte Freiheit vom Gesetz im jeweiligen Tun auf gesetzliche Weise erfüllt ist, sondern darin, daß diese Freiheit durch das jeweilige Handeln verwirklicht wird und gewahrt bleibt. Das Verhalten des Petrus war falsch: wohl stand ihm prinzipiell sein Verhältnis zu den judaistischen Riten frei, und im Blick auf die Judenchristen hätte sich sein Handeln mit dem Liebesgebot rechtfertigen lassen, im Blick auf die Heidenchristen war es jedoch ein Verstoß gegen die Wahrheit des Evangeliums. Luther stellt am Schluß seiner Erörterungen die Frage noch einmal präzise: wie hätte Paulus sich verhalten sollen, wenn die Haltung des Petrus in jedem Falle — bei Juden- oder Heidenchristen — einen Anstoß des Glaubens erregt hätte, wenn — anders, als in der tatsächlichen Situation, von der Paulus berichtet — beide Gruppen schwach im Glauben und vom Beispiel des Petrus abhängig gewesen wären 204 ? Die Antwort ist eindeutig: in solchem Falle ist der Wahrheit des Evangeliums zu dienen, die Judenchristen müssen fallengelassen werden: Melius est, unam partem cum Euangelii veritate servari quam utranque partem una cum euangelio perire 205 . Maß des Handelns ist demnach das Liebesgebot als Zusammenfassung des Gesetzes, das jedoch in sich die Gleichsetzung von Liebe und Freiheit vom Gesetz enthält und damit die Wahrheit des Evangeliums zum Maß alles Tuns macht. Nur von hier aus kann letztlich verstanden werden, was es heißt, daß die Gesetzeserfüllung des Gerechtfertigten nicht in der Verwirklichung eines ethischen Maßstabes besteht, sondern darin, daß sein Verhältnis zu Christus, das ja nichts anderes ist als die Anerkennung der Wahrheit des Evangeliums in seinem Leben, auch in seinem Verhältnis zum Nächsten in Erscheinung tritt 206 . 204 206

205 486, 3iff. 487, 2f. Anm. s. u. S. 397ff.

294

Inhalt und Erfüllung des Gesetzes

(151g)

d) Der Verzicht auf Planung und Vollendbarkeit der eigenen Gerechtigkeit Richtig zu handeln lehrt nicht das Gesetz, sondern das Evangelium. Damit ist das Entscheidende über das Handeln gesagt, das dem Glauben entspringt. Von diesem Verständnis der Gesetzeserfüllung her ist keine Werkgerechtigkeit mehr möglich, denn der Mensch empfängt das Maß seines Handelns dadurch, daß er als Hörender und d. h. als Empfangender vor Gott steht. Indem das Gesetz als Maßstab für die Richtigkeit des Handelns preisgegeben wird, wird grundsätzlich auf die Vollendbarkeit verzichtet. Das ethische Handeln des Glaubenden ist seinem Wesen nach nicht in sich selbst vollendbar, denn es besteht darin, daß es Antwort ist auf die Anrede Gottes. Von daher hat es seine Vollendung nicht nur deshalb nicht in sich selbst, weil es ethisch unvollkommen ist, sondern darüberhinaus deshalb, weil es seinem Wesen nach auf die letzte Zielsetzung einer eigenen, in sich selbst ruhenden Vollendung verzichtet und sich in den dem Menschen nicht überschaubaren und verfügbaren Willen Gottes einfügt. Aus der Einordnung in Gottes Plan empfängt es seine Vollendung. Auf diese Weise wird verwirklicht, daß der Glaubende nicht aus sich selbst, sondern allein aus seinem Verhältnis zu Gott heraus lebt. Das Gottesverhältnis läßt Raum für das Gesetz als Paränese, überall jedoch, wo der Mensch zum Gesetz als Maßstab der Gerechtigkeit greift, fällt er aus dieser sein ganzes Leben umfassenden Bezogenheit auf Gott heraus. Die Gerechtigkeit des Glaubenden hegt darin, daß er es in der Rechtfertigung bekennt und in seinem Handeln zum Ausdruck bringt, daß er auf jede Feststellung der eigenen Gerechtigkeit verzichtet und sie allein in seinem Verhältnis zu Gott sucht. Das aber heißt, daß er sie allein von Gott erwartet, in dessen Händen sie liegt. Denn das Bekennen und Handeln des Glaubens ist nur Antwort auf die Anrede Gottes, die den Menschen trifft, die aber nicht von ihm planbar ist als überschaubares Gerüst, an Hand dessen er durch sein Antworten seine eigene Gerechtigkeit errichten und sich selbst sichtbar machen könnte. Im Fahrenlassen des Gesetzes und der Hin-

Usus legis

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gäbe an ein Leben aus dem reinen Hören wird dem Menschen die Gerechtigkeit zuteil, die vor Gott gilt, und die allein Gerechtigkeit ist, weil sie für den Menschen in der Anrede Gottes beschlossen Hegt und nur im zum Bekennen und Handeln bereiten Hören empfangen und der Vollendung entgegengeführt werden kann, deren Gestalt allein Gott bekannt und erkennbar ist. Wo der Mensch die Planung seiner eigenen Gerechtigkeit mit' Hilfe des Gesetzes aufgibt, gibt er sich der Planung seiner Gerechtigkeit durch Gott hin. Sie wird ihm zuteil in dem Antworten auf dessen Anrede, die in der Geschichte, die Gott mit ihm führt, wechselnd an ihn ergeht als Entbindung des Schuldbekenntnisses, des Glaubens und des liebenden Handelns. IV. DIE FRAGE DES TERTIUS USUS LEGIS

i. Usus legis Inhalt und Erfüllung des Gesetzes werden von Luther nicht ohne weiteres zusammengesehen. Die genauere Untersuchung seiner Äußerungen über die Gesetzeserfüllung ergab sein Verständnis dieser Erfüllung als Verwirklichung der im Hören empfangenen Gerechtigkeit. Die Frage nach dem Maßstab des glaubenden Handelns führte zu der Feststellung, daß richtiges Handeln nicht durch das Gesetz, sondern durch das Evangelium gelehrt wird. Es bleibt uns als letzter Gedankenkreis zur Frage des Gesetzes die Frage nach der Funktion, die das Gesetz innerhalb dieses Verhältnisses des Glaubenden zum Gesetz, das wir zuletzt nach seiner inhaltlichen Seite zu entfalten suchten, einnimmt. Wir geraten damit in den in sich geschlossenen Fragenkreis des sog. tertius usus legis und müssen noch einmal neu einsetzen. Luther beschreibt in seinem Kommentar verschiedentlich die dienende Funktion, die das Gesetz für den Glaubenden hat. Wir führen uns die in Frage kommenden Stellen zunächst vor Augen. Im Zusammenhang seiner Darlegung über den Glaubenden als simul iustus simul peccator heißt es: Sicut Christus sine omni peccato . . . ecclesiam regit et exercet. . .: ita spiritus iusti, iam per fidem sine peccato, nihil debens legi, corpus tarnen

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I n h a l t und E r f ü l l u n g des Gesetzes (1519)

habet adhuc sibi dissimile et rebelle, in quod operatur et exercet. . , 207 . . . Und kurz darauf: Igitur necessaria sunt praecepta, non ut per opera eorum iustificemur, sed ut iam iusti sciamus, qua ratione spiritus noster carnem crucifigat et in rebus huius vitae dirigat, ne caro insolescat et ruptis frenis sessorem spiritum fidei excutiat. Non equiti sed equo frenum debetur 208 . Die Gesetzeswerke werden vom sacerdos bzw. dem religiosus falsch verstanden, er gründet seine eigene Gerechtigkeit auf sie, cum illis iam iustificatus fide uti debeat ad purgandam carnem et veterem hominem, ut fides in Christo crescat . . ., non ut multa mereatur, sed ut purificetur 209 . Von denen, die aus eigener Kraft gerecht werden wollen, gilt: Non enim utuntur eis legibus, ut peccatum per eas cognoscerent, neque ut fidem Christi gratuita charitate exercerent 210 . Wer sich aber zu Christus treiben läßt, dem wird zugesagt: Non ergo perdit lex, sed officiosissime prodest,modo intelligas, te per eam velut pium procuratorem ad Christum, ad haereditatem duci, immo pelli 211 . Und in einer Reflexion über den Sinn der neutestamentlichen, aus dem Munde Christi und der Apostel stammenden Gebote führt Luther aus: Doctrinae . . . quae ultra fidem traduntur . . ., sunt vel interpretationes legis, quibus peccatum clarius cognosceretur, ut gratia tanto ardentius quaereretur quanto peccatum certius sentiretur, vel sunt remedia et observationes, quibus gratia iam accepta et fides donata custodiretur, aleretur perficereturque, sicut fit, dum aegrotus incipit curari 212 . Zusammenfassend ergibt sich: der Umgang des Gerechtfertigten mit dem Gesetz dient dem Kampf gegen das eigene Fleisch und den Liebeserweisen gegenüber dem Nächsten, damit zugleich dem Wachstum und der Stärkung des eigenen Glaubens. Diese Funktion des Gesetzes wird von Luther wiederholt mit der uns bereits bekannten Funktion als paedagogus in Christum — der Mensch wird durch die Drohung des Gesetzes zur Gnade getrieben — zusammengeordnet, wenn auch von ihr unterschieden. Der Begriff des lege uti taucht auf, eine feste begriffliche Lehrbildung, der des späteren duplex usus 207

497, 2 7 f f .

208

498, 1 0 f f .

209

563, i f f .

210

527. i 7 f -

211

534. 4 f ·

212

466,

igi.

Usus legis

297

legis vergleichbar, liegt jedoch noch nicht vor. Da es aber sachlich ohne weiteres möglich ist, sollen im folgenden trotzdem die Begriffe uti und usus als Leitbegriffe dienen, da Luther selbst sie später als die tragende Begriffsbildung verwendet 213 . In den angeführten Stellen erscheint als Subjekt des Umgangs mit dem Gesetz, als autor usus, der Mensch214. Er muß das Gesetz gebrauchen, um das Fleisch zu reinigen215, er gebraucht es falsch, wenn er sein Vertrauen auf es setzt21®, das Gesetz nützt ihm, wenn er begreift — modo intelligas! — , daß es ihn zu Christus treibt 217 . Umgang mit dem Gesetz bedeutet 213 Zur Verwendung des Begriffes usus legis bei Luther vgl. E b e l i n g , Zur Lehre vom triplex usus legis in der reformatorischen Theologie, T h L Z 75 (1950), Sp. 235ff. Ebeling führt aus, daß dieser terminus um 1522 bei Luther aufzutreten beginnt (vgl. Weihnachtspostille 1522, W 10 I 1, 449ff., bes. 454, 8ff.) und eine eigene theologische Begriffsbildung Luthers ist. Die Übernahme in seinen theologischen Sprachgebrauch ging zögernd vonstatten, erst in der Galaterbriefvorlesung von 1531 verwandte er »die Terminologie usus legis intensiver als theologische Kategorie«. Die mit dieser Begrifflichkeit gemeinte Sache sieht Ebeling allerdings von Anfang an »in dem reformatorischen Verständnis der Rechtfertigung sola fide und der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, wovon wiederum die Frage der Schriftauslegung unablösbar ist« angelegt (a. a. O., Sp. 242f.). G e r d e s bezeichnet die formulierte Lehre vom doppelten Brauch des Gesetzes als »Formschöpfung«, nicht als »Entstehen einer neuen sachlichen Anschauung, die vorher nicht dagewesen wäre«. E r begründet den späten Zeitpunkt der Formulierung einmal mit der »Tatsache, daß Luther gegen feststehende theologische Formulierungen eine Abneigung hatte«, die Gerdes mit aus dem Gegensatz zur scholastischen Theologie erklärt, zum andern mit der sich erst durch das Gegenüber der Schwärmer ergebenden Notwendigkeit, den »bürgerlichen« Brauch des Gesetzes zu entwickeln (Luthers Streit mit den Schwärmern um das rechte Verständnis des Gesetzes Mose, S. 107ff.). Ebenso vor ihm E b e l i n g : »Beachtlich ist vor allem (in den Antinomerdisputationen), daß Luther nicht in Gefahr ist, die Problemfülle der Lehre vom Gesetz in eine zum scholastischen Schematismus erstarrende usus-legis-Terminologie zu pressen« (a. a. O., Sp. 242), und: »Nicht zufällig wird diese Seite der Lehre vom Gesetz, d. h. die relative Geltung der der opinio iustitiae im absoluten Sinn entkleideten iustitia civilis erst am Beginn der zwanziger Jahre für Luther akut« (a. a. Ο., Sp. 243).

Ebeling weist als erster auf die Bedeutung der Frage nach dem autor usus hin; vgl. a. a. O., Sp. 243. 215 563, i f . 2 « 527, 17 ff. 217 534. 5 214

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Inhalt und Erfüllung des Gesetzes (1519)

also verstehendes Unterscheiden seiner möglichen Funktionen. Wir sahen bereits, daß die Möglichkeit zu allem lege uti nicht aus dem Gesetz selbst, sondern aus dem Hören des Evangeliums entspringt: nur der Mensch, der der verurteilenden Stimme des Gesetzes nicht mehr ohne Rückhalt preisgegeben ist, kann sinnvoll mit ihm »umgehen«218. Jedes lege uti durch den Menschen setzt die Rechtfertigung und damit das Verständnis des Gesetzes als lex impleta voraus. Der Glaubende ist durch den Glauben mit Christus vereinigt, Christus bzw. der Geist ermöglichen ihm die Einsicht in das Wesen des Gesetzes als des Trägers einer begrenzten Funktion, so können auch Christus, der Geist, Gott als autor usus genannt werden. Entscheidend ist, daß solcher Umgang mit dem Gesetz sich in der Einsicht des Menschen, als Akt seines Verstehens, nicht als Geschehen, dem er preisgegeben ist, vollzieht. Von hier aus rücken die Alternativen, die Luther innerhalb des uti lege durch den Glaubenden unterschied, zusammen: das Verständnis des Gesetzes als pius procurator ad Christum219, als Zügel für das Pferd — sein Fleisch —, das der Glaubende zu reiten hat 220 , als willkommene Anleitung und Anregung zur Tat der Liebe — alles setzt den rechtfertigenden Glauben voraus und stellt, wenn auch auf verschiedene Weise, ein exercere der Menschen bzw. des Glaubens dar 221 . 218

S. o. S. 2 2 4 a . , 244ff.; dort auch Literaturhinweise. 2 2 0 498, 12. 534. 5· 221 Der Gesichtspunkt einer begrenzten Funktion des Gesetzes fehlt in der Darstellung, die Pinomaa in seiner Studie »Der existenzielle Charakter der Theologie Luthers« über »Gesetz und Heiligung« gibt (S. 155 ff.). E r entwickelt seinen Gedankengang zwar an Hand der Antinomerdisputationen, da es jedoch um eine prinzipielle Sicht geht, können wir ihn auch in unserem Zusammenhang heranziehen. Pinomaa arbeitet nachdrücklich den Gegensatz von Gesetz und Evangelium heraus: »Das Gesetz soll die Anfechtung hervorrufen« (S. 168), von hier aus ergibt sich, daß Luther »den Hauptton nicht auf das Ethische (legt), ... sondern auf das Religiöse, auf das Gottesverhältnis selbst« (S. 170). So gilt: »Der Angefochtene muß der Gnade und des Evangeliums teilhaftig werden« (S. 1 7 1 ) . Von hier aus versteht Pinomaa auch die reinigende Funktion des Gesetzes, von der Luther häufig spricht, als Frucht der Anfechtung. In seiner entschiedenen Abwehr des tertius usus legis für Luthers Theologie räumt er dem Gesetz nur die Aufgabe ein, dem Menschen seine Sünde zu zeigen, und »solange im Menschen noch ein Fünkchen Sünde vorhan219

Usus legis

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Joest macht an Hand des Sermons von den guten Werken auf die Vereinigung dieser verschiedenen Inhalte unter dem Begriff des exercere fidem aufmerksam und ordnet sie einander zu222. »Es kann gemeint sein: Ausübung dessen, was der Glaube ist und hat — aber ebenso: Einübung dessen, was er sein und werden soll.« In beiden Fällen zeigen ihm die Gebote »Weg und Gelegenheit« zur »Bestätigung seiner (des Glaubens) selbst«. »Daneben steht aber nun eine ganze Kette von Aussagen, die das .Üben' des Glaubens durch die Werke ausdrücklich als ein Stärken und Mehren bezeichnen . . . Der Weg zum rechten Verständnis wird dort gewiesen, wo das Stärken und Mehren als ein Vermahnen zum Glauben erscheint« — Joest verweist auf Luther: »unnd lass yhm solche werck nit anders sein, den ein vormanung und ubung seines glaubens, in got zu trawen«223. »Es handelt sich in der .Einübung' nicht darum, daß der Glaube mehr Werk werde, sondern darum, daß er mehr Glaube und dann erst Werk werde. Dies ist die Absicht der Gebote, daß der Mensch erkenne, was er kann und was er nicht kann, und daß ersieh seines Nichtkönnens, demütig vor Gott beklage'«224. den ist, muß das Gesetz erschrecken. Erst wenn der letzte Rest Sünde aus ihm getilgt ist, darf es sich zu dem .milden' Gesetz abschwächen«. Von daher entspringt ihm die Heiligung so gut wie ausschließlich in der Anfechtung (S. 179). Damit wird ihm der »pius«, von dem Luther im Zusammenhang der Paränese sprechen kann, zur bloß idealen Vorstellung, denn aus Luthers simul iustus simul peccator folgt für ihn, »daß in diesem Leben der ,pius', für den das Gesetz der milde Lehrer zum Fortschreiten in der Gerechtigkeit sein könnte, nicht vorkommt, sondern allenfalls als ein unerreichbares Ideal vorschwebt« (S. 174). Diese Folgerung ist für Pinomaa zwingend, weil s. E. der Gedanke des Gesetzes als Führer und Wegweiser nur dann gedacht werden kann, »wenn man unter dem Glauben als genetischem Zustand ein gleichmäßiges Fortschreiten in der Gerechtigkeit auf die Vollkommenheit verstehen will.« Diese Vorstellung ist ihm jedoch »mit Luthers Grundeinsicht unvereinbar« (S. 175f.). Diese Interpretation wird Luthers Sicht vom »Fortschreiten« nicht gerecht, vgl. dazu o. S. Z35ff., und an einer erziehenden und wegweisenden Funktion des Gesetzes muß angesichts der vielen Äußerungen Luthers, die in diese Richtung weisen, fraglos festgehalten werden. Das aber scheint mir nur in der oben entwickelten Weise möglich zu sein. 223 W 6, 255, 13ff. Joest, Gesetz und Freiheit, S. n g f . Nach W 6, 234, 7 f.; vgl. zur Frage der »Ubung« auch Holl, Ges. Aufs., Bd. 1, S. 22gff., zusammenfassend ib. S. 233f.: »Der Wunsch nach 222

224

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Inhalt und Erfüllung des Gesetzes (1519)

Ist diese Interpretation richtig — und sie scheint mir überzeugend —, so gilt sie auch für das »fidem exercere« und »fidem custodiri, ali et perfici« des Galaterkommentars. Es zeigt sich, wie selbstverständlich das Züchtigen des eigenen Fleisches, das liebende Handeln am Nächsten und das Fliehen hin zu Christus Luther im Leben des Glaubenden zusammenfallen. Alles ereignet sich im Umgang des sich als gerechtfertigt verstehenden Menschen mit dem Gesetz, alles kann zusammengefaßt werden im Begriff des exercere fidem. Autor dieses usus legis ist der Mensch — bzw. Christus, der das Glaubensverständnis des Menschen benutzt, um in ihm wirksam zu sein, das genannte exercere ist die einzige Möglichkeit des Menschen, theologisch legitim mit dem Gesetz umzugehen, d. h. ohne es zur Errichtung seiner eigenen Gerechtigkeit zu mißbrauchen. Die Möglichkeit dazu eröffnet ihm das Evangelium. Entgleitet ihm das Evangelium und hört er nur auf das Gesetz, so übt das Gesetz seine tötende Funktion an ihm aus, um ihn zu Christus zu bringen — hier findet kein Gebrauch durch den Menschen mehr statt, hier enthüllt sich Christus allein als der autor usus225, er bemißt die Zeit des Gesetzes und macht dem Menschen den Prozeß, dem er ausgesetzt war, erst nachträglich als »Zucht auf Christus hin« deutlich. Begreift der Mensch diese Funktion, so hat er ihr Erleiden im strengsten Sinne schon hinter sich. Diese Feststellung zeigt, daß es beim Umgang des Menschen mit dem Gesetz im Grunde um nichts anderes geht als um die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium. Kann der Mensch das Evangelium fassen, so wird ihm das Gesetz Anlaß zum exercere (fidem, carnem o. ä.), hört er angesichts des Gesetzes auf das Gesetz, so wird es ihm zur Stärkung des guten Willens übersetzte sich so für Luther in den andern nach S t ä r k u n g d e s G l a u b e n s . D a m i t waren auch die Mittel, die es zu ergreifen galt, von selbst gegeben. Durch das G e b e t und durch die Versenkung in das W o r t vertiefte sich das Gefühl für Gottes Gegenwart und das Verständnis für seinen Willen; von dorther mußte auch die Mehrung der sittlichen K r a f t kommen. Die Gelegenheit zur Übung und die Probe auf das Erreichte lieferten dann immer die Spannungen und Anstöße, die Gott selbst dem Menschen im wirklichen Leben schuf«. 225

Die Situation der Anfechtung — der Teufel als autor usus — soll

an dieser Stelle ausgeklammert bleiben.

Usus legis

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Verurteilung — bis Christus kommt. Ziehen wir die Linien aus bis hin zur Frage des literalen und spiritualen Verstehens: beide eben genannten Möglichkeiten sind Möglichkeiten des geistlichen Verständnisses. Als Möglichkeiten literalen Verstehens — und damit des abusus legis — stehen dagegen: das Gesetz als Bestätigung der eigenen Gerechtigkeit oder aber als Anlaß zur Verzweiflung — ohne Erscheinen und Anrufung Christi. Ein Bedenken dieser verschiedenen Möglichkeiten ergibt noch eine Feststellung für die hermeneutische Frage: es wird deutlich, in welchem Maße das geistliche Verstehen (der Glaube, die Rechtfertigung) ein Handeln Christi bzw. des Geistes ist. Nicht nur beim rechten Verständnis des Evangeliums ist Christus da und gewinnt dem Menschen den Glauben ab — auch zum geistlichen Verständnis des Gesetzes gehört das Kommen Christi, der den verlangenden Ruf im Menschen weckt, dazu. Erst dies Kommen Christi, das das fugere ad Christum ermöglicht, macht letztlich das Verstehen des Gesetzes zum geistlichen. Zusammenfassend ergibt sich: der legitime theologische Umgang des Menschen mit dem Gesetz ist nichts anderes als das geistliche Verstehen des Wortes, in sich unterschieden gemäß der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium. Von dieser Unterscheidung hängt es ab, ob der Mensch in seinem Umgang mit dem Gesetz den gegenwärtigen Christus im Glauben faßt (und so die lex als lex impleta versteht!) oder ob er dem Gesetz allein ausgesetzt und auf das erneute Kommen Christi angewiesen ist. Es ist das gleiche Gesetz, mit dem er in beiden Fällen umgeht, und der gleiche Akt geistlichen Verstehens, innerhalb dessen die verschiedenen Weisen des Gesetzes zusammengehören wie Gesetz und Evangelium. Insofern scheint mir der — wenn auch in anderem Zusammenhang gewonnene — Satz Ebelings zu Recht zu bestehen, daß es »von der Rechtfertigung sola gratia sola fide her nur einen legitimen usus legis geben (kann), nämlich als paedagogus in Christum«22® — der in sich die Spannung von Gesetz und Evangelium birgt. 228

Ebeling, a. a. O., Sp. 244; vgl. jetzt auch seinen Artikel in R G G ,

3. Aufl., Sp. 515 (Luther II. Theologie): »In diesem Kampf (der mortificatio) bleibt um der reliquiae peccati willen und nur insofern der Christ

302

Inhalt und Erfüllung des Gesetzes (1519)

Die Anwendung des der lutherischen Orthodoxie entstammenden Begriffes tertius usus legis auf Luthers Gesetzestheologie wird von der neueren Lutherforschung so gut wie einmütig abgelehnt, da er die von Luther vertretene Sache nicht trifft. Die Schwierigkeit des sachgemäßen Sprachgebrauchs bei der Beschreibung des Umgangs des Menschen mit dem Gesetz als Paränese in der Sicht Luthers zeigt ein Blick in die Literatur. Gyllenkrok konzediert den Begriff, obwohl er die orthodoxe tertius-usus-Lehre für Luther ablehnt: »Wenn man will, kann man hier (in seiner Analyse der »Heiligung als unvollkommene Rechtfertigung') natürlich vom dritten Gebrauch der Gesetzes, sprechen. Aber Worte bedeuten wenig gegenüber der Sache.. .«22 7 . Sache und Wort scheinen mir jedoch auch in Gyllenkroks Sicht enger aufeinander bezogen zu sein, als die eben zitierte Wendung erkennen läßt. Gyllenkrok trifft im Zusammenhang des gesamten Abschnittes eine inhaltliche Unterscheidung zwischen den Vorschriften des Gesetzes und den Früchten des Geistes228. Unter Berufung auf Luthers Sermo de duplici iustitia von 1 5 1 9 nennt er als fructus spiritus mortificatio carnis, Charitas erga proximum und humilitas erga Deum 229 , die die iustitia des Menschen ausmachen, im Unterschied zur iustitia prima als der iustitia aliena. Gyllenkrok erläutert den Luthertext: »Sein (Luthers) Gedanke ist der, daß der Christenmensch im Glauben Christi eine fremde Gerechtigkeit — und außer dieser gar keine andere — besitzt, denn in sich selber kann er nichts Gutes finden. Und dennoch! Dieses Nichts gilt nur im Vergleich mit Christus. Wenn wir stattdessen den Christenmenschen am Leben anderer Menschen messen und auf die Vollendung hinblicken, finden wir, daß er doch die Erstlingsgabe des Geistes, d. h. hier: die iustitia secunda, besitzt.« In der Konsequenz dieser Gedanken kommt Gyllenkrok kurz darauf zu der Feststellung: »Die Forderung der humilitas, der Charitas und der mortificatio carnis wendet sich an den geistlichen Menschen. Wenn man will, kann man hier natürlich vom dritten Gebrauch unter dem Gesetz; und zwar in dessen usus theologicus, der allerdings je nachdem gemildert sein kann durch die Rechtfertigung«. 227 Gyllenkrok, Rechtfertigung und Heiligung, S. 109. 228 229 Gyllenkrok, a. a. O., S. 107. nach W 2, 146, 36ff.

