Vom Eigenen und Fremden: Fernsehen und kulturelles Selbstverständnis in der Volksrepublik China [1. Aufl.] 9783839402085

Kultur erschafft und kommuniziert sich seit den 1980er Jahren auch in der Volksrepublik China zusehends durch das Fernse

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Vom Eigenen und Fremden: Fernsehen und kulturelles Selbstverständnis in der Volksrepublik China [1. Aufl.]
 9783839402085

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung: Das Fremde im Fremden
Fremde Blick
Vom Fremden im Eigenen und dem Eigenen im Fremden
Teil I. Dispositive des Fernsehens und das Fremde im Eigenen
1. Ortungen: Vom fremden zum eigenen Fernsehen
Vorgeschichte der technischen Medien
Aufbruchseuphorie und Krise
Der Weg zum Massenmedium
Transnationales Fernsehen
2. Entortungen: Medien, Kultur und das Andere
Kulturdiskurse
Téchnai, Dao und die Suche nach Ordnung
Mediatisierung von Kultur, Kulturalisierung der Medien
Wu Jie und das Modell der Systemdialektik
3. Verortungen: Medientheorie und Fernsehkultur
Fernsehen und seine Dispositive
Fernsehen und Gesellschaft
Programmdidaktik
Teil II. Programme des Fernsehens und das Eigene im Fremden
4. Anordnungen: Lokales, nationales und transnationales Fernsehen
Medien der Kultur und die Kultur der Medien
Nationalkultur, Transnationalismus und die Wiederkehr des Lokalen
Programmstrukturen
5. Verordnungen I: Kollektive Erinnerung und nationales Bewußtsein
Historische Fiktionen
Befreiungsmythen
Geschichte als Gegenwartsereignis
6. Verordnungen II: Mythos der Modernisierung
Dokumentationen von Sieg und Opfer
Alltagskonstruktionen
Gegenwartsfiktionen
7. Neuanordnungen: Das Eigene im Eigenen
Modelle des Widerstands
China und die Welt von Werbung und MTV
Auflösung und Neuordnung
Literatur

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Stefan Kramer Vom Eigenen und Fremden

Stefan Kramer (PD Dr. phil.) lehrt Medienwissenschaften an der Universität Konstanz. Forschungen u.a. zu Kultur, Kulturgeschichte und Kulturtheorie der Medien, Interkulturalität, zu Identität und Medien Ostasiens.

Stefan Kramer Vom Eigenen und Fremden. Fernsehen und kulturelles Selbstverständnis in der Volksrepublik China

Die vorliegende Arbeit wurde im Jahre 2003 von der Geisteswissenschaftlichen Sektion der Universität Konstanz als Habilitationsschrift angenommen. Die Publikation erfolgt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2004 transcript Verlag, Bielefeld Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Stefan Kramer Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-208-2

Inhalt

Vorwort 9 Einleitung: Das Fremde im Fremden 11 (Fremde Blicke 17, Vom Fremden im Eigenen und dem Eigenen im Fremden 24)

Te i l I D isp os it iv e d e s F ern se h ens un d d as Fr emd e im E ig en en 1. Ortungen: Vom fremden zum eigenen Fernsehen 45 (Vorgeschichte der technischen Medien 48, Aufbruchseuphorie und Krise 84, Der Weg zum Massenmedium 111, Transnationales Fernsehen 135) 2. Entortungen: Medien, Kultur und das Andere 151 (Kulturdiskurse 156, Téchnai, Dao und die Suche nach Ordnung 173, Mediatisierung von Kultur, Kulturalisierung der Medien 188, Wu Jie und das Modell der Systemdialektik 220)

3. Verortungen: Medientheorie und Fernsehkultur 247 (Fernsehen und seine Dispositive 249, Fernsehen und Gesellschaft 266, Programmdidaktik 285)

Te i l I I Pro gr amm e de s F ern s eh ens un d d as Ei g en e im Fr emd en 4. Anordnungen: Lokales, nationales und transnationales Fernsehen 305 (Medien der Kultur und die Kultur der Medien 307, Nationalkultur, Transnationalismus und die Wiederkehr des Lokalen 327, Programmstrukturen 357) 5. Verordnungen I: Kollektive Erinnerung und nationales Bewußtsein 373 (Historische Fiktionen 383, Befreiungsmythen 403, Geschichte als Gegenwartsereignis 417)

6. Verordnungen II: Mythos der Modernisierung 435 (Dokumentationen von Sieg und Opfer 439, Alltagskonstruktionen 459, Gegenwartsfiktionen 472) 7. Neuanordnungen: Das Eigene im Eigenen 485 (Modelle des Widerstands 495, China und die Welt von Werbung und MTV 508, Auflösung und Neuordnung 527) Literatur 545

Vorwort Die Wahrnehmung des Fremden wird unter den gegenwärtigen Bedingungen zunehmender Globalisierung und einer beschleunigten postindustriellen Transnationalisierung der Kulturen zusehends medial und durch die bewegten und nahezu unbegrenzt verfügbaren Bilder von Film, Fernsehen und Internet bestimmt. Sie prägt dabei immer auch die Eigenwahrnehmung der Betrachtersubjekte. Darüber hinaus schafft sie die Grundlage für den Blick der beobachteten Menschen und Gesellschaften zurück auf ihren Betrachter. Diese bedienen sich überwiegend derselben technisch-visuellen Medien, durch welche sie selbst ursprünglich zum Gegenstand der Beobachtung bestimmt worden waren; der Zeichen und Bilder des Buchdrucks, des Kinos und des Fernsehens. Indem sich unter diesen Bedingungen die Grenzen zwischen Wahrnehmendem und Wahrgenommenem, zwischen Kolonisierendem und Kolonisiertem, ständig gegeneinander verschieben und gar aufheben, um sich daraus allerdings jeweils auch wieder neu zu formieren, entsteht eine Dynamik der Kulturen und ihrer medialen Repräsentationen. Deren Problematik und ihre unterschiedlichen Lösungsstrategien wie auch deren Widersprüche darzustellen, hat sich diese Arbeit zur Aufgabe gemacht. Im Hinblick auf die jeweiligen globalen und lokalen wie nicht zuletzt auch national hegemonialen und zugleich widerständigen Bedeutungs- und Wissensdiskurse des Eigenen und Fremden resp. anderen und Anderen setzt sie sich im Sinne von Jacques Derridas Konzept der Dissémination mit den Differenzen und den Spuren gegenseitiger Zu- und Einschreibungen, Verschiebungen, Entzweiungen und Ersetzungen von Bedeutung in den Prozessen der gegenwärtigen Medienkultur auseinander. Zu deren Darstellung verwendet sie als Untersuchungsgegenstand das in globaler Perspektive als Instrument der massenmedialen Kommunikation von Wissen und Bedeutung privilegierte Fernsehen. Sie

9

VOM EIGENEN UND FREMDEN fokussiert auf dessen Realität und imaginäre Bedeutungskonstruktionen innerhalb der Kultur und Kulturen Festlandchinas. Das Reich der Mitte hat es aufgrund seiner zwei Jahrtausende andauernden kontinuierlich dominanten Kulturtradition mehr als alle anderen kulturellen Ordnungssysteme vermocht, den transnationalen Bedeutungssystemen ein eigenes Modell von Kultur mit tief verwurzelten Anordnungen der Repräsentation entgegenzuhalten. Die dabei entstehenden Wechselwirkungen und Reibungsflächen zwischen dem tatsächlichen und imaginierten sowie kommunizierten Eigenen und Fremden generieren allesamt in gleicher Weise Differenz, wie sie diese auch immer wieder auflösen. Dies hat eine fixe Bestimmung dieser beiden – imaginären – Konstanten wie jeder fixierbaren Opposition von Identitäts- und Differenzparametern letzten Endes immer wieder unmöglich gemacht. Damit haben sich auch die festgeschriebenen dichotomischen Zuordnungen dieser Untersuchung aufgeweicht und teilweise zu – allerdings notwendigen – operationalen Größen degradiert. Denn auf der anderen Seite kann bei einer Untersuchung der – medialen – Identitätsräume Chinas auf die festen Bezugsgrößen des Eigenen und des Fremden, von Identität und Differenz, auch nicht gänzlich verzichtet werden. Sie müßte deren Beliebigkeit und Undurchdringlichkeit einschließlich des Verlustes des eigenen (imaginären) Beobachterstandpunkts in Kauf nehmen und würde relevante Aussagen letzten Endes unmöglich machen. So muß diese Arbeit selbst mit den Oppositionen und Vereinfachungen operieren, die sie in ihren Aussagen in Frage stellt. Das macht sie angreifbar, kann und soll aber auch als Chance begriffen werden, gerade in der Aufweichung der dichotomischen Positionen ein Denken des Anderen zumindest in Ansätzen möglich zu machen, ohne dabei die Position des Eigenen gänzlich aufgeben zu müssen. Ich danke allen, die mich bei der Entstehung dieser Arbeit begleitet und unterstützt haben. Stefan Kramer, Januar 2004

10

EINLEITUNG: DAS FREMDE IM FREMDEN Heute morgen langt er am Ziel seiner Reise an, er wird gleich einen Punkt der Erde erreichen, dessen Name gestern noch ohne Bedeutung war, auf den jetzt aber die Augen Europas gerichtet sind: dieses Meer, das sich so ruhig aufzuhellen beginnt, ist das Gelbe Meer, der Golf von Petschili, der Zugang nach Peking. (Pierre Loti: D T P ) IE LETZTEN

AGE VON

EKING

Im Jahre 1900 wurde der ehemalige französische Fregattenkapitän und namhafte Vertreter des literarischen Exotismus, Pierre Loti, auf Befehl der französischen Militärgewalt in das von den alliierten Mächten besetzte Nordchina abkommandiert. Er verbrachte mehrere Monate in dem von den Zerstörungen

und

der

fremden

Gewaltherrschaft

gezeichneten

Reich der Mitte. In seinen im Jahre 1902 erstmals publizierten chinesischen Reiseberichten dokumentiert Loti mit tiefer Eindrücklichkeit und einer zu jener Zeit beispiellosen Visualität die Niederschlagung des Boxeraufstands durch die europäischen Kolonialmächte und des sich nun militärisch über seinen einstigen kulturellen Lehrmeister erhebenden Japan. Loti berichtet dabei durchaus aus der Perspektive und kulturellen Prägung des Kolonialherrn. Er beschreibt das Ereignis des

Boxeraufstands

und

seine

Folgen

für

das

kulturelle

Selbstverständnis der Menschen im Reich der Mitte mit einer, wie er selbst anmerkt, großen Sympathie für die chine-

11

VOM EIGENEN UND FREMDEN sische Kultur. Dabei bleibt diese in seinen Schilderungen durchweg indifferent. Das Ereignis, welches Loti beschreibt, war der Beginn einer Verschärfung der europäischen Kolonialpolitik in China, zugleich aber auch einer der prägenden Marksteine für eine vertiefte Auseinandersetzung Chinas mit dem sich imperialistisch ausdehnenden Westen im frühen 20. Jahrhundert.1 Die Augenzeugenberichte Pierre Lotis und anderer europäischer Reisender fielen in ihrer ausdrucksstarken Visualität in eine historische Phase, in der sich allmählich ein Wendepunkt in der Dominanz der Kommunikationsformen in China abzuzeichnen begann. Davon betroffen waren zugleich Chinas Repräsentation nach außen wie zwangsläufig auch sein kulturelles Selbstverständnis und seine Ordnungssysteme. Nach zweieinhalb Jahrtausenden einer kontinuierlichen, überwiegend an ihre Schriftlichkeit gebundenen Kulturtradition, an der ein Großteil der meist illiteraten Bevölkerung in China allerdings niemals unmittelbar partizipieren konnte, ging die Macht über die Repräsentation von Chinas Kulturen mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts zusehends in die Hände der Eroberer und ihrer sich damals in ihrer frühen Entwicklungsphase befindlichen industriellen Repräsentationssysteme über. Sie bildeten im späten chinesischen Kaiserreich und der 1912 gegründeten Republik eine Hegemonie über die traditionellen Kommunikationssysteme Chinas heraus, die an die kulturellen und politischen Eliten gebunden waren. Dabei hatten diese immer schon eine starke Visualität bis hin zu ihren fließenden Übergängen zwischen der Malerei und den Ideogrammen der Schrift aufzuweisen und boten den technischen Medien damit ganz andere kulturelle Vorbedingungen als etwa in den überwiegend oralen Kulturen Afrikas. Beginnend mit der Photographie in den 1860er Jahren über den Zeitungsdruck in den 1870er Jahren bis hin zum 1 Pierre Loti: DIE LETZTEN TAGE VON PEKING. Bremen 1999. Zum Verlauf des Boxeraufstands vgl. auch Susanne Kuß und Bernd Martin (Hg.): DAS DEUTSCHE REICH UND DER BOXERAUFSTAND. München 2002.

12

EINLEITUNG Film um die Jahrhundertwende, wurden die industriellen Medien aus Europa und Nordamerika, aber auch aus dem sich seit der Meiji-Restauration in den 1860er Jahren schon frühzeitig modernisierenden Japan, in China eingeführt. Mit den industriellen Medien brachten die Europäer, die selbst eher einer auditiv orientierten Kulturtradition zugeneigt 2 und darüber hinaus in die Dispositionen der »GutenbergGalaxie« eingebunden waren, eine neue Form der kulturellen Kommunikation nach China. In Form der Typographie, deren Einführung nicht zuletzt eine beschleunigende Wirkung auf die Vereinfachung des schriftsprachlichen Systems mit sich brachte, vermochte sie die skriptographisch angeordnete Elitenkultur zu reformieren. Gleichzeitig konnte sie mit der Photographie, dem Rundfunk, dem Film und schließlich dem Fernsehen an die oralen und performativen Traditionen chinesischer Lokalkulturen anknüpfen und Elemente derselben aneignen, um sie gleichzeitig immer stärker unter die Bedingungen ihrer eigenen Dispositive zu zwingen. Angesichts ihrer evolutionären Dynamik und enormen Wirtschafts- wie nicht zuletzt auch militärischen Macht vermochte die industrielle Kultur sich, wie zuvor bereits in Europa und Nordamerika, auch in China rasch gegenüber den traditionellen kulturellen Repräsentationssystemen durchzusetzen, die sich bis dahin jeglicher Entwicklung weitgehend verweigerten. Zumindest aber traten die industriellen Medien an deren Seite und zu diesen in Konkurrenz, wurden auf der anderen Seite aber auch durch sie angeeignet und teilweise in den Rahmen der eigenen Dispositionen integriert. Die sich rasch wandelnde Hegemonie der Repräsentation brachte im frühen 20. Jahrhundert einen gewaltigen Schub für die Systeme der Produktion und Wahrnehmung des Eigenen und des Fremden mit sich, der das, wie Pierre Loti schreibt, in sich erstarrte China in seine erste Moderne katapultierte. 2 Vgl. Albert Breier: D Z V M Weimar 2002. IE

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VOM EIGENEN UND FREMDEN Seit dem frühen 20. Jahrhundert beinhaltet die Auseinandersetzung Chinas mit sich selbst und seinem Anderen immer zugleich die Frage nach seiner politischen und kulturellen Positionierung gegenüber den Größen von Tradition, Moderne und einer seit den 1980er Jahren auch im Reich der Mitte rezipierten Postmoderne. Dabei bezeichnete der Begriff der Moderne seit den 1920er Jahren in erster Linie jeweils die kolonialen Einflüsse des Fremden, so etwa in der urbanen Entwicklung Shanghais oder Kantons. Er wurde seit den fünfziger Jahren zum Synonym für Mao Zedongs sozialistische Neuordnung und postkoloniale Nationalisierung Chinas und generierte seit 1978 unter Deng Xiaopings Schlachtruf der »Vier Modernisierungen« ( Sige xiandaihua) zum Inbegriff der ökonomischen Liberalisierung und der Eingliederung Chinas in globale Wirtschaftskreisläufe. Industrielle Prozesse, welche mitsamt ihren sozialen und kulturellen Folgen die europäische Moderne geprägt hatten, haben das zwischen einer sprunghaften urbanen Entwicklung und einer weitgehend anhaltenden ruralen Starre gespaltene China bei allen diesen Entwicklungen nur am Rande berührt. So ist aus dieser Perspektive, welche eine Moderne für China nur unter Vorbehalt zu konstatieren vermag, auch bei der Verwendung des Terminus der Postmoderne größte Vorsicht geboten. Folgt man Jean-François Lyotard oder Fredric Jameson bei ihrer zwar völlig unterschiedlich argumentierenden, bei ihrer historischen Einschätzung aber weitgehend übereinstimmenden Definition, dann sind postmoderne Entwicklungen ohne eine vorhergehende, sich schließlich übersteigernde und selbst in Frage stellende Moderne nicht denkbar. 3 Solche Entwicklungen hat China, dessen nationales Selbstverständnis mit seinen technischen Modernisierungsmythen in Wirklichkeit gerade erst den Stand der Moderne erreicht hat, nicht durchgemacht. Nichtsdestoweniger lassen sich trotz zahlreicher Brüche und Sprünge in der Entwicklung

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3 Jean-François Lyotard: D 1994. Fredric Jameson: P C . London 1991.

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EINLEITUNG Chinas, welche einige wesentliche Elemente der Moderne ausgelassen haben und Teile des ausgedehnten Reichs nach wie vor innerhalb einer agrarischen Vormoderne lokalisieren, für die Alltagskultur und Kommunikationsstrukturen in den urbanen Metropolen Chinas bereits heute zahlreiche postmoderne Charakteristika verzeichnen. Das läßt diesen Terminus im Hinblick auf die Einbettung von Teilen Chinas in transnationale und transkulturelle Prozesse der postkolonialen Medienkultur unter den genannten Einschränkungen durchaus legitim erscheinen; dies insbesondere angesichts der Tatsache, daß er inzwischen zum gängigen Begriff auch zahlreicher Diskurse der wissenschaftlichen Selbstbeschreibung Chinas geworden ist. Nach den Opiumkriegen (1840 – 1842, 1860) um den Erhalt und die Ausdehnung britischer Handelsprivilegien gegenüber der chinesischen Regierung befand China sich allerdings nach wie vor auf einem Entwicklungsstand, der selbst in den Städten von jeglicher Moderne weit entfernt schien. Auf dieser Grundlage waren die europäischen und japanischen Übergriffe auf China in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorhersehbar gewesen. Die waffen- und nicht zuletzt auch kommunikationstechnische Überlegenheit der fremden Invasoren, welche die Opiumkriege ebenso schnell entschieden hatte, wie sie im Jahre 1900 die sich mit archaischen Mitteln verteidigenden chinesischen »Boxer« in die Flucht und in den Tod trieb, markiert bereits damals den weltweiten Siegeszug der industriellen Moderne und des Kapitalismus als zugleich imperialistische Konzepte. Diese stellten mit ihren Waffen, ihren Produktionsmaschinen und nicht zuletzt auch mit ihren Medienapparaturen, die eine nahezu flächendeckende interaktionsfreie Kommunikation von Wissen und Bedeutung ermöglichten, die notwendigen Mittel bereit, um selbst eine Einheit zu bilden und aus dieser Position heraus China teilweise militärisch zu unterjochen. Zudem konnten sie ihm in mancher Hinsicht auch ihre wirtschaftlichen Strukturen, sozialen Ordnungssysteme und ihre Erzählungen sowie ihre Wissenssysteme aufzwingen. Diese eignete das kulturell zerrissene China schon bald an und be-

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VOM EIGENEN UND FREMDEN stimmte sie zur Grundlage seiner eigenen Diskurse über das Eigene und das Andere, wie die umfangreiche Übersetzungstätigkeit europäischer Autoren nach der einschneidenden Niederlage im Sino-Japanischen Krieg (1894 – 95) belegt.4 Auf diese Weise konnten die Medienmaschinen der westlichen Eroberer auch zu weiten Teilen die Macht über die kulturellen Repräsentationen Chinas übernehmen. Diese beinhaltete allerdings nicht zwangsläufig auch die Herrschaft über die Kultur und die Kulturen Chinas. Deren Prozesse sind unter sehr viel komplexeren Bedingungen und Gesichtspunkten zu betrachten. Zudem fand man in China durch den Rückgriff auf Elemente der eigenen visuellen Kulturtraditionen schon bald Methoden, mit denen man sich die fremden Instrumente der Kultur für das eigene kulturelle und soziale Projekt und für die Hervorbringung eigener Modernisierungsmythen zueigen zu machen wußte. So konnten sich auch alternative Diskurse gegen die fremde Vorherrschaft über die Kultur etablieren. Damit gelang es bereits im frühen 20. Jahrhundert, einen vielfältigen Wettbewerb der sich als kolonial und antikolonial verortenden Diskurse in Gang zu setzen. Dieser hat die Kulturen Chinas und deren Auseinandersetzung mit dem Eigenen und dem Anderen bis in die Gegenwart mit ihren vielfältigen kulturellen, politischen, ökonomischen und informations- bzw. den kommunikationstechnologischen Prozessen geprägt. Die damals evident gewordenen kolonialen und antikolonialen Diskurse, die schließlich selbst ihren eigenen Widerstand etabliert haben, schufen die Grundlagen für die kulturelle Standortbestimmung sowohl der Typographie wie auch der Cinematographie und nicht zuletzt des mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Boxeraufstand in China eingeführten Fernsehens. 4 Dabei tat sich vor allem der in Großbritannien ausgebildete Yan Fu (1854 – 1921) als Übersetzer hervor. Yan übersetzte seit 1895 zahlreiche europäische Autoren wie Thomas Huxley, Adam Smith, Herbert Spencer oder John Stuart Mill in das Chinesische und schuf damit erst die Voraussetzung für eine tiefergreifende Auseinandersetzung mit europäischen Wissenschafts- und Denksystemen. Vgl. W P .Y F Benjamin Isadore Schwartz: I S W . Cambridge, Mass. 1964.

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EINLEITUNG Das Fernsehen, mit dessen Rolle in der chinesischen Gegenwartskultur sich diese Arbeit auseinandersetzt, ist seit seiner frühen Experimentierphase im Jahre 1958 in eine immer stärkere Konkurrenz zu den traditionellen Repräsentationssystemen wie auch zu seinen technischen Vorläufermedien, dem Kino, den Printmedien und dem Rundfunk, getreten. Es konnte sich seit den 1980er Jahren allmählich aus der Umklammerung ihrer dispositiven Vorgaben befreien und hat sich seitdem selbst zum Leitmedium der postkolonialen und inzwischen auch postsozialistischen Gegenwart im Reich der Mitte entwickelt. Dabei ist seine kulturelle Verortung in China aber nach wie vor nur in seiner Auseinandersetzung und Wechselbeziehung mit seinen technischen Vorgängermedien und deren Dispositivität wie auch mit den Ordnungsund Repräsentationssystemen der vortechnischen Kulturtradition Chinas begreifbar.

Fremde Blicke Trotz der zahlreichen Hybridisierungsprozesse in der Gegenwart der transnationalen Medienkultur, auf die diese Arbeit im Hinblick auf deren Auswirkungen auf und Wechselwirkungen mit dem Fernsehen zu rekurrieren hat, ist bei einer Betrachtung der Geschichte der technischen Medien in China und bei deren kultureller Verortung in historischer Perspektive der Ausgangspunkt der Untersuchungen in der Zeit des Kolonialismus und der weit darüber hinausreichenden neokolonialistischen (wirtschaftlichen wie kulturellen und nicht zuletzt auch wissenschaftlichen) Dominanzbildung der industriellen Kultur anzusetzen. Sie war dort wie hier der Ursprung aller historisch wie kausal auf sie folgenden Diskurse um das Eigene und das Fremde und nicht zuletzt auch Ursache für deren allmähliche Auflösung. So haben auch die typographischen, visuellen und audiovisuellen technischen Medien selbst, hat die Einschreibung der Dominanz ausbildenden und ausübenden Zeichen und Bilder in das kulturelle Gedächtnis nicht nur der europäischen und euroamerikanischen Bevölkerung, sondern auch in dasjenige der kolonisierten

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VOM EIGENEN UND FREMDEN Völker zu jener Hegemonie beigetragen, aus der heraus sich die Diskurse eines kulturellen Widerstands in China entwickeln konnten. Sie haben schließlich auch erst die kulturelle Aneignung der fremden Medienapparaturen und den Dialog zwischen deren Dispositionen und den eigenen, vormodernen Repräsentationsformen möglich gemacht. Die Bedingungen und Ordnungsstrukturen der globalisierten Prozesse von Wirtschaft, Kultur und Politik haben die ideologischen Standpunkte und Blickrichtungen des Kolonialismus, wie sie sich etwa in die Apparaturen der Medienmaschinen eingeschrieben und in diesem Zuge u.a. die ästhetische und nicht zuletzt auch ideologische Weltherrschaft der Zentralperspektive und Entwicklungslinearität begründet haben, in nahezu allen Kulturen festgeschrieben. Dies beinhaltete aber nicht die Macht darüber, in welcher Weise die kolonisierten Kulturen auf die fremden Bedeutungssysteme reagieren und die Medienapparate gar innerhalb eigener Diskurse als Instrumente der Kommunikation und Repräsentation von Kultur zum Einsatz bringen sollten. Die vielfach konstatierte Demokratie der industriellen Medien findet sich also, schaut man etwa auf ihre Entwicklungen in China, darin, daß sie mit der ideologisch motivierten, dabei aber überwiegend mit ökonomischen Mitteln erreichten Durchsetzung ihrer dominanten Diskurse gleichzeitig auch die Grundlagen für ihre Gegendiskurse mit produzieren und aus dem Wettbewerb zwischen hegemonialen und widerständigen Diskursen jeweils neue Räume von Kultur zu etablieren in der Lage sind. Diese lassen sich als das »Dazwischen«5 beschreiben, als welches Homi K. Bhabha die Orte des Durchgangs zwischen den Räumen traditioneller Identität bezeichnet. Dieses Eigene, welches im Falle Chinas durchaus eine Anknüpfung an vormoderne Raum-Zeit-Konzeptionen eines ständigen Flusses im Begriff des dao und somit auch eine sich in der Bewegung fixierende Bestimmung der Identität des Eigenen zuläßt, versetzt die angeeigneten Artefakte, Medienprodukte und auch die fremden Mythen



5 Homi K. Bhabha: D V IE

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. Tübingen 2000.

EINLEITUNG bereits im Prozeß der Rezeption mit eigenen Bedeutungen. Es kämpft spätestens im Verlauf der eigenen Kulturproduktion auf der Grundlage seiner jeweiligen Bedeutungen schließlich mit denselben Mitteln wie seine Unterdrücker um die Erringung von Hegemonie, um diese als dominantes Konzept in einem weiteren Schritt vielleicht doch überwinden und durch eigene Strukturen ersetzen zu können. Zumindest aber streitet es, nachdem die Moderne jegliche Mißachtung seiner eigenen Prozesse ausgeschlossen hat, um die Fähigkeit, weiter im Rennen um Dominanz oder Markt- und Machtanteile bleiben zu können, durch die eine jede Gesellschaft erst zum anerkannten Mitglied in der Weltgemeinschaft wird. In China hat sich Maos Dekolonialisierung seit den 1950er Jahren nicht nur auf das importierte marxistische Modell sondern vor allem auch auf dessen Medien der Propaganda gestützt, und längst findet der von Autoren wie Francis Fukuyama6 oder Samuel Huntington7 prophezeite Siegeszug des Konfuzianismus unter den ihren Idealen eigentlich zuwiderlaufenden Bedingungen einer freien Marktwirtschaft statt. Beide bedeuten nicht jeweils auch eine kulturelle Überlagerung oder gar Vereinnahmung der Kultur, die sich dieser fremden Artefakte bedient, um im Rahmen ihrer diskursiven Verwendung mit ihnen durchaus auch Eigenes zum Ausdruck zu bringen oder solches gar im Dialog mit dem Fremden und Diskurs über das Fremde auch erst zu konstruieren. Freilich ist dieses Eigene nicht mehr dasselbe, das es vor der Verwendung der fremden Techniken und Repräsentationssysteme war. Doch dasselbe trifft, folgt man dem systemtheoretisch argumentierenden Kulturwissenschaftler Dirk Baecker, auch auf die scheinbar kolonisierenden Kulturen zu, die von dem Moment an, in dem sie sich medial ihrem Anderen überlagert haben, ebenfalls nie mehr dieselben sein können wie M .D K 6 Francis Fukuyama: K K . a.a.O. Ders.: D K K .W K Z ? a.a.O. K .D N 7 Samuel P. Huntington: K W 21. J . a.a.O. ONFUZIUS UND

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VOM EIGENEN UND FREMDEN vor dieser Form des interkulturellen Kontaktes, der, häufig unbemerkt, auch ihre Prozesse des Eigenen zu überlagern vermocht hat.8 Die Prozesse interkultureller Berührungen bewegen sich nicht nur auf der Ebene des Kulturkontakts und des Vergleichs, auf der sie China seit Beginn seiner Geschichte in vielfältiger Form begleitet haben. Die weitverzweigte gegenseitige Einflußnahme macht es vielmehr inzwischen unmöglich, nach den Ausgangspunkten eines ursprünglich Eigenen zu suchen. Dessen Mythen werden ohnehin immer in der Gegenwart und niemals in der Zeit ihrer Narrationen konstruiert. Außerdem beziehen sie sich auch hinsichtlich ihrer Bedeutungen eher auf die Zeit und den Ort des wahrnehmenden ich als auf diejenigen ihrer Darstellung. Damit entpuppen sie sich nicht zuletzt auch als ein Problem der Hermeneutik, das ja bereits Hans-Georg Gadamer in seinen Auslegungen zum hermeneutischen Zirkel im Hinblick auf die Beziehung zwischen erkennendem Subjekt und betrachtetem Objekt als »Verschmelzung der Horizonte« der Beteiligten beschrieben hat.9 Dem gegenüber werden allerdings die Elemente des Eigenen und des Fremden im Moment ihrer Mediatisierung zu einer sich nicht als Abbildung des Ereignisses sondern als Diskurs über das Ereignis präsentierenden Wiederholung. Unabhängig von ihrer tatsächlichen historischen Verortung überlagern sie die inhärenten chinesischen Diskurse über ihr Eigenes und werden damit als Signifikanten der Differenz oder der Identität als inhärente Teile des chinesischen Selbstverständnisses festgeschrieben. Die fixen Identitäten der importierten Industrialisierung und des angeeigneten Modernismus sind also ungeachtet dessen, daß zahlreiche westliche Chinabilder nach wie vor durch die Vorstellung des »blauen Ameisenmenschen« geprägt sind, auch in China längst durch eine sich äußerst offen präsentierende Heterogenität und eine multiperspektivische Polysemie im Sinne 8 Dirk Baecker: WOZU KULTUR? Berlin 2000, S. 16ff. 9 Hans-Georg Gadamer: WAHRHEIT UND METHODE. GRUNDZÜGE EINER PHILOSOPHISCHEN HERMENEUTIK. Tübingen 1961, S. 359f.

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EINLEITUNG von Jacques Derridas Konzept der Dissémination abgelöst worden. Sie verschafft sich im Fernsehen mehr als in allen anderen Medien und Repräsentationssystemen Ausdruck. Damit werden die – medialen – Perspektiven auf das Andere zum Teil der Auseinandersetzung eines jeden Einzelnen mit sich selbst und also zum Bestandteil der Identität des Objektes der Betrachtung wie zugleich des Betrachters und nicht zuletzt auch zur imaginierten Differenz derselben. Fernsehen verortet sich in China zwischen den Parametern einer dominant vertretenen Nationalkultur auf der einen und der in die Dispositive der apparativen Medien eingeschriebenen transnationalen Medienkultur sowie ihrer lokalen Einschreibungen auf der anderen Seite. Dabei sind die europäischen Diskurse, innerhalb derer sich auch diese Arbeit verorten muß, in ihrer Entwicklungslinearität, ihrem epistemologischen Interesse und ihrer Methodik einheitlich als Konsequenz und Entäußerung eines okzidentalen Entwicklungsmodells zu verstehen und in diesem Sinne als gemeinsames, sich gerade durch seine Form des Diskurses als europäisch manifestierendes Repräsentationsmodell mit einem chinesischen Verständnis von Kultur und Wissenschaftlichkeit in Beziehung zu setzen. Darunter ist aber nicht ein Vergleich der Kulturen zu verstehen, der aus der spezifischen Perspektive der einen Kultur eine im Kulturvergleich eigentlich auszuschließende Eigenfärbung nicht vermeiden könnte. Statt dessen bedeutet der Blick auf das System der chinesischen Medienkultur und deren Selbstverortung eine Analyse der fremden Diskurse, die in dieser Form die kulturelle Selbstverortung nicht zu scheuen braucht. Vor allem aber riskiert sie die Frage nach der Wahrnehmung des Eigenen und des Anderen, des Fremden derjenigen Diskurse, aus deren Perspektive der Beobachter auf sich selbst und auf das vermeintlich Andere seiner eigenen Kultur blickt. Die Perspektive eigener kultureller und sozialer Erfahrung und Prägung sowie des eigenen Diskursumfeldes liegt dabei von der Auswahl des beobachteten Gegenstandes über dessen Betrachtungsweise bis hin zur Analyse und Einordnung des Gesehenen in größere soziale und kulturelle Zu-

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VOM EIGENEN UND FREMDEN sammenhänge zwangsläufig einer jeden Untersuchung zugrunde. Sie ergibt sich um so mehr bei der Speicherung und Reproduktion der Beobachtungsergebnisse durch mediale Aufzeichnungs- und Speichersysteme, seien es die Schreibmaschine, der Computer, die Photo- und Filmkamera oder auch die Fernseh- und Videokamera. Diese sind allesamt als Kulturtechniken durchaus nicht so mühelos auf andere kulturelle und soziale Systeme übertragbar, wie es die transnational hegemoniale Kulturindustrie der Postmoderne mit ihren Schriften, Bildern und Filmen »über« das durch sie jeweils erst neu konstruierte Fremde glauben machen will. Insofern ist der Vorwurf des »Blicks auf Insekten«, welchen der senegalesische Regisseur Ousmane Sembène an den ethnographischen Filmemacher Jean Rouch gerichtet hat 10 , durchaus nicht von der Hand zu weisen. In diesem Sinne setzt der Blick auf das Fremde zum einen die Auflösung der klassischen Dichotomien zwischen dem Ich und dem Anderen und deren Verlagerung in die jeweiligen inhärenten Diskurse voraus. Zum anderen bevorzugt dieses Vorgehen einen multifokussalen, eher dem »Dialog mit« und dem gemeinsamen Diskurs als dem »Reden über« zugeneigten Zugriff auf das zu betrachtende Objekt. Auch einem solchen wird es freilich nicht gelingen, sich gänzlich aus der kulturellen Zentriertheit seines eigenen Blicks und der dichotomischen Form der Darstellung des Eigenen und des Fremden herauszulösen, um den Ort des Anderen einzunehmen, was auch nicht wünschenswert wäre. Im Hinblick auf das Bewußtsein der Normativität und ideologisch-kulturellen Geprägtheit sowie des epistemologischen Relativismus eigener Wissenschaftlichkeit fällt es ihm aber leichter, sich von den essentialisierenden Stereotypen der kulturellen Differenzen (Ich vs. der Fremde resp. Andere; Europa vs. Asien) loszusagen und die Stärken der unterschiedlichen – eigenen und fremden – Selbstverständnisse von Kultur nicht ideolo10 ›Du schaust uns an, als wären wir Insekten. Eine historische Gegenüberstellung zwischen Jean Rouch und Ousmane Sembène im Jahr 1965‹. In: Marie-Hélène Gutberlet und Hans-Peter Metzler (Hg.): A K . Bad Honnef 1997, S. 29 – 32.

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RIKANISCHES

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EINLEITUNG gisch sondern pragmatisch im Hinblick auf ihre jeweilige Anwendbarkeit am Gegenstand zu erkennen. Ein Blick auf das Fremde, der sich seines eigenen Standpunktes bewußt ist, kann in Form einer »Heterotopie«, wie sie Michel Foucault 11 in Abgrenzung gegen den Begriff der Utopie als einen anderen materiellen Ort des Denkens beschreibt, den Blick für die tatsächlichen Differenzen frei machen, anstatt sie entweder exotistisch festzuschreiben oder zu überwinden. Dabei darf er freilich die jeweiligen Mängel der unterschiedlichen Perspektiven auf seinen Betrachtungsgegenstand nicht übersehen, die ja nicht bloß im Wettstreit untereinander sondern vor allem auch im Vergleich mit dem chinesischen Blick auf das Eigene zum Tragen kommen. Anthony King konstatiert im Hinblick auf postmoderne Globalisierungstheorien sowohl inhaltlich und gemäß ihrer Diskurstradition wie vor allem auch bezüglich der präferierten Darstellungsweise und deren Medialität die dominante Repräsentationspraxis zu Recht als einen Ausdruck der Selbstrepräsentation des dominanten Partikularen. Sie ist bereits auf eine bestimmte Rezeptionsweise angelegt und versucht den Konsumenten damit in Richtung der Konstruktion eines »idealen Lesers« zu manipulieren.12 Diese Versuche der medialen Manipulation sollen in dieser Arbeit in mehrfacher Hinsicht untersucht werden. Dabei läßt sich allerdings eine klare Differenz zwischen den einzelnen Parametern nicht immer festlegen, vielmehr sind sie allesamt dynamisch und durch ständigen Austausch und Verschiebungen geprägt. Die Untersuchungen finden also im Hinblick auf die nationale Sinnkonstruktion durch die dominanten Diskurse des chinesischen Fernsehens und dessen kultur- und medientheoretische Basis zwischen dem tatsächlichen und imaginierten Eigenen sowie dessen realen vor allem aber konstruierten Fremdbildern unter besonderer BeD . Frankfurt a. M. 1974. S. 17 – 11 Michel Foucault: D O 28. 12 Anthony D. King: ›The Times and Spaces of Modernity (or Who Needs M Postmodernism?)‹. In: Mike Featherstone et. al. (Hg.): G . London 1995, S. 108 – 123. IE

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VOM EIGENEN UND FREMDEN rücksichtigung der transnationalen Bedeutungssysteme und deren Übersetzungen in die chinesische Fernsehkultur statt. Hinzu kommt die Betrachtung der von den hegemonialen transnationalen und auch nationalen Diskursen quasi mitproduzierten lokalen chinesischen Widerstandsdiskurse, die sich nicht nur in der Medienproduktion sondern vor allem auch in der Rezeption Ausdruck verschaffen, wie es bereits James Lull in seinen theoretischen Überlegungen und empirischen Untersuchungen zum Fernsehen in China beschrieben hat.13 Dabei sind sie durchaus in der Lage, fixe Identitäten zu begründen, die sich über die postkolonialen Diskurse von Hegemonie und Widerstand erheben, und diese unter Verwendung der Elemente vielfältiger Traditionen und Einflüsse des Eigenen und Anderen auch zu repräsentieren und zu kommunizieren.

Vom Fremden im Eigenen und dem Eigenen im Fremden Trotz seiner unbestreitbaren Vorrangstellung als Medium der Massenkommunikation, der Unterhaltung und der Vermittlung von Wissen und Information, durch welche das Fernsehen seit den 1980er Jahren auf die eine oder andere Weise fast zwangsläufig auch zum privilegierten Medium der Konstitution chinesischer Gegenwartskultur(en) und einer postsozialistischen Identitätsbildung hat werden können, ist der Forschungsstand auf diesem Gebiet bislang noch unzureichend. Weder aus dem Bereich westlicher Chinaforschung noch aus der Medienwissenschaft liegt bisher hinreichendes Material zum chinesischen Fernsehen vor, sieht man einmal von einigen wenigen, vorwiegend politisch, weniger allerdings medien- und kulturanalytisch orientierten Einzelstudien zu verschiedenen Programmen und Sendungen des chinesischen Fernsehens ab, wie sie etwa mit Junhao Hongs 13 James Lull: CHINA TURNED ON. TELEVISION, REFORM, AND RESISTANCE. London 1991. Ders.: MEDIA, COMMUNICATION, CULTURE. A GLOBAL APPROACH. New York 1995.

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EINLEITUNG Arbeit THE INTERNATIONALIZATION OF TELEVISION IN CHINA (1998) oder mit zahlreichen Aufsätzen über die 1988 produzierte und im selben Jahr von dem Staatssender CCTV (China Central Television, Zhongguo zhongyang dianshitai) zweimalig ausgestrahlte Serie HESHANG (Flußelegie) 14 einer Autorengruppe um den Regisseur Xia Jun vorliegen. Auch die chinesischen Medienwissenschaften, die sich in jüngster Zeit zu formen beginnen, haben sich bislang erst in wenigen, erfreulicherweise aber zunehmenden Publikationen wissenschaftlich mit dem Fernsehen auseinandergesetzt. Dabei hat sich insbesondere der – der Pekinger Hochschule für Rundfunk und Fernsehen (Guangbo dianshi xue-yuan ) angegliederte – Chinesische Rundfunk- und Fernsehverlag (Zhongguo guangbo dianshi chubanshe ) mit wissenschaftlichen und fernsehhistorischen Publikationen seiner Autoren hervorgetan. Der im Gegensatz zu den in den letzten Jahren explodierenden Untersuchungen zum chinesischen Kino noch mangelhafte Forschungsstand bezüglich des Fernsehens in China macht eine historische und medienhistorische Betrachtung dieses Mediums und seiner Technik und Programme unabdingbar. Dabei kann das Fernsehen keinesfalls von den kulturellen, ökonomischen und politischen Prozessen sowie von seinen dispositiven Strukturen und der chinesischen Medienund Kulturtradition, innerhalb deren es sich zu verorten hat, isoliert betrachtet werden. Vielmehr muß eine Untersuchung im Zusammenhang mit den Bedingungen des chinesischen Modernisierungsprozesses wie auch einer zusehends globalisierten und sich von ihren nationalen Verortungen der Moderne loslösenden Medienkultur stattfinden. Sie bedingen sich auf die eine oder andere Weise jeweils gegenseitig.

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14 Vgl. etwa die Arbeit von Sabine Peschel: D G K .D F HESHANG: T C . Bad Honnef 1991, die zudem eine Übersetzung der 1988 im kommunistischen Parteiorgan, der Pekinger »Renmin ribao« (Volkszeitung), publizierten Drehbücher der sechsteiligen Serie beinhaltet. IE

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VOM EIGENEN UND FREMDEN Auf der methodisch-theoretischen Grundlage der Postkolonialismus-Debatte sowie unter Einbeziehung der medientheoretischen und kulturanalytischen Debatte der Cultural Studies, wie sie vor allem durch Douglas Kellners Arbeit MEDIA CULTURE15 und James Lulls Kommunikationsmodell16, aber auch durch Chris Barkers Arbeiten zur globalen Fernsehkultur17 für die Thematik dieser Arbeit fruchtbar gemacht werden, läßt sich eine kulturanalytische Betrachtung des chinesischen Fernsehens vornehmen. Diese berücksichtigt sowohl die Stellung von dessen technischer Apparativität in der Kultur und Gesellschaft Chinas wie auch dessen Programmstrukturen und Sendungen und nicht zuletzt seine intendierte Nutzung und Wirkung bei chinesischen Publika. Darüber hinaus beachtet sie seine Verortung innerhalb seines lokalen, nationalen und transnationalen Umfeldes, mit denen es in einer dynamischen Wechselwirkung existiert. Thematisch teilt sich diese Arbeit in zwei Teile. Zunächst wird die kulturelle Verortung des Fernsehens bestimmt und dessen Einordnung in chinesische und transnationale Wissens- und Ordnungsmodelle untersucht. Anschließend gilt die Aufmerksamkeit seinen Programmstrukturen und konkreten Programmen, wobei seine intendierte Wahrnehmung beim chinesischen Publikum eine besondere Rolle einnimmt. Insbesondere die Zuschauer – so die These – konstruieren als Nutzer des Fernsehens aus seiner Apparativität und seinen Programmen heraus ihrerseits neue Bedeutungen sowie ihr individuelles wie kollektives Selbstverständnis. Dabei fließen die dem Fernsehen innewohnenden Strukturen einer globalen Medienkultur genauso in deren Kulturkonstruktion ein wie die Motive, Elemente und Wahrnehmungsformen lokaler kultureller Entäußerung und ihrer traditionellen und teilwei15 Douglas Kellner: MEDIA CULTURE. CULTURAL STUDIES, IDENTITY AND POLITICS BETWEEN THE MODERN AND THE POSTMODERN. London 1995. Vgl. ders.: TELEVISION AND THE CRISIS OF DEMOCRACY. Boulder, Co. 1990. 16 James Lull: MEDIA, COMMUNICATION, CULTURE. A GLOBAL APPROACH. a.a.O. 17 Chris Barker: GLOBAL TELEVISION. AN INTRODUCTION. Oxford 1997. Ders.: TELEVISION, GLOBALIZATION AND CULTURAL IDENTITIES. Buckingham, Philadelphia 1999.

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EINLEITUNG se im Fernsehen rekonstruierten Medien. Dies haben an anderen Gegenständen bereits Autoren wie Homi K. Bhabha in seinem Buch DIE VERORTUNG DER KULTUR oder Kathryn Woodward in ihrer Arbeit IDENTITY AND DIFFERENCE18 sowie Marie Gillespie in TELEVISION, ETHNICITY AND CULTURAL CHANGE19 und David Morley und Ken Robins in SPACES OF IDENTITY. GLOBAL MEDIA, ELECTRONIC LANDSCAPES AND CULTURAL BOUNDARIES 20 im Hinblick auf die identitätsbildende Bedeutung der Medien demonstriert. Die sich in Kolonialismus wie Antikolonialismus und dem modernen Selbstverständnis von Ost und West gleichermaßen ausdrückende Polarisierung zwischen dem Selbst und dem Anderen löst sich in der medialen Repräsentation zunächst zumindest teilweise auf. Das werden insbesondere die Programmanalysen des Fernsehens zeigen. Allerdings bilden sich, von vielen Autoren unbeachtet, in der Wahrnehmung und Verwendung des Fernsehens neue Formen der Konstruktion des Eigenen und Fremden heraus. Diese wären aus der Außenperspektive zweifellos hybrid zu nennen, verstehen sich entgegen der Position zahlreicher Verfechter eines globalen Postmodernismus selbst aber durchaus nicht so und verweisen teilweise deutlich auf vormoderne, nichttechnische Repräsentationsformen und kulturelle Ordnungsmodelle in China. Unter den Bedingungen der gegenwärtigen Medienkultur schöpfen sie gleichermaßen aus den Elementen des Globalen und des Lokalen wie denjenigen des Eigenen und des Fremden, um darauf neue Diskurse des Eigenen zu entwickeln, die sich auch gegen die nationale Hegemonie verorten. Dabei befinden sich die Dichotomien in einem ständigen Prozeß der Auflösung und – identitätsbildenden – Neukonstruktion, wie es insbesondere Arif Dirlik21 herausgearbeitet hat. Sie knüpfen durchaus auch an das auf 18 Kathryn Woodward: IDENTITY AND DIFFERENCE. London 1997. 19 Marie Gillespie: TELEVISION, ETHNICITY AND CULTURAL CHANGE. London, New York 1995. 20 David Morley und Ken Robins: SPACES OF IDENTITY. GLOBAL MEDIA, ELECTRONIC LANDSCAPES AND CULTURAL BOUNDARIES. London, New York 1995. 21 Arif Dirlik: ›The Global in the Local‹. In: Rob Wilson und Wimal Dissanayake (Hg.): GLOBAL/LOCAL. CULTURAL PRODUCTION AND THE TRANSNATIONAL IMAGINARY. Durham, London 1996, S. 21 – 45.

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VOM EIGENEN UND FREMDEN der Integration seines Anderen basierende Kulturverständnis Chinas an, wie es sich schon vor zweieinhalb Jahrtausenden bei der Auseinandersetzung mit den in die Königreiche Zentralchinas eindringenden »Barbaren« herauskristallisierte, zumindest aber an die gegenwärtigen Diskurse über dasselbe. Um sich den Fragen nach der Bedeutung des Fernsehens bei der Produktion von Kultur und der Konstruktion und Rekonstruktion gegenwärtiger chinesischer Selbstverständnisse – oder Identitäten – anzunähern, führt diese Arbeit in ihren beiden Teilen zwei Bereiche zusammen: erstens vergleichende diskursanalytische und theoretische Studien zu chinesischen und westlichen Diskursen der Medienkultur; zweitens Untersuchungen zu chinesischen Programmstrukturen und konkreten Fernsehprogrammen. Zu bestätigen wären schließlich die apparativ medienwissenschaftlichen und rezeptionsästhetischen Fragestellungen an das Fernsehen durch rezeptionsanalytische und quantitative empirische Untersuchungen zum Mediennutzungs- und Rezeptionsverhalten von chinesischen Fernsehzuschauern. Sie werden an anderer Stelle ergänzend vorgenommen.22 Die multifokussale Herangehensweise an das Medium und seine Nutzer erscheint sinnvoll, weil sie es ermöglicht, die verschiedenen Stadien der kulturellen Produktion und Bedeutungskonstitution zu berücksichtigen. Angesichts eines multiplen Prozesses der Bedeutungsproduktion des Fernsehens, in den zahlreiche Faktoren einfließen, läßt sich eine Untersuchung von kulturellen Sinnkonstruktionen und Ordnungsmustern im und durch das Fernsehen nicht sinnvoll nur anhand eines einzigen der Parameter innerhalb dieses Netzwerks aus Produzenten, Medien, deren Anordnungsstrukturen und Rezipienten durchführen. Aussagen über die Fernsehkultur, welche alle Elemente dieses Kompositums in glei22 Das empirische chinesische Fernsehpublikum, welches als letztlich entscheidendes Glied des Kreislaufs der Bedeutungsproduktion eine besondere Position einnimmt, ist Gegenstand einer Untersuchung, die in Kürze abgeschlossen sein wird. Stefan Kramer: DAS CHINESISCHE FERNSEHPUBLIKUM (in Vorbereitung).

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EINLEITUNG cher Weise berücksichtigen, lassen sich nur durch die Einbeziehung aller Parameter dieses Prozesses, welche ja darüber hinaus nicht fix sondern dynamisch sind und einer ständigen inhärenten Kommunikation, Veränderung, Verschiebung und Neubildung von Hierarchien untereinander unterliegen, sowie durch den Vergleich der produzierten Bedeutungen miteinander erreichen. Methodischer Ausgangspunkt der Untersuchungen ist in dieser Hinsicht die von Douglas Kellner formulierte Beschreibung eines Kreislaufs globaler Medienkultur. Kellner geht, auf das Kulturmodell eines Kommunikationskreislaufs (»Circuit of Culture«) von kultureller Produktion, Distribution und (Re-) Produktion von Stuart Hall23 rekurrierend, von einem weit gefaßten Verständnis aus. Danach umfaßt Kultur alle jene Aktivitäten, mit denen die Menschen ihre Gesellschaften und Identitäten produzieren und repräsentieren. In seinen Arbeiten modifiziert er Halls Modell im Hinblick auf die multikulturellen Bedingungen der globalisierten Mediengesellschaft(en) und macht es somit auch für die kulturanalytische Analyse des chinesischen Fernsehens und der Fernsehrezeption in China fruchtbar. Unter den von Kellner beschriebenen Bedingungen einer industriellen bzw. postindustriellen kommerziellen Medienkultur, in deren Mittelpunkt das Fernsehen als global am weitesten verbreitetes und in seiner gesellschaftlichen Bedeutung privilegiertes Medium steht, bedeutet das, daß durch das Fernsehen dargestellte Ereignisse und Ideologien nicht linear sondern diskursiv, also in Form einer Auswahl diskursiver Aspekte, medial repräsentiert werden. Dabei verbinden sich die für das Fernsehen relevanten Elemente seiner Technik, Wirtschaft und Kultur gemeinsam mit den sozialen, kulturellen und Wissensbedingungen des Produzenten und des Rezipienten zu einer doppelten Bedeutungsproduktion sowohl im Produkt wie auch in der Rezeption durch das Publikum. Daraus wiederum konstituieren sich die rezipierenden Gesellschaften neu. Die Medien wie das Fernsehen und de23 Stuart Hall: ›Encoding/Decoding‹. In: Ders. und Dorothy Hobson, ,M ,L .W Andrew Lowe, Paul Willis, Hg.: C P C S , 1972-79. London 1980, S. 128 – 138. ULTURE

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VOM EIGENEN UND FREMDEN ren Technologie werden dabei zu organisierten Ordnungsprinzipien und verweisen als solche immer auch auf größere kulturelle und gesellschaftliche Ordnungsmodelle. Durch das Fernsehen, welches als hegemoniales Instrument der Bedeutungskonstitution auch in China längst zum gesellschaftlichen und kulturellen Leitmedium geworden ist, wird also nicht das Ereignis sondern vielmehr der Diskurs über das Ereignis kommuniziert und im Prozeß der Dekodierung durch das Publikum mit immer neuen Bedeutungen versehen. Diese konstituieren sich zum einen durch die Medialität, die Technik und Apparativität sowie die wirtschaftlichen und kulturellen Bedeutungen des Fernsehens, und zum anderen durch seine Programme einschließlich ihrer narrativen Strukturen und formalästhetischen Bedingungen. Durch diese werden die dispositiv erzeugten Ordnungs- und Wissenssysteme in Mythen oder, wie im traditionellen chinesischen Kulturverständnis, in Metaphern umgewandelt. Sie binden sich erst in diesem Zustand ihrer jeweiligen semantischen Kodierung an die Kultur an, die sie wiederum mit deren eigenen – rekonstruierten, angeeigneten oder neuen – Inhalten und Bedeutungen füllen. Vor allem spielen bei der Bedeutungskonstruktion aber auch das Publikum und die Bedingungen seiner Fernsehwahrnehmung eine entscheidende Rolle. Dessen dekodierte Bedeutungen entsprechen nur selten denjenigen, welche die Produzenten in ihre Programme legen. Vielmehr nutzt das Publikum das Fernsehen unter den (sich durch das Fernsehen nur teilweise verändernden) Bedingungen seines Alltagsverhaltens und konstruiert dessen kulturelle Bedeutungen in Abhängigkeit von der eigenen sozialen und kulturellen Prägung. Dabei stellen die Fernsehprogramme und Apparaturen selbst nur eines von zahlreichen Elementen dar, wodurch die metakulturellen Kontexte des Fernsehens und der Kultur und Gesellschaft zusätzlich an Relevanz gewinnen. Dies mußte, auf den Film bezogen, bereits Sergej Eisenstein im Jahre 1924 feststellen, als er zwar mit der Moskauer Zuschauerschaft ein »ideales Publikum« für sein Erstlingswerk STREIK (STRATSCHKA) fand, insbesondere aber die für die Filmaussage bedeutende Schlachthausszene bei einem an Tierschlach-

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EINLEITUNG tungen gewöhnten ländlichen Publikum seine intendierte assoziative Wirkung gänzlich verfehlte, er also keineswegs das avisierte ideale, sondern vielmehr immer nur ein empirisches Publikum vorfand. Auf diese Weise kommt es, wie bereits Stuart Hall in seinem Modell des »Encoding/Decoding« ausführt, nach der kulturellen Produktion durch den Fernsehschaffenden immer zu einem zweiten, von jenem weitgehend unabhängigen Produktions- bzw. Reproduktionsprozeß von Kultur durch den Rezipienten. Dieser Teil der Bedeutungsproduktion wiederum generiert unter den ökonomischen Bedingungen der Medienkultur zwangsläufig einen weiteren Produktionsprozeß durch den Medienproduzenten. 24 Dabei treten im Falle des chinesischen Publikums die medialen Bedingungen des Fernsehens auf die eine oder andere, nationale oder lokale Weise in einen Diskurs über und Dialog mit denjenigen der eigenen Kulturtradition. Der Dialog findet vor allem aber mit der jeweiligen Perspektive auf die dargestellten Ereignisse innerhalb des Raums und der Zeit von ihrer medialen Wahrnehmung statt. Die rezeptionsästhetische Konstruktion des Publikums wie auch deren Wahrnehmungsdispositivität sind als sich gegenseitig bedingende Formen der kulturellen Bedeutungsproduktion neben den apparativen und ökonomischen Konzessionen des Fernsehens und seinen Programmen in den anschließenden Untersuchungen zur Bedeutungsproduktion und Identitätskonstruktion in China privilegiert zu betrachten. Sie beziehen über das Fernsehereignis hinaus zahlreiche weitere Elemente der Bedeutungsproduktion zwischen den Parametern des tatsächlichen oder vorgestellten Eigenen und des als solches konstruierten oder realen Fremden mit in dessen Prozesse ein. Diese verflechten sich netzwerkartig miteinander und generieren einen Prozeß der unaufhörlichen Rekonstruktion und Neuanordnung ihrer Bedeutungsdiskurse. Dies wiederum hat zur Folge, daß Fernsehen innerhalb der Kommunikationsprozesse zwischen seinen Apparaten, 24 James Lull: M a.a.O.

