Ländliche Unternehmen in der Volksrepublik China [1 ed.] 9783428496358, 9783428096350

Der vorliegende Band bietet erstmals in deutscher Sprache einen umfassenden Einblick in Risiken und Chancen der ländlich

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German Pages 257 Year 1999

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Ländliche Unternehmen in der Volksrepublik China [1 ed.]
 9783428496358, 9783428096350

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Susanne Weigelin-Schwiedrzik und Dagmar Hauff (Hrsg.) Ländliche Unternehmen in der Volksrepublik China

Schriften zu Regional- und Verkehrsproblemen in Industrie- und Entwicklungsländern Herausgegeben von Theodor Dams und Joachim Klaus

Band 64

Ländliche Unternehmen in der Volksrepublik China

Herausgegeben von Susanne Weigelin-Schwiedrzik und Dagmar Hauff

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ländliche Unternehmen in der Volksrepublik China / hrsg. von Susanne Weigelin-Schwiedrzik und Dagmar Hauff. - Berlin : Duncker und Humblot, 1999 (Schriften zu Regional- und Verkehrs prob le men in Industrie- und Entwicklungsländern ; Bd. 64) ISBN 3-428-09635-5

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1999 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0170 ISBN 3-428-09635-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ

Vorwort der Herausgeber der Schriftenreihe Die vorliegende Publikation ist in mehrfacher Hinsicht ein gelungener Versuch einer chinesisch-deutschen wissenschaftlichen Kooperation: Zum einen haben sich chinesische und deutsche Sinologen und Ökonomen mit der Frage der ländlichen Unternehmen in der Region Shanghai auseinandergesetzt; zum anderen haben Studierende des Sinologischen Seminars der Universität Heidelberg im Rahmen der Partnerschaft mit der Shanghai International Studies University - unter wissenschaftlicher Anleitung durch beide Institutionen - Fallstudien durchgeführt. Das ist der formal-organisatorische Rahmen dieses Buches; er sicherte, daß vorwiegend chinesische Publikationen und empirische Materialien ausgewertet wurden. Die Arbeit liefert inhaltlich mit ihren wissenschaftlichen Aussagen wertvolle Beiträge: Sie vermittelt eine für uns ungewohnte (im konservativen Sinn einer zentralistischen Volkswirtschaft sehr andersartige) Unternehmensfuhrung, die in eine Lücke infolge der Dekollektivierung stößt und eine ganze Palette von unterschiedlichen Effekten bewirkt. Besonders wichtig erscheint dabei eine der forschungsleitenden Fragen, ob nicht gerade in dem historisch gewichtigen Spannungsfeld zwischen Zentrale und Peripherie „die Interessensübereinstimmung von Unternehmen und Lokalregierung das Lebenselixier darstellt, das diese Betriebe auf dem Land brauchen, um sich überhaupt entwickeln zu können." Es wird die Frage nach dem Innovationspotential gestellt, das sich in dem dort bestehenden historischen und politischen Gesamtrahmen an einer besonders wichtigen Front entwickelt bzw. schon entwickelt hat. Die weitgespannte Diskussion über Zentralisierung - Dezentralisierung Rezentralisierung sowie die Unterschiedlichkeit der konkreten Meinungen über die Beziehungen zwischen Zentrale und Peripherie wird ausgewiesen. Damit kommen grundsätzliche Entwicklungs-, Positions- und Wertungsunterschiede zum Ausdruck, die zu einem gewissen Grad verallgemeinbar und auch (über China hinaus) übertragbar sein könnten.