Usus legis

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des Gesetzes sprechen . . .«. Anschließend wird diese Forderung noch einmal formuliert als »die Forderung, daß es (das Ich des geistlichen, d. h. sich als geistlich verstehenden Menschen) die Folgen seines spiritus-Seins sichtbar werden lassen muß und seine Christusgerechtigkeit nicht nur verhüllt im Glauben behalten darf«230. Eine solche inhaltliche Unterscheidung innerhalb der Gesetzesforderung scheint mir jedoch nicht möglich zu sein231. Selbstverständlich verhilft der Glaube zu einer verschärften Interpretation des Gesetzes — es bleibt aber dieselbe Forderung, wenn sie auch u. U. genauer verstanden wird. Sie trifft den Menschen wie jede Gesetzesforderung nicht inquantum iustus, sondern inquantum peccator232, und trifft den Glaubenden mit der gleichen Kraft wie den Nichtglaubenden — wohl nach Maßgabe der jeweiligen inhaltlichen Einsicht, aber doch als gleich unbedingte Forderung desselben Gesetzes. Das gilt auch dann, wenn der Glaube zu Einsichten in die Forderung des Gesetzes führt, die dem Nichtglaubenden notwendig verschlossen bleiben233. Die unterschiedliche Weise im Umgang des Menschen mit dem Gesetz entscheidet sich nicht an der Forderung des Gesetzes, auch nicht an der dem unterschiedlichen Inhalt des Gesetzes zuzuordnenden Unterscheidung der Menschen, zu denen es gesprochen ist — »an den geistlichen Menschen« —, sondern allein daran, ob der, der die Forderung hört, sich als gerechtfertigt verstehen kann oder nicht, d. h. an seiner Fähigkeit der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium. Das aber ist kein anderer usus legis als der, der zum quaerere gratiam führt, sondern ein Ergreifen des Evangeliums innerhalb des einen Umgangs mit dem Gesetz234. 230

Gyllenkrok, a. a. O., S. iog. Zum Umschlag der fructuum spiritus descriptio zur praefixa m e t a für den Menschen s. u. S. 3 1 0 ; der dort beschriebene Vorgang hat jedoch mit einer inhaltlichen Differenzierung der Forderung nichts zu tun. 232 v g ] e t w a : Ideo praecepta sunt necessaria t a n t u m peccatoribus 233 (497. 36); u· ö. S. o. S. 258ff. 234 Zur Forderung an den Prediger, aus dem Wissen u m diese Zusammenhänge heraus recht zu unterscheiden, vgl. E b e l i n g , Zur Lehre v o m triplex usus legis . . . ThLZ 75 (1950) Sp. 246, der v o m uti lege spricht als d e m recte secari verbum dei, »jedoch nicht in der Weise verschiedener usus legis, sondern in der konkreten Unterscheidung und Aufeinanderbeziehung v o n Gesetz und Evangelium«. In RGG, 3. Aufl., Bd. 4, Sp. 5 1 5 231

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Inhalt und Erfüllung des Gesetzes (1519)

Joest schlägt vor, statt von einem tertius usus legis bei Luther lieber von einem usus practicus evangelii zu sprechen. Er will damit die durch das Evangelium geschenkte hilaritas und spontaneitas des Glaubenden im Umgang mit dem Gesetz betonen, wobei das Gesetz »nicht mehr lex im prägnanten Sinne und im Gegensatze zum Evangelium ist«. Es handelt sich um ein Gesetz, das »als lex impleta dennoch auch äußerlich im Worte zu mir kommt«235. Es ist selbstverständlich die Meinung Luthers, daß auch das Evangelium zum Tun treibt — solange jedoch das Gesetz als äußerlich gesprochenes mit im Spiel ist, gilt es dem Menschen inquantum peccator. Nur deshalb braucht auch der Gerechtfertigte noch das Gesetz. Inquantum iustus hat der Mensch in der Rechtfertigung den spiritus charitatis empfangen, er glaubt nicht nur, sondern er Hebt auch und ist Herr des Gesetzes. Anfechtbar im Blick auf den noch notwendigen Umgang mit dem Gesetz scheint mir nicht der Begriff usus legis, sondern seine Bestimmung als tertius. Joests Vorschlag entspringt dem Gesamtergebnis seiner Studie, in der er die völlige Freiheit des homo spiritualis vom Gesetz als formulierter Weisung verneint236. Mir scheint das von Siirala im Anschluß an Bring ausgesprochene Bedenken gegen die Lehre vom tertius usus legis — daß bei ihr das Evangelium leicht ein antinomistisches Gepräge erhält — auch im Blick auf diese Sicht erhoben werden zu müssen237. Die damit notwendig zusammenhängende Betonung der engen Zusammengehörigkeit des Glaubens mit dem im Gesetz geforderten Handeln unter dem Begriff usus practicus evangelii ist dann umgekehrt der Gefahr (Luther II. Theologie) spricht Ebeling von einer »seelsorgerlich differenzierte^) Auffassung vom secundus usus«. Ebenso H a i k o l a , Usus legis, S. 1 2 3 : »Der Prediger soll um der reinen Lehre und um seines Amtes willen recht zwischen Gesetz und Evangelium unterscheiden. Die Frage des rechten Gesetzesgebrauchs gehört mit dem rechten Scheiden zwischen Gesetz und Evangelium, d. h. mit der reinen Lehre, zusammen«. 236 Joest, Gesetz und Freiheit, S. 132. 23β Vgl. dazu auch unten S. 3i2ff. Im ganzen erscheint mit Haikolas Einwand gegen Joest, er habe »die Melanchthonsche Drei-status-Lehre auf Luther angewandt«, nicht unberechtigt zu sein (Usus legis, S. 130 Anm. 70; vgl. dazu den Aufriß der Arbeit Joests). 237 Siirala, Gottes Gebot bei Martin Luther, S. 103 Anm. 143.

»Usus evangelii«

305

ausgesetzt, daß Gesetz und Evangelium schließlich doch nicht scharf genug auseinandergehalten werden. Meines Erachtens handelt es sich für Luther — gerade weil er das Evangelium aufs schärfste vom Gesetz unterscheidet — bei jedem Umgang mit einem formulierten Gesetz um einen usus legis. Wir fassen zusammen: Für Luther dient das Gesetz dem Kampf gegen das eigene Fleisch, den Liebeserweisen gegenüber dem Nächsten, damit der Stärkung des Glaubens und dem Fliehen zu Christus. Er kann dies alles zusammenordnen als lege recte uti. Solche Beschreibung und solcher usus ist nur dem Glaubenden möglich, der sich als Gerechtfertigten versteht, der innerhalb seines Umgangs mit dem Gesetz das Evangelium faßt. Faßt er das Evangelium nicht, sondern hört er das Gesetz als Gesetz, d. h. als lex implenda, so erwächst aus seinem Inhalt die eine große Anklage, die das durch das Hören des Evangeliums ermöglichte Bleiben des Menschen bei Christus zerstört und den Menschen auf das erneute Kommen Christi angewiesen sein läßt. Beide Formen des Verhältnisses zum Gesetz erwachsen aus dem geistlichen Verstehen des Wortes und verhalten sich zueinander wie Gesetz und Evangelium. Es kann daher nur von einem legitimen theologischen usus legis gesprochen werden, der die Spannung von Gesetz und Evangelium in sich enthält. In beiden Fällen wird der Mensch auf Christus verwiesen — als Inhalt des Evangeliums, das er im Glauben schon gefaßt hat, oder als den Erretter aus der Bedrängnis des Gesetzes. In beiden Fällen dient das Gesetz als paedagogus in Christum.

2. »Usus evangelii« Bekanntlich gibt es jedoch Äußerungen Luthers über das Handeln des Glaubenden — und wir finden auch einige im Galaterkommentar —, die den eben gezeichneten Rahmen des usus legis sprengen. Wir stellen auch sie zunächst zusammen — ohne Anspruch auf Vollständigkeit —, ehe wir sie zu interpretieren und dem bisher gewonnenen Bilde hinzuzufügen suchen. Für den aus Glauben Gerechten ist das Gesetz überflüssig—Luther zitiert wiederholt i. Tim. i , 9: Lex iusto 20

Bornkamm, Galaterbrief

306

Inhalt und Erfüllung des Gesetzes (1519)

non est posita238. Der Mensch empfängt in der Rechtfertigung den Geist Gottes, der in ihm die Liebe wirkt — die zuhöchst die Forderung des Gesetzes ausmacht — und damit in ihm schafft, was das Gesetz verlangt. Kein Gebot ist mehr nötig, der Geist selbst entbindet im Menschen den lebendigen Liebeswillen, ja er ist dieser Wille selbst: Lex spiritus est id, quod lex literae requirit, voluntas, inquam239; und: Lex spiritus est, quae nullis prorsus scribitur literis, nullis profertur verbis, nullis cogitatur cogitationibus: sed est ipsa viva voluntas vitaque experimentalis, res quoque ipsa quae scribitur digito solo dei in cordibus240. Der Gerechte braucht das Gesetz nicht, denn er schuldet ihm nichts, er hat die Liebe, die es verlangt, und erfüllt so seine Forderung: Ita iustus non debet bene vivere, sed bene vivit . . . Sic virgo non debet esse virgo: quod si per aliquam legem quaereret fieri virgo, nonne insaniret?241 Und der Geist wirkt nicht nur die Erfüllung des Gesetzes, er unterweist ihn auch in dem, was er zu tun hat: (iustus) nec indiget lege quae doceat eum bene vivere242, ja der Geist selbst ist zugleich flamma cordis und intellectualis lux mentis243. Die scholastische Lehre, daß der fides infusa die fides acquisita folgen müsse, widerlegt Luther an Hand ihres eigenen Beispiels: ein getauftes, aber unter Türken aufgewachsenes Kind weiß nach Luthers Meinung — im Gegensatz zur scholastischen These — auch »sine christiano doctore«, was einem Christenmenschen zu wissen nottut, denn der Geist selbst unterweist es, und: viva, immo vita et res est, si spiritus doceat: seit, loquitur, operatur omnia in omnibus quem deus docuerit, non secus certe quam dum creat hominem e novo244. Der Gerechte braucht das Gesetz nicht, er ist ein neuer, vom Geist geschaffener Mensch, der das Rechte weiß und tut. Solches Handeln des Gerechten ist für Luther — nach neutestamentlichem Sprachgebrauch — Frucht des Geistes. 238

839 240 500, 8. 596, 7. 500, 3 f. 499, 20ff. 242 243 596, 18 ff. ib. 19. 499, 26. 244 566/7. Wie wenig — im scholastischen Sinne — sakramental Luther das Wirken des Geistes versteht, erhellt daraus, daß der Geist dem Menschen keinen neuen habitus mitteilt, sondern ihn unterweist! Die Neuschöpfung geschieht durch das Wort. 241

»Usus evangelii«

307

Dabei ist wichtig, daß diese Früchte Erfüllungen sind, nicht Gebote, sie werden deshalb nicht gefordert, sondern beschrieben, die Aufzählung der fructus spiritus Gal. 5, 22 ist für Luther kein Gesetz, sondern eine fructuum spiritus descriptio246. Ihr Verhältnis zum Gesetz ist ein paradoxes: sie sind die Erfüllung des Gesetzes und geschehen eben damit in der Freiheit von ihm. Es ist für Luther selbstverständlich, daß Lehre und Früchte des Geistes inhaltlich mit dem Gesetz übereinstimmen. Statt vieler Zitate, die dies belegen, sei hier nur die auffälligste Formulierung Luthers herangezogen, die Parallelität seiner Äußerungen über das natürliche Gesetz und das dem Gerechtfertigten vom Geist ins Herz gegebene Wissen. Zur Frage des natürlichen Gesetzes führt er aus: Igitur una est lex, quae transit per omnia secula, omnibus nota hominibus, scripta in omnium cordibus,. . . haec sola, quam spiritus dictat in cordibus omnium sine intermissione24®. Und als Bestimmung der lex spiritus heißt es: Lex spiritus est, quae nullis prorsus scribitur literis . . .: sed est ipsa viva voluntas vitaque experimentalis, res quoque ipsa quae scribitur digito solo dei in cordibus247. Lex naturae und fructus spiritus sind Setzungen des gleichen Geistes, der seine Forderungen im Herzen der Menschen laut werden läßt und durch das Wort des Evangeliums ihre Erfüllung wirkt. Luthers Gedankengang ist schlüssig: Consequens est, quod lex spiritus est id, quod lex literae requirit, voluntas, inquam248. Die Erfüllung des Gesetzes durch den Geist bedeutet für den Menschen zugleich die äußerste Gesetzesinterpretation. Implere und docere des Geistes gehören zusammen, völlige Erfüllung des Gesetzes schließt sein äußerstes Verständnis ein. Der homo spiritualis, der nicht mehr gegen sein Fleisch zu kämpfen hat, braucht das Gesetz auch nicht mehr als Anleitung. Eben diese Freiheit vom Gesetz entspricht jedoch der Intention des Gesetzes selbst. Wir hatten gesehen, daß das Liebesgebot, die höchste Forderung des Gesetzes, die Freiheit vom Gesetz einschließt, daß solche Freiheit seine letzte Erfüllung darstellt. Insofern ist das Gesetz gerade da, wo es keinen Platz mehr hat, in seiner ganzen Kraft aufgerichtet. 245 246

20*

596, 37; weiteres zu dieser Stelle s. u. S. 310. 247 248 580, 18 ff. 499, 20 ff. 500, 3.

308

Inhalt und Erfüllung des Gesetzes (1519)

Wir erinnern uns an Luthers Ausführungen zu Gal. 2, 18, wo er unter Berufung auf Rm. 3, 31 das »destruere« des Textes nicht wie die Tradition auf das Gesetz, sondern auf die Sünde bezieht: non nisi per fidei iustitiam lex impletur. Ita fit, ut per fidem simul et lex statuatur et peccata destruantur: dum enim pet fidem satisfit legi, desinunt peccata et lex permanet in robore249. Mir scheint es nicht möglich, das hier angedeutete Verhältnis zum Gesetz, bei dem die Bindung an das Gesetz nur als Freiheit von ihm in Erscheinung tritt, noch in den Begriff des usus legis zu fassen. Eher könnte man sich mit dem Begriff der libertas a lege zufriedengeben. Suchen wir jedoch einen Gegenbegriff zu dem des usus legis, um die jeweiligen Aussagen möglichst genau aufeinander beziehen zu können, so legt sich m. E. der Begriff des usus evangelii am nächsten. Er soll deshalb versuchsweise in unseren weiteren Überlegungen verwendet werden, wenn Luther selbst ihn auch nicht gebraucht250. Er scheint mir am besten geeignet, die systematische Grundstruktur, die hinter den Aussagen Luthers steht, sichtbar zu machen. Im Unterschied zum usus legis, innerhalb dessen wir die Spannung von Gesetz und Evangelium feststellen konnten, kann der usus evangelii eine gleiche Spannung nicht aufweisen — wohl kann der Umgang mit dem Gesetz unter die Bestimmung »Evangelium« treten, wenn das Gesetz als lex impleta verstanden wird, für den Umgang mit dem Evangelium kann jedoch nie die Bestimmung »Gesetz« gelten, da das Gesetz hier nur als zu überwindendes oder als erfülltes in Erscheinung tritt. Als Spannungspole im usus evangelii können deshalb nur unterschieden werden — entsprechend unseren Beobachtungen zum usus legis — der usus, dem der Mensch in existentiellem Betroffensein erleidend hingegeben ist, als dessen autor also allein 249

495/6. 250 j^ur 479, 16 ff. ist vom usus evangelii die Rede im Gegensatz zum Evangelium »an sich« (ipsa sententia evangelii), also in anderer Bedeutung als in unserem Zusammenhang. Ebeling macht auf diese Wendung aufmerksam als »beachtenswert für die Herausbildung des Sprachgebrauchs« (Zur Lehre vom triplex usus legis . . . , T h L Z 75 (1950), Sp. 240, Anm. 4).

»Usus evangelii«

309

Gott oder Christus genannt werden können: die Rechtfertigung; und der andere usus, der das Wissen des Glaubenden um die Rechtfertigung voraussetzt, der sich durch solches Wissen an ihm vollzieht: die Freiheit vom Gesetz, das Hervorbringen der Früchte des Geistes ohne das Gesetz, durch den lehrenden und schaffenden Geist selbst. Sodaß dem usus legis mit seinen durch die Spannung »Gesetz und Evangelium« bestimmten Möglichkeiten der Anklage und der Paränese der usus evangelii gegenüberstünde mit den beiden Polen der Rechtfertigung und der Freiheit vom Gesetz, die beide unter die Bestimmung »Evangelium« fallen. In beiden usus gibt es eine Möglichkeit des Gebrauches, die der Mensch nur an sich geschehen lassen kann — Anklage und Rechtfertigung —, und ein Brauchen, zu dem er durch sein bewußtes (von Christus in ihm gewirktes) Ergreifen der Rechtfertigung selbst mit ermächtigt wird. Es ergibt sich folgendes Schema: (Ges.) (Ev.)

usus legis Anklage (erleidend) Paränese (um die Rechtfertigung wissend)

»usus e v a n g e l i i « Rechtfertigung (erleidend) Freiheit vom Gesetz (um die Rechtfertigung wissend)

(Ev.) (Ev.)

Der Gerechte bedarf des Gesetzes nicht, er stünde nach dem hier vorgeschlagenen Sprachgebrauch allein im usus evangelii, als homo spiritualis. Hier muß jedoch Luthers Sicht des Christen als simul iustus et peccator, als duo toti homines et unus totus homo, als caro und spiritus und damit als dem, der mit Evangelium und Gesetz umgehen muß, mit hineingedacht werden. Luther bringt diesen Tatbestand selbst zur Sprache, veranlaßt durch die Zusammenordnung der Aussagen bei Paulus: »Adversus huiusmodi non est lex. Qui autem sunt Christi, carnem crucifixerunt cum vitiis et concupiscentiis« (Gal. 5, 23f.). Im Anschluß an seinen Vergleich des Gerechten mit der Jungfrau, der nicht erst durch ein Gesetz vorgeschrieben werden müsse, daß sie Jungfrau würde, macht Luther sich selbst den Einwand, ob die paulinische Ermahnung, im Geist zu wandeln und die

310

Inhalt und Erfüllung des Gesetzes (1519)

Geschäfte des Fleisches nicht zu vollbringen, nicht trotz seiner Aussage über die Freiheit des Gerechten vom Gesetz nun doch Gesetz sei: Nonne debitum ex eis (iustis) exigis ? Nonne legem praescribis? Nonne adversus eos tua praecepta sunt? Quid tibi ipsi contradicis ? 251 Er hilft sich mit der ihm durch den Text (Gal. 5, 24) nahegelegten Unterscheidung von caro und spiritus: kein Mensch — in carne nemo est — lebt nur im Geist; spiritu erfüllt der Glaubende das Gesetz Gottes, carne dient er jedoch dem Gesetz der Sünde. So ist die Beschreibung der Früchte des Geistes, die Paulus gibt — an anderer Stelle erläutert als Früchte des spiritualis homo252 —, nicht einfach die Beschreibung des Gerechtfertigten, sondern vielmehr das Ziel — die praefixa meta —, dem er als spiritualis zugewandt ist. Luther faßt zusammen: tantum ergo illis non adversatur lex quantum spiritu vivunt, tantum adversatur quantum carnis moventur desyderiis253. Das heißt für unseren Zusammenhang: dem Menschen, da er Geist und Fleisch zugleich ist, ist das Wort des Evangeliums wie das des Gesetzes gesetzt. Mit beiden muß er umgehen, beide dienen seiner Rechtfertigung vor Gott wie seinem Leben im Geist. Die Anklage führt den Menschen in die Rechtfertigung — hier gelten die Urteile totus caro und totus spiritus. Das Evangelium setzt den Menschen frei vom Gesetz und schafft in ihm Früchte des Geistes. Sobald jedoch sein Fleisch das vom Geist gewirkte lebendige Wollen und Wissen verdunkelt, tritt das Gesetz — als lex implenda verstanden — als Mahnung an den Menschen heran und offenbart ihn als partim spiritus partim caro. Die Beschreibung des aus dem Evangelium geborenen Handelns wird damit dort, wo es den Menschen nicht unmittelbar in ihm antrifft — hier scheint mir der »Umschlagspunkt« zu liegen254 —, von der einfachen descriptio zur praefixa meta, die noch vor dem Glaubenden steht. Töten des Fleisches, sich am Gesetz orientierendes Handeln und aus der Freiheit des Evangeliums geborenes Tun greifen im Leben des Glaubenden ineinander, geschehen miteinander, lösen auch einmal einander ab — Luther kennt hier keinen Schematismus. Der im Wissen um das Evangelium gewonnene 251 254

252 596, 30ff. 5 9 3 , 1 f. Vgl. o. S. 303, Anm. 2 3 1 .

253

597, i f f .

311

»Usus evangelii«

Umgang mit dem Gesetz fließt so für den Glaubenden unmittelbar ineinander mit dem aus dem Geist geborenen Wollen und Wissen. In beidem steht sein »neues Leben«. Der Versuch einer schematischen Darstellung des eben beschriebenen Tatbestandes ergibt folgendes Bild: Rechtfertigung (Er.)

Λ Anklage x(Ges.)

usus

legis

-κ Paränese (Ev.)

Λ *

s Λ

4F

(Ev.)

Freiheit vom Gesetz Das gewonnene Ergebnis wird bestätigt durch die zusammenfassende Darstellung Gyllenkroks über das Handeln des Gerechtfertigten, der seine Sicht allerdings vom Gesichtspunkt des betroffenen Menschen her entwickelt. Der geistliche Mensch, der »sowohl spiritus wie caro in sich trägt«, tritt unter die Forderung, daß er »die Folgen seines spiritus-Seins sichtbar werden lassen muß . . . Spontan kann der Gehorsam insofern heißen, als ihn das Ichsc (das aus spiritus und caro bestehende Ich) freiwillig leistet. Aber soweit der geistliche Mensch hier gerade als g e i s t l i c h e r Mensch in Frage kommt, d. h. als Ich 5 , gilt der Begriff des Gehorsams gar nicht mehr. Man muß dann vielmehr von fructus spiritus sprechen und sich dessen bewußt sein, daß der Gerechte notwendig iusta operatur und daß ihm kein Gesetz vorgeschrieben werden kann. So bezieht sich die

312

Inhalt und Erfüllung des Gesetzes (1519)

Spontaneität sowohl auf das Gesetz wie auf das Evangelium und ist sowohl eine geforderte wie eine tatsächlich gegebene Eigenschaft des Christenmenschen oder des geistlichen Menschen, ersteres in Relation zu diesem Menschen als einem Ich5C, letzteres in Relation zu demselben Menschen als einem Ichs «26B. Der homo spiritualis braucht das Gesetz nicht mehr, der Mensch, der nicht mehr gegen sein Fleisch anzugehen hat, hat keinen Umgang mit dem Gesetz mehr nötig. So wird der Umgang mit dem Gesetz im Reich Gottes ein Ende haben. Luther schließt eine Schilderung des Kampfes zwischen Geist und Fleisch: In futuro . . . est, ut plene deo vivamus et legi mortui simus266,. wobei legi mori als liberum fieri a lege zu interpretieren ist 257 . Und an anderer Stelle heißt es: Ideo praecepta sunt necessaria tantum peccatoribus. At iusti quoque sunt peccatores propter carnem suam.Quod tarnen non imputatur eis propter fidem interioris hominis, qui deo conformis . . . crucifigit peccatum in carne sua, donee in futuro consummatus in carne et spiritu nulli legi debeat258. Da nach Luthers Verständnis der Gesetzesforderung die Intention des Gesetzes auf die Freiheit vom Gesetz gerichtet ist, fallen für ihn legi mori, nulli legi debere und legem statuere in eins. Wohl bleibt das Gesetz aufgerichtet — aber nur auf die Weise, daß der von seiner caro befreite Mensch seiner Weisung nicht mehr bedarf, um es zu erfüllen. Insofern scheinen mir Joests Beobachtungen auch an dieser Stelle noch nicht weit genug vorangetrieben. Er selbst macht sich im Zuge seines Gedankengangs an Hand von Äußerungen über das Handeln des Glaubenden ex instinetu usw. den Einwand: »Oder stehen wir mit dem, was Luther vom parakletischen Amt des Gesetzes zu sagen hat, doch noch bei einer Vorstufe, der ein Letztes fehlt, einem Gehalten- und Gebunden255

Gyllenkrok, Rechtfertigung und Heiligung, S. 109; zu seiner Verwendung des Begriffs tertius usus legis s. o. S. 302ff. E s geht aus dem Text deutlich hervor, daß dieser Begriff das Handeln des Glaubenden nur insofern betrifft, als es den Kampf gegen die caro einschließt, nicht insofern »der Begriff des Gehorsams gar nicht mehr gilt«. Unsere Ablehnung dieses Begriffs hat auf die Zustimmung zu der oben angeführten Stelle daher keinen Einfluß. — Ebensogut könnte hier auf Holl oder Haikola verwiesen werden, s. u. S. 352, Anm. 450. « · 498, 37f. · " 499> 8. 258 497/8.

»Usus evangelii«

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sein, das erst noch der vo'len Freiheit harrt? 289 « Er verneint ihn und setzt dagegen die — mit Lutherstellen belegte — Gleichsetzung von oboedientia iucunda und spontaner Freiheit des Glaubens, wobei die iucunda oboedientia auch dann noch zu finden sein wird, wenn der Kampf gegen den alten Menschen aufgehört hat, d. h. im Reich Gottes. »Beides, das freudige Hören und Erfüllen des Gebotes und die Unmittelbarkeit und Freiheit des Glaubens, liegt also grundsätzlich in eins. «Von hier aus ergibt sich ihm das Bleiben des Gesetzes, das er gleichsetzt mit dem Bleiben eines »letzten Gegenübers«, so daß es die »Krone der Freiheit« des Christen ist, in »persönlich freier Bejahung« dem Wort zuzustimmen — im Gegensatz zu einem »mystischen Ineinander von Mensch und Gott, aus dem mit gleichsam schlafwandlerischer Sicherheit das Rechte sich von selbst ergäbe«260. Auch in der Vollendung wird also Gehorsam geübt werden, d. h. Gehorsam gegen das Gesetz, allerdings nicht mehr als »Regieren des eigenen Leibes« und »Umgehen mit Leuten«, sondern »gewiß auf andere, für uns jetzt unvorstellbare Weise«. Zwei Gedanken erscheinen mir in dieser Darstellung nicht überzeugend: die Identifikation von Gesetz und Gegenüber bzw. Wort und — damit zusammenhängend — die Alternative zwischen Weiterbestehen des Gesetzes und mystischem Ineinander von Mensch und Gott. Joest kann auf diese Weise die Aussagen Luthers über das Handeln ex instinctu, die Fähigkeit des Christen, neue Dekaloge zu machen, und schließlich auch über das legi mori in futuro m. E. nicht wirklich befriedigend interpretieren. Halten wir dagegen an der Unterscheidung von paränetischem Amt des Gesetzes und usus evangelii fest, so werden Luthers Äußerungen über den Wegfall des Gesetzes im Reiche Gottes zur natürlichen Konsequenz seiner Gesamtsicht, ohne daß die von Joest abgelehnten Fehlinterpretationen mit dieser Sicht verbunden werden müßten. Das Ineinander von Angewiesensein auf die Paränese durch das formulierte Gesetz und der Freiheit im Geist, in der volle Erfüllung wie letztes, jede von außen formulierteParänese übersteigendes Verstehen 259

Joest, Gesetz und Freiheit, S. 1 1 2 f. ib.; Holls Ausführungen sind mit diesem Einwand nicht getroffen, s. u. S. 352, Anm. 450. 260

314

Inhalt und Erfüllung des Gesetzes (1519)

der Gesetzesforderung beschlossen liegen, hat im Reich Gottes, in dem der Mensch von seinem Fleisch befreit sein wird, ein Ende. Als Wort bleibt das Wort des Evangeliums mit dem von ihm eröffneten Wollen und Verstehen. Es ist zugleich das Wollen und Verstehen des Gesetzes — wie wir sahen: in der Weise, daß durch die Freiheit vom Gesetz, die der Mensch als letzten Inhalt der gesetzlichen Forderung begreift und die die im Reich Gottes geschehende Erfüllung des Gesetzes darstellt, das Gesetz zugleich aufgerichtet und abgetan ist. Das Gegenüber, das im Menschen die »persönlich-freie Bejahung« entbindet, ist nicht das Wort des Gesetzes, sondern das des Evangeliums. Joest ist zuzustimmen in dem Satz: »Nicht darin besteht die Freiheit des Christen, daß er des Wortes Gottes nicht mehr bedarf, sondern dies ist die Krone seiner Freiheit, daß er dieses Wort hören und zu ihm ein innerstes J a sprechen darf.« Es ist ihm m. E. jedoch zu widersprechen bei seiner Gleichsetzung von Wort und Gesetz und deshalb seinem Schlußsatz dieses ganzen Kapitels: »Das Gesetz, das ihm gleichsam den Stoff zu solcher Bejahung darbietet, schränkt seine Freiheit nicht ein, sondern entbindet sie zur Wirklichkeit«281. Damit ist zugleich gesagt, daß das Ende des Gesetzes nicht ein »mystisches Ineinander von Gott und Mensch« bedeuten muß. Auch das Wort des Evangeliums bleibt Wort, das nur im Hören gefaßt werden kann. Wir fragten nach Inhalt, Erfüllung und Funktion des Gesetzes. Es zeigte sich, wie unmittelbar für Luther das Handeln des Glaubenden aus der Rechtfertigung entspringt, Rechtfertigung und Handeln werden gleicherweise als Frucht des Hörens verstanden. Luthers Konzentration auf die Frage des Verstehens tritt auch hier zu Tage. Das Gesetz ist zusammengefaßt im Liebesgebot, Luthers Interpretation erweist die Erfüllung als Frucht der Rechtfertigung, indem er Liebe und Freiheit aneinander bindet. Die Erfüllung des Liebesgebotes ist die Gestalt der Freiheit, die das Evangelium schenkt. Die Erfüllung des Gesetzes besteht für Luther in der Befreiung aus 281

Joest, Gesetz und Freiheit, S. 1 1 3 .

Zusammenfassung

315

der Gesetzlichkeit, der Mensch wird nicht an das Gesetz gebunden, sondern an den Gesetzgeber, den er aber nicht nur als fordernden, sondern auch als rechtfertigenden Gott erfährt. Damit wird die Gesetzlichkeit verneint, das Gesetz aber bejaht. Indem Luther alle Gesetze dem Liebesgebot einordnet, zielt jede Gesetzesforderung auf die Verwirklichung der im Evangelium geschenkten Freiheit. Der gleiche Tatbestand, der sich uns von der Frage nach dem Inhalt des Gesetzes her ergab — die Befreiung des Gesetzes vom Charakter der Gesetzlichkeit wie die Transzendierung des Gesetzes durch seine im Evangelium erschlossene Erfüllung —, kommt noch einmal zum Ausdruck in Luthers Reflexion über die Funktion des Gesetzes — das Evangelium setzt den Menschen instand, mit dem Gesetz als Paränese umzugehen, ja es erschließt ihm die Freiheit auch von dem als Weisung verstandenen Gesetz. Luther denkt den ganzen Gedankenkreis von Gesetz und Gesetzeserfüllung durch in strenger Bindung an die in der Rechtfertigungslehre gegebenen Begriffe Glaube und Liebe. Alle Gesetze sind grundsätzlich Varianten des Liebesgebotes. Da sich die Frage der Einordnung der verschiedenen Gesetzesforderungen in das Liebesgebot für Luther vornehmlich an der Frage nach den Zeremonialgesetzen entzündet, erscheint der spezifische Inhalt aller Gesetze außer der ausdrücklichen Liebesforderung leicht als Adiaphoron. Auch die politischen Gesetze machen hier keine Ausnahme: Ita serviendum est legibus imperialibus, pontificiis, municipalibus, politicis ac provincialibus, solum, ne eos, ut Christus ait, scandalisemus et charitatem et pacem laedamus2®2. Die iustitia civilis selbst gilt ihm theologisch nicht höher als die Erfüllung der Zeremonialgebote. So hat er in der Strenge seiner Konzentration auf den Geschehensbereich der Rechtfertigung an einer Entfaltung der Inhalte der bürgerlichen Gerechtigkeit kein besonderes Interesse. Obwohl Luther die scheinbar äußeren, alltäglichen Werke im Gegensatz zu rituellen Forderungen aufs höchste als Erfüllung des Liebesgebotes preisen kann, ist der Gesamtkomplex der iustitia civilis noch nicht in aller Breite so ununterscheidbar mit dem Leben in der Liebe, die in der Freiheit des Evangeliums besteht, gleichgesetzt, wie es in seinem Denkansatz bereits gegeben wäre.