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VOM EIGENEN UND FREMDEN seinen Wahrnehmungsdispositiven sowie seinen Programmen und deren Anbindung an größere kulturelle Zusammenhänge in China durchaus zur Repräsentation des Eigenen dienen und sogar selbst zum Eigenen der chinesischen Gesellschaft und Kultur werden kann. Dabei unterscheidet es sich in seinen technischen Anordnungen überhaupt nicht, in seinen dispositiven Strukturen kaum und selbst in den Programmstrukturen, nicht aber in den einzelnen Programminhalten, nur in Marginalien von den Strukturen des europäischen Fernsehens. Folgt man der Strukturierungstheorie von Anthony Giddens25, nach der Struktur als institutionelle Artikulation sozialer Systeme Regeln und Hilfsmittel (Medien) herausbildet, die bei der kulturellen Reproduktion wiederum ihre rekursive Wiederaufnahme finden, kann es zudem ungeachtet seiner fremden Apparativität zum maßgeblichen Konstrukteur und Vermittler eines spezifischen chinesischen Ordnungssystems werden. Das hängt letztendlich weniger von seiner äußeren Realität als vielmehr von der in ihm wahrgenommenen »Wahrheit« und seiner imaginierten und in der Imagination real werdenden kulturellen Verortung und Bedeutung ab. Insbesondere letztere gilt es also hier zu untersuchen. Die Analysen dieser Arbeit werden in diesem Sinne von zwei unterschiedlichen Ansatzpunkten ausgehen und diese im Vergleich zusammenführen, ohne dabei aber ihre Differenz aufheben zu wollen. Zum einen soll das Fernsehen als industrielle Kulturtechnik begriffen werden, deren Apparativität und Ökonomie in erster Linie den Gesetzen der transnationalen Kulturindustrie folgt und in dieser Hinsicht als ein Kulturimport zu betrachten ist. Dieser folgt mehr oder weniger den Grundzügen und Entwicklungen des Verständnisses von Kultur als Prozeß der Nachahmung und Überwindung, was ja nicht zuletzt auch Grundlage aller technischen Entwicklungen und der Industrialisierung und wirtschaftlichen Prozesse selbst war. Die medialen und damit auch kulturel25 Anthony Giddens: T

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EINLEITUNG len und ideologischen Bedingungen des industriellen Entwicklungsprozesses, welche sich in den verschiedenen Entwicklungsstadien der chinesischen Moderne im 20. Jahrhundert mit ihren Weltanschauungen, Ordnungssystemen, ökonomischen Prozessen und nicht zuletzt auch Medien unübersehbar niedergeschlagen haben, sind nach deren Einführung in China auf ein etabliertes System traditioneller Kultur mit seinen spezifischen Ordnungsmodellen, Repräsentations- und Kommunikationsformen gestoßen. Bei der medialen Konstruktion der gegenwärtigen hegemonialen Kultur und der kulturellen Konstitution der gegenwärtigen Medien Chinas spielen beide Einflüsse sowie deren zahlreiche Entwicklungsstränge, die sich aber allesamt auf eines dieser Grundmodelle berufen, eine gleichermaßen bedeutsame Rolle. Sie haben die dispositiven Voraussetzungen für alle Prozesse vorgegeben, innerhalb derer oder gegenüber denen sich die gegenwärtige Kultur Chinas zu verorten hat. Diese allerdings begründet sich weniger auf die Realität ihrer Referenzmodelle und deren mögliche Anwendung auf die Vergangenheit einer chinesischen Vorgeschichte bzw. den anderen Ort der »westlichen« Gesellschaften, aus denen die industriellen Medien nach China gelangt sind. Vielmehr ist ihr Raum-Zeit-Verständnis, wenn auch in die Vergangenheit bzw. die Ferne gerichtet, dennoch eine Konstruktion des jetzt und hier und schließlich nur unter dessen Bedingungen zu begreifen. Das Fremde als Vergangenes oder Fernliegendes spielt also – insbesondere im Hinblick auf die essentialisierenden Konstruktionen von Bipolarität in den jeweiligen Diskursen des Eigenen – bei den Lektüren dieser Arbeit weniger als realer Raum und reale Zeit eine Rolle. Vielmehr erlangt es seine Bedeutung ausschließlich im Hinblick auf seine Rekonstruktion und seine Wahrnehmung im hier und jetzt der Diskurse in der chinesischen Gegenwart und von deren Leitmedium, dem Fernsehen. Damit sind auch das Fernsehen und dessen Dispositive und Bedeutungen also bereits nicht mehr fremd sondern zum Eigenen geworden, was zwangsläufig den Blick auf die – mediale – Konstruktion und Wahrnehmung des Eigenen des chinesischen Selbstverständnisses richtet. In ihrer Auflösung

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VOM EIGENEN UND FREMDEN der Fremd-Eigen-Differenzen auf der Ebene der kulturellen Wahrnehmung und Konstruktion, bei der es letztendlich keine Rolle mehr spielt, woher die angeeigneten Elemente der Kultur eigentlich stammen, sondern vielmehr nach deren Aneignung und Form der Verwendung zur Konstruktion des Eigenen gefragt wird, widerspricht diese Arbeit also der Annahme zahlreicher Analysten. Zu diesen zählen Kritiker eines modernistischen und zentralistischen »Fordismus« wie Herbert Schiller, Jeremy Tunstall und Hisham M. Nazer 26 genauso wie diejenigen eines globalisierten »Postfordismus« oder – wie David Morley und Kevin Robins in ihrer Arbeit SPACES OF IDENTITY vielleicht treffender formuliert haben – »Sonyismus«. Dazu gehören Ella Shohat und Robert Stam, Scott Robert Olson oder das Autorenduo Antonio Negri und Michael Hardt, die mit ihrer Arbeit EMPIRE eines der Kultbücher der intellektuellen Linken um die Jahrtausendwende vorgelegt haben.27 Sie gehen allesamt überwiegend von einer (neo-)kolonialistischen Dominanzbildung aus, bei der das Fremde das Eigene beherrscht und nicht – wie hier angenommen – davon, daß das Eigene in der Lage ist, das imperialistische Fremde zu integrieren und zum Teil der Konstruktion des Eigenen zu machen. Die Betrachtung von kultur- und medientheoretischen Diskursen Chinas im ersten Teil dieser Arbeit wird sich vor dem Hintergrund des diskursiven Umgangs chinesischer Kulturproduzenten und Kulturrezipienten also vor allem mit der technischen, der ökonomischen und ideologisch-kulturellen Situation des Fernsehens vor dem Hintergrund der Rezeption A E . New 26 Vgl. Herbert I. Schiller: M C C D . White York 1969. Ders.: C A .A Plains, NY 1976. Jeremy Tunstall: T M M W . London 1977. Hisham N. Nazer: P A T K .T W A C G V . Westport, Co. 1999. E .M 27 Vgl. Ella Shohat und Robert Stam: U M . London, New York 1994. Scott Robert OlP .G M C A son: H N T . Mahwah, NJ 1999. Antonio Negri und Mi. Frankfurt a. M. 2002. chael Hardt: E ASS

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EINLEITUNG und Rekonstruktion chinesischer Kulturtradition auseinandersetzen. Dazu ist das importierte Medium mitsamt seinen kulturellen und ideologischen Eigenschaften in Beziehung zu setzen. Zum einen hat es als industrielle Technik mit massenmedialem Charakter die chinesische Kultur und Gesellschaft durchaus entscheidend zu verändern vermocht. Zum anderen sind die Apparatur des Fernsehens und deren mediale Eigenschaften aber auch von dieser angeeignet worden, um unter den Bedingungen eigener Kultur zugleich neue Formen und Bedeutungen hervorzubringen. Diese strahlen ihrerseits aus ihrer spezifischen kulturellen Situation heraus auch als chinesische Kulturexporte auf den globalen Markt zurück, wie es insbesondere beim Kino Hongkongs evident geworden ist. Im Hinblick auf den chinesischen Kontext werden in diesem Zusammenhang die Diskurse einer transnationalen Kulturindustrie mitsamt den globalisierten Gesellschaften, die durch diese entworfen werden, in Beziehung gesetzt zu den gegenwärtigen Diskursen lokaler chinesischer Kulturen und deren Selbstverständnis. Diese haben sich durch die Einschreibung der Anordnungen der Medienindustrie in ihre Diskurse durchaus nicht, wie Schiller oder Olson annehmen, gänzlich unterjochen und damit zugunsten globaler Homogenisierung quasi austilgen lassen. Vielmehr haben sie in Bezugnahme auf Diskurse der als eigen wahrgenommenen – chinesischen – Kulturtradition mitsamt ihren Systemen der Aufzeichnung und Repräsentation neue kulturelle und Mediendiskurse etabliert, die, wie Arif Dirlik 28 ausführt, in wechselseitiger Abhängigkeit mit den Diskursen des Globalen funktionieren und von jenen nicht zu trennen, dabei aber dennoch Teil des Eigenen sind. Die gegenwärtigen Kulturdebatten in China rekurrieren neben ihren Diskursen über Konfuzianismus und Daoismus sowie den Debatten über Sozialismus, Modernisierung und Nationalisierung auch auf die in China inzwischen ebenfalls präsenten transnationalen Bedingungen der Mediengesellschaften. Das Bemühen der dominanten nationalen Diskurse 28 Arif Dirlik: ›The Global in the Local‹. a.a.O.

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VOM EIGENEN UND FREMDEN liegt vor allem darin, diese scheinbar widersprüchlichen Parameter von Kultur zum einen im Sinne von Samuel Huntingtons KAMPF DER KULTUREN zur Abgrenzung und der identitätsstiftenden Konstruktion von Differenz einzusetzen, sie auf der anderen Seite aber auch im Hinblick auf die ökonomisch und soziopolitisch notwendige Fortsetzung des Modernisierungsprozesses zu einer harmonischen Einheit zusammenzufügen, auf deren Grundlage sich die konsequente Aneignung von immer mehr Artefakten fremder Kultur dennoch politisch legitimieren läßt. Dabei spielen die Medien eine bedeutende Rolle nicht nur als Kommunikatoren dieser Diskurse, sondern vor allem auch als deren Gegenstand. So sind nach dem Beginn der filmtheoretischen Debatte zu Beginn der 1980er Jahre29 in jüngster Zeit auch erste Versuche der kulturtheoretischen und kulturhistorischen Standortbestimmung des Fernsehens in China unternommen worden. So etwa die Arbeiten von Chen Zhiang , Yang Weiguang oder von Liu Aiqing und Wang Feng . Sie zeigen auf der Grundlage einer sinifizierten und die Elemente traditioneller Kultur scheinbar mit denjenigen der Medienkultur vereinigenden, marxistisch argumentierenden Systemtheorie das Fernsehen sowohl als Teil einer globalen Mediengesellschaft wie auch als Sprachrohr der dominanten Diskurse Chinas und versuchen es als deren legitimes Medium festzuschreiben. 30 Derartige Arbeiten zur Fernsehtheorie haben seit den 1990er Jahren auf dem chinesischen Festland einen Diskurs eröffnet, welcher die Apparativität

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29 Vgl. George S. Semsel (Hg.): CHINESE FILM THEORY. A GUIDE TO THE NEW ERA. New York 1990. Ders. (Hg.): FILM IN CONTEMPORARY CHINA. CRITICAL DEBATES, 1979 – 1989. New York 1993. Stefan Kramer und Hu-Chong Kramer: BILDER AUS DEM REICH DES DRACHEN. CHINESISCHE FILMREGISSEURE IM GESPRÄCH. Bad Honnef 2002. 30 Chen Zhiang : ZHONGGUO DIANSHI YISHU TONGSHI (Historische Abhandlung über die chinesische Fernsehkunst). 2 Bd., Peking 2000. Yang Weiguang : DIANSHI LUNJI (Schriften zum Fernsehen). Peking 2000. Liu Aiqing und (Einführung in Wang Feng : GUANGBO DIANSHI GAILUN den Rundfunk und das Fernsehen). Peking 1997.



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EINLEITUNG des Fernsehens und seine Programme auch unter kulturhistorischen Gesichtspunkten zu verorten versucht und sie als nationale wie in gleicher Weise auch transnationale Ordnungsund Wissenssysteme herausstellt; dies freilich, ohne auch ihre lokalen Widerstandsdiskurse in die Betrachtungen einzubeziehen. Auf der Grundlage der kulturanalytischen und medienhistorischen wie medientheoretischen Betrachtungen des ersten Teils dieser Arbeit werden sich die Lektüren des zweiten Teils konkreten Fernsehprogrammen zuwenden und diese im Hinblick auf Formen des Umgangs mit dem vermeintlich Eigenen und Fremden sowie auf Arten der kulturellen Repräsentation und Konstruktion und der Einschreibung des Publikums in die Textstrategien der unterschiedlichen Formate hin analysieren. Als Material liegen den Untersuchungen verschiedene Sendeformate zugrunde. Deren Strukturen orientieren sich zwar vordergründig überwiegend am globalen Fernsehmainstream, wie es sowohl die ökonomischen als auch die politischen Anforderungen innerhalb der Systeme der nationalen und transnationalen Medienkultur vorgeben. Dabei haben die Produzenten aber durchaus zahlreiche eigene Elemente hinzufügen können, durch die das chinesische Fernsehen sich in seinen Strukturen und Programmen auch schon auf dieser Ebene seiner Produkte als solches charakterisieren läßt. Die Programmlektüren gehen von einer in seiner Übertragungsfunktion begründeten grundlegenden Zweiteilung der zeitlichen Strukturen und Bezugsräume des Fernsehens aus. Sie findet statt zwischen einer imaginierten Gleichzeitigkeit und Gegenwart auf der einen sowie einer Rekonstruktion von Vergangenheit auf der anderen Seite, welche allesamt im Hinblick auf das Metaprojekt der nationalen chinesischen Kultur oder der lokalen Kulturen Chinas in der Gegenwart der Bildschirmwahrnehmung kulminieren. Allgemeine Lektüren von Nachrichtensendungen, Werbesendungen und Talksowie Unterhaltungsshows und eine konkrete Betrachtung zum einen der Berichterstattung über die große Flutkatastrophe des Yangzi-Stroms in Zentralchina sowie deren heroisch inszenierter Bekämpfung im Sommer 1998 wie zum

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VOM EIGENEN UND FREMDEN anderen über die seit dem Frühjahr 2000 zum nationalen Feindbild stilisierte und radikal bekämpfte Taiji-Bewegung Falun Gong sollen die Programmanalysen exemplarisch konkretisieren. Hinzu kommen Lektüren einiger fiktionaler Fernsehserien – überwiegend große Publikumserfolge, welche seit den 1990er Jahren allesamt einen erheblichen Einfluß auf die kulturelle und nationale Konstruktion bzw. Dekonstruktion oder »Destruktion« Chinas genommen haben und diese im gleichen Zuge dokumentieren. Neben einer Wieder-Betrachtung der bereits hinlänglich untersuchten und in ihrer Art einzigartigen kulturkritischen Fernsehserie HESHANG (Flußelegie) aus dem Jahre 1988 werden dazu vor allem einige lokale Programme herangezogen, die ein wachsendes kulturelles Gegengewicht gegen die Dominanz der Nation darstellen, diese als deren inhärentes Anderes aber zugleich auch bestätigen. Hinzu kommen einige der großen erfolgreichen Serien aus den späteren neunziger Jahren: HONGJUN DONGZHENG (Der Ostfeldzug der Roten Armee) gilt als eine der wichtigsten Rekonstruktionen und Legitimationen der kommunistischen »Befreiung« ( Jiefang) im chinesischen Fernsehen, und die von CCTV produzierte zwanzigteilige Heldenbiographie QU YUAN des gleichnamigen historischen Dichters ist eine der erfolgreichsten Geschichten aus dem »alten China«. An ihr läßt sich die systemkonstituierende Repräsentation des Eigenen über dessen historische Nostalgisierung und Exotisierung genauso darstellen, wie in der vierzigteiligen Serie BEIPAN (Der Verrat) über die Probleme und Vorzüge der urbanen Gesellschaft oder in der Erfolgsserie BEI(Pekinger in New York) JINGREN ZAI NIU YUE durchaus vielfältige Bilder des Lebens im gegenwärtigen China und chinesischer Menschen entworfen werden. In ihnen allen werden die in Jean-François Lyotards Aufsatz LA CONDITION POSTMODERNE 31 so benannten großen Erzählungen der modernen chinesischen Nation konstruiert. Dabei wird dem Zuschauer eine historische Kontinuität suggeriert, über

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EINLEITUNG die sich auch das gegenwärtige China in seinen dominanten Diskursen über seine Mythen als Nation definiert und legitimiert. Zudem hat sich das Reich der Mitte zum einen in der Übergabezeremonie Hongkongs im Juli 1997 und zum anderen in der Eröffnungsfeier der nationalen Sportwettkämpfe des Jahres 1997 in Shanghai als »fünftausend Jahre alte Kulturnation« präsentiert. Es hat diesen dominanten Diskurs durch deren Live-Aus-strahlung auf allen nationalen, regionalen und lokalen Sendern erstmals in der Geschichte Chinas als ausschließliche Medienereignisse mit nationaler Wirkung und einer gleichzeitigen Partizipation des »gesamten chinesischen Volkes« kommuniziert, bevor zwei Jahre später die Parade auf dem Pekinger Tiananmen-Platz zum 50. Jahrestag der kommunistischen Staatsgründung als monumentale Selbstdarstellung der Kommunistischen Partei alle vorherigen Inszenierungen noch in den Schatten stellen konnte. Die beiden historischen Rekonstruktionen wie auch das Gegenwartsereignis des Jahrestages können zweifellos als die bedeutendsten Produktionen der nationalen Selbstinszenierung und der Kommunikation des Bewußtseins, der »Vorstellung einer nationalen Gemeinschaft« Chinas, gelten, so wie Benedict Anderson sie als Imagined Community definiert hat.32 Alle diese Medienereignisse mit ihrer intendierten identitätsstiftenden Massenwirkung stehen für sich sowie in ihrer jeweiligen Einbettung in die größeren Programme des Fernsehens und schließlich der Gesellschaft und dominanten Kultur selbst stellvertretend für die hegemoniale Variante des gegenwärtigen China, welches sie kommunizieren. Mit nationalen Medienereignissen dieser Art hat das Fernsehen die Aufgabe eines Verlautbarungsmediums übernommen; nämlich die offiziellen Diskurse zu kommunizieren und kraft der emotionalen und identifikatorischen Wirkung ihrer Narrationen und Bilder über die bloße Information hinaus die kulturelle Selbstwahrnehmung seiner Rezipienten, also der gesamten chinesischen Bevölkerung, zu steuern. Dabei sollte 32 Benedict Anderson: D E K . a.a.O. IE

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VOM EIGENEN UND FREMDEN etwa die Pekinger Militärparade von 1999 den Zuschauern als Demonstration der gegenwärtigen Macht und Größe Chinas dienen und lieferte die Shanghaier Eröffnungsfeier dem chinesischen wie dem Weltpublikum (das die Sendung freilich kaum zu sehen bekommen hat) einen Vorgeschmack auf die globalen Medienereignisse der Olympischen Spiele, welche im Jahre 2008 in Peking stattfinden werden, sowie der zwei Jahre später in Shanghai geplanten Weltausstellung. Beide sollen im Hinblick auf das zu erwartende globale Publikum alle ihre nationalen Vorbilder, was die Repräsentation nationaler Größe betrifft, noch weit in den Schatten stellen. Das deuten die Diskurse um sie und ihre konkreten Vorbereitungen und deren Inszenierung bereits fünf Jahre vor der Eröffnung der Pekinger Olympiade und sieben Jahre vor der Eröffnung der Expo in Shanghai an. Folgt man den Aussagen, Vorbereitungen und Planungen der Veranstalter und der chinesischen Staatsmedien, werden beide Veranstaltungen zu den wichtigsten Ereignissen der nationalen Repräsentation Chinas vor der eigenen Bevölkerung wie gegenüber der Weltgemeinschaft werden, innerhalb derer China mit Hilfe dieser Symbolik seinen festen Platz beansprucht. Eine derartige Verbindung der kulturellen Selbstdefinition und der globalen Selbstverortung vor dem eigenen wie dem fremden Publikum indes läßt weder irgendein reales Ereignis noch ein anderes Medium zu; sie werden nur durch das Fernsehen möglich. Das Fernsehen beschränkt sich nicht darauf, die Ereignisse der Olympischen Spiele oder der Weltausstellung zu kommunizieren. Vielmehr hebt es, wenn es gleichzeitig Hunderte Millionen chinesische und Milliarden ausländische Zuschauer über ihre Fernsehgeräte an diese damit in jenem Moment zu den zentralen Orten des Weltgeschehens avancierenden Stätten und zu dem Ereignis holt, im Rahmen dieses Medienmythos für den Zuschauer den Unterschied zwischen dem Ereignis und seiner medialen Inszenierung und Reproduktion scheinbar auf. Im Sinne von Halls netzwerkartig angeordnetem Kreislaufmodell, das er neben seinem theoriebildenden Aufsatz

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EINLEITUNG zum »Encoding/Decoding« 33 insbesondere in seiner Studie zum Sony-Walkman als kulturellem Artefakt34 expliziert hat, ist von Identität bzw. Selbstverhältnissen auszugehen, die sich in Form von Bedeutungskonstruktionen innerhalb von Systemen bewegen. Darin wird Kultur sowohl produziert wie auch konsumiert und reguliert. Das bedeutet, daß in einem Netzwerk, bei dem kein Anfang und keine Linearität der kulturellen Bedeutungskonstruktion und Identitätsgewinnung, also auch keine unmittelbar gegenseitig rückkoppelbare Kausalität zwischen den Elementen zu verzeichnen ist, Kultur und Identität in gleicher Weise wie immer auch gleichzeitig aus den Kulturprodukten hervorgehen. Das heißt in diesem Falle also aus den Apparaten und Programmen des Fernsehens mitsamt den sie bedingenden ordnungspolitischen, institutionellen sowie ökonomischen Bedingungen, aus der Art und den äußeren Bedingungen von dessen Konsum wie auch aus der jeweiligen sozialen und kulturellen Prägung des Rezipienten und seinen individuellen Voraussetzungen (der Regulation). Während das Zusammenspiel dieser Kräfte die Form des Fernsehdispositivs bedingt, bringen die spezifischen Rezeptionsbedingungen neben dem konsumierten Produkt jeweils eine weitere Bedeutung hervor. Sie bewirken damit eine neue Form der kulturellen Repräsentation, welche in ihrer identitätsstiftenden Bedeutung den Programmen des Fernsehens zumindest gleichzusetzen wäre. In diesem Moment der medialen Wahrnehmung tritt die poetische Metapher, welche von den Metaerzählungen der modernen Medienmaschinen teilweise in den Hintergrund verschoben und durch die Erzählung, den Mythos, ersetzt worden ist, erneut in den Mittelpunkt. Sie war in China bis zum Einbruch der Moderne und ihrer Medien prägend und blickt auf eine lange Tradition hegemonialer wie widerständiger Diskurse zurück. Sie schreibt sich nun ihrerseits in die Fernsehdiskurse ein, um diesen erst auf der letzten Stufe der Bedeutungskonstitution 33 Stuart Hall: ›Encoding/Decoding‹. a.a.O. C S 34 Stuart Hall et. al.: D W . London 1997. OING

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VOM EIGENEN UND FREMDEN die ihnen von den hegemonialen nationalen Diskursen abgesprochene Polysemie und Multiperspektivität zurückzuverleihen. Die Annahme eines offenen und sich in Richtung netzwerkartiger Kommunikationsstrukturen ausdifferenzierenden kulturellen Kreislaufs, wie er auf den ersten Blick sehr viel näher an dem zyklischen chinesischen Kulturmodell zu sein scheint als an dem linearen Konstrukt der Nachahmung und Überwindung, welches die industriellen Medien seit Einführung des Buchdrucks prägt, ist die Voraussetzung für die in dieser Arbeit vorgenommene Verknüpfung zwischen Fragestellungen und Methoden der apparativen Medienwissenschaften, der kulturanalytisch-hermeneutischen Textwissenschaften und schließlich der rezeptionsästhetischen Kulturforschung. Letztere verlagert die Aufmerksamkeit schließlich auf den empirischen Rezipienten in seiner mit dem Kulturproduzenten gleichrangigen Rolle und zwar im Hinblick auf die kulturelle Produktion und die Konstruktion von Identität als »aktives Publikum«. Dies wird allerdings erst durch konkrete empirische Untersuchungen zum chinesischen Fernsehpublikum bestätigt werden, deren Ergebnisse im Rahmen der an diese Arbeit anknüpfenden Publikation DAS CHINESISCHE FERNSEHPUBLIKUM veröffentlicht werden.

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TEIL I DISPOSITIVE DES FERNSEHENS UND DAS FREMDE IM EIGENEN

1 ORTUNGEN: VOM FREMDEN ZUM EIGENEN FERNSEHEN Schon wieder [...], schon wieder diese seltsame, besessene Faszination des hedonistischen Westens für den asketischen Osten. Die Erzjünger der Linearität, des Mythos des Fortschritts, wollen vom Orient nur seine berühmte Unveränderlichkeit, seinen Mythos der Ewigkeit. (Salman Rushdie: D F ) B ER

ODEN UNTER IHREN

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Auf der Grundlage seines traditionellen Selbstverständnisses hatte China seit der ersten Reichseinigung im Jahre 221 v. Chr. seine kulturelle Integrität zwei Jahrtausende lang weitgehend bewahren können. Sein universalistisch angelegtes Selbstbildnis, das auf die Anrainerstaaten und selbst seine zeitweiligen fremden Herrscher von den Xiongnu ( ), den nördlichen Barbaren, über die westlichen Turkvölker und die Mongolen bis zu den Mandschuren integrationistisch wirkte, hatte auch der beständige kulturelle Austausch mit zahlreichen Gesellschaften nicht entscheidend infrage zu stellen vermocht. Vielmehr haben die Aneignung zahlreicher Fremdeinflüsse und deren Integration in die Konstruktion sowie die bereits früh auf der Grundlage einer einheitlichen Schrift standardisierte Speicherung und Kommunikation des Eigenen das chinesische Selbstverständnis als Reich unter dem Himmel (Tianxia) sogar immer wieder stärken können. Sie

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VOM EIGENEN UND FREMDEN haben nicht zuletzt selbst ihren Anteil daran gehabt, China über zwei Jahrtausende hinweg als weltweit mächtigstes Staats- und Wirtschaftssystem in Erscheinung treten zu lassen. Dieses ist dennoch nicht frei von der Aufnahme fremden Gedankenguts geblieben, wie es etwa die traditionellen Erzählungen über den Weg des Buddhismus von China über die Gipfel des Himalaya nach Indien und von dort zurück nach China mit wohl doch eher metaphorischem Charakter konstatieren, oder wie es die nationalen Mythenschreibungen der Gegenwart in Kinofilmen wie Wang Xingjuns SIZHOU (Die Seidenstraße, 1997, auch unter dem KiZHI LU notitel ZHANG QIAN ) über den Export der (chinesischen) Zivilisation durch den kaiserlichen Beamten Zhang Qian in der Han-Dynastie (206 v. Chr. – 220 n. Chr.) behaupten. Zweifellos ist China aber in seiner Geschichte genauso als Exporteur von Kultur wie als deren Empfänger hervorgetreten und hat seine eigenen Ordnungsvorstellungen und seine eigenen Systeme der Repräsentation und Kommunikation von Kultur jeweils zur Grundlage der Aneignung des Fremden zu bestimmen vermocht.

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Ein grundlegender Wandel der Kommunikationsbedingungen von Kultur zeichnete sich erst im Zuge der teilweisen Kolonisierung Chinas und eines dadurch zunehmenden Austauschs des Reichs der Mitte mit Europa seit dem 19. Jahrhundert ab. Mehr als alle vorangegangenen Kontakte und fremden Einflußnahmen haben die Industrialisierung und die durch die verschiedenen Globalisierungswellen erzwungene Kulturalisierung der Gesellschaft, welche bei einer gleichzeitigen Materialisierung der Kultur mithin zu einer Materialisierung auch der gesellschaftlichen Prozesse beigetragen hat, in China seit dem 19. Jahrhundert die späteren Bedeutungen des Postfeudalismus und Postkolonialismus mitkonstruiert. In der Etablierung des Fernsehens als privilegiertes Medium der Kommunikation von Bedeutung haben diese wiederum seit den 1980er Jahren ihr Leitmedium gefunden, dessen technische Arrangements zudem selbst zur gegenwärtigen Bedeutungsproduktion in China beigetragen haben. In dieser Hin-

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ORTUNGEN sicht soll der nachfolgende Überblick über wesentliche Ereignisse und Zusammenhänge der Vorgeschichte und Geschichte des Fernsehens in China bereits die anschließend eingehender zu untersuchende Frage nach dem Eigenen und dem Fremden dieses importierten und auf die eine oder andere Weise kulturell angeeigneten Mediums in seinen Mittelpunkt rücken. Dabei ist, anders als etwa bei der Betrachtung von Gesellschaften mit schwächer ausgeprägten und in weniger großem Umfang schriftlich überlieferten Kultur- und Ordnungssystemen, im Falle Chinas von einem über zwei Jahrtausende hinweg mehr oder weniger hegemonial denkenden und sich medial aufzeichnenden wie speichernden, somit in einer gewissen Kontinuität handelnden Selbstverständnis auszugehen, welches über orale Kommunikationsformen auch weite Teile der illiteraten Bevölkerung zu erreichen vermochte. Darauf konnte das Fremde erst in Form des europäischen Imperialismus im 19. und 20. Jahrhundert mit seinen Kriegs- und Medientechnologien einen prägenden Einfluß nehmen. Daher muß eine Betrachtung des chinesischen Fernsehens im Hinblick auf dessen kulturelle Verortung zwangsläufig von der Frage begleitet werden, ob und in welcher Form der Einbruch von Anordnungen und Bedeutungsstrukturen der industriellen Moderne auf das chinesische Selbstverständnis und die Selbstwahrnehmung der Menschen in China eingewirkt hat. In welcher Weise sind sie mit vormodernen Formen des kulturellen Selbstverständnisses und von dessen Repräsentationsweisen und Medien in einen Dialog getreten, von diesen absorbiert worden oder haben sie diese gar überlagert und verdrängt? Haben sie zur Re- oder Neukonstituierung des Bewußtseins von Kultur in China beigetragen? Wie auf der anderen Seite haben chinesische Kulturen selbst das Wahrnehmungsdispositiv Fernsehen zu verändern vermocht und es ungeachtet seiner fremden Herkunft über seine Kommunikationsfunktion hinaus zu einem Element ihres Eigenen werden lassen? In welcher Form also hat das Fernsehen in China neue dispositive Strukturen herausgebildet bzw. diejenigen ihrer westlichen Einschreibung übernommen, um auf diese Weise zur Übernahme oder aber

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VOM EIGENEN UND FREMDEN Vereinnahmung des Fremden, der Rekonstruktion des vorkolonialen Eigenen oder gar der Konstituierung eines neuen Eigenen beigetragen zu haben, das diskursiv auf die tatsächlichen oder imaginierten Implikate des Fremden und auf die reale oder konstruierte eigene Tradition zurückgreift?

Vorgeschichte der technischen Medien (– 1958) Als fremde Technik und Industrie kann das Fernsehen in China nicht auf eine kontinuierliche Vorgeschichte zurückblicken, aus der es in einer mehr oder weniger linearen Entwicklung und einer gegenseitigen Kausalität der technischen, ökonomischen, ideengeschichtlichen und ideologischkulturellen bzw. gesellschaftlichen Prozesse hervorgegangen wäre. Im Europa der Industrialisierung und der Nationalstaaten, die in ihrer Existenz von dem im industriellen Buchdruck medial kommunizierten Bewußtsein und der Partizipation der Bevölkerung abhängig waren, hat die sich gegenseitig bedingende Kausalität der Verläufe nach Abschluß des Mittelalters1, das selbst noch mit multiperspektivischen und multisensorischen Wahrnehmungsmustern ausgerüstet gewesen war, die zentralperspektivisch-lineare Richtung der Kultur vorgegeben. Sie hat das Heraufkommen der Fernsehtechnik im 20. Jahrhundert sowohl politisch und ökonomisch wie auch ideengeschichtlich und kulturell fast zwangsläufig werden lassen. Die Fortschritte der Kommunikationstechniken sind dort untrennbar mit den Anordnungen des Buchdrucks sowie der ökonomisch-industriellen Entwicklung und derjenigen der Kultur verbunden. Daher besteht innerhalb der Kommunikationssysteme der sogenannten ›Industriestaaten‹ eine gegenseitige Abhängigkeit zwischen der Gesellschaft und ihren technischen Repräsentationsmedien, die aber auch selbst zu einem maßgeblichen Teil der jeweiligen OrdS –S 1 Vgl. dazu Horst Wenzel: H G M . München 1995. ÖREN UND

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ORTUNGEN nungsstrukturen werden, welche sie repräsentieren und innerhalb von industriell-ökonomischen Prozessen kommunizieren. Bezüglich der Geschichte und der gesellschaftlichen Etablierung der visuellen Medienapparaturen von der Photographie über den Film bis zum Fernsehen in den früh industrialisierten Staaten läßt sich zum einen das Diktat des typographischen Dispositivs und ein Bruch gegenüber dem traditionell elitären Kulturverständnis sowie den hohen Abstraktionen der privilegierten Musik und Schriftkultur konstatieren. Ihn hat bereits im Jahre 1924 der Schriftsteller und Filmtheoretiker Béla Balázs zum Anlaß genommen, euphorisch festzustellen, daß aus der »begrifflichen« wieder eine »visuelle« Kultur entstanden sei.2 Zum anderen verzeichnet sie aber eine – nachmittelalterliche – Kontinuität der Entwicklung zahlreicher technischer, teilweise aufeinander aufbauender, teilweise aber auch voneinander völlig unabhängiger Einzelerfindungen im Bereich der technischen Bild- und Tonerzeugung sowie der Kommunikationstechniken, einer eng mit diesen in Zusammenhang stehenden progressiven Industrialisierung und nicht zuletzt der Konstitution der sich selbst kommunizierenden Nationalstaaten. Der Erfolg der Nationalstaaten in Europa seit dem späten 18. Jahrhundert hatte ja nicht zuletzt auf der Durchsetzung der interaktionsfreien Kommunikationstechniken auf der Grundlage der Typographie und der ihr nachfolgenden Erfindungen beruht. Deren konsequente Weiterentwicklung legt letztendlich auch die Verbindungslinien zwischen den einzelnen Kommunikationsmedien von Typographie, Film, Radio und Fernsehen offen und läßt ihr jeweiliges Auftreten innerhalb unterschiedlicher Epochen der industriellen und politisch-kulturellen Entwicklung in Europa und Nordamerika konsequent erscheinen, wie Albert Abramson 3 in seiner Frühgeschichte des Fernsehens eindringlich schildert. Die Träume der europäischen Gesellschaften und Menschen von einer Wahrnehmungserweiterung ließen sich mit der Medientechnologie 2 Béla Balázs: D 3 Albert Abramson: D G

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. Frankfurt a. M. 2001. F . München 2002.

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VOM EIGENEN UND FREMDEN der industriellen Moderne scheinbar verwirklichen, indem diese die technischen Voraussetzungen bot, Wissen zu speichern und weiterzugeben und sich dabei Einblicke in nahe und ferne, reale und imaginäre Welten zu verschaffen. Der unmittelbare Zugriff auf jene fremden Welten, aus denen man das Publikum unter Verwendung der industriellen Medien mit exotischen Bildern versorgte, wurde allerdings mit Hilfe anderer Errungenschaften des Industrialisierungsprozesses erreicht. Dabei handelt es sich zum einen um die Strategien der kapitalistischen Marktwirtschaft, die das für ihren Erfolg notwendige Wachstum u.a. durch territoriale Expansion in die Kolonien erzielte. Vor allem handelt es sich dabei aber um die zu jener Expansion unabdingbare Waffenund Kommunikationstechnologie, die es u.a. vermochte, China sowohl in den beiden Opiumkriegen als auch im Boxeraufstand im eigenen Land in die Schranken zu weisen und ihm dabei die – zusehends technokratischen – Ordnungsstrukturen und den zentralperspektivischen Blick der industriellen Medien aufzuzwingen. Das sich in der Kriegs- und Medientechnologie wiederfindende europäische Bestreben nach Sinneserweiterung beschreibt Ulrike Hick im Hinblick auf die kolonialistischen Eroberungszüge und die mediale Aneignung der niedergeworfenen Welten: Wenn die Bilder vor dem Hintergrund des Verlustes an Erfahrung und ihren festen symbolischen Bezügen als Surrogate fungieren, die projektiv mit einem bedeutungsstiftenden Gestus überformt sind, und in den idealisierten Kondensaten dieser Bilderwelten der flüchtig gewordene Blick nach Momenten der Vergewisserung sucht, dann hat eben dies auch in den Sujets der Laterna magica-Projektionen seinen Niederschlag gefunden. Vor allem in romantisierender Idylle, Mythen und Exotismen zeichnet sich das Begehren nach Ferne und Vergangenheit ab. Insbesondere die Antike und der Orient fungieren dabei als die verbrämenden Signaturen des anderen, einer ursprünglichen, noch unsublimierten Existenzform, die vor den Abstraktionen, denen die Moderne unterworfen ist, bewahrt scheint. Ihre Darstellungen sind gleichwohl letztlich nichts anderes als die

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ORTUNGEN Projektionen eines besitzergreifenden eurozentristischen Blickes.4 Der »besitzergreifende eurozentristische Blick« verkuppelte sich sehr rasch mit dem Bestreben nach Ausdehnung und der Bemächtigung dieser fremden Welten (und ihrer Güter wie Arbeitskräfte), die sich schließlich in den europäischen Kolonialwarenläden genauso wiederfanden wie in ihrer mediatisierten und visualisierten Form in Büchern, Zeitungen und schließlich der Photographie und dem Film. Die Sehnsüchte und Träume der Menschen vermischten sich im Imperialismus auf eigenartige Weise mit dem machtpolitischen Kalkül und den ökonomischen Interessen ihrer Ursprungsgesellschaften. Sie gelangten mitsamt ihren Waffentechniken und Medienmaschinen, vor allem aber mit ihrer inhärenten Ideologie, Kultur und ihren eigenen Wissens- und Ordnungssystemen im 19. und 20. Jahrhundert nicht zuletzt auch in das Reich der Mitte. Dieses hatte bis dahin keinen derartig einschneidenden historischen Bruch der Kommunikationsmedien wie die Einführung des Buchdrucks in Europa erlebt und sich zudem vor Fremdeinflüssen, welche sich nicht unproblematisch durch das eigene Modell von Kultur absorbieren ließen, mit vergleichsweise gutem Erfolg schützen können. China wurde von da an durch die apparativen Medien und die technischen Waffensysteme nachhaltiger verändert als durch alle der zahlreichen fremden Einflüsse in den zwei Jahrtausenden der Geschichte seines Einheitsstaats zuvor. Die kulturellen, politischen und ökonomischen Voraussetzungen für die Etablierung der Medientechnologie treffen zwar auf die somit fast zwangsläufig nach Ausdehnung strebenden Industriegesellschaften und deren kulturellen Ausprägungen und politischen Systeme, nicht aber auf die Vorund Frühgeschichte des Fernsehens in China zu. Deren Intentionen lassen sich nicht unter dem Aspekt der Entwicklung und Ausdehnung der Sinne und also auch des Kolonialismus 4

Ulrike Hick: G

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. München 1999, S. 204f.

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VOM EIGENEN UND FREMDEN mitsamt seinem »expansionistischen Blick« beschreiben. Vielmehr trat China in der Frühphase der Geschichte der technischen Medien nicht als Schauende sondern erst einmal vor allem als Objekt von deren – mediatisierendem – Blick und somit als Opfer der damit einhergehenden kulturellen Expansion des Westens in Erscheinung. So lassen sich das Fernsehen und alle anderen Medientechnologien in China ganz und gar nicht in eine lange Reihe der kulturtechnischen Entwicklungen vom Telegraphen und Telephon als interaktiven Medien der Kommunikation und der Photographie als chemisch-mechanischem Abbildungs- und Speichermedium der Realitätswahrnehmung bis zu seiner Expedierung in die bewegten Bilder des Films und schließlich des Radios und des Fernsehens stellen, welches alle diese Erfindungen der Erzeugung von Bildern und Tönen sowie der technischen Kommunikation als Konsequenz in sich vereinigt. Dazu gesellen sich schließlich in einer quasi Nachfolge des Fernsehens inzwischen bereits die jüngsten digitalen Bildschirm- und Onlinemedien, in denen sich die beiden Stränge der Kommunikation und der Abbildung und Speicherung wie auch Interaktion und interaktionsfreie und textgebundene wie imagegebundene Parameter der Kommunikation verknüpfen. Aufgrund ihrer bislang noch aufwendigeren Nutzungsformen, die bei einer in China anhaltend hohen Illiterarizität und einem vergleichsweise geringen Bildungsdurchschnitt deutlich ins Gewicht fallen und im Jahre 2002 die Internetnutzerzahl auf nicht mehr als 59,1 Mio. (einschließlich der Besucher von Internetcafes) überwiegend intellektuelle und jugendliche urbane Nutzer5 beschränkten (gegenüber mehr als 1.1 Mrd. Fernsehzuschauern) 6 , haben sie das Fernsehen als privilegiertes Massenmedium aber noch längst nicht verdrängen können. Die gegenwärtigen Realitäten im ruralen China haben damit Wolfgang Coys Prognose einer Ablösung des Fern-

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5 Veröffentlicht in »Renmin ribao« (Volkszeitung). 1.4.2003. 6 Zur Entwicklung des Telekommunikationsnetzes in China und der technischen Einführung des Internet vgl. Manuel Fries: C C .T D C N I S . Bochum 2000. HINA AND

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ORTUNGEN sehens als Leitmedium durch die vernetzten Computer in eine ferne, wenn nicht – was das Reich der Mitte betrifft – gar imaginäre Zukunft verwiesen. 7 Deren Vision hat Neal Stephenson in seinem Zukunftsroman THE DIAMOND AGE über ein zukünftiges, digitales China im übrigen ja längst formuliert. Bis in das frühe 20. Jahrhundert hinein in seinen traditionellen, nicht-technischen Kommunikationsstrukturen gefangen und von der Industrialisierungswelle abgeschnitten, die Europa, Nordamerika und nicht zuletzt auch Japan erfaßte, kam China bis dahin nicht unmittelbar mit den industriellen Entwicklungen, technischen Erfindungen und ökonomischen Prozessen in Kontakt, mit denen in Europa und Nordamerika eine Vorgeschichte des Fernsehens geschrieben und diejenigen Kommunikationssysteme konstruiert wurden, welche die Anordnungen von Wissen und Bedeutung bis in die Gegenwart prägen. Allen Vorgängererfindungen des Fernsehens lagen, auch wenn die meisten von ihnen nicht unmittelbar auf das Heraufkommen des Fernsehens verwiesen, dennoch bereits dessen ökonomisch-industrielle Motivation und die Intention der Erfüllung »eines alten Menschheitstraums nach Wahrnehmungserweiterung« zugrunde, wie Knut Hickethier die europäische Zielsetzung der Medienapparate in seiner GESCHICHTE DES DEUTSCHEN FERNSEHENS8 treffend beschreibt. Die Vorgängermedien des Fernsehens, zu denen nicht zuletzt auch das typographische Medium des industriellen Buchdrucks seit Gutenberg gerechnet werden muß, erstrecken sich von der Photographie Joseph Niépces und Louis Jacques Mandé Daguerres im Jahre 1839 über die Reihen- und Phasenbilder von Jules Marey und Eadweard Muybridge ab 1877 und Thomas Alva Edisons Kinetoskopen bis hin zur Kinematographie der Brüder Lumière auf der Seite der chemischmechanischen Bildproduktion. Sie beinhalten die Erfindung der elektrischen Informationsübertragung durch Samuel Mor7 Wolfgang Coy: ›Media Control. Wer kontrolliert das Internet?‹. In: C R .W Sybille Krämer (Hg.): M N M . Frankfurt a. M. 1998. S. 133 – 151. F . S. 8. 8 Knut Hickethier: G EDIEN

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ESCHICHTE DES DEUTSCHEN

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ERNSEHENS

VOM EIGENEN UND FREMDEN se im Jahre 1837 und die Einführung des Telephons durch Alexander Graham Bell im Jahre 1876 als frühestes interaktives technisches Medium. Hinzu kamen die zahlreichen Versuche mit der 1873 entdeckten Elektrizität, in denen sich die für die spätere Entwicklung des Fernsehens wichtigen Elemente von Photoelektrizität, Licht, Magnetismus, Radiophonie und Chemie bereits miteinander verbanden, sowie die Experimente mit der Radiotechnik, die mit der Übertragung von Radiowellen zwischen England und Kanada durch Guiglielmo Marconi im Jahre 1902 ihre Geburtsstunde erlebte. Sie alle wiesen konsequent auf die Einführung des Fernsehens hin und finden sich mit ihren technischen und ökonomischen Bedingungen und ihren Raum-Zeit-Strukturen, ihrem ideologischen Charakter und Ordnungsverständnis und nicht zuletzt ihren Dispositionen der Wahrnehmung auf die eine oder andere Weise im Fernsehen wieder. Darüber hinaus fügen sich die technischen Erfindungen der Wahrnehmungserweiterung in Europa allesamt sowohl im Hinblick auf ihre industriell-ökonomische Ausrichtung wie auch hinsichtlich ihrer ideologisch-ästhetischen und sozialen Bestimmung in dessen nachmittelalterliches Modell von Kultur sowie in ihre jeweilige spezifische kulturhistorische und gesellschaftliche Situation ein. Diese hat im 19. und 20. Jahrhundert das Erscheinen der Wahrnehmungstechnologien nicht nur bedingt und sie zu einem »natürlichen« Bestandteil ihrer selbst gemacht. Vielmehr wurden die inhärenten Prozesse der europäischen und nordamerikanischen Gesellschaften seit jener Zeit auch maßgeblich durch die Mediatisierungen der Kultur und die Technisierung und Industrialisierung der Kommunikationsprozesse geprägt, deren Anlaß wie Produkte die Apparate der Medien ja gewesen sind. In diesem Kreislauf gegenseitiger Bedingtheit konnten die technischen Medien der Kommunikation, der Information und der Wahrnehmung seit Anbeginn ihrer Entwicklung in Europa zu bedeutenden Teilen und Motoren der europäischen und amerikanischen Kulturgeschichte werden, wie es Michael Giesecke in seinen Arbeiten zur Medienökologie einprägend darge-

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ORTUNGEN stellt hat. 9 Als deren Produkt, Speichermedium und Dokumentarist ist das Fernsehen schließlich angetreten und mit diesem Anspruch zum Leitmedium von Gesellschaft und Kultur geworden. Das Fernsehen hat seine vordergründige Funktion, die ihm innerhalb der transnationalen Mediengesellschaft Europas und Nordamerikas wie auch innerhalb der sich national definierenden Gemeinschaften dieser Regionen den Rang als privilegiertes Medium der Wahrnehmung von Realität und der Konstitution kultureller und sozialer Selbstverständnisse verliehen hat, bis in die Gegenwart beibehalten. Mit aller Macht seiner emotionalen Wirksamkeit und ökonomischen Dominanz hat es sich als Mimesis-Medium, als das es in eine erfolgreiche Konkurrenz zu den abstrakten Medien der vorphotographischen Vergangenheit getreten ist, auch auf die übrige Welt ausgedehnt. Dabei hat das europäische Modell mitsamt den Medienapparaturen auf die eine oder andere Weise auch seine spezifischen Ordnungs- und Anordnungsstrukturen, welche vor allem die Beziehung zwischen dem fernsehenden Individuum und der jeweiligen Gemeinschaft mitsamt ihren kulturellen, ökonomischen und sozialen Bedingungen auf der einen, der Medienapparatur und ihren Programmen auf der anderen Seite bezeichnen, in fremde Gesellschaften wie diejenigen Chinas exportiert. Das chinesische Kulturverständnis ging ursprünglich von ganz anderen kulturellen, medialen und sozialen Bedingungen aus als denjenigen, welche in den sich industrialisierenden Gesellschaften das Heraufkommen der Medianapparaturen bedingt hatten. Der Einführung des Fernsehens und seiner Vorläufermedien lag in China nicht jener unbedingte Technikglaube und Erfinderehrgeiz zugrunde, welcher den Industrialisierungs- und Modernisierungsprozeß auch ideologisch und kulturell begleitet und bedingt hatte. Er war dem nicht auf Fortschritt und M 9 Vgl. Michael Giesecke: V I .T . Frankfurt a. M. 2002. ON DEN

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VOM EIGENEN UND FREMDEN Überwindung, sondern auf Weisheit und zyklische Strukturen beruhenden chinesischen Kulturverständnis ohnehin fremd. Innerhalb der chinesischen Kultur, die in ihren hegemonialen Diskursen ursprünglich auf jegliche evolutionäre, zielgerichtete Linearität verzichtete, begleitete er weder die Einführung der Photographie in den 1860er Jahren noch den im Jahre 1896 durch Kameraleute der Brüder Lumière in das Reich der Mitte gelangten Film. 10 Er beeinflußte nicht das Radio, für welches der Pekinger Medienhistoriker Zhao Yuming im ersten Teil seiner umfassenden Rundfunkund Fernsehgeschichte11 die Inbetriebnahme des unter amerikanischer Leitung nur drei Monate lang ausstrahlenden Senders Dalu baoyi Zhongguo wuxian dian gongsi guangbo diantai (Erster terrestrischer Rundfunksender Festlandchinas) am 23. Januar 1923 in Shanghai als Grundsteinlegung markiert. Auch das Fernsehen wurde in China nicht durch jenen »Menschheitstraum nach Wahrnehmungserweiterung« motiviert und seine Entstehung und frühe Entwicklung begleitet von »einer Wunschkonstellation, die sich mit diesem Medium verbindet: weiter sehen zu können, mehr von der Welt zu erfahren, in Traumwelten abtauchen zu können usf.«, wie Knut Hickethier diese Einschreibung des progressiven europäischen Kulturmodells in dessen Medienapparaturen beschreibt. 12 Hickethier illustriert in seiner GESCHICHTE DES DEUTSCHEN FERNSEHENS die Beschreibung von dessen europäischer Vorgeschichte mit Albert Robidas Abbildung »Vision vom Fernsehen: Die Pariser beobachten den Krieg in China«13, in der das Fernsehen als überdimensionales Fenster aus dem bürgerlichen Paris in das ferne und in den Bildern als barbarische wie zugleich exotische Traumwelt arrangierte China seine wörtliche Bedeu-

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F . Stuttgart, 10 Vgl. Stefan Kramer: G Weimar 1997, S. 1. ( 11 Zhao Yuming :Z Allgemeine Geschichte des Rundfunks und Fernsehens in China). Teil 1. Peking 2000, S. 8. F . S. 8. 12 Knut Hickethier: G 13 Ebd. S. 9. ESCHICHTE

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ORTUNGEN tung als apparative Erweiterung der menschlichen Sinne erhält.