Freiburg, Juli 1998

Theodor Dams und Joachim Klaus

Inhaltsverzeichnis

Susanne Weigelin-Schwiedrzik Einleitung

13

Erster Teil Ländliche Unternehmen aus chinesischer Perspektive Dou Hui Die Entstehung der ländlichen Unternehmen und ihre herausragende Funktion für die Entwicklung der Volksrepublik China

25

Liu Rongrong Probleme und weitere Perspektiven der ländlichen Unternehmen

39

Zweiter Teil Ländliche Unternehmen und politische Ökonomie Susanne Weigelin-Schwiedrzik Ländliche Unternehmen in der VR China: Ein Beitrag zur Diskussion über das Verhältnis von Staat und Gesellschaft

59

Dagmar Hauff Die Rolle des Staates bei der ländlichen Industrialisierung in der VR China

79

Dritter Teil Ländliche Unternehmen und wirtschaftliche Entwicklung Sascha Klotzbücher Eigentumsreformen bei den kollektiven ländlichen Unternehmen am Beispiel der Aktiengenossenschaften

115

8

Inhaltsverzeichnis

Johanna Maute Lokaler - nationaler - internationaler Markt: Die außenwirtschaftliche Orientierung der ländlichen Unternehmen in der VR China

Vierter

141

Teil

Ländliche Unternehmen und gesellschaftliche Probleme Patricia Schetelig Das System der sozialen Sicherung und seine Umsetzung in den ländlichen Unternehmen im Kreis Qingpu

173

Simone Grießmayer Wohlfahrtsbetriebe (fuli qiye): Ein zum Absterben verurteilter Überrest des chinesischen Wohlfahrtsstaates oder eine gewinnbringende Idee zur Behebung von Finanzschwäche im sozialen Sektor?

Fünfter

195

Teil

Ländliche Unternehmen und politische Entwicklung Michael Lüdke Die ländlichen Unternehmen im Spannungsfeld zwischen Zentrale und Peripherie: Lenkungsversuche der Zentrale und Ausweichmanöver an der Peripherie?

217

Anhang Interviews

245

Gesetz über die ländlichen Unternehmen

246

Autorenverzeichnis.

256

Abkürzungsverzeichnis AGeno

Aktiengenossenschaft

BA

Betriebsanteile

BPW

Bruttoproduktionswert

BSP

Bruttosozialprodukt

BVB

Betriebe der Volkskommunen und Brigaden

GK

Gebietskörperschaften

KA

Kollektivanteile

KLU

Kollektive ländliche Unternehmen

KPCh

Kommunistische Partei Chinas

LU

Ländliche Unternehmen

LUnG

Gesetz über die ländlichen Unternehmen

MA

Mitarbeiteranteile

Mof-Dolf

Ministry of Finance, Department of Local Finance

RMB

Renminbi (Chinesische Währung)

SA

Schattenanteile

SE AC

State Administration of Exchange Control

SJN

Shanghai Jingji Nianjian (Wirtschaftsjahrbuch von Shanghai)

STN

Shanghai Tongji Nianjian (Statistisches Jahrbuch Shanghais)

TFP

Totale Faktorproduktivität

WTO

World Trade Organisation

ZR

Zentralregierung

ZCTN

Zhongguo caizheng tongji nianjian (Finanzstatistisches Jahrbuch der VR China)

ZTN

Zhongguo tongji nianjian (Statistisches Jahrbuch der VR China)

ZXQN

Zhongguo xiangzhen qiye nianjian (Jahrbuch der ländlichen Unternehmen der VR China )