316

Inhalt und Erfüllung des Gesetzes (1531)

Indem er die Liebe als Gegenbegriff zur Gesetzlichkeit interpretiert und sie damit aufs engste an den Glauben bindet, steht die Erfüllung des Gesetzes im Widerspruch zu seiner Vergötzung, das Gesetz läßt den Blick frei auf seinen Autor. Hier eröffnet sich die Möglichkeit, Rechtfertigungsglauben und Schöpfungsglauben ausdrücklicher ineinander zu sehen und damit das der Rechtfertigung entspringende Handeln gerade auch von dem in der Welt als Schöpfung geforderten Tun her zu entfalten. Es wird sich zeigen, daß Luther diesen Ansatz, zu dessen Entfaltung er 1519 innerlich noch nicht gedrängt war, 1531 zum entscheidenden Ausgangspunkt für seine Ausführungen über Inhalt und Erfüllung des Gesetzes macht.

B. D i e D a r s t e l l u n g v o n i 5 3 i 2 6 3 I. D I E Z U S A M M E N G E H Ö R I G K E I T V O N G L A U B E U N D W E R K E N

i . Die Wahrung der Zusammengehörigkeit von Glaube und Werken in Luthers Beschreibung des Handelns a) Luthers Einordnung der Liebe in den Glauben im Gegensatz zur fides charitate formata In seiner Vorlesung von 1531 entfaltet Luther seine grundlegende Verhältnisbestimmung von Glaube und Werken — ebenso wie seine Rechtfertigungslehre — nicht vom Gedanken des geistlichen Verstehens her, sondern in Auseinandersetzung mit der scholastischen Lehre der fides charitate formata. Die scholastische Tradition erhebt aus Gal. 5, 6 — »Nam in Christo Iesu neque circumcisio aliquid valet neque praeputium, sed Fides per Charitatem efficax« — , dem locus classicus zur Frage, die Definition des rechtfertigenden Glaubens; »per charitatem efficax« ist eine Näherbestimmung des Glaubens, die seinen rechtfertigenden Charakter erst begründet und erläutert, ohne die der Glaube selbst nichts ist. Luther führt 582,9«. Alle folgenden Seitenzahlen beziehen sich, soweit nicht anders angegeben, auf W 40 I. 282 2,3

Glaube und Werke in Luthers Beschreibung des Handelns

317

auch hier die uns bereits bekannten Gegenargumente2®4 ins Feld: die scholastische Lehre degradiert den Glauben zur tabula rasa, zum Fünklein im Herzen, zum leeren Sack, während sie die Liebe den Schatz im Sack und die bestimmende forma sein läßt. Der Glaube wird gering bewertet, die Liebe ist alles. In solcher Auslegung kann Christus beiseite gesetzt werden, es entfällt die Notwendigkeit, von ihm zu sprechen, denn hier ist der Glaube obiective verstanden, als menschliche Haltung, nicht subiective, im Blick auf seinen sachlichen Gehalt 265 . Die scholastische Interpretation läßt das grundsätzliche Mißverständnis dieses Verses erkennen, sie nimmt die vorliegende Formulierung des Paulus für die Frage der Rechtfertigung in Anspruch und stellt sie in den entsprechenden Lehrzusammenhang, während es Paulus für Luther hier nicht um die Rechtfertigung, sondern um die Beschreibung des wahren Glaubens zu tun ist. Paulus spricht »per modum Epitasis«2®®. »Per charitatem efficax« ist nur die Entfaltung dessen, was der Glaube in sich birgt: im Glauben, der nach Paulus seinen Wert »in Christus« hat, ist die iustitia fidei gegeben, in der Rechtfertigung, die dem Menschen die Glaubensgerechtigkeit mitteilt, empfängt der Mensch zugleich den Geist, der die Liebe in ihm wirkt. Die Liebe selbst ist dem Glauben nicht gleichzusetzen, sie dient — so verdeutlichend der Druck2®7 — als instrumentum des Glaubens und hat auf seinen rechtfertigenden Charakter keinen Einfluß. Sie ist — wie der Begriff der spes — Aussage über den Glauben selbst: ist die spes der animus erectus des Glaubenden2®8, so ist die Charitas der propensus animus erga proximum ad benefaciendum2®9. Der Glaube kann ohne Liebe nicht gedacht werden. Sie ist sein Wesensmerkmal, sie beschreibt ihn und macht ihn erkennbar, in die Frage der Rechtfertigung gehört sie jedoch nicht hinein. Luther denkt die Liebe so unmittelbar mit dem 264

S. o. S. 89 ff., 93 ff.

286

W 40 I I 35, 3 f f . ; zu obiective und subiective als nominalistische

Begriffe vgl. Seeberg, Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd. 3, S. 709 1); Bd. 4I, S. 154 1). 2ββ

W 40 I I 35, 12.

2 ϊ ο · 345. 2 f 34 8 . 3 f 884 non intelligunt, quid creatura (348, 5). 22

Bornkamm, Galaterbricf

338

Inhalt und Erfüllung des Gesetzes ( 1 5 3 1 )

»Qui. . . operatur virtutes in vobis, ex operibus Legis an ex auditu fidei ?« — wird Luther vom Text selbst eine inhaltliche Bestimmung der durch den Geist gewirkten Werke nahegelegt. Hier ergibt sich der Blick auf Gal. 5, 6, auf die fides und das verbum efficax 388 . Als Tugenden des Geistes erscheinen verschiedene Beispiele: Ehe statt Unzucht, Freigiebigkeit statt Geiz, die alle hinauslaufen auf die Liebe zum Nächsten, die bereit ist, um seinetwillen den Leib und allen Besitz hinzugeben. Dazu tritt auch hier — wie so oft — wieder das Kreuz 38 ®. Auch hier läuft Luthers Verständnis des vom Geist gewirkten Tuns hinaus auf ein Handeln in den Ordnungen des weltlichnatürlichen Lebens, dessen Verantwortlichkeit geschärft wird durch die Interpretation dieser Ordnungen auf das Liebesgebot hin. Daß Luther das Wirken des Geistes als Verleihen einer neuen Erkenntnis und Urteilsfähigkeit interpretiert, ist in diesem Textzusammenhang besonders bemerkenswert, da hier, wo vom Empfang des Geistes im Hören des Evangeliums im Gegensatz zum Gesetz die Rede ist, ein Rückgriff auf augustinische Gedanken und damit terminologisch und inhaltlich auf den spiritus charitatis sehr nahegelegen hätte. Noch ein dritter Zusammenhang sei herausgegriffen: Luthers Erläuterung des christlichen Freiheitsbegriffes. »In ea igitur libertate, qua Christus nos liberavit, state, et nolite iterum iugo servitutis concludi« (Gal. 5, 1). Luther arbeitet mit einer Fülle geschliffener Formulierungen den Unterschied zwischen fleischlicher und geistlicher Freiheit heraus. Die Freiheit in Christus ist zu trennen von der des Fleisches und des Teufels387, Paulus spricht theologice, von der Freiheit im Gewissen, d. h. der Freiheit von Gesetz, Sünde, Teufel, Zorn Gottes, die der Mensch durch Christus empfängt. Alle Freiheiten sind nur verschwindend kleine Tropfen vor der Majestät dieser theologischen Freiheit, in Ewigkeit dem Zorn Gottes entnommen zu sein388. Das ist nicht Cesaris etc., sed Christi389. Die Knechtschaft, vor der Paulus die Galater bewahren will, ist keine Knechtschaft politischer Stände — etwa die des Bauerntums —, sondern die des erneuten Zwanges, sich selbst durch die Er386 388

3 5 1 , 10. 1 1 . W. 40 II, 3, 5 f f .

386 389

387 352, i f f . W . 40 II, 2, gff. W. 40 II, 6, if..

Der Inhalt des Gesetzes

339

füllung des Gesetzes rechtfertigen zu müssen. Non est schändlicher servitus, quam per legem velle iustificari390. Christliche und politische Freiheit müssen aufs strengste unterschieden werden. Es ist das Werk des Teufels, die geistliche Freiheit ins Fleisch zu ziehen. Paulus wendet sich gegen dies primum malum omnium malorum, über das viel zu sagen wäre! »Vos enim in libertatem vocati estis, fratres, tantum ne libertatem in occasionem detis carni, sed per charitatem spiritus servite vobis invicem« (Gal. 5, 13): kein natürlicher Mensch kann sich der Folgerung aus der Gnadenpredigt erwehren: ergo nihil faciamus! Bauer, Edelmann, Bürger, Künstler, Knecht, Magd meinen, sie könnten tun, was sie wollen391. Ubi habent victum, fiunt porci, sie verlassen ihr Amt und leben sich selbst392. Der Christ aber ist nur frei im Geist, im Fleische dient er, was er hat, ist ihm zum Dienst gegeben. Das Liebesgebot des Paulus, der den Menschen vor einem falschen Verständnis der Freiheit bewahrt und zum Dienst anleitet, wird im Dienste des Amtes erfüllt, das der einzelne innehat: Prediger, Knecht, Ehefrau usw393. 1519 hatte Luther zu Gal. 5, 1 und Gal. 5, 13 wie hier die christliche Freiheit als libertas spiritualis394 erläutert, die äußerlich in Erscheinung tritt durch die willige Erfüllung des Gesetzes und nicht mit der Freiheit des Fleisches verwechselt werden darf. Zur Beschreibung des Handelns, das dieser Freiheit entspringt, diente ihm der von Paulus selbst in Gal. 5, 13 verwandte Begriff der Liebe. Er gewann seine Interpretation des Freiheitsbegriffes, indem er ihn mit der Liebe gleichsetzte: Haec est enim libertas, quod non nisi proximum diligere debemus395. 1531 ist die äußere Situation verändert, der politische Mißbrauch der Evangeliumspredigt ist in ganz anderem Maße eine geschichtliche Wirklichkeit als 1519, an die Stelle des aus dem Neuen Testament übernommenen Liebesbegriffs tritt seine Auslegung durch den Hinweis auf das Erfüllen der weltlichen Aufgaben und Ordnungen. 390 393 395

22*

W. 40 II, 8, 5. W. 40 II, 62, 5ff. W. 2, 575, 6f.

391

392 W. 40 II, 60, 5ff. W. 40 II, 61, 4f. W. 2, 560, 19; s. o. S. 287.

394

340

Inhalt und Erfüllung des Gesetzes (15 31)

2. Das Gesetz als elementum mundi a) Luthers Ansatz im Schöpfungsgedanken In allen drei Stellen, die wir herausgegriffen haben, setzt Luther hebendes Handeln und Erfüllen der weltlichen Ordnungen parallel, beides geht ineinander über. Der Schwerpunkt seiner Beschreibung des rechten Handelns verschiebt sich so stark auf die Erfüllung dieser weltlichen Aufgaben, daß er den Gegensatz seines Verständnisses der guten Werke zu dem des Papstes und der Schwärmer von hier aus bestimmt: Non intelligunt, quid creatura 398 , der Papst begreift die natürlichen Werke nicht als Erfüllung der Gebote Gottes! In diesem Argument ist Luthers Vorwurf gegen die scholastische Interpretation des guten Handelns aufs knappste zusammengefaßt. Die Erkenntnis der rechten, von Gott geforderten Werke ist gebunden an ein Erkennen der Schöpfung, das zu einem Verständnis der weltlichen Ordnungen als Wille Gottes führt. Damit sind dem Liebesgebot seine Inhalte im schöpfungsgemäßen Verhalten der Menschen zueinander gegeben. Luther denkt so entschlossen vom Schöpfungsgedanken her, daß er — wenigstens hier in seiner Vorlesung — nicht nur die Ordnungen des weltlichen Lebens, sondern auch das Liebesgebot von der Schöpfung her begründet. Die gegenseitige Zuordnung beider Interpretationen des glaubenden Handelns geschieht also — will man überhaupt unterscheiden — eher vom Schöpfungs- als vom Liebesgedanken her. In seiner kurzen Erörterung des Wortlauts des Liebesgebotes selbst, die Luther am Ende seiner Exegese von Gal. 5, 14 gibt, weist er wie 1519 auch hier darauf hin, daß Paulus keinen besseren Maßstab als sich selbst, kein vornehmeres Objekt als den Nächsten und keinen nobleren habitus cordis als die Liebe hätte nennen können 397 . Die Begründung für das Gebot der Liebe liegt im Hinweis auf die Schöpfung: homo naturaliter constitutus ad Civilitatem et societatem 398 . In dieser Begründung ist bereits die Erläuterung des Liebesgebotes durch das Übernehmen der weltlichen Ordnungen mit 394

348, 5.

397

W 40 II, 71, 9ff.

se «

W 40 II, 72,

4f.

341

Das Gesetz als elementum mundi

angelegt — ,ad civilitatem'! Aber auch abgesehen davon: der Mensch schuldet dem anderen Liebe, auch wenn dieser ihm feind ist, ja ihn verflucht, denn auch dann bleibt dieser ein Mensch, ein Geschöpf Gottes, das mir aufs ähnlichste geschaffen ist, Fleisch und Blut, Leib und Seele hat. Jeder ist der Nächste, auch »der mit dem großen maul«, denn: ea manente natura manet praeceptum charitatis399. Deshalb gilt die Liebe dem Menschen vor allen übrigen Geschöpfen: Non animal in terris, quod üblicher quam homo400. 1519 begründete Luther das Gebot der Liebe zum Nächsten mit der Unterscheidung von homo und larva 401 : die larvae und facies der Menschen sind verschieden, vor Gott aber unterscheidet sich der Weise, der Mächtige, Reiche, Schöne, Gerechte nicht von dem Törichten, Schwachen, Armen, Häßlichen, ja dem Sünder. Aus dem Wissen um diese Gleichheit heraus soll der Nächste .absolute' geliebt werden. Der tragende Gedankenkreis dieser Unterscheidung ist nicht so sehr der der Schöpfung als der der Rechtfertigung. Das gilt für den ganzen Kommentar. Wir sahen, wie Luther in seinen Aussagen über das neue Leben des Glaubenden, das im Begriff der Charitas zusammengefaßt ist, keine nur ethische Beschreibung des Menschen gab, sondern in dieser Beschreibung die Verwirklichung des Verhältnisses des Glaubenden zu Christus zum Ausdruck brachte402. Ähnliches ließe sich natürlich auch an Hand seiner Vorlesung zeigen, auch hier hören in Christus alle Unterschiede auf, auch hier ist durch das »in Christo« die Gleichheit mit dem Nächsten gegeben. Doch verglichen mit dem Kommentar legt Luther 1531 auf diese Verbindung der Rechtfertigungslehre zum Liebesgedanken wenig Gewicht. So wird in seiner Auslegung zuGal. 3, 28 — »Hier ist nicht Jude noch Grieche . . .« — die Brücke von der Gleichheit in Christus zum Verhalten zum Nächsten nicht geschlagen, Luthers Ausführungen bewegen sich hier ausschließlich im Rahmen der Rechtfertigungslehre: wo Christus »angezogen« wird, in der Taufe, fallen alle schöpfungsmäßigen und religiösen Unterschiede, es gilt: Unser Herr Gott habet varias ordinationes in mundo, quando venit, als über ein hauffen geworffen403. 399 402

W 40 II, 73, 3 f f . s. o. S. 277ff-, 28off.

400 403

W 40 II, 72, 5. 544, 8f.

401

W 2, 577, 19ff.

Inhalt und Erfüllung des Gesetzes (1531)

342

Denn vor Gott gilt nur der Glaube an Christus. 1519 dagegen bildete die Verbindung zum Liebesgedanken ein wichtiges Element der Exegese: In Christo omnia omnibus communia, omnia unum et unum omnia, von Luther noch bekräftigt durch das Psalmzitat: Ecce quam bonum et quam iucundum habitare fratres in unum (Ps. 133, i) 404 . Wir stoßen auch hier auf die gleiche Beobachtung: 1519 denkt Luther in konzentriertester Weise von der Rechtfertigung und damit vom Gegensatz des Evangeliums zum Gesetz her. Von hier aus verliert das weltliche Leben weitgehend an Interesse. Die persona des Menschen, die als äußere Erscheinung zu trennen ist von dem, was der Mensch vor Gott ist, verliert durch ihre Entgegensetzung zum rechtfertigenden Werk Gottes am Menschen jeden Eigenwert. Was Gott an neuem Leben im Glaubenden schafft, wird streng vom Rechtfertigungsgeschehen her gedacht und inhaltlich von ihm aus entfaltet. 1531 liegt für Luther der Ansatz der Frage nach dem Inhalt des neuen Lebens vornehmlich beim Schöpfungsgedanken, selbst das Liebesgebot wird von hier aus entwickelt, der Text Gal. 3, 28, der die Rechtfertigung zum Inhalt hat, führt ihn nicht zu einer genaueren Beschreibung des Handelns aus dem Glauben.

b) Die Einheit von Schöpfungs- und Rechtfertigungsglaube Theologisch bedeutet diese Verlagerung des Denkansatzes in den Gedankenkreis der Schöpfung keine Verschiebung. Die Möglichkeit, die Schöpfung in sein im Fragenkreis der Rechtfertigung wurzelndes Denken einzubeziehen, liegt in Luthers Verhältnisbestimmung von Gesetz und Evangelium beschlossen, d. h. in seiner absoluten Scheidung von Evangelium und Gesetz und damit in seiner Lehre von der Gerechtigkeit aus Glauben. Beschnittensein und Unbeschnittensein, Gesetzlichkeit und Gesetzlosigkeit, Judentum und Heidentum — all diese Unterschiede fallen in Christus dahin406. Wohl hat Gott verschiedene Ordnungen, doch: quando venit, als über ein hauffen geworffen, denn in Christus sind alle Gesetze aufgehoben, und nur der 404

W 2, 530, 8 ff.

406

542—44-

Das Gesetz als elementum mundi

343

Glaube an ihn rettet den Menschen406. Wird Luther um dieser Evangeliumspredigt willen durch die Kirche, den Papst, große theologische Autoritäten angegriffen, so tröstet er sich mit Staupitz: hec doctrina gibt Got, nicht hominibus (gloriam); Gott kan man zu viel nicht geben. Es ist sicherer, Gott zu viel zuzuschreiben als den Menschen, er ist der Schöpfer, der aus dem Nichts schafft 407 . Die Rechtfertigung des Menschen ist eine Schöpfung Gottes aus dem Nichts, er ist der Gott der Demütigen und Verzweifelten, der deus nihilorum, weil es seine Natur ist, aus dem Nichts zu schaffen, das Leere zu füllen, die Hungernden zu speisen, die Elenden zu trösten, die Sünder zu rechtfertigen, die Toten lebendig zu machen. Er ist der Schöpfer und erschafft aus dem Nichts alles408. Wir sahen, daß Christus durch seine Teilhabe an diesem Werk als Gott erkannt wird, denn Vergebung der Sünden, Rechtfertigung, Befreiung vom Tode sind die Werke, die die Herrlichkeit des Schöpfers zum Ausdruck bringen409. Das Nichts, von dem Luther hier spricht, ist nicht Ausdruck für den unendlichen quantitativen Unterschied zwischen Gott und Mensch. Von dem weiß Luther auch zu reden410, doch am Ernst der hier gemeinten Aussage führt er vorbei. »Nihil« muß als streng theologischer Begriff verstanden werden, das Nichtssein des Menschen vor Gott ist bedingt durch seine Schuld, durch die er seine Existenz vor ihm verwirkt hat. Hier denkt Luther Gesetz und Welt zusammen. Die Gerechtigkeit des Menschen, die vor Gott zunichte wird, umschließt nicht nur seine Werke, sondern die gesamte Welt, aus der er lebt. Nicht nur Beschneidung und Unbeschnittensein, Gesetzlichkeit und Gesetzlosigkeit, sondern auch die Unterschiede von Mann, Frau, Knecht, Magd, Magistrat, Doktor, Pastor, Schüler, Lehrer, König, Vater fallen vor Gott 411 . In der Welt muß es Stufungen geben, untereinander müssen die Menschen in der Verschiedenheit ihrer Larven und Ämter leben, doch: coram me hors alls auff 412 . Diese Zusammen4°«

544, 8 f f .

408

8i, 7f; s. o. S. 141.

410

humano

407

corpori

131, 3ff. non

408

4 88, 3 f f .

est leydlich

(76, 1); vgl. hierzu auch S. 148 Anm. 426. 411

542, i f f .

412

178,9.

ista speculatio

(maiestatis)

344

Inhalt und Erfüllung des Gesetzes (1591)

schau von Gesetz und Welt wird Luther ermöglicht durch seine Unterscheidung des Evangeliums von der geschaffenen Welt, genauer: dadurch, daß ihm im Wort des Evangeliums die Anrede Gottes widerfährt, die ihn aus seiner Welt herauslöst. Luthers Welt — die Welt seiner Zeit — ist sich in höchstem Maße dessen bewußt, daß sie konstituiert und bestimmt ist durch das Gesetz. Die reformatorische Erkenntnis, daß das Gesetz nicht zur Gerechtigkeit vor Gott führt, sondern daß der Mensch in seinem Gottesverhältnis steht und fällt mit dem Wort des Evangeliums, enthält für Luther die Erkenntnis der Jenseitigkeit und des Schöpferseins Gottes. Indem er den Menschen mit seiner Gerechtigkeit und seiner gesamten Welt, aus der er lebt, vor Gott nicht nur unendlich klein werden läßt, sondern auf Grund seiner eigenen Schuld zum Nichts erklärt, gibt er der Jenseitigkeit Gottes Ausdruck. Der neue Mensch, den Gott aus diesem Nichts durch den Glauben schafft, d. h. durch das Hören auf das Wort, das Hineingehen in das Dunkel, in dem er nichts sieht, in dem aber Christus ist 413 — hier bekommen diese mystischen Beschreibungen des Glaubens ihren reformatorischen Klang! —, ist der Jenseitigkeit Gottes innegeworden und vermag es damit, ihn als Schöpfer und sich selbst und seine Welt als Schöpfung zu verstehen. Das heißt vor allem anderen, daß er aufhört, das Gesetz als seinen Gott zu ehren. Nur vom Glauben an den Schöpfer her, den das Evangelium ihm erschließt, vermag Luther es, das Gesetz zu entthronen, denn es ist größer als die Welt und umfaßt alle Menschen414. Der Mensch hat nichts größeres auf der Erde als das Gesetz, das seinen Verstand erleuchtet und leitet, es ist die Sonne, die dem menschlichen Licht beigegeben ist 415 , es ist allmächtig und unbesieglich418. Nur weil es für Luther einen alius locus gibt, kann er dem Gesetz seinen Platz zuweisen. Der Mensch selbst kann sich aus dem Dienst des Gesetzes nicht lösen, seine Natur neigt zum Gesetz417, denn das Gottesverhältnis, das das Gesetz ihm zusagt, ist seiner 418 . . . Extra legem ghe ich da hin, Christus ist in tenebris et nebula ilia . . . (229, ι ι ί . ) .

414 417

415 306, 5ff. 418 613, if. 246, 5ff. 152. 7; 343. 5«·; 345. " f · u· ö.

Das Gesetz als elementum mundi

345

Vernunft einsichtig. Allein von der Offenbarung Gottes in Christus her, in dem Gott sich uns als Vater zeigt, um dessentwillen er uns vom Tode und allen Übeln erlösen will, wird der Gesetzesdienst als falsche Religion erkannt, die mit dem Verstände begriffen werden kann418. So bezeichnet Paulus den Abfall der Galater zur Gesetzesgerechtigkeit mit Recht als Rückfall zu ihren alten Göttern419. Denn nur in Christus ist die rechte Erkenntnis Gottes zu finden, die nicht täuscht: certa forma definit deum. Extra istam non est deus420. Wer dem Gesetz dient, dient nicht Gott, sondern einer falsa opinio de deo421. Angesichts dieser Alternative fallen der Glaube des Papstes, der Juden, der Türken zu einer einzigen falschen Religion zusammen. Wohl haben sie verschiedene Riten, doch sie haben das gleiche Herz und die gleiche opinio von Gott — kein Ei ist dem andern so gleich wie sie sich untereinander! —, sie alle sind mit ihrer Werkgerechtigkeit dem Götzendienst verfallen422. Es ist der gleiche Götzendienst, den Luther in seiner Interpretation des persona-Begriffes als Verehrung der weltlichen und geistlichen Ordnungen und menschlichen Ämter beschreibt und dem er das Verständnis dieser Ordnungen und damit der Welt als Schöpfung gegenüberstellt. Gott will sie geehrt und als seine Kreaturen anerkannt haben, aber er will nicht, daß ihnen 418

602, 5 f f . ; 603, 5f. Deshalb hat Gott die Verkehrung des Glaubens in eine nova lex in Geduld als menschliche Krankheit gezählt — bis die rechte Scheidung von Gesetz und Evangelium offenbar geworden ist (152, 10). Luther spricht von seiner Gegenwart, d. h. er löst die Offenbarung des Evangeliums in Christus aus ihrer historischen Einmaligkeit heraus (so wenig er ihre Bezogenheit auf das einmalige Geschehen in Christus preisgibt!), sie vollzieht sich in jeder lebendigen Evangeliumspredigt. 419 420 602, 3. 603, 1 f. 421 609, 2f.; vgl. auch: recte cogitare de deo est solius fidei (375, 12). . . . Veritas est fides, quando recte de deo cogitas, hoc fit credendo suo verbo. Quando sum Augustinianus, — secundum Regulam suam cogitat: Si gestavero cucullum et ambulavero in lege, sum deo gratus. Hoc est mentiri de deo, non cogitare etc. Sed Veritas est fides, Sic: deus non respicit opera mea, quia peccator et nihil possum; — sed mitto filium meum. Si credo, ilia vera est cogitatio, quae nihil quam fides, non possum comprehendere ratione et statuere, hoc tarnen audio praedicari (376/7). 422 603, 8 ff.

346

Inhalt und Erfüllung des Gesetzes (1531)

Göttlichkeit zugeschrieben wird: Eum oblivisci, das wil er nicht haben423. c) Duplex usus legis Die Scheidung von Gesetz und Evangeüum ermöglicht es Luther, den Gedankenkreis des Gesetzes mit der Welt zusammenzudenken und in Bezug auf beide die Jenseitigkeit Gottes zu wahren. Damit ist ihm zugleich das Verständnis der gesamten Welt als Schöpfung erschlossen, denn ist Gott jenseitig, so fallen in der Welt alle Unterschiede, die durch die Religiosierung bestimmter Dinge, Sphären oder Vorgänge entstehen und die »profanen« Tatbestände im Rang mindern, fort. Gottfeindlich ist sie dort, wo sie sich selbst zum Gott macht. Wo der Mensch aus seiner eigenen Weisheit und Gerechtigkeit heraus leben zu können meint, ist seine Welt das Feld des Teufels. Lebt die Welt im Mönchtum, so hat Paulus in seiner salutatio recht: est ,nequam', mundus est diaboli regnum424; die Welt ist dort am schlechtesten, wo sie nach außen hin am besten erscheint, denn dort wird Christus überflüssig, es gilt aber: si non est Christus hie, est mundus425. Wird der Welt jedoch keine Göttlichkeit zugesprochen, d. h. wird sie mit ihren Ordnungen nicht dazu verwendet, die eigene Gerechtigkeit des Menschen aufzurichten und zu stützen, so wird sie mit der ganzen Vielfalt ihrer Gesetzmäßigkeiten und Ordnungen als das erkannt, als das Gott sie erkannt und geehrt haben will, als seine Schöpfung426. Damit aber wird sie bejaht: das heist tollere abusum, tum omnes res bonae427. So erschließt das Evangelium des Paulus, die Lehre von der Gnade, dem Menschen das Urteil über alle Dinge428, alle genera vitae429, dient damit aber zugleich deren Sicherung und Festigung: confirmat magistratum, oeconomiam, universos ordines. Et solvit omnia opera diaboli et affert omnia opera divina430. 423 428

424 97. I . 4 2 5 95. I . 175. 7· Regnum, Imperium, magistratus, praeceptor, discipulus, pater,

mater, herus, dominus, servus, ancilla sunt larvae, personae quas religiose deus vult coli et agnosci pro sua creatura (175, 3ff.). 427

175, 2f.