Abb. 1 Albert Robida: »Vision vom Fernsehen: Die Pariser beobachten den Krieg in China« Diese greift sowohl in das reale Ferne des fremden Kontinents wie auch in das irreale Ferne der medial konstruierten Traumwelten hinein und hebt deren Differenzen untereinander wie gegenüber einer äußeren Realität auf dem Fernsehbildschirm quasi auf. Aus China sind dagegen keine derarti-

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VOM EIGENEN UND FREMDEN gen – mediatisierten – Visionen und Verbildlichungen der Ausweitung der Sinne in eine räumlich greifbare Ferne bekannt, welche das Reich der Mitte in jener Periode aus seiner Rolle als bloßes Objekt der Betrachtung herauslösen und ihm eine eigenständige Beobachterposition hätten zubilligen können. Dem vor allem auf die – universalisierten – inneren Vorgänge seiner Zivilisation gerichteten chinesischen Blick auf sein imperialistisch auftretendes und dabei nicht weniger als barbarisch wahrgenommenes Anderes, welches Europa, Japan und Nordamerika darstellten, lagen ursprünglich keine der Ziele und Träume zugrunde, welche die Idee des Fernsehens wie seiner technischen Vorgängermedien bedingt hatten. Vielmehr ging es in China um den Wunsch nach einer Abgrenzung gegenüber den Aggressoren und einer Wiedergewinnung des Eigenen. Dieser Wunsch ging freilich bei zahlreichen Entscheidungsträgern schon bald mit der Erkenntnis einher, daß das Eigene nicht mehr durch den Rückschritt in verlorene Zeiten der Kultur- und Kommunikationsgeschichte, sondern allenfalls noch durch Aneignung und die erfolgreiche Vereinnahmung von prägenden Elementen des Fremden in die eigenen Diskurse möglich würde, wie es Japan ja bereits Jahrzehnte zuvor mit großem Erfolg vorgemacht hatte. Innerhalb der sich zyklisch konstituierenden und im Sinne des staatsideologischen Neokonfuzianismus in seinen dominanten Diskursen rückwärtsgewandten, sich an historischen Vorbildern orientierenden chinesischen Gesellschaft des 19. und frühen 20. Jahrhunderts befanden sich die Medien der kulturellen Repräsentation noch auf quasi demselben technischen Entwicklungsstand wie ein Jahrtausend zuvor. Damals hatte der nicht-industrielle Buchdruck bei Chinas politischen und kulturellen Eliten zu einem bedeutenden Kulturschub geführt. Allerdings hat sich in China nicht zugleich auch eine breite Lesekultur herausgebildet. Ihm standen das schwer erlernbare und kaum typographisierbare ideographische chinesische Schriftsystem und die nur sehr wenig ausgebauten Kommunikationsstrukturen in dem weiten Reich, durch welche der Buchdruck die hohe Illiterarizität kaum zu mindern 58

ORTUNGEN vermochte, im Wege. So hat der nicht-industrielle Buchdruck in China damals nicht die Bedeutung erlangt, die seiner industriellen Variante im Europa der sich gründenden Nationalstaaten zukam, wie Paul Levinson konstatiert: The incompatibility of ideographic writing with the mass production of text via the press is far more physical and therefore intractable than the problems of literacy that characterized ancient Egypt, although those were part of the Chinese equation as well. In a written language that requires 20.000 unique ideograms for full scholarly literacy, the production of text via a press that uses interchangeable type is simply impossible – the number of possible pieces of type is too large to in any practical sense be interchangeable.14 Dies bedeutete für China die auch über den im 19. Jahrhundert eingeführten industriellen Druck von Zeitungen und Büchern hinaus bis in die Gegenwart anhaltende Aufteilung der Kommunikationsmittel von Kultur. Dabei ging es zum einen um die dominante, dabei elitäre und nur wenigen Schriftkundigen zugängliche Schriftkultur, Kalligraphie und Malerei, welche auch in der Gegenwart in weiten Teilen des ruralen, illiteraten China weitgehend unbekannt und unzugänglich sind. Diese Künste hatten immerhin bereits die dem Fernsehen zugrunde liegende Visualität von Kultur, wenn auch in metaphorischer, nicht mimetischer oder allegorischer Weise privilegiert. Zum anderen ging es um eine Aufführungskultur, die sich – ohne die Konkurrenz einer industriellen Kulturproduktion – nach wie vor an oralen Traditionen orientierte. In der Aufführungskultur manifestierten sich die Formen der zahlreichen regionalen und lokalen Volkskulturen Chinas, ohne allerdings tatsächlich nennenswerte alternative Diskurse herauszubilden, welche eine Opposition zum hegemonialen zentralistischen Modell der chinesischen und sinisierten Kultur hätten darstellen können. 14 Paul Levinson: T I R NFORMATION

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VOM EIGENEN UND FREMDEN Das chinesische Staatsmodell der späten Qing-Dynastie (1644 – 1911), welches sich die Buchkultur aneignete, orientierte sich aus der Perspektive der mandschurischen Fremdherrscher, die sich durch konsequente, teilweise übersteigerte Assimilation auf dem Himmelsthron legitimieren konnten, eng am neokonfuzianischen Modell der Klassikerschulen. So waren auch die elitären Medien der Repräsentation bis in das 20. Jahrhundert hinein unauflöslich den kulturellen Entwürfen eines tradierten Systems verhaftet, das ursprünglich auf den inzwischen längst überholten Medien der frühen Schriftkultur und Malerei errichtet worden war. Dies wirkte sich auf die Formen der Schriftkultur mit allen ihren Ausprägungen einschließlich der Malerei aus. Es nahm nicht zuletzt durch die von der Zentrale ausgehende Form der mündlichen Proklamation auch inhaltlich Einfluß auf die oralen Erzähl- und Aufführungskünste aus den regionalen und lokalen Volkskulturen. Es betraf auch die Anordnungsstrukturen dieser Medien des kulturellen Gedächtnisses und der sozialen Repräsentation. Das im 19. Jahrhundert im Neokonfuzianismus erstarrte hegemoniale System der auf ihren Ursprungsmythen errichteten Kulturen Chinas konstituierte sich nicht zuletzt auch durch die Dispositive seiner Medien. Auf der anderen Seite waren aber auch die Medien selbst und ihre Diskurse Produkte der Kultur, welche ihre Formen erst hervorgebracht und sie zu produzierenden wie auch unmittelbar auf kulturelle und gesellschaftliche Prozesse reagierenden und auf diese rekurrierenden Bestandteilen derselben gemacht hatte. In dieser Weise waren das System der hegemonialen chinesischen Kultur und die Kulturen Chinas von Beginn an ein Produkt ihrer Wechselwirkung mit den Medien ihrer Konstitution und Repräsentation. Ihre Struktur funktionierte über zwei Jahrtausende hinweg in Form einer gegenseitigen Abhängigkeit und Kausalität, welche die spezifischen Anordnungsstrukturen der Repräsentationsformen und der Kulturen erst hervorgebracht und etabliert hatten. Auf die tradierten und gesellschaftlich funktionalisierten Dispositive der Medien hegemonialer chinesischer Kultur tra-

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ORTUNGEN fen schließlich auch die technischen Medianapparaturen. Sie kolonisierten China durch ihre spezifischen Anordnungsstrukturen, wozu insbesondere ihr zentralperspektivischer Charakter, der sich in der Ästhetik der Bilder wie auch in ihrer Ökonomie und Ideologie oder der Wahrnehmungssituation Ausdruck verschafft, und ihr Abbildungsgedanke zählen. Alle Apparaturen der Medientechnologie, welche im Zuge des europäischen Imperialismus sowie der transnationalen Globalisierungsschübe nach China gelangten, gerieten zwischen die Fronten der ideologischen Diskurse um die chinesische Kultur. Sie gaben sich unversöhnlich, positionierten und konstituierten sich dabei aber unter einer mehr oder weniger unbewußten Aneignung von Perspektiven des jeweiligen Gegners unmerklich immer wieder neu. Auf der anderen Seite konnten die Diskurse Chinas über das Selbstverständnis und die Positionierung seiner Kultur erst durch die Einführung der fremden Kulturtechniken und die dadurch erzielte Bewußtwerdung Chinas als Kultur aufkommen. Somit wechselten schon bald die Fronten. Die Medien blieben nicht lange Instrumente bestehender Konzeptionen, sondern nahmen rasch ihrerseits Einfluß auf die kulturellen, die sozialen und die ideologischen Prozesse Chinas. Dessen weites rurales Hinterland freilich blieb von diesen Entwicklungen lange Zeit unberührt. Mit dem Kontakt und der durch den kolonialistischen Einsatz derselben quasi von außen aufgezwungenen Aneignung der fremden Apparaturen der Kommunikation sowie deren kultureller Vereinnahmung als Medien der Repräsentation und Konstitution von Ordnung bekam das chinesische Selbstverständnis mit seinem universalistisch orientierten, makrowie mikrokosmische Strukturen in gleicher Weise erfassenden Zivilisationskonzept in den ost- und südchinesischen Ballungsräumen in seinem westlichen Konterpart einen starken Gegner innerhalb der Diskurse um das Eigene. Es wandelte sich unter dem Fremdeinfluß – ohne die tradierten Strukturen dabei gänzlich aufzugeben – in Form eines Kulturalisierungsprozesses allmählich zu einem vordergründigen Kulturverständnis der Identität und Differenzen.

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VOM EIGENEN UND FREMDEN China hatte sich in seinen inhärenten Diskursen nach zwei Jahrtausenden weitgehender Indifferenz beim Blick auf das Fremde erstmals bewußt mit seinem Anderen auseinanderzusetzen, obwohl dieses inzwischen längst unmerklich zu einem unabdingbaren Teil des eigenen Selbstverständnisses geworden war. Die damit verbundenen Konflikte waren die Voraussetzung für das Entstehen einer progressiven Dynamik innerhalb der bis dahin weitgehend starren kulturellen Strukturen Chinas, welche die Ausbreitung der Medientechnik dort genauso forcierte, wie auf der anderen Seite letztere die kulturelle Entwicklung zusätzlich beschleunigte. Auch diese freilich erreichte damals allenfalls die Metropolen, welche politisch oder wirtschaftlich unmittelbar in Kontakt mit den Fremdmächten standen. Die überwiegende bäuerliche Landbevölkerung indes partizipierte zunächst an keinem dieser Prozesse. Sie ist auch noch im beginnenden 21. Jahrhundert von nahezu allen technischen Entwicklungen und politisch-kulturellen Diskussionen abgeschnitten, mit denen China seine Modernisierung vorantreibt. Mehr als alle anderen Medien haben es der Film und schließlich das Fernsehen als Produkte wie zugleich Träger der Industrialisierung sowie eines postindustriellen Globalismus dort, wo sie zugänglich gemacht worden sind, vermocht, durch ihre kapitalistische, nach Wachstum strebende »Natur«, ihre technische und erzähltechnische Attraktion sowie die sprachlich-kulturellen, geographischen bzw. geopolitischen und ethnischen Grenzen, welche sich in den vortechnischen Repräsentationsformen noch unüberbrückbar aufrecht erhalten hatten, zu überwinden und schließlich teilweise sogar aufzuheben. In den Metropolen Chinas entstand quasi eine Gleichzeitigkeit der Auflösung von Indifferenz in die Differenzen des Kolonialismus und Postkolonialismus, welche allerdings durch die transnationalen Medien der globalisierten Kulturindustrie unter Umgehung linearer (etwa die Medientechnik und -industrie in einer Wechselwirkung mit gesellschaftlichen Entwicklungen Zug um Zug herausbildender) Prozesse der Moderne fast im selben Zuge wieder in

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ORTUNGEN die Partikularismen indifferenter postmoderner Prozesse expediert wurde. Diese Diskurse haben die Auseinandersetzungen mit sich selbst und seinen realen und imaginären Anderen im 20. Jahrhundert maßgeblich beherrscht. Damit haben die technischen Medien in gleicher Weise zum kolonialen wie auch zum post- und antikolonialen Projekt beigetragen und die jeweils dominanten Diskurse dabei in allen Fällen auch ihre Gegendiskurse mit produziert. Sie haben die nationalen und pannationalen wie auch die postnationalen Identitäten des 20. Jahrhunderts in das kulturelle Gedächtnis der Menschen und Völker Chinas eingeschrieben, die an diesen Entwicklungen teilhatten. Dabei haben sich die Differenzen zwischen den Strategien kolonialen und postkolonialen Medienschaffens, zwischen den europäischen ästhetischen Einschreibungen der Medienapparaturen und den Formen chinesischer Aneignung, und damit schließlich immer mehr auch zwischen den sich in ihren dominanten Selbstdarstellungen nach wie vor deutlich voneinander trennenden Kulturen selbst zusehends aufgelöst. An ihre Stelle trat immer mehr die Dominanz der Bilder sowie ihrer Apparaturen und Dispositive, welche ihren Produzenten und Rezipienten allerdings zugleich zahlreiche Möglichkeiten ihrer Aneignung und kulturellen Determinierung eröffneten; dies auch im Hinblick auf Debatten des Postkolonialismus, die unter Verwendung von Elementen und Strategien der jeweiligen Diskurse um Macht und Widerstand dennoch ein sich von diesen lösendes Eigenes hervorzubringen in der Lage waren. Der Film hat als bedeutendstes Vorläufermedium des Fernsehens auch die Dispositionen von dessen Einführung im Reich der Mitte vorgegeben. Er ist in China im Jahre 1896 vor allem als Instrument der Kolonisation und der Industrialisierung angetreten. Er hat aber – mit unterschiedlichem Erfolg – in jeder Phase seiner Entwicklungsgeschichte auch entsprechende Gegendiskurse zu etablieren vermocht.

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Abb. 2 Straßentheater im Kreis Wuxiang, Provinz Shanxi (2003) So traten bereits in seinen frühesten in chinesischen Produktionsstätten entstandenen Werken seine ideologische Funktionalisierung sowie seine künftige Position als Spielball im Streit zwischen den Kulturen des Westens und des Ostens wie vor allem auch als politische und kulturelle Richtungsweiser in eine postfeudalistische und schließlich auch postkoloniale Zukunft Chinas zutage. Diese äußerte sich zum einen in einer langen Reihe quasi ethnographischer und kolonialpropagandistischer Werke europäischer und nordamerikanischer Produzenten wie der New Yorker Edison Company, der Londoner Warwick Group oder des in der Entstehungsphase dieses Mediums nach Übernahme der lumièreschen Patente im Jahre 1902 führenden Pariser Unternehmens Pathé Frères. Insbesondere Pathé und Edison vermochten im Gefolge der militärischen Eroberungstruppen und der Missionare das Reich der Mitte mit ihren Arbeiten kulturell zu

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ORTUNGEN prägen. Auf der anderen Seite haben sie mit ihren filmischen Chinoiserien dem europäischen und amerikanischen Publikum Kriegslegitimationen und visuellen Nährstoff für die Hochphase des Kolonialismus und Exotismus um die Jahrhundertwende geliefert. Dessen beredte Visualität und Illusion von Authentizität konnte schon bald selbst die anschaulichsten exotistischen Schriften wie diejenigen von Pierre Loti in ihrer Wirksamkeit in den Schatten stellen. Dem gegenüber versuchten chinesische Kulturschaffende bereits zu jenem frühen Zeitpunkt der Geschichte der apparativen Medien, deren fremde Technik kulturell zu vereinnahmen und sie als Gegenbewegung gegen die fremde Dominanz in das Spektrum eigener kultureller Repräsentationssysteme zu integrieren. Darauf verweist bereits die erste chinesische Filmproduktion, die im Jahre 1905 unter der Regie von Liu Zhonglun in Peking entstandene Verfilmung DINGJUNSHAN (Der Berg Dingjun) von Szenen aus (Die drei Reiche), durch der Pekingoper SANGUOZHI welche sich der Darsteller Tan Xinpei zum Teil des kulturellen Gedächtnisses Chinas und somit unsterblich machte.

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VOM EIGENEN UND FREMDEN Sie legte damals den Grundstein für zahlreiche Versuche einer Funktionalisierung des Films im Hinblick auf die Speicherung und technische Reproduktion »eigener« Kulturtraditionen. Unter ihren angestammten Repräsentationssystemen wurden die performativen Künste von Schattenspiel und Theater am deutlichsten in Verbindung mit dem abendländischen Schattenspiel ( Xiyang yingxi) gebracht, als welches das Kino Eingang in China gefunden hat. Damit versuchte man, eine Verknüpfung herzustellen zwischen der elitären Buchkultur, in deren urbane Einzugsgebiete der Film zuerst einzudringen vermochte, und den performativen und oralen Volkstraditionen, welche in weitesten Teilen des Landes nach wie vor die einzige Form der Kommunikation, Information und Unterhaltung darstellten, die über den lokalen Rahmen hinausreichte. Im Reich der Mitte stellen die Bühnenfilme bis in die Gegenwart ein bedeutendes Filmgenre dar und haben als solches auch Aufnahme in die Fernsehprogramme gefunden.15 Doch auch die auf theoretischem Felde konstruierte enge Beziehung des Films mit den Bühnenkünsten, die insbesondere in der kulturellen Erneuerungsbewegung des 4. Mai 1919 weite Kreise zog und sich schon damals über die Auseinandersetzung zwischen China und dem Westen hinaus zu einer inhärenten Beschäftigung Chinas mit sich selbst entwickelte, hat ihre Ursprünge bereits in den kolonialen und antikolonialistischen kulturellen Auseinandersetzungen des frühen 20. Jahrhunderts.16 Einen Kinofilm freilich haben damals nur die wenigsten Menschen in China auch tatsächlich zu sehen bekommen.

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15 Vgl. Sang Hu: ›Kulturtradition filmisch reproduziert‹. Interview in R D Stefan Kramer und Hu-Chong Kramer: B . Bad Honnef 2002. Die vielen Dramenverfilmungen und abgefilmten Bühnenstücke haben inzwischen ihr Hauptforum in den Kabelfernsehsendern gefunden, von denen einige, wie etwa der Shanghaier Sender Youxian Xiju Tai (Kabelsender für Dramenfilme), sich auf deren Ausstrahlung spezialisiert haben und dabei ein wachsendes Publikum erreichen. 16 Vgl. Vera Schwarcz: T C E .I L M F M 1919. Berkeley 1986. ILDER AUS DEM

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ORTUNGEN Nach seiner frühen ideologischen Determinierung und ökonomischen Funktionalisierung durch die Kolonialmächte wurde der Film unter Mao Zedong zwischen 1949 und 1976 überwiegend zum politischen Instrument der kommunistischen Dekolonisation und postkolonialen Staatsbildung. Angesichts der anhaltend hohen Illiterarizität bot er, so Maos Vorstellung, mit der er in dieser Hinsicht dem Vorbild der Sowjetunion Lenins und Stalins folgte, die günstigsten Voraussetzungen für eine industrielle Fortführung der Proklamationstradition, welche zugleich mit der emotionalen Vereinnahmung, der Ideologisierung und revolutionären Mobilisierung der »bäuerlichen Volksmassen« verbunden werden sollte. Doch auch von den Parteiführern, die nach dem Tod Maos im Jahre 1976 an die Schalthebel der Macht gelangt waren, wurde er zum privilegierten Medium der Kommunikation dominanter politischer und kultureller Diskurse erklärt.

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VOM EIGENEN UND FREMDEN Dazu legte die Pekinger Zentralregierung im Hinblick auf seine beispiellose emotionale Wirksamkeit auch bei einem illiteraten bäuerlichen Publikum enorme Anstrengungen in den Aufbau des Produktionssystems sowie der Kinos und mobilen Vorführeinrichtungen.17 Im Vordergrund der Funktionalisierung der Kunst stand vor allem das politische Ziel einer Ersetzung der dezentralen und aus zahlreichen lokalen und regionalen Kulturen entsprungenen Volkskünste durch die hegemonialen, zentral gesteuerten kulturellen Äußerungsformen. Der Pekinger Regisseur Chen Kaige hat dies in seinem Film HUANG TUDI (Gelbe Erde, 1984) anhand der Geschichte eines Offiziers dargestellt, der im Jahre 1942 auf der Suche nach Melodien aus Volksliedern durch das Land reist, um diese in das kommunistische Hauptquartier in Yan’an zu bringen und sie – unterlegt mit revolutionären Texten – von dort aus wieder in die Volksmassen zurückzutragen. Als Metamedium, das aufgrund seiner Distributionsstrukturen und seiner vermeintlich universalen Lesbarkeit eine breite Rezeptionsbasis fand und dabei in der Lage war, zur Bühne auch für andere Repräsentationsformen wie der Musik, der Malerei oder Lyrik zu werden, fand der Film in diesem Prozeß der Umwandlung einer traditionellen Volkskultur in eine industrielle Massenkultur fast zwangsläufig eine herausragende Beachtung. Damit hat er bereits wesentliche Elemente der soziopolitischen Funktion, die dem Fernsehen später zufallen sollte, vorweggenommen. In seiner privilegierten Rolle als Medium zur Kommunikation der herrschenden Ideologie war es also vor allem der Kinofilm, der das kommunistische China zu repräsentieren und seiner Bevölkerung das Bewußtsein der Zugehörigkeit zu der »vorgestellten Gemeinschaft«18 einer postkolonialen und

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. Dortmund 1996. Ders.: G F . a.a.O. 18 Vgl. hierzu das Nationenkonzept von Benedict Anderson: D E N .Z K K . a.a.O, das bei der Konstitution von Nationen von »vorgestellten GemeinC lautet auch der englische Originaltischaften« (I tel dieses Werks) ausgeht, die sich (medial) jeweils immer neu selbst erschaffen. 17 Vgl. Stefan Kramer: S SCHICHTE DES CHINESISCHEN

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ORTUNGEN postfeudalistischen chinesischen Nation zu vermitteln hatte. In den zahlreichen Filmen des zentralistisch gesteuerten sozialistischen Kinos wurde tatsächlich überwiegend ein Potpourri aus sozialistischen und nationalen Diskursen geboten, mit dem sich das Neue China (Xinhua ) gegen das Andere seiner feudalen Vergangenheit wie auch gegenüber dem vermeintlich Fremden der kolonialen Überlagerung abzugrenzen trachtete. Dabei benötigte das Modell des chinesischen Nationalstaats neben der Abgrenzung gegenüber seinem imaginierten Anderen und der Kommunikation territorialer, politischer, (multi-)ethnischer und ökonomischer Einheit aber ebenso die mediale Konstruktion einer historischen Kontinuität der Kultur und ihrer Entäußerungen. Die Narrationen der Filme des sozialistischen Kinos gingen zumeist aus von einem historischen Bruch, von einer Zweiteilung der chinesischen Geschichte in eine Jahrtausende lange feudale und eine kurze kommunistische Phase. Sie betonten allerdings in biographischen Heldenepen wie LI SHIZHEN (1956, R: Shen Fu ), SONG JINGSHI (1957, R: Zheng (1959, R: Junli und Sun Yu ) oder LIN ZEXU Zheng Junli und Cen Fan ) immer wieder die sich durch die gesamte chinesische Geschichte ziehende revolutionäre Energie der »unterdrückten Volksmassen«. Die Hauptfiguren in Filmen wie BAIMAONÜ (Das weißhaarige Mädchen, 1950, R: Wang Bin und Shui Hua ) oder HONGSE NIANGZIJUN (Das rote Frauenbataillon, 1960, R: Xie Jin ), welche die Ereignisse um die kommunistische Staatsgründung von 1949 direkt ansprechen, haben diese »revolutionäre Tradition« in das 20. Jahrhundert fortgesetzt und sich unter der Führung der Kommunistischen Partei selbstverständlich gegen ihre Peiniger gewandt. Derartige Filme brachten schon damals die Grenzlinien zwischen Dokumentation und Fiktion ins Fließen und stellten sich selbst eher in die metaphorisch-visuelle chinesische Kulturtradition als in die Mimesistradition der visuellen Medienapparaturen. Die in ihren Fabeln zum Ausdruck gebrachte historische Kontinuität zeigte sich auch auf der formalfilmischen Ebene. Die Politik vereinnahmte die Volkskulturen wie ihre Medien und deren filmischen Rekonstruktionen un-

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VOM EIGENEN UND FREMDEN ter den technischen Bedingungen, den Raum-Zeit-Strukturen und mit der Ideologie der inzwischen hegemonialen sozialistischen Massenkultur. Erst durch die revolutionär eingefärbte filmische Rekonstruktion von Stücken wie SHIWU GUAN (Fünfzehn Schnüre Geld, 1956, R: Tao Jin ) und durch die Zugabe von filmischen Mitteln wie vor allem der emotionsträchtigen Großaufnahme und der Dramatisierung in Form der die Handlung beschleunigenden Montage konnten die traditionellen Dramen ihre Wirkung im Sinne der kommunistischen wie zugleich traditionell orientierten Diskurse entfalten und ihre »Wahrheit« in Form von deren lyrischmetaphorischer Diskursivierung herausbilden. Dennoch diente der Film, genausowenig wie er als Abbildungsmedium einer äußeren Realität, als Wahrheitsfiktion, evident wurde, nicht als bloßes Medium der Speicherung und Reproduktion von traditionellen Repräsentationssystemen wie dem Drama oder dem Schattenspiel. So hatten es die Pekinger Produzenten von DINGJUNSHAN im Jahre 1905 bei ihren Bemühungen um die Behauptung des eigenen Kulturguts gegenüber den kolonialen Bestrebungen ursprünglich noch beabsichtigt. Vielmehr konstruierten die chinesischen Filmschaffenden in ihren Neuanordnungen, die sie unter den medialen Bedingungen der Aufnahmetechnik und der Aufführsituation ihres Mediums montierten, aus dessen technisch-apparativen und ökonomischen sowie damit auch kulturellen Einschreibungen heraus in Wirklichkeit schon damals – bewußt oder unbewußt – eine neue Variante der Repräsentation des Eigenen. Dabei wurde in einer deutlichen Abgrenzung sowohl von den vermeintlichen Diskursen des historischen (Feudalherren) oder geopolitischen (Imperialisten) Anderen zwar nicht die Realität, wohl aber die nach einem vormodernen Verständnis im jetzt und hier der Wahrnehmung verortete Vorstellung von der eigenen Kulturtradition zum Teil des neuen hegemonialen Diskurses. Ebenso behauptete sich der Gedanke der Erneuerung und also auch der einer evolutionären Entwicklung, welcher die Medientechnik aus Europa nach China gebracht hatte, im Bewußtsein des chinesischen Eigenen und vermischte sich in den technisch-apparativen Äußerungen chinesischer Kultur auf



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ORTUNGEN die eine oder andere Weise mit dessen traditionellem Verständnis des Momentes und des Kontinuums. In der Realität des Kontaktes mit dem Fremden waren seit der Zeit des Kolonialismus und dem Einbruch ideologischer, wirtschaftlicher und kultureller Konstrukte des Westens in China die imaginären Grenzmarkierungen zwischen dem Eigenen und dem Fremden der chinesischen Kultur längst in beiden Richtungen überschritten und damit endgültig verwischt worden. 19 Ungeachtet dessen wurde aber in den Filmen, Bühnenstücken und der Literatur unter Mao Zedong nach wie vor die Vorstellung der sich durch Abgrenzung gegenüber dem Anderen definierenden und selbst zur dominanten sozialistischen Massenkultur entarteten chinesischen Volkskultur produziert. So wurde das nationale Bewußtsein auch auf der Ebene der formalen Gestaltung des Eigenen geprägt und bediente sich dabei – wie in postkolonialen Staaten oft beobachtet – unbewußt ausgerechnet derjenigen Strategien, gegenüber denen es seine Identität abzugrenzen trachtete. Tatsächlich waren es schließlich erst die mit einer Abwendung von der antikolonialen Dominanz der Politik und Kultur einhergehende wirtschaftliche Öffnungspolitik Deng Xiaopings seit 1978 sowie – bezüglich des Films – im Jahre 1983 die Filmkritikerin und Herausgeberin der Zeitschrift »Dianying Yishu« (Filmkunst), Yang Ni die mit ihrem Artikel ›Dianying shi dianying‹ (Film ist Film) 20 die Ästhetik der Bühnenkünste und somit die Festschreibungen der Differenz zwischen dem kolonialen Frem-

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W C . 19 Arthur Waldron etwa hat in seinem Buch: T G F H M (Cambridge, Mass. 1990) endgültig mit dem Mythos der Abgeschlossenheit Chinas abgerechnet und dessen beständigen, für seine Entwicklung unabdingbaren Austausch mit seiM nen Anderen nachgezeichnet. In ihrem Buch: T T (London 2000) indes haben die Archäologen J. P. Mallory und Victor H. Mair bereits für das zweite vorchristliche Jahrtausend Kontakte chinesischer Völker mit den sie umgebenden Kulturen nachgewiesen. 20 In »Dianying Yishu« ( ), 10/1983. Engl. Übersetzung: ›Film is Film‹. In: George S. Semsel (Hg.): C F T .AG N E . S. 59 – 75. HE

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VOM EIGENEN UND FREMDEN den und dem antikolonialen Eigenen ernsthaft in Frage stellten. Im Zuge der allgemeinen Versuche einer politischen Neuakzentuierung und Modernisierung der Kultur wurde damit ein neues Kapitel der Auseinandersetzung mit den filmischen Konventionen im Hinblick auf die kulturelle Konstruktion Chinas zwischen dem Eigenen und dem Fremden eingeleitet. Die daraufhin entstandenen Debatten gingen weit über die sie motivierenden Fragen nach Genre und Ästhetik hinaus. Sie trafen das kulturelle Selbstverständnis Chinas in seinem Mark. Das hatte auch für das sich gerade etablierende Fernsehen, das noch nach seiner kulturellen und soziopolitischen Position suchte, weitreichende Folgen. Das bedeutete allerdings noch längst nicht das Verschwinden der ästhetischen Konventionen des Theaters aus dem Film. Vielmehr war es der Versuch einer bewußten Harmonisierung der unterschiedlichen – chinesischen und europäischen – Konventionen dieser Medien in der Theorie wie in zahlreichen Werken, in die schließlich auch die visuellpoetischen Elemente von Kalligraphie und Malerei sehr viel unmittelbarer Eingang fanden als in den überwiegend von Polarisierungen geprägten acht Jahrzehnten Filmgeschichte zuvor. Es war der Versuch, eine Filmkunst zu schaffen, welche den apparativen Bedingungen dieses Mediums genauso gerecht werden sollte wie den Vorgaben eigener Kulturtraditionen und den Anforderungen der Moderne. Die Debatte über die grundsätzliche kulturelle Orientierung des sozialistischen Chinas nach Mao Zedong wurde allerdings nach der Niederschlagung der Demokratiebewegung von 1989 durch die ökonomische Dezentralisierung und die mit dem rasanten wirtschaftlichen Wachstum der neunziger Jahre einsetzende Medienvielfalt quasi überrollt. Mit ihr begann in den Medien Chinas eine zunehmende Auseinandersetzung mit dem »Westen« als wirtschaftlichem Partner einerseits, militärstrategischem wie kulturellem und ideologischem Widersacher andererseits. Sie nahm zum einen – etwa in den zentralstaatlichen Diskursen – nationalistische Züge an, brachte auf der anderen Seite aber auch globalistische Tendenzen und in deren Gefolge konträr neue Lokalismen hervor.

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ORTUNGEN Die Prozesse und Auseinandersetzungen um den Weg von Chinas Kultur zwischen einem importierten Modernismus und der an ihren Überlieferungen festhaltenden Wahrnehmung des Eigenen drückten sich schon bald nicht mehr ausschließlich in der Konfrontation zwischen Film und Bühnendrama aus. Vielmehr überlagerten sie auch die Debatten zwischen einer vormodernen, ausschließlich literarischen Schriftsprache und der an die Umgangssprache angelehnten – und somit einem sehr viel größeren Publikum zugänglichen – Gegenwartssprache in der Literatur. Die Konflikte um den Weg Chinas in die Moderne hatten im Umfeld um die Bewegung des 4. Mai 1919 zu einem radikalen Wandel der Literatur geführt und diese aus ihrer elitär autonomen Position innerhalb der Gesellschaft heraus in die öffentlichen Diskurse gebracht. Zudem wurde diese Popularisierung der Literatur bereits seit den 1870er Jahren von zunehmenden Zeitungspublikationen nach europäischem Vorbild begleitet. Sie verschaffte sich seit dem zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts in einer vielfältigen Publikationslandschaft Ausdruck. Dies löste zugleich eine verstärkte gegenseitige Bezugnahme der Medien und Repräsentations- wie Kommunikationssysteme aufeinander und eine sich in ihren gemeinsamen ökonomisch-ideologischen Ordnungsstrukturen ausdrückende inhärente Multimedialität aus. Der Film geriet neben seinen Referenzen auf die performativen Künste zugleich in die Nähe der teilweise nach westlichem Vorbild reformierten Erzählliteratur wie auch des importierten – mimetisch-literarischen – Sprechdramas. Bereits in den dreißiger Jahren wurden Erzählungen und Romane genauso wie moderne Bühnenstücke zu selbstverständlichen Vorbildern für den narrativen Kinofilm, der dem traditionellen Dramenfilm ein ökonomisch wie politisch immer mächtigeres Gegengewicht entgegenzustellen wußte. Zudem fand die Literatur in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zu narrativen Formen, welche visuelle Darstellungsweisen und kontinuierliche, abgeschlossene Erzählhandlungen bemühten, um ein breiteres Publikum ansprechen zu können und ihrem industriell-kommer-

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VOM EIGENEN UND FREMDEN ziellen Charakter gerecht zu werden.21 Sie wurden in ihrer Ästhetik zusehends filmisch und zu einem nationalen chinesischen Mitspieler der sich zentral von Europa und Nordamerika aus globalisierenden – fordistischen – Kulturindustrie. Die in immer größerem Ausmaß in ihrer politischen Bestimmung und ökonomischen Verortung miteinander verbundenen und sich ästhetisch aufeinander beziehenden Repräsentationssysteme Chinas prägten angesichts einer zunehmenden Macht der industriellen Medien in ihren offen ausgetragenen Auseinandersetzungen um das Eigene und das Fremde zusehends auch alle anderen Diskurse und medialen Diskursforen der chinesischen Gesellschaft. Sie trugen als Auseinandersetzung Chinas mit seinem Anderen wie vor allem als inhärente Beschäftigung Chinas mit sich selbst innerhalb der kulturellen und historischen Eigenkonstruktionen bis in die Gegenwart entscheidend zur Prägung aller künstlerischen und medialen Entäußerungen im Reich der Mitte bei. Neben den traditionellen chinesischen Kommunikations- und Repräsentationsformen wie der Schrift, Malerei und Kalligraphie sowie der Bühnenkunst und dem Film wurden dadurch auch die neueren technischen Medien geprägt; so etwa der bis dahin von der kommunistischen Regierung vor allem als nationales Proklamationsmedium eingesetzte und damit an die Stelle der kaiserlichen Herolde, nicht aber der unabhängigen Geschichtenerzähler und der fahrenden Schauspieler getretene Rundfunk. Der Pekinger Medienhistoriker Zhao Yuming beschreibt in seiner Rundfunk- und Fernsehgeschichte eindringlich die technischen und institutionellen Entwicklungen, welche im frühen 20. Jahrhundert dazu führten, daß die Menschen in China seit dem Jahre 1922, als in Shanghai jener erste amerikanische Radiosender und drei 21 Zur chinesischen Literatur der 1920er bis 1930er Jahre vgl. Merle C L M F E . Goldman (Hg.): M Cambridge, Mass. 1977. Zu den Verknüpfungen zwischen Film und Literatur in China vgl. Ellen Widmer und David Der-wei Wang (Hg.): M F J F . F F T F C . Cambridge, Mass. 1993. C ODERN

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ORTUNGEN Jahre später im nordostchinesischen Harbin das früheste chinesische Programm auf Sendung gingen, in immer größerem Umfang über ein terrestrisches Rundfunknetz mit Musiksendungen und Nachrichten versorgt wurden.22 Anknüpfend an die Schilderungen Zhao Yumings über die frühen Jahrzehnte des Rundfunks in China, legt Zhang Fengzhu in seiner Rundfunktheorie dar, wie die Radioanstalten zusehends als Sprachrohre der unterschiedlichen kolonialen und antikolonialen Regierungen an die Stelle der Herolde und Proklamatoren traten. Unter den wechselhaften politischen Situationen in China konnte das Radio nach der Gründung der ersten kommunistischen Sendeanstalt Die Stimme der Sowjetunion ( Sulian husheng) 1941 in Shanghai durch russische Verbündete im »Rundfunkkrieg« ( Dianbozhan) sowie des Rundfunks Neues China Yan’an ( Yan’an Xinhua guangbo diantai) der Achten Route Armee ( Balujun) aus dem Kommunistischen Hauptquartier in Yan’an im Jahre 1946 teilweise die Macht über die Information übernehmen. Die Rundfunkanstalten wurden allerdings nach der kommunistischen Staatsgründung im Jahre 1949 angesichts ihrer ideologischen Wirksamkeit, ihrer Kapitalintensität und ihrer anspruchsvollen technischen Strukturen jeweils die ersten Opfer der politischen Kampagnen und der Wirtschaftskrisen. Sie mußten immer wieder schwere Rückschläge in ihrer Entwicklung einstecken.23 Dem Radio ist es zu keinem Zeitpunkt gelungen, eine wirklich prägende Rolle bei der kulturellen und soziopoliti-

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22 Zhao Yuming :Z (Historischer Abriß des Rundfunks in China). a.a.O. Vgl. auch die beiden Materialsammlungen Zhao Yumings mit Regierungsbeschlüssen, Texten und Reden zur Rundfunk- und Fernsehpolitik in China: Z .W (Geschichte des Rundfunks und Fernsehens in China. Textsammlung). Peking 1993. Zudem mit neueren Texten: Z .W (Geschichte des Rundfunks und Fernsehens in China. Textsammlung). Peking 2000. 23 Zhang Fengzhu :Z (Rundfunkkunst in China). Peking 2000.

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VOM EIGENEN UND FREMDEN schen Neukonstruktion Chinas zu übernehmen und über die bloße zentralstaatliche Proklamatorenrolle hinaus eine nennenswerte identitätsstiftende Funktion zu erhalten. Daran vermochte auch die zeitweise flächendeckende Radiobeschallung der Dörfer, Städte und Arbeitseinheiten durch Lautsprecher, welche – anders als beim Fernsehen – eine Verbreitung von Empfangsgeräten in Privathaushalten nicht zwangsläufig notwendig machte, nichts zu ändern. Grund dafür ist neben seinem sprachlich wie inhaltlich vorwiegend regionalen Charakter auch seine lange Zeit anhaltende schlechte Infrastruktur, für die vor allem die dauerhafte Wirtschaftskrise in Maos China verantwortlich war. So ist das Radio schließlich unter der ökonomischen Liberalisierung in den 1980er Jahren, noch bevor es die ihm zugedachte Funktion wirklich hat ausfüllen können, vom »nationalen« Fernsehen, das innerhalb weniger Jahre zum Leitmedium aufsteigen konnte, quasi überrollt worden. Vor allem sind die Gründe für die vergleichsweise schwache gesellschaftliche Bedeutung des Radios aber darin zu finden, daß seine eigentliche dispositive Struktur, die vor allem in seinem privaten Gebrauch zu finden ist, in China, wo es zum Teil der öffentlichen Information, nicht aber auch zu einem Bestandteil des kollektiven Erlebens geworden ist, nie wirklich zum Tragen gekommen ist. Sie wäre unabdingbar gewesen für die Entfaltung seines Reizreichtums als nach Marshall McLuhan »heißes Medium« 24 und für die Erringung der Aufmerksamkeit seiner Rezipienten, aus denen sich erst seine Wirkung ergibt. Statt dessen blieb das Radio auf seine weitgehend regional beschränkte Proklamatorenrolle in öffentlichen Räumen reduziert und ist somit entgegen seiner eigentlichen Medialität überwiegend »kalt« geblieben. Es hatte dadurch niemals die Möglichkeit, dem mit emotionsträchtigem Reizreichtum, der kollektiven Erfahrung seiner Wahrnehmung, die gegenüber dem Alltag abgeschlossen ist, und einer starken Visualität aufwartenden Kino oder dem inhärent multimedial angeordneten Fernsehen, das sich in den Privathaus24 Marshall McLuhan: D

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. Dresden, Basel 1994.

ORTUNGEN halten etablierte und dabei seine eigenen BildschirmÖffentlichkeiten produzierte, ein nennenswertes Gegengewicht gegenüberzustellen.

Abb. 5 Dorflautsprecher in der Provinz Hebei (2003) Die Auseinandersetzungen um die Repräsentationen des Eigenen und des Anderen haben neben dem Kino also weniger das Radio als vielmehr vor allem die Entwicklung des Fernsehens geprägt. Sie werden sich auf die digitalen Bildschirmund Onlinemedien, welche mehr als alle ihre technischen Vorgänger in der Lage sind, sich fast selbstverständlich in die hochtechnisierte, kommerzialisierte und diversifizierte postsozialistische Gegenwart Chinas einzufügen, schon wieder sehr viel schwächer auswirken, wie bereits heute abzusehen ist. So wiederholen sich die Auseinandersetzungen um das Eigene und das Andere. Sie hatten in Chinas erstem – kolonialen – Modernisierungsschub im frühen 20. Jahrhundert vor allem die Literatur, das Theater und schließlich den Kinofilm geprägt. Unter den veränderten geopolitischen und 77

VOM EIGENEN UND FREMDEN geoökonomischen Bedingungen, denen sich Chinas Modernisierungsprozeß seit den achtziger Jahren zuzuordnen hat, wirken sie sich vor allem auf das Fernsehen und die Auseinandersetzungen um dieses Medium aus. Aufgrund der Entideologisierung und der sich verändernden ökonomischen Bedingungen wurden dem Rundfunk und dem Kino die staatlichen Subventionen, die beide seit den 1950er Jahren bis in das ländliche China gebracht hatten, seit den 1990er Jahren radikal gekürzt. Zugleich konnte das Fernsehen als weitaus ökonomischeres, leichter zu verbreitendes und durch seine Nutzungsstrukturen besser als das Kino mit seinem inhärenten Werkcharakter (welcher der chinesischen Bevölkerung weitgehend fremd geblieben ist) in den Alltag der Landbevölkerung integrierbares Medium rasch an die Stelle beider treten. Während der Rundfunk sich immer stärker auf Spartenprogramme (z.B. Sender, die speziell für Taxifahrer ausstrahlen) konzentriert und überwiegend lokal orientiert ist, ist das Kino inzwischen, abgesehen von wenigen Vorführstätten in den urbanen Metropolen, wieder weitgehend aus dem Alltag Chinas verschwunden. Das Fernsehen hat die gesellschaftlichen Funktionen von Rundfunk, Kino und den oralen und performativen Kommunikationsformen inzwischen übernommen. Gleichzeitig hat es die Kluft zwischen Stadt und Land, zwischen Eliten- und Volkskultur teilweise zu überwinden vermocht und deren Bewohner zu einer weitgehend einheitlichen Konsumentenschaft sozialisiert. Während das Fernsehen angesichts seiner gesellschaftlichen Leitfunktion durchaus auch von den politischen und kulturellen Eliten und der Stadtbevölkerung wahrgenommen wird und die Konkurrenz zwischen den vielfältigen Formen der Unterhaltung und Information dort mühelos beherrscht, hat es sich für hunderte Millionen Menschen in den vom Wachstumsprozeß und der Literarisierung des urbanen China noch immer weitgehend abgeschnittenen ruralen Gebieten zum häufig einzigen Medium der Unterhaltung, der Information und der über die face-to-face-Ebene hinausgehenden Kommunikation entwickelt.

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ORTUNGEN

Abb. 6 Bauer in der Provinz Hebei (2003) Die Bauern im ländlichen China haben häufig niemals in ihrem Leben ein Buch oder eine Zeitung gelesen oder gar einen Kinofilm gesehen, besitzen überwiegend aber Fernsehempfänger in ihren Haushalten, über welche sie an den Geschehnissen der Welt teilhaben. Das Fernsehen hat sich damit, betrachtet man die äußerst heterogenen Bedingungen der gesamten chinesischen Gesellschaft, konkurrenz- und historisch beispiellos zum gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leitmedium entwickelt. Seine flächendeckende Verbreitung hat eine Situation herbeigeführt, in der erstmals in der chinesischen Geschichte nahezu die gesamte Bevölkerung gleichzeitig und unter vergleichbaren medialen und dispositiven Bedingungen sowie unter Verwendung eines einheitlichen Kodierungssystems an denselben Informationen sowie Wissens- und Bedeutungsdiskursen teilzuhaben vermag.25

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VOM EIGENEN UND FREMDEN In der kulturellen Verortung des Fernsehens spiegeln sich seit seiner Einführung im Jahre 1958 und seiner massenmedialen Verbreitung seit den 1980er Jahren zahlreiche der theoretischen und politischen Diskurse wider, welche im frühen 20. Jahrhundert die Künste und Kommunikationssysteme mit dem Blick auf das Ausland wie auf die eigenen vortechnischen Repräsentationssysteme quasi vom Reißbrett aus konstruiert und eingesetzt hatten. Dabei vermochte keiner von ihnen auf eine Vorgeschichte und historische Kontinuität der technischen Medien zurückzublicken, auf denen sie hätten aufbauen können. Darüber hinaus haben sich verstärkt auch die technischen Vorgängermedien des Fernsehens, die Photographie und der Film genauso wie die Telegraphie und das Radio, mit ihren dispositiven Eigenschaften selbst in seine Medialität eingeschrieben und sind in ihrem Dialog mit den vortechnischen Kommunikationsformen zu seinem unabdingbaren Teil geworden. Im Fernsehen finden sich Bestandteile der bildenden Künste und der Photographie, so die Bildgestaltung oder die Farb- und Lichtgebung, genauso wieder wie szenische Handlungen, Figurenkonstellationen und Raumgestaltungen des modernen Theaters oder metaphorische Kodierungsmuster und Konventionen des traditionellen Dramas. Zudem haben alle diese Elemente, bevor sie diskursiv vom Fernsehen angeeignet worden sind, den Filter des Kinos durchgemacht. Sie sind dort neu angeordnet und mit zusätzlichen Elementen angereichert worden, bevor sie schließlich als mehrfache Übersetzung und mediale Aneignung in das Fernsehdispositiv Eingang fanden. Gleichzeitig haben die technischen Medien mit ihren massenmedialen Eigenschaften unter dem Einfluß des Metamediums Fernsehen inzwischen auch ihrerseits entscheidenden Einfluß auf die kulturellen und sozialen Prozesse im Reich der Mitte genommen und dort, etwa durch ihre strukturelle Unbedarftheit gegenüber nationalen Grenzziehungen, kulturelle Tatsachen geschaffen, 25 Vgl. hierzu die Ergebnisse der quantitativen und qualitativen empirischen Publikumsuntersuchungen in meiner demnächst erscheinenF . a.a.O. den Publikation: D AS CHINESISCHE

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ORTUNGEN welche die hegemonialen Ziele der nationalen Politik tragen wie zugleich zusehends infrage stellen. Mit dem bewußten kulturellen Kontakt zum europäischen Anderen wurde unter dem Druck der ökonomischen und militärstrategischen Überlegenheit von Chinas Gegnern mit einem Mal der tradierte kolonialistische Anspruch seines kulturellen Selbstverständnisses durch ein – bis heute in zahlreichen Diskursen Chinas kaum anerkanntes – Prinzip der Gleichberechtigung abgelöst und dieses zeitweilig sogar in die Rolle einer kolonisierten Empfängerkultur gedrängt. Zugleich wurden die Diskurse der Kulturen Chinas und über die chinesische Kultur außerhalb und innerhalb des Fernsehens und seiner Vorgänger als Speicher- und Kommunikationsmedien zwischen den europäischen Fremdherren der Kolonialzeit und ihrer ideologisch-kulturellen Hinterlassenschaft bis hin zum ökonomischen Transnationalismus der Gegenwart und den unterschiedlichen – traditionalistischen oder modernistischen – chinesischen Wegen von deren Bewältigung ausgetragen. Die technischen Medienapparaturen und deren Dispositive kennzeichnen sich unübersehbar als Kulturimporte, die sich von ihrer technisch-ästhetischen wie ökonomischen Struktur, ihren ideologisch-kulturellen Anordnungen und nicht zuletzt ihren Distributionsbedingungen und Wahrnehmungsformen her zunächst grundlegend von allen vorherigen Medien chinesischer Repräsentation unterschieden. Anders als in Europa, in dessen kulturelle Tradition und Industrialisierung sie sich »natürlich« einfügten, hatten sie von einem auf den anderen Tag ihre seit Jahrhunderten fixierten eigenen Standorte aufs Neue zu bestimmen. Frei von einer industriellen Vorgeschichte der Medien, welche etwa in Deutschland die Typographie über Jahrhunderte hinweg zum Leitmedium bestimmt hatte, blieben dem Fernsehen in China allerdings auch jene Kulturkritik und der Zwang zur Legitimation gegenüber seinen Vorgändermedien erspart. Dieser hat zwar nicht seine industrielle Verbreitung, wohl aber seine kulturelle Anerkennung in Europa teilweise erheblich behindert.

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VOM EIGENEN UND FREMDEN

Abb. 7 Dorf mit TV-Empfangsschüsseln in der Provinz Hainan (2003) Nachdem das Fernsehen im Mai 1958 mit der Gründung des ersten Fernsehsenders in dem nach der Machtergreifung von den Kommunisten unter Mao Zedong zur Hauptstadt ernannten Peking seine Geburtsstunde in China erlebt hatte, wurde es schon bald sowohl zum Konstrukteur der politischen Selbstdefinition dominanter Diskurse wie auch zu deren Kommunikationsmittel. Allerdings konnte es seiner Funktion als Massenmedium der Verlautbarung und als Kommunikator von Wissen und Sinn, als das es in Europa und Nordamerika bereits im Zuge der gesellschaftlichen Neuordnung seit den 1950er Jahren angetreten war, in China erst seit den achtziger Jahren gerecht werden. Damals lockerten sich im Zuge der politischen und wirtschaftlichen Liberalisierung Deng Xiaopings die Bestimmungen für die Fernsehnutzung. Gleichzeitig führte die verbesserte Versorgung mit Sendegeräten in den Kommunen und schließlich auch in Privathaushalten zu einem großflächigen Eindringen des Fernsehens in die Fami-

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ORTUNGEN lien. Dies war der Startschuß für den Medienwandel, welcher auch die Öffentlichkeiten Chinas allmählich neu anordnete. Unter den Bedingungen raschen Wirtschaftswachstums und einer sich vor allem auf das Fernsehen konzentrierenden zentralen Informationspolitik wurde bereits im Verlauf der 1990er Jahre eine annähernde Vollversorgung mit Fernsehgeräten erreicht. Ein dichtes Netz von terrestrischen und Kabelsendern vom zentralen Staatsfernsehen CCTV über die zahlreichen Provinzsender bis hin zu lokalen Anbietern und Spartenkanälen versetzte die Fernsehlandschaft Chinas in die Lage, dem Publikum ein breites Programm und eine sich zentral sowie regional und lokal diversifizierende hegemoniale »Wahrheit« anzubieten. Diese hat sich auf der Grundlage sowohl der lyrisch-visuellen Diskurse aus der und über die chinesische Kulturtradition wie auch der mimetischen Abbildungseigenschaften der technischen Medien durch die Metaphorisierung derselben und ihrer Inhalte als drittes, durchaus Eigenes, konstituiert und in die Gesellschaft des gegenwärtigen China eingeschrieben. Hinzu kommen einige – über Satelliten empfangbare – ausländische Sender wie CNN, VOA oder die aus Hongkong nach China ausstrahlenden CTN (Chinese Television Network) mit einem Nachrichten- und einem Unterhaltungsprogramm, dem breit gefächerten STAR TV, das vor allem mit seinem Sportprogramm und einem Spielfilmprogramm in China erfolgreich ist, und dem Sender Phoenix TV ( Fenghuangtai). Deren Empfang ist allerdings aufgrund des Verbots der Installation privater Satellitenempfänger nur wenigen Haushalten, etwa von Universitätsangehörigen oder politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträgern, vorbehalten, deren »Einheiten« ein besonderes Interesse an einer breiten Information haben und daher über die entsprechenden Empfangsanlagen verfügen.26

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26 Zum Satellitenfernsehen in China vgl. Hu Zhengrong :W (Satellitenfernsehen und -rundfunk). Peking 1997, der die Entwicklungen in China mit denen in anderen Staaten vergleicht, Untersuchungen in verschiedenen Provinzen Chinas vornimmt und zudem die staatlichen Bestimmungen und Gesetze Chinas zum Satellitenfernsehen und -rundfunk auflistet. DIANSHI CHUANBO

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VOM EIGENEN UND FREMDEN So konnten sie bisher – wie von der Regierung beabsichtigt – keine nennenswerte Rolle bei der gesellschaftlichen Konstitution und Selbstbeschreibung Chinas übernehmen.