Die regierungsunmittelbare Stadt Shanghai mit Kreis Qingpu und Nachbarprovinzen

Karte: Caspar Schwiedrzik und Hanno Lecher

Einleitung Von Susanne Weigelin-Schwiedrzik, Heidelberg Das vorliegende Buch ist das Ergebnis eines Experimentes 1: Es ist aus einer Exkursion des Sinologischen Seminars der Universität Heidelberg hervorgegangen, die sich die Erforschung der ländlichen Unternehmen (LU) in der Umgebung von Shanghai zum Ziel gesetzt hatte. An dieser Exkursion nahmen neben der Lehrstuhlinhaberin und ihrer Assistentin insgesamt neun Studierende (vier Studierende des Grund- und fünf des Hauptstudiums) teil. Die Exkursion war die erste Aktivität dieser Art im Rahmen der bereits seit über zehn Jahren andauernden Partnerschaft mit der Shanghai International Studies University (SISU). Sie sollte die bisher im wesentlichen auf die gegenseitige Unterstützung des Spracherwerbs gerichteten Vorhaben auf das Feld der gemeinsamen Erforschung des jeweiligen Gastgeberlandes ausweiten sowie die Zusammenarbeit in der Lehre durch die Kooperation in der Forschung ergänzen. Dabei erwiesen sich die engen Beziehungen zwischen der Shanghai International Studies University und den Unternehmen des Umlandes als besonders hilfreich bei der Planung und Durchführung des Projektes. Insbesondere Prof. Dou Hui, der auf durch Landverschickung in der Kulturrevolution gewachsene Beziehungen zurückgreifen konnte, zeigte Verständnis für den Wunsch des Sinologischen Seminars, den Exkursionsteilnehmern einen möglichst detaillierten und realitätsnahen Einblick in die ländliche Industrialisierung zu vermitteln. So kam es schließlich nach fast einjährigen Vorarbeiten zur Durchführung des Vorhabens in der Zeit zwischen dem 1. und 28. Oktober 19962, wobei die 1 An diesem Buch haben deutsche und chinesische Autoren mitgewirkt. Die deutschen Autorinnen und Autoren dieses Buches sind bis auf Susanne WeigelinSchwiedrzik, die als Professorin für Moderne Sinologie an der Universität Heidelberg die Exkursion leitete, und Dagmar Hauff, die als Assistentin am Lehrstuhl tätig ist, Studierende des Hauptfachstudiums Moderne Sinologie. Für die sprachliche Überarbeitung der einzelnen Artikel danken wir Stefan Rohde und Michael Meyer. Die redaktionelle Bearbeitung des Gesamtwerkes übernahmen die Herausgeberinnen. 2 Wir danken folgenden Personen und Institutionen für ihre Unterstützung, ohne die das Vorhaben nie hätte realisiert werden können: Dem Rektor der Shanghai International Studies University, Prof. Dai Weidong, Prof. Dou Hui und seiner Kollegin Liu Rongrong von der Abteilung für Sozialwissenschaften der SISU, sowie dem Leiter des Auslandsamtes, Prof. Lu Loufa. Auf deutscher Seite erhielt die Exkursion, vermittelt über das Auslandsamt der Universität Heidelberg, finanzielle Unterstützung durch das

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Susanne Weigelin-Schwiedrzik

Gruppe nach einigen Tagen der Eingewöhnung und Einführung an der Partneruniversität zunächst zehn Tage auf dem Land verbrachte und dort fünf ländliche Unternehmen besichtigte. Im Anschluß daran folgte eine Vertiefung und Ergänzung der gewonnenen Erkenntnisse durch Fachvorträge chinesischer Wissenschaftler in Shanghai, die von der Diskussion der Gruppe über die Ergebnisse der Betriebsbesichtigungen begleitet wurden. Den Abschluß bildete neben einem Besuch der Börse von Shanghai und einer Besichtigung der Wirtschaftssonderzone Pudong eine intensive Suche nach einschlägiger aktueller Fachliteratur auf dem Shanghaier Buchmarkt. Der vorliegende Band ist somit das Ergebnis einer Zusammenarbeit auf mehreren Ebenen: Zum einen sind die hier vorgestellten Forschungsergebnisse aus einer Kooperation von Wissenschaftlern aus der VR China und aus Deutschland entstanden. Dies mag in den Naturwissenschaften und in technischen Fächern längst Routine geworden sein, für den Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften, insbesondere wenn es darum geht, die Verhältnisse in der VR China zu erforschen, kann eine solche Zusammenarbeit durchaus als außergewöhnlich gelten. Des weiteren haben wir uns bei der Auseinandersetzung mit der ländlichen Industrialisierung darum bemüht, in mehrfacher Hinsicht die Schranken der Sinologie zu überschreiten, indem wir Methoden und Problemstellungen der Wirtschafts- und Politikwissenschaft mit der kulturwissenschaftlichen Perspektive einer auf das moderne China ausgerichteten Sinologie verbanden. Auch hier haben wir versucht, Neuland zu betreten. Schließlich sei darauf hingewiesen, daß die hier veröffentlichten Beiträge Zeugnis der eigenständigen Forschung von Studierenden unter der Anleitung der beiden Herausgeberinnen ablegen. Sie sind aus der Kooperation von Lehrenden und Lernenden entstanden und machen deutlich, wie das Prinzip der Einheit von Lehre und Forschung für beide Seiten erkenntnisfördernd zur Anwendung gelangen kann. In Zeiten der allseits geführten Klage über die mangelnde Qualität des Studiums haben wir uns nicht davon abbringen lassen, unsere Ziele hoch zu stecken. Noch während der Exkursion wurde der Entschluß gefaßt, daß die aus ihr hervorgehenden, von den Studierenden verfaßten Artikel möglichst in ein gemeinsames Buch aufgenommen werden sollten. Es zeigte sich jedoch bald, daß sich die Perspektive auf die ländlichen Unternehmen, so wie wir sie im Verlauf der Exkursion gewonnen hatten, erheblich von den bisher in der Literatur üblichen Fragestellungen unterschied. Während die bisherige Forschung im wesentlichen aus einer volkswirtschaftlichen Perspektive betrieben worden war