428

429

85, 5.

«0 106, 7 f f .

affert gratia iudicium omnium rerum (106, 6f.).

Das Gesetz als elementum mundi

347

Das Bejahen der Schöpfung bedeutet zugleich ein Bejahen des Gesetzes. Der rechte Umgang mit den menschlichen larvae und personae hängt am usus rerum431 — nicht anders ist es mit dem Gesetz432. Luther selbst ordnet die Entfaltung seiner Lehre vom duplex usus legis — als ausführlichste und wichtigste Stelle greifen wir noch einmal seine Auslegung zu Gal. 3, 19 »Quid igitur lex?« heraus — diesem Zusammenhang ein: die Frau ist nicht geschaffen zum Kriegführen, der Mann nicht zum Nähen; der Prediger soll nicht das Amt des Magistrats einnehmen, der Magistrat soll nicht predigen; die Sonne soll tagsüber leuchten, das Meer soll Fische geben — so soll das Gesetz nicht rechtfertigen, sondern dies Geschäft dem Glauben überlassen. Quisque wart seins ding, tum non est confusio433. Auf die Frage, was denn nun das Amt des Gesetzes sei, stellt Luther an Hand der paulinischen Auskunft »propter transgressiones posita est« zwei Auslegungsmöglichkeiten zur Wahl und entscheidet sich dann selbst für die zweite. In unserem Zusammenhang interessiert uns jedoch zunächst die erste: Man kans exponere moraliter, quia deus ordinavit etiam Civiles, in Civili sensu434. Das Gesetz ist um der Übertretungen willen gegeben, d. h. um sie so weit wie möglich einzudämmen. Wir stoßen hier auf Luthers bekannte Argumentation: den wilden Tieren muß man mit Gewalt wehren, sonst stiften sie Verwüstung, so sind auch Magistrat, Eltern, Lehrer usw. von Gott eingesetzt, um den Teufel in Zaum zu halten. Wie einem Besessenen u. U. Hände und Füße gebunden werden müssen, so ist der Welt der Magistrat gesetzt, der sie bezwingen soll, indem er bindett ja tötet. Solche von Gott gesetzte Zwangsordnung dient dem öffentlichen Frieden, der Erziehung der Jugend und schafft vor allem den notwendigen Raum zur Predigt des Evangeliums435. So ist das Gesetz notwendig, aber es rechtfertigt nicht — wie könnte der frei und los genannt werden, dem das Gesetz Hände und Füße gebunden hat! Die Unmöglichkeit einer Gesetzesgerechtigkeit, die von Luther mit 431

432 174, 10. zum Begriff usus legis s. o. S. 297 Anm. 2 1 3 . 434 478, 3ff. 479, 4 f . 435 47g, 8ff.; so muß das ,maxime propter Euangelium' (480, 7) wohl interpretiert werden. 433

348

Inhalt und Erfüllung des Gesetzes (1531)

diesem Gedanken einsichtig gemacht wird, wird jedoch von den Pharisäern nicht erkannt, sie fügen zu den gewöhnlichen Geboten noch freiwillig Vorschriften hinzu und meinen, auf diese Weise die Gerechtigkeit zu erlangen436. Gegen das hier zutage tretende Mißverständnis vom Amt des Gesetzes wendet Luther sich u. a. auch in seiner Auslegung zu Gal. 3, 10 — »Quicunque enim ex operibus Legis sunt, sub maledicto sunt« —: hier ist von der iustitia die Rede, die uns zu Kindern Gottes macht, hier hat deshalb das Gesetz nichts zu suchen. Auf der Erde dagegen hat es seinen Platz: Maneant civiles leges in suo ordine, disponat magistratus et oeconomus suas leges — Gesetze, die Luther als optimae formae legum bezeichnet!437 Es muß deutlich geschieden werden zwischen der himmlischen und der politischen Gerechtigkeit, die so leicht miteinander zu vermischen sind438. Der Kaiser und die Gesetze sind nicht zu verurteilen — sed dicimus tremendum, adorandum, sed Civiliter!439 Geschieht das, so werden sie als Gottes Schöpfung verstanden440. Die Möglichkeit des Gesetzesgehorsams wird von Luther in solchen Zusammenhängen offensichtlich positiv beurteilt, er wendet sich gegen das Mißverständnis, durch solchen Gehorsam vor Gott gerecht zu sein, nicht gegen die Angst, als Sünder verurteilt zu werden. So ist auch der oben angeführte Hinweis auf die Pharisäer, die sich für gerecht halten, unter diesem Gesichtspunkt aufschlußreich441. « · 480, 8ff. 392, 1 5 f f . «w 393, 5· 440 «β 394, 9 « · 395. 3*· 441 Von Luthers positivem Urteil über die weltliche Gerechtigkeit als Erfüllung des göttlichen Willens her ergibt sich auch sein positives Urteil über Aristoteles. In der Frage der Rechtfertigung haben die Werke keinen Platz, im Bereich der weltlichen Gerechtigkeit geschieht durch sie die Erfüllung des göttlichen Willens — Aristoteles und die Philosophen beschränken sich mit ihren Aussagen auf den Bereich, der ihnen zusteht: Non cogitat philosophus moralis, quod velit mereri vitam aetemam (411, 2f.). Hier haben sie richtige Erkenntnisse, die mit denen der Theologie übereinstimmen: kein Werk ist gut, das nicht aus einer bona voluntas und einer ratio bona fließt. Für den Philosophen gilt dieser Satz im Rahmen der Frage nach dem moralisch Guten und ist hier unanfechtbar: Aristoteles, Sadduceus (wohl hier eingereiht im Gegensatz zum Pharisäer!), civilis homo vocat hoc rectam rationem, bonam voluntatem.si quaerat communem utilitatem (411, i f ) . Die Ver-

Das Gesetz als elementum mundi

349

Diesem usus civilis legis setzt Luther in seiner zusammenhängenden Ausführung zu Gal. 3 , 1 9 als richtige Auslegung des paulinischen »lex propter transgressiones posita est« den alter usus, den usus sanctus gegenüber, der dem Menschen die Sünde offenbar machen, ja sie mehren soll. Auf eine Entfaltung dieser Stelle können wir hier verzichten, da wir ihr bereits begegnet sind442, wichtig ist für uns hier lediglich die Bestimmung, mit der Luther den alter usus vom usus civilis unterscheidet: Ille est Sanctus usus, qui maxime quaeritur in lege Mosi, ut per eam crescat et multiplicetur peccatum, praesertim intensive vel in conscientia448. Inhaltlich heißt das, daß dem Menschen seine Sünden, seine Blindheit, aber darüber hinaus auch die Drohung des Todes, der Hölle und des göttlichen Gerichts deutlich werden. Er erkennt Gottes Zorn über sich als verdient444. Sanctus usus legis bedeutet also den Einbruch des Gesetzes Gottes in das Gewissen, durch den das Gewissen sowohl geschärft (»intensive«!) wie auch an das Gesetz als letzte Instanz vor Gott gebunden wird. Diesen Einbruch in das Gewissen hat Luther im argumentum epistolae im Auge, wenn er davon spricht, daß das Gesetz in seinen Grenzen bleiben müsse 445 , d. h. daß es an der Glaubensgerechtigkeit' sein Ende finde, in der das Gewissen nicht fallen könne und es keine Gewissensbisse gäbe 44 ®. Der sanctus usus legis, der in Luthers Zusammenhang als Vertiefung des usus civilis erscheint, findet am Evangelium seine Begrenzung und Aufhebung. Der usus civilis schlägt also dort in den usus theologicus um, wo das Gesetz das Gewissen des Menschen so trifft, daß er sich vor kehrung dieser Einsicht beginnt erst dort, wo sie in der gleichen — moralischen — Bedeutung in die Theologie übernommen wird. Hier wird die Frage nach der bona voluntas, die sich auf das allgemeine Wohl richtet, mit der Frage nach dem ewigen Leben vermengt. Der Philosoph läßt sich das nicht zuschulden kommen, wohl aber die Sophisten! Tales bachanten, quando ascendunt in theologiam (410, 5 f.). Deshalb ist Aristoteles besser als sie: non miscet (411, 7). Das Gesetz muß ein weltlich Ding bleiben. (Luther reflektiert hier nicht darüber, woher die Philosophie diese Kraft der Selbstbeschränkung auf das Gebiet der Moral erhält. Offenbar wohnt sie ihr selbst inne und ergibt sich aus der Hingabe an ihre Sache.) 448 443 444 s. o. S. i8off. 480/1. 481, 2ff. 445 448 44, 7. 47, 5; s. o. S. 2 i 6 f .

350

Inhalt und Erfüllung des Gesetzes (1531)

Gott schuldig bekennen muß. Hier kann es sich nur um eine Unterscheidung in der Funktion, nicht aber im Inhalt des Gesetzes handeln. Wird ein Gebot als Anklage gehört, so ist es bereits in usu theologico. Von hier aus erweist sich der Ansatz beim Gedanken der Verschärfung des Gesetzes, den wir bei Luther an dieser Stelle finden, weder als der einzige noch als der primäre Gesichtspunkt für seine Verhältnisbestimmung beider usus legis zueinander. Letztlich entscheidend ist der Gegensatz des angeklagten und des ruhigen Gewissens, wobei die Begründung für das Nichtangefochtensein des Gewissens nicht in seiner Unempfindlichkeit oder in dem niedrigen ethischen Anspruch des Gebotenen hegt, sondern in der Einsicht in die Beschränkung der Geltung des Gesetzes auf diese Welt. Es ist gleich, ob Luther diese Einsicht als Äußerung des Schöpfungsglaubens oder des Glaubens an Christus entfaltet. In beiden Fällen ist es ein Glaubensurteil, das die Geltung des Gesetzes relativiert und beim Menschen Hochmut wie Verzweiflung ausschließt. Das aber heißt, daß das Gesetz letzten Endes nur vom Evangelium her im usus civilis gehalten werden kann, denn nur das Evangeüum setzt das Gewissen so von der Anklage des Gesetzes frei, daß der Mensch das Gesetz als gute Schöpfung Gottes zu ehren vermag. Damit erweist sich der civilis usus dem usus theologicus in der gleichen Weise eingeordnet, wie wir es uns bereits für - die neutestamentliche Paränese deutlich gemacht hatten; auch er wird ermöglicht durch das Ergreifen des Evangeliums im Umgang mit dem Gesetz447. 447 In diesen Zusammenhang scheint mir die in der Nachschrift Rörers nur stichwortartige Äußerung Luthers zum Vorgang am Sinai zu gehören, die wir bereits in anderem Zusammeng — s. o. S. 283 — berührt haben: Et historia consentit, quod non potuerunt etc., et tarnen audierunt optimam legem, Sanctissimas voces: ,Ego deus'. Nonne pulcherrima doctrina, suavissima etc. ? ,Νοη loquatur', dixerunt. Num non libenter audires: ,Νοη occidas ?' tarnen est tui defensio. Lex illustrat conscientiam ad mortem, ad peccatum, odium dei (505, ioff.). Israel verschließt sich der Verheißung des ersten Gebotes und verfällt angesichts des Gesetzes den Schrecken der Anklage, die es nun auch blind machen für die bewahrende Funktion — tarnen est tui defensio —, die das Gesetz nach dem Willen Gottes haben soll. Die Erkenntnis des usus civilis und

Das Gesetz als elementum mundi

351

Durch seine Lehrbildung vom duplex usus legis hebt Luther die beiden Spannungspole, die den Umgang des Menschen mit dem Gesetz bestimmen, in klarer begrifflicher Unterscheidung voneinander ab. Die Spannungspole verhalten sich zueinander wie Gesetz und Evangelium — von hier aus wird deutlich, daß die Distinktion eines duplex usus legis sachlich möglich ist, die eines triplex usus nicht. Der duplex usus gibt der Spannung von Evangelium und Gesetz Ausdruck, ein triplex usus löste diese im Wort Gottes als seiner Offenbarung enthaltene und deshalb für das Verhältnis des Menschen zu Gott konstitutive Spannung im Verhältnis des Menschen zum Gesetz Gottes auf. Luthers Lehrbildung vom usus civilis legis entspricht inhaltlich seinem Einbeziehen der Elemente des Schöpfungsglaubens in den Rechtfertigungsglauben, seiner Entwicklung des Berufsgedankens, seiner Ausbildung der sog. Zwei-Reiche-Lehre. Die iustitia civilis ist für Luther nichts anderes als die Konkretion des Liebesgebotes — diese Konkretion hat ihren theologischen Ort in Luthers Lehre von den beiden Reichen448. In Luthers Konzeption vom usus civilis greift die Zwei-Reiche-Lehre in die Lehre vom usus legis ein, der usus civilis umfaßt die Predigt des Gesetzes und den Umgang mit ihm im Reich der Welt, das seinerseits wiederum nur vom Reich Gottes her als solches zu verstehen ist. Das Evangelium lehrt, beide Reiche voneinander zu scheiden, weil es dem Menschen die Rechtfertigung aus Glauben erschließt — in solchem Verstehen entspringt das ruhige Gewissen, das Luther dem im Amte gehorsamen Mendamit der Umgang mit dem Gesetz als bewahrender Macht wird von Luther abhängig gemacht vom Vertrauen auf die göttliche Verheißung. Vgl. zu dieser ganzen Frage Ebeling, Zur Frage vom triplex usus legis . . . T h L Z 75 (1950), Sp. 244f.; und: R G G , 3. Aufl., Bd. 4, Sp. 509. 448

Nicht umsonst läuft H a i k o l a s Studie über den usus legis zum

Schluß auf Distinktionen der Zwei-Reiche-Lehre hinaus! Ebenso E b e l i n g in R G G , 3. Aufl., Bd. 4, Sp. 509:

»Die fundamentaltheologische

Er-

örterung der mit dem primus usus legis zusammenhängenden Probleme erfolgte im Rahmen der sog. Zwei-Reiche-Lehre«. Vgl. weiter T ö r n v a l l , der die Parallelität der Begriffspaare des geistlichen und

weltlichen

Regiments und der Christiana und civilis iustitia entwickelt (Geistliches und weltliches Regiment bei Luther, S. i 3 6 f f . ) ; und H.

Bornkamm,

Luthers Lehre von den zwei Reichen im Zusammenhang seiner Theologie.

352

Inhalt und Erfüllung des Gesetzes (1531)

sehen zuspricht. Man darf wohl sagen: wie der Schöpfungsglaube die die W e l t mit einschließende Gestalt des Rechtfertigungsglaubens ist, so ist der usus civilis die das Reich der W e l t mit einschließende Gestalt des usus theologicus legis 4 4 9 . Mit diesem Verständnis des Gesetzes als »weltlich

Ding«

hängt schließlich auch die Freiheit v o m Gesetz zusammen, von der Luther wie 1 5 1 9 so auch 1 5 3 1 sprechen kann. Der Gerechtfertigte, der Christ ist größer als Himmel und Erde, denn er hat Christus im Herzen — stante ista doctrina et libera conscientia iudices estis omnium doctrinarum et Christianus omnis constituitur dominus super omnes leges! 4 6 0 448 Dieser Zusammenhang wird von Pinomaa, Der existenzielle Charakter der Theologie Luthers, nicht gesehen. Da er dem Gesetz, das den Menschen coram deo trifft, jede wegweisende Funktion abspricht (s. o. S. 274c Anm. 8), muß er das Gesetz, dessen Ziel die iustitia civilis ist, aus dem Zusammenhang des usus theologicus legis lösen. Damit tritt für ihn der erste Gebrauch des Gesetzes scheinbar beziehungslos neben den zweiten, ohne daß deutlich würde, daß und inwiefern beide unaufgebbar aufeinander angewiesen und Ausdruck des einheitlichen Gotteswillens sind. Gerade an dieser notwendigen inneren Bezogenheit aufeinander hängt jedoch für Luther alles. Insofern erscheint mir auch Pinomaas Meinung, daß die Galatervorlesung von 1 5 3 1 »für die Frage, ob Luther den terius usus legis anerkannt hat, aus (scheidet)« (a.a.O., S. 61), sondern mit der in ihr vertretenen Lehre vom Gesetz nur zum Thema »Anfechtung und Evangelium« etwas wesentliches beitrüge (a. a. O., S. 179), nicht haltbar. 450 235/6, zu Gal. 2, 16. Vgl. im gleichen Zusammenhang: in quantum Christianus est supra omnem legem (235, 3f.) und: Ergo Christianus, in quantum Christianus, liber ab omnibus legibus, nulli legi subiectus, nec intus, nec foris (235, 8ff.). Holl, Ges. Aufs., Bd. 1 , zieht u. a. auch diese Stelle als Beleg für seine These heran, »daß die Freiheit vom Gesetz die wahre Sittlichkeit sei« (S. 222), daß demnach der Glaube »zugleich ein sicheres, ein instinktives Verständnis dafür (verleiht), worauf es Gott dem Menschen gegenüber ankommt. Die Gnade gibt U r t e i l über alle Dinge und Lehren.« (S. 223) Dem ist m. E . uneingeschränkt zuzustimmen. Wenn Holl auch seinen Gedankengang weiterführt bis hin zu dem anfechtbaren Begriff der »sittlichen .Autonomie' höchsten Stils« (S. 227), so zeigt der Zusammenhang doch deutlich, daß er damit nichts anderes meint als eine unmittelbare, von jeder Vorschrift freie Ubereinstimmung des Menschen mit dem Willen Gottes. (Wie wenig im übrigen seine Darstellung, deren Äußerungen alle mit Lutherstellen belegt sind, eine Gleichsetzung von .instinktiv' und .unbewußt' zuläßt, zeigt schon seine Betonung, daß das Kennzeichen des Sittlichen »eine eigene.

353

Die Erfüllung des Gesetzes

3. Die Erfüllung des Gesetzes a) Die Gewißheit gerechten Handelns Alles Handeln, das sich innerhalb der weltlichen Ordnungen vollzieht und diese erfüllt, entspricht dem Willen Gottes. Wir stoßen hier auf Luthers bekannte und für das Verständnis seiner Theologie so wichtige Beurteilung des weltlichen Berufs. Hier entspringt für Luther die Gewißheit, gute Werke zu tun — wer seinen Beruf erfüllt, darf wissen, daß er Gott gefällt. Die deutlichsten Hinweise auf diesen Zusammenhang finden wir gegen Ende der Vorlesung, in seiner Auslegung zu Gal. 6, 4f., die uns als Beispiel für den von Luther in seinem Galaterkolleg vorgetragenen Standpunkt dienen soll. »Opus autem suum probet unusquisque, et tunc in semetipso tantum' gloriam habebit, et non in alio. Unusquisque enim suum onus portabit.« Grundsätzlich gilt dieser Text für alles Tun im Leben und Wandel des Paulus 461 und damit für das Werk eines jeden, sei er Vater, Magistrat, Hörer oder Lehrer 452 . Luther legt ihn jedoch — wenn auch bewußt exemplarisch — auf das geistliche Amt hin aus. Er liest vor Theologiestudenten! Paulus will der leeren Ruhmsucht der falschen Doktoren die rechte Wahrnehmung des Predigtamtes gegenüberstellen. Die falschen Prediger fragen nach Ansehen und Ruhm bei der Menge, suchen hier ihre Ehre, setzen ihr Amt in den Mund und die Meinung des vulgus 463 . So stehen und fallen sie mit der Anerkennung, auf die sie treffen: Quando isti deficiunt, ist er auch verlorn, non habet gloriam, wo wil er sich hin halten ? Geht seine Ehre eine wirkliche Tat« ist; a. a. O., S. 221). -— Ob die von Haikola an Hand dieser u. a. Stellen und unter Berücksichtigung

der Kategorien

der

Zwei-Reiche-Lehre entwickelte These richtig ist, daß »die Freiheit der Liebe dem Menschen als Christperson zu (kommt), nicht als Amtsperson« (Usus legis, S. 150), d. h. ob die Scheidung von Freiheit und Bindung im Verhältnis zum Gesetz an dieser Stelle liegt, vermag ich hier nicht zu entscheiden.

23

461

W . 40 II, 148, i f f .

463

W . 40 II, 150, 3ff.

Bornkamm, Galaterbrief

452

W . 40 II, 153, i f .

354

Inhalt und Erfüllung des Gesetzes (1531)

beim andern verloren, so geht er selbst ganz mit zugrunde454. Das ist eine arme hoffart, da der Teufel den ars an wisscht 455 ! Denn in der Stunde des Todes und am jüngsten Tag wird keiner für den andern stehen, sondern jeder wird seine Last tragen und ist nach der Güte seines Werkes und der Ehre, die er für sich selbst in ihm hat, gefragt: Isti laudatores non werden tuum onus tragen, sed tu 456 . Wer jedoch sein Amt führt und das Wort predigt ohne Rücksicht auf Lob und Tadel der Menge, ist sicher in sich selbst und sucht seine Ehre bei Gott. Das Zeugnis des guten Gewissens — wie 1519 so dient Luther auch hier 2. Kor. 1, 12 457 als Auslegung des Verses — macht ihn der Zustimmung Gottes gewiß. Solche Ehre ist rein. Deshalb ist vom Prediger nichts verlangt, als daß er sein Amt beobachtet, nach dem Heil der Seelen und der Reinheit seiner Lehre fragt 468 . Das gilt für alle Stände: fac opus tuum et mane in tua vocatione, illam fideliter exerce. Et frag nicht darnach, an schaden leiden, et potes dicere: fui praeceptor, cum omni fide tractavi, feci, quod potui, ideo certum, quod placeat 459 . Der Vater muß wissen, daß sein Werk gut ist, und sich darauf verlassen, daß es Gott gefällt. Auch in der Todesstunde und vor dem Richter darf der Mensch wissen, daß er richtig gehandelt hat: quia factum secundum vocationem460. b) Das Nebeneinander

von iustitia civilis und, Notwendigkeit der Rechtfertigung

Doch Luthers Anerkennung der Güte des Handelns bleibt streng auf den Aspekt der iustitia civilis beschränkt. Wieder 485 W. 40 II, 152, 9f. 456 W. 40 II, 154, 3f. W. 40 II, 150, 9f. Gloria nostra haec est, testimonium conscientiae nostrae, quod in simplicitate cordis et sinceritate Dei: et non in sapientia carnali, sed in gratia Dei conversati sumus in hoc mundo. 458 So schaw drauff, et habes apud te gloriam et dicere potes in conscientia: deo placet mea doctrina, opus (W. 40 II, 152, I5f.); Ideo spectemus nihil aliud quam opus (W 40 II, 153, 6f.); Specto an syncerum meum officium, pura doctrina, an laudatur a deo (W. 40 II, 151, 10f.); Si scio, quod fideliter gessi meum officium, tum glorior in domino deo; ista gloria est pura (W. 40 II, 149, i i f ). 469 W. 40 II, 153, 2f. 460 W. 40 II, 154, 8. 454

457

Die Erfüllung des Gesetzes

355

zeigt sich, daß Luther die Wirklichkeit nicht in zwei inhaltlich gegeneinander abzugrenzende Bereiche scheidet, sondern daß es ihm immer, nur von verschiedenen Bückpunkten her, um das Ganze geht. Wird die Anerkennung der Werke auf die iustitia civilis bezogen, so heißt das nicht, daß ihr vor Gott keine Bedeutung zukäme, im Gegenteil, die Begründung der Gerechtigkeit, die aus der Erfüllung von Amt und Beruf erwächst, im Gehorsam gegen den Willen Gottes wird überall deutlich. Anders: die Ordnungen des Berufes — Beruf umfaßt für Luther bekanntlich mehr als nur die Ausübung einer bestimmten beruflichen Arbeit — werden von Gott hergeleitet und müssen daher in bewußter Verantwortung vor ihm wahrgenommen werden. Trotzdem gilt: quando venit ad conscientiam, nihil 461 , d. h. die iustitia civilis ist von der Frage der Rechtfertigung zu scheiden. Der Mensch muß wissen, daß er sein Werk im Gehorsam gegen die göttliche vocatio in Wahrheit und Aufrichtigkeit tut 462 , und doch: Seimus remissionem peccatorum solle ghen super omnia opera4®3. Hinter dieser Unterscheidung zwischen iustitia civilis und Rechtfertigung wird wieder Luthers Differenzierung zwischen homo und persona sichtbar. Der Mensch steht in der Frage der Rechtfertigung vor Gott anders da als in seinem Amt. In einem früheren Zusammenhang setzt Luther die Sünde des Menschen ab gegen seine Erfüllung des Amtes und der dort von ihm geforderten Werke: si peccatum, tarnen meum officium et omnia opera, quae procedunt secundum officium, placent etc. 464 . Die Anfechtungen der Schuld erwachsen dem Menschen nicht als dem, der im Amt steht, sondern als dem, der er selbst vor Gott ist. Deshalb legt Luther in der Anfechtung alles Gewicht darauf, daß der Mensch nicht nur (!) dessen gewiß ist, daß er Gott um seines Amtes willen gefällt, in Bezug auf sich selbst aber zweifelt; sondern er muß wissen: non tantum officium, sed etiam personam. An dieser Stelle hat die Verkündigung des

22*

4el

W. 40 II, 155, ι·

462

W . 40 II, 155, 2.

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W . 40 II, 154, 9.

484

W . 40 II, 92, 9f.

356

Inhalt und Erfüllung des Gesetzes (1531)

Evangeliums ihren Platz: da ghehort theologia hin, ut sciant..., hier ist von Christus die Rede4®6. c) Die Gerechtigkeit des Amtes als Verwirklichung des in der Rechtfertigung gegebenen Gottesverhältnisses So kann Luther zwischen Sünde und Gerechtigkeit im Handeln des gleichen Menschen unterscheiden: er sündigt — und doch sind die Werke seines Amtes Gott wohlgefällig. Was er schuldig bleibt, vergibt Gott 466 . Obwohl diese Unterscheidung gelegentlich scheinbar zu einem Nebeneinander von amtlichem und privatem Handeln wird — non solum officium, sed quidquid vixero . . . in privatis locutionibus 467 — , wird hinter ihr die umgreifende Einheit sichtbar, die beide Aussagen, die Gerechtigkeit im Amt und das Sündersein als Person, trägt. Wir werden an die gleiche Stelle gewiesen, an der für Luther die Einheit von Schöpfungs- und Erlösungsglauben liegt: wie die Welt nur vom Evangelium her als Welt und als Schöpfung erkannt werden kann, weil nur das Evangelium der Vergötzung der Welt ein Ende setzt, so ist es auch das Evangelium, das dem Menschen die Möglichkeit erschließt, so in den weltlichen Ordnungen zu leben, daß er die Gerechtigkeit seines Handelns vor Gott aus ihnen und nicht aus sich selbst empfängt. Es lehrt ihn, diese Ordnungen als Schöpfung Gottes zu erkennen, die gut ist und die sein Handeln dann trägt und gerecht sein läßt, wenn er sie nicht zur Errichtung seiner eigenen Gerechtigkeit mißbraucht, sondern in ihnen lebt und sich dem Zweck hingibt, um dessentwillen die Ordnungen geschaffen sind. Leben in der Zuversicht, die die Bindung in ein Amt schenkt, heißt Verzicht darauf, das Amt für die eigene Ehre zu mißbrauchen, oder positiv: Bereitschaft, seine Gerechtigkeit nicht in sich selbst, sondern in dem von Gott gesetzten Amt zu suchen. Damit ist die Brücke zur Rechtfertigung geschlagen. In beiden Fällen geht es um eine Gerechtigkeit, die der Mensch empfängt: in den von Gott gesetzten Ordnungen — in Christus. Luther kann beides 466

576, ι f f . ; persona steht hier für homo oder ipse; vgl. auch 577, 1 ff.

4M

W . 40 II, 92, i o f .

487

577, i f f .

Die Erfüllung des Gesetzes

357

ineinandersehen, in ordine bleiben heißt nicht sich, sondern Christus die Ehre geben: Si vivis spiritu, maneas in ordine! Si vis vitare laudem, tunc, quando laudaris, scias non te, sed Christum in te, cui debetur laus et gloria. Das heist in ordine bleiben, et tum non quaererem meam gloriam468. Diese Haltung des Menschen, der seine Gerechtigkeit aus den ordines empfängt, in denen er die Ehre des Schöpfers sucht und nicht seine eigene, ist keine Möglichkeit, die er aus sich selbst hat. Sie ist die Wirkung des Geistes. Keiner kann der Versuchung, sich selbst zu loben und loben zu lassen, widerstehen, es sei denn, er habe den heiligen Geist. Nur die spirituales können sagen: Hoc facio, scio, quod divina vocatio, nihil respicio quam salutem animarum et deum in synceritate et veritate489. Wie die Verschiebung von Luthers Denkansatz über den Inhalt des rechten Handelns aus dem Gedankenkreis der Rechtfertigung in den der Schöpfung nicht als theologische Abweichung, sondern als Entfaltung des Rechtfertigungsglaubens verstanden werden mußte, so bedeutet auch dies betonte Einfügen der dem Menschen vor Gott bewußten Gerechtigkeit seines Amtes in den Fragenkreis der Gerechtigkeit kein Eindringen eines dem ursprünglichen Ansatz fremden Elementes, sondern ist im Grunde auch nur der Niederschlag des Durchdenkens der Rechtfertigungslehre im Blick auf die Inhalte des Schöpfungsgedankens. Wohl unterscheidet Luther die Gerechtigkeit des Amtes von der der Person, die in der Rechtfertigung empfangen wird. Die erste hat zur Frage der Rechtfertigung nichts beizutragen, doch sie ist letztlich eine Frucht, die aus dieser erwächst: die Einwohnung Christi, der Besitz des Geistes ermöglichen es ihm, die Gerechtigkeit, die er in der Erfüllung seines Amtes empfängt, als von Gott in diese Ordnung gelegte Gerechtigkeit zu verstehen und so ihm die Ehre zu geben. Wie 1519 das neue Leben in der Liebe verstanden werden mußte als Verwirklichung des Verhältnisses zu Christus, so ist auch hier das Leben im Amt nichts als die Verwirklichung des in der Rechtfertigung erschlossenen Gottesverhältnisses in den verschiedenen Bezügen des Lebens. Nimmt man hinzu, daß « 8 W. 40 II, 130/1 W. 40 II, 155, Ii ff. Anklang an 2. Kor. 1, 12 ?