Aufbruchseuphorie und Krise (1958 – 1978) Hongkong startete seinen Weg in Richtung einer Fernsehgesellschaft mit der Inbetriebnahme eines ersten Senders durch die Lidi Co. im Jahre 1957. In der wirtschaftlich aufstrebenden britischen Kronkolonie zeichnete sich schon damals sehr bald eine flächendeckende Versorgung der Privathaushalte ab. Auf dem planwirtschaftlich regierten chinesischen Festland dagegen verliefen die Entwicklungen sehr viel langsamer. Dort sah sich das Fernsehen sehr viel stärkerem politischem und kulturellem Widerstand gegenüber. In der Hauptstadt Peking ging am 1. Mai 1958 der Sender Peking TV ( Beijing dianshitai, BTV) auf Sendung, der später in den zentralen Staatssender China Central TV ( Zhongyang dianshitai) umgewandelt wurde. BTV markierte damit den technisch-institutionellen Startpunkt des chinesischen Fernsehens einige Monate vor dem Sendestart des ersten taiwanesischen Senders am 10. Oktober 1958, wie die Pekinger Chronisten zu betonen wissen.27 Möglich geworden waren die Inbetriebnahme dieses Senders sowie am 1. Oktober desselben Jahres des Shanghai TV ( Shanghai dianshitai) und am 20. Dezember 1958 des Harbin TV ( Haerbin dianshitai), der später in den Provinzsender Heilongjiang TV ( Heilongjiang dianshitai) umgewandelt wurde, vor allem durch die technische und personelle Unterstützung seitens der »sozialistischen Bruderstaaten« in Osteuropa, vor allem der Sowjetunion. Zur Zeit der frühen Sendergründungen unterhielt China noch keine eigenen fernsehtechnischen Produktionskapazitäten und konnte zudem weder das notwendige Kapital noch

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27 Guo Zhenzhi: Z Fernsehens). S. 4.

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(Geschichte des chinesischen

ORTUNGEN das Know how für die Entwicklung der Infrastruktur für das neue Medium aufbringen. Diese Lücke füllten zunächst die osteuropäischen Partnerstaaten auf. Diese stellten China quasi das komplette Equipment für die Erstausstattung seines Fernsehsystems bereit. Infolge des groß angelegten »Expertenaustauschs« gelangte damals auch das technische Wissen zu deren Handhabung vor allem aus Moskau nach China. Mit Hilfe der ausländischen »Experten« sowie nach Studienund Fortbildungsaufenthalten chinesischer Wissenschaftler und Techniker in Osteuropa konnten zudem neben den Importmodellen bereits 1958 auch erste chinesische Ausstrahlungsgeräte für Fernsehprogramme – damals unter der Bezeichnung »Fasheji« (wörtl.: Ausstrahlungsmaschine) – der Marken Banner ( Qizhi) in Tianjin sowie Peking ( Beijing) in der Hauptstadt und zwei Jahre später der Marke Shanghai ( Shanghai) in der Hafenstadt am HuangpuFluß produziert werden. Das Fernsehen kam von seiner Ordnungsstruktur und technischen Anordnung wie vor allem von seinen voraussichtlichen Nutzungsbedingungen her den Zielen des chinesischen Staatsaufbaus sehr viel eher entgegen als alle anderen – nicht-technischen – Medien der chinesischen Kultur. Es entsprach den Regierungsvorstellungen von einer revolutionären nationalen Kommunikation aber auch eher als das Kino. Dieses nahm zwar in den Anfangsjahren des jungen Staats eine bedeutende Rolle bei der kommunistischen Mobilisierung ein. Es fand seine Verbreitung aber noch immer vor allem durch Vorführtrupps, die durch das überwiegend rurale China reisten, und ließ daher nicht auf jene Unmittelbarkeit der Kommunikation hoffen, welche das »Übertragungsmedium« des Fernsehens im Hinblick auf eine kontinuierliche Kommunikation zentral gesteuerten Wissens verhieß. Auch bei ihren Bemühungen um eine strukturelle Dezentralisierung und Verlagerung der Entscheidungsverantwortung in den ökonomischen und soziopolitischen Prozessen von der Pekinger Regierungszentrale hin zu den Provinzen und lokalen Regierungen war die Zentralregierung daher nicht bereit, auf die abschließende Kontrollmacht zu verzichten.



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VOM EIGENEN UND FREMDEN Die forcierte Entwicklung der Fernsehstrukturen in China hatte neben der Inszenierung wie Kommunikation des angestrebten und erst auf der medialen Ebene an Realität gewinnenden »Sprungs in den Kommunismus« auch den technischen Wettlauf mit den Nationalisten Chiang Kaisheks auf Taiwan wie auch mit der Sowjetunion im Auge. Er ging um die Industrialisierung des Landes und die Errichtung eines technischen Systems der Kommunikation und Kultur. Vor allem die möglichen, in China erst angedachten medialen Strukturen des Fernsehens, sein Öffentlichkeitscharakter genauso wie seine Verankerung im privaten Raum und nicht zuletzt seine Wahrnehmungsbedingungen, welche die Zentralperspektivität des Kinos, die Entwicklungslinearität seiner Programme und deren Werkcharakter aufbrachen, ließen die kommunistische Regierung auf die immensen Möglichkeiten der »Volkserziehung« und der Konstruktion einer – wie auch immer gearteten – sinifizierten kommunistischen Volkskultur durch das Fernsehen hoffen. Die flächendeckende Einführung des Fernsehens und dessen angestrebte Entwicklung zum Leitmedium der hegemonialen chinesischen Diskurse waren hinsichtlich dieser politischen Pläne mit dem Fernsehen als der »Große Sprung der Rundfunkarbeit« ( Guangbo gongzuo dayuejin) während der »5. Nationalen Konferenz zur Rundfunkarbeit« ( Diwuci quanguo guangbo gongzuo huiyi) im April 1958 verabschiedet worden. Sie hatten zugleich den politischen Anlaß für die Errichtung der ersten Sender gegeben. Davon versprachen sich Mao Zedong und die Kommunistische Partei in langfristiger Hinsicht ein zusätzliches Sprachrohr ihrer Politik mit einem in der Spezifik seiner apparativen Medialität begründeten Propagandanutzen. Zudem hofften sie, mit Hilfe des Fernsehens einen Vorsprung im technologischen Entwicklungswettstreit mit Taiwan zu erringen, das sich derweil an die Entwicklungen in Nordamerika ankoppelte und dem kommunistischen China daher in dieser Hinsicht tatsächlich schon bald weit überlegen war. Die drei frühen Sendergründungen in China zur Zeit des Großen Sprungs hatten in Wirklichkeit nicht die erhoffte

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ORTUNGEN Wirkung einer medieninfrastrukturellen Initialzündung, die notwendig gewesen wäre, die ehrgeizigen Pläne mit dem Fernsehen zu verwirklichen. Der politische Bruch Chinas mit der Sowjetunion im Jahre 1958 und seine darauf folgende Isolation führte zur Einstellung des Technikexports von Moskau und den sozialistischen Staaten Osteuropas nach China und der Beendigung des Expertenaustauschs. Das trieb China in seine schwerwiegendste Wirtschaftskrise seit der Gründung der Volksrepublik. In dieser Zeit konnten auf der technischen Basis der vorhandenen Sendeeinrichtungen und selbst produzierten Empfangsgeräte zwar weiterhin in eingeschränktem Rahmen Fernsehprogramme gesendet werden. Eine Weiterentwicklung der Sendetechnik war aber unmöglich geworden. Dies bedeutete, daß China bis zu seiner wirtschaftlichen Öffnung ab dem Jahre 1978, während die Entwicklung in Europa, Nordamerika und vielen Konkurrenzstaaten Asiens inzwischen weit voranschritt, seine Fernsehprogramme fast ausschließlich mit der bis 1958 importierten Technik produzieren und senden mußte. Die Aufnahme- und Sendeeinrichtungen des Fernsehens blieben trotz verschiedener Versuche einer eigenen Produktion, mit denen man der Isolation entgegentreten wollte, auch über die Wirtschaftskrise hinaus von den wenigen verbliebenen Importen abhängig. Alle Sender sind nach der wirtschaftlichen Öffnung Chinas im Jahre 1978 überwiegend mit dem Equipment der führenden Hersteller auf den transnationalen Märkten ausgerüstet worden. Nachdem bereits im Frühjahr 1955 die Einrichtung eines Fernsehsenders in den laufenden Fünfjahresplan aufgenommen worden war, schufen die ersten Sendergründungen und Maos Politik der »Drei roten Banner« ( Sanmian hongqi)28 unter den Krisenbedingungen des Jahres 1958 im-

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28 Zu den »Drei roten Bannern«, die auf dem 2. Plenum des VIII. Zentralkomitees der Kommunistischen Partei im Mai 1958 sowie auf der Beidaihe-Konferenz des Zentralkomitees im August desselben Jahres als Antwort auf die stärker werdende Kritik an der Politik und Person Mao Zedongs beschlossen wurden, vgl. Roderick MacFarquhar: C R . Bd. 1, New York 1974. T O HE

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VOM EIGENEN UND FREMDEN merhin bereits die politischen Voraussetzungen für die forcierte Einrichtung dieses neuen Mediums als Instrument der ideologischen Propaganda und als Sprachrohr der dominanten Diskurse. Die Einführung der »Drei roten Banner«, also der Volkskommunen ( Renmin gongshe), einer arbeitsintensiven Entwicklungspolitik sowie des »Großen Sprungs vorwärts« ( Dayuejin), stand damals eng mit dem Bruch mit der Sowjetunion und der daraus erwachsenen Paranoia hinsichtlich ausbleibender Unterstützung aus dem Ausland und einer möglichen Invasion Chinas – sei es durch die USA oder durch die UdSSR – in Zusammenhang. Sie sollten die nach einem Jahrzehnt des sozialistischen Staates nach wie vor existierende Divergenz zwischen Agrarwirtschaft und Industrie abbauen und vorzeitig die geplante kommunistische Gesellschaft nach den Idealen Mao Zedongs verwirklichen. Dabei wurde das Fernsehen, dem eine wichtige propagandistische Funktion in der Kommunikationspolitik der »Drei roten Banner« zufallen sollte, durch seine offizielle Kategorisierung als Produkt des »Großen Sprungs vorwärts« ( Dayuejin de chanwu) letzterem auch unmittelbar zugeordnet und sollte daher von der Regierung in seiner Entwicklung entsprechend begünstigt und subventioniert werden. An eine rasche Ausweitung der Medienproduktion und -distribution und den technischen und institutionellen Ausbau des Fernsehens zum Leitmedium war aber unter den Bedingungen der Wirtschaftskrise und der Isolation Chinas in der Weltpolitik und den globalen Wirtschaftskreisläufen zunächst nicht mehr zu denken. Die Träume vom hegemonialen politischen Massenmedium waren in den Anfangsjahren des Fernsehens in China bald wieder in weite Ferne gerückt. In Wirklichkeit blieb das Fernsehen zwei Jahrzehnte lang auf dem Stand einer technischen Attraktion für einen eingeschränkten Kreis von Regierungsmitgliedern und Parteikadern auf zentraler und regionaler Ebene sowie für zahlende Zuschauer in den wenigen Ballungsräumen, die bereits mit Empfangsgeräten versorgt waren. Dabei fanden die Vorführungen in den eigens zu diesem Zweck zentralperspektivisch bestuhlten, zu angekündigten Zeiten und in aller Regel auf Spielfilmlänge angesetz-

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ORTUNGEN ten öffentlichen Vorführstätten unter Raum-Zeit-Konstellationen statt, welche zunächst weitestgehend dem Kino nachempfunden waren. Sie trugen dem Fernsehen, dessen spezifischer Charakter und eigene Dispositivität seiner Wahrnehmung noch lange Zeit kaum zur Kenntnis genommen wurden oder deren Durchsetzung den sich zusehends verschlechternden ökonomischen Bedingungen zum Opfer fielen, also nicht zufällig den Ruf als »Kleine Kinos« ( Suoxing yingjuyuan)29 ein.

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Die anfangs angesichts der noch nicht nach China gelangten Videotechnik noch fehlenden Speichermöglichkeiten des Fernsehens und seine in jeder Hinsicht noch unzulängliche technisch-strukturelle Ausstattung zwangen die frühen chinesischen Sender dazu, ihr Programm zunächst auf nur wenige Stunden täglicher Sendezeit zu reduzieren, in denen Nachrichten (10%) sowie Liveübertragungen von Theateraufführungen (15%) und vor allem Spielfilme (75%) gesendet wurden. Die Umformatierung der Kinoprogramme auf Fernsehnormen sollte nach den Plänen der kommunistischen Regierung, aus der sich insbesondere der Premierminister Zhou Enlai bis hin zur aktiven Teilnahme an den Produktionen des Pekinger Senders für den Ausbau des Fernsehens engagierte, dazu beitragen, daß das neue Medium schon bald die mobilen Kinovorführeinrichtungen weitgehend ersetzen könne. 30 Die Aufführsituationen wurden exakt den Kinovorführungen nachempfunden: Die in aller Regel abends – und somit in Anpassung an die auch in China industrialisierten Arbeitsprogramme und Tagesabläufe – in öffentlichen Gemeinderäumen anberaumten »Fernsehveranstaltungen« wurden mit Plakaten angekündigt und einem zahlenden Publikum zugänglich gemacht. Dieses bekam für sein Geld – den

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29 Vgl. Guo Zhenzhi. S. 6. .W 30 Vgl. Zhao Yuming :Z (Geschichte des Rundfunks und Fernsehens in China. Textsammlung). S. 1 – 44: ›Zhou Enlai tongzhi yu guangbo dianshi‹ (Genosse Zhou Enlai und der Rundfunk/das Fernsehen).

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VOM EIGENEN UND FREMDEN »Wochenschauen« des deutschen Kinos ähnlich – Nachrichtensendungen und im Anschluß daran jeweils einen Spielfilm oder eine Live gesendete Dramenvorführung zu sehen. Das Fernsehen orientierte sich dabei ausschließlich am Vorbild des Kinos, das in den fünfziger Jahren trotz seiner bis dahin sechzigjährigen Geschichte in den Metropolen Chinas für die weitesten Teile des überwiegend ruralen Staates noch immer eine neue Kunstform darstellte. Abhängig von Sendekabeln, die erst später einer terrestrischen Verbreitung wichen, besaß es zunächst nicht die Mobilität, welche das Kino aus den Metropolen heraus bis in entlegenste Gegenden Chinas getragen hatte. Entgegen den Bestrebungen, es zum wirklichen Massenmedium auszubauen, hielten sich auch beim frühen Fernsehen in China die technische Attraktion sowie der Unterhaltungswert und politische Propagandanutzen in etwa die Waage. Während das Radio mit seiner Hauptfunktion der Information und Verlautbarung von Wissen von der Zentrale über die Provinzregierungen in die Städte und die Arbeitseinheiten, auf die Marktplätze und in die Gemeindesäle der Dörfer unmittelbar die machtkommunizierende Rolle der Herolde aus der vortechnischen Mediengeschichte Chinas übernommen hatte, stellten sich das Kino und seine technische Extension, auf deren Funktion sich das Fernsehen zunächst noch beschränkte, vor allem in die Unterhaltungstradition der fahrenden Geschichtenerzähler und lokalen Dramentruppen. Diese waren Jahrhunderte lang die bedeutendste Quelle der Unterhaltung und wichtigsten Vertreter der chinesischen Volkskulturen gewesen, welche sich ungeachtet zahlreicher Verknüpfungspunkte scharf gegenüber der elitären Literatur, Kalligraphie und Malerei abgrenzten. Das Fernsehen trat mit seinem in China entgegen seiner eigentlichen Dispositionen noch lange Zeit weitgehend geschlossenen Ereignis- und Werkcharakter und der Öffentlichkeit seiner Aufführungen zunächst in die Tradition der Theatertruppen und der mobilen Filmvorführtrupps. An seinen grundlegenden Programmstrukturen, die sich weitgehend am Kinovorbild orientierten, änderte sich lange Zeit nichts We-

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ORTUNGEN sentliches. In den frühen sechziger Jahren wurden die Spielfilmanteile auf 50% zurückgenommen und vor allem durch Dramenaufführungen (30%) ersetzt. Ergänzt wurden sie durch etwa 20% Nachrichten und Informationsprogramme. Dabei waren sie nach wie vor nur wenige Stunden täglich auf Sendung und konnten kaum eine nennenswerte Zuschauerzahl aufweisen. Während dessen wurde der Schwerpunkt der Fernseharbeit trotz der Wirtschaftskrise und der ausbleibenden Technikimporte gemäß der Entwicklungs- und Dezentralisierungspolitik des »Großen Sprungs« vor allem auf den strukturellen Ausbau gelegt. Bis zum Jahre 1960 waren den drei Sendergründungen des Jahres 1958 weitere 26 gefolgt, und im Jahre 1963 zählte das kommunistische China insgesamt 36 Sendeanstalten. Im selben Jahr betonte Mao Zedong ein weiteres Mal die herausragende Position, welche dem Fernsehen als Instrument der kommunistischen Propaganda innerhalb und außerhalb Chinas künftig zukommen sollte. Hierzu gab er die Losung: »Von Peking aus in die Welt« ( , Lizu Beijing, mianxiang shijie) aus und bekräftigte damit zugleich die zentralen Ansprüche auf das von seiner Struktur her deregulative und von Mao selbst den Dezentralisierungsbestrebungen des Großen Sprungs unterworfene Medium.31 In der praktischen Durchführung von Maos politischem Kampfaufruf ließ sich der hoch angesetzte Anspruch an das Fernsehen noch Jahrzehnte lang nicht verwirklichen. Durch ihn sollte sich die formal dogmatische und streng ideologisierte Kulturpolitik Maos, welche seit seinen richtungweisenden Reden bei der »Aussprache in Yan’an über Literatur und Kunst« ( Zai Yan’an wenyizuotanhui shang de jianghua)32 im Jahre 1942 die Entwick-

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31 Zur Fernsehpolitik der KPCh in den fünfziger und sechziger Jahren vgl. auch die Parteiproklamation: ›Zhonghua Renmin Gongheguo de guangbo dianshi shiye‹ (Zum Rundfunk und Fernsehen in der Volksrepublik China). In: Z (Historischer Abriß zum Rundfunk und Fernsehen in China). Peking 1989. 32 Die Gespräche, von denen insbesondere die Eröffnungs- und die Abschlußrede Maos auch für die Entwicklung des Fernsehens von GUANGBO

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VOM EIGENEN UND FREMDEN lung von Literatur und Film in Richtung ihrer staatspolitischen Funktionalisierung beschleunigt hatte, dem neuen Medium zuwenden. Dieses versprach eine beispiellose Öffentlichkeit und Nutzungssituation. Die dem Fernsehen zugedachte Rolle als »Transmissionsriemen des parteilichen Willens« und dessen Reduzierung auf seine Funktion als Instrument und Sprachrohr dominanter Diskurse, in die es nun hineingepreßt werden sollte, mußte – mehr noch als im Falle der Literatur und des Films, denen die »Yan’an Reden« ursprünglich gegolten hatten – tatsächlich an dem Scheitern seines Ausbaus zum Massenmedium nach dem Bruch mit der Sowjetunion zu Fall kommen. Die Kinolandschaft in China in den sechziger Jahren entwickelte sich rasant. Dieses von der Regierung hoch subventionierte »Leitmedium« konnte selbst unter den schwierigen Aufführungsbedingungen der mobilen Vorführeinrichtungen mit vergleichsweise hoher visueller und auditiver Qualität aufwarten und das Publikum mit teilweise recht aufwendigen Produktionen ansprechen. Dagegen offenbarte sich das Fernsehen in seinem damaligen Entwicklungsstadium als technisch noch weitreichend unausgereift. Es war weit von der Ausschöpfung seiner medialen Möglichkeiten entfernt. Es hatte seine eigenen Qualitäten noch nicht erkannt, konnte dem Kino durch dessen Nachahmung aber auch keine wirkliche Konkurrenz bieten. Das Fernsehen war noch immer ausgeschlossen von den ihm eigentlich eingeschriebenen RaumZeit-Eigenschaften, welche die Zentralperspektivität des Kinos in seinen eigenen Wahrnehmungsdispositionen einer Nutzung im heimischen Wohnzimmer mit den dabei entstehenden multiplen intra- und intermedialen Kontextualisierungsebenen sowie der ständigen Kommunikation der Fernseh- mit der Alltagswahrnehmung seiner Zuschauer wieder hätte auflösen sollen. Zudem war es noch weit entfernt von Bedeutung sind, indem er in ihnen sein Kulturmodell vorstellte und gleichzeitig dessen Durchsetzung mit gewaltsamen politischen Mitteln ankündigte, liegen in deutscher Übersetzung vor: Mao Zedong. W . Bd. 3. Peking 1969, S. 75 – 110. Vgl. dazu BonA ’ T Y ’ C L nie S. McDougall: M Z A . Ann Arbor 1980. USGEWÄHLTE

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ORTUNGEN der ihm zugedachten privaten, zeitlich nahezu unbegrenzten Nutzbarkeit, welche ihm die starre, werkorientierte Kinosituation seiner Vorführungen verbat. Indem das Fernsehen sich, anstatt seine eigenen medialen Charakteristika auszuspielen, damals noch überwiegend am Kino orientierte, traten seine Mängel gegenüber diesem und dem Rundfunk nur noch deutlicher zutage. Das Fernsehen konnte seine Kinofunktion lange nicht überwinden. Genauso wenig hatte bis zu jenem Zeitpunkt auch der Hörfunk seine öffentliche Rolle als Proklamator auf den Dorfplätzen und in den Gemeindesälen überwinden können. Er hat es nicht vermocht, in die privaten Haushalte einzudringen und unter die Mitbestimmung der Familie und des Einzelnen zu geraten, unter derer er neue, auch widerständige Öffentlichkeiten hätte konstituieren und seinem medialen Charakter gerecht werden können. Gegenüber dem Fernsehen war er aber immerhin schon damals in der Lage, die Dörfer und Städte Chinas mit nur wenigen Empfängern über Lautsprecher flächendeckend und in zeitlicher Abstimmung auf die Arbeits- und Freizeitabläufe mit Regierungsdirektiven und Musikunterhaltung zu beschallen, die von den Arbeits- und Lebenseinheiten ( Danwei) allerorten angebracht worden waren. Damit schuf der Rundfunk bereits einen Vorbildcharakter für die politische Funktionalisierung des Fernsehens. Er schrieb sich in das Selbstverständnis der Menschen ein, indem er sie morgens mit seinen Nachrichten und revolutionären Liedern weckte, sie mit selbigen auf dem Weg zur Arbeit begleitete, ihre Pausen ausfüllte und ihnen, wie auch gegenwärtig in den großen Fabriken, den Schulen oder auf den Universitätscampussen und in zahlreichen Dörfern noch üblich, den Feierabend mit Musik und Informationen »versüßte«. Seine somit erlangte Macht über die auditive Ebene des Lebens und somit zumindest auch über Teile des Bewußtseins der Bewohner ganzer Dörfer, Arbeitseinheiten und gar Städte, welche flächendeckend mit zentral gesteuerten Lautsprechern ausgestattet wurden, sollte nach dem Willen der Regierung zugleich zum Modell für die Bilder des Fernsehens werden. Dieses sollte zudem die visuellen

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VOM EIGENEN UND FREMDEN Sinneseindrücke der Menschen in China und damit deren Realitätswahrnehmung schlechthin besetzen. Um eine mit dem Hörfunk vergleichbare Funktion der Unterhaltung, Information und Kommunikation des politischen Willens erfüllen zu können, benötigte das Fernsehen, wie es den politischen Entscheidungsträgern schon bald bewußt wurde, angesichts der damaligen Unmöglichkeit seiner sekundären Weitervermittlung zwangsläufig eine flächendeckende Verbreitung mit Empfangsgeräten nicht nur an öffentlichen Orten, sondern auch in den Privathaushalten. Dies waren die Politik und Wirtschaft Chinas damals allerdings noch längst nicht zu leisten imstande. Auf der anderen Seite hat das Eindringen des Fernsehens in den privaten Bereich, als es dann Jahrzehnte später zum Alltag wurde, unausweichlich auch ganz neue Formen von Öffentlichkeit mit sich gebracht, welche dem ursprünglichen Gedanken der zentralistischen und stark regulierten Macht über die Wahrnehmung teilweise sogar diametral gegenüber standen. Das nach Marshall McLuhan »heiße Medium«33 Kino, welches neben dem Hörfunk als zweites Referenzmedium für das Fernsehen herhalten mußte, zeichnete sich gegenüber dem »kühlen Medium« Fernsehen mit einer hohen visuellen und auditiven Dichte und Aufführqualität sowie seinen Großbildleinwänden und seiner im Kinosaal und auf den Gemeindeplätzen erreichten passiven Gruppendynamik des Publikums aus. Es war in der Lage, die Menschen nicht nur durch seine technische Attraktion, sondern vor allem auch im Hinblick auf die Unterhaltungs- und die hohe Identifikationswirkung seiner Programme, Werke und Aufführsituation mitzureißen und emotional zu beeinflussen. Daran vermochte keiner der überdies ausschließlich in Schwarzweiß ausstrahlenden Fernseher mit seinen – in großen Räumen und auf Plätzen kaum Aufmerksamkeit erringenden geschweige denn eine geschlossene Wahrnehmungssituation erzeugenden – Kleinbildschirmen heranzureichen. Es zeigte sich, daß das Fernsehen, indem es die Strategien von Hörfunk und Film 33 Marshall McLuhan: D

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. a.a.O.

ORTUNGEN aneignete, statt seine eigenen Strukturen zu entwickeln, weder gegenüber dem einen noch gegenüber dem anderen konkurrenzfähig sein konnte. So stellte sich schon bald die Frage nach seinen spezifischen medialen Eigenschaften und deren politischer Verwertbarkeit. Die auf aktuelle Ereignisse verweisenden Nachrichtensendungen waren die einzigen Formate des Fernsehens, die sich schon früh aus dieser Situation lösen konnten. Sie vermochten dem Bühnentheater, dem Hörfunk und vor allem dem Kino eine gewisse Eigenständigkeit entgegenzusetzen. Wie McLuhan ausführt, erfordern sie aufgrund der Detailarmut der Bilder ihres Mediums eine unvergleichlich stärkere aktive Beteiligung des Publikums und vermögen dadurch, den ausschließlichen Verlautbarungscharakter des Mediums zu überwinden.34 Seit September 1958 wurden Nachrichten zunächst über Peking TV, später auch über die anderen Sender, jeweils aus dem Zentralen Filmstudio für Nachrichten- und Dokumentarfilme ( Zhongyang xinwen jilu dianying zhipianchang) unter dem Titel Nachrichtenschau ( Xinwen jianbao) live übertragen. Sie konnten mit einem Aktualitätscharakter aufwarten, der durch keines der bis dahin existierenden Medien erreicht worden war. Sie übernahmen die bewußtseinsbildende Macht über die Versorgung ihrer Zuschauer mit (scheinbaren) Primärinformationen, welche sich ihrerseits entscheidend in die Wahrnehmung von Realität eingeschrieben haben. Damit verschafften sie dem neuen Medium erstmals eine gewisse Eigenständigkeit, mit welcher es der Übermacht des Kinos ein Gegengewicht entgegenzustellen vermochte. Die tatsächliche oder vermeintliche Aktualität des Fernsehens war es auch, die es in den acht Jahren zwischen seiner Einführung und dem Ausbruch der Kulturrevolution im August 1966 vorantrieb und ihm trotz seiner geringen Verbreitung und seines mangelhaften technischen Entwick-

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34 Ebd. S. 483.

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VOM EIGENEN UND FREMDEN lungsstands dennoch eine vergleichsweise hohe Aufmerksamkeit in der Propagandaarbeit der Partei und bei Regierungsmitgliedern einbrachte. Neben dem Engagement des Premierministers Zhou Enlai vermerkt der Fernsehhistoriker Guo Zhenzhi auch bei dem späteren Präsidenten Liu Shaoqi ein Interesse am Aufbau und der Programmgestaltung des neuen Mediums. 35 Um diesem ein eigenes Profil zu verleihen, es gegenüber den »Künsten« des Kinos und des Theaters abzugrenzen und es somit von dem Ruf des »Kleinen Kinos« zu befreien, wurden seit den 1960er Jahren verstärkte Bemühungen auf eine eigene Programmgestaltung des Fernsehens gelegt. Neben der Reproduktion der Leinwandkünste, deren Spielfilme und Dramenaufzeichnungen aufgrund der großen Archive der Filmstudios und der staatlich verfügten Kooperation zwischen den Medien noch viele Jahre den Hauptprogrammanteil ausmachten, bedeutete dies eine – im Rahmen der technischen und ökonomischen Möglichkeiten – allmählich zunehmende Produktion eigener Formate. Als früheste Fernsehproduktionen sind zwei Pekinger Sendungen dokumentiert. Dabei handelt es sich um das sein Publikum zu Sparsamkeit erziehende Lehrstück YI KOU CAI (Ein Stück Gemüsekuchen) vom 15. Juni BINGZI 1958 sowie um die pathetisch-revolutionäre Dokumentation DANGJIAO HUO LE TA (Die Lehre der Partei hat ihm das Leben gerettet) vom 4. September desselben Jahres. Nach diesen beiden Filmen, welche zugleich die Richtung für die grundlegende Aufteilung der Fernsehprogramme in fiktionale und dokumentarische Gattungen wiesen, hatten seit 1959 alle inzwischen gegründeten Sender mit der Produktion eigener Formate mit überwiegend didaktischem und dokumentarischem Charakter begonnen. Mit (schein-) authenti-

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(Geschichte des chinesischen 35 Vgl. Guo Zhenzhi: Z Fernsehens), S. 5. Zu den Aktivitäten Liu Shaoqis im Hinblick auf das . Fernsehen vgl. auch Zhao Yuming: Z W (Geschichte des Rundfunks und Fernsehens in China. Textsammlung). S. 45 - 59: ›Liu Shaoqi tongzhi yu guangbo dianshi‹ (Genosse Liu Shaoqi und der Rundfunk/das Fernsehen). HONGGUO DIANSHI SHI

HONGGUO

ENJI

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GUANGBO

DIANSHI

SHI

ORTUNGEN schen Sendungen aus und über den revolutionären Alltag sowie über die Regierungspolitik und ihre Erfolge sollte der überwiegend fiktionalen, an die Emotionen ihres Publikums appellierenden Spielfilmproduktion des Kinos ein deutliches Gegengewicht gegenübergestellt und eine politische Mobilisierungswirkung (so weit angesichts der geringen Zuschauerzahlen möglich) auch auf dieser vorwiegend informativen Ebene realisiert werden. Bis zum Ausbruch der Kulturrevolution im Jahre 1966 entstanden in China insgesamt 190 Fernsehsendungen, von denen 90 in Peking sowie jeweils 30 in Shanghai und Kanton gedreht wurden. Dagegen traten die 36 bis 1963 gegründeten, allerdings finanziell und technisch weitaus schwächer als ihre Vorbilder ausgestatteten Provinzsender mit nur wenigen Eigenproduktionen auf den Markt. Sie mußten sich überwiegend mit den Formaten der zentralen Sendeanstalten versorgen. Der chinesische Fernsehmarkt war damals noch ausschließlich national und zentralistisch organisiert. Er existierte unter den Bedingungen starker Regulierung ausschließlich von den Subventionen der verschiedenen Regierungsinstanzen. Es entstand (und ausschließlich auf dieser Ebene kamen vor den 1990er Jahren bereits Marktkräfte ins Spiel) eine scharfe Konkurrenz auf politischer Ebene zwischen der Pekinger Zentrale und den verschiedenen Provinzund Stadtregierungen um finanzielle Zuwendungen und Machtzuwachs innerhalb der geopolitischen Hierarchien von Chinas Provinzen, welche um die nur schwach gefüllten Töpfe des Pekinger Haushalts kämpften. Wirtschaftliche Handlungsfreiheiten oder gar die Möglichkeit, Gewinne durch Werbung oder Investitionen zu erzielen, gab es damals für die Fernsehsender noch nicht. Zumal sie weitgehend unabhängig von Einschaltquoten und Zuschauermeinungen handelten, reduzierte sich deren Funktion damit weitgehend auf diejenige eines einseitig linear kommunizierenden Verlautbarungsmediums von Provinz- und Zentralregierung. Aufgrund der mangelnden Kapazitäten in der Senderlandschaft wie auch bei den Empfangsgeräten und deren Verteilung, die vor allem auf die anhaltend schlechte staatswirtschaftliche Situation zurückzuführen waren, waren zu Be-

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VOM EIGENEN UND FREMDEN ginn der Kulturrevolution im Jahre 1966 insgesamt nicht mehr als acht der zahlreichen Sendeanstalten übrig geblieben, die im Rahmen der Dezentralisierungsbestrebungen während des »Großen Sprungs« in den fünfziger Jahren entstanden waren. Die Fernsehlandschaft Chinas befand sich trotz der hohen Erwartungen, welche mit der Einführung dieses neuen Mediums ursprünglich verbunden gewesen waren, und ungeachtet der privilegierten Rolle, welche die Partei und die Regierung ihm in Hinblick auf seine Fähigkeit zur Herstellung einer völlig neu gearteten Öffentlichkeit zukommen ließen, kurz nach ihrer Geburtsstunde bereits wieder in der Krise. Daran konnte auch die Einführung von terrestrischen Kurzwellenfrequenzen in einigen der Metropolen Chinas seit Mai 1964, mit der das Fernsehen sich von seiner Kabelabhängigkeit befreite und die Grundlagen für eine breitere Verteilung geschaffen wurden, zunächst nichts ändern. Mit der im selben Zeitraum in China etablierten Videotechnik im Fernsehbereich ergaben sich zudem zwar erstmals Speicher- und damit auch Gestaltungsmöglichkeiten für Fernsehprogramme, die über die Liveübertragungen von Veranstaltungen und die Spielfilmvorführungen hinaus erst die Grundlage für die Entwicklung neuer Formate und die völlige Umstrukturierung der Programme bereitstellten. Deren flächendeckende Umsetzung lag aber noch in weiter Ferne. Die politische und wirtschaftliche Situation in China, das sich Mitte der sechziger Jahre nur allmählich von den verheerenden Auswirkungen des »Großen Sprungs« erholte, ließ der Entwicklung des Fernsehens einen nur geringen Spielraum. Zudem schlitterte das Reich der Mitte bald schon wieder in die nächste verheerende Kampagne, die im August 1966 von Mao Zedong ausgerufene Kulturrevolution.

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Die Politik der Kulturrevolution ( Wenhua da geming) 36 radikalisierte sich seit 1966 in Richtung einer voll36 Zur chinesischen Kulturrevolution, deren Beschlüsse unter dem Titel G P C R (HongCCP D kong 1968) in englischer Übersetzung erschienen sind, vgl. Roderick C R . 2 Bd., New MacFarquhar: T O OCUMENTS OF THE

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ULTURAL

ULTURAL

EVOLUTION

EVOLUTION

ORTUNGEN ständigen Ideologisierung von Alltag und Kultur. Verbunden war dies mit einem zeitweiligen Kontrollverlust von Partei und Regierung über die gesellschaftlichen Prozesse, welcher von 1966 bis 1969 anhielt und jegliche kulturelle, technische oder infrastrukturelle Fortsetzung des Staatsaufbaus einschließlich seiner Institutionen und Medien im Keim erstickte und teilweise auf das Niveau von vor 1949 zurückkatapultierte. Dies bedeutete einen weiteren Schlag für die Entwicklung des Fernsehens in China. Es stagnierte aufgrund der politischen Ereignisse – genauso wie alle anderen Künste und Medien sowie ein Großteil der Wirtschaft des Landes – quasi ein weiteres Jahrzehnt lang. Unter Berufung auf die Dogmatik der »Yan’an Reden« Mao Zedongs aus dem Jahre 1942 und im Hinblick auf die Wiederbelebung des im Zuge der gesellschaftlichen Neuformierung seit den fünfziger Jahren in den Hintergrund gerückten Klassenkampfes rückten die Guerilla-Taktiken der Revolution und des Bürgerkriegs vor 1949 erneut in den Vordergrund auch der Kultur- und Informationspolitik in China. Für das Fernsehen, das sich noch immer in der schwierigen Phase der Formierung befand, bedeutete dies den Zusammenbruch seiner ohnehin noch labilen Strukturen, welche durch die wirtschaftlichen Schwierigkeiten und die mangelhafte technische Ausstattung zusätzlich geschwächt waren. Mit dem Ausbruch der Kulturrevolution entstand in China eine Situation strengster, dabei durch den Machtverlust der Institutionen teilweise unkontrollierter und anarchischer Überwachung, der sowohl alle vor 1966 in China produzierten wie auch alle seit 1960 in geringer Zahl aus dem Ausland importierten Sendungen teilweise sogar gegen den Regierungswillen als »schlechte Programme« ( Huai jiemu) zum Opfer fielen. Davon betroffen war außerdem die – nun als »imperialistische Produkte« ( Diguozhuyi de chanwu) gebrandmarkte – Technik der Produktion und Projektion. Während die bis dahin ohnehin kaum nennenswerte Produktion und Distribution von Fernsehprogrammen

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York 1974/1983. Außerdem: W.A. Joseph; C.P.W. Wong; D. Zweig C R . New York 1991. (Hg.): N P EW

ERSPECTIVES ON THE

ULTURAL

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EVOLUTION

VOM EIGENEN UND FREMDEN damit gänzlich zum Erliegen kam und ein Großteil der im Mediensektor Beschäftigten einschließlich der Funktionäre die Posten räumen mußte, fiel das Fernsehen in der Hand der jugendlichen Rotgardisten ( Hongweibing) und selbsternannten Revolutionäre praktisch wieder in den Zustand seiner Nichtexistenz zurück. Peking TV stellte angesichts dieser aussichtslosen Situation am 6. Januar 1967 seine Sendetätigkeit ein, und auch die anderen chinesischen Sender folgten noch im selben Frühjahr diesem Beispiel; mit Ausnahme von Shanghai TV, das auch während der Kulturrevolution auf niedrigstem Niveau und quasi ohne Publikum noch weiterhin einige wenige Programme ausstrahlte.

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Ein Neubeginn zeichnete sich für das Fernsehen in China erst ab, nachdem im April 1969 auf dem 9. Nationalen Kongreß der Kommunistischen Partei Chinas ( Zhongguo Gongchandang dijiuci quanguo daibiao dahui) das Ende der Anarchie und die Wiederherstellung der zentralen Autoritäten beschlossen und damit die erneuten Grundlagen für die technische und strukturelle Weiterentwicklung des Fernsehens wie für die Herstellung von Programmen geschaffen worden waren. Bereits kurze Zeit nach diesem Beschluß nahmen zwar die 1967 eingestellten Sender ihre Sendetätigkeit wieder auf und brachten außerdem ab dem 1. Oktober 1970 einige weitere Provinzregierungen wie diejenigen in Xinjiang, Qinghai, Ningxia, Gansu, Guangxi und Fujian eigene Anstalten auf Sendung. Von einer technischen und infrastrukturellen Weiterentwicklung des Fernsehens, welche die Grundlage für dessen Ausbau zum Massenmedium privatisierter Öffentlichkeiten gewesen wäre, konnte allerdings auch nach diesen Beschlüssen noch bis zur Machtübernahme Deng Xiaopings und der Einleitung der Öffnungspolitik in den späten siebziger Jahren keine Rede sein. Nach der Wiederherstellung der staatlichen Ordnung und der zentralen Regierungsgewalt sollten in den siebziger Jahren unter den Bedingungen einer anhaltenden Ideologisierung aller Lebensbereiche zunächst der politisch motivierte Kampf mit Taiwan sowie der Sowjetunion um den technischen Vorsprung sowie der Ausbau des kommunistischen

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ORTUNGEN Propagandaapparats und die mediale Rekonstruktion einer chinesischen Volkskultur als moderne Nationalkultur vorangetrieben werden. Letztere hatte sich allerdings tatsächlich bereits in den fünfziger Jahren teilweise von ihren eigentlichen Wurzeln losgelöst. Sie war in den Händen der Medienproduzenten, welche am Reißbrett eine homogene, streng artifizielle und hoch ideologisierte »Kultur des Neuen China« zu entwerfen versuchten, zu schlimmsten Ausprägungen einer hegemonialen Massenkultur verkommen. Für sie stand nach wie vor in erster Linie das Kino Pate. Dieses war ja bereits das privilegierte Medium von Mao Zedongs Revolution und Staatsaufbau seit 1949 gewesen. Mit dessen unter der Befehlsgewalt der sogenannten »Viererbande« ( Sirenbang) 37 verfilmten »Modellopern« ( Yangbanxi), Potpourris aus lokalen traditionellen Bühnendramen und den nationalen Heldenepen des sozialistischen Realismus, sollte jener widersinnige Anspruch einer sinifizierten, also auf nationale Ausmaße angehobenen und vereinheitlichten Volkskultur für die chinesischen Massen der Arbeiter, Bauern und Soldaten ( Gongnongbing) erfüllt werden. Sie wurden somit zu den wichtigsten Repräsentanten der kommunistischen Kultur Chinas in jenen Jahren. Mit ihnen als Waffen des Propagandakampfes sollte die für die Durchsetzung der hegemonialen Diskurse maßgebliche Mobilisierungswirkung im Hinblick auf die ideologische Ausbildung sowie den wirtschaftlichen Aufbau und Wettstreit mit den um die »wahre Lehre« streitenden sozialistischen Staaten und nicht zuletzt mit dem »anderen China«, mit Taiwan, erreicht werden.

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37 Die sogenannte »Viererbande« nahm nach der Beendigung der Kulturrevolution die Geschicke Chinas mit Maos Billigung weitgehend in ihre Hände und machte sich die Einführung einer sinifizierten Volkskultur zur Aufgabe, wozu u.a. die Modellstücke entworfen wurden. Diese radikale politische Gruppierung umfaßte neben Maos Ehefrau Jiang Qing außerdem den Sekretär des Shanghaier Parteiausschusses Zhang Chunqiao, den Journalisten Yao Wenyuan, den Geheimdienstchef Kang Sheng sowie Maos persönlichen Sekretär Chen Boda. Vgl. R P -M R :AH Tang Tsou: T C P . Chicago 1986. HE

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VOM EIGENEN UND FREMDEN Dagegen begann das Fernsehen von jenem Zeitpunkt an verstärkt eigene Wege zu suchen. Seine Theoretiker erkannten allmählich, daß seine Apparativität und sein Charakter als »datenarmes« und »kühles Medium«38, welchen der erst zwei Jahrzehnte später in China erstmals rezipierte Medientheoretiker Marshall McLuhan festgestellt hatte, ganz andere Kommunikationszusammenhänge implizierten und Öffentlichkeiten provozierten als das Theater und das Kino. Nachdem die politischen Spitzen Chinas eingeräumt hatten, daß es angesichts seiner spezifischen Aufführsituation auch frei von der Massen- und Identifikationswirkung seiner ursprünglichen Vorbilder sei, fanden bereits die Bühnen- und Kinoaufführungen der »Modellopern« ihren Weg nicht mehr vorwiegend ins Fernsehen. Dessen Status als »Kleine Kinos« wurde also erst jetzt aufgegeben. Er mußte der Suche nach neuen Öffentlichkeiten weichen, welche den apparativen Bedingungen und dem tatsächlichen und möglichen Nutzungscharakter seiner Medialität gerecht werden würden. Dies bedeutete nach dem Vorbild der in anderen Staaten weit vorangeschrittenen Entwicklung des Fernsehens vor allem den Versuch von seiner Popularisierung, also den Weg seiner Etablierung als Massenmedium des privaten Gebrauchs und der weitreichenden Verfügbarkeit; mithin als ökonomisch-industrielles Medium, das sich nunmehr innerhalb der – nach wie vor zentralistisch organisierten – chinesischen Volkswirtschaft, aber verstärkt auch innerhalb dezentraler inter- und transnationaler sowie lokaler Prozesse zu verorten hatte. Zahlreiche Wiederaufnahmen des Betriebs durch die bereits in den 1950er Jahren gegründeten Provinzsender markierten in den beginnenden 1970er Jahren den erneuten Startpunkt des chinesischen Fernsehens. Ihnen folgten nach der Beschlußfassung durch das Zentrale Büro für Rundfunkangelegenheiten ( Zhongyang guangbo shiye ju) auf der im Frühjahr 1970 in Peking abgehaltenen Nationalen Fernseh-Konferenz ( Quanguo dian-

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38 Marshall McLuhan: D

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102

. S. 473.

ORTUNGEN shi zhuanye huiyi) innerhalb der beiden darauf folgenden Jahre weitere Sendergründungen in den jeweiligen Provinzhauptstädten. So wurde China innerhalb kürzester Zeit von einem breiten Netz regional ausstrahlender terrestrischer Sender überzogen. Bis zum Ende des Jahres 1971 verfügte es bereits über 80 Sendeanstalten, die in 20 chinesischen Provinzen ausstrahlten. Gleichzeitig legte die Regierung im Hinblick auf den angestrebten Massencharakter von Fernsehen verstärkte Bemühungen auf die Verdichtung des bis dahin noch überaus weitmaschigen Sendenetzes durch den Ausbau der Sendeverteiler und die Stärkung der Empfangsfrequenzen. Während außerdem in den neu entstandenen Sendern auch die Programmproduktion allmählich zunahm und die Speicherfähigkeit des Fernsehens in den Programmplanungen erstmals zum Einsatz kam, blieb die Verteilung von Endgeräten hingegen noch über viele Jahre auf dem Niveau der »Kleinen Kinos« und somit jegliche Entwicklung zunächst wirkungslos. Das Fernsehen konnte also in den 1970er Jahren noch lange nicht die Privathaushalte erobern. Trotz der enormen Bemühungen um den Ausbau seiner Sendestrukturen fand es noch nicht den ihm zugedachten Weg in den Alltag seiner Nutzer. Es verharrte statt dessen auf dem Stand des öffentlichen Ereignisses, zu welchem nur wenige und nur zeitweise Zugang hatten. Davon zeugte sein Ausnahmecharakter in den privaten Haushalten genauso wie seine Programmgestaltung und seine medialen Anordnungsstrukturen zwischen der Fernsehapparatur, dessen Wahrnehmungsraum und dem Publikum, die nach wie vor weitgehend dem Kino entlehnt waren. Bis zum Ende des Jahres 1975 gab es im ganzen Land nicht mehr als 463 Tausend Fernsehgeräte, die sich zu 68% auf die urbanen Ballungszentren und nur zu 32% auf den weitläufigen ländlichen Bereich Chinas verteilten. Das bedeutete, daß zu jenem Zeitpunkt nicht mehr als 0.0625% der chinesischen Bevölkerung einen eigenen Fernsehapparat besaß oder unmittelbaren Zugriff auf einen solchen hatte. Kaum mehr als 1% der vorhandenen Geräte verfügte über ein

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VOM EIGENEN UND FREMDEN Farbbild.39 Die Entwicklung des Fernsehens zu einem öffentlichen Raum und Massenmedium der Kommunikation chinesischer Diskurse begann schließlich tatsächlich erst im Jahre 1976, als der Ministerpräsident Zhou Enlai und Mao Zedong kurz hintereinander verstarben und die radikale Regentschaft der sogenannten »Viererbande« noch im selben Jahr gestürzt wurde, um den Weg für einen allmählichen politischen Wandel frei zu machen. Der nach 1976 allmählich vollzogene Linienwechsel brachte scharfe Einschnitte in die politischen Bestrebungen um den Aufbau des Fernsehens mit sich. Seit den 1950er Jahren hatte China vehement darum gekämpft, eine eigene Fernsehnorm zu entwickeln, mit der sich das Reich der Mitte unabhängig von Lizenzvereinbarungen und dem Einfluß der ›imperialistischen‹ Gegnerstaaten hatte machen wollen. Mit der in den siebziger Jahren einsetzenden Politik allmählicher Öffnung und Liberalisierung konnten die bis dahin – insbesondere im Hinblick auf das in China weitgehend unbekannte Farbfernsehen – erfolglos gebliebenen Versuche um die Errichtung einer sich auch im Fernsehsektor hermetisch abgrenzenden sinifizierten – nationalen – Massenkultur endgültig aufgegeben werden. Statt dessen warf die chinesische Führung bereits im Jahre 1972 ihre ideologischen Bedenken gegenüber dem Technikimport über Bord und entschloß sich zur flächendeckenden Einführung der – bis in die Gegenwart gültigen – PAL-Norm aus Europa. Dennoch mußte das Farbfernsehen trotz dieses Eingeständnisses gegenüber dem vermeintlichen Klassenfeind noch ein weiteres halbes Jahrzehnt auf seine Durchsetzung warten. Es war zwar in einer ersten Testphase erstmals im Mai 1973 in Peking und drei Monate später auch in Shanghai auf Sendung gegangen, wurde aber erst unter den sich allmählich verbessernden wirtschaftlichen Bedingungen, welche einen umfangreicheren Technikimport möglich machten, ab dem 25. Juli 1977 zur landesweiten Norm. Die Etablierung des PAL-Systems bedeu39 Zu den Daten vgl. Guo Zhenzhi: Z chinesischen Fernsehens) S. 15.

HONGGUO DIANSHI SHI

104

(Geschichte des

ORTUNGEN tete gleichzeitig ein Vorwärtskommen gegenüber den bis dahin alle Entscheidungen beherrschenden Ängsten, welche der freie, durch keine Große Mauer und keine Abschottung gegenüber den Kulturen und Gesellschaften jenseits der chinesischen Grenzen aufzuhaltende Strom der Sendestrahlen den kommunistischen Machthabern nach wie vor einflößte. Damit waren Chinas Anerkennung des transnationalen Charakters von Fernsehen und der Schritt in Richtung seiner Öffnung gegenüber der Welt nicht mehr aufzuhalten. Nichtsdestoweniger wurde das Fernsehen unter der Regierung Deng Xiaopings zum Medium nationaler chinesischer Diskurse erklärt. Man versucht diesen Status bis heute entgegen seiner tatsächlichen Entwicklung noch immer nominell und in seinen – chinesischen – Programmen beizubehalten.40 Zu deren Fenster sollte es nach dem Willen seiner Befürworter in der Regierung von jenem Zeitpunkt an mehr als jedes andere Medium zuvor werden. Dabei behielten diese sich auch weiterhin die Macht über den Grad der kulturellen Öffnung gegenüber fremden Einflüssen vor. Das Fernsehen, welches inzwischen den Weg zum Leitmedium chinesischer Kultur angetreten hatte, ließ sich allerdings von jenem Zeitpunkt an nicht mehr gegenüber den inter- und transnationalen Tendenzen sowie vor allem gegenüber einer sich unter der Ökonomisierung und Diversifizierung der Information und Kommunikation zwangsläufig ausweitenden Wahrnehmungsfähigkeit und kulturellen Mündigkeit seiner Nutzer und Rezipienten verschließen. In dieser Hinsicht konnten auch die teilweise intensiven Bemühungen seiner Macher und der weisungsgebenden Regierung nicht mehr viel ausrichten. Deren Wissens- und Bedeutungsmonopol war teilweise an die Medialität und an die Wahrnehmungsanordnungen des Fernsehens verloren gegangen. Vor allem die Erfahrung der medialen Inszenierung und Aufzeichnung des Besuchs des US-amerikanischen Prä.W (Geschichte des 40 Zhao Yuming: Z Rundfunks und Fernsehens in China. Textsammlung). S. 60 – 79: ›Deng Xiaoping tongzhi yu guangbo dianshi‹ (Genosse Deng Xiaoping und der Rundfunk/das Fernsehen). HONGGUO GUANGBO DIANSHI SHI

ENJI

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VOM EIGENEN UND FREMDEN sidenten Richard Nixon in Peking im Jahre 1972 durch amerikanische Sender, welche zum Anlaß dieses Ereignisses erstmals aus China berichten durften, hatte bei den politischen und kulturellen Entscheidungsträgern in China zum Wandel der Wahrnehmung des Fernsehens geführt. Seine medialen Eigenschaften und Einsatzmöglichkeiten soll-ten – so der Wille der politischen Führung – von da an zur nationalen Wissens- und Bedeutungskonstitution beitragen. Das Fernsehen sollte sich zudem mit seinen Speicher-fähigkeiten über die Bühnen- und Leinwandkunst erheben und mit seinen visuellen Möglichkeiten die Rundfunkbeiträge erweitern und dadurch seine eigene Emanzipation von die-sen Rekursmedien manifestieren. Die Mediatisierung des Nixon-Besuchs durch amerikanische Fernsehsender hatte als erste eindrückliche Erfahrung mit der Arbeitsweise auslän-discher Fernsehanstalten zur Bewußtwerdung der tatsächlichen Möglichkeiten von Fernsehen als Massenmedium der Konstruktion und Rekonstruktion, der scheinbar aktuellen und authentischen Inszenierung und Speicherung von Realität in China beigetragen. Gleichzeitig hatten die aufwendigen technischen Arrangements dieses für die amerikanische Öffentlichkeit inszenierten Medienereignisses den Fernsehmachern in China aber auch die technischen und strukturellen Grenzen ihrer beabsichtigten unabhängigen Entwicklung vor Augen geführt. Die Erkenntnis der Begrenztheit der eigenen Möglichkeiten und der Notwendigkeit der Installation von Netzwerken, die in der Fernsehökonomie genauso wie in anderen Zweigen der aufstrebenden chinesischen Wirtschaft an die Stelle der ideologisch motivierten Abgrenzungsstrategien traten, machte in den achtziger Jahren schließlich den Weg frei für Chinas vorsichtige Partizipation an der transnationalen Fernsehkultur. Die Aufgabe bestand darin, sich technisch dem Entwicklungsstand der ideologischen Kontrahenten in Nordamerika, Westeuropa, den sozialistischen Staaten Osteuropas, der Sowjetunion, dem nationalchinesischen Taiwan und den Staaten Ost- und Südostasiens anzunähern. Diese waren in ihren Bemühungen um die Etablierung des Fernsehens als

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ORTUNGEN Leitmedium nationaler Öffentlichkeit(en) China allesamt weit voraus. Nach der Absetzung und Inhaftierung der radikalen Regierung übernahm zwischen 1976 und 1978 vorübergehend Mao Zedongs ehemaliger Vertrauter Hua Guofeng die Macht in China, das er wieder in Richtung der sozialistischen Staatspolitik und -wirtschaft entwickeln wollte, die Mao bereits in den fünfziger Jahren vorgegeben hatte. Die im Zusammenhang mit der weiteren Entwicklung des Fernsehens nennenswertesten Tätigkeiten seiner kurzen Amtszeit vor der Machtübernahme Deng Xiaopings im Jahre 1978 bestanden in der Rehabilitierung der in der Kulturrevolution abgesetzten und verfolgten Funktionäre und Fernsehmacher. Zahlreiche der bis dahin indizierten Programme konnten wiederaufgeführt werden. Die Speichertechnik der Fernsehformate konnte die ehemaligen Live-Programme weitgehend ablösen. Der Live-Charakter des Fernsehens, der es erstmals ermöglicht hat, das gesamte Reich der Mitte, welches trotz seiner immensen geographischen Ausdehnung in nur einer Zeitzone angeordnet ist, zeitgleich mit Informationen und Bildern zu versorgen, hat im Hinblick auf die Konstruktion und Präsentation nationaler ›Ereignisse‹ nach wie vor seine herausragende Bedeutung beibehalten. Der Übertragungscharakter des Fernsehens, welcher allerdings nicht in der Lage war, auch die Programmeigenschaften dieses Mediums zu bestimmen, wurde aber um zahlreiche weitere Nuancen ergänzt. Nach den durch die geringe Netzdichte jahrzehntelang zusätzlich behinderten Minimalprogrammen der Fernsehsender wurde Raum geschaffen für ein genauso breites wie zeitlich ausgedehntes Angebot und für die Etablierung von Programmstrukturen, welche nun endlich in die Lage gerieten, sich von Theater und Film zu lösen und statt dessen dem Fernsehdispositiv gerecht zu werden.