Ministerium für Wissenschaft und Kunst des Landes Baden-Württemberg, Exkursionsmittel der Universität Heidelberg sowie eine Reisekostenunterstützung des Deutschen Akademischen Austauschdienstes.

Einleitung

15

und sich mit Erstaunen dem Phänomen des wirtschaftlichen Erfolges der L U zugewandt hatte, gewannen die Mitglieder der Exkursion bald den Eindruck, daß die Gesamtbedeutung der L U weit über deren produktive und fiskalische Funktion hinausgeht. Zum einen erkannten wir, daß die soziale Funktion der LU nicht unterschätzt werden darf, tragen sie doch zu einem erheblichen Maße zur Verbesserung der Einkommensverhältnisse sowie zum Aufbau eines Systems der sozialen Sicherung auf dem Lande bei. Sie absorbieren im Zuge der Dekollektivierung freigesetzte Arbeitskräfte und verhindern damit eine noch größere Migration vom Land in die Stadt als wir sie ohnehin schon in der VR China beobachten können. Alles in allem gewannen wir den Eindruck, daß sie mit für die erstaunliche Stabilität des von der Modernisierung in positivem wie negativem Sinne betroffenen ländlichen Raums verantwortlich sind. Andererseits konnten wir, angeregt durch die Beiträge von Christine Wong und Jean Oi, immer mehr die Bedeutung der ländlichen Industrialisierung für das Verhältnis von Zentral- und Lokalregierung in den Mittelpunkt unserer Betrachtungen stellen. Die ländlichen Unternehmen sind somit nicht nur ein wirtschaftliches und soziales, sondern auch ein politisches Phänomen von erheblicher Wichtigkeit. Während sie einerseits der Stabilisierung des ländlichen Raumes dienen, sind sie auf der anderen Seite ein Grund dafür, daß sich die Fähigkeit der Zentralregierung in Peking, das Land bis in die kleinsten Lokalitäten zu beherrschen, in den letzten Jahren deutlich vermindert hat. Sie sind ein Pfeiler für die neu gewonnene Autonomie der Lokaladministrationen und versetzen diese in die Lage, sich vor Ort zu profilieren und zu legitimieren. Gleichzeitig ist die ländliche Industrialisierung aber auch eine Reaktion auf die Schwächung der Zentrale, indem nur sie die notwendigen finanziellen Ressourcen hervorbringen konnte, welche die lokalen Administrationen brauchten, um den in ihrem Gebiet lebenden Menschen den Eindruck zu verschaffen, auch sie hätten einen Vorteil von der „sozialistischen Modernisierung". Das Ringen um das korrekte „Gleis", auf das die L U gebracht werden sollen, ist somit auch ein Ringen zwischen Zentrale und Peripherie, die auf unterschiedliche Weise ihre jeweiligen Interessen verfolgen. Wie dem einleitenden Beitrag von Prof. Dou Hui zu entnehmen ist, handelt es sich bei den ländlichen Unternehmen um Betriebe, die ihren Ursprung in den zaghaften Industrialisierungsversuchen auf dem Land während der Ära Mao Zedongs haben. Gemäß dem Gesetz über die ländlichen Unternehmen, das am 29.10.1996 verabschiedet wurde (vgl. hierzu die Übersetzung des Gesetzes im Anhang, für das Gesetz steht im folgenden die Abkürzung LUnG 1996), wird eine Vielzahl von Unternehmensformen unter dem in der VR China üblichen Begriff ,yXiangzhen qiye" (wörtlich zu übersetzen mit „Betriebe auf der Ebene von Land- und Marktgemeinde") zusammengefaßt. Diese haben jedoch bei allen Unterschieden eines gemeinsam: Es handelt sich um nichtagrarische, nichtstaatliche Betriebe auf dem Land, die außerhalb des verbindlichen zentralstaatlichen Wirtschaftsplanes operieren. Ihrer Eigentumsform nach gibt