489

358

Inhalt und Erfüllung des Gesetzes

Luthers Amtsbegriff nicht auf das berufliche Leben beschränkt ist, sondern die ganze Vielfalt des Lebens umfaßt — Vater, Mutter, Sohn, Tochter, Erbe —, so ist seine Beschreibung des Lebens im Amt wirklich nur als Konkretion seiner Beschreibung des Lebens in der Liebe zu verstehen. Wir fassen zusammen: in Luthers Vorlesung von 1 5 3 1 stoßen wir auf die gleiche enge Verbindung von Glaube und Werken wie in seinem Kommentar von 1 5 1 9 . Der rechtfertigende Glaube schafft Früchte. Im Unterschied zur Beschreibung der dem Glauben entsprungenen Werke als Erfüllung des Liebesgebotes schildert Luther 1 5 3 1 das Handeln des Glaubenden vornehmlich als das Erfüllen der weltlichen Ordnungen, in die er gestellt ist. Die Lebendigkeit seines Amtsbegriffes ermöglicht es ihm, das ganze menschliche Leben in all seinen Bezügen in diese Ordnungen zu fassen. Statt des Ansatzes beim Liebesgebot treffen wir auf den Ansatz der Ausführungen Luthers im Schöpfungsgedanken. Eine inhaltliche Verschiebung ist damit nicht verbunden. In Luthers Beschreibung des gerechtfertigten Lebens als eines Lebens in den weltlichen Ämtern spiegelt sich sein verstärktes positives Einbeziehen der Welt und des in ihr geforderten Handelns in den Bereich des Lebens vor Gott. Seine Entfaltung der weltlichen Ordnungen, in denen der Mensch lebt, ist eine verstärkte Konkretion des Liebesgebotes. Der Mensch wird von Gott an den als seinen Nächsten gewiesen, an den er in den vielfältigen Beziehungen und Verpflichtungen seines natürlichen Lebens gebunden ist, so gewinnt der Nächste des Liebesgebotes für ihn Gesicht. Wie die Erfüllung des Liebesgebotes, so läßt auch das Leben in den weltlichen ordines keinen Raum zur Errichtung einer eigenen Gerechtigkeit. Der Mensch, der in ihnen lebt, empfängt seine Gerechtigkeit von ihnen; lebt er in ihnen im Wissen um den Schöpfer, so empfängt er sie von Gott. Der Schöpfungsglaube erweist sich als die die Welt mit einbeziehende Gestalt des Rechtfertigungsglaubens. Die Trennung der gerechten Werke von der Gerechtigkeit des Glaubens kann daher 1 5 3 1 ebenso streng durchgeführt werden wie 1 5 1 9 . Wie 1 5 1 9 vermeidet Luther es auch 1 5 3 1 , feste Normen aufzustellen, an denen das Maß der Gesetzeserfüllung jeweils abge-

Zusammenfassung

359

lesen werden könnte, obwohl die Gefahr durch den Begriff der ordines größer ist als bei der einen, alles in sich zusammenfassenden Vorschrift des Liebesgebotes. Wie das Maß für die gottwohlgefällige Erfüllung des Liebesgebotes das Maß der in der Liebe verwirklichten Freiheit ist, so ist das Maß für jedes vor Gott gerechte Handeln in den weltlichen ordines ihr Verständnis als Ordnungen des Schöpfers. In diesen Rahmen fügt sich auch 1 5 3 1 Luthers Verständnis von der Funktion des Gesetzes. Trotz der deutlichen Weiterentwicklung im Vergleich zu 1 5 1 9 erwiesen sich uns Luthers Ausführungen nur als die das in dieser Betonung neue theologische Element des Schöpfungsglaubens mit aufnehmende Reflexionsgestalt seines schon 1 5 1 g dargelegten Verständnisses vom Gesetz und seinen Aufgaben. Die weitgehende terminologische Festlegung auf den ususBegriff bedeutet keine inhaltliche Veränderung, und die Ausbildung der Lehre vom usus legis civilis ist nichts anderes als die Entfaltung des von der Auflage der Heilsnotwendigkeit befreiten Gesetzes, das dem Verständnis des Gesetzes als Paränese entspricht, in das Reich der Welt. Auch für das Leben in den Ämtern und Ordnungen der von Gott geschaffenen Welt liegt das Maß der Erfüllung letztlich in der Freiheit des Evangeliums, die in solchem Leben verwirklicht wird. Und auch 1 5 3 1 weiß Luther von der völligen, im Evangelium erschlossenen Freiheit des Glaubenden von den Mahnungen des Gesetzes zu reden. Daß Luther 1 5 3 1 zu einer so viel positiveren Wertung des natürlichen Lebens und seiner Aufgaben vorgedrungen ist als 1519, muß im Zusammenhang seiner Ausbildung des Berufsgedankens gesehen werden 470 , der nach schon früher vorhandenen Ansätzen in der Wartburgzeit — als »die Frage der Mönchs- und Priestergelübde in Wittenberg ernsthaft trennend wurde« — seine letzte prinzipielle Klärung fand. 1 5 2 2 fiel für Luther der Glaube an eine besondere Berufung des Mönchs endgültig dahin, und dem konsequenten Einbeziehen des weltlichen Berufs und des ganzen Lebensbereichs der iustitia civilis 470 Vgl. Holl, Ges. Aufs., Bd. 3, S. 189 ff. (Die Geschichte des Wortes Beruf).

360

Inhalt und Erfüllung des Gesetzes

in den Kreis der theologischen Aussagen stand nichts mehr im Wege 4 7 1 . 471

Holl, a. a. O., S. 2 i 6 f . Holl verweist als Etappen in der Ausbildung des Berufsgedankens auf die Römerbriefvorlesung, die Leipziger Disputation und den Sermon von den guten Werken, abschließend die Kirchenpostille von 1522 (Predigt zum Johannestag, über Joh. 2 1 , 19—24; W. 10 1, 305 ff.). — Vgl. weiter Wingren, Luthers Lehre vom Beruf, S. 10 mit Anm. 3, der betont, daß »die Grenze für das Hervortreten des Berufsgedankens natürlich undeutlicher (ist) als die Grenze für das Wort Beruf«, jedenfalls aber darin mit Holl einig ist, daß »der klare Durchbruch« erst mit der Kirchenpostille von 1522 erfolgt ist (Anm. 3).

ν D E R APOSTOLAT Die D a r s t e l l u n g von 1 5 3 1 1 I. D I E APOSTOLISCHE AUTORITÄT A L S AUTORITÄT DES AMTES

i. Luthers Betonung des Amtsgedankens in Abgrenzung gegen die Schwärmer Erst jetzt, nachdem wir die großen Themen der Vorlesung abgeschritten haben, können wir uns Luthers Äußerungen zur apostolischen Autorität zuwenden. Eine Fülle der bereits angeschlagenen Töne klingt hier auf. Luther erläutert die Betonung des apostolischen Amtes durch Paulus, mit der der Galaterbrief beginnt, auch 1531 mit einer Schilderung der Situation in den galatischen Gemeinden: nachdem Paulus die Gemeinden verlassen hatte, drangen falsche doctores und andere angesehene Männer ein und predigten die Beschneidung; sie rühmten sich, Schüler der Apostel zu sein, Christus selbst noch gesehen und gehört zu haben und damit einen maßgeblichen Vorzug vor Paulus, dem erst später bekehrten Christen, zu besitzen, der es unternimmt, mit seiner Verkündigung die Tradition der Juden, d. h. des heiligen Volkes, zu durchbrechen, und der überdies ihrer Überzahl nur als Einzelner gegenübersteht. Diesem angemaßten Überlegenheitsanspruch setzt Paulus die Berufung auf sein Apostelamt entgegen2. Luther interpretiert auch hier von Anfang an in aller Schärfe, ständig schon im Blick auf den von Paulus berichteten Apostelstreit in Antiochien, in dem die ganze Argumentation des Paulus gipfelt: sum Apostolus, Et talis qui non fragt nach den andern et obiurgat ipsum principem Apostolorum®. 1 Alle folgenden Seitenzahlen beziehen sich, soweit nicht anders an2 8 gegeben, auf WA. 40 I. 54, iff. 56, 3.

Der Apostolat ( 1 5 3 1 )

362

Auslegung und Erörterung des ganzen hier aufbrechenden Fragenkreises steht für Luther auch diesmal deutlich unter dem Zeichen seiner gegenwärtigen Situation — doch das heißt für 1 5 3 1 nicht so sehr Abgrenzung gegen das Papsttum, sondern, im Blick auf die Verwirrung der Gemeinden dringender, Auseinandersetzung mit den Schwärmern. Die Lage in Galatien ist der gegenwärtigen Bedrohung der Gemeinden durch die schwärmerische Bewegung unmittelbar verwandt. Es ist der gleiche Kampf, den Paulus mit den Pseudaposteln auszufechten hat und den Luther mit den rottenses bestehen muß, denn überall, wo das Evangelium gepredigt wird, finden sich die ministri diaboli ein und suchen es zu zerstören, ob es in Galatien ist oder in den evangelischen Gemeinden der Gegenwart4. Es ist »so ein zarte ding umb die ecclesiam«5, daß die Gemeinden aufs leichteste verstört werden können; Luther selbst, obwohl er in der Schrift erfahren ist, ist immer wieder den Anfechtungen ausgesetzt, wie sollen dann seine Gemeinden sie bestehen®. Die teuflische Verblendung zielt stets in die gleiche Richtung: die Unfrommen wollen nicht unrein, sondern heilig sein!7 So scheint das Evangelium nicht zu genügen. Wie die Forderung der Beschneidung Mose nun doch über Christus setzt — Christus ein feiner Meister, incipit, sed Mose mus das gewelb schliessen —, so betrachten auch die Schwärmer das Evangelium nur als die Grundlage, den Beginn, dem sie ihre Lehre anfügen müssen8. So werfen Karlstadt und Müntzer Luther vor, er habe wohl gut angefangen, sei dann aber stehen geblieben und habe so auch den guten Ansatz verdorben9. Dem muß die Alleingültigkeit des Evangeliums entgegengehalten werden: principium, finis et medium sol zusamen 10 , d. h.: im Evangelium selbst ist alles Notwendige gegeben. Von dieser Situation her trägt die Berufung des Paulus auf sein Amt für Luther einen weit stärkeren Akzent als 1519. Dort lag sein ganzes Interesse auf der Behauptung der Unabhängigkeit des Paulus von der Autorität der Jerusalemer Apostel, in der Auseinandersetzung des Paulus erkannte er seinen eigenen Kampf mit Rom und klärte seine Entscheidungen an 4 8

67, 7 f f . 109, 5 ff.

5 9

103,3. 1 1 8 , 7 ff.

8 10

io

3 > 7 ff109, 8.

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109/10.

Der Apostolat als geschaffene Ordnung

363

dessen Haltung — jetzt, im Anblick der schwärmerischen Prediger, erhält die Verteidigung des berufenen Predigtamtes gegen falsche, eingedrungene Lehrer ein ganz anderes Gewicht und Interesse als zuvor. Dies wird gleich zu Anfang deutlich. Schon in der Auslegung des ersten Verses geht Luther im Anschluß an eine kurze Situationsschilderung und die Definition des Apostelbegriffes als missus und legatus regis, die der von 1 5 1 9 entspricht 11 , zu einer zusammenhängenden, prinzipiellen Erörterung der Frage der vocatio über 12 . E r verwendet hier nicht mehr das Schema der vier genera apostolorum des Hieronymus, sondern unterscheidet vom Text her eine doppelte Berufung: ab homine und per hominem. Die Front gegen die Schwärmer wird sofort deutlich: sie sind ab hominibus gerufen, d. h. sie haben sich selbst die vocatio erteilt und sich ins Amt gesetzt, sind also weder von Gott noch von anderen Menschen geschickt, reden aus dem Eigenen, meiden die öffentlichen Kirchen usw. Dagegen steht die vocatio per hominem, die Luther ineins setzt mit der vocatio divina. E r unterscheidet eine doppelte Form, die vocatio immediata, die allein durch Gott geschieht, ohne menschliche Vermittlung, d. h. die Berufung der Apostel durch Christus 13 , und die vocatio mediata, die seit den Aposteln in der Kirche geübt wird als Berufung, die durch Menschen ergeht, aber Gott zum Autor hat. Damit verklammert Luther von Anfang an — gegen den Wortlaut des Textes — die allgemeine kirchliche Berufung ins Predigtamt mit der Berufung des Paulus, eine Tendenz, die wir schon 1 5 1 9 bei seiner Übernahme des Schemas des Hieronymus beobachten konnten, die nun aber ungleich stärker hervortritt: die Frage der vocatio zum Predigtamt wird der Erläuterung der besonderen Berufung des Apostels sogar vorgeordnet und erhält einen weit breiteren Raum. 2. Der Apostolat als geschaffene Ordnung Die Gedanken, mit denen Luther seine Erörterung durchführt, fügen sich in das Bild, das wir bisher aus den Zusammen11

12 13 s. o. S. 3f. 58f. Vgl. dazu: ergo Christus non est homo, quia dicit, (non) ab homine' (127, 7)!

Der Apostolat (1531)

364

hängen der Vorlesung gewonnen haben, ein. Recht und Autorität des berufenen Amtes gegenüber der freien Predigt der Schwärmer sind begründet in der Einordnung des Predigtamtes in die Reihe der übrigen Ämter. Die Gültigkeit der vocatio hängt nicht an der Beauftragung durch einen kirchlichen Amtsträger, sondern ist gegeben mit der weltlichen Berufung: si magistratus, princeps aliquem vocat, habet vocationem ,per hominem'; das ist generalis vocatio in orbe terrarum post Apostolos; da bey sol mans auch lassen14. Die Geltung der vocatio als göttliche Berufung ist mit der Berufung durch den Träger eines anderen Amtes gegeben. Wenn einer oder der andere Bürger ihn bittet zu predigen — das sol ich lassen 18 . Doch: mandatum dei per os principis, das heissen noch vocationes verae. Wer durch den Fürsten oder den Magistrat berufen ist, kann sich rühmen, daß er seine Vokation mandante deo per vocem hominis empfangen habe 1 ®. Sie ist in eben dem Maße göttliche Berufung wie der Befehl Gottes an den Täufer, dem »factum est verbum domini super Johannem« kann der so Berufene seine eigene vocatio an die Seite stellen17. Mit dieser Bindung des Predigtamtes an ein berufendes anderes Amt ist zugleich seine Begrenzung gegeben: wer in einer Stadt berufen ist, soll nicht in den Bereich einer anderen eindringen und dort predigen, auch dann nicht, wenn die Verkündigung, die dort laut wird, dem Evangelium widerspricht. Andernfalls wird er seinem Auftrage ungehorsam und gesellt sich den Rottengeistern zu. Non sol aufftreten: man verfurt! ego! Das Eingreifen muß Gott überlassen bleiben18. Doch Paulus ist an die Galater gewiesen: habeo officium ad vos ad anunciandam vobis eandem revelationem quam ego habeo 19 , und sie sollen ihn hören. Das Amt des Apostels wird durch den von Luther eingeführten Oberbegriff der divina vocatio, der die mittelbare und die unmittelbare Berufung durch Gott zusammenschließt, in diesen Gedankenkreis eingefügt. Einen prinzipiellen Vorzug vor dem berufenen Prediger gesteht Luther dem Apostel demnach nicht zu. Wie selbstverständlich für ihn auch der Apostolat den Bedingungen aller Ämter unter14 18

59. 9«. 59/60·

15 19

61, 4L 143, 1.

18

60, 5f.

" 6 1 , if.

Der Apostolat als geschaffene Ordnung

365

worfen ist, zeigt seine Reflexion über die Rolle des Ananias bei der Berufung des Paulus: die Offenbarung seines Evangeliums erhielt Paulus auf dem Wege nach Damaskus durch die Erscheinung Christi, so brauchte er seine doctrina von Ananias nicht zu lernen. Doch es bedurfte eines äußeren Zeichens für seine vocatio, so empfing er durch Ananias die Handauflegung, sein ministerium, und ließ sich taufen 20 . Umgekehrt begreift Luther sein eigenes Amt in den gleichen Kategorien wie das des Apostels: seine Lehre hat er nicht vom Papst empfangen, die externa symbola jedoch, d. h. die Sakramente und die Heilige Schrift, sind ihm von dort überkommen21. Dieser Gedankenzusammenhang von vocatio und Autorität muß von Luthers prinzipiellen Erörterungen zum personaBegriff her verstanden werden. Die Einordnung des Apostolates und damit, wie wir sahen, des Predigtamtes überhaupt in die Reihe der übrigen Ämter wird hier besonders sichtbar. Luther verdeutlicht seine Unterscheidung von homo und persona bzw. larva oder facies an Hand der verschiedenen Ämter magistratus, praeceptor, discipulus, pater, mater etc.22, bis er schließlich von dieser allgemeinen Bestimmung her auf den Apostolat zu sprechen kommt, dessen Interpretation diese Unterscheidung von homo und persona ja gelten soll: Hic facies hominis vocatur Apostolatus23. Das Predigtamt ist wie die anderen Ämter auch im Schöpfungshandeln Gottes begründet. Das wird an anderer Stelle noch einmal sehr deutlich sichtbar, wo Luther die unberufenen Prediger ablehnt mit dem Argument: c r e a n t se magistros24. D. h. eigenmächtiges Predigen ohne ordentliche Berufung ist Ungehorsam gegen den Willen Gottes, der die Welt durch seine Larven und Werkzeuge regieren will25. 20

127, 9 ff.; 144, 3 ff.: oportuit habere externum signum vocationis. 22 23 24 145, 3ff. 175, 3f. 176, 10. 103, 4. 28 176/7. Auf den Schöpfungsgedanken deutet auch die Weisung des »deo rem comittere« (60, 2), mit dem Luther dem Prediger das Uberschreiten des ihm zugewiesenen Bereiches untersagt. Dies Uberlassen an Gott ist kein Zeichen verantwortungsloser Passivität, sondern zeigt, mit welchem Ernst Luther mit dem Regiment Gottes innerhalb der von ihm selbst gesetzten Ordnungen rechnet. Die lebendige Aktivität von Luthers Glauben erweist sich nicht im Greifen nach hoher und höchster Verantwortlichkeit an Stellen, an denen er nicht von Gott in diese Verant21

Der Apostolat ( 1 5 3 1 )

366

Gott will alle Ämter als seine creatura verstanden wissen. Damit ist ihnen zugleich Autorität verliehen, Gott hat sie gesetzt, um durch sie als larvae und instrumenta die Welt zu regieren. Luther betont wiederholt, daß die personae als Schöpfung Gottes in der Welt echte Autoritäten sind26, ja, indem er die gesamte Kreatur als Larve Gottes versteht, hinter der allein Gott dem Menschen ertragbar wird — nuda facie non possumus agere cum deo27 —, schreibt er ihnen an ihrer jeweiligen Stelle die höchstmögliche Autorität innerhalb der Welt zu. Von hier aus kennt Luther auch eine besondere Ehrfurcht vor den Aposteln. Im äußeren Leben sind ihre Vorzüge zu respektieren : sie taten Wunder, lehrten, wandelten mit Christus — non quod non curet (Paulus)! Nur in loco religionis spielen diese Unterschiede keine Rolle 28 . Gott ließ Petrus wie David in Sünde fallen, damit nicht seine persona, sondern Gott geehrt werde29 — daß er jedoch hier mit David genannt wird, zeigt, daß er in den Augen Luthers wie dieser eine besondere persona besitzt; Luther betont, daß er nicht Paulus, sondern den Christus loquens in ihm verehrt 30 — und doch hat Paulus eine persona vor anderen, es besteht auch ihm gegenüber die Versuchung, quod plus bauen auff person quam verbum 31 . Die Apostel sind, auch wenn die falschen Lehrer sich ihren Anspruch unberechtigt anmaßen und in Unrechter Weise zur Geltung bringen, die maiores magistri — die Berufung der Pseudapostel auf sie ist ein forte argumentum!32, sie sind die praecipui33, ja, sie haben Lehrgewalt inne, sie werden nicht nur Säulen der Kirche genannt, sondern sind es: in his pendebat autoritas publicandi dogmata, damnandi dogmata falsa 34 . Als Aposteln gebührt ihnen eine gewisse Vorzugsstellung, sie sind immediate vocati und werden deshalb heilig genannt. Diese Berufung ist für den Apostelbegriff konstitutiv, deshalb mußte Matthias, der nachgewählt •wurde, durch das Los berufen werden, um die Unmittelbarkeit wortlichkeit gesetzt worden ist, sondern in der erfinderischen Wachheit, mit der er den ihm übertragenen Verantwortungsbereich durchdringt und deren Grund wohl darin zu suchen ist, daß Schöpfungs- und E r lösungsglaube für ihn nicht auseinandertreten. 26 27 28 174, 6ff. 176, i f f . 174, 2f. 176, 1 0 f f . 29 30 31 32 1 7 5 , 8ff. 1 7 3 , 8f. 1 7 3 , 5. 128, i f f . 33

1 5 6 , 6.

34

1 8 3 , ηί.

Der Apostolat als geschaffene Ordnung

367

der Berufung durch Gott zum Ausdruck zu bringen, und Paulus nennt in jeder Aufzählung der Ämter die Apostel zuerst 38 . In diesen Zusammenhang scheint mir auch Luthers Bemerkung zu gehören, daß auch die Apostel das Vaterunser beteten und die Vergebung der Sünden glaubten, da sie uns in nichts voraus sind, sondern den gleichen Christus, die gleiche Taufe und das gleiche Wort haben und brauchen: Nihil habuerunt prae nobis . . . nisi quod Apostoli 3 ®. (Der ganze Zusammenhang richtet sich gegen die übermäßige Verehrung der Apostel, um deretwillen Gott gerade auch sie in Sünde fallen läßt.) Auch hier scheint mir nur von der besonderen weltlichen Ordnung des Apostelamtes die Rede zu sein. Die hier ausgesprochene Vorzugsstellung der Apostel widerspricht der grundsätzlichen Gleichheit aller Inhaber des Predigtamtes nicht, sondern begreift sich daraus, daß Luther die weltlichen Ordnungen, die er vor Gott als nichtig begriffen hat, innerhalb der Welt trotz dieser letzten Relativität, in der sie für ihn stehen, als Ordnungen Gottes ernst nimmt. Außer den Aposteln ist auch der Papst für Luther in besonderer Weise Autoritätsträger. Geschähe es nicht um des Gewissens willen, so hätte er ein schlechtes Gewissen, dem Kaiser und dem Papst zu widerstehen, die Gott den Heiligen zu ehren befohlen hat! 3 7 Mutete ihm der Papst nicht zu, sein Gewissen zu verletzen, so ließe er sich von ihm willig mit Füßen treten 38 , er wollte ihm nicht nur die Füße küssen, sondern ihn auf Händen tragen, wenn der Papst ihm die Glaubensgerechtigkeit zubilligen würde, denn es geht ihm nicht darum, den Kaiser usw. zu meistern. So aber will er allen Kaisern und xooo Päpsten nicht weichen39. D. h. Luther ist bereit, im Papst die höhere persona anzuerkennen, von der er sich innerhalb der kirchlichen Tradition auch selbst abhängig weiß 40 . Doch im Verständnis des Amtes als creatura ist zugleich seine Begrenzung durch Gott ausgesprochen, hier liegt ja das 85

61, i o f f .

37

178, i f f . Bezeichnenderweise konstatiert Luther hier eine Differenz

zu Müntzer! 40

36

38

197, 4ff. 177, 7 f f .

39

180/1.

Vgl. auch: Non habeo a Papa quod doceo; baptismum et biblia

aber hat er von ihm! (145, 3ff.).

368

Der Apostolat (1531)

Schwergewicht von Luthers Auslegung zum persona-Begriff. Wo den personae Göttlichkeit zugesprochen wird, werden sie mißbraucht: eas sic revereri tanquam personam tantum et eum oblivisci, das wil er nicht haben; usw. 41 Wo die Wahrheit des Wortes nicht auf dem Spiel steht, ist der Apostolat zu ehren, wo jedoch die Wahl getroffen werden muß, gilt: ut maneat Veritas Euangelii, pereat Apostolatus42. Dieser doppelte Aspekt — echte Autorität und Begrenzung—, der im Verständnis des Apostolates als creatura gegeben ist, bestimmt in Luthers Auslegung den ganzen Fragenkomplex. Die vocatio begründet für ihn eine echte Autorität, als Inhaber des Apostelamtes macht Paulus sie mit Recht gegen die falschen Apostel geltend. Sein Amt, das das Evangelium den Heiden predigt43, ist den Galatern gesetzt; habeo officium ad vos — einen anderen Doktor dürfen sie nicht hören, denn die Predigt, die den Heiden gilt, ist die des Evangeliums44, damit aber sind sie an Paulus gewiesen. Er ist für sie der apostolus noster45 und betont als solcher vor ihnen sein Amt ad captandam autoritatem, damit die Galater wissen, daß sie nicht nur einen Menschen, sondern einen Gesandten Gottes vor sich haben und aufmerksam und willig zum Hören werden48. Der Gedanke des Amtes wird — 1531 in weit betonterer Weise als 1519 — zur Begründung des apostolischen Autoritätsanspruches herangezogen. Trotzdem läuft die Auslegung von Anfang an auf die Frage nach Maß und Art der beanspruchten Autorität hinaus, schon in der Exegese des ersten Verses lenkt Luther den Blick auf den Apostelstreit: sum Apostolus, Et talis qui non fragt nach den andern et obiurgat ipsum prineipem Apostolorum47. Ebensowenig wie die Berufung der eingedrungenen Lehrer auf den Vorzug, den sie als Apostelschüler vor Paulus zu haben meinen48, bedeutet das Innehaben des Apostelamtes selbst eine Garantie, weder für die Richtigkeit der eigenen Lehre noch für die eigene Rechtfertigung. Wo die Berufung auf das Amt zum formalen Überlegenheitsanspruch wird, steht sie auf einer Linie mit der Berufung der Juden auf 41 48 47

175, 6f.; 176, 8f.; 173, 6ff. 4 4 143, i f f . 184, 6ff. 4 8 113, i f f . 56, 3f.

42 48

179, 3f· 135. 7·

46

57. 5 ff-

Die Bindung der Verkündigung an die Schrift

369

ihre Abrahamskindschaft. Und wie für Gesetz, Verheißungen und Tempel, so gilt auch für das Apostelamt: cessante fide omnia mortifera49.

II. DIE APOSTOLISCHE AUTORITÄT ALS AUTORITÄT DES EVANGELIUMS

i . Die Bindung der Verkündigung an die Schrift a) Luthers Gleichsetzung von paulinischem Evangelium und Schrift Das eben entfaltete Verständnis des apostolischen Amtes nötigt Luther auch 1531, die Betonung der Autorität, die Paulus für seine Verkündigung gegen die Lehre der Pseudapostel geltend macht, nun umgekehrt durch den Nachweis der Richtigkeit der paulinischen Lehre zu rechtfertigen, von der die Autorität des Apostels getragen wird. Der Nachweis seiner Autorität als Apostel ist nicht zu trennen vom Nachweis der Wahrheit seiner doctrina. Maßstab der Lehre ist das empfangene Evangelium. »Si quis vobis Evangelisaverit praeter id quod accepistis, Anathema sit« (Gal. i, 9). Paulus schließt sich selbst, alle Engel und doctores ein. Angeblich notwendige Zusätze und Interpretationen zum Evangelium, das die Galater empfangen haben, verfallen dem Anathema: Quod audistis, da bey bleibet50. Von hier aus zieht Luther unvermittelt die Konsequenzen für die Gegenwart: Maßstab aller Lehre ist die Schrift 61 . Der Anspruch des Papstes, Gewalt über die Schrift zu haben, da der Kanon das Werk der Kirche sei, besteht zu Unrecht. Dieser Argumentation — »approbo hanc scripturam, ergo super scripturam« —, die ebenso widersinnig ist, als wolle man Johannes, der mit dem Finger auf Christus weist und ihn anerkennt, über Christus stellen, kann nur die durch nichts begrenzte Autorität der Schrift entgegengesetzt werden. Alles muß sich ihr unterwerfen und gehorchen. Nichts darf gehört und gelehrt werden außer dem Wort des Evangeliums (hoc verbum!), die Prediger sind nicht 49 24

217, 6.