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Unter den veränderten Bedingungen entstanden neben Theater- und Spielfilmen sowie den aktuellen Nachrichtensendungen ab dem Jahre 1977 zahlreiche weitere Gattungen. Mit diesen wurden die ursprünglichen – dem Kino und Theater nachempfundenen – Strukturen der »Kleinen Kinos« auf-

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VOM EIGENEN UND FREMDEN gelöst. An ihre Stelle traten mit Blick auf den angestrebten Einzug des Fernsehens in die Privathaushalte und den Alltag der Menschen zunächst Programme, die zwischen Mittag und Abend, später teilweise von morgens bis abends und seit den 1990er Jahren zumeist rund um die Uhr ausstrahlen. Sportund Kultursendungen sowie Berichte aus dem urbanen und ruralen Alltag ergänzten die Nachrichtensendungen und unterstrichen zusätzlich den auch in China angestrebten Charakter des Fernsehens als privilegiertes Medium der Wahrnehmung (oder Konstruktion) einer gegenwärtigen chinesischen Realität sowie der Kommunikation dominanter sozialer, politischer und kultureller Diskurse. In dieser Hinsicht bildete das Fernsehen in den späten siebziger Jahren die Fähigkeit heraus, nun selbst an die Stelle der ehemaligen fürstlichen und kaiserlichen Herolde zu treten. Neben den sich – angesichts nur langsam voranschreitender Literarisierung und einer erst im Entstehen begriffenen journalistischen »Industrie« – bei einer breiten Bevölkerung ebenfalls gerade erst etablierenden Zeitungen und Zeitschriften vermochte es auch die Wandzeitungen zu ersetzen. Sie hatten während der Ära Maos aufgrund der schlechten Infrastruktur der industriellen Medien eine bedeutende Rolle als Instrumente der Information und Proklamation übernommen. Das Fernsehen wurde für weite Teile der ruralen Bevölkerung Chinas zum ersten Medium einer über die face-to-faceKommunikation hinausgehenden Teilnahme am nationalen Geschehen überhaupt. Auch das – nach McLuhan heiße – Radio hatte sich bis dahin aufgrund der schwachen Verbreitung von Empfängergeräten in den Privathaushalten kaum durchsetzen können und wurde daher, noch bevor es seine Fähigkeiten über die Proklamationen von Information und Ideologie in den Arbeitseinheiten und auf den öffentlichen Plätzen der Städte und Dörfer hinaus hätte zum Einsatz bringen können, vom – kühlen – Fernsehen überrollt, das dem chinesischen Kulturverständnis in seiner Wahrnehmungssituation sehr viel näher kam. Das Fernsehen vermochte es, seine Macht über die Information mit seiner Visualität und der ihr eingegebenen Möglichkeit der Wiederbelebung ideographischer Strukturen

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ORTUNGEN innerhalb der chinesischen Kultur zu verknüpfen. Dadurch konnte es endgültig zum Metamedium des Nationalen und zum hegemonialen Leitmedium von Kultur und Politik in China werden. Mit der Dichte seiner Bedeutungen und Kontextualisierungen sowie deren sich allmählich gegenüber der Mimesis und Allegorie der Zeichen durchsetzenden Metaphorik und einer die Zentralperspektive des Kinos überwindenden multiperspektivischen Polysemie mußte es dabei allerdings zugleich seine eigenen Gegendiskurse in Kauf nehmen, welche im China Mao Zedongs mit seinen hermetischeren Kommunikationsformen noch hatten unterdrückt werden können. Neben seinem Charakter als politisches Proklamationsmedium, zu dem auch eine wachsende Zahl an Bildungsprogrammen gehörte, wurde das Fernsehen mit den im Herbst 1977 auf Sendung gegangenen Magazinen ÜBER DIE WELT ( WaiShijie gedi) und FREMDE KULTUR UND KUNST ( guo wenyi) gleichzeitig aber auch zum – freilich staatspropagandistisch gefärbten – Fenster zur Welt. Diese war den Chinesen mit Ausnahme weniger ins Ausland gereister und mit fremder Kultur und fremden Menschen in Kontakt stehender Intellektueller in der chinesischen Republikzeit (1912 – 1949) bis dahin in aller Regel genauso verschlossen geblieben, wie das weitläufige eigene Land selbst, das dem Publikum nun durch eine – auch territoriale Identität stiftende – Parallelsendereihe unter dem Titel ÜBER CHINA ( Zuguo gedi) als nationale Einheit näher gebracht werden sollte.

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Am 1. Mai 1978 wurde Peking TV in den zentralen Staatssender CCTV umgewandelt.41 Während die Stadt Peking erst ein Jahr später unter dem alten Namen mit einer neuen Programmanstalt auf Sendung ging, übernahm CCTV von da an die Rolle des neben dem Print-Parteiorgan, der »Renmin ribao« (Volkszeitung), bedeutendsten Sprachrohrs

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41 Zur Entwicklung des bis in die Gegenwart bedeutendsten chinesischen Fernsehsenders CCTV vgl.: Zhao Huayong :Z (Die Geschichte von CCTV). Peking 2000. DIANSHITAI DE GUSHI

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VOM EIGENEN UND FREMDEN von Partei und Regierung. Angesichts der anhaltend hohen Illiterarizität und der – mit Ausnahme der Sendefrequenzen des Fernsehens – nur schwach ausgebauten Kommunikationswege, die für eine rasche Verbreitung von Zeitungen notwendig gewesen wären, konnte das zeitnah berichtende und in seinem Kodierungssystem leichter lesbare Fernsehen seinen typographischen Konterpart mühelos in den Schatten stellen. Unter diesen Bedingungen konnte CCTV neben den zunehmenden städtischen und regionalen Sendern der Provinzen über terrestrische Ausstrahlung das gesamte Land erreichen und mit den Informationen und Bedeutungseinschreibungen der zentralen Staatsgewalt versorgen. Zudem wurde, ausgehend von der täglichen Hauptnachrichtensendung dieses Pekinger Senders, eine Nationale Nachrichtenkooperation der Fernsehsender ( Quanguo dianshitai xinwen lianbo) ins Leben gerufen. Sie bestand darin, daß von jenem Zeitpunkt an alle Sender in China die CCTV-Nachrichten übernehmen mußten und damit die Hauptsendezeit um 19 Uhr im gesamten Land einheitlich mit den Proklamationen und Meldungen des von Partei und Regierung gesteuerten Staatsfernsehens gefüllt wurde. An deren Informationen partizipierten quasi alle »Chinesen« zur selben Zeit und sozusagen auch am selben Ort der medialen Wahrnehmung. Erstmals in der fast zweieinhalbtausendjährigen Geschichte des chinesischen Einheitsstaats wurde mit dieser Konzentration der Information auf den Ort und die Zeit des Fernsehens eine flächendeckende nationale Einheitlichkeit der hegemonialen Kommunikation und Rezeption von Wissen und Bedeutung erreicht. Über die auf diese Weise erzielte Imagination von Gemeinschaft konnte China sich im Sinne von Benedict Andersons »vorgestellter Gemeinschaft«42 erst tatsächlich als Nation präsentieren. Auch die technische und strukturelle Entwicklung des Fernsehens konnte in jenen ersten Jahren nach dem Tode Mao Zedongs mit der landesweiten Durchsetzung von PALFarbfernsehen und der Initiierung eines nationalen Sender-

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42 Benedict Anderson: D E IE

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. a.a.O.

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ORTUNGEN netzes, durch welches u.a. das vereinte Nachrichtenfernsehen erst möglich geworden war, sowie mit der Wiederaufnahme der Technikimporte wesentliche Fortschritte erzielen, denen die Isolation Chinas und seine Ideologisierung der Wirtschaft und Kulturtechnik bis dahin im Wege gestanden hatten. Die Aufnahme des Imports sowie einer staatlichen Eigenproduktion von Geräten, die gegenüber den europäischen und japanischen Importprodukten wesentlich preiswerter waren, ermöglichten nun den Weg des Fernsehens in die Privathaushalte Chinas. Erst damit ist es wirklich zum privilegierten Medium der Herstellung von Öffentlichkeit und der Kommunikation von Wissen und Bedeutung geworden und konnte seine Rolle als Leitmedium auch in China einnehmen.

Der Weg zum Massenmedium (1979 – 1989) Der Weg des Fernsehens zum privilegierten Instrument der interaktionsfreien Kommunikation und Information sowie zum kulturellen Leitmedium in China begann in Wirklichkeit erst mit der Einführung der Reformpolitik im Jahre 1978.43 Die wirtschaftliche Öffnung und Liberalisierung sowie die Entideologisierung und Reformierung weiter Bereiche von Gesellschaft und Kultur unter der Regierung Deng Xiaopings zugunsten einer pragmatischeren, auf Modernisierung und ökonomischen Fortschritt ausgerichteten Politik der »Vier Modernisierungen« ( Sige xiandaihua: Landwirtschaft, Industrie, Militär sowie Technik und Wissenschaft)44 waren entscheidende Voraussetzungen für den technischen und strukturellen Ausbau der Produktion und Distribution von Fernsehen. Sie ermöglichten auch die allmähliche Steigerung des Lebensstandards in der Bevölkerung, durch welche der Bedarf an Geräten der Unterhaltungselektronik stieg und sich schließlich auch die Versorgung mit Fernsehgeräten allmählich verbesserte. Während im Jahre 1979 in China ins-

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43 Vgl. Jonathan Spence: T S 44 Vgl. Deng Xiaoping: D R HE

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VOM EIGENEN UND FREMDEN gesamt nur 4,85 Millionen Fernsehgeräte gezählt wurden, waren es drei Jahre später bereits 27,61 Millionen Geräte, mit deren Hilfe die Menschen mit Wissen und Bedeutung versorgt wurden. Die Reformen machten aber auch den Weg frei für eine Standortneubestimmung des Fernsehens und seiner Rolle in der Gesellschaft und Kultur Chinas. Das bedeutete, wie es zahlreiche Medientheoretiker und auch die politische Führung erkannten, vor allem die Notwendigkeit zur Abkehr von seiner engen Bindung an den Kinofilm. Das Kino war seinerseits in seinen dispositiven Strukturen noch immer eng an die importierten Formen der Bühnenkünste und die Literatur angebunden und konnte erst ein halbes Jahrzehnt später deutlicher ein eigenes Profil herausbilden und auch theoretisch untermauern.45 Durch seine frühe Loslösung von den ästhetisch noch eng miteinander verwobenen Künsten gelang es dem damals jüngsten aller Medien in China als erstem, sich aus überkommenen Schemata zu befreien. Die traditionellen Künste und auch das Kino definierten sich nach wie vor sowohl über eine vorkommunistische Tradition wie auch über die Yan’anDogmatik Mao Zedongs. Sie waren gemeinsam in deren Strukturen verfangen und somit zunächst noch kaum innovationsfähig. Dagegen konnte das – weitgehend geschichtslose – Fernsehen unter den Bedingungen der Liberalisierungspolitik eine starke, wenn auch durch die zentralstaatlichen Bemühungen seiner ideologischen und soziopolitischen Funktionalisierung nach wie vor streng reglementierte Eigenprofilierung herausarbeiten. Es vermochte sich aufgrund seiner ökonomischeren Verbreitbarkeit im nach wie vor überwiegend ruralen China gegenüber dem Kino genauso spielend 45 Zur Entwicklung des Kinofilms in China vgl. Stefan Kramer: G F . a.a.O. Zu den Entwicklungen des Fernsehens unter den Bedingungen der Reformpolitik vgl. Zhao Yu.W (Geschichte des Rundming: Z funks und Fernsehens in China. Textsammlung). S. 80 – 89: ›Gaige kaifang shiliunian lai zhongguo guangbo dianshi shi zhi yanjiu pingshu‹ (Kommentar zur chinesischen Rundfunk- und Fernsehforschung in sechzehn Jahren von Reform und Öffnung). E-

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ORTUNGEN durchzusetzen, wie es aufgrund seiner leichteren Lesbarkeit und höheren Verteilungsgeschwindigkeit bei der noch immer weitgehend illiteraten Landbevölkerung die typographischen Medien aus dem Feld zu schlagen wußte. Dies war die Voraussetzung dafür, daß das Fernsehen sich allmählich zum wichtigsten Repräsentanten der staatlichen Diskurse im China nach Mao Zedong entwickeln konnte. Freilich trugen die anderen Künste, so vor allem das Kino und seine Funktionäre wie Produzenten mit ihrem Beharren auf überkommenen Schemata, die vor allem von der Ideologie beherrscht waren, selbst unfreiwillig zu diesem Startschuß für den Erfolgszug des Fernsehens bei. Sie machten es daher schon bald als ihre schärfste Konkurrenz aus und reagierten mit einer deutlichen Abgrenzungspolitik auf seine Entwicklung. Bereits im Sommer des Jahres 1979 machte sich die neu erwachsene Konkurrenz zwischen dem Kino und dem ehemaligen »kleinen Kino« bemerkbar. Die Filmstudios mußten damals angesichts der weiterhin existierenden zentralstaatlichen Planwirtschaft noch keinen Gedanken an die Wirtschaftlichkeit ihrer Produktauswertung verschwenden. Sie weigerten sich, ihre Werke zur Fernsehauswertung freizugeben. Damit versuchten sie die deutlich nachlassenden Kinobesucherzahlen zu ihren Gunsten zu korrigieren. Das Fernsehen kam durch die neue Situation, die sich nach den Jahren enger Zusammenarbeit und umfangreicher Wiederaufführungen plötzlich radikal veränderte, in erhebliche Schwierigkeiten, die gleichzeitig an Zuschauern wie an Sendern und Sendezeiten rasch zunehmenden Programmplätze weiterhin adäquat zu füllen. Dazu trug das zweite bisherige Standbein der Fernsehprogramme, das Theater, mit Beschränkungen bei der Fernsehaufnahme und -verwertung ein übriges bei. Die Zentralregierung intervenierte angesichts dieser schwierigen Situation für ihr neues ›Sprachrohr‹ schon bald zu dessen Gunsten und verpflichtete die Filmstudios u.a. dazu, ihre Filme nach kurzer Kinoauswertung für die Fernsehverwertung durch CCTV freizugeben. Zudem erkannten die Theater, die parallel zur Zunahme der Zuschauerzahlen von Kino und Fernsehen massiv an Publikum verloren,

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VOM EIGENEN UND FREMDEN bereits 1982 die Notwendigkeit einer Zusammenarbeit mit diesen populären Sendemedien. Sie erlebte im November 1985 in der Eingliederung des Kunstkomitees (Yiweihui ), das die Theaterinteressen vertrat und mit jährlich 3 Millionen RMB öffentlich bezuschußt wurde, in die Theaterproduktionsabteilung von CCTV (Zhongyang dianshitai de Zhongguo dianshiju zhizuozhongxin ) ihren Höhepunkt. Nichtsdestoweniger bedeuteten die Konflikte zwischen den konkurrierenden Medien den Startschuß für die auch inhaltliche Neuprofilierung des Fernsehens, während sie die weitere Entwicklung des Kinos zusehends behinderten. Das Fernsehen präsentierte sich schon damals als Nachfolger von Kino und Rundfunk und sog dessen Programme in sich auf. Zugleich demonstrierte es aber auch seine Abkapselung von den Vorgängermedien. Sie zeigte sich u.a. in der Herausbildung eigener Gattungen und einer allmählichen Kommerzialisierung des Fernsehens, welche im Jahre 1979 mit der Ausstrahlung von ersten Werbesendungen und durch die Vergabe von Werbeplätzen an Unternehmen der Staatswirtschaft einsetzte. Die kulturpolitische Neuorientierung des Fernsehens gegenüber Kino und Rundfunk zeigte sich zudem in einer Internationalisierung der Programme durch verschiedene Einkäufe von Spiel- und Fernsehfilmen sowie Fernsehserien aus dem Ausland, so etwa aus Hongkong und den USA.46 Damit wiederum wurde das Fernsehen in gewissem Sinne auch seinerseits zum Vorbild für das sehr viel ältere Kinomedium. Abgesehen von nur wenigen Ausnahmen des Filmeinkaufs aus den ›sozialistischen Bruderstaaten‹, denen China sich seit Beginn der Öffnungspolitik wieder stärker angenähert hatte, öffnete es erst viel später seine nationalen Märkte für ausländische Spielfilme. Diese gelangen bis in die Gegenwart nur in wenigen Ausnahmefällen zu einer chinesischen Kino-

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46 Zur Importpolitik des chinesischen Fernsehens vgl. Junhao Hong: THE INTERNATIONALIZATION OF TELEVISION IN CHINA. THE EVOLUTION OF IDEOLOGY, SOCIETY, AND MEDIA SINCE THE REFORM. Westport, CT, London 1998.

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ORTUNGEN aufführung. Dagegen haben sie aber über den florierenden Markt mit Raubkopien, deren Erwerb zudem gegenüber Kinotickets weitaus preiswerter ist, mühelos den Weg auf die heimischen Fernsehbildschirme gefunden und werden fast ausschließlich unter dessen medialen und dispositiven Bedingungen zur Kenntnis genommen.

Abb. 8 Verfilmung des Dramas DER PÄONIENPAVILLON

Die Eigenprofilierung des Fernsehens zeigte sich bereits zum Ende der siebziger Jahre vor allem in der Herausbildung fernsehspezifischer Programmstrukturen und der Etablierung bzw. Stärkung eigener Gattungen und Themengebiete. Diese wurde im Rahmen der 1. Nationalen FernsehprogrammKonferenz ( Shouci quanguo dianshi jiemu huiyi) im August 1979 unter der Federführung des Zentralen Büros für Rundfunkangelegenheiten ( Zhongyang guangbo shiyeju) beschlossen und im Okto-

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VOM EIGENEN UND FREMDEN ber 1980 auf der 10. Nationalen Konferenz zum Rundfunk ( Dishici quanguo guangbo gongzuo huiyi) bestätigt. Zu jenem Zeitpunkt waren in China wieder 25 Anstalten mit insgesamt einhundert täglichen, überwiegend zentral gesteuerten Programmstunden auf Sendung. Dabei handelte es sich zu großen Teilen um die vom Kino übernommenen Spielfilme, deren Fernsehpräsentationen nach den Interventionen durch die Regierung einen unverändert großen Programmanteil für sich beanspruchten. Zudem sollten die weiterhin beliebten Bühnenverfilmungen traditioneller Regionaldramen den Gattungen des fiktionalen Fernsehspiels und vor allem der Fernsehserie entgegengesetzt werden. Vor allem mit ihnen sollte ein breites Publikum allabendlich an das Fernsehen gebunden werden. Auf diese Weise bemühte man sich, nicht nur verstärkt gegenüber dem Kino konkurrenzfähig zu werden, sondern sich darüber hinaus auch kulturell als neues Medium zu etablieren, das sich nicht auf die Reproduktion vorhandener Künste beschränkte. Mit ihren auf wöchentliche oder tägliche Fortsetzung angesetzten narrativen Strukturen und einer Ästhetik, welche in ihren Einstellungsgrößen und Bewegungs- wie Montagemustern deutlicher auf den Fernsehbildschirm zugeschnitten war als die ursprünglich für die Leinwand konzipierten Kinofilme, entsprachen die fiktionalen Gattungen von Fernsehspiel und -serie den apparativ vorgegebenen Bedingungen des Fernsehens sowie dessen inhärenten Raumund Zeitstrukturen. Nicht zuletzt aus diesem Grund begannen sie im chinesischen Fernsehen der 1980er Jahre immer mehr Raum einzunehmen. Trotz der anfänglich noch geringen Produktionsqualität zeichneten sich bereits in der ersten eigenen fiktionalen Produktion von CCTV, dem im Juli 1979 gedrehten und bis 1981 in wöchentlicher Wiederholung gesendeten Fernsehfilm WOMEN DE GUOQU ( Unsere Vergangenheit), die späteren Erfolge dieser neuen Fernsehgattungen im Hinblick auf die Bindung des Publikums an dieses Medium ab. Vor allem die narrativen Anordnungen und der Fortsetzungscharakter von Fernsehserien wie WOMEN DE GUOQU, die das Publikum zu festen Zeiten an den Fernsehbildschirm zu

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ORTUNGEN binden vermochten, waren bereits exakt auf den privaten Konsumenten und dessen Zeitstrukturen und Tagesabläufe zugeschnitten, welche sich inzwischen auch in China an einer globalen Moderne orientierten. Auch der chinesische Rezipient genoß Fernsehen seit den achtziger Jahren nicht mehr vorwiegend als Werk und Ereignis, sondern immer häufiger als integralen Bestandteil seines Alltagslebens in seinem Privathaushalt. Darüber hinaus wurden an zahlreichen Arbeitsstätten die Pausen mit Fernsehkonsum gefüllt und immer mehr öffentliche Orte wie Wartesäle an Bahnhöfen und Flughäfen, Restaurants oder Behörden mit Wiedergabegeräten bestückt, während dieselben gleichzeitig durch die Zunahme von Überwachungskameras immer mehr auch zum Gegenstand einer ständigen medialen Aufzeichnung wurden. Insbesondere die Sender in Peking, Shanghai und Kanton gestalten ihre Programme bereits seit 1979 mit eigenen Spielserien. Dazu gehörte etwa die 1979 von CCTV gedrehte Fortsetzungsreihe YOU YIGE QINGNIAN ( Ein Jugendlicher) oder die erste dreiteilige Shanghaier Produktion, der Horrorfilm MEIGUI XIANG QI’AN ( Der merkwürdige Fall Duftrose). Allerdings zeigte sich an der schwachen formalen Qualität und den simplen Erzählungen derartiger, schon bald auf das Volumen von bis zu zwanzig oder dreißig Folgen anwachsender Serien, daß das Fernsehen in China nach wie vor in den Kinderschuhen steckte. Hier kristallisierte sich die Kehrseite der Abgrenzungspraxis und Konkurrenz zwischen Kino und Fernsehen heraus. Die überwiegend sehr gut ausgebildeten Filmemacher des Kinos, die ihre eigene, überwiegend narrativ angeordnete Kunst in der Tradition der elitären Schriftkultur sahen, hatten in aller Regel nur wenig Interesse an einer Arbeit für dieses, wie sie es einschätzten, künstlerisch minderwertige (Übertragungs-) Medium. Daran konnte sich zunächst auch dadurch nichts Wesentliches ändern, daß sich seit dem Jahre 1982 unter dem Druck der Behörden immer mehr Filmstudios auf eine Zusammenarbeit mit den Fernsehsendern einließen und für diese zum Teil sogar eigene Programme produzierten. Im Jahre 1983 konnten die Programme zwar bereits mit insgesamt 4000 fiktionalen Fernsehfilmproduktionen gefüllt werden. An den At-

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VOM EIGENEN UND FREMDEN traktionswert der Kinofilme, die nach Einleitung der Öffnungspolitik teilweise auf hohem Niveau produziert wurden, konnte allerdings noch keiner dieser Filme heranreichen.

Abb. 9 Überwachungsmonitore in Kanton, 2002 Noch unmittelbarer als in der Fernsehserienproduktion bewies das Fernsehen seine gattungsspezifischen Eigenschaften, zu denen insbesondere die Übertragungsillusion mit ihrer hohen Authentizitätswirkung gehörte, in seinen Nachrichten- und Dokumentarfilmen. Auf deren Entwicklung wurde seit 1978 ebenfalls größter Wert gelegt. Die wirtschaftliche Öffnung gegenüber dem Ausland brachte China u.a. den Anschluß an einige der weltweit operierenden Nachrichtenagenturen. Das wiederum führte zum Ausbau der Vertretungen der chinesischen Nachrichtenagentur Xinhuashe ( Neues China) in aller Welt. Zusätzlich brachte die beschleunigte infrastrukturelle und technische Entwicklung eine deutliche Verbesserung der Übertragungsgeschwindigkeit und -qualität der Nachrichtensendungen mit sich. Dies ermöglichte auch dem chinesischen Publikum, über die Fernsehbilder am aktuellen Geschehen teilzuhaben und die Ereignisse in China wie in aller Welt zum ersten Mal in

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ORTUNGEN der zweitausendjährigen Geschichte des Einheitsstaats am Bildschirm aktuell und scheinbar authentisch mitzuverfolgen. Die Illusion von Authentizität und Aktualität wurde dem chinesischen Fernsehkonsumenten von da an als Teil seines – medialen – Alltags angeboten. Somit wurde ein jeder Chinese, der allabendlich über die Nachrichten an den Geschicken des Staates teilhatte, erstmals tatsächlich zu einem bewußten Teil der chinesischen Nation. Deren Leid und Erfolge wurden in der Fernsehwahrnehmung zu solchen seiner eigenen Existenz. Der Kinofilm hatte seine nationale Identitätswirkung durch die Dichte der »heißen« (McLuhan) Bilder, die Charakterzeichnungen der »guten« bzw. »bösen« Figuren und die Entwicklung der dramatischen Handlungen erreicht. Solches wurde in den Fernsehprogrammen weitgehend ersetzt durch die mediale Imagination einer gemeinsamen und zeitgleichen Teilnahme an den Geschicken Chinas. Sie sollte jeden Einzelnen untrennbar mit der chinesischen Nation verknüpfen. Der Pekinger Fernsehhistoriker Guo Zhenzhi sieht in diesem bedeutenden technischen Schritt das Fernsehen auf seinem Weg zu einem Massenmedium der Kommunikation von Wissen und Bedeutung voranschreiten und zugleich das Ende von dessen parteipolitischer Funktionalisierung als Instrument der Propaganda nahen. Tatsächlich brachte er erst die Möglichkeiten des Fernsehens ans Tageslicht, weit über die bloße Reproduktion der präsentierten Ereignisse hinauszugehen und die im Kinofilm noch scharf voneinander abgegrenzten und selbst im Genre des ›Dokumentarspielfilms‹ ( Jiluxing yishupian)47 der späten fünfziger und sechziger Jahre nicht wirklich miteinander verknüpften Identitätsparameter zur Grundlage seiner medialen Realitätskonstruktion (und -manipulation) zu bestimmen. Sie zeichnen sich anhand einer durch dramatische Handlungen erreichten Identifikation auf der einen und einer Aktualitäts- und Authentizitätswirkung auf der anderen Seite ab.48 Von diesem

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47 Vgl. Stefan Kramer: SCHATTENBILDER. S. 130f. 48 Guo Zhenzhi: ZHONGGUO DIANSHI SHI (Geschichte des chinesischen Fernsehens). S. 29f.

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VOM EIGENEN UND FREMDEN Zeitpunkt der Wende des chinesischen Fernsehens von einer elitär gehandhabten technischen Attraktion für wenige zu einem Medium der – zunächst interaktionsfreien – Massenkommunikation von Wissen und Bedeutung an trat es als Leitmedium gesellschaftlicher und kultureller Diskurse in den Vordergrund. Realität sollte nicht bloß reproduziert, sondern selbst erst medial konstruiert werden, um – allegorisch oder metaphorisch – mit einer inhärenten mimetischen Wirkkraft flächendeckend kommuniziert zu werden. Indem es damit die Wahrnehmungseigenschaften von Presse und Kinofilm mit einer sich potenzierenden Wirkung miteinander verknüpfte, geriet das Fernsehen in die Lage, bewußt Bedeutungen und Identitätskonstrukte zu erschaffen. Aus diesen vermochte sich eine chinesische Gemeinschaft im Sinne der von Benedict Anderson bezeichneten Imagined Communities auch in der »postrevolutionären« Perspektive von Dengs China zu formieren. Mehr noch als beim »heißen« Emotionsmedium Film öffneten die apparativen medialen Eigenschaften des Fernsehens seit Beginn der achtziger Jahre der Partei und Regierung also die Tore für die Manipulation von Wissen und eine somit auf der Hand liegende hegemoniale nationale Ordnungs- und Sinnkonstruktion. In diese schrieb sich allerdings – fast unbemerkt – auch das Fernsehen selbst apparativ-medial ein. Von Beginn an bestimmte der Anspruch einer nationalen Wissens- und Bedeutungskonstruktion und der Aufrechterhaltung eines chinesischen Ordnungsverständnisses die Fernsehnachrichten von CCTV. Diese werden seither täglich zunächst um 20 Uhr, seit den Beschlüssen des 12. Nationalen Kongresses der KPCh ( Zhongguo Gongchandang di shierci quanguo daibiao dahui) vom 1. September 1982 schließlich um 19 Uhr, in halbstündiger Länge sowie in Kurzfassungen zu verschiedenen Sendezeiten auf CCTV 1 und in allen regionalen Provinzsendern ausgestrahlt. Deutlich wird das dabei verfolgte Ziel der nationalen Sinnkonstruktion, welche sich als die Summe der Herstellung von Wissen als Ergebnisse aus den Prozessen des luhmannschen Kommunikationsmodells von Mitteilung, Information und Verstehen begreift, welches auch für die hegemonialen Diskurse Chinas durchaus Gültig-

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ORTUNGEN keit besitzt, bereits in der scharfen Trennung zwischen Inlands- und Auslandsnachrichten. Sie sind mit Anteilen von etwa 5:1 an den Gesamtnachrichten vertreten. Die Inlandsnachrichten kennzeichnen das Fernsehen in China als privilegiertes Verlautbarungsmedium. Indem sie sich selbst als verlängerter Arm der Regierung verstehen, welcher sie zu ständiger Präsenz verhelfen und deren Beschlüsse sie an die Bevölkerung weitertragen, tragen sie mehr oder weniger den Charakter der kaiserlichen Proklamationen aus der vortechnischen Kommunikationsgeschichte Chinas. Demgegenüber hat das Fernsehen seither erstmals jene in Europa bereits in seine Begründungsgedanken eingeschriebene Funktion eines, wenn auch national gefilterten, Fensters zur Welt übernommen. Seit der Kolonisierung Chinas im 19. und frühen 20. Jahrhundert mußte China sich – nicht zuletzt durch die Einwirkung des Fernsehens und anderer moderner Medien der Kommunikation – ein weiteres Mal zugunsten von Internationalisierung und Globalisierung von seinem universalistischen Tianxia-Gedanken des Reichs unter dem Himmel verabschieden. Diesen hatte in gewissem Sinne auch Mao Zedong in seinem hermetischen China der Revolution mit den privilegierten Repräsentationssystemen von Literatur, Bühnendrama und Kinofilm lange Zeit aufrecht erhalten. Die visuelle Repräsentation des In- und Auslands in den Fernsehnachrichten, für deren Berichterstattung CCTV damals erste Auslandsvertretungen in London und New York, später auch an anderen Orten rund um den Globus, einrichtete und eine enge Zusammenarbeit mit der bis dahin vor allem der »Renmin ribao« ( Volkszeitung) zuarbeitenden staatlichen Presseagentur Xinhuashe ( Neues China) aufnahm, nahm in immer mehr Fernsehberichten und Dokumentationen der durch die Welt reisenden chinesischen Fernsehteams sowie einer wachsenden Zahl Programmimporte unübersehbar die Stelle der Kinofilme ein. Diese hatten mit ihren spezifischen – fiktionalen – Erzählstrukturen und Visualisierungsstrategien noch in den siebziger Jahren für die meisten Chinesen das einzige Fenster zur Welt oder auch nur zum eigenen Land dargestellt. Darüber berichtet eindrück-

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VOM EIGENEN UND FREMDEN lich der junge Filmregisseur Wang Guangli Jugenderinnerungen an das Kino:

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Damals wurde jeweils eine mobile Vorführeinrichtung auf dem Dorfplatz aufgebaut, wenn ein Film aus der Stadt zu uns geschickt wurde. Das war alles ganz provisorisch, manchmal gab es nicht einmal Strom, so daß die Vorstellungen ausfallen mußten, nachdem bereits alles vorbereitet war. Wenn die Filme aber liefen, dann war das wie ein Festtag für uns alle. Die Leute aus dem ganzen Dorf kamen zusammen, und es herrschte immer große Aufregung. Filme zu sehen war für uns ja nicht nur Unterhaltung sondern, weil wir weder Zeitung noch Radio oder Fernsehen hatten, vor allem auch häufig die einzige Quelle für Informationen und Neuigkeiten aus China und der Welt. Meine Verbindung zur Welt außerhalb meines Dorfes bestand über viele Jahre hinweg ausschließlich über den Film.49 Indem das Fernsehen das Kino nicht nur als Fenster zum eigenen Land ablöste, sondern das Wahrnehmungsfeld des chinesischen Publikums auf seinem kleinen Bildschirm mit einem Mal quasi globalisierte, hat sich der im Jahre 1958 im Zusammenhang mit der Einführung des Fernsehens geprägte Leitsatz »Von Peking in die Welt« schon lange vor der auch in China angekommenen Internationalisierung seiner Programme umgekehrt. Das Fernsehen wurde in den achtziger Jahren in das Spannungsfeld zwischen der in seine Dispositionen eingeschriebenen transnationalen Orientierung mitsamt ihren lokalen Gegenentwürfen sowie dem nationalen und anti(neo)kolonialistischen Anspruch der Regierungsdiskurse gezwungen. Die chinesische Regierung ermöglichte allerdings noch lange Zeit keine unmittelbare Interaktion durch das Fernsehen. Vielmehr betrachtete sie es nach wie vor als Verlautbarungsmedium der eigenen Diskurse, welche ange49 Wang Guangli: ›Der Reichtum an Geschichten.‹ Interview in Stefan R D .C Kramer und Hu-Chong Kramer: B F G . S. 199. ILDER AUS DEM

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ORTUNGEN sichts des verstärkten Imports fremder Programme sowie der wachsenden Heterogenität der meinungsbildenden Medien in Wirklichkeit auch in China längst nicht mehr konkurrenzlos die Meinungsbildung und die populären Diskurse beherrschten. Statt dessen wurde das Fernsehen trotz strenger Überwachung und einer überwiegend zentralen Programmgestaltung zu einem Medium vielfältiger Diskurse des Eigenen wie des Anderen, von Exotik und Okzidentalismus. Es eröffnete nicht zuletzt vielen der Zuschauer erstmals überhaupt die Möglichkeit, das Fremde, zu dem ja auch große Teile (zumeist alles außerhalb des eigenen Dorfes) der allseits als kulturell Eigenes kommunizierten chinesischen »Nation« gehörten, visuell wahrzunehmen und anzueignen. Ein Vergleich der Fernsehbilder mit der abgebildeten Realität blieb dem chinesischen Publikum also ebenso verwehrt, wie auf der anderen Seite die überwiegende europäische Zuschauerzahl China ausschließlich medial hat wahrnehmen können. Die Diskurse spielen sich demnach fast ausschließlich innerhalb der Medien ab, was aufgrund der strengen Kontrolle in China zwar zum einen unbegrenzte Manipulationsmöglichkeiten vermuten läßt, auf der anderen Seite aber schon bald die Eigendynamik der Diskurse in den Medien und die Unbeherrschbarkeit der Rezeption und kulturellen Wahrnehmung sowie der Aneignung der Fernsehbilder und anderen Repräsentanten des vermeintlich Fremden ans Tageslicht brachte. Eine ausgiebige Sportberichterstattung, die nationale Befindlichkeiten durch ihre ausgesprochene Emotionalität und identifikatorische Wirksamkeit auf ganz besondere Weise bediente, ergänzte die fiktionalen Serien und Nachrichtensendungen des chinesischen Fernsehens. Der Anspruch seiner gattungsspezifischen Eigenprofilierung und Abgrenzung gegenüber dem reproduktiven, fiktionalen Film, wurde besonders in der Privilegierung dieser aktuellen und authentischen Übertragungsformate evident. Er besteht zudem in der Herausbildung und Verknüpfung unterschiedlichster Formate von Bildungs- und Unterhaltungsprogrammen miteinander sowie nicht zuletzt auch in der Etablierung von Fernsehwerbung als integralem Bestandteil der Programme selbst.

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VOM EIGENEN UND FREMDEN

Abb. 10 TV-Empfangsschüssel in einem Dorf im Kreis Wuxiang, Provinz Shanxi Sie alle verweisen einzeln wie in ihrer Gesamtheit auf die Konstruktion wie in ihren Widerstandsdiskursen auf die (aus dem Inneren ihres Modells heraus nicht wirklich durchführbare) Destruktion bzw. auf die Dekonstruktion der Metaerzählung »China«, welcher zuzuarbeiten das hegemoniale Fernsehen im Reich der Mitte sich berufen fühlt. Mit der Werbung wurde dabei sein kommerzieller Charakter gegenüber dem bis in die Gegenwart weitgehend ohne Werbung auskommenden Kino in den Vordergrund gehoben. Damit trat neben der ideologischen Funktion innerhalb des sich zusehends zur Konsumgesellschaft entwickelnden Chinas ein weiterer Faktor seiner raschen Entfaltung in den Vordergrund. Darüber hinaus hat die Werbung, welche zudem die weitergehende Ökonomisierung des Fernsehens forcierte und

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ORTUNGEN dabei Diskurse hervorbrachte, die sich verselbständigen und teilweise sogar den nationalen Ansprüchen so weit zuwiderliefen, daß die Zentralregierung schließlich ein zum 1.4. 2004 in Kraft tretendes Gesetz auf den Weg gebracht hat, welches die Werbung auf 20% der Sendezeit (und in der Hauptsendezeit zwischen 19 und 21 Uhr gar auf 15%) beschränkt, als eigene Gattung auch maßgeblich zur ästhetischen Weiterentwicklung dieses Mediums sowie zu dessen Programmstrukturen seit den achtziger Jahren beigetragen. Dagegen waren die Fernsehshows und Bildungsprogramme in aller Regel sehr viel stärker um eine Harmonisierung traditioneller Sehgewohnheiten mit den apparativen Eigenschaften des Fernsehens bemüht. Sie kamen in mundartlichen Dialogprogrammen wie der seit November 1981 ausgestrahlten Sendung BAIHUAYUAN ( Garten der Hundert Blumen) sowie kulturell orientierten Fernsehshows zum Tragen. Vor allem in diesen Programmen, welche seit den achtziger Jahren immer mehr Sendezeit füllten und in den neunziger Jahren deren Hauptanteil übernehmen konnten, zeigte sich die Eigenschaft des Fernsehens als Metamedium, welches die Formen vortechnischer kultureller Entäußerung mit denjenigen von Presse, Rundfunk und Film im Rahmen seiner eigenen Dispositivität verbinden konnte. Dies geschah nicht mit dem Ziel, sie zu reproduzieren, sondern um in den Fernsehbildern eine zentral gesteuerte und hoch wirksame Form der Kommunikation und Produktion von Wissen, Bedeutung und Kultur hervorzubringen. Deren Realisierung benötigte angesichts der fortschreitenden wirtschaftlichen Entwicklung im China der achtziger Jahre allerdings eine Verbesserung der technischen Bedingungen der Produktion und Distribution von Fernsehen und die Versorgung mit Empfangsgeräten in öffentlichen Räumen, immer mehr aber auch in privaten Haushalten. Dadurch konnte dieses Medium in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und der Freizeitgestaltung der sich entideologisierenden Gesellschaft rücken, die sich zugleich von der sozialistischen Massengesellschaft in eine solche der Familiengemeinschaften zurückentwickelte. Auf diese Weise bildete sich – zunächst noch unmerklich – mit dem Bedeutungszuwachs des Fernsehens eine völlig neue

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VOM EIGENEN UND FREMDEN Form von Öffentlichkeit heraus. Diese bediente sich nicht mehr vor allem der Marktstätten und Dorfplätze, wie es im vormodernen China der Fall gewesen war und sich im sozialistischen China unter Mao fortgesetzt und teilweise in die Kinosäle bzw. die »Kleinen Kinos« des Fernsehens als Räume der kollektiven Sinnkonstitution übertragen hatte. Vielmehr wurden, wie in den Industriegesellschaften bereits Jahrzehnte zuvor, die Familien und die privaten Haushalte, von denen immer mehr über die terrestrischen Sendernetze und die Fernsehempfangsapparaturen mit dem Zentrum der Macht und darüber scheinbar mit dem ganzen Land wie schließlich sogar der ganzen Welt in Verbindung standen, zum privilegierten Ort der Bildung von Öffentlichkeit. Sie konstruierten eine hegemonial kommunizierte »nationale« chinesische Identität, allerdings – zunächst von den Autoritäten noch kaum wahrgenommen – am Ende auch deren Widerstandsdiskurse. Letzteren voran ging eine Modernisierungseuphorie, welche die Entwicklung Chinas in den achtziger Jahren beflügelte und jegliche Opposition durch ihre eigenen wirtschaftlichen und sozialen Argumente und Erfolge zunächst im Keim erstickte. Sie stärkte trotz offensichtlicher Liberalisierungen auch bei der Gestaltung von Programmen die Regierungsdiskurse und verschaffte sich in kaum einer anderen technischen Einführung und in keinem anderen Medium der Kommunikation, der Information und Unterhaltung derart eindringlich Ausdruck wie im Fernsehen. Der Wille zu seiner Durchsetzung als Leitmedium der nationalen chinesischen Öffentlichkeit wurde in den Beschlüssen der 11. Nationalen Konferenz zum Rundfunk und Fernsehen ( Dishiyici quanguo guangbo dianshi gongzuo huiyi) im März und April 1983 unterstrichen. Nicht nur die erstmalige Aufnahme des Fernsehens in den Titel der Konferenz (die 10. Rundfunkkonferenz drei Jahre zuvor war noch ohne das Fernsehen ausgekommen), sondern vor allem die durch sie veranlaßten Liberalisierungen, welche auf der Konsumentenseite den privaten Kauf von Empfangsgeräten erleichterten und auf der Produzenten- und Distribuentenseite

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ORTUNGEN ein wirtschaftliches Engagement von Unternehmen in das Fernsehen gestatteten, zeigte den fortschreitenden Wandel dieses Mediums in Richtung seiner Ökonomisierung und Anpassung an transnationale Strukturen. Damit wurden zugleich ganz neue Finanzierungswege und Ausbaumöglichkeiten der Sender zu Wirtschaftsunternehmen ermöglicht. Wenn alle im Frühjahr 1983 verabschiedeten Beschlüsse auch nur ungenügend mit Gesetzen abgesichert wurden, die Durchführung insbesondere der Unternehmenszusammenarbeit angesichts der problematischen Verknüpfung von politischen und wirtschaftlichen Ansprüchen sowie der damit zusammenhängenden unklaren Kompetenzlage zwischen Regierung, Partei und Unternehmensleitungen teilweise in großem Chaos endete und der Streit um die einzelnen Programme zwischen den aufeinanderprallenden Interessengruppen weite Kreise zog, so brachten sie doch auf beiden Seiten entscheidende neue Impulse für die weitere Entwicklung des Fernsehens. Diese führten trotz erheblicher Widerstände seitens der nationalen Lobbygruppen, die auf eine zentrale Kontrolle, starke Regulierung und eine Bündelung wirtschaftlicher Macht insistierten, immerhin zu einer raschen Ausweitung der Programmangebote. Die Programme wurden zudem immer mehr durch Werbung ergänzt und wiesen damit den Weg in Richtung einer – tatsächlich allerdings erst seit den neunziger Jahren teilweise realisierten – Wirtschaftlichkeit der hoch subventionierten staatlichen Rundfunkanstalten. Die forcierten politischen Bemühungen brachten zudem ein deutlich dichteres Sendenetz hervor, was sich in dem Zuwachs der landesweiten Sendemasten von 2469 im Jahre 1980 auf 12159 im Jahre 1985 genauso wie in der Zunahme der mit Sendern versorgten Städte von weniger als 20 im Jahre 1982 auf 172 im Jahre 1985 manifestierte. An den damaligen Konstellationen der Macht zeigte sich bereits der nun aufkommende Konflikt zwischen Politik und Ökonomie, welcher die Struktur und Programme aller chinesischen Sender wie weite Bereiche der chinesischen Wirtschaft bis in die Gegenwart prägt. Er trat an die Stelle der Herrschaft der Politik über alle anderen Bereiche, die im China Mao Zedongs drei Jahrzehnte lang unangefochten Be-

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VOM EIGENEN UND FREMDEN stand gehabt hatte. Während die Wirtschaft das Fernsehen längst als ausbaufähige Branche für Investitionen und als Werbefläche für ihre Produkte entdeckt hatte und auch die Sender selbst verstärkt ein wirtschaftliches und eigenverantwortliches Arbeiten anstrebten, standen deren Durchsetzung nach wie vor staatliche Repressalien und eine vor allem politisch motivierte Personalpolitik durch die Behörden im Wege, welche die Sender beaufsichtigten. Den nicht unmittelbarer zentraler Kontrolle unterstehenden Sendern in den Provinzen wurde etwa untersagt, außerhalb der von CCTV weitergereichten Nachrichten-, Informations- und Bildungsprogramme mit eigenen Formaten auf Sendung zu gehen. Damit wurde den Anstalten eine Privatisierung der Herstellung von Programminhalten zunächst unmöglich gemacht. Statt dessen sollte ihr finanzieller Spielraum durch Regulierungsmaßnahmen begrenzt und das Fernsehen weiterhin zentralwirtschaftlich organisiert bleiben. Zudem sorgte die Besetzung von Schlüsselpositionen des Fernsehens mit Parteikadern und Mitgliedern der Lokalregierungen für eine ungebrochene Autorität der Behörden über die unternehmerische Initiative und die Programmgestaltung der Sender. Vom Wissensmonopol der KPCh bis zur vielfältigen Fernsehlandschaft, wie sie China seit Mitte der 1990er Jahre trotz der weiterhin vorherrschenden Regulierungs- und Überwachungspolitik durch Partei und Regierung teilweise erlebt, war es Mitte der achtziger Jahre also noch ein weiter Weg. Darauf allerdings schritten einige Sender in den Metropolen, allen voran Shanghai TV, weit voraus. Unter einer vor allem ökonomisch motivierten Stadtregierung, welche selbst nicht unerheblich an Senderabgaben verdiente, gelang es diesem städtischen Sender als erstem, das Publikum mit einem politisch zurückgenommenen und vor allem auf Unterhaltungswerte setzenden Programm sowie pragmatisch modernen Organisationsstrukturen für sich zu gewinnen. So konnte STV dem übermächtigen CCTV, das alle Informationskanäle und die wichtigsten Sendefrequenzen besetzte, zumindest auf lokaler Ebene Paroli bieten. Dabei half ihm nicht zuletzt die identifikationsstiftende und äußerst populäre Städtekonkur-

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ORTUNGEN renz zwischen der politischen Metropole Chinas und dessen Wirtschaftszentrum. 50 Bereits im Jahre 1979 hatte STV damit begonnen, sich von den sozialistischen Ordnungsstrukturen und von dem ineffizienten bürokratisch-politischen Beschäftigungsmodell loszusagen. Statt dessen bemühte es sich verstärkt darum, sowohl seine technische wie auch seine kaufmännische und künstlerische Belegschaft professionell-pragmatisch auszubilden bzw. nach Qualifikationsmaßstäben einzustellen. Dadurch wurde STV nach dem Vorbild westlicher und Hongkonger Fernsehsender nach unternehmerischen Kriterien organisiert. Teilweise gegen den Widerstand der zentralen Pekinger Behörden konnte STV Werbung als integralen Bestandteil seiner Programme etablieren, um dadurch seine Wirtschaftlichkeit deutlich erhöhen und sich vom Joch der zentralen Subventionspolitik befreien zu können. Der Sender, dem u.a. das erfolgreich produzierende Shanghaier Spielfilmstudio Programmanteile zulieferte, profilierte sich außerdem mit einem vergleichsweise attraktiven Spielfilm- und Fernsehserienangebot sowie eigenen Nachrichtenprogrammen, die gegenüber denjenigen von CCTV mit deutlich stärkerem Lokalkolorit ausgestattet waren. Letztere wurden ab 1986 auch in englischer Sprache ausgestrahlt, um damit den wiedererlangten Selbstanspruch Shanghais als weltoffene Handelsstadt und Chinas Tor zur Welt zu unterstreichen. Wenngleich STV angesichts der nach wie vor zentralistisch oktroyierten politischen Kontrolle und zentralwirtschaftlichen Unternehmensführung, welche dem Sender selbst nur bedingte Handlungsfreiheiten zugestand, niemals tatsächlich in die Lage geraten ist, uneingeschränkt wirtschaftlich zu arbeiten und publikumsorientierte Programme auf Sendung zu bringen, so gelten seine Reformen doch als Initialzündung und als Vorbilder einer stärker marktwirtschaftlich ausgerichteten Senderlandschaft, wie sie sich seit Mitte der neunziger Jahre allmählich herauskristallisiert.

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50 Vgl. Jiang Cheng : ZHONGGUO DIANSHITAI ZONGLAN ( Die Fernsehsender Chinas). Bd. 1, Peking 1993.