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Susanne Weigelin-Schwiedrzik

es Betriebe in kollektivem Besitz, in denen die örtlichen Kommunalregierungen auf der Ebene von Markt- und Landgemeinde als Eigentümer auftreten. Es gibt jedoch auch Privatbetriebe, in denen die Mehrheit der Anteilseigner Bauern sind, oder auch Betriebe, die sich die Form des Joint Ventures gegeben haben. Diese Betriebe erwirtschaften heute bereits mehr als ein Drittel des Bruttoinlandsproduktes der VR China sowie ein Drittel der Exporte. Die Unternehmen werden eigenverantwortlich für Gewinne und Verluste als unabhängige Rechnungseinheiten geführt, wobei die Investoren in Anlehnung an das wirtschaftliche Verantwortlichkeitssystem (jingji zerenzhi) im Einklang mit den gesetzlichen Bestimmungen und den Verwaltungsrichtlinien die großen betrieblichen Rahmenbedingungen abstecken (vgl. Art. 13 des LUnG). Die L U sind aufgefordert, gemäß der wirtschaftlichen Nachfrage beständig ihre Produktstruktur zu regulieren, ihre technische Ausstattung zu verbessern und ihr innerbetriebliches Organisationsniveau zu erhöhen (Art. 27). Außerdem werden sie ermuntert, Kooperationen mit ausländischen Unternehmen einzugehen und sich im Exportsektor zu engagieren (Art. 25). Das Gesetz legt die Funktion der ländlichen Unternehmen in zweifacher Hinsicht fest: Neben ihrer wirtschaftlichen Zielsetzung der Gewinnmaximierung auf dem Markt übernehmen sie zusätzlich eine gesamtwirtschaftliche Funktion fur die Entwicklung der Landwirtschaft. So sieht das Gesetz vor, daß immer ein bestimmter Anteil des Gewinns der LU der landwirtschaftlichen Entwicklung zufließt (Art. 2, 17). Die LU sind ohne Anstoß seitens der Zentralregierung in Beijing als Antwort auf die fiskalischen Probleme der Lokalregierungen sowie auf die durch die Dekollektivierung wachsende latente Arbeitslosigkeit auf dem Land entstanden. In der Zwischenzeit haben sie sich so weit entwickelt, daß mit ihrer Hilfe die schwierigen sozialen und wirtschaftlichen Probleme auf dem Land eine Linderung erfahren. Dementsprechend widmen sich die Beiträge in diesem Band der historischen Entwicklung der ländlichen Unternehmen, ihrer aktuellen Bedeutung in wirtschaftlicher, politischer und sozialer Hinsicht sowie den Perspektiven der zukünftigen Weiterentwicklung. Neben der oben angesprochenen Frage nach ihrer Bedeutung für das Verhältnis von Zentrale und Peripherie setzen sich die Beiträge auch mit der Frage auseinander, ob die ursprünglich für die ländlichen Unternehmen so charakteristische Form des Kollektiveigentums sowie ihre enge Verflechtung mit den Lokalregierungen ein Hindernis für deren weitere Entwicklung darstellen, oder ob nicht gerade die Interessensübereinstimmung von Unternehmen und Lokalregierung das Lebenselexier für diese Betriebe ist. Von der Partneruniversität in Shanghai wurde der Kreis Qingpu als Zielort der Exkursion ausgesucht. Qingpu ist einer von sechs Kreisen der regierungsunmittelbaren Stadt Shanghai. Er besteht aus 19 Markt- (zhen) und 2 Landgemeinden (xiang) und liegt strategisch günstig am Mündungsdelta des YangtseFlusses (Changjiang sanjiao zhou) in unmittelbarer Nähe des Shanghaier Flughafens an der Grenze zu den Nachbarprovinzen Zhejiang und Jiangsu. In