50

Bornkamm. Galaterbricf

118, 5.

51

I20, 5.

370

Der Apostolat (1531)

Meister und Richter der Schrift, sondern einzig und allein Zeugen, Schüler und Bekenner. »Das ist der text«52. Luther setzt die Schrift mit dem Evangelium, das die Galater von Paulus empfangen haben, unmittelbar in eins, der Anachronismus kümmert ihn nicht: Paulus simpliciter seipsum, angelos . . . doctores . . . rapit et subiicit sacrae scripturae53. Wie stark er die damalige und die gegenwärtige Situation unter theologischem Aspekt ineinandersieht, zeigt eine spätere Bemerkung zur Offenbarung, in der Paulus sein Evangelium empfangen hat. Auch Paulus erhielt das Evangelium durch das äußere Wort, das vom Himmel herabkam und dann durch den Geist innerlich erschlossen wurde: Paulus non habuit revelationem internam, nisi prius audisset externam: ,Tu es qui me persequeris'; da werden die revelationes angangen sein64. Die Gleichheit der theologischen Situation im Blick auf die Offenbarung des Evangeliums an Paulus, auf die Lage in Galatien und die Problematik des Verhältnisses von Schrift und Lehre zur Zeit Luthers hegt für Luther offensichtlich darin, daß in allen Fällen ein verbum externum als Vermittler des Evangeliums dient, das als solches zugleich das Maß für die Wahrheit der Verkündigung abgibt und damit ihre Autorität begründet. Das sofortige Hinüberspielen der Frage nach der Autorität des paulinischen Evangeliums zur Frage nach der Autorität der Schrift zur Zeit Luthers ist keine exegetische Ungenauigkeit, um die damalige Problematik zu vergegenwärtigen, sondern es weist hin auf einen die verschiedenen historischen Situationen umgreifenden theologischen Tatbestand: die Spannung zwischen dem verbum externum, das äußerlich gehört, und dem verbum internum, das innerlich angenommen und geglaubt wird. b) Luthers Entfaltung des

Schriftprinzips

Wir hatten bereits gesehen, wie stark diese Spannung in Luthers Berufung auf die Schrift als Kriterium der wahren Lehre, die auch an der zitierten Stelle zu Gal. 1, 9 wieder so eindeutig zum Ausdruck kommt, mit hineingedacht werden δ2

I20, i f f .

63

120, 4L

64

142, 5f.

371

Die Bindung der Verkündigung an die Schrift

muß55. Das läßt sich noch einmal besonders gut an Luthers Exegese zu Gal. i , n f . beobachten, der Äußerung des Paulus, in der dieser die Wahrheit seines Evangeliums mit dem Hinweis auf die ihm zuteil gewordene Offenbarung Jesu Christi zu erweisen sucht: »Notum enim facio vobis, fratres, Evangelium quod Evangelisatum est per me, non esse secundum hominem. Neque enim ego ab homine accepi illud neque didici, sed per revelationem Jesu Christi«. Hier, angesichts des Versuches des Apostels, die Galater durch den Hinweis auf den Offenbarungscharakter seines Evangeliums zu überführen, bricht Luther unter der Hand die Problematik von äußerer Autorität und innerer Überzeugungskraft des göttlichen Wortes auf. Es zeigt sich, daß das Kriterium der rechten Lehre, mit der die Autorität des Apostels steht und fällt, nicht ohne weiteres auf autoritativem Wege geltend gemacht und ergriffen werden kann. »Das wird die propositio werden . . ., und da wird er zu schweren und bitten Galatas, ut credant«56. Luther sieht Paulus weniger autoritativ als bittend und werbend auftreten. Seine Lage vor den Galatern ist schwierig, die Argumente der falschen Apostel sind stark, auch wenn sie lügen, und die Galater »frisch da hin geworffen«57 und schwach68. Hier sind Paulus selbst Grenzen gesetzt, denn diese Situation zeigt, daß den Galatern das rechte Verständnis des Evangeliums abhanden gekommen ist, das aber ist letztlich ein Handeln Gottes: dominus subtrahit usum spiritus69. In solcher Lage kann dann durch ein falsches Argument in der Tat alles verloren gehen. Die Lage der Galater wird Luther zum Beispiel der uns bereits bekannten Spannung: causa lubrica, quo ad nos, per se fortis60. Damit können die Situation des Briefes und Luthers Gegenwart wieder unmittelbar ineinsgesetzt werden, was Luther an den Galatern sieht, bestätigt er aus eigener Erfahrung: Ego novi, quoties in animo verliere; habui (besser hab/eo?) quandoque ut ein all beim schwantz; ideo ghets nicht so zu, das mans auff ein mal etc.®1. Aus seiner Vergegenwärtigung der Lage in den galatischen Gemeinden, der Paulus sich gegenüber sieht, gleitet Luther unmittelbar hinein in die Interpretation dieser 66 69

24*

s. o. S. i88ff. 128, 7.

66 60

126, 7ff. "128,5. 129, 1 ; s. o. S. 195.

68 61

129, i. 129,2f.

Der Apostolat (1531)

372

Lage als Anfechtung, in der die Galater sich gegen Teufel, Gesetz, Verstand und Fleisch zur Wehr setzen müssen — er verweist sogar auf Rom. 7! — , sodaß sie nicht wirklich zu glauben vermögen®2. Dieser Situation kann nur mit dem Wissen begegnet werden, daß Glaube und Erkenntnis eine Gabe Gottes sind, die er in uns schafft, die er — hier tritt das verbum ins Blickfeld — durch das Wort schenkt, wachsen läßt und bewahrt®3. Hier ist die Funktion des Wortes eine weit andere als die einer autoritativen Lehre, es geht darum, das, wovon die Rede ist, zu lernen und zu bewahren cum assiduo studio et oratione, denn Tod, Teufel, Gesetz und Zorn Gottes sind keine harmlosen Feinde®4. Das heißt, das apostolische Wort kann nur in der Form eigener Aneignung übernommen werden, dies kann allein im Gespräch mit dem Wort geschehen und ist weder der Vernunft noch dem Willen unterworfen. Das Gespräch, das sich angesichts der überzeugenden Argumente gegen die Wahrheit der Evangeliumspredigt vollzieht — Kirche, Apostel, große und heilige Männer stehen gegen sie!®6 — , ist in seinem Verlauf das Widerfahrnis des Tatbestandes, den das Evangelium aussagt, und eben darin, daß der Angefochtene sich diesem Widerfahrnis aussetzt, die Annahme des Evangeliums selbst und das Erlangen der rechten doctrina. Das Gewissen ist unter den Angriffen des Satans, des Fleisches und der ratio unruhig und ängstlich, bis der Mensch sich gegen alle Stimmen damit tröstet, daß er durch das Festhalten an dieser doctrina nicht den Menschen die Ehre gibt, sondern Gott, dem Schöpfer, der aus dem Nichts erschafft (Luther erinnert hier an Staupitz)®®. Das aber ist nichts anderes, als daß er den Inhalt des Evangeliums ergreift. Indem er sich diesem Worte hingibt, vollzieht er selbst die Absage an die Fülle der anderen Stimmen und empfängt die Gewißheit der rechten Lehre: Tum dicere possum: 62

129, 5 ff.; vgl. auch: acriter arguit istos pseudoapostolos qui rursum

Galatas revocarant ad legem . . . Apparet res esse valde levicula docere legem et statuere opera, sed nemo satis perpendet magnitudinem periculi . . . E s t ipsa iusticia, mors, deus peccatum . . . certitudine

(erg. internus, s. Apparat!)

Sind audaces tropffen gewest.

(115, 3ff.)· Diese

Beurteilung

Ideo insurgit cum

der Verführer

trogenen findet sich öfter. 83

130, i f .

64

130, 5ff.

65

130, 9 f f .

66

131, i f f .

als die

et sua Be-

Die Bindung der Verkündigung an die Schrift

373

es sthe Augustinus et ecclesia dabey — und nun sehr bezeichnend für Luthers eigenen Umgang mit dem Evangelium — sive ego qui saepe sentio contra hanc doctrinam . . . tarnen . . . 67 . Die rechte Lehre besteht darin, trotz aller Heiügkeit der Kirche und ihrer Lehrer die Wahrheit der 5. Bitte geltend zu machen und damit alle menschliche Gerechtigkeit zu zerstören68. Damit ist inhaltlich Luthers Beschreibung der Anfechtung (der Galater) und der Überwindung im Hören auf das Evangelium (des Paulus) abgeschlossen. Luther zieht nun die Konsequenz aus seiner Exegese und formuliert die entscheidende Einsicht, der Paulus für ihn Ausdruck gegeben hat, indem er die Galater auf die an ihn ergangene Offenbarung verweist: ecclesia, ubi docet extra scripturam et verbum dei, errat. In diesem Satz wird endlich das Schriftprinzip formuüert, auf das die ganze Exegese zusteuert und das in dieser Formulierung als Kriterium verwendet werden kann: Petrus, der höchste Apostel, hat geirrt, als er lebte und lehrte extra verbum69. Die Autorität des apostolischen Amtes, die Paulus den Galatern gegenüber geltend macht, steht und fällt mit der Richtigkeit der apostolischen Lehre, die sich am paulinischen Evangelium ausweisen muß. Das heißt für Luther: die Autorität des Amtes steht und fällt mit der Übereinstimmung von Lehre und Predigt mit der Schrift. Die Anerkennung dieses Maßstabes, der allen erhobenen Autoritätsanspruch mißt und begründet, kann jedoch gerade nicht auf autoritativem Wege erzwungen werden, sondern setzt seinem Wesen nach ein inneres, hörendes Überführtwerden voraus. Wie selbstverständlich für Luther die Berufung auf die Autorität der Schrift als Maßstab aller Lehre durchtränkt ist von dem Bewußtsein, daß mit ihr als formaler Forderung das Entscheidende noch nicht ausgerichtet ist, zeigt sein kurz auf das eben zitierte »ecclesia, ubi docet extra scripturam et verbum dei, errat« folgender Schlußsatz der ganzen Erörterung: Ideo quisque v i d e a t , ut certus sit de sua doctrina70. Nach allem Vorangegangenen liegt in dem videat nicht die Aufforderung, sich nach einer festen Lehrautorität auszurichten, sondern die Ermahnung, den gegen das Evangelium gerichteten Stimmen des Teufels standzuhalten und es 67

1 3 1 , 6f.

68

132,2«.

69

132, 6ff.

70

133,4.

374

Der Apostolat

(1531)

damit zu ergreifen und zu bewahren. Diese innere Gestalt des Schriftprinzips, die das Element des Hörens einschließt, ist zurückzuführen auf Luthers Verständnis des Evangeliums als Wort — wir sahen, daß sich auch der doctrina-Begriff diesem Verständnis einfügt — , dessen Inhalt seine eigene alleinige Anerkennung ist, dessen Anerkennung jedoch nur im Hören geschehen kann, da sie nicht in einer willentlichen, intellektuellen Konzentration auf den Gehalt einer Lehre besteht, die andere Stimmen entschlossen zurückweist, sondern in einem Aufgeben der eigenen Möglichkeiten — Luthers »in practica«! — , gerade auch der intellektuellen 71 , angesichts des göttlichen Zuspruchs, der seiner Widervernünftigkeit und Widernatürlichkeit wegen nur im Ergreifen als solcher verstanden wird, sich aber eben darin als Wort erweist, das seinen Platz in der Sphäre der personhaften Begegnung hat und als Selbstmitteilung der begegnenden Person, die vom Betroffenen ein Entgegnen mit dem Einsatz der eigenen Existenz fordert, die Sphäre des Rationalen sprengt. Indem die Autorität des Apostolates an die Autorität der schriftgemäßen Verkündigung gebunden wird, die aber nur dem vernehmenden Hören ihre Autorität als Wort Gottes erweist, bleibt das Apostelamt vor dem Verständnis als bloß formaler Autorität bewahrt. Die Anerkennung des Apostolates bedeutet zugleich die Anerkennung des apostolischen Evangeliums, beides kann durch keine noch so überzeugende Argumentation erzwungen werden. Deshalb leitet Luther seine Erörterung ein: und da wird er zu schweren und bitten Galatas, ut credant 72 . 2. Die Geschichte des Paulus als Zeugnis für die Göttlichkeit seines Evangeliums a) Das Leiden des Apostels Damit entspricht die Exegese Luthers theologisch dem paulinischen Text, denn die Berufung des Paulus auf die ihm zuteil 7 1 Selbstverständlich, nicht im Sinne der intellektuellen Werkgerechtig72 126, 9. keit eines sacrificium intellectus!

Die Geschichte des Paulus als Zeugnis

375

gewordene göttliche Offenbarung, die Luther zur Entfaltung seines Schriftprinzips veranlaßt hat, ist für die Galater letztlich ebensowenig zwingend wie Luthers Berufung auf die Schrift in der Anfechtung. Deshalb gibt Paulus durch den Bericht seiner Geschichte noch andere Zeugnisse für die Wahrheit seiner Predigt und seines Amtes, die auch von Luther als solche herausgearbeitet werden und in ihrem Gewicht die auf den ersten Bück formale Berufung auf die Schrift scheinbar überbieten, sie in Wahrheit jedoch nur inhaltlich interpretieren: die erlittene Verfolgung und die Tatsache, daß gerade er als »abundantius Zelotes«73 zum Apostel berufen wurde. »Nunc enim homines suadeo an Deum ? An quaero hominibus placere? Si adhuc hominibus placerem, Christi servus non essem« (Gal. i, 10). Kennet man mich denn nicht? non videtur mea conversatio, crux et vexatio? Man sols yha an meinem predigen spüren und wandel74. Luther setzt die Geschichte des Paulus als gleichwertiges Zeugnis neben seine Predigt, denn sie entspricht dieser aufs genaueste: Sicut praedicamus, so finden wirs 76 . Die Predigt des Paulus, die der Ehre und Verherrlichung Gottes gilt, enthält eben damit die Absage an jegliche Verherrlichung des Menschen, ja, seine Verurteilung. Wer die Werke Gottes verkündet, verdammt die Werke der Welt 76 . Ich sol predigen, quod omnes sint diaboli; das heist nach schlegen (gerungen)77. Die Welt kann die Verurteilung ihrer Religion, Weisheit, Gerechtigkeit und Macht nicht ertragen, deshalb trifft sie den Prediger mit ihrem Haß, wie sie Christus gehaßt hat 78 . Die Feindschaft, die Paulus erleidet, bezeugt seine pura doctrina, deren Reinheit darin besteht, daß sie seinem Auftrage entspricht, Gesandter zu sein, der allein nach der Ehre dessen fragt, der ihn sendet. Jede doctrina, die sich gegen die Gnade stellt, d. h. die dem Menschen Ehre einräumt, ist von diesem Maßstab her gesehen nicht rein und kann mit Sicherheit als teuflisch erkannt und mit dem Anathema belegt werden79. Das 73

74 75 135, 1. 120, ioff. 121, n f . 1 2 1 , ηί.\ diese Stelle ist zugleich ein Beispiel für Luthers antithetisches Denken: er gewinnt diesen Gedanken an Hand von Ps. 19, 1 : Coeli enarrant gloriam dei I 77 78 79 1 22, 2f. 1 2 1 , 8ff. 1 22, 7ff. 76

Der Apostolat (1531)

376

Schicksal des Paulus wird unmittelbar zur Predigt, seine Geschichte enthält die Botschaft des Evangeliums, er ist ein exemplum des Evangeliums, das den Galatern vor die Augen gesetzt ist: »sehet yrs nicht, wie mirs ghet?« 80 . b) Die Berufung des Pharisäers ins Apostelamt Das Gleiche gilt für die Tatsache seiner Berufung. Der Ton liegt auf dem »cum autem placuit deo« (Gal. 1,15), denn von einem Verdienst des Paulus, der ein jüdischer Eiferer und Verfolger der Gemeinde war, kann keine Rede sein. Ruebam in furores scelestissimorum criminum et homicidium et mittem yhm blut schwebte; hab ein kostlich meritum. Aber Gott erbarmte sich und schenkte ihm an Stelle der eigenen merita, die der Stolz des Paulus waren, seine Gnade 81 . Paulus begründet seine Berufung mit dem Hinweis auf die praedestinata gratia dei82 — gemäß dem Text: me segregavit ex utero matris meae (Gal. i , 15); Gott hat diese Bestimmung des Paulus schon lange im Sinn gehabt: dum adhuc essem in utero matris, hat ers schon beschlossen, das er mich wolt lassen lauffen ut einen narren. Als Paulus noch nicht geboren war, wird er in Gottes Augen bereits Apostel 83 . Das ist praecise praecidere merita! 84 . In diese Schilderung der Geschichte des Paulus verflicht Luther unmittelbar seine eigene, gleich zu Anfang seiner Exegese zu Gal. 1, 13 f. zieht er beides ineinander. Ich hab herter druber gehalten quam vos et pseudoapostoli vestri. Sic ego bin tieffer in monachatu gesteckt usque ad dilirium 86 , und die Schilderung der Vergangenheit des Paulus ersetzt Luther weitgehend aus seiner eigenen Biographie: Paulus schwebte im Blut — Luther ist in scheinbarer Heiligkeit einhergegangen, unter der Mißtrauen, Furcht und Gotteslästerung wuchsen, sodaß er eine rechte latrina diaboli war, denn: (der Teufel) habet seer libenter tales Sanctos qui perdunt suas animas, da lacht er86. So tief steckte er in seiner Heiligkeit, daß er, wenn Huß zu seiner Zeit verurteilt worden wäre, auch 80 84

124, 8. 140, 1.

81 86

136/7. 134, 2f.

82 86

140, 3. 137, 7f.

83

139, 8ff.; 140, 2ff.

Die Geschichte des Paulus als Zeugnis

377

Holz und Stroh herbeigetragen hätte, wenn nicht mit den Händen, so doch mit dem Herzen87. Wie die Verfolgung des Paulus, so ist auch seine, des Verfolgers, Berufung für die Galater ein Zeugnis für die Wahrheit seiner Lehre. Beides bezeugt die Wahrheit seiner Verkündigung, weil in beidem der Inhalt des Evangeliums in der Geschichte des Paulus selbst seinen Ausdruck findet und Paulus hier im zutreffendsten Sinne als Zeuge vor den Galatern steht: Ab exemplo solt yhrs sehen88. Wir stoßen hier auf das gleiche Verständnis der Geschichte des Apostels, das wir schon von 1519 her kennen89: sie ist für die Galater Träger der paulinischen Verkündigung, der sie durch ihren Verlauf — gedeutet durch das Wort des Paulus — Ausdruck gibt. c) Die Unabhängigkeit des Paulus von den Uraposteln Gegenüber diesen Zeugnissen für die Wahrheit der paulinischen Verkündigung, die es vom Inhalt des Evangeliums selbst her deutlich zu machen suchen, daß die Lehre des Paulus nicht menschlichen Ursprungs ist, und die damit tief in das Wesen dieser Botschaft hineinführen und selbst zur Predigt werden, erscheint der äußere Nachweis, den Paulus von Anfang an als tragenden Gedanken mitlaufen läßt und den auch Luther vom ersten Verse an betont, daß Paulus nichts von den Uraposteln übernommen habe, harmlos und relativ unwichtig. Diese ganze Argumentation ist Paulus durch die falschen Apostel abgenötigt, die sich ihm gegenüber ihres Vorranges rühmen, er antwortet ihnen auf der gleichen Ebene: contra hanc iactantiam greifft er fluchs drein90, ihrem Rühmen setzt er seine iactantia entgegen: sum Apostolus, Et talis qui non fragt nach den andern91, er spielt seine vocatio gegen sie aus, die als vocatio immediata a deo höher steht als alle seit der Berufung der Apostel ergangenen Vokationen92. Nach dem Fleisch wäre dieser Selbstruhm höchste Sünde, doch in dieser Situation geschieht er als necessaria gloriatio93 und sanctissima superbia94. 87

138, i f .

88 134, I.

91

56, 3f.

92

58, i o f .

8» s. o. S. 1 7 f f . 93

57, 9.

90

55, 5.

84

64, I.

Der Apostolat (1531)

378

Doch obwohl Luther die letzte Uneigentlichkeit dieser Argumentation sichtbar werden läßt, mißt er auch ihr wesentliche Bedeutung bei. Ebenso wie die anderen Ereignisse aus der Geschichte des Paulus — die Berufung des Pharisäers und die ihm begegnende Feindschaft — gehört die Tatsache, daß er nach seiner Berufung nicht in Jerusalem war, seine Lehre also gar nicht von den Uraposteln empfangen haben konnte, zu den historiae et res gestae96, mit denen Paulus sein Argument »quod non ab homine« erhärtet. Zu Anfang einer neuen Stunde bückt er auf die eben begonnene Auslegung zu Gal. 1, 17 ft. zurück: Audivimus, quod ista historia narratur tantum ad confutandos pseudoapostolos et eorum argumenta qui gloriati Paulum fuisse discipulum et audientem caeteros Apostolos, qui vixerunt secundum legem et Paulus simile etc. 96 . Die Widerlegung formaler und inhaltlicher Argumente greift ineinander, Luther läßt sie auch völlig in eins fließen. Paulus richtet alles, was er sagt, darauf aus, das »non ab homine« zu beweisen97, d. h. positiv: zu zeigen, daß sein Evangelium göttliches Wort ist. Hier geht es um eine Frage auf Leben und Tod, das Bewahren der Kirche in der gesunden Lehre 98 . Die Galater müssen es wissen, daß das Evangelium des Paulus Wort Gottes ist — ideo dringt er so drauff". Die Begründung dafür, daß der Nachweis des Paulus, nicht in Jerusalem gelernt zu haben, den vorangegangenen inhaltlichen Zeugnissen an Bedeutung nicht nachsteht, liegt in der inneren Situation, in die hinein Paulus schreibt. Indem er versucht, den Galatern den Verdacht zu nehmen, daß er geringer zu achten sei als die neu auftretenden Lehrer, wird ein wesentliches Hindernis für das Hören der paulinischen Botschaft bei ihnen beseitigt. Das ist in gewissem Umfange möglich, denn im Grunde sind sie nicht abtrünnig, sondern verführt — tarn cito transferimini (Gal. 1 , 6 ) ! —, sie sind »ein wenig zu leichtfertig«, haben das Wort nicht ausreichend erfaßt und lassen sich von jedem Winde bewegen 100 . Ach das ir euch von dem wenden und so leicht lasset abwenden ab eo etc. ! 1 0 1 Deshalb gibt Paulus ihnen auch »die schuld nicht so fast« 102 , sondern die eigentliche Härte des Vorwurfs, vom 95

134, 1.

"^147,4.

96

145, 8ff.

N» 104, 7.

97 101

146, 1.

108, if.

98

147, 9f. III, I.

Die Geschichte des Paulus als Zeugnis

379

Evangelium abgefallen zu sein, richtet sich von Anfang an gegen die falschen Prediger selbst. Die Gemeinden — seine Galater! — sucht Paulus mit väterlichen Worten103, väterlichem Eifer und mütterlicher Liebe zu gewinnen und ihnen die Möglichkeit wieder zu erschließen, das Evangelium zu fassen. Sie müssen begreifen, daß er sie nicht verurteilt, sondern nach ihrem Heile fragt! 104 Sic parentes, quando canis hat gebissen puerum, magis invehuntur in canem quam in puerum, ibi eitel süsse wort auff das schreiend kind . . . Ideo ex abundantia cordis (loquitur)105. Im Lichte dieses Werbens um die Gemeinde sieht Luther das Bemühen des Paulus, seine Unabhängigkeit von den Uraposteln nachzuweisen. Die Situation in Galatien sieht in der Tat so aus, daß Paulus die Möglichkeit fehlte, sich mit den falschen Aposteln auseinanderzusetzen, wenn er diese Unabhängigkeit, die den äußeren Nachweis für die Göttlichkeit seines Evangeliums erbringt, nicht belegen könnte106. Necessitas ecclesiae requirebat hoc et eius ministerium . . . Ideo dringt er so drauff 107 . Von dieser Lage her, in der es um die Menschen geht, die durch den Selbstruhm der falschen Apostel verführt wurden, erhält Luthers »Ibi est necessitas, non iactantia«108 seinen Ernst. Es steht sehr viel mehr auf dem Spiel als eine Widerlegung einer falschen Anmaßung der falschen Prediger und eine korrigierende Belehrung der Gemeinden. Obwohl die Anmaßung der Pseudapostel nur ein kleiner Windstoß ist, lassen sich die Galater doch durch ihn von Christus fort bewegen109. Luther selbst hätte es kaum für möglich gehalten, daß es so leicht ist, uno argumento ein schaden geschehen ut über mas 110 . Uno argumento — Luther zitiert es: quare vellent Galatae minori obtemperare et contemnere suos Maiores Magistros ? m Unter dem gleichen Gesichtspunkt wie der Nachweis, daß er nach seiner Bekehrung mit den Uraposteln in keiner nennenswerten Verbindung112 gestanden habe, steht sein anschließender 101 1 0 1 , 9 . 10S 102, i f . ioo, 6. ιοβ Nisi hoc habuisset, non potuisset contradicere pseudoapostolis! 103

(147. 4f·)·

107

1 47 . 3 f -

108

147,

7t

110 128, 6f. 1 1 1 128, 3f. 104, 8. 1 1 2 Paulus spricht nur von einem späteren 15-tägigen Besuch (Gal. i, 18). Beachte Luthers Überlegung zu »15 dies«: quid potuisset 15 diebus 109

Der Apostolat ( 1 5 3 1 )

380

Bericht über seinen Zug mit Titus nach Jerusalem und die Anerkennung und Übereinkunft, die er dort für sein Apostelamt und seinen Auftrag der Evangeliumspredigt erzielt hat. Luther legt sich den Grund für die Fahrt nach Jerusalem zurecht 113 : offenbar sind Paulus durch eingedrungene Judenchristen Schwierigkeiten erwachsen, die sich für ihn und die Gemeinde dadurch komplizieren, daß er selbst bei anderer Gelegenheit Timotheus hatte beschneiden lassen. Um hier Lösung zu schaffen, zieht er nach Jerusalem: .Ascendi', ubi vidi, das das geschrey zu gros wolt werden. Der Beweggrund war die Sorge um die Gemeinde: omnia non propter me, sed vos 114 . Er selbst hätte der Stärkung und Festigung im Evangelium durch die Apostel nicht bedurft — non dubitabat de Euangelio — , doch es ist ihm zu tun, »daß die Wahrheit des Evangeliums bei euch bestünde«115. Daß er Titus nicht beschneiden lassen mußte, war »ein großer triumphus«, ebenso die Anerkennung und Zustimmung, die er als Apostel des Evangeliums bei den Uraposteln fand 116 , sie ist wichtig als Gegenargument der Gemeinden gegen die falschen Lehrer: das mecht yhr vestris pseudoapostolis wol sagen 117 , und die Erkenntnis, daß die Autorität der großen Apostel, die die falschen Prediger für ihre Lehre in Anspruch nehmen, nicht gegen, sondern für Paulus steht, mag der Gemeinde eine Hilfe gegen deren Verkündigung sein: Ideo, mei Galatae, ne credatis eis qui autoritatem Apostolorum iactant 118 . So legt Paulus für Luther starkes Gewicht darauf, daß ihm auf dem Apostelkonvent in Jerusalem die Gleichheit seines Apostelamtes mit dem der Urapostel bestätigt wurde. Alle haben die gleiche vocatio und den gleichen Auftrag, die unmittelbar von Gott stammen119. Daß Paulus ebenso von Krafttaten berichten konnte wie Petrus, zeigt, daß der gleiche Gott und der gleiche Geist mit ihm ist wie mit diesem120, Petrus hat Paulus nichts gelehrt oder verliehen, sondern discere ? Si fuisset discendum Euangelium, so hette er 2 vel 3 iar bey y h m must bleiben; eiusmodi praeceptor fieret in 1 5 t a g ? — Der Druck hielt 2 vel 3 iar offenbar noch für zu kurz, er spricht von aliquot annil (148, 6 f f . 20). 118

161, iff.

120

187, 4 f f .

113

153, 3 f f .

114

I53,8ff.

115

117

1 5 5 , 5f.

118

183, 1 f.