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VOM EIGENEN UND FREMDEN Damit kam das von der Stadtregierung geleitete STV zwar selbst noch nicht in die Lage, das auf seiner zentralstaatlichen Regierungsanbindung beruhende Informations- und Meinungsmonopol von CCTV gänzlich zu sprengen. Der von der Pekinger Zentralregierung verwaltete hauptstädtische Sender setzte sein Monopol im Hinblick auf die nationale Einheit und den Ausgleich zwischen dem Zentrum und der Peripherie Chinas, die fast ausschließlich durch das Fernsehen und die Veröffentlichungen der Nachrichtenagentur Xinhuashe am »nationalen Wissen« zu partizipieren vermochte, strategisch ein. Er verteidigte sich gegen jegliche Konkurrenz um das Wissens- und also auch Machtmonopol. CCTV präsentierte das nach wie vor am ehesten identitätsstiftend wirksame Element des Lokalen vor allem in folkloristischer Form und unter ständiger Betonung seiner Zugehörigkeit zum – nationalen – Ganzen. Programme wie die seit dem 7. August 1983 von CCTV ausgestrahlte 25-teilige Serie HUASHUO CHANGJIANG ( Der Yangzi Strom) über eines der bedeutendsten chinesischen Symbole nationaler Größe und Einheit, sowie eine lange, unter dem Titel ZUGUO GEDI ( Die Stätten unserer Nation) herausgebrachte Serie von glorifizierenden, sich an symbolträchtigen Orten festmachenden Dokumentationen über die Kultur- und Naturgeschichte Chinas und seine Gegenwart reduzieren die dargestellten Orte auf ihre symbolische Funktion innerhalb des chinesischen Gesamtsystems. Sie unterschlagen im Hinblick auf ihre nationale Bestimmung alle diejenigen – lokalen – Charakteristika der dargestellten Orte, welche diesem Anspruch nicht entsprechen. Demgegenüber konnte STV dem zentralstaatlichen Repräsentationsmodell mit einem vielfältigen Angebot an regionalen, lokalen und über die chinesischen Grenzen hinausblickenden Programmen ein immer mächtiger werdendes kulturelles Gegengewicht gegenüberstellen. Der Shanghaier Sender etablierte sich mit eigenen Kommunikationsstrukturen und der Konstitution von lokalen Öffentlichkeiten durch Formate, welche unmittelbar aus dem lokalen Alltag berichteten und einem lokalen Publikum zugedacht waren. Jeder einzelne Zuschauer sollte in den dargestellten Stätten im-

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130

ORTUNGEN mer auch seinen eigenen Alltag wiedererkennen. Innerhalb und unter Auslotung der Grenzen der Pekinger Toleranz kamen auf diese Weise durchaus alternative Diskurse auf die Fernsehbildschirme. Damit hatte das Shanghaier Modell eines überwiegend lokal agierenden Senders trotz aller weiterhin evidenten Restriktionen einen nicht unerheblichen Anteil an der Herausbildung einer chinesischen Zivilgesellschaft, die sich immer stärker von ihrem geographischen und geopolitischen Zentralismus loslöst und sich sowohl auf ihre jeweiligen lokalen Bedingungen wie auch auf ihre Einbindung in eine wie auch immer definierte Weltgemeinschaft besinnt. Alternative Diskurse im Fernsehen konnten sich freilich in China bislang nur sehr selten in unmittelbarer politischer oder kultureller Opposition formieren. Vielmehr entstanden sie vor allem aus den wachsenden wirtschaftlichen Notwendigkeiten sowie den Interessen der immer stärker gegeneinander konkurrierenden Regierungsinstanzen und Sender und der damit verbundenen Notwendigkeit, ein Publikum, das zumindest im sich rasch modernisierenden urbanen China immer mehr Möglichkeiten alternativer Programmangebote und Freizeitmöglichkeiten hatte, an sich zu binden. Die wachsenden Widersprüche zwischen der Kultur- und Informationspolitik der Zentralregierung auf der einen, den lokalen Interessen der Provinz- und Stadtregierungen und jeweiligen Fernsehbetreiber auf der anderen Seite, sowie nicht zuletzt auch dem Informations- und vor allem Unterhaltungsbedürfnis eines angesichts der wachsenden Vielfalt der Information zusehends eigene, unabhängige Diskurse herausbildenden Publikums führten seit Mitte der achtziger Jahre zu einem durchaus als vorsichtig pluralistisch zu bezeichnenden Programmangebot. Einige der großstädtischen Sender wie STV oder Beijing TV setzten dabei vor allem auf ein immer stärker werdendes Angebot an lokalen Informationen. Das Lokale trat an die Stelle der – angesichts der sich verdichtenden Arbeits- und Freizeitabläufe und der mit dem Modernisierungsprozeß verbundenen Neustrukturierung des

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VOM EIGENEN UND FREMDEN gesellschaftlichen Alltags – immer weiter zurücktretenden öffentlichen Begegnung. Indem die Familie gegenüber den Kollektiven wieder deutlich an Gewicht zulegte und sich das Leben von den Wohnvierteln und Arbeitseinheiten zusehends in die Privathaushalte verlagerte, wurde der Fernsehapparat immer mehr zum wichtigsten Instrument der globalen und nationalen, aber auch der lokalen Wahrnehmung und Kommunikation. Das Fernsehen avancierte in den Städten neben den Tageszeitungen und auf dem Lande, dessen Versorgung mit Empfangsgeräten überraschend schnell ausgebaut wurde, häufig konkurrenzlos zum bedeutendsten interaktionsfreien regionalen und lokalen Kommunikationsmedium. Neben der Politik berücksichtigten die lokalen Sender in ihren Programmen auch diejenigen Aspekte aus Wirtschaft, Kultur, Sport und vor allem des alltäglichen Lebens, welche sich aufgrund ihres lokalen Charakters sehr viel näher an der sozialen und kulturellen Wirklichkeit ihres Publikums befanden als die zentralstaatlichen Nachrichten von CCTV. Dadurch erreichten sie – zum Unwillen der Zentralregierung – eine Identifikation ihres Publikums, die gegenüber den »nationalen« Formaten mit ihren eher abstrakten und imaginären Bezugsgrößen vergleichsweise hoch ausfiel. Unterlegt wurden die Programme mit zunächst umfangreicher werdenden Werbeprogrammen, mit denen etwa STV bereits im Jahre 1987, unmittelbar nach der Sendeaufnahme seines zweiten Programms, innerhalb von nur fünf Monaten 1.77 Millionen RMB einnahm und die Gewinne damit gegenüber dem vorangegangenen Halbjahr um fast 800% steigerte. Zum anderen setzten Sender wie STV oder BTV, welche durch die Werbeeinnahmen zu ganz neuen Reinvestitionsmöglichkeiten ihres Kapitals kamen, nunmehr verstärkt auf Unterhaltung in Form von (chinesischen wie ausländischen) Spielfilmen, Fernsehserien und auch immer mehr selbstproduzierten Spielshows und Unterhaltungsformaten. CCTV und die zahlreichen finanziell schwach ausgestatteten Provinzsender dagegen, die kaum selbst produzierten und daher von den Zuteilungen des mächtigen Zentralfernsehens abhängig waren, sahen sich immer mehr in die wenig attraktive Rolle als Verlautba-

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ORTUNGEN rungsmedien der Information und der Kommunikation dominanter Diskurse gedrängt, wie sie nach wie vor in alter Tradition von der Zentrale aus an die Provinzen und in die Gemeinden weitergereicht wurden. Ein wirklicher Pluralismus und damit eine die weiteren Entwicklungen des Fernsehens in den neunziger Jahren prägende Konkurrenzsituation zwischen den Sendern und den Informations- und Unterhaltungsangeboten war also in den späteren achtziger Jahren zunächst nur in den Metropolen Chinas zu beobachten. In Städten wie Peking, Shanghai, Shenzhen oder Kanton war die Versorgung mit Empfangsgeräten weitaus besser als in den ländlichen Regionen, so daß man dort tatsächlich von einer Vollversorgung reden konnte, welche von CCTV und zahlreichen regionalen und lokalen bis hin zu Stadtteilsendern zur Grundlage für ihr umfangreiches Programmangebot gemacht wurde. Zudem erweiterten in den Metropolen inzwischen auch erste Kabelnetze die Programmangebote mit Unterhaltungs- und Spartenformaten. Seit der Inbetriebnahme eines chinesischen Satelliten im April 1986 konnten darüber hinaus nun auch Satellitenprogramme empfangen werden, deren Empfangstechnik allerdings erst lange nach der wirtschaftlichen Öffnung Mitte der neunziger Jahre ein privat finanzierbares Preisniveau erreichte und angesichts der damit nach China eindringenden ausländischen Sender zudem immer wieder durch staatliche Verkaufsverbote erheblich behindert wurde. Daher spielt Satellitenfernsehen in China bis heute keine nennenswerte Rolle.51 Der Kommerzialisierung und wachsenden Konkurrenz unter den Sendern trug im Jahre 1987 CCTV erstmals Rechnung, indem es neben seinem Proklamationsprogramm ein zweites, stärker unterhaltungsorientiertes Format auf Sendung brachte. CCTV 2 versuchte man nach Shanghaier Vorbild unternehmerisch zu organisieren, um mit den ausge51 Vgl. Daniel C. Lynch: A ›T W ‹ R HOUGHT

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VOM EIGENEN UND FREMDEN strahlten Programmen gleichzeitig den Bedürfnissen eines breiten Publikums entgegenzukommen und den lokalen Fernsehanbietern in den Großstädten stärker Paroli bieten zu können. Tatsächlich reagierte CCTV aber erst in den neunziger Jahren mit umfangreichen Neuerungen und einem breiteren Kabelangebot von Sport-, Spielfilm-, und Dramenprogrammen sowie einer umfangreicheren Eigenproduktion von Fernsehserien wirkungsvoll auf die lokale Konkurrenz. Inzwischen wurden, nachdem es zu Beginn der Reformpolitik 1978 nicht mehr als 2% gewesen waren, insgesamt 47,8% der chinesischen Privathaushalte mit Empfangsgeräten versorgt. Mit seinen 610 Millionen Zuschauern und 120 Millionen Fernsehgeräten war das chinesische Fernsehpublikum zum zahlenmäßig größten der Welt angewachsen. Angesichts des regelmäßigen Fernsehkonsums durch 56% der chinesischen Gesamtbevölkerung war das Fernsehen in den späten achtziger Jahren konkurrenzlos zum wichtigsten Instrument der Unterhaltung sowie der Kommunikation von Wissen und Bedeutung geworden. Es konnte von da an die in seine Dispositive eingeschriebene Funktion als Leitmedium gesellschaftlicher und kultureller Diskurse auch im weitläufigen Reich der Mitte nahezu uneingeschränkt ausüben. Indem die Alltagswahrnehmung sich im Zuge der Abdankung der von Mao Zedong einstmals geplanten Massengesellschaft und der Einleitung des Modernisierungsprozesses gleichzeitig immer stärker in den privaten Bereich verlagerte, nahm zugleich die unmittelbare ›face-to-face‹-Kom-munikation immer mehr an Bedeutung ab und verschuf den hegemonialen Bedeutungs- und Wissensdiskursen in den technischen Medien Platz. Der Fernseher übernahm dabei die Funktion als »Fenster zur Welt« immer mehr auch im Hinblick auf die lokale Wahrnehmung, und China schrumpfte in der medialen Konstruktion und Wahrnehmung auf die Größe der heimischen Fernsehbildschirme zusammen.52

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52 Zu den Daten vgl. Wang Chuanyu : DIANSHI XUANCHUAN GUANLI LUNJI ( Aufsatzsammlung zur Fernsehpropaganda und -verwaltung). Peking 1993.

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ORTUNGEN

Transnationales Fernsehen (1989 – 2003) Nach der Phase allmählicher Liberalisierung in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre bedeutete die Niederschlagung der Demokratiebewegung auf dem Pekinger Tiananmen-Platz im Juni 1989 auch für das Fernsehen einen deutlichen Einschnitt. Mit der Ablösung der Pekinger Nachrichtensprecherin, welche am Abend des 5. Juni die gewaltsame Beendigung der Studentenproteste in Trauerkleidung verlesen und auf diese Weise ihrer persönlichen Meinung zu den Ereignissen Ausdruck verliehen hatte, hatten die um ihre Macht besorgte Partei und Regierung bereits unmittelbar nach den Ereignissen des 4. Juni den Startschuß für die neuerliche Ideologisierung und Funktionalisierung dieses inzwischen bedeutendsten Mediums der kollektiven Wahrnehmung auf seine Rolle als parteiliches Proklamationsorgan abgegeben. Dieser Anspruch, der – wie beim Beispiel der Pekinger Nachrichtensprecherin – jeglichen auch nur marginal von den hegemonialen nationalen Vorgaben abweichenden Diskurs scharf sanktionierte, sollte im übrigen in ähnlicher Weise auch für die Printmedien und den nun als Propagandainstrument wiederentdeckten Kinofilm Geltung bekommen. Er wurde in den Monaten nach dem 4. Juni 1989 mit einer Reihe neuer Gesetze und Bestimmungen und einer deutlich verschärften Kontrolle der Medien in allen Bereichen des kulturellen Lebens in China umgesetzt.53 Der landesweite Schock nach den Ereignissen von 1989, die wieder einsetzende Repressionspolitik, welche auch die ökonomische und rundfunkpolitische Entscheidungsfreiheit der Sendeanstalten bis hin zur Handlungsunfähigkeit einschränkte, und nicht zuletzt die neuerliche politische und teilweise auch wirtschaftliche Isolation Chinas in der Weltgemeinschaft führten in den frühen neunziger Jahren zu einer kurzfristigen Stagnation auch im Bereich der Fernsehwirtschaft. Der Handel mit Ideen und Techniken versiegte 53 Vgl. Thomas Reichenbach: D D M S 1994. IE

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VOM EIGENEN UND FREMDEN vorübergehend. Viele der ausländischen Programme verschwanden genauso wie kritische Gesellschafts- und politische Themen chinesischer Produzenten von den Bildschirmen. Auch Unterhaltungsprogramme mußten teilweise den wieder privilegierten Bildungs- und Dokumentarsendungen weichen, mit denen die Zuschauer entsprechend der parteipolitischen Diskurse sozialisiert werden sollten. Die Furcht der chinesischen Regierung vor der Macht des Fernsehens, nicht nur hegemoniale Diskurse sondern auch solche des Widerstands zu kommunizieren und auf diese Weise eine gegenläufige Mobilisierungswirkung zu entfalten, begründete sich auf dem dezentralen Charakter, welchen die chinesische Senderlandschaft seit den achtziger Jahren herausgebildet hatte. Er hatte dazu geführt, daß der Informationsfluß in Richtung der mehr als 600 Millionen Zuschauer kaum noch zu kontrollieren war. Die Furcht des Staates war aber auch konkret auf die Erfahrungen aus der jüngsten Vergangenheit zurückzuführen.54 Im Jahre 1989 hatte ausgerechnet das inzwischen zum nationalen Proklamationsmedium avancierte Fernsehen entscheidend dazu beigetragen, die weitgreifende kulturkritische Debatte auszulösen, durch welche schließlich die Studentenproteste des Frühjahrs von Pekinger Universitäten auf das gesamte Land ausstrahlten. Als Zündfunke hatte die im Jahre 1988 entstandene und zwischen dem 11. und 16. Juni 1988 erstmals, aufgrund der nachhaltigen kontroversen Debatten, die darauf folgten, im August desselben Jahres ein zweites Mal ausgestrahlte sechsteilige Fernsehserie HESHANG ( Flußelegie) fungiert, deren Drehbücher zeitgleich mit der ersten Ausstrahlung im staatlichen Organ, der Tageszeitung »Renbmin ribao« ( Volkszeitung), abgedruckt worden waren. 55 HESHANG

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54 Zu den kulturellen und kulturpolitischen Ereignissen im Vorfeld der R Demokratiebewegung von 1989 vgl. He Yuhuai: C R .P -L E C 1976 – 1989. Bochum 1992. YCLES OF

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ORTUNGEN entwirft eine Makrogeschichte der chinesischen Kultur und verweist dabei unmittelbar auf den nationalen Mythos der »Gelben Kultur«. Die Lößgebiete im Einzugsgebiet des nordchinesischen Gelben Flusses ( Huanghe) gelten in den hegemonialen Diskursen Chinas mit ihren frühen Zivilisationen bis hin zur ersten Reichseinigung im Jahre 221 v. Chr. als Wiege der Kultur. Sie sind neben der Großen Mauer und dem Drachen zu prägenden Symbolen historischer Kontinuität und nationaler Einheit stilisiert worden. HESHANG greift diese Symbole auf und stellt sie und mit ihnen alle kulturellen Prozesse Chinas, die sich immer wieder auf diese Symbolik beziehen, der Entwicklung der Zivilisation der westlichen Welt gegenüber. Die Serie dekonstruiert die nationalen Mythen, indem sie sie der – von den Autoren wahrgenommenen – Realität gegenüberstellt. Sie zeichnet konstrativ ein vernichtendes Bild der chinesischen Zivilisation, welche sich in den Menschen dort wiederfinde. Deren Entwicklungsunfähigkeit, so die Serie, entspricht den leblosen Wüsten Nordchinas und ihren kargen, einsilbigen Menschen, auf welche sich die Nation beruft. Die Menschen ergeben sich, wie der Film ausführt, unter den Bedingungen der unmenschlichen Gesellschaftsform Chinas servil ihrem Schicksal, anstatt sich gegen ihre Unterdrücker aufzulehnen. Die jeweiligen Herrscher hindern die Menschen seit Jahrtausenden durch die Macht der Symbole, Ordnungsprinzipien und gewaltsam auf ihre Regierungsgewalt wie auch auf ihre kulturelle Semantik insistierenden Vertreter des hegemonialen – konfuzianischen (und sozialistischen) – Kulturmodells an ihrer freien Entwicklung, deren Vision im Film in der tiefen blauen See (des amerikanischen Kontinents) an Gestalt gewinnt. Die Ausstrahlung der Fernsehserie HESHANG hatte bereits 1988 in breitesten Kreisen der Bevölkerung eine heftige Diskussion um die eigene Kultur entfacht.

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55 Kommentierte deutsche Übersetzung des Drehbuchs von Sabine PeK .D F H :T C . Bad schel: D G Honnef 1991. IE

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VOM EIGENEN UND FREMDEN Darüber sollte sich das gesellschaftliche Bewußtsein von der staatspolitisch unterstützten Phrasierung lösen und zu selbständiger Identitätssuche im Rahmen einer kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Bewußtwerdung gelangen. Über das Massenmedium sollte diese hochbrisante Thematik einem breiten Publikum nahegebracht werden, um es in Richtung auf geistige Öffnung zum Westen wie gegenüber den eigenen Möglichkeiten zu lenken und so den gesellschaftlichen Wandel vorzubereiten. Die Fernsehserie wurde daher im Sommer 1989 fast zwangsläufig von der Regierung als Mitauslöser der Studentenproteste ausgemacht. Anstelle der durch sie angestrebten Liberalisierung und kulturellen Neudefinierung setzte eine Welle der Kritik gegen sie und die unzähligen Symposien, Seminare und Schriften ein, welche die Debatten 1988 und 1989 ausgeweitet hatten. Dies war der Auftakt für eine neue Kampagnenwelle, über welche die Künstler und Medienschaffenden verstärkt auf die Parteilinie verpflichtet werden sollten. Diese Zielsetzung bestimmte den Ton eines für die weitere Medien- und Kulturpolitik wegweisenden Seminars der Propagandaabteilung der KPCh über kulturelle Angelegenheiten vom 5. bis zum 10. Januar 1990 in Peking. Zu diesem Anlaß übte der Ideologiekommissar des Politbüros Li Ruihuan , der kurz zuvor den liberaleren Hu Qili in seiner Funktion abgelöst hatte und nun die Reformierung des Kulturbetriebs in seine Hände zu nehmen gedachte, vehement Kritik an dem:

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...ideologischen Trend bürgerlicher Liberalisierung, die den Kulturmarkt überflutet hat und sich insbesondere in der Befürwortung eines nationalen und historischen Nihilismus ausdrückt, wenn etwa Fang Lizhi, der Autor der Fernsehserie ELEGIE DES GELBEN FLUSSES Liu Xiaobo und andere prominente bürgerlich Liberale erklären, die chinesische Nationalkultur sei tot und außerstande neue Formen zu kultivieren; wenn sie behaupten, es handele sich bloß um eine Lößkultur, die unweigerlich in den eigenen kulturellen Selbstmord treibt, und daß die chinesische

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ORTUNGEN Nation mit ihrer jahrtausendelangen Geschichte in Ignoranz und Rückständigkeit pervertiert sei.56 Li Ruihuans vernichtendes Urteil über die Intelligenz des Landes wurde einen Monat später konkretisiert, als man die künftige Linie auf der Grundlage der maoistischen Maxime der »Einheit von Ideologie und Kunst« neu definierte und dabei fast wörtlich auf die Beschlüsse des Jahres 1954 zurückgriff. Die Ideologie trat wieder in den Vordergrund, und den Künstlern wurde Freiheit nur noch innerhalb der »Schranken des sozialistischen Wegs«, der »Führerschaft der Partei«, der »demokratischen Diktatur des Volkes« und der Theorien von Marx, Lenin und Mao Zedong, den sogenannten »Vier Kardinalprinzipien«, zugestanden. Die innovativen Medienschaffenden hingegen wurden von den Konferenzteilnehmern heftig angegriffen. Ein eindeutig politischer Akzent wurde wieder auf ein Fernsehen gelegt, das nach Maos Verständnis rein ideologischen Lehrcharakter haben und dazu auf die Mittel des sozialistischen Realismus zurückgreifen sollte. Gemeinsam mit dem durch seine Sympathien gegenüber den demonstrierenden Studenten ins Schußfeld der orthodoxen Kommunisten geratenen Ministerpräsidenten Zhao Ziyang wurde auch der Kulturminister Wang Meng , selbst ein sozialistisch-liberaler und zugleich mäßig kritischer Schriftsteller, aus seinem Amt komplementiert und durch He Jingzhi ersetzt.

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Mit der neuen Repressionspolitik versuchte die Pekinger Regierung in den Jahren nach 1989 jedweden alternativen und oppositionellen Diskurs bereits im Keim zu ersticken und vor allem seine Verbreitung zu verhindern, für die das Fernsehen mit Sendungen wie HESHANG und den zahlreichen lokalen Programmen inzwischen zum wirkungsvollsten Instrument geworden war. Allerdings führte die neuerliche politische In56 Li Ruihuan: ›Develop National Culture and Invigorate Literature and Art‹. In: »Chinese Literature«. Autumn 1990, S. 179 – 183. (Übers.: S. .F Kramer) Vgl. hierzu auch Stefan Kramer: S C A J . a.a.O. CHATTENBILDER

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HINAS UND DIE

VANTGARDE DER ACHTZIGER UND NEUNZIGER

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VOM EIGENEN UND FREMDEN strumentalisierung weiter Bereiche des gesellschaftlichen Lebens in China schnell in die Krise, aus der Deng Xiaoping das Land im Frühjahr 1992 mit seiner wegweisenden Vortragsreise in die Metropolen und Sonderwirtschaftszonen Ost- und Südchinas zu befreien versuchte. Mit ihr leitete der Parteiführer den Weg von der zentralstaatlichen Planwirtschaft zu einem selbstverantwortlichen dezentralisierten Wirtschaftssystem ein. Zugleich löste er damit den ökonomischen Boom aus, der China innerhalb eines Jahrzehnts in einem gewaltigen, zahlreiche Entwicklungsschritte überspringenden Satz von einem quasi vormodernen in einen zumindest in seinen Metropolen spät- resp. postmodernen Staat beförderte. Damit schuf er die Voraussetzungen für die Wiederbelebung auch des Fernsehens. Dessen Entdeckung als Wirtschaftsgut und Träger wie Motor für die Konsumwirtschaft bewirkte seine Integration in den nationalen und transnationalen Wirtschafts-, Kultur- und Informationskreislauf und einen schnellen Ausbau seiner Produktions-, Distributions- und Konsumstrukturen. Den Anfang für den nun erstmals tatsächlich in größerem Ausmaß und mit der Duldung der Zentralregierung auflebenden Wettbewerb in der Fernsehlandschaft machten wieder einmal Entwicklungen in der Wirtschaftsmetropole Shanghai. Unter dem Eindruck der Shanghaier Reden Deng Xiaopings vom Frühjahr 1992 erwirkte die lokale Regierung noch im August desselben Jahres die Gründung eines zweiten Fernsehsenders. Am 1. Januar 1993 nahm Oriental TV ( Dongfang dianshitai) seinen Sendebetrieb auf. Die neue Sendergründung wurde durch den gleichzeitigen Bau des – zum Wahrzeichen Shanghais und Symbol des aufstrebenden Neuerschließungsgebietes Pudong gekürten – Fernsehturms Oriental Pearl ( Dongfang mingzhu) medienwirksam in Szene gesetzt. Der Turm wie dieser erste teilprivate Fernsehsender in China wurden zum Sinnbild des neuen Shanghai und darüber hinaus der wiedererstarkten Wirtschaftsmacht China. Zugleich demonstrieren diese Prestigeprojekte, denen eine lange Reihe weiterer ehrgeiziger Pläne bis hin zur – erfolgreichen – Bewerbung Shanghais um die Weltausstellung 2010 folgen sollte, den Wandel Chinas von

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ORTUNGEN der überwiegend agrarischen Gesellschaft zu einer postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft, welche eine Phase der Industrialisierung allenfalls marginal miterlebt hatte, und schließlich seinen Eintritt in die globale Medienkultur. OTV hatte als erstes teilprivatwirtschaftlich gegründetes und geführtes Unternehmen der Fernsehgeschichte Chinas Modellcharakter für zahlreiche Senderneugründungen und Umstrukturierungen in den neunziger Jahren. Gleichzeitig sind an seiner Entwicklung die weite Kreise bis in die technische Entwicklung und die Programme ziehenden Probleme evident geworden, welche die zögerliche Umwandlung von der zentralen Planwirtschaft zu einer privaten Marktwirtschaft verursachten. Partei und Regierung waren zunächst nicht bereit, auf ihre Kompetenzen zu verzichten. Dennoch erzielte OTV bereits im ersten Jahr seines Betriebs mit nur einem Sendeplatz und einem Startkapital von 3 Mio. RMB durch sein effizienzorientiertes Wirtschaften einen Umsatz, der mit 120 Mio. RMB denjenigen des etablierten Shanghaier Konkurrenzsenders um 20% übertraf.57 Dieses Ergebnis konnte u.a. durch die von sozialistischen Beschäftigungsmustern noch deutlicher abrückende Personalpolitik mit ihren niedrigen Lohnkosten und ihrer hohen Produktionsleistung erreicht werden. So konnte mit den 17 täglichen Programmstunden von OTV, gemessen an der Größe der Belegschaft, eine gegenüber dem noch immer recht schwerfälligen Staatsunternehmen STV um ein Vierfaches höhere Produktivität erzielt werden. Das machte bereits im Jahre 1995 die Kapazitäten für die Aufnahme des Sendebetriebs durch ein zweites Programm und zur Einspeisung in das rasch expandierende Kabelnetz der Hafenmetropole frei. Mit hoher wirtschaftlicher Effizienz und einem breit gestreuten ökonomischen Wirkungsbereich, welcher neben 57 Zur Gründung, der ökonomischen Geschichte und dem wirtschaftlichen und politischen Rang von Oriental TV in Shanghai und China vgl. Hu-Chong Kramer: ›Analyse der Reformeinflüsse auf Unternehmen der Fernsehwirtschaft in China. Untersucht am Beispiel des Fernsehsenders Oriental Television‹. Unveröffentlichte Diplomarbeit, Ruhr-Universität Bochum, Fakultät für Wirtschaftswissenschaft, 1999.

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VOM EIGENEN UND FREMDEN Merchandising-Produkten auch andere Einrichtungen der Unterhaltungsindustrie wie den Suzhou Vergnügungspark ( Suzhou leyuan), die Beteiligung an Unternehmen der expandierenden Privatwirtschaft sowie zahlreiche Immobilien im aufstrebenden Shanghai umfaßte, entsprach OTV den Vorstellungen Deng Xiaopings von einer rasch wachsenden postsozialistischen und postindustriellen Wirtschaftsordnung. Allerdings wurden diese Gewinne durch die ordnungspolitischen Bestimmungen, die einer vollständigen wirtschaftlichen Autonomie dieses und anderer Sender nach wie vor im Weg standen, zu großen Teilen aufgesaugt. Sie erlaubten den lokalen Behörden, welche ein Mitspracherecht über alle Entscheidungen ausübten, einen erheblichen Einfluß auf die unternehmerische Führung von OTV und gaben ihnen, die zudem durch willkürlich festsetzbare Abgaben anteilig an dessen Gewinnen beteiligt waren, außerdem die Möglichkeit der politischen Mitbestimmung über die Sendeinhalte. Auf der anderen Seite machte die Unvorhersehbarkeit der politischen Entscheidungen und der Abgabehöhen eine langfristige Wirtschaftsplanung für den Sender trotz strengsten unternehmerischen Wirtschaftens nahezu unmöglich.58 Die Entwicklung des chinesischen Fernsehens seit 1992 erweist sich also als ein Prozeß des ständigen Widerstreits. Er findet statt zwischen den hegemonialen Diskursen der Zentralregierung, den häufig mit einem stark profilierten ökonomischen und politischen Eigeninteresse auftretenden lokalen Behörden sowie der von Deng Xiaoping und seinen Nachfolgern angestrebten wirtschaftlichen Dezentralisierung und Privatisierung, mithin zwischen politisch-ideologisch motivierter Plan- und unternehmensökonomisch orientierter Marktwirtschaft.

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58 Hu-Chong Kramer: ›Analyse der Reformeinflüsse auf Unternehmen der Fernsehwirtschaft in China‹. a.a.O.

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Abb. 11 Shanghais Fernsehturm Oriental Pearl Letztere hat zudem eine Diversifikation der Fernsehwirtschaft und das Eindringen vielfältiger Formen und Inhalte kultureller Konstruktion und Repräsentation mit sich gebracht, die gegenseitig, vor allem aber mit denjenigen Diskursen, die auf ihren hegemonialen Anspruch insistieren, im Wettstreit stehen. Dabei versuchten die Zentralregierung und ihre regionalen Sprachrohre in den neunziger Jahren in

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VOM EIGENEN UND FREMDEN ausgeprägten Kampagnen genauso wie in der alltäglichen Informationspolitik das Wertevakuum, welches der mit dem wirtschaftlichen Aufschwung einhergehende sozialistische Ideologieverlust mit sich brachte, durch die Heraufbeschwörung der nationalen Gemeinschaft mit allen ihren Herbeiführungen und horizontalen wie vertikalen Legitimationsketten auszugleichen. Dieselben Eigenschaften, welche das Fernsehen zum privilegierten Medium der postsozialistischen nationalen Konstruktion Chinas gemacht hatten, sein privater, zeitlich offener Nutzungscharakter genauso wie seine vielfältigen Programme, welche Fiktion und Information bis zur Unkenntlichkeit miteinander vermischen und durch ihre Anordnungen ganz neue Kommunikationszusammenhänge und also auch Identifikations- und Identitätsräume schaffen, riefen zugleich die Geister ihrer eigenen Widerstandsdiskurse herbei. Die Konstruktion der chinesischen Nation im und durch das Fernsehen ist angesichts von dessen lokalem wie gleichermaßen transnationalem Charakter nicht zu trennen von ihrer eigenen Infragestellung, welche dieses Medium im gleichen Atemzug mit der Durchsetzung seiner hegemonialen Anordnungen vollzogen hat. Entstanden ist eine Ebene multipler Diskurse chinesischer Kultur. Sie bewegen sich zwischen Zentralismus und Lokalismus, Nationalismus und Transnationalismus, Staatspropaganda, Ökonomie und Widerstand sowie zwischen China und dem Fremden bzw. seinem Anderen als – imaginäre – Konstruktion des Fremden innerhalb des eigenen Selbstverständnisses. Ausgetragen werden sie nicht nur intermedial zwischen dem Fernsehen und seinen Konkurrenzmedien sondern auch im Fernsehen mit seinen zahlreichen intramedialen Rekurs- und Kommunikationsebenen selbst. Damit funktioniert das Fernsehen in China nicht bloß als Medium und Träger aller dieser Diskurse. Vielmehr wurde und wird es selbst auch zu ihrem Konstrukteur, Motor und prägendem Teil, ohne den die chinesische Kultur und die chinesischen Kulturen in ihren gegenwärtigen Ausprägungen nicht denkbar geworden wären. OTV wurde in den 1990er Jahren gleichermaßen zum Modell und Repräsentanten des chinesischen Wirtschaftsauf-

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ORTUNGEN schwungs und Wandels von der industrielastigen zentralen Planwirtschaft zur dezentralen, den Dienstleistungssektor privilegierenden Marktwirtschaft wie auch zum Symbol für dessen Strukturprobleme und hausgemachte, überwiegend politische Hindernisse. Der Widerstreit zwischen dem staatlichen Erziehungs- und Informationsanspruch an das Fernsehen auf der einen und dessen gewinnorientiertem Freizeitund Unterhaltungsnutzen auf der anderen Seite, mithin zwischen Propaganda und Wettbewerb, spiegelte sich entsprechend auch in der technischen Weiterentwicklung und seinen Programmen wider. Das zeigt sich etwa im Ausbau der Kabelnetze, der am 19. Februar 1992 vom Rundfunk-, Filmund Fernsehministerium beschlossen wurde. Bei der Zulassung des Kabelfernsehens wurde allerdings nicht auf den Zusatz: »Das erste Gebot des Kabelfernsehens muß es sein, daß es nicht zum Werbeprogramm für die Privatwirtschaft wird«59 , verzichtet, was nach wie vor den entscheidenden Unterschied zwischen diesem ideologisch und informationspolitisch für die Zentralregierung äußerst relevanten Medium und anderen, teilweise inzwischen frei agierenden Zweigen der Wirtschaft Chinas ausmacht. Während unter diesen Prämissen bereits im Jahre 1995 die Hälfte der städtischen Haushalte mit Kabelanschluß versorgt war, wurden dem Ausbau des sehr viel schwieriger zu kontrollierenden und gegenüber ausländischen Programmen abzuschottenden Satellitennetzes zahlreiche Steine bis hin zu grundsätzlichen Verboten des Verkaufs bzw. Erwerbs privater Empfangsanlagen in den Weg gelegt. Das hat das Gefälle zwischen den Städten und dem chinesischen Hinterland, wo auch in der Gegenwart häufig nur wenige Sender terrestrisch empfangen werden und selbst die Stromversorgung teilweise nicht gesichert ist, zusätzlich verstärkt.60

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59 In: Z 1992 – 1993 ( 1992 – 1993; Jahrbuch des chinesischen Rundfunks und Fernsehens 1992 – 1993). Peking 1994, S. 298f. F 60 Vgl. hierzu meine Untersuchungen in: D . a.a.O. HONGGUO GUANGBO DIANSHI NIANJIAN

AS CHINESISCHE

KUM

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ERNSEHPUBLI-

VOM EIGENEN UND FREMDEN In den Großstädten wurden bis in die Mitte der neunziger Jahre mit überwiegend privatem Kapital gut ausgebaute Kabelnetze errichtet. Von neuen Sendern wie Peking KTV ( Beijing youxian dianshitai), Shanghai KTV ( Shanghai youxian dianshitai) oder Kanton KTV ( Guangzhou youxian dianshitai) wurden werbeträchtig vor allem auf Unterhaltung setzende Spartenprogramme – von Spielfilmsendern über Musik-, Sport- und Showprogrammen bis hin zu Dramensendern und Wirtschaftsprogrammen – zunächst in die mit breiten Unterhaltungsangeboten lockenden Nachtbars, später aber auch in die privaten Haushalte eingespeist. Gleichzeitig wurden bereits erste Versuche mit digitalen Bouquetprogrammen gestartet, die bislang aber noch keine kommerziellen Früchte tragen. Dieser Wandel von vorwiegend didaktischen Formaten hin zu seichter Fernsehunterhaltung zeugt von der entideologisierten, auf Kommerz und soziale Ruhe abzielenden Fernsehpolitik der Regierung, die bestrebt ist, den Nationalstaat und zugleich Weltoffenheit zu repräsentieren. Sie war nicht nur ökonomisch motiviert, sondern agierte zugleich als ein politisches Projekt in der entideologisierten Gesellschaft. Darin setzte die Zentralregierung auf die Füllung der Wertelücken durch ein doppeltes Modell der nationalen Identitätskonstruktion sowie sozialer Zufriedenheit durch die Förderung einer bis dahin weitgehend in den Hintergrund gedrängten Konsumkultur. Im Hinblick auf die nationale Bedeutungskonstruktion präsentiert das Fernsehen inzwischen überwiegend voller Optimismus eine heile und fröhlich ausgelassene Welt innerhalb der nationalen Grenzen Chinas. Sie findet sich sowohl in seinen dokumentarischen Programmen von Nachrichten und politischen Sendungen wie auch in den Sport-, Gesellschafts- und Kulturberichterstattungen. Sie ist prägendes Merkmal der Unterhaltungsshows und nicht zuletzt der fiktionalen Programme geworden und beherrscht mit ihren immer wiederholten Erfolgsgeschichten die historischen Fernsehserien wie auch solche über den urbanen Alltag. Sieht man von der ständigen Inszenierung einiger agrarischer Mustereinheiten und Profiteure des wirtschaftlichen Wachs-

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ORTUNGEN tums ab, sind dagegen Themen über den von der Propaganda verdrängten ländlichen Alltag im gegenwärtigen China sowie die immer größeren sozialen Probleme weitgehend aus den staatlichen Programmen verbannt worden. Das hat dazu geführt, daß die ländliche Bevölkerung in den Fernsehprogrammen inzwischen überwiegend fremde Welten präsentiert bekommt, welche die chinesischen Metropolen wie das Ausland für sie in gleichem Maße darstellen. Was seine soziale Bedeutung betrifft, erhielt das Fernsehen seit den neunziger Jahren in China jene doppelte Funktion, die auch in anderen Gesellschaften nicht unerheblich zu seiner globalen Rolle beigetragen hatte. Zum einen wurde es mit seinen Programmen und den darin konstruierten und repräsentierten Kodierungen und Bedeutungen zum wichtigsten Instrument der Kommunikation einer in China neu eingeführten Ideologie des Konsums. Das Fernsehen produzierte in seinen Sendungen Vorbilder für einen postsozialistischen chinesischen Life Style, wie ihn sich Industrie und Regierung gleichermaßen herbeiwünschten. Auf der anderen Seite wurde das Fernsehen mit seinen rasch voranschreitenden technischen Entwicklungen aber auch selbst zu einem maßgeblichen Teil der Kultur, welche es in seinen Programmen vermittelte. Dieses Medium übernahm die Herrschaft über wesentliche Teile der gesellschaftlichen Konstitution wie auch der privaten Alltagsgestaltung in China. Es beeinflußte mit seinen qualitativ immer hochwertigeren Programmen, welche gleichzeitig in terrestrischer und Kabelübertragung mit zahlreichen Spartenkanälen und Regionalwie Lokalprogrammen ein immer breiteres Angebot bereithielten, die Meinungsbildung und Lebensgestaltung eines jeden einzelnen Menschen. Das Fernsehen schrieb sich sowohl medial wie auch durch seine hegemonial kommunizierten Programminhalte als neues Leitmedium und Wissensmonopolist in das kulturelle Selbstverständnis des Reichs der Mitte ein. Zugleich hat es dabei aber auch seine Widerstandsdiskurse mit produziert, die sich in den achtziger und neunziger Jahren ebenfalls auf vielfältige Weise ihren Weg in das kulturelle Selbstverständnis seiner Rezipienten bahnten und dazu beigetragen haben,

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VOM EIGENEN UND FREMDEN das chinesische Selbstverständnis wieder multiperspektivisch zu kennzeichnen. Dabei hat das Fernsehen trotz zahlreicher Versuche seiner Vereinnahmung und Funktionalisierung, seien sie von der Zentralregierung oder den regionalen oder lokalen Behörden politisch motiviert oder von den wirtschaftlichen Interessengruppen im In- und Ausland ökonomisch begründet, sich dennoch nicht ausschließlich vor den Karren einer Interessengruppe spannen lassen, sondern vielmehr selbst aufgrund der ihm eingeschriebenen apparativen und dispositiven Eigenschaften zur Konstitution Chinas beigetragen. Dabei greifen die Parameter seiner Medialität, seiner Wahrnehmungsanordnungen und der in seine Programme eingeschriebenen Bedeutungs- und Wissensdiskurse fließend ineinander und sind kaum wirklich voneinander abkoppelbar. Fernsehen ist also, wie dieser historische Abriß gezeigt hat, auch in China sowohl im Hinblick auf seine Technik, seine apparativen Anordnungen und seine ökonomischen Prozesse wie auch im Hinblick auf seine Programme und deren wesentlichen Gattungen nichts anderes als Fernsehen. Allerdings haben sich alle unterschiedlichen, ökonomischen, politischen, kulturellen und kulturhistorischen sowie sozialen Einflüsse, die teilweise vehement miteinander kollidieren, in die Produktionsformen, die Nutzung, die Wahrnehmung und nicht zuletzt in die kulturelle (Re-) Produktion mit dem und durch das Fernsehen eingeschrieben. Gerade in dieser Heterogenität der Formen und Multiperspektivität seiner Bedeutungen und kulturellen Verortungen haben sie zur Konstitution eines spezifischen »chinesischen« Fernsehens und einer eigenständigen »chinesischen« Fernsehkultur beigetragen. Diese bestätigt sich bereits in den lebendigen akademischen, kulturellen und politischen Debatten über die chinesische Kultur und Fernsehkultur und in den Formulierungen von soziopolitischen und theoretischen Modellen eines chinesischen Fernsehens. Sie trachten dieses privilegierte Medium kulturell, politisch und gesellschaftlich zu verorten und haben seit den 1980er Jahren dessen technische, strukturelle und inhaltliche Entwicklung in gegenseitiger Wechselwir-

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ORTUNGEN kung, sowohl als Chronist und Interpret wie auch als Motivgeber und Motor, begleitet.

Abb. 12 Papp-»Farb«-TV-Gerät als Grabbeilage in Kanton

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2 ENTORTUNGEN: MEDIEN, KULTUR UND DAS ANDERE Was ist eine ›Kultur‹? Schlagen Sie’s nach. ›Eine Gruppe von Mikroorganismen in einer Nährlösung unter kontrollierten Bedingungen.‹ Ein wuselndes Bündel von Keimen in einer Petrischale, mehr nicht, ein Laborexperiment, das sich als Gesellschaft bezeichnet. (Salman Rushdie: D F ) B ER

ODEN UNTER IHREN

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Salman Rushdie hat in seinem gewaltigen Roman DER BODEN UNTER IHREN FÜßEN1 mit der Geschichte der Popmusik zugleich diejenige der globalisierten Kultur und ihrer Einschreibungen in die lokalen Kulturen seiner – auf indische Ursprünge zurückblickenden – Protagonisten nachgezeichnet. Aus Europa nach Asien gelangt und von dessen Gesellschaften aufgesogen, tritt sie darin ihren medialen Siegeszug zurück in die Länder ihres Ursprungs an, den sie vor allem auf dem Sattel von Rundfunk und Fernsehen austrägt. In diesem Zusammenhang, der in gewissem Sinne zugleich das Eindringen der technischen Medien in die Kulturen des Ostens und deren Weg zurück in die Welt beschreibt, hat Rushdie zahlreiche Definitionen für das Phänomen Kultur zwischen Lógos und F 1 Salman Rushdie: D B G B H F . London 1999). ER

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. München 2000. (T

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VOM EIGENEN UND FREMDEN Mythos auf der einen, der Metapher und lyrisch-bildhaften Wahrnehmung auf der anderen Seite aufgegriffen oder eingeführt. Sie sind in jedem Moment auch immer durch ihre Medialität und Art der Kommunikation strukturiert. Selbst aus einer vermeintlich hybriden Position zwischen dem lokalen und kolonisierten Subjekt und dem nur scheinbar im Gegensatz zu diesem stehenden Angehörigen der transnationalen Kulturindustrie und Mediengesellschaft schreibend, gelingt es Rushdie in seinem literarischen Werk, virtuos mit den Definitionen wie dem Begriff der Kultur zu jonglieren. Sein Text wie auch das Kulturverständnis seiner Leser gewinnen gerade durch die scheinbaren Widersprüche an Aussagekraft im Hinblick auf die transnationalen wie lokalen Prozesse von Kultur und deren gegenseitigen Einschreibungen innerhalb der globalisierten Medienkultur. Sie treffen insbesondere auch auf China zu, sind bisher aber von keinem der zumeist hermetisch in ihrem kulturellen Denken gefangenen chinesischen Autoren adäquat beschrieben worden. Die dagegen von den meisten chinesischen Schriftstellern und Filmemachern konstruierten identitätsstiftenden Differenzen sind deshalb aber durchaus nicht als fixe Größen definierbar. Vielmehr folgen die Selbstverhältnisse der kolonisierten wie auch diejenigen der kolonisierenden Gesellschaften nahezu deckungsgleich der von Jacques Lacan für die Identität von Individuen aufgestellten These, daß sich das Selbst im Blick des Anderen konstituiere und an dessen Ort seine Sprache (und medialen Zeichensysteme) herausbilde: Es ist aber klar, daß das Wort erst im Übergang von der Täuschung zur Ordnung des ›signifiant‹ (= symbolische Ordnung) seinen Anfang nimmt, und es ist klar, daß der ›signifiant‹ einen anderen Ort fordert: den Ort des Anderen, den Anderen als Zeugen, den Zeugen, der ein Anderer ist als irgendeiner der (imaginären) Partner (der Täuschung); ein anderer Ort also ist gefordert, damit das Wort, das er trägt, lügen und sich so als Wahrheit setzen kann.2

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ENTORTUNGEN Überträgt man Lacans sprachpsychologisch orientierte Theorie zur Identitätskonstruktion auf die technisch-apparativen Medien der interaktionsfreien und interaktionsarmen gesellschaftlichen Kommunikation, so unterliegen auch diese, wie es etwa Kathryn Woodward3 ausführt, einer ständigen Veränderung sowie einem unaufhörlichen Austausch mit dem vermeintlichen Anderen und sind somit letztendlich selbst multiperspektivisch. Das in Abgrenzung gegen seine imaginäre oder reale Identität definierte Andere wird dabei, wie es Jonathan Friedman 4 in seiner Studie über die Wechselwirkungen zwischen globalen Prozessen von Kultur und lokalen Definitionen des Eigenen eingehend untersucht hat, in Wirklichkeit in Form einer unaufhörlichen Prozeßhaftigkeit und Dynamik bereits durch den Kontakt allein entscheidend verändert und zum Teil des Eigenen. Daraus generiert es, wie es Dirk Baecker in seinen systemtheoretischen Thesen zur Konstitution von kulturellen Systemen herausgearbeitet hat, jeweils neue Diskurse zwischen dem Eigenen und seinem (vermeintlichen und in der Imagination an Realität gewinnenden) Anderen und hebt die scheinbar fixen Kategorien damit schließlich nahezu auf.5 Die im ständigen Austausch zwischen dem Eigenen und dem Anderen evident werdende Ungreifbarkeit, Hybridität und Dynamik von Kultur und Kulturen wie vor allem der transkulturellen Medien hat sich längst in nahezu alle kulturellen Räume und Systeme eingeschrieben. Daher kann es bei der Untersuchung des Fernsehens und der Medienkultur in China nicht um einen Kulturvergleich zwischen China und Europa, also auch nicht um eine ontologische Festschreibung von Identität und Differenz gehen. Statt dessen muß die Frage nach der Kultur und den Kulturen Chinas auf diejenige nach 2 Jacques Lacan: E . Paris 1966, S. 907. Deutsch zitiert nach: H. U .J L G Lang: D S P . Frankfurt a. M. 1998, S. 106. D . London 1997. 3 Kathryn Woodward: I I G P . London, 4 Jonathan Friedman: C Thousand Oaks 1994. ? Berlin 2000. 5 Dirk Baecker: W K CRITS

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VOM EIGENEN UND FREMDEN den jeweiligen Diskursen über dieselben zurückgeführt werden. Dabei steht der von Michel Foucault6 eingeführte und von dem französischen Philosophen François Jullien7 in seine Überlegungen über Europa und China eingefügte Terminus der »Heterotopie« Pate. Er bezeichnet den anderen Ort und Rahmen des diskursiven Denkens und macht diesen für die Problematik der epistemologischen Relativität der Betrachtung von Kultur fruchtbar, die beim Blick auf China stets evident ist. Zudem soll die Frage nach der Medienkultur Chinas im Hinblick auf die Breite der Zugänglichkeit auf die Medialität von Kultur und das jeweilige Selbstverständnis der medialen Einschreibungen und Wechselwirkungen eingeschränkt werden, da ja die Diskurse über Kultur jeweils in unausweichlicher Abhängigkeit von ihrer Mediatisierung und Kommunikation stehen und insofern selbst Produkte wie nicht zuletzt auch Mitkonstrukteure, mithin Teile der Kultur sind, über die sie ihre Diskurse errichten. So muß einer Auseinandersetzung mit den Medienkulturen Chinas sowie ihrer nationalen, transnationalen und lokalen Verortung nicht eine Analyse kultureller Ontologie, sondern vielmehr eine Betrachtung der gegenwärtigen chinesischen Diskurse über das kulturelle Selbstverständnis im Reich der Mitte vorausgehen. Auf dessen Grundlage bestimmt sich in Chinas dominanten Debatten das gegenwärtige Eigene in Form der Konstruktion von historischer Kontinuität und Einheit sowie von Differenz gegenüber dem imaginierten und nicht zuletzt medial konstruierten und kommunizierten Anderen oder aber es hat sich in Form einer unaufhebbaren Indifferenz festgeschrieben. Schließlich basiert auf der Fixierung des jeweiligen kulturellen Selbstverständnisses in China auch die Art seiner Aneignung des Modernisierungsprozesses und der industriellen Medien seit dem frühen 20. Jahrhundert. Diese haben ihrerseits innerhalb eines Prozesses der sich in einer unaufhörlichen Dynamik befindlichen gegenseitigen Kausalität die chinesische Wahrnehmung von 6 Michel Foucault: D O 7 François Jullien: D U Berlin 2002. IE

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ENTORTUNGEN Kultur in ihrem Spannungsfeld zwischen der Konstitution des Eigenen und des Anderen sowie zwischen den Verortungen des kollektiven und individuellen Selbstverständnisses in lokaler, globaler und nationaler Perspektive mit konstruiert. Es kann also aufgrund der tatsächlichen Unmöglichkeit einer polarisierenden Fixierbarkeit von Kultur und Kulturen zwischen dem Ich und dem Du auch kein Vergleich zwischen verschiedenen kulturellen Systemen vorgenommen werden. Er würde unweigerlich in die Falle der hegemonialen Diskurse einer Imagination unaufhebbarer kultureller Differenzen zwischen denselben und einer Eigendefinition auf der Basis einer imaginierten Abgrenzung von seinem Anderen geraten. Statt dessen soll der Zugriff auf die Fernsehkultur Chinas, auch ohne dabei tatsächlich den von Jullien konstatierten »anderen Ort des Denkens« einnehmen zu können, auf der Basis einer Beschreibung der Diskurse stattfinden, mit denen China selbst gegenwärtig seine Kultur bezeichnet und beschreibt und zur Grundlage seiner Fernsehproduktion und -wahrnehmung bestimmt. Jenseits der Frage nach einer überprüfbaren historischen »Wahrheit« (was auch immer darunter zu verstehen ist) stellen die gegenwärtigen Betrachtungen Chinas über sich selbst und seine Diskurse über das Andere, auf die hier abgezielt wird, gerade in ihrer ungreifbaren und damit angreifbaren Diskursivität, ihrer inhärenten Widersprüchlichkeit und ihrer ständigen Dynamik bereits selbst einen entscheidenden Teil von Chinas Kultur und Kulturen dar. Sie begreifen sich als »unaufhörliche Variation« 8 und ständiger Fluß. Diese wiederum stehen, genauso wie die Historiographie selbst, in einem ständigen Dialog mit den Medien ihrer Repräsentation, welche auf der anderen Seite zu jedem Zeitpunkt der Geschichte Chinas dessen Kulturdiskurse kommuniziert haben. Darüber hinaus haben sie mit den spezifischen Eigenschaften ihrer Medialität, ihren Dispositiven, Speicher- und Gedächtnisformen und den Ordnungs- sowie Wissenssystemen, die sich durch sie erst kon-

8 Ebd. S. 106.

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VOM EIGENEN UND FREMDEN stituieren, an den Prozessen der Kultur und der Kulturen Chinas selbst entscheidend mitgewirkt.

Kulturdiskurse Der Gebrauch des Begriffs Kultur hat in China wie an jedem anderen Ort immer die kulturellen Repräsentationsmedien mit geprägt, wie auf der anderen Seite diese auch an der Entwicklung des Kulturverständnisses beteiligt waren. Das zieht sich, wie in der einschlägigen Literatur bereits hinreichend beschrieben, in der europäischen Tradition von der klassisch griechischen (boukólos = Hirte) und römischen (colere, cultura = bestellen, pflegen) Bedeutung des Kultivierens beim Ackerbau und dem Hüten von Tieren und in dessen Folge auch des Geistes, wie ihn Giovanni Battista Vico9 1725 bei der von ihm etablierten Trennung zwischen Natur und Kultur zugrunde gelegt hat, weiter über den idealistischen deutschen Kulturbegriff, mit dem sich erst im Bürgertum des 18. Jahrhunderts seine Verbindung zu den hochgeistigen Künsten ausgeprägt hat, bis hin zur Definition von den Nationalkulturen seit der frühen Moderne, welche zugleich neue Formen von Differenz ausgebildet hat. Als BindestrichKultur der Spät- oder Postmoderne drückt Kultur sich schließlich in der politischen Streitkultur der Parlamente und sogar der Spielkultur beim Fußball aus und wird neben ihrer schöngeistigen Ausrichtung auch in der nach Anknüpfungspunkten und Dialogmöglichkeiten suchenden Interkulturalitäts- und Transkulturalitätsforschung in unterschiedlichste soziale und ideologische Kontexte gestellt. Nicht zuletzt wird dieser Terminus, ohne den Blick auf die jeweiligen Selbstbeschreibungen des betrachteten Gegenstands zu richten, auch bei der Beschreibung des kulturell Anderen verwendet, das China in der Kolonialzeit und auch in der Gegenwart für uns nach wie vor darstellt. Das bedeutet zu9 Giovanni Battista Vico: N W K V . 2 Bd., Hamburg 1990. EUE

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ISSENSCHAFT ÜBER DIE GEMEINSCHAFTLICHE

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ENTORTUNGEN gleich eine Aneignung nicht des realen, wohl aber des imaginierten Fremden in die Diskurse des Eigenen. Das entwicklungsorientierte und zielgerichtete nachmittelalterliche Verständnis von Kultur in den sich industrialisierenden Gesellschaften Europas, das im Zuge des Kolonialismus seit dem 19. Jahrhundert auch nach China gelangt ist, hat sich maßgeblich in die Dispositive der technischen Medienapparaturen von der Druckerpresse und der Photo- über die Filmkamera zum Fernsehen und den digitalen Medien eingeschrieben und ist durch sie in aller Welt kommuniziert worden. Alle kulturellen Aktivitäten, die auch die industriellen, apparativen Medien hervorgebracht haben, beziehen sich auf den zentralen Kultur konstituierenden griechischen Terminus téchnai. Wie es in zahlreichen Arbeiten bereits eingehend beschrieben worden ist, bringt dieser das planvolle menschliche Handeln zur mimesis (Nachahmung) und schließlich zur Unterwerfung und Überwindung der Natur mit dem Ziel ihrer Neuerschaffung (Kultur) zum Ausdruck. Er ist im Hinblick auf die Frage nach der Einschreibung und Aneignung der technischen Medien innerhalb der kulturellen Kontexte Chinas sehr viel ertragreicher als der kaum greifbare Kulturbegriff selbst. Das Verständnis des téchnai bringt mehr als alle anderen Termini das grundlegende nachmittelalterliche europäische Kulturverständnis einer linear dynamischen Entwicklung aus einem Urzustand der Natur zum Ausdruck. Als phýsis stellt die Natur das Ernährende und Erhaltende des von den Göttern für die Menschen zweckmäßig eingerichteten Bodens und seiner Früchte auf der einen und die Naturanlage des Menschen auf der anderen Seite dar. Durch ihre Bearbeitung in Form des Bestellens des Ackers oder des geistigen Kultivierens der Menschen durch Lernen (Vernunft) und Übung (Moral) wird der Urzustand von Natur bezwungen und in einen zivilisatorischen Zustand der Kultur verwandelt. Deren Überwindungsstreben hat sich bereits auf die frühindustriellen Repräsentationssysteme ausgewirkt, auf welche hin im Kontext dieser Untersuchung im Hinblick auf ihre kulturkonstitutive Bedeutung wie auch auf ihre Wechselwirkungen mit den technisch-apparativen Medien der Gegenwart der – in

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VOM EIGENEN UND FREMDEN China erst seit den 1990er Jahren gebräuchliche – Begriff des Mediums ( Meiti) erweitert werden muß. Er findet sich auch in den modernen Medienapparaturen wieder und bestimmt diese als »Ausweitungen der menschlichen Sinne« wie schließlich auch des menschlichen Geistes. Er läßt darüber hinaus die ökonomischen Prozesse wie auch die auf die Expansion des Systems von Kultur ausgerichtete militärische Kolonisierung möglichst zahlreicher Gesellschaften durch die industrialisierten Gesellschaften begreifbar werden. In diesem Sinne beruht das Kulturverständnis der industriellen Neuzeit auf der Dichotomisierung von Natur und Kultur wie zwischen dem Eigenen und dem Anderen. Es hat einen linearen, dynamischen Prozeß der Nachahmung, Überwindung und Neuerschaffung von Natur durch den Menschen auch in seine Medien eingeschrieben, die im Zuge des Imperialismus und der Moderne schließlich apparativ nach China gelangt sind. Somit hat Kultur in erster Linie eine ordnungsund geschichtsstiftende und auch systemlegitimatorische Funktion. Sie beruft sich unter Verwendung einer normierten Hard- und Software ihrer industrialisierten Repräsentationssysteme auf vereinheitlichte und sozial vereinheitlichende Zeichencodes sowie feste Zeit- und Raumstrukturen, indem sie ihren eigenen Mythos herausbildet und mit denselben Mitteln kommuniziert, welche auch ihre Inhalte prägen. Dabei hat das Konzept des Mythos durch seine Einbettung in die industrielle Kultur der Typographie und ihrer Nachfolgermedien selbst maßgeblich zu dem Erfolg dieses Modells beigetragen, das sich in der industrialisierten Welt auch gegen zahlreiche alternative Konzepte hat durchsetzen und zur Grundlage des kulturellen Selbstverständnisses werden können. Der Mythos impliziert in gleicher Weise eine zeitliche Abgrenzung gegenüber der Vergangenheit des angenommenen Naturzustands oder der vortypographischen, vorindustriellen Zeit, eine metaphysische gegenüber dem jenseitigen Reich der Götter und eine territoriale Begrenzung gegenüber den Gesellschaften jenseits der abgesteckten Grenzen des eigenen Kulturraums. Auf dieser Differenz vermag er die Narration des Eigenen zu errichten, welche Chinas integrati-

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ENTORTUNGEN vem Selbstverständnis und seiner metaphorischen Selbstwahrnehmung bis dahin fremd geblieben ist. Das kulturelle Verständnis des téchnai war zudem die Grundvoraussetzung für den kolonialistischen Gedanken einer erzieherischen Funktion, welche demnach dem zivilisierten Menschen ähnlich dem Bauern zukommt, der sich unter Verwendung von Hilfsmitteln durch planvolles Handeln das Feld und seine Früchte, die Tiere und nicht zuletzt den kolonisierten Menschen untertan macht. Dies unterstreicht diese frühe Postkarte aus den deutschen Kolonien in Ostchina. Dabei ist auch diese allerdings im Hinblick auf ihre Herkunft (als industrielle deutsche Produktion im vorindustriellen China) und Adressierung (ein deutsches Publikum) bereits von mehrfachen kulturellen Übersetzungen und Einschreibungen geprägt, wenn z.B. die Kleidung der Kinder des »Jetzt!« weder chinesisch noch europäisch sind.