Einleitung

17

Qingpu haben sich daher bereits 841 Firmen mit ausländischer Beteiligung {san zi qiyé) angesiedelt, die hauptsächlich aus Japan, den USA, Südkorea und Deutschland kommen. Auch Hongkonger Investoren zeigen sich an Qingpu in besonderem Maße interessiert. Während die Mehrzahl der 13 Mio. Shanghaier Einwohner im Stadtgebiet {shiqu) lebt, haben lediglich 462.000 Einwohner (3,5 % der Gesamtbevölkerung Shanghais) ihren Wohnsitz in Qingpu. Aufgrund der bestehenden Infrastruktur und der branchenmäßigen Ausrichtung hat sich eine Art Arbeitsteilung zwischen dem Shanghaier Stadtgebiet und den umliegenden Kreisen herauskristallisiert. Während im Zentrum Shanghais der Tertiärsektor vorherrscht, liegt der wirtschaftliche Schwerpunkt der Außenbezirke auf der industriellen und agrarischen Produktion. Qingpus besondere Bedeutung für das Stadtgebiet liegt dabei in seiner Funktion als Lebensmittel Lieferant. Der Kreis wird daher auch als „Garten" bzw. „Speisekorb" {cailanzi) Shanghais bezeichnet (Interview 1). Grobrastriges, statistisches Zahlenmaterial über die wirtschaftliche Entwicklung wird im Statistischen Jahrbuch Shanghais veröffentlicht. Detailliertere Zahlen zur wirtschaftlichen Situation auf Kreis- und Gemeindeebene wurden in schriftlicher Form nicht zugänglich gemacht, so daß wir in diesem Zusammenhang weitgehend auf Daten zurückgreifen müssen, die der stellvertretende Kreisgouverneur, Wu Xuefeng, in einem Interview der Exkursionsgruppe vorgetragen hat. Landesweit gehörte Qingpu 1993 mit einem jährlichen Pro-Kopf-Einkommen von 5.616 RMB, einem industriellen und landwirtschaftlichen Bruttoproduktionswert von 8.562 Mrd. RMB und fiskalischen Einnahmen von 0,31 Mrd. RMB zu den 100 wirtschaftlich erfolgreichsten Kreisen des Landes {quan guo bai qiang xian) (Ma und Cheng, 3.3.1996, vgl. Literaturverzeichnis Hauff). Allein 1995 wurden insgesamt 230 neue ausländische Firmen in Qingpu angesiedelt. Das gesamte ausländische Investitionsvolumen in Qingpu belief sich 1996 nach Angaben von Ma und Cheng auf 2.313 Mrd. US $. Qingpu wird daher in der Shanghaier Jiefang Ribao als aufstrebender „kleiner Drache'4 {xiao long) gewürdigt, den man nicht mehr zur wirtschaftlichen „Nachhut" (houwei), sondern zur „Vorhut" (