119

163, 1 f. 186/7

Zusammenfassung

381

erscheint auf dem Konvent als testis ministerii Pauli. Petrus und Paulus stehen wie eine Person 121 . Führen wir den Nachdruck, mit dem Paulus die Gleichheit seines Amtes mit dem der Urapostel betonte, auf die innere Situation zurück, auf die er in Galatien stieß, so wird damit das theologische Gewicht dieser Aussagen nicht gemindert, sie erhalten so ihr eigenes Gewicht neben dem Hinweis des Paulus auf seine Geschichte als einen Träger seiner Verkündigung. Die echte Amtsautorität gehört mit in den Kreis dessen, was vom Evangelium her erkannt wird. Luther setzt gleich zu Anfang beides in engste Beziehung zueinander: die Galater lassen sich abwenden von Christus, der nicht wie Mose zu Zorn, Gesetz und Sünde, sondern zur schieren Gnade beruft — dies wird ergänzt durch die Betrachtung: Ists nicht ein erbermlich iemerlich ding, quod doctrinam gratiae nemo amplecti (vult); affert gratia iudicium omnium r e r u m , confirmat magistratum, oeconomiam, universos ordines,122 eine Bemerkung, die im ganzen Zusammenhang relativ unmotiviert erscheint und ihr Dasein dem gedanklichen Ineinander von Behauptung des Amtes und Predigt des Evangeliums verdanken mag, das in der ganzen Auslegung der ersten i 1 / 2 Kapitel zum Ausdruck kommt. Überblicken wir Luthers Äußerungen zum Apostolat von 151g und 1531, so bietet sich ein in den Grundzügen einheitliches Bild: die Definition des Apostels als Prediger des Evangeliums ist die gleiche, von daher rührt die Unmöglichkeit, bei einer Berufung auf das Apostelamt nur mit dem Autoritätsbegriff zu operieren. Mit der Behauptung der Autorität des Apostolates geht der Nachweis für die Wahrheit seiner Verkündigung Hand in Hand. Diese Verknüpfung der Themen bestimmte Luthers Ausführungen von 1519 völlig, es war deutlich zu sehen, wie Luther so gut wie ausschließlich das Verhältnis des Paulus zu den Jerusalemer Uraposteln im Blick hatte und — im Ineinandersehen der damaligen mit seiner gegenwärtigen Situation — seine Argumentation auf die Behauptung der echten und damit apostolisch-autoritativen Ver121

189, 2 f.

122

106, 3 ff.

382

Luthers Auslegungen von 1 5 1 9 und 1 5 3 1

kündigung im Gegensatz zu der sich eine falsche Autorität anmaßenden Gesetzespredigt hinauslaufen ließ. 1 5 3 1 hatte sich die Situation verschoben, der Text über die Auseinandersetzung des Paulus mit falschen Predigern traf weniger das Verhältnis der Evangeliumspredigt zur römischen Verkündigung als den Kampf gegen die Schwärmer, die — im Unterschied zur Auseinandersetzung mit Rom — neben der lehrmäßigen Abgrenzung von der tief in der Theologie Luthers begründeten Forderung der kirchlichen vocatio her geführt werden konnte. Von daher konnten wir 1 5 3 1 eine stärkere Betonung der auf der legitimen vocatio begründeten Autorität beobachten, das Amt gewinnt eine größere Bedeutung, ohne daß sich dadurch die theologische Ausgangsbasis verschoben hätte. Diese Erscheinung reiht sich den übrigen Beobachtungen ein, die wir im Verlauf unseres Vergleiches der Aussagen Luthers von 1 5 1 9 und 1 5 3 1 machen konnten.

Wir kommen zum Schluß. Unsere Betrachtung der Hauptproblemkreise der Auslegungen Luthers von 1 5 1 9 und 1 5 3 1 stand unter dem Gesichtspunkt des Vergleiches. Wir müssen versuchen, das gewonnene Ergebnis noch einmal zusammenzufassen. Die innere Einheitlichkeit des Kommentars von 1 5 1 9 ist uns an Hand der verschiedenen Gedankenkreise deutlich geworden. Hier war alles in großer Radikalität vom Hören und Verstehen her gedacht und in diesen Prozeß hinein entfaltet. Als eindrucksvolles Zeugnis für die gedankliche Einheit des Kommentars zeigte sich uns die Sprache, deren Luther sich bedient, sie ist weitgehend bestimmt durch das Augustin entnommene Begriffspaar litera-spiritus, das sich, in wechselnder Bedeutung, durch die gesamte Auslegung hindurchzieht. Im Kommentar von 1 5 3 1 ist die Themenfolge lockerer, in ihrer Durchführung abwechslungsreicher und überraschender. Wir sahen, wie Luther 1 5 3 1 theologische Ansätze, die bereits 1 5 1 9 zu beobachten waren, entfaltet hat, vor allem in der Durchbildung der christologischen Aussagen und in der Entfaltung des Rechtfertigungsglaubens

Luthers Auslegungen von 1 5 1 9 und 1 5 3 1

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hinein in den Bereich des weltlichen Handelns, die zur stärkeren Betonung des Schöpfungsglaubens führte. Damit war gegenüber 1 5 1 9 eine Erweiterung des Themenkreises in Richtung auf das weltlich-politische Leben gegeben. Hinzu trat die größere Betonung vergewissernder Elemente — des ordentlichen Amtes, des Schriftprinzips, der reinen Lehre, der Sakramente und der Kirche — und die auffallend häufige Verwendung traditioneller Wendungen in der Beschreibung des Werkes Christi sowie das Bemühen, die eigenen christologischen Aussagen im Rahmen des altkirchlichen Dogmas zu entfalten. Der Anreicherung des Inhalts entsprechend hat sich auch die sprachliche Gestalt der Auslegung verändert, Luther hat das augustinische Schema abgestreift und entfaltet in seiner Vorlesung den ganzen Reichtum seiner theologischen Sprache in Formulierungen, die ζ. T. aus der Tradition übernommen, ζ. T. aus der Antithese gegen scholastische Lehrbildungen gewonnen sind, großenteils aber eigene theologische und sprachliche Bildungen darstellen. Wir hatten jedoch gesehen, daß Luthers Ausführungen weder durch die Erweiterung des Themenkreises noch durch die Akzentverschiebung zugunsten vergewissernder Elemente den 1 5 1 9 gezogenen Rahmen sprengen. Die neu hinzutretenden wie die stärker betonten Elemente erhalten ihre theologische Bedeutsamkeit nur durch ihre Zuordnung zum Evangelium und erfüllen ihre Funktion nur in Verbindung mit dem Wort, das auf die Aneignung durch den Menschen zielt. Sie alle dienen in irgendeiner Weise als Verbürgungen des Evangeliums: Norm und Verbürgung aller kirchlichen Lehre ist die Schrift; Kirche und Sakramente sind Träger und vergewissernde Zeugen des Wortes; das geistliche Amt erfordert in der Gemeinde Achtung seiner Autorität, für den Amtsträger ist es als unzweifelhafter Inhalt des göttlichen Willens für sein Leben und Handeln höchster, vergewissernder Trost; was für die kirchliche Berufung gilt, gilt auch für das Handeln im weltlichen Amt, jede ordentliche Beauftragung und jedes Handeln in den Ordnungen der vielfältigen Ämter vergewissert den Menschen, in Freiheit von der Anklage des Gesetzes den Willen Gottes zu tun, anders gesagt: das Verständnis seines Lebens als Leben in der Schöp-

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Luthers Auslegungen von 1 5 1 9 und 1 5 3 1

fung erschließt ihm die im Evangelium gegebene Freiheit; und neben der Predigt dient die eigene Geschichte, die Paulus berichtet, als Zeugnis für die Wahrheit seines Evangeliums. Und doch ruht der vergewissernde Charakter jeder dieser Größen nicht einfach in ihr selbst, wir sahen, wie Luther bei allen Hinweisen auf sie jedesmal ihr Verhältnis zum Wort wie zum Menschen mithinzudenkt und so überall den entscheidenden Platz für das Hören ausspart. Schrift, Lehre, Geschichte des Paulus, Sakrament, Kirche, geistliches und weltliches Amt sind ohne das Wort, von dem sie zeugen, im Grunde nichts anderes als ein weltlich Ding wie jedes andere auch. Nur durch diese durchgängig gleiche Interpretation, die Luther diesen einzelnen Größen zuteil werden läßt, ist das unterschiedslose Nebeneinander traditionell-geistlicher und weltlicher Elemente als Vergewisserungen des Evangeliums mögüch, nur durch das Einspannen all dieser Elemente in den Bogen von Predigt und Hören kann Luther den Menschen gewiß sein lassen durch die Erfüllung des geistlichen wie des weltlichen Amtes und kann er neben dem Hinweis auf die Taufe und auf das Leben mit dem Wort und in der Kirche auch das servire in officio meo und das non delectari in contrariis functionibus anführen als signum externum für den Besitz des Geistes, in dem der Mensch Gott gefällt 123 . Diese Einordnung aller theologischen Inhalte in den Prozeß des Hörens, die wir bei Luther 1 5 1 9 wie 1 5 3 1 beobachten konnten, hegt begründet in Luthers Verständnis des Heilsgeschehens. Wir hatten gesehen, daß die hörende Aneignung des Wortes für Luther das Werk des Geistes ist, der mit der Anrede die Antwort im Hörer entbindet, Gottes Tat, das Heilsgeschehen selbst, das sich im Leben des Hörenden vollzieht. Hier siegt der Geist über den Buchstaben, der neue Mensch über den alten, der Glaube über die Vernunft, das Evangelium über das Gesetz, Christus über den Teufel. Wird das Hören, zu dem das Betrachten der vergewissernden Tatbestände führen soll, als Heilsgeschehen verstanden, so ist damit die entschei123

W 40 I 577, i o f f . ; diese Gedanken werden von Luther zwar im Blick auf das geistliche Anft ausgeführt, sind aber prinzipiell nicht auf dieses beschränkt.

Luthers Auslegungen v o n 1 5 1 9 und 1531

385

dende Bestimmung für jede Verkündigung, Vergewisserung und Aneignung des Wortes gegeben: weder Predigt und Gestalt des Wortes noch der Akt der Aneignung dürfen einem anderen Inhalt Ausdruck geben als dem des Evangeliums, das in Wort, Tat und Gestalt Christi offenbar geworden ist. Anders gesagt: jede Art der Verkündigung muß, wenn sie den Anspruch erhebt, Träger und Vergewisserung des Wortes Gottes zu sein, im Hörenden die Glaubensbewegung entbinden, die sich gegen den Einspruch des Gesetzes und der Vernunft auf das Evangelium richtet. Die Gemeinsamkeit aller Elemente, die für Luther zur Gestalt des Evangeliums werden, liegt über ihre unterschiedslose Zuordnung zum Wort hinaus darin, daß sie als Zeugen dieses Wortes vom Menschen den Glauben gegen den Augenschein verlangen: in der Schrift begegnet dem Menschen der Geist unter dem Buchstaben, das innere Wort unter dem äußeren, das Wort Gottes in der Verhüllung des menschlichen Wortes, die Autorität des Apostels wird nur richtig begriffen, wenn sie in den Sachen des Glaubens als Autorität seiner Evangeliumspredigt erkannt wird, in allen anderen Fragen als persona, d. h. in der ihr vom Evangelium her erwachsenden Geltung und Begrenzung; der Wille Gottes tritt nicht in besonderen Forderungen an den Menschen heran, deren geistlicher Charakter ohne weiteres einsichtig und ausweisbar ist, sondern in der Gestalt des Nächsten, in den weltlichen Ordnungen, in denen der Mensch lebt; und die tiefste Verhüllung: die eigene Gerechtigkeit vor Gott ergreift der Mensch nur im Bekenntnis der eigenen Schuld, das Wissen um sich selbst als Gerechten ist nur zu haben unter der Anerkennung der eigenen Ungerechtigkeit, die Richtigkeit des eigenen Handelns kann nur erkannt werden im Aufgeben der Selbstherrlichkeit und im Übergeben der Herrschaft über den eigenen Willen und der Planung der eigenen Gerechtigkeit an Gott als den Schöpfer. Wir sagten bereits, daß Luthers einheitliche Interpretation der verschiedenen Gedankenkreise in seinem Verständnis des Heilsgeschehens begründet liegt, wir können auch sagen: in seinem Verständnis von Person und Werk Jesu Christi. Christus ist für Luther das an uns gerichtete Wort Gottes, das gehört werden will, und die Verhüllung des Wortes unter den ver25

Bornkamm, Galaterbrief

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Luthers Auslegungen von 1519 und 1531

schiedenen Gestalten seiner Verkündigung entspricht der Verhüllung der göttlichen Offenbarung im Menschen Jesus: mundus non videt, quia respuit ut hominem!124 Luthers Durchführung der einzelnen Themen läßt die Verbindung dieser Sicht zum christologischen Fragenkreis erkennen, ja man darf wohl sagen, die einzelnen Gedankenkreise werden von der Christologie her durchdacht. Nicht so, daß Luther aus der Art der Offenbarung Gottes in Christus ein festes theologisches Prinzip gewönne, das nun von ihr als seinem Erkenntnisursprung losgelöst und auch ohne direkte Rückbeziehung auf Christus gehandhabt werden könnte, sondern so, daß Luther überall die Verbindung zu Christus aufdeckt bzw. schlägt. E r erhält die Fülle seiner Gestalten des Wortes, indem er die Vielfalt und Breite seiner Welt in das Ereignis der im gegenwärtigen, von Christus nicht ablösbaren Heilsgeschehen sich vollziehenden Offenbarung einbezieht, d. h. indem er sich den ganzen Horizont seines Daseins durch die lebendige, offenbarende Gegenwart Christi erschließen läßt. Das gilt für 1 5 1 9 wie für 1 5 3 1 , wenn auch 1 5 1 9 die Aufmerksamkeit Luthers einem sehr viel engeren Ausschnitt der Welt zugewandt ist als in der späteren Zeit. 1 5 1 9 stießen wir auf die innere Umwandlung des augustinischen Schemas litera-spiritus durch Luthers auf Christus bezogenen Evangeliumsbegriff und im Zusammenhang damit auf die Gleichsetzung von geistlichem Verstehen, Rechtfertigung und Werk Christi; d. h. Luther erschloß sich das ihm überkommene Verständnis des Wortes und seiner Funktion von Christus her. Darüberhinaus sahen wir, daß Luther die gegenwärtige und die zukünftige Gestalt der Welt als die Gestalt der jeweils gegenwärtigen Herrschaft Christi und Gottes verstand — Christus ut homo regnat, constitutus a deo patre super omnia, und: deus ipse per se . . . regnabit — ; und Luther blieb nicht einfach bei der Unterordnung Christi unter den Vater stehen, sondern sah die Arten der Herrschaft letztlich doch beide von Christus her, sie vollzieht sich nun in fide et enygmate per humanitatem Christi, tunc in specie et revelatione divinae naturae 125 . Und schließlich fanden wir das Verständnis des Nächsten wie das W 40 I 79, 5 f . 125 w 2j 20U.; s. o. S. 23.

Luthers Auslegungen von 1 5 1 9 und 1 5 3 1

387

Selbstverständnis des Glaubenden bestimmt vom Gedanken der Einigung mit Christus. 1531 haben wir den gleichen Ansatz bei der Offenbarung in Christus vor uns. Daß die Sprache Luthers in der Vorlesung im ganzen gesättigter ist mit christologischen Formulierungen als 1519 ist nur folgerichtig, er hat die augustinischen Wendungen weitgehend durch eigene ersetzt. Die Schrift vermittelt dem, der sie recht versteht, d. h. der sie nicht nur im Sinne der fides historica liest, Anteil an der Geschichte Christi; der Glaubende versteht sich als zugehörig zu Christus als der maxima persona, dessen Kampf auch für ihn geschieht; dem, der so in der Gemeinschaft mit Christus steht und damit gerechtfertigt ist, erschließt sich die Welt als Schöpfung und wird ihm, wenn er sich dieser Erkenntnis in seinem Glauben und Handeln anvertraut, zum Zeugnis für das Evangelium; und auch Gott wird von Christus her erkannt, er wird als der Gnädige, der er ist, erfahren im Glauben an Christus als den humanus deus, der den Angefochtenen vor der zürnenden Majestät Gottes errettet. Das heißt: Luther versteht 1519 wie 1531 die Fülle der Mächte, denen sein Leben sich ausgesetzt sieht — Gott, die Welt, den andern, sich selbst — von der lebendigen Gegenwart Christi her, die ihm im Wort gegeben ist. Alles, was ihm im Lichte des Evangeliums als Schauplatz dieser Gegenwart durchsichtig geworden ist, kann ihm dann zum Zeugnis für das Wort werden. Die Unterschiede in den Galaterbrief-Auslegungen Luthers bleiben innerhalb des eben noch einmal charakterisierten Rahmens, die innere Struktur seiner theologischen Aussage ist die gleiche geblieben. Diese ist in ihrer Zusammenordnung vom Verständnis des Hörens als Heilsgeschehen und der Fülle vergewissernder Zeugnisse für das Wort, das gehört werden soll, auffallend genug. Versuchen wir zum Schluß, hinter sie zurück nach ihrer theologischen Ermöglichung und Bedeutung zu fragen, so stoßen wir auf die Grundvoraussetzung aller Denkbewegungen Luthers, in der die wohl tiefste Differenz des lutherschen Theologisierens zur geistigen Arbeit des Mittelalters liegt, auf Erkenntnisse, »in denen sie (die Reformation) Eigentümlichkeiten des modernen Denkens vorwegnimmt«, auch wenn man sie »nur mit Vorbehalt, moderne' Denkformen nenn25+

388

Luthers Auslegungen von 1519 und 1531

nen« kann. Luther selbst formuliert sie nicht. Bei ihm »bleiben diese Ansätze eng verflochten in das Ererbte. Sie spielen in einer Tiefenschicht, die er sich nur selten einmal zum Bewußtsein bringt und aus der sie niemals in abstrakt-reiner Gestalt hervortreten. Er verfolgt sie nicht konsequent und gibt ihnen keine polemische Wendung gegen die überlieferten Elemente. Dennoch erweisen sie sich in all ihrer Verborgenheit als äußerst wirksam. Sie sind der einzig zureichende Grund für Erscheinungen, die in Luthers Gedankenwelt offen zutage treten«126. Gogarten sucht sie zu fassen, indem er von der Ablösung des metaphysischen Denkens durch das geschichtliche spricht127. Wir blicken unter diesem Gesichtspunkt noch einmal auf das gewonnene Bild zurück, auf Luthers Verständnis des Geschehens zwischen Gott und Mensch als Hören und dessen Verbindung mit vergewissernden Elementen. Für die Art des Geschehens zwischen Gott und dem Menschen brauchen wir nur noch einmal an die Beobachtungen zu erinnern, die sich uns im Laufe der Arbeit ergaben: die Welt mit ihren Ordnungen steht dem Menschen nicht als ein im Voraus feststehendes Gefüge gegenüber, in das er sich einzubetten hat, sondern sie begegnet ihm als immer neue Gestalt seiner Verantwortung, die ihn vor den lebendigen, gegenwärtigen Willen Gottes stellt und ihm ein nicht im Voraus planbares Handeln abverlangt, d. h. Luther versteht das Leben in der Welt als ein Leben unter dem Willen Gottes, der als geschichtliche Forderung an ihn ergeht; Gott wird für Luther unter Absage an alle Majestätsspekulationen allein in seinem Handeln und Reden erkannt, d. h. seine Gegenwart wird als geschichtlich wirksam erfahren; die christologischen Aussagen Luthers lassen erkennen, daß er die Zweinaturenlehre, die in der alten Kirche und im Mittelalter die entscheidende Rolle für das theologische Bemühen um die Gestalt Christi spielte, nicht ontologisch, sondern geschichtlich interpretiert, damit ist das Heilsgeschehen in ein Stück wirklich menschlicher Geschichte 126 Hanns Rückert, Die geistesgeschichtliche Einordnung der Reformation; Z T h K 51 (1955) H e f t 1, S. 43 ff. 127 V g l besonders: Entmythologisierung und Kirche; Verhängnis und Hoffnung der Neuzeit.

Luthers Auslegungen von 1519 und 1531

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gebunden; nur von hier aus, vom Wissen darum, daß Gott sich im geschichtlichen Handeln offenbart, ist das Verständnis anderer menschlicher Geschichte als exemplum für die in Christus offenbarte Heilsbotschaft möglich; und nur von hier aus kann Luther in der Einseitigkeit, auf die wir bei ihm stoßen, das Wort, das an den Menschen als äußeres Wort der Schrift herantritt, als das Heilsmittel verstehen, durch das der Mensch am Heilshandeln Gottes Anteil gewinnt. Von diesem Wissen Luthers um die Geschichtlichkeit der Offenbarung her, das von größter Bedeutung für die Konzeption und Entfaltung der theologischen Inhalte ist, muß nun auch Luthers auffällige, zunehmende Betonung der traditionellen Elemente in der Gesamtheit seiner theologischen Aussagen wie speziell innerhalb der christologischen Ausführungen gesehen werden. Freilich ergab sich die Notwendigkeit für Luther zunächst aus der veränderten Situation. 1 5 3 1 spricht Luther nicht mehr innerhalb der organisierten römischen Kirche, die in ihren Grundlagen — Schrift, Sakramente, Dogma, Tradition — und ihrem Gefüge — Hierarchie mit selbstverständlicher Anerkennung des sakralen Amtes — für ihn wie für die Leser, an die er sich wendet, feststeht. Mehr als einmal betont er 1 5 1 9 , daß seine Auseinandersetzung mit Theologie und Kirche eine innerkirchliche sei, und weist den Vorwurf der Abspaltung leidenschaftlich zurück. Die Separation der hussitischen Böhmen verurteilt er scharf 1 2 8 . Von hier aus ergibt sich die Forderung, die gegebenen Elemente in Theologie und Kirche zu interpretieren und kritisch zu durchleuchten, unter Umständen als dem Evangelium nicht gemäß anzugreifen und beiseitezuschieben, nicht aber die Nötigung, selbst die Notwendigkeit und Gültigkeit bestimmter Formelemente für die Kirche zu betonen und herauszuarbeiten. 1 5 3 1 steht er unter der Verantwortung für selbständig existierende evangelische Gemeinden, die sich nicht nur gegen Rom, sondern nach der theologischen Klärung und Scheidung von den Schwärmern auch gegen deren Gemeinden •— einschließlich der Zwinglianer! — abzugrenzen haben und damit zugleich genötigt sind, ihre eigene Existenz

128 vgl. v o r a ii e m W 2, 605, 12 ff. 581/2.

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Luthers Auslegungen von 1 5 1 9 und 1 5 3 1

als Kirche theologisch zu begründen und kirchenbildende Elemente anzugeben. Luthers Vorlesung spiegelt den Tatbestand wieder, daß er für den Aufbau seiner Gemeinden die Elemente, die seit dem Frühkatholizismus die Grundlagen des Kirchentums ausmachten, beibehalten hat: Schrift, Bekenntnis, Amt, Sakrament. Besonders zeigen die zunehmende Verwendung traditioneller Formeln wie das Bemühen um die Interpretation des altkirchlichen Dogmas das Gewicht, das Luther — im Gegensatz zu den Schwärmern — auf die Kontinuität der Kirche legte. Diese Bindung an die konkrete geschichtliche Gestalt der Kirche und Lehre scheint mir tief mit Luthers Konzentration aller theologischen Aussagen auf die Christologie zusammenzuhängen, in der neben der Bindung an den gegenwärtigen Christus immer zugleich die Bindung an die historische Gestalt Jesu Christi gegeben ist. Ebensowenig wie die geschichtliche Gestalt des Wortes mit dem Worte selbst verwechselt werden darf — deshalb nannte ich oben absichtlich die verschiedenen Träger des Wortes ein »weltlich Ding« — , ebensowenig darf das Wort von seiner geschichtlichen Gestalt gelöst werden. Luther beruft sich nicht in der Weise der römischen Kirche auf das A m t und gegen die Anfechtung auf Schrift, Sakrament, Lehre und Kirche, keine dieser Größen besitzt für ihn eine substantielle Heiligkeit; aber die Bindung des Wortes an diese Gestalten darf auch für ihn nicht aufgehoben werden, in diesem Sinne weiß er sich doch auf sie angewiesen und von ihnen abhängig. So sehr alle theologischen Aussagen Luthers von seinem Verständnis Christi als Wort her geprägt sind und so sehr damit der worthafte Charakter aller theologischen Inhalte als grundlegende Neuerung gegenüber der Scholastik zutage tritt, so sehr bewahrt ihn andererseits seine Bindung an die Aussagen der Christologie, die ja immer zugleich Bindung an eine historische Gestalt ist, davor, sich von der Tradition zu lösen und damit geschichtslos zu werden. In der vorliegenden Arbeit ist dieser letzte Gedanke wenig hervorgehoben worden. Sie hat sich im wesentlichen darauf konzentriert, zu zeigen, inwiefern das Neue in Luthers Theologie, das Verständnis Christi als Wort Gottes, das uns im Kommentar von 1 5 1 9 entgegentrat, auch die Aussagen von 1 5 3 1 bestimmt.

Luthers Auslegungen von 1519 und 1531

391

Ich bin mir bewußt, auf diese Weise ein in gewissem Sinne einseitiges Bild gegeben zu haben, das nach der eben angedeuteten Seite hin ergänzungsbedürftig ist. Ich glaube aber, daß das Entscheidende bereits in dieser Sicht gefaßt ist, daß auch die zu ergänzenden Züge von hier aus gesehen werden müssen und sich in der angedeuteten Weise ohne weiteres in das Gesamtgefüge einordnen.

EXKURSE I. Anmerkung

426 zu S. 148

Die intolerabilitas Gottes bezieht sich in diesem ganzen Zusammenhang nicht so sehr auf die dem Menschen als begrenztem Wesen unfaßbare Majestät — dieser Gedanke klingt zwar einmal an, wird aber von Luther seinem Hauptgesichtspunkt untergeordnet (vgl. die gedankliche Weiterführung von .humano corpori non est leydlich ista speculatio (maiestatis), taceo menti', 76, 1, durch ,Si vis tutus esse et sine periculo diaboli. conscientiae tuae, prorsus nullum deum scito extra istum hominem . . 77, 1 f.!) — als vielmehr auf den dem Menschen unerträglichen Gott des Gesetzes (77, 6f.!). Wir stoßen auf die gleichen theologischen Zusammenhänge wie in Luthers Auslegung zu Gal. 3, 19 ff. (s. u. S. i68ff.). Ohne hier auf das Ganze der Lehre Luthers vom verborgenen und offenbaren Gott eingehen zu können, scheint er mir jedoch nötig zu sein, dies Ergebnis der Interpretation als kritische Anfrage an die Darstellung von H. B a n d t , Luthers Lehre vom verborgenen Gott (Berlin 1958) zu richten. Bandt entwickelt sein Verständnis der Verborgenheit Gottes bei Luther ohne nennenswerte Bezugnahme auf das Problem von Gesetz und Evangelium, j a er lehnt diesen Ansatz in der Auseinandersetzung mit F. Frey, Luthers Glaubensbegriff (Leipzig 193-)) und H. Olsson, Sichtbarkeit und Verborgenheit der Kirche nach Luther (in: Ein Buch von der Kirche, hrsg. G. Aulen u. a., deutsch Berlin 1950, S. 338ff.) betont ab (vgl. Bandt, a. a. O., S. 7 1 ! , 188, 196f.). Verborgen ist nach Bandt Gott für Luther innerhalb der Offenbarung durch die Form der Verheißung, sonst außerhalb seiner Offenbarung in seiner Weltregierung und schließlich in seinem ewigen Ratschluß (vgl. das Inhaltsverzeichnis!, von Band selbst noch einmal zusammengefaßt auf S. 181). Als theologisches Ergebnis dieser Lehre Luthers stellt B a n d t die Wahrung der »vollkommene (n) Freiheit der göttlichen Gnadenzuwendung« (S. 177) fest. Luther will für ihn in den verschiedenen Gedankengängen, in denen er die Verborgenheit Gottes denkt, »jedesmal die Alleinwirksamkeit, die Unbedingtheit, die .Aseität', die Absolutheit, mit einem W o r t : die F r e i h e i t Gottes gegenüber dem Menschen« zum Ausdruck bringen (S. 178; Bandt bezieht sich hier auf Kattenbusch, Deus absconditus bei Luther, S. 211). Von der Galatervorlesung her sind gegen dies Beiseiteschieben der Fragestellung von Gesetz und Evangelium in der Frage nach dem verborgenen und offenbaren Gott erhebliche Bedenken anzumelden. (Auch wenn diese Vorlesung für Bandt zu den späten theologischen Äußerungen Luthers gehört, in denen eine »Vereinfachung« der Lehre zu beobachten sei, die