Abb. 13 Deutsche Postkarte aus den Kolonien in China (um 1900)

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VOM EIGENEN UND FREMDEN Vielmehr repräsentieren sie die deutsche Wahrnehmung des Chinesischen, zudem unter Verwendung des eigentlich europäischen Mediums der Postkarte (Hardware) und des typographischen Drucks (Software). Dasselbe Kulturverständnis war zudem Grundlage für den Fortschrittsgedanken der technischen und industriellen Entwicklung, welchem sich u.a. die apparative Medientechnik verdankt. Infolge der Globalisierung als Konsequenz der imperialistisch-kapitalistischen und damit auch kulturell-ideologischen Ausdehnung dieses Konzepts hat sich das téchnai inzwischen – so im Falle Chinas – mit Hilfe der apparativen Medien auf die eine oder andere Weise auch in Gesellschaften eingeschrieben, welche bis dahin von dieser Kulturidee unberührt geblieben waren. Sie funktionierten nach völlig anderen Regeln ohne jenes auf Mythen beruhende kulturelle Selbstverständnis und ohne dessen Narrationen. Sie konstituierten ihre Ordnungssysteme unter ganz eigenen sozialen und medialen Bedingungen und mit eigenen Kodierungssystemen, semantischen und Wahrnehmungsmustern. Das kulturelle Verständnis des téchnai ist durch die Kolonisierungs- und Globalisierungsschübe zur Grundlage und zum Motor aller globalistischen Prozesse von Wirtschaft und Kultur geworden. Damit hat es allerdings nicht zwangsläufig auch immer die Hegemonie über deren Ausprägungen und Aneignung innerhalb spezifischer Räume von Kultur bedingt. Der Ursprung und anfängliche Gedanke des Begriffs Kultur hat das Selbstverständnis der meisten früh industrialisierten Gesellschaften in Europa entscheidend geprägt. Er hat mit seinen Dichotomisierungen zur Konstituierung derselben bis hin zu den Nationalstaaten und pannationalen Bündnissen der Gegenwart beigetragen, vor denen sich ja auch das chinesische Selbstverständnis nicht gänzlich hat bewahren können. Der Kulturbegriff war sowohl der im Sinne des téchnai evolutionären, auf ständige Entwicklung ausgerichteten Industrialisierung und der damit verbundenen Materialisierung von Kultur in ihren Medien wie auch dem kolonialistischen Gedanken einer Ausdehnung des Kapitals und nicht zuletzt auch des zivilisierten, also mit einer überlegenen Kultur ausgestatteten Raums vorausgegangen. An seiner

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ENTORTUNGEN Verbreitung waren vor allem die industriellen Medien der interaktionsfreien Massenkommunikation vom typographischen Zeitungs- und Buchdruck, der sich in dieser massenmedialen Form grundlegend von der traditionellen Buchdruckerei der chinesischen Elitenkultur unterschied und u.a. das Medium Postkarte hervorgebracht hatte, über den Film bis zum Fernsehen und dem Computer beteiligt. Sie kommunizieren einerseits die kulturellen Programme des hegemonialen ökonomisch-ideologischen Modells, sind auf der anderen Seite aber auch selbst Teil derselben. Somit haben sie sich auf die eine oder andere Weise apparativ in die mit ihnen infizierten Gesellschaften Chinas eingeschrieben und maßgeblich Einfluß auf deren Wahrnehmungsdispositionen von Kultur sowie auf ihre Ordnungs- und Wissenssysteme ausgeübt. Hinter dem industriellen Kulturbegriff, der sich seit dem 20. Jahrhundert bei einer Beschreibung der kulturellen Repräsentationssysteme Chinas nicht mehr gänzlich übergehen läßt, verbirgt sich ein zentristisches Konzept von Gemeinschaft. Dieses erhebt allerdings Anspruch auf universalistische Gültigkeit, indem es die Menschen und Völker jenseits der eigenen territorialen Grenzen und des eigenen mythischen Raums in den normativen und streng hierarchischen Rahmen dieses Terminus zwingt. Blickt man indes neben den zeitlichen auch über die räumlichen, die sprachlichen und geistigen Grenzen der Narrationen dieses Konzepts hinaus in die Richtung der Wahrnehmungsstrukturen des »Fernen Ostens«, so wird man bei der Suche nach Kulturbegriffen sehr bald zu einer überbordenden Fülle von alternativen Termini, Definitionen und Konzeptionen gelangen, die sich nicht einmal annähernd erfassen ließen und doch nichts mit dem Terminus Kultur gemeinsam haben. Noch weniger wären sie angesichts ihrer sehr unterschiedlichen historischen und gesellschaftlichen Bezugnahmen im Sinne einer einheitlich universellen Definition unter einen Hut zu bringen. Nicht einmal der Terminus »China« wäre demnach innerhalb der chinesischen Diskurse des Eigenen legitim, weil er nicht dem ursprünglichen Tianxia (Reich unter dem

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VOM EIGENEN UND FREMDEN Himmel) entspricht, von dem das Selbstverständnis der dominanten Diskurse aller chinesischen Herrschaftshäuser seit der ersten Reichseinigung ausging und selbst noch Mao Zedongs revolutionäres China geprägt war. Dieser Begriff wurde erst durch den indischen Minister Chanakya geprägt, der ihn in seinem Buch Arthasatra (zwischen 320 und 315 v. Chr.) bei der Transkription des Namens Qin (Chin = China) für den damals mächtigen Staat am mittleren Lauf des Gelben Flusses ( Huanghe) verwendete, bevor er von dort seinen Weg nach Westen fand, wo er schließlich in das dichotomische, Nationen imaginierende Modell von Kultur integriert wurde. Ebenso wie der Begriff Tianxia war auch der Terminus Zhongguo (Mittlere Reiche oder Reich der Mitte), der erst seit der Gründung der chinesischen Republik im Jahre 1912 in China zur nationalen Selbstbezeichnung verwendet wurde, eigentlich vor allem als Begriff der Integration innerhalb eines weder an territoriale und politische noch an ethnische Kategorien gebundenen Selbstverständnisses zu verstehen. Er bezeichnete ursprünglich die Fürstentümer »der Mitte« in der Zhou-Dynastie (11. J.h. v. Chr. – 221. v. Chr.). Dagegen benennen der Terminus China wie auch sein Äquivalent Zhongguo, die beide praktisch erst im späten 19. Jahrhundert als industrielle Reimporte in die chinesischen Diskurse integriert worden sind, im Allgemeinen eine territoriale und kulturelle Abgrenzung, wie sie erst der mediatisierte und medial nach China zurücktransportierte Blick des fremden Beobachters und Interpreten auf sein »chinesisches« Anderes hervorgebracht hat. Der Kontakt mit dem industriellen Anderen, das erst durch sein gewaltsames Eindringen aus Europa, aber auch aus Japan, nach China zu einem Teil von dessen Selbstverständnis werden konnte, hat die nationalstaatliche Bedeutung des Begriffs Zhongguo nicht mehr als inhärente Lokalisierung sondern als Abgrenzung nach außen hervorgebracht. Als solche ist sie im Zuge einer quasi Rückübersetzung der fremden Interpretation inzwischen in den Wörterbüchern sowohl des kommunistischen China wie auch Taiwans verzeichnet. Das bedeutet zwar eine weitere kulturelle Einschreibung Europas in China, ist allerdings nicht zwangsläu-

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ENTORTUNGEN fig auch als eine fremde Überlagerung und Dominanz über die chinesischen Diskurse zu verstehen. Diese haben den fremden Blick nicht einfach übernommen, sondern die fremden Einschreibungen wie auch deren Medien diskursiv angeeignet und dabei auf deren Grundlage in vielfältiger Weise von ihrer Freiheit der Errichtung eigener Diskurse Gebrauch gemacht. Die zentralperspektivischen und monosemischen Arten des Verständnisses von Kultur und Identität, die ja bereits in ihrem jeweiligen Grundverständnis hybride Konstruktionen bezeichnen, sind in einen multiplen Diskurs miteinander getreten. Damit haben sie sich durch die jeweilige Einschreibung des Fremden verändert und zugleich einen dritten, nunmehr multiperspektivischen und polysemischen Diskurs des »Dazwischen« errichtet. Ihn hat Homi K. Bhabha als Ort postkolonialer Räume des Hybriden eingeführt.10 Dieser Diskurs des »Dazwischen« veräußert sich in China u.a. in der Verwendung der importierten apparativen Medien als Bühne und Forum des Eigenen, das aus dem ständigen Dialog mit seinem tatsächlichen und imaginierten Anderen, also vor allem mit sich selbst, generiert. Angesichts ihrer multiplen Ebenen der Bedeutungsproduktion, bei der zahlreiche Konventionen parallel aufgenommen und verarbeitet werden können, sind die industriellen Medien und vor allem das Fernsehen mehr als alle anderen Aufzeichnungs- und Speichersysteme in der Lage, die kulturellen Dichotomien zwischen den Erfindern der Medientechnologie und den sie aneignenden Gesellschaften in ihren Programmen immer wieder aufs Neue zu konstruieren und zu kommunizieren. Sie vermögen sie in der Dispositivität, der Ökonomie und den jeweiligen lokalen Prozessen der apparativen Aneignung und Rezeption, die sich im Hinblick auf die Fragmentierung nationaler Erzählungen wieder stärker partikularisieren, zugleich aber auch wieder aufzulösen. Damit werden sie am Ende selbst zu jenem Ort des »Dazwischen«. Dieser stellt zugleich eine Verbindung zwischen Chinas Prozessen des Postkolonialismus und seiner Begegnung mit dem 10 Homi K. Bhabha: D V IE

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VOM EIGENEN UND FREMDEN Postmodernismus her, welcher sich, ohne daß das Reich der Mitte jemals eine wirkliche Moderne erlebt hätte, dennoch als globalisierte Gegenwart unausweichlich in seine Diskurse eingeschrieben hat. Unter dem Gesichtspunkt einer Verlagerung der kulturellen Dichotomien von denjenigen zwischen nationalen Kulturen, also zwischen China und dem Westen, hin zu denjenigen zwischen dem Globalen und dem Lokalen sowie dem Universellen und dem Partikularen lassen sich unterschiedliche spezifische Ausprägungen kultureller Diskurse erkennen. Diese greifen die – in China erst mit dem Antikolonialismus evident gewordenen – Mythen und die vermeintlichen Konstanten, aber auch einen radikalen Modernismus nach dem Modell europäischer Nationalstaatlichkeit auf. Aus diesem Potpourri verschiedenster Einflüsse formen sie ein gegenwärtiges chinesisches Kulturmodell. Dieses rekurriert gleichermaßen auf das daoistisch-buddhistische Verständnis der Integration wie auch auf das marxistisch und nicht zuletzt nationalistisch interpretierte und umformulierte Staats- und Sozialmodell des Konfuzianismus bzw. auf die gegenwärtige Imagination und Rekonstruktion derselben. Es verwendet beide wie auch zahlreiche weitere Einflüsse zur Konstruktion, imaginierten Rekonstruktion und medialen Kommunikation des Eigenen und unterliegt dabei längst nicht mehr der (nationalen) Notwendigkeit zur Herstellung von historischen und kausalen Herleitungen und Abfolgen, um sich – postmodern – chinesisch nennen zu können. Das Eigene konstituiert sich in den gegenwärtigen national-hegemonialen Diskursen Chinas demnach zwar sowohl auf der vertikalen Ebene der Imagination historischer Kontinuität wie auch auf der horizontalen Ebene einer geopolitisch-kulturellen Abgrenzung Chinas gegenüber seinem Anderen und zugleich der Aneignung von dessen Wissensdiskursen und Ordnungsstrukturen. Genauso wie es Jürgen Habermas aus der Perspektive des westlichen Betrachters im Hinblick auf China zum Ausdruck bringt: »Seit dem 18. Jahrhundert gibt es für uns im Westen nur einen großen Anderen: Das ist das Reich der Mitte«11, gilt dies in umgekehrter Richtung seit

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ENTORTUNGEN jener Zeit der kolonialen Einschreibung Europas in China auch für dessen maßgeblichen Diskurse über die kulturelle und ideologische Definition des Eigenen. Dabei folgt die Mehrzahl der Modelle des chinesischen Selbstverständnisses nach wie vor dem bipolaren Prinzip der Differenz gegenüber dem Anderen. Als solches ist es trotz zahlreicher auch chinesischer Vordenker, die sich an Modellen der Abgrenzung versucht haben, tatsächlich erst durch die Berührung mit dem industriellen Anderen und durch den Modernisierungsprozeß mit seiner posttheokratischen Nationenbildung im 20. Jahrhundert populär geworden. Tatsächlich sind die Diskurse der Kultur allerdings in ihrer inhärenten Hybridität und ständigen Dynamik längst eher im Hinblick auf ihre transnationale Verortung und lokalen Selbstverständnisse zu begreifen als hinsichtlich ihrer nationalen Erzählungen. Sie rekurrieren immer auch auf die vorkolonialen multiperspektivischen Diskurse von Kultur. Die kulturelle Standortbestimmung Chinas klärt sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts in dessen hegemonialen Modernisierungsdiskursen in erster Linie in der importierten und machtpolitisch funktionalisierten Betonung von Differenz im Hinblick auf die Imagination nationaler Identität. Sie besteht in der kulturell konstruierten und vor allem mit Hilfe der industriellen Medien kommunizierten Auseinandersetzung zwischen einer imaginierten und rekonstruierten Tradition und Kontinuität mit ihren Mythen und kulturellen Symbolen, die allerdings nicht ihrem – realen – Bezugszeitraum sondern ausschließlich dem gegenwärtigen Wahrnehmungsbewußtsein zuzurechnen und damit in deren Medialität eingebunden sind. Zugleich basiert sie auf der Idee eines Modernismus mit seinen transnationalen Ausprägungen, welche durch seine postkoloniale wirtschaftliche Öffnung nach China importiert worden ist. Die Modernisierung bestimmt in Form von nahezu ungebremster Industrialisierung und Auflösung der ehemals ruralen Strukturen sowie in der Materialisierung der 11 Jürgen Habermas in einem Gespräch mit chinesischen Intellektuellen. In: »Die Zeit«. 10.5.2001, S. 40.

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VOM EIGENEN UND FREMDEN Kultur wie des Alltagslebens zumindest die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Seiten der Entwicklung Chinas in den vergangenen zwanzig Jahren. Kultur, oder welcher Terminus zu deren Bezeichnung auch immer zum Einsatz kommt, versteht sich demnach in den dominanten Diskursen der chinesischen Gegenwart überwiegend als äquivalent mit dem Verständnis der Nation. Somit setzt die Anwendung dieses Terminus in China in erster Linie ein ideologisches, ausschließlich gegenwärtiges und im Rahmen von dessen Medialität formuliertes Verständnis derselben voraus. Die Narrationen der Nation korrespondieren in vielfältiger Weise mit den Perspektiven auf das gegenwärtige Eigene und dessen Differenz sowie mit der Mythisierung der eigenen Vergangenheit. Indem das dominante Ordnungssystem der chinesischen Nation aber diese Ereignisse medial kommuniziert und dazu seine eigenen narrativen Strategien etabliert, innerhalb derer sich die horizontalen wie vertikalen Identifikations- und Differenzierungsstränge verorten, wird das Projekt der chinesischen Kultur selbst zu einer narrativen Strategie. Diese hat sich und die von ihr herausgebildeten Mythen stets aufs Neue zu rekonstruieren, um fortbestehen zu können. Auf der anderen Seite muß sie aber im selben Zuge mit der Aneignung der importierten Hard- und Software mit ihren impliziten narrativen Strategien und dem zumindest partikularen Verzicht auf die bis dahin prägende Metaphorik der Diskurse den formalen Bruch mit den kulturellen Traditionen in Kauf nehmen, auf die sich die Mythen inhaltlich beziehen. Mit den Diskursen der chinesischen Kultur wird dieser Terminus zwangsläufig selbst zum Objekt des Diskurses. Er verortet sich innerhalb der Narrationen Chinas von seinem Eigenen und seinem Anderen, von seiner Gegenwart und Vergangenheit nicht als fixe Einheit sondern als dynamische Größe. Sie kann stets auch nicht umhin, ihre Konstruktionen immer wieder zu dekonstruieren, indem sie sich in die Abhängigkeit ihrer Medialität begibt, welche in allen ihren Diskursen jeweils deren eigenen Widerstandsdiskurse mit etabliert. Die als fixe Einheit kommunizierten, tatsächlich aber einer ständigen Dynamik unterliegenden Rahmen der hegemonia-

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ENTORTUNGEN len chinesischen Diskurse reduzieren sich in zahlreichen Publikationen, aber auch in der öffentlichen, weil veröffentlichten Meinung vor allem auf die Dichotomie zwischen Ost und West, dem Orient und dem Okzident. Dabei wird kaum zur Kenntnis genommen, daß es sich nicht in erster Linie um einen Prozeß des Dialogs und der Auseinandersetzung Chinas mit seinem realen Anderen – in zeitlich-historischer (Nostalgisierung) wie auch in geopolitisch-ideologischer (Exotisierung) Hinsicht – handelt. Dieses stellt ja erst ein Produkt der Imagination und der Konstruktion des Eigenen dar, für welche es zwangsläufig benötigt wird. Vielmehr zeigt die Konstruktion imaginärer Dichotomien, deren kollektive Wahrnehmung ja gerade von der Einschreibung des Fremden in die eigenen Diskurse und damit von ihrer Auflösung zeugt, die tatsächliche innere Heterogenität und Polysemie, welche die Kultur und die Kulturen Chinas unter den Bedingungen der transnationalen Ökonomie mehr noch als je zuvor als inhärent offene und multiperspektivische Einheit unterschiedlicher Systeme und Modelle charakterisiert. Sie sind auch in den innersten Prozessen ihrer gesellschaftlichen und individuellen Identitätsfindung durch den ständigen, auf mehreren Ebenen stattfindenden Austausch zwischen dem realen und imaginären Eigenen und Anderen und durch die ununterbrochene Aneignung und kulturelle Reproduktion von Fremdem geprägt. Der sich damit in ständiger Bewegung befindliche Kreislauf zwischen Fremdem und Eigenem, der sich in das innere Eigene verlagert, entlarvt jede propagierte fixe, etwa nationale Identität als Illusion und Konstruktion der gegenwärtigen Diskurse um Geschichte und Gegenwart sowie um das hier und das dort. Er spiegelt sich in der Malerei, der Literatur, den Bühnenkünsten und vor allem den audiovisuellen Medien von Film und Fernsehen mit ihrer ausgeprägten inhärenten Intermedialität wider. Von deren apparativ eingeschriebenen Raum- und Zeitstrukturen wird sein jeweiliges Ordnungsmodell nicht zuletzt selbst erst produziert. In China hat der Einbruch der Moderne mitsamt ihrem – der industriellen Tradition verbundenen – Weltverständnis und ihrer technisch-rationalistischen Ausrichtung zu den seit der Herausbildung der philosophischen Schulen und sozialen

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VOM EIGENEN UND FREMDEN wie kulturellen Konstruktionen von Konfuzianismus und Daoismus vor mehr als zwei Jahrtausenden wohl einschneidendsten Verschiebungen des kulturellen Selbstverständnisses geführt, welches sich dem westlichen lógos und dem diesem anhängenden téchnai gegenüber nicht mehr gänzlich verschließen konnte. Das Fremde ließ sich nun erstmals nicht mehr, wie alle früheren Kontakte, ideologisch in das integrationistische Modell Chinas einfügen. Vielmehr brach es dieses mit weitreichenden Konsequenzen für die soziale Ordnung und das chinesische Selbstverständnis auf. Der Blick auf die chinesischen Diskurse über die eigenen Traditionen von Kultur, der sich gegenüber diesen Einschreibungen verorten muß, rekonstruiert in dieser Hinsicht dessen Selbstverständnis, wie es in der technikbeherrschten Gegenwart zu ständigem Wandel und Anpassung gezwungen ist. Dabei muß es allerdings im Hinblick auf ein funktionierendes Staatsund Sozialsystem gleichzeitig fixe Identitäten und Differenzen anhand von historischer Kontinuität und regionaler sowie ethnischer, kulturell-ideologischer und sozial-ökonomischer Integrität suggerieren und in das kollektive Bewußtsein integrieren. Letzteres vermag sich ja nicht zuletzt erst durch diese Einschreibungen als solches zu formieren und zu formulieren. Die primäre Aufgabe der medialen Aufzeichnungssysteme mitsamt ihren Dispositiven, ihren Programmen sowie den narrativen und ästhetischen Strukturen bezieht sich immer auf die Konstitution des modernen China mitsamt seinem Wissens- und Ordnungssystem und seinen Raum- und Zeitstrukturen. In diesem Zusammenhang läßt sich die luhmannsche Definition, daß die Kultur das Gedächtnis der Gesellschaft sei12, mühelos umkehren. Die These, daß Kultur erst durch die – mediale – Konstitution und Einschreibung eines kollektiven Gedächtnisses von Menschen bewußt wahrgenommen werden und somit auch als solche real werden kann, läßt sich im Hinblick auf den radikalen Medienwandel, 12 Vgl. Niklas Luhmann: G W 1995, S. 31 – 54.

S :S . Bd. 4, Frankfurt a. M.

ESELLSCHAFTSSTRUKTUR UND

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168

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ENTORTUNGEN den China im 20. Jahrhundert mit noch vehementeren kulturellen und soziopolitischen Konsequenzen als die europäischen Gesellschaften durchgemacht hat, die bereits durch den industriellen Buchdruck an die »Massenkultur« herangeführt worden waren, anhand der Entwicklungen der technischen Medien nachvollziehen. Das kollektive Gedächtnis der chinesischen Gesellschaften, in welches sich die Medien selbst apparativ einschreiben, steht dabei in einer unauflösbaren Abhängigkeit von seinen Kommunikations- und Speichersystemen von den frühesten Malereien und Schriften in lokalen und regionalen Kulturräumen bis hin zur transkulturell produzierten und distribuierten digitalen Medientechnik der Gegenwart und Zukunft. Dabei entfalten sich ihre Wirkung(en) allerdings nach wie vor in erster Linie in lokalen wie immer mehr auch in privaten Wahrnehmungskontexten. Um die Zusammenhänge zwischen den lokalen und nationalen chinesischen Kulturen und ihren vormodernen Aufzeichnungssystemen und der seit Mitte des 19. Jahrhunderts zunächst als Typographie und Photokamera, dann als Filmtechnik und schließlich als Rundfunk- und Fernsehtechnik mit allen ihren Nachfolgemedien importierten transnationalen technisch-apparativen Medien erschließen zu können, muß auf die wesentlichen gegenwärtigen chinesischen Kulturdiskurse fokussiert werden. Aus ihnen geht das kulturelle Selbstverständnis Chinas hervor. Dieses geht im hegemonialen nationalen Selbstverständnis auf einen kulturellen Ursprungsmythos zurück, welcher in der Gegenwart als Legitimation wie Grundlage der Konstitution bzw. Imagination von Kultur sowie ihrer Kommunikation dient, obgleich das Konzept des Mythos als gesellschaftskonstitutive Narration selbst keinerlei chinesische Tradition aufweist. Das hegemonial-tradierte kulturelle Selbstverständnis Europas als Zivilisation, die sich gegenüber dem Rest der Welt als überlegen betrachtet und den Missionierungsgedanken einer »Kulturalisierung (Zivilisierung) der naturverbliebenen Völker« zur Legitimation der Ausdehnung des eigenen Wirtschafts- und Kulturraums benützt hat, ist seit der Moderne und den imperialistischen Feldzügen zu einem weltweit do-

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VOM EIGENEN UND FREMDEN minanten Konzept geworden, dem sich sowohl der Sprachgebrauch wie auch das Selbstverständnis der meisten Menschen und Gemeinschaften anpassen mußten. Demgegenüber ist bei der Beschreibung einer chinesischen Kultur von völlig unterschiedlichen Bedingungen auszugehen. Dort liegen dem kulturellen Selbstverständnis in der gegenwärtigen Wahrnehmung aller herausragenden chinesischen Denkschulen der Frühzeit, dem Konfuzianismus einschließlich seiner Ableger des Mohismus und Legalismus, dem Daoismus wie auch dem aus Indien importierten und in Form des Chan-Buddhismus in Chinas Denktradition vereinnahmten Buddhismus, vor allem die Begriffe dao und wen zugrunde. Deren kulturkonstitutive Bedeutung wird seit dem Ende des radikalen Sozialismus und dem Aufkommen eines chinesischen Nationalismus in den Diskursen seit den 1990er Jahren wieder deutlich hervorgehoben. Vor allem unter dem Schlagwort des Konfuzianismus wird sie zur Grundlage der Identität stiftenden Differenzbildung gegenüber dem »westlichen« Anderen eingesetzt. Zudem haben sich beide Termini in ihrer gegenwärtigen Wahrnehmung unauslöschlich in das Selbstverständnis der chinesischen Fernsehkultur eingeschrieben und dort ein ambivalentes Verständnis des Eigenen hervorgerufen. Dieses rekurriert auf das integrative traditionelle Kulturmodell Chinas und verwendet es in eben diesem Sinne zur Definition des Eigenen. Es grenzt sich also mit der Technik des Fremden gerade auch gegen dasselbe ab und rekonstruiert dabei zugleich die – Differenzen-freie – Tradition seines Selbstverständnisses.





Der durch vielfältige Traditionen geprägte Terminus dao hat, ohne noch wirklich auf seine »realen« Ursprünge und historischen Bezugsebenen in Daoismus und Konfuzianismus zurückgeführt zu werden, in seiner gegenwärtigen Interpretation und Funktionalisierung in mehrerlei Hinsicht Eingang in das chinesische Medienverständnis gefunden und ist auf vielfältige Weise mit dem téchnai der medialen Dispositive in einen Dialog getreten. Er läßt sich in seiner wörtlichen Übersetzung als der »Pfad« bezeichnen. Dao wird von europäischen Interpreten gerne in Verbindung mit dem dynamischen

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ENTORTUNGEN Begriff Methode gebracht, birgt dabei aber in seiner philosophischen Strukturierung wie auch in seiner alltäglichen Ausprägung ein sehr komplexes, gerade nicht – wie beim Begriff Methode – zielgerichtetes lineares Geflecht von sozialen und geistigen Bezügen in sich. Vielmehr beschreibt er, wie es nicht nur die vormodernen Künste Chinas bescheinigen sondern es sich auch entscheidend auf die Alltagskultur der Gesellschaft und jedes Einzelnen ausgewirkt hat, eine zyklische Struktur der Entwicklung in Richtung der absichtslosen Leere und verzichtet in seiner Intuitivität dabei gerade auf die Modellbildung, welche dem Verständnis der Methode innewohnt.13 Dagegen leitet sich das Zeichen wen aus seiner frühesten Bedeutung als Ausdruck des Musterns von Menschen und Gegenständen her. Es fand als einer der beiden Grundtypen von Schriftzeichen (neben dem zi ) Eingang in die frühe Literatur. In dieser Bedeutung entwickelte es sich sehr schnell zu einem umfassenden, von der Schriftkundigkeit als Maßstab der Integration ausgehenden elitären Kulturbegriff, welcher sich durch seine Abgrenzungspraxis gegenüber den Nicht-Schriftkundigen grundlegend von dem erschöpfenden kosmischen Erklärungsmodell des dao unterschied. Dabei fand es aber gleichzeitig seine Funktion als dessen Semantik und Medium und hat sie auf die eine oder andere Weise bis in die Gegenwart beibehalten. Zugleich hat es seine – auf dieser Ebene der „reinen Wahrnehmung“ 14 durchaus als mimetisch interpretierbare – volkskulturelle und somit der Schrift vorausgehende Bedeutung des Musterns (Wahrnehmens und Imitierens von äußerer Realität) bis in die Gegenwart beibehalten. Allerdings hat sich auch diese auf der Ebene der kulturellen Weiterverarbeitung des Wahrgenommenen jeweils wieder in die lyrische Metaphorik ausdifferenziert, welche die chinesische Elitenkultur – auf der Seite der Darstellung zu Recht, auf der Seite



13 Diesen Gedanken führt François Jullien weiter aus: D U C .E O D . S. 92. 14 Ich folge bei diesem Begriff den Ausführungen von Henri Bergson: G .Ü B K G . M Hamburg 1991. ER

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VOM EIGENEN UND FREMDEN der Wahrnehmung aber wohl zu Unrecht – ausschließlich für sich selbst reklamierte, um seit der Zeit der Song-Dynastie sogar ihre eigenen – künstlerischen – Abgrenzungsstrategien gegen die scheinbare Mimesis der »toten Malerei« bäuerlicher Repräsentationspraxis zu entwickeln.15 Die kulturelle Einheit des wen unterscheidet sich vom Verständnis des cultura vor allem dadurch, daß sie ihr sprachliches Ausdrucks- sowie ihr Aufschreibe- und Speichersystem von vorne herein zu einem integralen Bestandteil ihres Selbstverständnisses geformt hat. Anstelle der Differenz zwischen dem spirituellen Kulturbegriff und den technischen Elementen von dessen Ausdruckssystemen, welche in den bestimmenden Diskursen in Europa das von der beginnenden Industrialisierung und dem Buchdruck bis in die Gegenwart anhaltende Konfliktpotential zwischen den Hütern der Kultur und den Ingenieuren der technischen Medienarrangements ausgelöst hat, hat sie in China beide immer schon als untrennbare Einheit begriffen. Eine Aneignung der importierten Apparate von Photographie, Film, Rundfunk, Fernsehen und Computer ist auf dieser Grundlage genauso möglich und wahrscheinlich geworden wie bereits mehr als zwei Jahrtausende zuvor die Integration des ideographischen Schriftsystems und seiner Speichermedien vom Knochen über den Schildkrötenpanzer, den Bambus bis hin zum Papier in das kulturelle Selbstverständnis. In gewissem Sinne ist es dem chinesischen Kultursystem durch seine (auch das Konzept der Mimesis nicht ablehnende, sondern aneignende und metaphorisch ausdeutende) Offenheit gegenüber Natur, Technik und den Metadiskursen der Gesellschaft sowie durch das elitäre Element der Buchkultur, welches die Entwicklung einer breiten Lesekultur in China bis dahin ja weitgehend verhindert hatte, sogar gegenüber dem sich durch Abgrenzung definierenden und zudem seit dem 17. Jahrhundert im Machtgefüge des industriellen Buchdrucks gefangenen cultura leichter gefallen, die sich als das Andere des eigenen 15 Vgl. Craig Clunas: P don 1997.

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ENTORTUNGEN Selbstverständnisses erweisenden Medien anzueignen und zu integrieren; dies, obwohl sie sich zwar linear in das téchnai und lógos einfügten, dem dao aber ureigentlich fremd waren. In den modernen Medienarrangements mit ihrer inhärenten Multimedialität finden die vortechnischen und technischen Aufzeichnungs- und Speichersysteme zu einer Symbiose, bei der das eine jeweils auch das andere enthält. In der chinesischen Gegenwart ist eine Verwendung von Fernsehoder Computerbildschirmen ohne Schrift- und andere Zeichensysteme, welche eigentlich aus anderen Medien hervorgegangen sind, nicht vorstellbar. Auf der anderen Seite ist auch das geschriebene Wort erst durch seine technische Reproduktion und massenmediale Verbreitung seit dem 19. Jahrhundert zum relevanten Medium von Kultur in China geworden. Im Spannungsfeld zwischen dem Begriff des lineardynamischen téchnai auf der einen und dem sich in der Selbstwahrnehmung des chinesischen Eigenen spiegelnden zyklisch-multiperspektivischen dao auf der anderen Seite, aus denen beiden sich das System des chinesischen wen als Semantik der kulturellen Prozesse Chinas bildet, bewegen sich auch die Diskurse, innerhalb derer sich das Selbstverständnis der gegenwärtigen chinesischen Kulturen und die Dispositive von deren Kommunikationssystem formieren und worin die Aneignungsprozesse wie die produzierte und rezipierte Bedeutungkonstitution der technischen Medien evident werden.

Téchnai , Dao und die Suche nach Ordnung Die Entstehung der prägenden frühen Texte chinesischer Schriftkultur, der philosophischen Schriften der Konfuzianer und Legalisten genauso wie derjenigen der Daoisten und Mohisten, der frühen Lyrik und nicht zuletzt der Historiographie, ging vor mehr als zweitausend Jahren einher mit einer Systematisierung des chinesischen Schriftsystems. Dies bedeutete zugleich die Etablierung einer methodischen Aufzeichnungsweise der bis dahin in Höhlenzeichnungen, auf

173

VOM EIGENEN UND FREMDEN Schildkrötenpanzern und Stein fixierten oder in Alltags- und Kultgegenständen materialisierten und erst dadurch speicherbar und bewußt gewordenen Kulturen Chinas. Schon damals bildete sich, in ähnlicher Weise wie Jürgen Wilke16 es für die europäischen Gesellschaften schildert, eine wechselseitige Kausalität und Abhängigkeit der Kultur und ihrer hegemonialen Ordnungs- und Wissenssysteme mit den Medien ihrer Speicherung und Kommunikation heraus. Obwohl die Größe und Heterogenität Chinas und seine Bevölkerungs- wie Kommunikationsstrukturen eine mit der Entwicklung der skriptographischen Medien einhergehende Ausweitung der Lesekultur nicht zuließ, konnten sich die Aufzeichnungsmedien mit ihren Speicherfähigkeiten gegenüber den oralen Formen der Kultur, die bis in die Neuzeit sehr viel weiter verbreitet gewesen waren als die Aufzeichnungsmedien, durchsetzen und zu Instrumenten der Macht avancieren. Dabei ist es kaum mehr auszumachen, ob die Entwicklung der Medien auch diejenige der Kultur bedingte, oder ob sich Kultur erst in Abhängigkeit von ihren jeweiligen medialen und materiellen Bedingungen konstituieren konnte. Zweifellos hat aber zu jedem Zeitpunkt der chinesischen Geschichte immer die Materialität der Kommunikation und Speicherung von Kultur auch erheblich Einfluß auf deren Form und Inhalte genommen. So tendierten die meisten Autoren innerhalb der frühen systematischen Schriftkultur trotz erheblich voneinander abweichender Zielsetzungen und Betrachtungsweisen zu überwiegend übereinstimmenden Erklärungsmodellen für das Funktionssystem von Erde, Kosmos und Gesellschaft. Auf deren Basis konstatiert Ge Zhaoguang in seiner umfassenden Abhandlung zur chinesischen Geistesgeschichte immerhin zu Recht große Übereinstimmungen bei den kulturellen Ursprungsgedanken Chinas, welche sich erst im Verlaufe der weiteren Kultur- und Mediengeschichte ausdifferenziert hätten. 17 Dabei hätten sie,

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16 Jürgen Wilke: G V A S. 4 – 12. ON DEN

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174

OMMUNIKATIONSGESCHICHTE

ENTORTUNGEN so die für das gegenwärtige nationale Selbstverständnis des hegemonialen China funktionalisierte Übersetzung und Interpretation der als eigen wahrgenommenen Geschichte Zhaos und der meisten heutigen Historiographen, als Referenzbasis für nahezu alle maßgeblichen kulturellen Prozesse gedient. Sie seien, so die in der Imagination der Vergangenheit real werdende Konstruktion der Gegenwart durch zahlreiche am nationalen Modell Chinas feilende Chronisten seit den 1980er Jahren, nicht durch ihre Realität, sondern vielmehr durch ihre Rekonstruktion, Speicherung und wiederholte Kommunikation über die Differenzen zwischen den zahlreichen chinesischen Denkschulen hinaus zum mehr oder weniger einheitlichen Bezugsrahmen eines Chinesischseins geworden. Als gegenwärtige Identitätsdiskurse haben sie Eingang in dessen nationale Mythisierungen gefunden. Ungeachtet der tatsächlich wohl sehr viel differenzierteren Kulturdiskurse in der betrachteten und hier im Hinblick auf die Konstitution des jetzt als »Chinesisch« essentialisierten Vergangenheit Chinas haben diese in der gegenwärtigen metaphorischen Selbststilisierung ihre eigenen Abgrenzungen gegenüber dem »rationalistischen« Westen imaginiert. Darin konnten sie aber durchaus die diskursive »Wahrheit« ihrer Identität formieren, haben also die geklitterte Geschichte in deren gegenwärtiger Übersetzung und Rekonstruierung zu einer realen Gegenwart ausgestaltet. Mit diesen identitätsstiftenden Methoden der Geschichtsschreibung sind die daoistisch-buddhistischen und die seit dem Scheitern des kommunistischen Modells erneut bemühten konfuzianischen Schulen in jüngster Zeit angesichts der von ihnen privilegierten autoritären Staatsstrukturen nunmehr zu einem globalen Modell der chinesischen Identität und Abgrenzung funktionalisiert worden. Sie berufen sich auf die Imagination eines sich schon früh im Zeichen dao Ausdruck verschaffenden umfassenden Selbstverständnisses, welches sich über das Schriftmedium auch in die unterschiedlichen Formen der oralen Kulturen und deren Wahr-



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17 Ge Zhaoguang : Z schichte Chinas). Bd. 1, Shanghai 2001.

HONGGUO SIXIANG SHI

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VOM EIGENEN UND FREMDEN nehmung expediert habe. Im Gegensatz zum eher fatalistisch orientierten Daoismus, der die menschlichen Einflußmöglichkeiten auf die kosmischen Prozesse sehr niedrig ansetzt, geht der Konfuzianismus dabei im Allgemeinen von einer herausragenden Funktion und Verantwortung des Menschen für die Prozesse von Erde und Kosmos aus. Damit nimmt er eine gegenüber dem Daoismus umgekehrte Gewichtung vor, welche nicht zuletzt auch die Perspektive auf Kultur und die Verantwortung der Gesellschaft und ihrer Eliten bei deren Konstruktion, mithin die Macht und Verantwortung über die Systeme der Speicherung und Kommunikation, prägt. Mit ihrem Verständnis der Natur als »Nicht-Kultur« bzw. der Kultur als »Nicht-Natur« standen sich in diesem Sinne Konfuzianismus und Daoismus zwar, folgt man Wolfgang Bauer, »mit ihrem Totalitätsanspruch unvereinbar gegenüber«. 18 Die meisten Schriften stimmten allerdings überein in der Annahme einer identitätsstiftenden Referenz auf ein makrokosmisches Gesamtgebilde, das die Begriffe und Elemente von Natur und Kultur in gleicher Weise in sich vereinigt und ein kulturelles Verständnis nicht aus den Dichotomien gewinnt. Vielmehr entsteht ein solches aus dem essentialistisch in die gegenwärtigen nationalen Diskurse von universeller Identität (China) vs. kultureller Differenz (Westen) übersetzten Makrokonzept von Kultur, welches damit selbst zu einem Konzept der Differenz generiert. Tatsächlich konnte eine in zahlreichen Diskursen Chinas durchaus vorhandene Unterscheidung zwischen der Natur und ihrer Kultivierung durch den Menschen weder in der konfuzianischen noch in der daoistischen Schule einen prägenden Einfluß auf die Gesellschaftskonstitution und das kulturelle Selbstverständnis und dessen Kommunikationssystem gewinnen. In China beschränkte sich das prägende Verständnis des dao, des Wegs, nicht, wie Hans-Joachim Lenger im Hinblick auf die Kulturen Europas für das lógos konstatiert, auf die »Lie18 Wolfgang Bauer: C 202.

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176

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. München 1989, S.

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ENTORTUNGEN be zur Weisheit«.19 Vielmehr wurde es in seiner Metafunktion zur Weisheit selbst, die sich in allen ihren multiperspektivischen Herleitungen und Ausprägungen in diesem Begriff wiederfindet, ohne dabei monosemisch modellhaft zu werden und bipolare Differenzen in der Art herauszubilden, wie sie die industrielle Kultur schließlich nach China gebracht hat. Die für das System der chinesischen Kultur und Medien grundlegende Ordnung, auf welche das nationale Selbstverständnis in der Gegenwart Chinas rekurriert, drückte sich zunächst im Bild der unaufhaltsam umherhuschenden Ureidechse aus, welcher der Urkeim allen Werdens zugeschrieben wird. Zugleich war sie aber, verfolgt man diesen Gedanken, auch der Urkeim aller kulturellen Semantik Chinas. Sie wird (ähnlich den von Thomas Macho für den europäischen Kontext eindrücklich als »urtümliche Taschenradios« beschriebenen Stein- und Tonfiguren im 7. und 6. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung)20 als das Urmedium des chinesischen Selbstverständnisses und der medialen Kommunikation evident, auch wenn es erst durch seine weitere Materialisierung in die Schrift auch kulturell konstitutiv werden konnte. Im Hinblick auf die Konstitution eines chinesischen Verständnisses kultureller Kontinuität bedeutet das die Vorstellung einer untrennbaren Einheit zwischen dem physischen Entstehen des Kosmos und der Welt und dem (sich medial kommunizierenden) Werden der (chinesischen) Zivilisation als Tianxia. Das Verständnis von den Medien der Kultur verbindet sich unter diesen Voraussetzungen mit der Kultur zu einer untrennbaren Einheit. So steht das Verständnis des dao, des Wegs, sowohl für die Kultur wie auch für deren konstitutive, .E E D . Biele19 Hans-Joachim Lenger: V A feld 2001, S. 12. 20 Thomas Macho: ›Vision und Visage. Überlegungen zur Faszinationsgeschichte der Medien‹. In: Wolfgang Müller-Funk und Hans Ulrich I .B A Reck (Hg.): I M . Wien, New York 1996, S. 102. OM

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VOM EIGENEN UND FREMDEN Ordnung schaffende Elemente und nicht zuletzt auch für ihre Kommunikation ein. Es beschreibt zugleich den Kreislauf zwischen der Konstruktion von Sinn und seiner medialen Kommunikation, Rezeption und schließlich Rekonstruktion. Indem es dabei außerdem auf die von dem britischen Literaturwissenschaftler Terry Eagleton konstatierte Trennung zwischen Kultur als Spiritualität, Kultur als Ware und Kultur als Identität verzichtet, die zugleich seine jeweiligen Kommunikationsparameter bezeichnen würde, schließt das chinesische Kulturverständnis ursprünglich auch jegliche Differenzbildung zunächst aus – oder imaginiert diesen Ausschluß vielmehr im Sinne seiner eigenen universellen Mythenbildung – und damit im Sinne von deren gegenwärtiger nationaler Konstruktion von Identität durch Differenz.21 Das Kultur konstituierende Verständnis von Ordnung, auf das sich die nationalen Diskurse beziehen, begründete sich im frühen China vor allem in der lebensnotwendigen Bedeutung der Wege (dao) im Alltag der unwegsamen, von häufigen Überschwemmungen und Räuberbanden heimgesuchten Lößgebiete. Von deren Begehbarkeit war die Funktion der Kommunikationswege zwischen den Dörfern und Regionen genauso wie die Funktionsfähigkeit der Machtstrukturen zwischen dem Kaiserhaus, den Fürstenhöfen und der Bevölkerung abhängig. In ähnlicher Weise hat es Jürgen Wilke auch für das im Verhältnis zu China vergleichbar ausgedehnte Römische Reich oder die späteren christlichen Machtgefüge beschrieben, die in Abhängigkeit von den berittenen Boten funktionierten.22 Dieselben Bedingungen finden sich auch im ländlichen Fernsehalltag des gegenwärtigen China wieder, der in zahlreichen Dörfern nach wie vor durch die Auswirkungen der instabilen Stromversorgung geprägt ist.23 K ? München 2001, S. 98ff. 21 Terry Eagleton: W M K 22 Jürgen Wilke: G V A 20. J . S. 4 – 12. 23 Vgl. meine demnächst erscheinende Publikation: D F . a.a.O. AS IST

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ENTORTUNGEN Demnach steht das Verständnis des dao seit jeher in enger Verbindung zu den Strukturen der Kommunikation. Begehbare Wege bedeuten funktionierende Kommunikationsstrukturen und also soziale Ruhe, während die Unbegehbarkeit der Wege das Chaos bedeuteten, aus dem die Wesen und Dinge vor dem Erschaffen der Wege und der Medien, mithin der Kultur, hervorgekommen sind. Erhalten hat sich dieses Verständnis etwa in der chinesischen Garten- und Landschaftsarchitektur, die stets darum bemüht ist, funktionierende Wege in zerklüftete Landschaftsmodelle zu integrieren, sowie in der in Japan noch immer gängigen Teezeremonie, welche den Weg der Gäste über einen vom Teemeister eigens gesäuberten und hergerichteten Pfad zum Teeraum als inhärenten Bestandteil des »Zeremoniells« selbst vorsieht. Dabei ist der Terminus des Zeremoniells für den ursprünglich als Teeweg ( Chadao) bezeichneten Vorgang eine – von den gegenwärtigen kulturellen Abgrenzungsstrategien gerne zitierte – europäische Invention, welche diesen Akt aus seiner Alltagsfunktion herausheben und nicht zuletzt mystisch verklären soll, um somit ihrerseits zur Konstruktion des imaginären Anderen Europas als Utopie beizutragen, welche den Rahmen eigener Semantik (und Vorstellung) nicht zu überschreiten bereit oder in der Lage ist. Zweifellos lösen sich aber die Grenzen zwischen Natur und Kultur in dem – dem Teeweg zugrunde liegenden – Kommunikationsmodell Chinas genauso auf wie diejenigen zwischen dem Sender, dem zum Medium generierenden Weg und dem Empfänger. Sie verschieben sich statt dessen in die inneren Prozesse der in den Handlungsabläufen errichteten Metakommunikation. Das eröffnet den Künstlern und Medienschaffenden früher wie heute die Möglichkeit, auch ihre Kunst als Teil eines kulturellen Ganzen zu begreifen. Ebenso wird die äußere Natur im Bewußtsein des dao zu einem Element der Ästhetisierung und der Kommunikation und somit zu einem wesentlichen Bestandteil von Kultur. Letztere schließlich füllt erst der Rezipient durch seine Teilnahme an den Handlungen, durch sein Abschreiten der Wege, mit Bedeutung, indem er selbst zum Teil sowohl des medialen Pro-

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VOM EIGENEN UND FREMDEN zesses wie auch der kommunizierten Bedeutung und gleichzeitig zu deren Empfänger wird. Dies hat bereits der Songzeitliche Dichter Su Dongpo (1036 – 1101) in einem Vers treffend zum Ausdruck gebracht:

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Gebirgskette folgt auf Gebirgskette, Gipfel auf Gipfel Von weit oder nah, von oben von unten haben sie alle verschiedenes Aussehen Die wahre Beschaffenheit der Lu-Berge können wir nicht erkennen Da wir selbst immer von diesen Bergen eingeschlossen sind24 Die kulturkonstitutive Funktion der Kommunikation in China als Instrument von Ordnung und Macht hat sich bis in die Gegenwart der elektronischen Kommunikation und in die Zeit des Fernsehens in nur wenig veränderter Form bewahrt. Die soziopolitische Bedeutung der Funktionsfähigkeit und zentralistischen Kontrolle der Wissens- und Kommunikationsmedien waren der nationalistischen Regierung unter Chiang Kaishek im Hinblick auf das Kino, den Rundfunk und die Printpresse genauso bewußt wie der kommunistischen Staatsmacht unter Mao Zedong. Beide standen aber auch dem machtgefährdenden Potential der Zweideutigkeit und poetischen Verschleierung, welche sich in der Kunst auch durch Zensur nur schwerlich ausschalten läßt, nahezu machtlos gegenüber. Dies haben zahlreiche zwar offiziell zugelassene oder gar in Auftrag gegebene aber dennoch subversiv wirksam gewordene Werke im 20. Jahrhundert von den vordergründig kommerziell-unterhaltenden, hintergründig aber subtil auf soziale Mißstände verweisenden Filmkomödien der 1930er Jahre über einige mutige Werke von Regisseuren wie Xie Tieli oder Xie Jin in den 1960er Jahren bis zu den vielschichtigen Kinodramen Zhang

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24 Su Dongpo. ›Geschrieben im Xi-Lin-Tempel‹. Zitiert aus Albert BreiS R H . S. 20. er: D Z IE

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ENTORTUNGEN

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Yimous in den 1980er und 1990er Jahren unter Beweis gestellt. Auch die Herrschaft Deng Xiaopings und seiner Nachfolger, unter welche die Werke Zhang Yimous bereits gefallen sind, ist maßgeblich von der Kontrolle über die Kommunikationsstrukturen in China und einem starken Ordnungsbewußtsein geprägt, welches nicht auf Gesetzen sondern auf Machtdiskursen und deren Kontextualisierungen beruht. Es ist angesichts der transnationalen Strukturen der gegenwärtigen Medien, die sich gleichzeitig immer stärker in lokale Zusammenhänge zurückziehen, immer schwieriger aufrecht zu erhalten. Dies erklärt zugleich die gegenwärtige restriktive, dabei aber in ihren Herleitungen kaum greifbare und ebensowenig vorhersehbare Politik Chinas gegenüber dem Fernsehen wie vor allem auch gegenüber dem Internet. Im Zusammenhang mit dem kulturellen Selbstverständnis Chinas erscheinen für den Kontext dieser Untersuchung also weniger die Differenzen zwischen den unterschiedlichen Denkschulen und Ordnungsmodellen Chinas bedeutsam, die ohnehin erst im Nachhinein durch ihre historische Rekonstruktion ins kollektive Bewußtsein gehoben worden sind. Vielmehr stehen die Gemeinsamkeiten von deren gegenwärtigen (!) Interpretationen und Diskursebenen hinsichtlich der Welt- und Kosmosdeutungen, aus denen sich das historischmythische Bewußtsein einer (chinesischen) Kultur und Identität im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert konstituiert, im Mittelpunkt der Betrachtung. Zugrunde liegt allen Interpretationen des dao demnach eigentlich ein grundlegend multiperspektivischer, dabei aber in seiner praktischen Anwendung durchaus situativ relativistischer Begriff. Dieser versteht Kultur nicht als Prinzip der Differenz und hat daher auch nicht diesen Begriff als Terminus der Abgrenzung eingeführt. Vielmehr verstand Kultur sich in China seit jeher als ein unmittelbar auf die jeweiligen Gesellschaftsstrukturen verweisendes und darin immer auch eine praktische Anwendung findendes Prinzip. Dieses bezeichnet – in einer sozialdidaktischen Variante, wie sie dem Konfuzianismus zugeschrieben wird, als strenge gesellschaftliche Hierarchisierung, in einer daoistischen Variante als Methode des Welt-