Exkurse

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»aus dem Bemühen Luthers erwächst, das bereits Erkannte seinen Hörem verständlicher, unkomplizierter^) und didaktisch-eingängiger als bisher vor Augen zu führen« (S. i8of.). An den wenigen Stellen der Galatervorlesung, die Bandt verwendet (a. a. O., S. 182—190), zeigt es sich, daß sie im Zuge seiner Konzeption nicht ihrem eigenen Zusammenhang entsprechend interpretiert werden können. Die zitierten Stellen stammen aus drei Textabschnitten, der größte Teil aus dem oben entfalteten Abschnitt zu Gal. 1, 3—5, eine Stelle aus Luthers Auslegung zu Gal. 4, 8 und zwei aus dem Abschnitt zu Gal. 2, 6. Die ersten Stellen (W. 40 I 602, 5; 79, 2; 76, 9; 93, 6; 78, 4) scheinen zunächst richtig interpretiert zu sein. Bandt entwickelt an ihnen den »Grundgedanke (n) des lutherschen Offenbarungsverständnisses« (der »offenkundig auch in späteren Jahren der gleiche geblieben [ist] wie zuvor«!) und referiert sachgemäß den Zusammenhang bei Luther, nach dem es jeweils um die Erkenntnis des gnädigen Gottes und die »Überwindung der uns bedrängenden Mächte des Gesetzes, der Sünde und des Todes« geht (S. i82f.). Leider verläßt Bandt in seiner weiteren Interpretation diese Ausgangsposition. a) Drei der angeführten Stellen aus dem Abschnitt zu Gal. 1,3—5 werden noch einmal aufgenommen und erscheinen in einem nun unzutreffenden Sinnzusammenhang. 1. W 40 I 78, 5 f. (s. Bandt, a. a. O., S. 188) — de nullo deo sciendum, sed apprehendendus deus incarnatus et humanus deus — gilt für Luther: ubi res cum morte, peccato, lege (78, 4f., 8ff.). Bandt entwickelt hier auf Grund von aus verschiedenen Lutherschriften zusammengesuchten Belegstellen den Gedankengang der Unerkennbarkeit Gottes auf spekulativem Wege: »Nun hat sich aber Gott in Jesus Christus uns zugute eingekleidet . . ., so daß wir uns nicht mehr "vor ihm zu fürchten brauchen. Darum ist es ein unnützes, ja ein im höchsten Grade t ö r i c h t e s Unternehmen, die bloße Gottheit Gottes auf spekulativem Wege begreifen zu wollen . . . Dieser Weg k a n n nach Luthers Uberzeugung zu gar keinem fruchtbaren Ergebnis führen . . . Sogar die Philosophen wissen darum, daß es extra mensuram, locum et tempus keinerlei Erkenntnis für uns gibt . . . Solche (spekulativen) Aussagen müssen von vornherein jedes echten Wahrheitsgehaltes ermangeln . . . Der Deus nudus ist daher für Luther in diesem Zusammenhang . . . nichts anderes als ein l e e r e s , e i t l e s , i n h a l t l o s e s G e d a n k e n g e b i l d e m e n s c h l i c h e r S p e k u l a t i o n (Sperrung bei Bandt) . . . ist für Luther tatsächlich nichts als ein »Gedankenpopanz«, »eine pure Abstraktion, religiös ein Gespenst« (Ferd. Kattenbusch, Deus absconditus bei Luther, S. 205 u. 212). Mit diesem Gedankengang ist jedenfalls die angeführte Galaterstelle gründlich mißinterpretiert. — W. 40 I 77, i f . (s. Bandt, a. a. O., S. 189) — Si vis tutus esse et sine periculo diaboli, conscientiae tuae, prorsus nullum deum scito extra istum hominem et haere in ista humanitate — wird von Bandt in folgenden Gedankengang einbezogen: »Es besteht . . . eine außerordentlich ernste Gefahr, eine Gefahr nun freilich eigentlich nicht von

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Gott, sondern vielmehr vom Teufel her . . . Denn es ist der Teufel, der den Menschen jene scheinbar so großartigen und geistgewirkten göttlichen Gedanken von der potentia absoluta, von der voluntas beneplaciti, von den nuptiae spirituales . . . und dergleichen mehr eingibt und der sie doch damit nur von Gottes wahrem Wort abbringt und sie so in Irrtum, Verzweiflung, Gotteslästerung und schließlich ins Verderben f ü h r t . . .«. In diesen Zusammenhang gehört unsere Stelle nun schlechterdings nicht hinein, in ihr geht es betontermaßen um das periculum conscientiae (77, 1), um die actio contra peccatum et mortem (77,5), um die disputatio de iustificatione et inveniendo deo iustificante, acceptante; qui ubi quaerendus est, complectere hanc humanitatem sonst nichts (77, 8ff.). — 3. W. 40 I 93, 6f. (s. Band, a. a. O., S. 187) — hereo in humanitate ett um non timeo fur ym, quia ipse est deus — gilt für Luther gegenüber der teuflischen Anfechtung, selbst in Christus den Richter zu sehen. Das ,tum non timeo fur ym, quia ipse est deus' bezieht sich auf Christus; deus und iudex gehören hier deutlich zusammen. Bandt trägt dem in gewissem Sinne Rechnung, wenn er zu Beginn des Abschnittes feststellt: »Denn verhüllen und einkleiden muß sich der deus nudus, weil er in seiner bloßen Majestät dem sündigen (!) Menschen auf keinen Fall ertragbar wäre.« Die Fortsetzung leitet dann jedoch sofort wieder in den allgemeinen Gedankengang der Verhüllung über: »Der Deus nudus ist also . . . ein fressendes Feuer, das den, der ihm naht, verbrennt . . . Darum ist es höchst gefährlich, wenn man ohne den Mittler Christus die bloße Gottheit Gottes auf rationalem Wege zu begründen und begreifen s u c h t . . . E s besteht hier eine wirkliche Gefahr unmittelbar von Gott her, der wir nur dadurch entgehen können, daß wir uns an den menschgewordenen Gottessohn und an all die Zeichen und Hüllen halten, in denen sich Gott uns kundtut . . . Denn da allein begegnen wir Gott in einer für uns erträglichen Gestalt, vor der wir uns nicht mehr zu ängstigen und zu fürchten brauchen . . . Wer jedoch unter Absehung von dem menschgewordenen Gottessohn seinen eigenen Spekulationen folgt, der wird von Gottes Majestät zerschmettert werden und verzweifeln.« (Die anschließende Besprechung zweier Stellen aus der ersten Antinomerdisputation läßt m. E . das Schiefe der Konzeption Bandts besonders deutlich erkennen (a. a. O., S. r87f.). Die in der Wendung ,Ubi igitur nudus deus in maiestate loquitur, ibi tantum terret et occidit' (W. 39 I 391, 3) vorliegende Zusammenordnung von deus nudus und Gesetz bzw. Zorn als einen »am äußersten Rande der lutherschen Lehre gelegenen Gedanken« zu bezeichnen, scheint mir die Sache nun doch auf den Kopf zu stellen. Bandt stößt sich vornehmlich an dem ,loqui', das sich von seiner Sicht her mit dem nudus deus nicht verträgt. Sucht man den systematischen Ausgangspunkt der Lehre Luthers in der Zusammengehörigkeit von maiestas dei und Gericht, so scheint mir hier keine grundlegende Schwierigkeit zu liegen. Bandts Erläuterung kann ich nur als Verlegenheitsauskunft verstehen: »Luther ist eben in seiner Theologie so wenig Theoretiker, er ist in der Darstellung seiner

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Lehre immer wieder so sehr um äußerste Konkretion seiner Gedanken bemüht, daß er seine abstrakten Begriffe durch einleuchtende Bilder geradezu sprengen kann. Daß ihm hier zur Illustrierung der Vorstellung des Deus nudus der sengende Zorn Gottes — und d. h. in diesem Zusammenhang: der den Menschen fordernde und um seiner Sünde willen verdammende Gott des Gesetzes — sehr nahe liegt, ist durchaus verständlich« und »Nur um die Gefahren, die dem scrutator der göttlichen Majestät drohen, in ihrer ganzen Realität a n s c h a u l i c h zu machen, hat Luther . . . sich gelegentlich einmal zu solchen »aus dem Rahmen fallenden« Aussagen bewegen lassen.« b) Auch die Stelle zu Gal. 4, 8 wird noch einmal herangezogen. W. 40 I 602, 5 f f . — deus non vult cognosci nisi per Christum . . .; ipse speculum, medium, via, per quam deum cognoscimus . . .; ibi agnosco deum non iratum, non habeo ibi Tyrannum sed clementissimum patrem . . .; est opinio divina, quae non fallit sed certa forma definit deum — wird von Bandt am Anfang des ganzen Kapitels dem Gesamtzusammenhang entsprechend interpretiert (a. a. O., S. 1 8 2 f . ; s. o.), am Ende der Ausführungen gerät sie jedoch auch in den seine ganze Darstellung beherrschenden Hauptgedankengang : » D e r f l e i s c h g e w o r d e n e G o t t e s s o h n i s t j e n e H ü l l e , in d e r d i e g ö t t l i c h e M a j e s t ä t s e l b s t m i t a l l e n i h r e n G a b e n s i c h u n s z u w e n d e t (Sperrung von Bandt) . . . Denn in ihm macht sich Gott . . . uns zugute faßbar . . . Mit diesen und ähnlichen Aussagen werden die oben genannten Mahnungen, sich an den Hüllen und Zeichen, in denen sich Gott offenbart, genügen zu lassen und von allen Spekulationen über die bloße Gottheit Gottes Abstand zu nehmen, erst vollgültig und zureichend begründet. Denn wie sollten wir unser ganzes Vertrauen allein auf Christus und sein Wort setzen, wenn hinter dem noch ein letzter, fernster, ewig unzugänglicher und vielleicht ganz anderer Gotteswille verborgen wäre ?...« Jedenfalls im Zusammenhang der hier herangezogenen Galaterstelle geht es Luther hier nicht um die Frage nach einem ,ewig unzugänglichen Gotteswillen', sondern um die Frage nach dem in das Gesetz gefaßten Willen Gottes. c) Die auf S. 186 zitierten Galaterstellen (W. 40 I 175, 5 f f . und 174, 2) sind von untergeordneter Bedeutung. Sie entstammen Luthers Ausführungen über den Apostolat zu Gal. 2,6 und sind Belegstellen für die Verhüllung Gottes hinter der creatura als seiner larva. Zu einer Beurteilung der gesamten von Bandt vorgelegten Interpretationen bedürfte es einer eingehenden Exegese aller einschlägigen Lutherschriften, die an dieser Stelle nicht geleistet werden kann. Von der uns angehenden, im Zusammenhang des Ganzen verhältnismäßig geringfügigen Gruppe von Lutherstellen jedoch und der in ihnen repräsentierten Galatervorlesung her muß m. E. die seiner Darstellung zugrundeliegende Gesamtkonzeption in Frage gestellt werden. Die sich mir von der Galatervorlesung her ergebenden Einwände stimmen sachlich überein mit des

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von einer quellenmäßig breiteren Basis her erhobenenen Kritik Asheimr an Bandt (vgl. I. Asheim, Glaube und Erziehung bei Luther, S. 192f. Anm. 53). II. Anmerkung 135 zu S. 273 135

V. 1 1 : »Quod autem in lege nemo iustificatur apud deum, manifestum est, quia iustus ex fide vivet.« Die Auslegung Luthers ist inhaltlich bestimmt durch sein gegensätzliches Verständnis des in lege und ex fide, wobei ex fide identisch ist mit dem ea quae scripta sunt von V. 10 (vgl. 514, 35 f.!). Von dem Text als auszulegender Wahrheit ausgehend — Luther erkennt das theologische Gewicht, das Paulus seiner Aussage durch ihre Fassung als Schriftzitat (Hab. 2, 4: Iustus ex fide vivet) geben wollte, und trägt ihm in seiner eigenen Auslegung Rechung: Si hie scriptura vera est, sicut oportet (515, 6) — folgert er im Rückgriff auf seine Auslegung von V. 10: Si non iustificabitur coram deo, iam non facit quae scripta sunt. Quod si hoc est, vere maledictus est. Ii enim, qui faciunt quae scripta sunt, iustificabuntur (515, 2 ff.). Denn der Gerechte wird a u s G l a u b e n leben. Das Gesetz aber kommt nicht aus dem Glauben, sondern der Mensch, der sie (die Werke des Gesetzes) tut, d. h. der nach der Gerechtigkeit aus den Werken strebt, wird in i h n e n leben. Der Gegensatz liegt für Luther in dem vivere ex fide und dem vivere in illis (operibus), das letztere ist das Leben, das zwar vor der Strafe des Gesetzes bewahrt bleibt, wenn die Werke des Gesetzes getan werden, das aber trotzdem vor Gott tot ist. (»Homo vivet in illis« wird von Luther exegesiert als »vivet u t h o m o in illis!«) Lehrreich ist ein Vergleich mit der Auslegung des Hieronymus. Auch er exegesiert vom Gegensatz ex fide — ex operibus her und macht das vivere nachdrücklich von der fides abhängig. Wer gerecht ist, aber nicht glaubt, steht wohl im Gesetz, lebt aber nicht, denn Christus ist das Leben. Luther hat für seine Auslegung offenbar auf den Text des Hieronymus zurückgegriffen, jedenfalls berühren sich der Schluß des hier im folgenden zitierten Abschnitts mit den zuletzt angeführten Gedanken Luthers. Aber der grundlegende Unterschied ist nicht zu übersehen. Der Begriff der Gerechtigkeit wird von Hieronymus als Tugend gefaßt, die dem Menschen das Leben nicht erschließen kann, da Christus das Leben ist, die aber doch eine Art Stufe auf dem Wege zum Glauben darstellt. Von Luther dagegen wird er theologisch verstanden als Erläuterung des Glaubensbegriffs, iustus, fides und vivere werden damit zu einer unauflöslichen Einheit verbunden. In den Begriff der fides wird bei Luther durch die Gleichsetzung mit iustitia der Inhalt des gesamten Evangeliums einbezogen. Bei Hieronymus bleibt der Glaubensbegriff blaß, das gesetzliche Denken wird auch in diesem Zusammenhang nicht durch ihn gesprengt. Vgl. den Text selbst: Exemplum quo probatur justus ex fide vivere, et non ex operibus, de Abacuc tulit . . .: Iustus autem ex fide mea vivit (Abac. I I , 4) . . . Considerandum itaque quia

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non dixerit, homo aut vir ex fide vivit, nec occasionem tribueret ad virtutum opera contemnenda; sed, justus ex fide v i v i t : ut quicunque fidelis esset, et per f idem victuturus, non aliter posset ad fidem venire, vel in ea vivere, nisi prius justus fuisset, et puritate vitae quibusdam ad fidem gradibus ascendisset. Potest ergo fieri, ut sit aliquis justus, et tarnen non v i v a t absque fide Christi . . . E r a t igitur Paulus tunc justus in lege, sed necdum vivere poterat, quia non habebit in se Christum loquentem: E g o sum vita (Joan. X I , 25). In quem credens postea coepit et vivere. Faciamus et nos aliquid simile huic quod dicitur, justus ex fide v i v i t ; et dicamus: castus ex fide vivit, sapiens ex fide vivit, fortis ex tide vivit, et a ceteris virtutum partibus vicinam sententiam proferamus adversum eos, qui in Christum non credentes, fortes et sapientes, temperantes se putant esse, vel justos: ut sciant nullum absque Christo vivere, sine quo omnis virtus in vitio est. Potest praesens testimonium et sie legi: quia justus ex fide, ut deineeps inferatur, vivit. Quod autem ait: L e x non est ex fide, sed qui fecerit ea, vivet in illis, manifestissime demonstratur non simplicem dici vitam, sed earn quae referatur ad aliquid. Justus quippe ex fide v i v i t : et non additur, in his, sive in illis. Vivens autem in lege qui fecerit ea, vivit in illis, hoc est, in his quae fecit, quae putavit bona: mercedem laboris sui habens ea tantum opera quae fecit, sive longitudinem vitae (ut Judaei putant), sive declinationem, poenae per quam transgressor Legis occiditur. (MSL. 26, 384 f , 432 C. 433 A/B).

III.

Anmerkung 206 zu S. 293

Das gewonnene Ergebnis bestätigt in gewisser Weise die These W o l f s , daß die lex Christi der Glaube ist (Zur Frage des Naturrechts bei Thomas von Aquin und bei Luther, jetzt in Peregrinatio, S. 203). Von unseren Beobachtungen zu Luthers Verständnis des Christen als homo sine persona her scheint es mir allerdings nicht möglich, das Verhältnis von lex naturae und lex Christi auf eine so zugespitzte Formulierung zu bringen, wie Wolf es tut: »Es geht also, wenn das Verhältnis der ,lex Christi' zur lex naturae zu klären ist, n i c h t um die Frage des Liebesgebotes. Dieses gehört zur lex naturae, die ,lex Christi' ist hingegen der Glaube« (ib.). D a f ü r fallen Glaube und Liebe bei Luther doch zu unmittelbar zusammen, vgl. auch Luthers Auslegungen zu Gal. 6, 2 — diese Stelle wäre zu der von Wolf genannten Stelle 1 . Kor. 9, 2 1 (a. a. O., S. 201) noch hinzuzufügen—, wo er die Erfüllung der lex Christi mit dem oben beschriebenen Bild der Gemeinde auslegt (s. o. S. 2S1). An dieser Stelle setzt auch H e c k e i s Kritik an Wolf ein (Naturrecht und christliche Verantwortung im öffentlichen Leben nach der Lehre Martin Luthers; in: Zur politischenPredigt, S. 46 Anm. 1), der im übrigen das gleiche Verständnis der lex Christi als Glaube herausarbeitet, wenn Glaube hier mit dem rechten Verständnis des Gesetzes in eins gesetzt werden darf. So formuliert er: »Die lex Christi ist also in Wahrheit gar kein Gesetz, sondern die göttliche Predigt vom göttlichen Sinn des göttlichen Gesetzes,

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sei es des Naturgesetzes, sei es des Dekalogs. Und zwar verkündet sie das Gebot vollkommener Gottes- und Nächstenliebe« (a. a. O., S. 45/6). Wolf beurteilt diesen Schlußsatz mit Recht als »mißverständlich«, »als er wieder im Sinne des Liebesgebotes, nunmehr des,vollkommenen', gemeint zu sein scheint«, verstanden werden kann (a. a. O., S. 203). Das Mißverständnis, daß ,lex Christi' hier als die lex naturae übersteigende göttliche Weisung zu verstehen sei, liegt in der Tat nahe. Es müsste m. E . noch klarer zum Ausdruck gebracht werden, daß die ,lex Christi' ihrem Wesen nach Glaube und keine inhaltliche Überbietung der lex naturae ist, daß es aber schlechterdings unlöslich zu diesem Glaube-Sein gehört, daß sie die lex naturae auf ihre äußerste Höhe hinaufinterpretiert bzw. ihren supralapsarischen (s. o. S. 236f.) Sinn wieder aufdeckt. Etwas anderes will Heckel aber auch nicht sagen. In seiner späteren Studie Lex Charitatis führt er die inhaltliche Deutung dieses »göttlichen« (d. h. nicht verdunkelten) Naturgesetzes durch an Hand der Leitbegriffe »rechtschaffender Wille« »Geist« und »Ordnung göttlicher Liebe«. Nach einer Darstellung des menschlichen Rechtes im status naturae corruptae kennzeichnet er die Aufgabe Christi als Interpretation des Naturgesetzes, als regeneratio hominis = Erschaffung des Menschen zu einer neuen Kreatur in der Rechtfertigung sola fide und als Stiftung der Kirche und setzt anschließend lex Christi und göttliches Naturgesetz zueinander in Beziehung. E s zeigt sich, daß beide leges sich inhaltlich decken. »Sie (die lex Christi) ist also, genau besehen, gar kein Gesetz, sondern die göttliche Predigt vom göttlichen Sinn der göttlichen Gesetzes, der im Dekalog verborgen lag und nun neu ans Licht gebracht wird« (a. a. O., S. 125). Von hier aus erklärt es sich für Heckel, daß »sich das wissenschaftliche Interesse der lutherischen Theologen vornehmlich um die lex fidei (sammelt). Sie leuchtet in hellem Licht! Aber eben dadurch tritt ihr Zusammenhang mit dem Naturgesetz als der lex charitatis (in dem umfassenden Sinn des Wortes) in den Schatten. Schließlich spricht man in der Theologie nicht mehr davon . . .« (a. a. O., S. 126). Luther darf man nach Heckel für das Auseinanderreißen von fides und Caritas »nicht wohl verantwortlich machen«. »Für ihn ist jener Zusammenhang selbstverständlich. Ob man das Naturgesetz, wie es in der Predigt der lex Christi ausgelegt wird, als lex charitatis (im umfassenden Sinn) oder als lex fidei bezeichnet, sind für ihn nur zwei, aus der Verschiedenheit des gewählten Blickpunktes folgende, nämlich entweder auf den Urständ oder auf den Christenstand bezogene Aussagen über denselben Tatbestand« (ib.). So überspitzt W o l f , wenn er sagt: »Das Evangelium wird damit gleichsam zum .Anwalt für eine Gottesordnung, die es selbst gar nichts angeht' (Zitat von L a u , .Äußerliche Ordnung' und .weltlich Ding' in Luthers Theologie, S. 107), indem es den Fluch des Gesetzes fortträgt . . .« (Wolf, a. a. O., S. 203). Selbstverständlich sind Glaube und Liebe voneinander zu unterscheiden, aber sie sind doch nicht nur in ihren Funktionen als Gesetz und Evangelium aufeinander bezogen, sondern ihre gegenseitige Beziehung ist auch inhaltlich sinnvoll, die

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Haltung des Glaubens entspricht in ihrer inneren Struktur der Haltung der Liebe (vgl. auch Luthers spätere Äußerungen über die fides absoluta und incarnata, W. 40 I 415). Im gleichen Sinne setzt sich W i n g r e n mit L a u auseinander: »Franz Lau verschärft im Zuge seiner Kritik an Müller die These gegen Holl dahingehend, daß die vita Christiana nach Luther bloß Glaube ist, überhaupt nicht Werke, nicht einmal Werke in Liebe. (Wingren verweist auf Lau, a. a. O., S. 137. 139). In Lau's Bestimmung erkennen wir den Glauben wieder als Flucht von der Erde, Aufsteigen zum Himmel, Einsamkeit coram deo, Sehnsucht nach dem Tode. Dies alles ist echt lutherisch. Hat man aber nicht mehr zu sagen, dann ist nicht der ganze Luther geschildert worden«. E s folgt eine Entfaltung der »im Glauben und im Geist geborenen Liebe«, die »ein völliges Durchbrechen der Grenze zwischen den beiden Reichen« bedeutet. (Wingren, Luthers Lehre vom Beruf, S. 41).

NAMENREGISTER A m b r o s i a s t e r 12. 50. 271 Aristoteles 348 A s h e i m 15. 396 A u g u s t i n 4. 8. 11. I 2 f f . 21. 24. 27. 3 9 f f · 44ff· 50· 54· 61. 6 5 · 7 2 · 181. 250. 253. 254. 267f- 280. 2gof. B a n d t 392 ff. B a u e r 37. 61 B e i n t k e r 1 1 1 . 114. 120. 125. 158 Biel 94. 274t. 318 B o r n k a m m , H . 50. 76. 324. 351 B r i n g 50. 110. 236. 243. 319 Bühler 158 E b e l i n g 21. 23. 25. 3of. 37. 54. 76. 82. 118. 181. 187. 235. 251. 297. 301. 303f. 308. 351 E r a s m u s 3. 57. 58 F a b e r 34ff. 50. 57 Gerdes 297 Glossa 3. 8. 12. 21. 24. 271 G o g a r t e n 388 G y l l e n k r o k 69. 227. 229. 236. 239. 302f. 312 H a i k o l a 15. 46. 51. 6 g f . 76. 187. 239. 240. 251. 304. 312. 351 H a m e l 41. 52. 61. 73. 181 H e c k e l 260. 397 f. H e r m a n n 62 f. 239 H i e r o n y m u s 2.' 3. 5. 7 f . 1 1 . 1 2 f f . 18. 21. 24. 27. 34ff. 38. 48. 50. 59. 230. 247 f. 250. 265! 266ff. 270. 29of. 3g6f. Hirsch 21. 22. 194. 195. 213 Holl 9. Ii. 22. 37. 69. 128. 151. 223. 274. 290. 299. 312. 313. 352f. 359f.

I w a n d 73 J a c o b 165ff. 202f. Joest 239. 240. 299f. 313. 314 K a t t e n b u s c h 392 L a u 398 f. L o o f s 213 L y r a 8. 3 4 f f . 50. 240. 266. 271 O c c a m 91. 193. 242. 318 P e t r u s L o m b a r d u s 134. 253. 254. 259. 262 Pinomaa 175. 2 9 8 ! 352 P r e n t e r 236. 239 P r e u ß 230 R ü c k e r t 388 Scheel g i f . 244. 274 S c h o t t 288 S c h u m a n n 168 S c h w a r z 205 Seeberg, E . 23. 76. 1 1 1 . i i 4 f . 125. 152 Seeberg, R . 92. 9 3 f f . 152. 193. 242. 2 74- 317· 318. 323 Siirala 304 S t o m p s 15

T h i m m e 9 2 . i n f f . u s f f . i 4 2 f f . 151. 165 ff. 201 f. T ö r n v a l l 351 V o g e l s a n g 22. 37. 63. 69. 74. 87. i n . 131. 213. 236 W a t s o n 236 W i n g r e n 360. 399 W o l f 260. 397 f.

Q U E L L E N - UND L I T E R A T U R V E R Z E I C H N I S a) Quellen Ambrosiaster: MSL 17 1 . Augustin: Epistolae ad Galatas expositio. MSL 35. — De spiritu et litera. MSL 44. Faber Stapulensis: Epistole divi Pauli apostoli: cum commentariis preclarissimi viri Jacobi Fabri Stapulensis. — Venundantur Parrhisiis in edibus Francisci Regnault: et Joannis de la Porte Bibliopolarum. Freiburg 1664 (Tintenschrift!). Glossa: Biblia cum glosa (sie!) ordinaria Walafridi Strabonis et interlinearii Anselmi Laudunensis. Tom. 4. Straßburg, Adolf Rusch 1481. Hieronymus: Commentarius in epistolam Pauli ad Galatas. MSL 26. Luther, Martin: Werke. Kritische Gesamtausgabe Weimar 1883ff. (W); vornehmlich: In epistolam Pauli ad Galatas commentarius 1519. W 2. Annotationes Martini Lutheri in Epistolam Pauli ad Galatas 1531. W 40 I und 40 II. Nicolaus de Lyra: Glossae in universa biblia cum additionibus Pauli Burgensis. Tom. 3. Sine loco. Petrus Lombardus: Libri IV Sententiarum. Secunda Editio. Ad ciaras aquas 1916. b) Literatur Asheim, Ivar: Glaube und Erziehung bei Luther; in: Pädagogische Forschungen (Veröffentlichungen des Comenius-Instituts), Bd. 17; Heidelberg 1961. Bandt, Hellmut: Luthers Lehre vom verborgenen Gott. Berlin 1958. Bauer, Karl: Die Wittenberger Universitätstheologie und die Anfänge der deutschen Reformation. Tübingen 1928. Beintker, Horst: Die Uberwindung der Anfechtung bei Luther. Berlin 1954· Bornkamm, Heinrich: Äußerer und innerer Mensch bei Luther und den Spiritualisten; in: Imago Dei, Festschrift für Gustav Krüger, Gießen 1932. —- Das Wort Gottes bei Luther. Schriftenreihe der Luthergesellschaft Nr. 7. München 1933. — Iustitia dei in der Scholastik und bei Luther. Archiv für Reformationsgeschichte 39. Leipzig 1942. MSL = Patrologia cursus completus. Series latina. Ed. J.-P. Migne. Parisiis 1845. 1

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Bornkamm, Galaterbrief

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ARBEITEN ZUR KIRCHENGESCHICHTE Begründet von K A R L H O L L F und H A N S LIETZMANN F Herausgegeben von K U R T A L A N D , W A L T H E R ELTESTER j ; V.'*^"^ !'r : ''V \ und H A N N S RC-CKUKT

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2 3 . UNTERSUCHUNGEN ZUR Ü B E R L I E F E R U N G DER S C H R I F T E N DES A T H A NASIUS. Von H.-G. Opitz. X, 216 Seiten,, 1935. DM 18,— 2 4 . G O T T F R I E D D A N I E L K R Ü M M A C H E R UND DIE NIEDERRHEINISCHE E R WECKUNG$BEWEGUNG ZU A N F A N G DES 1 9 . J A H R H U N D E R T S . V o n F . W . K r u m m a c h e r . 3 0 4 Seiten. 1 9 3 5 . DM18,— 25. V I R G O E V A - V I R G O M A R I A . Neue Untersuchungen über die Lehre von

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der Jungfrauschaft und der Ehe Mariens in der ältesten Kirche. Von H . K o c h . 1 1 5 Seiten. 1 9 3 7 . I - , DM9,30 D R E I MARKUSEVANGELIEN. Von R . T h i e l . 2 3 7 Seiten. 1 9 3 8 . D M 10,50

26. 2 7 . UNBEKANNTE 28. 29.

30. 31.

FRAGMENTE

AUS L U T H E R S

ZWEITER

PSALMENVORLESUNG

1518. Herausgegeben von E. V o g e l s a n g . 97 Seiten. 1940. DM 12,— SPENER-STUDIEN. Von K . A l a n d . (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus I.) 213 Seiten. 1943. DM 21,— L U T H E R UND M Ü N T Z E R . Ihre Auseinandersetzung über Obrigkeit und Widerstandsrecht. Von C. H i n r i c h s . 2., unveränderte Aufl. VHf, 187 Seiten. 1962. DM 19,80 LOGOS UND NOMOS. Die Polemik des Kelsos wider das Christentum. Von C. Andresen. VII, 415 Seiten. 1955. DM 32,— A M E R I K A UND DIE ΟRIENTALISCHFEN K I R C H E N . Ursprung und Anfang der amerikanischen Mission unter den Nationalkirchen Westasiens. Von P. K a w e r a u . Mit 5 Karten und 27 Abbildungen. XI, 772 Seiten. 1958. D M 48,~~

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3 2 . P I E BRANDENBURGISCH-PREUSSISCHEN HOFPREDIGER IM 1 7 . UND 1 8 . J A H R HUNDERT. Ein Beitrag zur Geschichte der absolutistischen Staatsgesell-

schaft in Brandenburg-Preußen. Von R. v o n Thadden. Mit 18 Tafeln. VIII, 2 3 9 Seiten. , 1 9 5 9 . ·, V ,K ' V - \.'