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VOM EIGENEN UND FREMDEN verständnisses – in erster Linie die Beziehungen der Wesen und Dinge zu sich selbst und zueinander. Darüber hinaus weist dieses vormoderne Verständnis den Menschen und Gesellschaften eine feste Position zu. Innerhalb des – alles in sich vereinnahmenden – Überbaus kosmischer Ordnung (li ) und Harmonie (he ) wird die Trennlinie zwischen Dies- und Jenseitigkeit genauso wie diejenige zwischen zeitlichen und räumlichen Konstanten weitgehend aufgehoben. An der Stelle des für die industrielle Kultur grundlegenden räumlichen Kontinuitätsprinzips und evolutionären Zeitgedankens von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft befand sich in chinesischen Repräsentationen von der Landschaftsmalerei über die Lyrik bis zu den darstellenden Künsten ein – nicht zielgerichtetes – Prinzip des Momentes und der Dauer, das die chinesische Kultur zusätzlich als Variation und ihre Denkstrukturen als ständigen Fluß charakterisiert und damit auch ihre Medien entscheidend geprägt hat. So gewinnen die Kommunikationsstrukturen an zusätzlicher Bedeutung, indem sie selbst durch ihre Inhalte und Formen zu Konstrukteuren von Sinn und Bedeutung werden und diese nicht bloß kommunizieren. Bereits das dem daoistischen Philosophen Laozi zugeschriebene Textkonvolut des DAODEJING verdeutlichte in diesem Sinne vor etwa 2300 Jahren das sich als Variation begreifende Prinzip, welches dem dao gerade durch seine Bedeutungsvielfalt als Inhalt und kommunizierende Struktur von Sinn eine herausragende Bedeutung als ordnende Kraft im kulturellen Gesamtprojekt verleiht:





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ein etwas gibt es, aus dem chaos geworden früher als himmel und erde entstanden ein einsam-stilles, endlos-weites in sich allein, unwandelbar kreisend, nie sich erschöpfend des alles urmutter könnte man es nennen ich kenne seinen namen nicht ich nenne es Dau und da ich es bezeichnen muss nenn ich es groß 182

ENTORTUNGEN groß – denn es entfließt entfließt – ist also fern fern – und kehrt doch zurück so ist das Dau groß groß der himmel groß die erde und groß auch das königliche vier große dinge gibt es in der welt eines davon ist das königliche es folgt der mensch der erde die erde folgt dem himmel der himmel folgt dem Dau das Dau folgt sich selbst25 Die ordnende Kraft im kosmischen Urchaos, welche dem dao in diesem Text beigemessen wird, begründet sich zum einen auf einem streng hierarchischen Abhängigkeitsverhältnis zwischen den Dingen und Wesen und also auch innerhalb der Gesellschaft. Dabei beziehen sich alle Elemente dieses Systems auf das tragende Element des dao, aus dem sie hervorgehen und in das sie in Form eines beständigen Kreislaufs auch immer wieder zurückkehren werden, um abermals aus ihm entspringen zu können. Zum anderen begründet sich das darin zum Ausdruck kommende Kommunikationssystem der Kultur Chinas, wie schon die Bedeutung der Wege im Hinblick auf die Ordnungsstrukturen zeigt, auf den multiplen Kommunikationsstrukturen, die sich horizontal zwischen seinen einzelnen Elementen wie auch vertikal gegenüber dem gesellschaftlichen Gesamtsystem formieren. Die – ausschließlich über die Herausbildung von Differenzen möglich werdende – Aneignung der industriellen Medien und des diesen innewohnenden ideologischen und kulturellen Konzepts seit dem 19. Jahrhundert werden damit in einen neuen Kontext gerückt. Die Differenzen zwischen den beiden somit scheinbar bipolar aufeinanderprallenden Kultur(Daodejing). Kap. 25. In der Überset25 Laudse (Laozi): D zung von Ernst Schwarz. Leipzig 1978. AUDEDSCHING

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VOM EIGENEN UND FREMDEN systemen bedingen zwar jene Abgrenzungsstrategien zwischen dem Eigenen und dem Fremden, die von zahlreichen Kritikern beschworen, von den um die Bildung von nationaler Identität bemühten Regierungen Chinas geschürt und über die technischen Medien kommuniziert werden. Sie scheinen sich in den integrativen Elementen der chinesischen Kultur sowie in der situativen Mehrdeutigkeit und metaphorischpoetischen Darlegung chinesischer Repräsentation, die angesichts ihres ideographischen Charakters zugleich extrem verdichtet ist, gleichzeitig aber auch wieder aufzuheben. Dies zeigt bereits die unverfängliche Vereinnahmung der fremden Technik durch die nationalen wie vor allem durch die zahlreichen lokalen Diskurse im Kinofilm wie vor allem in den Fernsehprogrammen Chinas, die auf vielfältige Weise selbst zur Konstitution eines chinesischen Eigenen beigetragen haben oder dieses in seiner dem antikolonialen Nationalismus nachfolgenden post-postkolonialen Form gar selbst darstellen. Nicht zuletzt ist das Fernsehen dabei durch die multiperspektivische Gestaltung und enorme Dichte seiner punkthaft und mosaikförmig zusammengesetzten Bilder, die es von den alphabetisch kodierten Texten europäischer Sprachsysteme unterscheidet und in die Nähe des chinesischen Ideogramms und der chinesischen Malerei stellt, selbst an die chinesische Kultur herangerückt und hat sich dieser für die Aneignung in die Diskurse des Eigenen angeboten. In der europäischen Systemtheorie werden kulturelle Veränderungen in aller Regel als sich im ständigen Wandel zwischen Ordnung und Chaos befindliche historische Systembildungsprozesse dargestellt, die also letzten Endes doch linear und zielgerichtet fortschreiten. Das führt Michael Giesecke aus: Der Wechsel von Ordnung1 über Chaos zu (neuer) Ordnung2 erscheint dann als Entwicklungsprozeß. Ordnung2 wird in irgendeiner Form gegenüber der Ordnung1 prämiert.26

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ENTORTUNGEN Dagegen verweist das chinesische dao, das auf den ersten Blick in die Nähe dieses Modells zu rücken wäre, immer wieder unmittelbar auf seinen Ausgangspunkt zurück. Dieser stellt eine fest definierbare Ordnungsvorstellung im Rahmen der gesellschaftlichen und kulturellen Makrobedingungen dar, die es jeweils wieder anzustreben gilt. Es entzieht sich jeglicher Entwicklungslinearität und bezeichnet zugleich die Kultur wie auch deren Kommunikation als fixe Elemente. Dabei wird es selbst zum Medium, welches freilich nicht bloß zwischen den verschiedenen Parametern der Bedeutungskonstitution vermittelt, sondern deren Differenzen praktisch in sich auflöst und dabei selbst sinnbildend wirkt. Bereits die etymologische Herkunft des Zeichens wu (in seiner ursprünglichen Schreibweise: ), in welches das dao jeweils mündet, verweist auf die enge wechselseitige Kausalität zwischen der Kultur und den Medien ihrer Kommunikation. Das wu ist aus dem Ausdruck des Mimen hervorgegangen, indem es einen sich durch Gebärden ausdrückenden Tänzer darstellt. Die Gebärden des Tänzers selbst stellen zwar nicht die Wirklichkeit dar, so wie die elitären chinesischen Künste und Repräsentationen allesamt jenen rationalistischen Zugriff der mimesis und des téchnai auf Natur und Kultur nicht kannten oder verleugneten. Vielmehr kommunizieren sie auf eine metaphorische Weise mit der äußeren Realität. Gerade dadurch aber bieten sie dem Betrachter – unabhängig von der Repräsentation selbst, der lyrischen der Elitenkultur oder der mimetischen einiger volkskultureller Entäußerungen wie auch der technischen Medienarrangements – die Möglichkeit, im Diskurs mit dem Tänzer (oder dem Bild oder der Bildschirmdarstellung) aus der »Leere« der Gebärde im Rahmen der jeweiligen Wahrnehmungssituation eine oder mehrere Wirklichkeiten zu konstruieren, die sich den äußeren Bedingungen ihrer jeweiligen Wahrnehmung anpassen. Dadurch werden die ratio und das lógos der

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M B V 26 Michael Giesecke: V I .T M . Frankfurt a. M. 2002, S. 179. Vgl. hierzu auch die schematische Darstellung dieser Prozesse: Ebd. S. 175. ON DEN

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ÖKOLOGIE

185

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VOM EIGENEN UND FREMDEN äußeren Wirklichkeit von vorne herein außer Kraft gesetzt und deren Bedeutung durch das »Wesen der Dinge« und dessen metaphorisch-lyrische Ausdrucksformen ersetzt. Im Zeichen wu entsteht demnach eine Verknüpfung zwischen dem chinesischen Selbstverständnis und dessen Repräsentationsformen, den Künsten, die nicht auf einer einseitig kommunizierenden Ebene aus dem Denken heraus die Kommunikationsmittel und Formen hervorbringen, sondern von einer wechselseitigen Beeinflussung und gegenseitigen Abhängigkeit und auch hier von einem zyklischen Bewußtsein geprägt sind, in das durchaus auch die fremde Medientechnologie Eingang finden kann. Wirklichkeit entsteht in diesem Prozeß immer nur im Dialog des Darstellers (bzw. des Malers, des Autors oder Fernsehproduzenten) mit seinem Rezipienten. Sie verweist nur diskursiv auf eine imaginäre äußere Realität, die dabei eine in jeder Beziehung nachgeordnete Rolle einnimmt. Die Sinnkonstruktion innerhalb des chinesischen Kultur- und Ordnungsmodells findet nach wie vor auf dieser Ebene statt. Sie konzipiert ihre »Wahrheit« in der Dynamik der Beziehung zwischen der Umwelt, ihren Repräsentanten und nicht zuletzt deren Rezipienten. Wahrheit besteht also nicht in den fixen Definitionen und kulturellen Festschreibungen einer »Natur« im Prinzip des lógos, sondern im Kommunikationsfluß von Wahrnehmung und Repräsentation sowie deren jeweiliger – situativen – Beziehung zu den gesellschaftlichen Prozessen, aus denen sie schöpft und in die sie hineinwirkt. François Jullien hat in seiner kulturvergleichenden Studie zur Sinnkonstruktion in Griechenland und China diese Bezüge im Hinblick auf die These der Abwesenheit von symbolischen Konstruktionen innerhalb der chinesischen Sinnbildung herausgearbeitet. Darin konstatiert er im Hinblick auf die Beziehungen und Referenzen der Repräsentation, ihrer Autoren und Rezipienten und nicht zuletzt der indexikalischen Muster der Repräsentation sowie ihrer Ideen in China:

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ENTORTUNGEN Nun stellt zwar die gesellschaftliche und politische Welt im Vergleich zu den in diesen Gedichten [»Lisao« des Dichters Qu Yuan ] erwähnten, zumeist der Natur entlehnten Motiven durchaus eine Realität anderer Art dar, doch befindet sie sich nicht auf einer anderen Ebene. Denn sie ist genauso konkret und einzigartig wie jene Motive und gehört derselben horizontalen Dimension der Phänomene an. Wodurch sie im Gegensatz steht zu einer idealen oder geistigen Welt, die die sinnlich wahrnehmbare Welt verdoppeln und über sie hinausgehen würde, indem sie sich auf die Ebene des absoluten Seins oder zumindest zeitloser Allgemeinheit und der Wesenheiten erhöbe. Deshalb kann es zwischen einer bestimmten Naturszene und einer bestimmten Situation in der Welt der Menschen zwar eine Übertragung geben, nicht jedoch eine Allegorie. Das Unsichtbare, mit dem die chinesische Poesie zu tun hat, ist das Unsichtbare des Gefühls und der inneren Gestimmtheiten (qing ) die sie zum Ausdruck bringt, indem sie bei den sichtbaren Aspekten der Außenwelt (die eine Landschaft bilden: jing ) Anleihen nimmt, nicht aber eine unsichtbare (und als »intelligibel« aufgefaßte) Metaphysik. Oder anders ausgedrückt: Es handelt sich um das Verhältnis zwischen »Innen« und »Außen«, »Bewußtsein« und »Welt«, und nicht um das zwischen dem Ding und der Idee.27

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Das dao als Begriff sowohl der Kultur wie auch ihrer Kommunikation und beständigen diskursiven Neukonstruktion weist, wie sich zusammenfassend sagen läßt, nicht im Sinne des europäischen téchnai in Richtung auf einen zentralen Marktplatz. Vielmehr führt es, wie Kenichi Mishima formuliert: »...zentrifugal irgendwohin aufs Land und verliert sich am vernebelten Horizont«.28 Damit war bereits im chinesischen Altertum der Weg vorgegeben für das Denken wie auch für Z .S S C 27 François Jullien: U G . Wien 2000, S. 171. 28 Kenichi Mishima: ›Über den dō-Begriff und seine kulturgeschichtli.B che Bedeutung in Japan‹. In: Sigrid Paul (Hg.): K W C J . S. 60. MWEG UND

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187

EGRIFF UND

VOM EIGENEN UND FREMDEN die multiperspektivischen Repräsentationsformen und Medien des chinesischen Selbstverständnisses bis in die Gegenwart. Dieses hatte sich schließlich sowohl in seiner Wahrnehmung und Aneignung von industriellen Arbeitsprozessen und Raum- wie Zeitstrukturen wie auch in derjenigen der technischen Medienapparaturen von der Photo- über die Filmkamera, den Rundfunk und Fernseher bis hin zu den digitalen Online-Medien auf die eine oder andere Weise immer wieder mit der Entwicklungslinearität und Zentralperspektivität der europäischen Moderne und ihrem mimetischen bzw. allegorischen Anspruch auseinanderzusetzen. Es konnte sie entgegen der landläufigen Annahme neokolonialistischer Inbesitznahme des Ostens durch die, wie Salman Rushdie in seinem Roman THE GROUND BENEATH HER FEET schreibt, »Erzjünger der Linearität«, mit seinen eigenen Strategien teilweise aber auch fast selbstverständlich in das multiperspektivische Eigene integrieren, ohne sich dabei nennenswerter Widersprüche oder Konflikte mit einer wie auch immer wahrgenommenen »eigenen« Tradition bewußt werden zu müssen und damit in die Falle der – importierten – Differenz zu stolpern.

Mediatisierung von Kultur, Kulturalisierung der Medien Der Prozeß der Kulturalisierung, mit welchem sich seit seiner partiellen Kolonisierung und seiner Entdeckung der Moderne auch China auseinanderzusetzen hatte, besteht seit Beginn an vor allem in einem Verlauf der Mediatisierung aller Weltwahrnehmung und allen Wissens. Die in sein Kulturverständnis eingeschriebene Notwendigkeit der Herstellung von Artefakten bedeutet immer auch ein Angewiesensein des Menschen als kulturelles Wesen auf die (technische) Vermittlung seiner eigenen Natur. Die Mediatisierung derselben und deren Inszenierung (mimesis) dient sozusagen als Schlüssel für das System von Kultur im Allgemeinen wie auch für das System der spezifischen, sich medial vermittelnden

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ENTORTUNGEN Kultur im Besonderen.29 In diesem Sinne lassen sich in den Kulturen die Medien nicht als bloße Werkzeuge betrachten, als mehr oder weniger neutrale Instrumente, Botschaften zu übermitteln. Und nicht einmal die Definition Marshall McLuhans, daß das Medium selbst die Botschaft sei, wird dem Charakter der Medien innerhalb der kulturellen Systeme gerecht.30 Vielmehr muß man dazu auf die ursprüngliche Bedeutung des lateinischen Begriffs ›Medium‹ zurückgreifen, der ja nicht nur das Werkzeug, sondern immer auch die Mitte, den zentralen Ort von Gesellschaft, bezeichnete. In dieser Doppeldeutigkeit seines Begriffes läßt sich das Medium innerhalb des jeweiligen Systems, durch das es hervorgebracht worden ist, innerhalb dessen es wirkt und an dessen Konstitution die Medien auch ihrerseits mitwirken, als anthropologischer Selbstzweck betrachten. Auf dieser Grundlage, durch welche erst die Medien aus ihrer bloßen Mittlerrolle herausgelöst werden und selbst eine bedeutungskonstitutive und ordnungspolitische Funktion in spezifischen Gesellschaften wie derjenigen Chinas erlangen, die weit über diejenige des transnationalen Wissensvermittlers hinausgeht, bewegen sich die Fragen um ihre Verortung zwischen ihrem Charakter der Abbildung von Realität und ihrer Fähigkeit der Konstruktion von Realität bzw. deren Imaginationen, zwischen ihrer Bildlichkeit, welche dem Realitätscharakter gleich käme, und ihrer Narration, die im Gegensatz dazu dem Mythos gleich kommt. Es handelt sich dabei um zwei Größen, die bei der medialen Identitätskonstruktion der meisten, so auch der modernen Gesellschaften Chinas, entscheidende Rollen spielen. Die Medien erhalten ihre spezifische Funktion vor allem in ihrer Beziehung zu ihren Rezipienten, den Wahrnehmungssubjekten, welche aus den medial kommunizierten Kodierungen diejenigen Bedeutungen konstruieren, die schließlich die gesellschaftlich und kulturell tragende Verbindung zu einer äußeren Realität erst herstellen; sei sie 29 Vgl. Dirk Baecker: WOZU KULTUR? a.a.O. 30 Marshall McLuhan: DIE MAGISCHEN KANÄLE. a.a.O.

189

VOM EIGENEN UND FREMDEN mimetisch oder allegorisch, oder sei sie metaphorisch, wie in chinesischen Konventionen. Insofern rückt beim Blick auf den Kontext chinesischer Kultur bei der Frage nach der medialen Sinnkonstruktion neben den Inhalten vor allem die jeweilige Medialität selbst in die Aufmerksamkeit. In China stellen neben den medial transportierten Bedeutungen vor allem auch die importierten und angeeigneten Medienapparaturen das Andere dar, in welches man sich in eine wie auch immer geartete – imaginäre – Beziehung setzen muß, um die somit zwangsläufig angenommenen Identitäten und Differenzen entweder zu positionieren oder aber zugunsten des eigenen Multiperspektivismus zu dekonstruieren. Geht man von einer metaphorischen Sinn- und Bedeutungskonstruktion im chinesischen Kommunikationsprozeß zwischen dem Medium und seinen Rezipienten aus, so stellt sich zwangsläufig die Frage nach dem Kommunikationsverhältnis zwischen den Medienapparaturen mitsamt ihrer inhärenten Ideologie, Ökonomie und Kultur auf der einen, sowie den – chinesischen – Programmangeboten und der Wahrnehmungssituation und Prägung der Rezipienten auf der anderen Seite. Das jeweilige Verhältnis dieser Parameter, aus denen sich das Fernsehdispositiv herleitet, bestimmt die Sinnkonstruktion im Kommunikationsprozeß. Es weist letztendlich den Weg in Richtung einer Lösung der Frage danach, ob die Moderne China unausweichlich das Modell von Zentralperspektivität, Linearität und Differenzen beschert hat, wie es den Anschein hat, oder ob es in der Lage war und ist, aus den technischen Einschreibungen der Medien heraus ein Eigenes zu formulieren. In diesem Zusammenhang gewinnt Jacques Derridas31 These, daß der Rahmen des Textes selbst immer auch durch Teile seines Inhalts eingerahmt wird, für den Kontext der chinesischen Medienaneignung eine besondere Relevanz. Sie besteht zum einen darin, daß sich an ihr die unabdingbare Anwesenheit des Mediums selbst im Text und also auch in der kommunizierten Bedeutung festschreiD . Frankfurt a. M. 1976. 31 Jacques Derrida: D S Darin insbesondere das Kapitel: ›Freud und der Schauplatz der Schrift‹. IE

CHRIFT UND DIE

190

IFFERENZ

ENTORTUNGEN ben läßt, welche Grundvoraussetzung aller Überlegungen zur Frage nach den Medien und der Differenz ist. Zum anderen besteht sie, folgt man Slavoj Žižeks – Derridas Lacan-Kritik nivellierende – Lacan-Interpretation, darin, daß sie die Wechselbeziehung zwischen Medium und Rezipienten erklärt, aus der sich Bedeutung schließlich im Wahrnehmungsprozeß konstituiert: […] daß wir zu dem, was wir sehen, nicht in der einfachen Distanz eines Betrachtenden zum Betrachteten stehen, sondern daß der Horizont unseres Blickpunktes immer schon durch eine Stelle innerhalb des betrachteten Bildes bzw. Inhaltes bemerkt wird. […] In dem, was wir sehen, steckt immer ein Punkt, von dem aus uns das Bild selbst ansieht, eine Stelle, an der wir selbst schon in das Bild eingeschrieben sind.32 Der bereits früh eingeführte Buchdruck in China hat erst durch seine Industrialisierung im 19. und 20. Jahrhundert eine gewisse Bedeutung erlangt, die angesichts der nach wie vor weit verbreiteten Illiterarizität im ländlichen Raum bis in die Gegenwart nicht an diejenige in Europa hat heranreichen können. Dagegen haben die Medien in China ihre prägendsten Brüche innerhalb der beiden Jahrtausende des Einheitsstaates durch die verschiedenen Globalisierungs-schübe des Kolonialismus und »fordistischen« Kapitalismus im 19. und 20. Jahrhundert und des – »sonyistischen« – Transnationalismus seit den 1980er Jahren jeweils durch die Einführung von Techniken neuer visueller Kommunikationssysteme, nämlich des Kinos und des Fernsehens, erlebt. Sie haben als erste Medien in China eine interaktionsfreie Massenkommunikation ermöglicht, durch welche die Teilnahme an Informationen und Wissens- wie Bedeutungsdiskursen auf überlokaler Ebene realisiert und eine nationale Gemeinschaft kon32 Slavoj Žižek: L Lacan: D S P AS

DER

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S D !J L P . Berlin 1991, S. 34. Vgl. dazu auch Jacques J L . Buch XI: D G . (3. Aufl.) Weinheim, Berlin 1987.

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RUNDBEGRIFFE

VOM EIGENEN UND FREMDEN stituiert wurde. Unter den medialen Bedingungen von Film und Fernsehen ist der chinesische Zuschauer zum Adressaten der importierten Bilder geworden, die sich mitsamt ihrer Medialität in sein Selbstverständnis und seine Weltwahrnehmung eingeschrieben haben. Die Medien sind aber nicht zuletzt dadurch, daß – auch – sie als Zuschauer immer schon Teile der Texte der Medien sind, zum Teil des Eigenen geworden und haben dessen Adressaten-Identität in ihre Texte eingeschrieben, auch ohne ihn überhaupt bewußt adressieren zu müssen. Žižek begründet dies an anderer Stelle: Der Mechanismus, der dieser Illusion zugrunde liegt, ist ein »Kurzschluß«, eine Verwechselung des Stellenwertes in der symbolischen Struktur mit dem zufälligen imaginären Element, das sich auf dieser Position einfindet – wer auch immer sich auf dieser Position einfindet, ist der Adressat, weil ja den Adressaten gerade der Umstand definiert, daß er sich auf dieser Stelle eingefunden hat, und nicht etwa seine Eigenschaften, nicht der Umstand, daß dies »ausgerechnet er« war. […] Die Illusion, von der hier gesprochen wird, ist also ein Bestandteil des Ablaufes der ideologischen Anrufung selbst: indem ich mich im Ruf des ideologischen großen Anderen (Nation, Demokratie, Partei, Gott) als sein Adressat »erkenne«, indem dieser Ruf in mir »seinen Bestimmungsort erreicht«, begreife ich sozusagen automatisch, daß ich erst mit dieser »Erkenntnis« zu dem geworden bin, als was ich mich »erkannt« habe – indem ich mich im Anruf des großen Anderen »erkenne«, werde ich zu seinem Adressaten.33 Im Verhältnis zwischen dem Blick des Betrachters auf das Bild des Fernsehens und dem Blick des Bildes auf seinen Betrachter, welche in der Imagination des Betrachters kulminieren und die reale Differenz zwischen dem Eigenen und dem Anderen in den medialen Dispositiven aufheben, erschließt sich demnach die kulturelle Position des Fernsehens bei einer chinesischen Bedeutungskonstitution zwischen der 33 Slavoj Žižek: L

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! S. 29f.

ICH SELBST

ENTORTUNGEN Konstruktion und Dekonstruktion von Differenz- und Identitätsparametern innerhalb der jeweiligen Eigenwahrnehmung wie auch der Medienwahrnehmung des Betrachtersubjekts. Dabei rückt im Zuge einer Verselbständigung der Kommunikationsprozesse und ihrer medialen Bedingungen die Ideologie des kolonialistischen und neokolonialistischen Projekts, also die bewußte Adressierung durch die Medienproduzenten, welche der Einführung der Medien in China zugrunde lag, in den Hintergrund. Der Blick auf die Medien des chinesischen Selbstverständnisses muß anstelle eines Vergleichs zwischen den Kulturen der Produktion wie der Aneignung der Medienapparaturen, welche die imaginierten und kommunizierten Differenzen und somit den Gegenstand der Untersuchung ja bereits voraussetzen, die Kontexte und Repräsentationssysteme Chinas selbst in seinen Mittelpunkt stellen. Diese konstituieren sich gegenwärtig zwar maßgeblich aus den kulturellen Systemen und Techniken der industriellen und postindustriellen Moderne, die das Fernsehen als prägendes Medium chinesischer Gegenwartskultur und moderner Selbstwahrnehmung ja erst hervorgebracht haben. Im Prozeß der Aneignung und kulturellen Vereinnahmung des Fernsehens haben sich allerdings in zahlreichen Übersetzungsprozessen unübersehbar auch zahlreiche Elemente eines vortechnischen chinesischen Kulturverständnisses wie auch eines gegenwärtigen Selbstverständnisses, das zahlreiche neue Einflüsse in sich vereinigt und zur Grundlage seiner Re- und Neukonstruktion verwendet, in dessen chinesische Dispositionen eingeschrieben. Sie haben das Fernsehen in China auch auf dieser Ebene nicht trotz, sondern gerade durch seine unfixierbare Multiperspektivität und Polysemie als durchaus chinesisch definiert. Unter den vormodernen Bezugsebenen reproduzieren sich dabei neben besagten weltanschaulichen und ordnungspolitischen bzw. mythischen Konzeptionen auch die Modelle der vortechnischen Medien selbst. Elemente der Prosaliteratur wie auch der Lyrik und der performativen Künste, der Schilderungen der Geschichtenerzähler und nicht zuletzt der Malerei finden sich alle auf die eine oder andere Weise im

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VOM EIGENEN UND FREMDEN Fernsehen wieder und treten dort mit den medialen Eigenschaften, der Ökonomie und Politik des Massenmediums in einen Dialog. Ihre Modelle werden im Fernsehen und dessen Wahrnehmung polysemisch diskursiviert und von diesem nicht bloß reproduziert. Als mächtiges Leitmedium chinesischer Repräsentation und somit nicht zuletzt auch erst der Konstitution einer hegemonialen Einheitskultur, die sich über Jahrtausende hinweg weitgehend kontinuierlich fortgeschrieben hat, haben sich vor allem die Schrift und auf deren Basis die Literatur bereits vor zweieinhalb Jahrtausenden in das kulturelle Selbstverständnis von Chinas Eliten eingeschrieben. Ihre ästhetischen Formen und Narrationen sowie die durch sie konstruierten und medial vermittelten Repräsentations- und Wahrnehmungsstandards sowie Bedeutungen haben entscheidenden Anteil daran gehabt, das Bewußtsein einer kulturellen Kontinuität Chinas über zahlreiche Dynastiewechsel und lange Zeiten der Fremdherrschaft hinweg innerhalb der dominanten Diskurse seiner Kulturelite bis in die Gegenwart festzuschreiben und unter Zuhilfenahme anderer medialer Formen auch breiter zu kommunizieren. Nicht zuletzt haben sich die in den Schrifttexten festgeschriebenen und gespeicherten, dabei aber ihre populären – oralen und performativen – Kommunikationsformen in sich vereinigenden Bedeutungseinheiten in der Selbstwahrnehmung Chinas festgesetzt. Sie wiederum stehen in einer engen Verbindung zum ideographischen System der Schrift selbst mit ihren extrem verdichteten Ordnungsmustern, die zugleich eine polysemische, von der situativen Dekodierung abhängige Bedeutungseinheit konstituieren. Darüber hinaus haben sie ja durchaus auch westliche Künstler und Kulturtheoretiker bei der Gestaltung ihrer medialen Konstruktionen zu inspirieren vermocht: so etwa Bertolt Brecht im Hinblick auf den gestischen Ausdruck, welchen das Schriftzeichen wu als Leere verkündet, den Japanologen und Filmemacher Sergej Eisenstein im Hinblick auf seine unmittelbar auf die Konzeptionen der Schriftzeichen zurückgehende Theorie einer assoziativen Montage, den Schriftsteller Ezra Pound, dessen lyrische Ent-

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ENTORTUNGEN würfe auf die Dichte der chinesischen Schriftzeichen zurückgeführt werden, und nicht zuletzt auch den Medientheoretiker Marshall McLuhan, welcher die Brüche mit dem Dogma der Linearität (die im linearitätsfreien China selbst freilich keinen Bruch darstellen) zur Grundlage seines Denkens über die Struktur des Fernsehbildes genommen hat. Das chinesische Schrift- und Literaturverständnis und dessen Dialog mit den oralen und performativen Künsten und Kommunikationsformen, welche über Jahrtausende hinweg auch den Kulturbegriff und die kulturelle Praxis im Reich der Mitte entscheidend geprägt haben, haben also durchaus auch auf das Fernsehen erheblichen Einfluß genommen. Sie konnten sich aber auch selbst nicht gänzlich dem Einfluß des Fernsehens und der dispositiven Strukturen der Moderne und Spät- resp. Postmoderne entziehen, welche ihrerseits nicht von ihren Medien abkoppelbar sind. So wie die meisten europäischen Gelehrten ein überwiegend abfälliges Bild von China und seinen Kulturen zu zeichnen pflegten, das von Polarisierungen und Exotismen geprägt war,34 so war in dieser Hinsicht auch ihr Blick auf die Schriftkultur Chinas schon früh von einem kulturzentristischen Gefühl der Überlegenheit gegenüber dem Fremden geprägt. G.W.F. Hegel etwa beschreibt aus seiner logozentrischen Perspektive die chinesische Schrift als rückständiges Medium des Gedankenausdrucks, das angesichts seines ideographischen Charakters nicht in der Lage sei, das menschliche Denken in dem Maße auszudrücken wie es das streng abstrahierte System der alphabetischen europäischen Schriften vermöge. 35 In Hegels Bewertung wird immerhin der Kern der Problematik in der Kommunikation zwischen den unterschiedlichen kulturellen Systemen deutlich, der im technischen Fernsehmedium mehr noch als in allen seinen Vorläufermedien kulminiert. Was die Schrift und Literatur betrifft, läßt sie sich in Anknüpfung an N 34 Einen guten Überblick liefert Heiner Roetz: M C . Frankfurt a. M. 1984, S. 3 – 77. Vgl. auch die Textauswahl D C . Frankfurt a. M. von Adrian Hsia (Hg.): D 1985. . Bd. 10. Frankfurt a. M. 1980, S. 273 – 276. 35 G.W.F. Hegel: W ENSCH UND

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VOM EIGENEN UND FREMDEN die Dichotomien zwischen dem téchnai und dem dao anhand derjenigen zwischen der alphabetischen Logik Europas und den von Beginn an poetisch und metaphorisch angelegten Ideogrammen chinesischen Denkens und Schreibens darstellen, die in enger Beziehung zu den anderen Künsten und Kommunikationsformen stehen. Sie treffen beide in den inhärent intermedialen chinesischen Dispositiven des Fernsehens aufeinander und vereinigen sich dort zu jenem dynamischen Ort des »Dazwischen. Die Schrift als Ausdruck des Menschen aber auch als Repräsentant der kosmischen Natur im Verständnis des daoKreislaufs wird in erster Linie durch das Zeichen wen verkörpert, das nicht zufällig auch den modernen Kulturbegriff wenhua prägt. Ursprünglich bezeichnet wen neben dem Zeichen zi eine der beiden Hauptgattungen von chinesischen Schriftzeichen, welche die einfachen, nicht zusammengesetzten sowie die zusammengesetzten Zeichen voneinander unterscheiden. Diese Verwendung der Zeichen wen und zi, aus denen sich die sechs Gruppen von Zeichen rekrutiert haben, welche die Lexikographie der Han-Dynastie festlegte, taucht bereits im Titel des im Jahre 121 v. Chr. erschienenen Wörterbuchs SHUOWEN JIEZI (Aufklärung über die Schriftzeichen) auf und zieht sich durch die gesamte Kultur- und Literaturgeschichte Chinas. Auch die moderne Verwendung des Kompositums beider Zeichen wenzi zur Bezeichnung der Schrift und ihrer Zeichen verweist unübersehbar auf deren frühe Verwendung zur Benennung der Grundtypen von Schriftzeichen.



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Auch seine inhärente Multimedialität und seine darin begründeten Wurzeln als grundlegender Ausdruck für Kultur, wie sie sich auf dieselbe Weise auch im Fernsehen wiederfinden, stellt wen bereits in frühesten Quellen heraus, in denen es die Tätigkeit des Musterns (etwa das Mustern eines Felles) bezeichnet. Helwig Schmidt-Glintzer zitiert, um diese Bezüge zu verdeutlichen, aus dem SHUOWEN JIEZI die Legende von der Einführung der Schriftzeichen:

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ENTORTUNGEN Als in der Urzeit Bao Xi (trad. 2852 v. Chr.) die Welt beherrschte, da blickte er empor und betrachtete die Bilder am Himmel, blickte nieder und betrachtete die Vorgänge auf Erden. Er betrachtete die Muster (wen) auf Vögeln und Tieren und ihre Anpassung an die Orte. Unmittelbar ging er von sich selbst aus, mittelbar ging er von den Dingen aus. Dann erfand er die acht Zeichen (das sind die Trigramme) des YIJING [BUCH DER WANDLUNGEN], um die Bilder späteren Zeiten zu überliefern. Später machte der göttliche Landmann (Shen Nong) geknotete Stricke, um die Angelegenheiten der Welt zu ordnen und zu kontrollieren. So vervielfältigte sich die Anzahl der Tätigkeiten, und es wuchs die Menge der künstlich hergestellten Erzeugnisse. Der Schreiber des Gelbkaisers, Cang Jie, der die von Vögeln und Tieren hinterlassenen Spuren betrachtete, erkannte, daß man die verschiedenen Formen unterscheiden konnte, und schuf daher Schriftzeichen, um damit die hundert Berufe zu kontrollieren und das Volk zu beaufsichtigen. Bei all dem ließ er sich von dem Hexagramm guai leiten: »Entschlossen muss man am Hof des Königs die Sache bekannt machen« – was bedeutet, daß die Muster (wen) die Lehre (jiao) verbreiten und am Hofe des Königs die Kultivierung (hua) zum Leuchten bringen. »Der Edle gewährt Vergünstigungen seinen Untertanen und scheut es, bei seiner Tugend zu verweilen.« Als Cang Jie die Schrift schuf, hielt er sich bei der Abbildung der Gestalt an die Eigenart; daher hieß dies Muster (wen). Als später Gestalten und Töne sich miteinander verbanden, nannte man dies Schriftzeichen (zi). Muster bezeichnet das Grundgerüst in der Abbildung von Dingen. Schriftzeichen bedeutet eine Erweiterung der Nachahmung. Auf Bambus oder Seide aufgebracht, spricht man von Urkunden (shu).36

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(Aufklärung über die Schriftzeichen). 36 S Kap. 15 A, S. 1a – 2b der Ausgabe von 1808, Nachdr. Taipei 1963. Übersetzung zitiert aus Helwig Schmidt-Glintzer: G L R. München 1990, S. 21. HUOWEN JIEZI ZHU

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VOM EIGENEN UND FREMDEN In diesem Textauszug, der den Mythos der Erfindung der Schrift in eine untrennbare Verbindung mit den Ursprüngen der Kultur stellt und zugleich die Dispositive der Schriftlichkeit von Kultur festschreibt, wie sie fast zwei Jahrtausende lang kontinuierlich gültig waren, finden sich zahlreiche Diskursparameter der chinesischen Kultur wieder, mit denen sich die importierten technisch-apparativen Medien seit dem 19. Jahrhundert und auch das Fernsehen auseinanderzusetzen haben und sich in Verbindung mit der Technik ihrer Hard- und Software und ihrer Ökonomie auch deren jeweiligen Dispositive bestimmen. Dabei ist das Geschriebene (wen) zugleich Muster und erhält auf dieser Ebene von Beginn an seine Relevanz als mediales Repräsentationssystem von Kultur, welches eine wechselseitige Verbindung zwischen ihren Signifikaten und ihren Signifikanten herstellt und dabei deren bipolares Modell – nach dem strukturalistischen Verständnis der Semiotik – zugunsten einer diskursiven Einheit aufhebt. Statt dessen tritt wen in China vor allem als Medium der Poesie und der metaphorischen Kommunikation auf, als das es – vergleichbar mit dem dao – eine wandelbare Verbindungslinie herstellt, durch welche die Dinge und Kreaturen des gesellschaftlichen und kulturellen Systems auf die gemeinsame Ebene einer »Hyperrealität« gehoben werden, wie Haun Saussy in seinem Aufsatz zur kulturhistorischen Bedeutung und Verwendung des Schriftzeichens wen notiert.37 Auf dieser Ebene manifestiert sich die vielschichtige Bedeutung des wen, das – ähnlich dem dao – zu einem Verbindungsglied der Einheiten wie zugleich der Kommunikationsstrukturen des kulturellen Systems wird, welches Gesellschaft und Kultur aber auch in ihrer Gesamtheit repräsentiert. Die Bedeutung des wen geht also weit über diejenige des Schriftzeichens und der Schrift hinaus. Zu seinen lexikalischen Konnotationen gehören die Sprache und die Literatur und auf einer weiteren Ebene das Ritual, das Zivile, nicht



37 Haun Saussy: ›The Prestige of Writing: Letter, Picture, Image, Ideography.‹ In: Victor Mair (Hg.): »Sino-Platonic Papers«. No. 75, February 1997.

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ENTORTUNGEN Militärische und die Bildung und Kultur mit ihren Künsten und Medien bis hin zum Fernsehen. Zudem schließt wen als Wissenssystem sogar Naturerscheinungen mit ein und bezeichnet in dieser Verwendung auch Gebiete der Naturwissenschaften wie die Astronomie (tianwen ) oder die Hydrologie (shuiwen ). Dabei steht dieses Zeichen im Sinne seiner Identitätsgleichung »wen ist wen« ( Wen shi wen) vor allem aber immer auch für sich selbst und damit für das kulturelle System Chinas als solches wie auch für dessen Ordnungsstrukturen. Dies allerdings ist nicht als Abgrenzung gegenüber seinen ausdifferenzierten Bedeutungen zu begreifen, sondern schließt diese allesamt mit in sein Selbstverständnis ein, welches dem kulturellen Selbstverständnis des dao auf der Ebene seiner Repräsentationen entspricht. Dao ist demnach immer auch wen, so wie wen als Repräsentationssystem auch immer das dao zum Ausdruck bringt.

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Die Schrift war im vormodernen China unmittelbar nur einer elitären, ohnehin überwiegend bedeutungsgebenden schriftkundigen Oberschicht zugänglich. Dennoch fanden ihre Bedeutungsmuster über andere Medien ihren Weg zu breiten Bevölkerungsschichten Chinas, wurden auf der anderen Seite aber auch selbst durch deren – populäre – Kommunikationsformen beeinflußt. Dazu gehörten die Bühnenkünste, deren Stücke nicht selten entweder auf Schrifttexten basierten oder doch auf deren Sinnmuster rekurrierten oder aber selbst als Grundlage für ihre literarischen Konvertierungen dienten. Dazu gehörten auch die orale Erzähltradition und sogar die – ja ebenfalls zu Teilen auf Schrifttexten basierende – Musik wie vor allem die nach denselben Prinzipien wie die Schrift funktionierende Malerei, welche wiederum in enger Verbindung zu lyrischen Ausdrucksformen stand. Nicht zuletzt aus diesem Grund wurde die Literatur, aus deren Umfeld schließlich im 20. Jahrhundert die meisten der frühen Shanghaier und Kantoner Filmpioniere hervorgegangen sind, neben den performativen Formen des Dramas fast selbstverständlich auch in China nicht nur durch die von ihr gelieferten Drehbuchvorlagen, sondern auch im Hinblick auf

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VOM EIGENEN UND FREMDEN ihre visuell-lyrischen Kompositionen und vor allem auf die für sie festgeschriebenen Bedeutungsinhalte, zu der wichtigsten Referenzform für den Kinofilm. Vor allem mit Literatur und Bühnenkunst ist der Film in einen Dialog, eine Partnerschaft und in eine bis in die Gegenwart fortwährende Konkurrenz eingetreten. Er hat sich nur in wenigen Ausnahmefällen von dem »Krückstock« 38 der von der Literatur in die dominante zentrale Kultur Chinas eingeschriebenen Bedeutungen und Dispositionen befreien können. Mehr noch als in anderen kulturellen Systemen steht dabei in China die Literatur mit der ihr zugrunde liegenden Schrift in einem Spannungsverhältnis ständigen gegenseitigen Austauschs. Anstelle der alphabetischen Logik, wie sie die europäischen Sprachen und ihre Literaturen prägen, bildet sie ein vielfältiges Gebilde aus medialen Formen und Ideogrammen, deren Bedeutungen nahtlos an die zyklischen Konstrukte des kulturellen Selbstverständnisses Chinas anknüpfen und sich auch in der Metaphorik der Fernsehprogramme wiederfinden. Damit allein ist deren apparativ eingeschriebene Linearität und Zentralperspektivität allerdings noch längst nicht aus dem Weg geräumt. Das Verständnis von Ordnung in China ist nicht ausschließlich als politisches, ökonomisches oder philosophisches Konstrukt zu verstehen, sondern vielmehr in den Zusammenhängen mit seiner Repräsentation und Kommunikation zu begreifen. Es wurde über zwei Jahrtausende hinweg bis in die Moderne und hin zur zwischenzeitlichen Dominanz des Kinofilms, der freilich selbst entscheidende neue Akzente hinzufügen konnte, weitgehend von den Strukturen der Literatur beherrscht. In ihren traditionell chinesischen genauso wie in ihren westlichen Varianten und den sich daraus ergebenden vielfältigen Mischformen tragen sie auch beim Fernsehen nicht nur durch ihre Inhalte, sondern vor allem durch ihre mediale Form bis in die Gegenwart maßgeblich dazu bei, die staats- und systemlegitimierende kulturelle 38 Bai Jingsheng: ›Throwing Away the Walking Stick of Drama‹. In F T .AG N E . George S. Semsel (Hg.): C New York 1990, S. 5 – 9. HINESE

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ENTORTUNGEN Kontinuität Chinas in dessen kulturelles Gedächtnis einzuschreiben. Das Fernsehen, das sich als Medium der importierten Moderne anders als die Literatur nicht als Teil der – inzwischen quasi retrospektiv eingeführten nationalen – Mythen des Eigenen kommunizieren läßt, ist dabei aber durchaus in der Lage, die Repräsentationsformen von Literatur, Malerei, Drama und den anderen Kommunikationsarten in sich zu vereinigen und mit dem Neuen des Modernisierungsund Globalisierungsprozesses zu verknüpfen. Neben seinen Anordnungsbedingungen, an deren Aktualitäts-, Authentizitäts- und Unterhaltungswirkung und an deren Integrierbarkeit in den Alltag der Menschen bisher kein anderes Medium heranzureichen vermochte, ist darin die zweite Ursache für den unaufhaltsamen Erfolgszug des Fernsehens in China zu finden. Unter seinen medialen Bedingungen kann es aus seinen vielfältigen Einflüssen immer wieder ein Eigenes formen, das sich im hier und jetzt verortet und dessen Bedingungen anzupassen vermag. Es unterscheidet sich vom Kinodispositiv vor allem darin, daß es eine gänzlich andere Wahrnehmungssituation hervorbringt. Dabei wird die von Jean-Louis Baudry in Anlehnung an Platons Höhlengleichnis für die Kinowahrnehmung konstatierte »Höhlensituation«39 durch eine sich in ständiger Dynamik befindliche Multikontextualisierung abgelöst. Sie kommt dem traditionellen chinesischen Kulturverständnis sehr viel näher als das dichte und in sich abgeschlossene Kinodispositiv. Das Fernsehdispositiv präsentiert sich in seiner Offenheit und Multiperspektivität vordergründig als der hybride Raum, den Homi K. Bhabha als das »Dazwischen« kolonialer und postkolonialer Einschreibungen markiert hat. Es hat aus seiner Hybridität heraus in Wirklichkeit in China längst feste, wenn auch multiperspektivische und polysemische eigene Strukturen und Bedeutungskonzeptionen etabliert. Damit verweist es auf das Metaprojekt der nationalen wie auf die 39 Jean-Louis Baudry: ›Das Dispositiv. Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks‹. In: Claus Pias et. al. (Hg.): K M .D T B B . Stuttgart 1999, S. 381 – 404. URSBUCH

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VOM EIGENEN UND FREMDEN lokalen Kulturräume Chinas und nicht zuletzt auf alle anderen Medien von deren Repräsentation zurück. Diese saugt es quasi in sich auf, um dabei in der Imagination des wahrnehmenden Publikums seine eigenen Höhlen herauszubilden. Das Fernsehen kann in dieser Hinsicht sowohl Spiel- und Literaturfilme und sogar Literaturlesungen, Bühnenfilme, die bis dahin den Printmedien vorbehaltenen tagesaktuellen Nachrichten, Dokumentationen und nicht zuletzt in seiner Visualität auch Malerei reproduzieren und somit auf diese Weise das Eigene – allerdings unter den Bedingungen seiner eigenen Dispositivität – vermeintlich bewahren. Zugleich vermag es und ist es im Hinblick auf seine Wirtschaftlichkeit sogar gezwungen, diesem auch das Fremde hinzuzufügen, wenn es ihm darüber hinaus auch gänzlich eigene Gattungen wie die Talkshow, die Livereportage von Sport- und anderen Ereignissen und nicht zuletzt die Nachrichten als vielleicht ureigenste Form des Fernsehens entgegenhält. Zudem konnte sich das Fernsehen, dessen apparativtechnische Anordnungen ja unausweichlich der Zentralperspektive verhaftet sind, als erstes Medium des chinesischen Selbstverständnisses zumindest in seiner ökonomischen Struktur und seinen Wahrnehmungsanordnungen weitreichend von der zentralperspektivischen und zielgerichtet linearen Dominanz der typographischen Kultur loslösen, ohne dabei grundlegend mit den kulturkonstitutiven Elementen der Literatur brechen zu müssen. Es ist gerade dadurch, daß es sich als industrielles Medium dennoch vom Dogma des Buchdrucks hat lossagen können, mehr als alle anderen Medien auch und vor allem als Teil eines inter- und transnationalen wirtschaftlichen Komplexes der Kulturindustrie zu betrachten. Dieser läßt sich auch als posttypographisch bezeichnen, obwohl die Typographie angesichts ihrer kurzen Geschichte in China dort niemals die Bedeutung erlangen konnte, welche ihre Wechselwirkungen mit der Entwicklung der Kultur in Europa geprägt hatte. Neben seiner Referenz auf die Künste unterhält das Fernsehen zudem im Hinblick auf seine technischen Strukturen und Übertragungsformen auch eine enge Beziehung zum Rundfunk und den Medien der interpersonellen und interaktiven elektronischen Kommuni-

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ENTORTUNGEN kation. Es ist Werbeträger und Medium wie zugleich Produkt der Konsumindustrie und hat es durch die in seinen Programmen erwirkte Auflösung des Werkcharakters, welchem Literatur und Kino anhängen, und durch die in seinen Distributionsformen erwirkte Etablierung einer privatisierten nationalen wie transnationalen und nicht zuletzt auch relokalisierten Öffentlichkeit vermocht, eine nahezu unbegrenzte Gesamtheit der Gesellschaft und Gesellschaften zu erreichen. Diese werden durch die gleichzeitige Teilnahme an den mediatisierten Ereignissen der Kultur zu einer oder zahlreichen sich ständig austauschenden und ineinander verschiebenden »vorgestellten Gemeinschaften« (Benedict Anderson) zusammengeführt, welche das gegenwärtige China entgegen der Homogenisierungspolitik der Regierung in Wirklichkeit darstellen. Das Fernsehen nimmt multiple Funktionen innerhalb der zahlreichen gesellschaftlichen Diskurseinheiten an. Als Werkzeug der Regierungsdiskurse kommuniziert es deren Programme. Es stellt dieselben durch seine multiplen Kontextualisierungen, die es in Richtung multiperspektivischer Bedeutungs- und Wissensstrukturen öffnen, aber auch immer wieder in Frage und dekonstruiert ihre fixen Bedeutungsebenen. Dadurch, daß es seine Zuschauer an den privaten Raum bindet und somit von Gemeinschaftsbildungen und möglicherweise aus diesen hervorgehenden politischen Gegenbewegungen fernhält, nimmt es aber auch in dieser Form letzten Endes eine ordnungsbildende und -erhaltende Funktion ein. Dabei ergänzt es sich mit der in ihrer sozialen und kulturellen Bedeutung weithin unterschätzten Klima-anlage als zweiter bedeutender Einführung in den Privat-haushalten in den 1990er Jahren, durch welche sich die Gesellschaft zusehends in den privaten Raum verlagerte. In diesem Sinne gelingt es, Ordnung nicht mehr, wie es Mao Zedong vorgesehen hatte, in Form absoluter Homogenität, sondern auch und vor allem in der Summe der zahlreichen, sich auch widersprechenden Diskurse aufrechtzuerhalten. Sie verknüpfen sich allesamt in dem kulturellen Metaprojekt Chinas miteinander und finden unter den medialen und

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VOM EIGENEN UND FREMDEN dispositiven Bedingungen des Fernsehens in einer sich vielfach spiegelnden, reproduzierenden, brechenden und neuanordnenden Form zusammen, ohne dabei wirklich eine – reale oder dialektische – Einheit bilden zu müssen. Dabei konnte das Fernsehen die in anderen Medien nach wie vor aufrecht erhaltenen Trennlinien zwischen Kultur, Gesellschaft und Politik nahezu aufheben, um statt dessen kraft seiner Ökonomie, seiner umfassenden Präsenz und der scheinbaren Aktualität wie Authentizität seiner Bilder selbst zum Ereignis und zu der Öffentlichkeit zu werden, über die sich gleichzeitig eine nationale chinesische wie auch eine globale Mediengemeinschaft und die zahlreichen lokalen Gemeinschaften Chinas definieren, ohne dabei in nennenswerte Konflikte miteinander zu geraten. Dieser Gedanke führt die Überlegungen zurück zum grundlegend multiperspektivisch-lyrischen und metaphorischen Selbstverständnis der chinesischen Kultur und ihrer Repräsentationssysteme. Es bildet die Grundlage für die Möglichkeit der Aneignung des Fremden wie zugleich für die offenen Strukturen des Eigenen. Das hat auch das Fernsehen zu einem Bestandteil der »eigenen« Diskurse werden lassen, obleich sie dem Grundgedanken dieses Mediums eigentlich gänzlich zuwider laufen. Die chinesischen Repräsentationsmuster sind ja, wie im Zusammenhang mit dem Zeichen dao erläutert, antimimetisch und in gewissem Sinne auch antiallegorisch zu verstehen. Sie widersprechen auf dieser Ebene grundlegend dem auf der ratio und dem lógos beruhenden technischen Verständnis und Anspruch des Fernsehens. Sie stellen keine unmittelbaren mimetischen oder allegorischen Bezüge her, die sich nach Walter Benjamin ja als aus Gegensätzen montierte Nachahmung zwischen einer vormedialen bzw. vorverschrifteten Realität und der Repräsentation konstituieren.

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ENTORTUNGEN

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(Zaochun tu) von Guo Xi

Vielmehr sind sie Ausdruck eines lyrischen Diskurses über die Realität, in welcher Form auch immer diese zum Diskursparameter der medialen Reflexion wird. Die medialen Repräsentationssysteme der chinesischen Kulturen erheben demnach von Beginn an nicht den Anspruch der Nachahmung einer vormedialen Wirklichkeit. Vielmehr betrachten sie, wie Pauline Yu ausführt, die Medien als poetische, diskursive Reaktion des Künstlers auf seine Umwelt, deren in der Mediati-

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VOM EIGENEN UND FREMDEN sierung seiner Erfahrung unüberwindbarer Bestandteil er selbst wie auch das Medium seiner Veräußerung ist.40 In der Lyrik und in allen sich an ihr orientierenden literarischen Gattungen und Kommunikationssystemen, von denen im Hinblick auf ihre Beziehungen zum Fernsehen auch die Performativität des Theaters eine besondere Relevanz gewinnt, entsteht eine im Sinne des dao zu begreifende Einheit zwischen den äußeren Realitäten, ihrer Wahrnehmung durch den Künstler, seiner »Reaktion« (Pauline Yu) und schließlich der Rezeption und Bedeutungskonstruktion durch den Leser und Zuschauer. Die in die industrielle Kultur eigentlich eingeschriebene Differenz zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Realität, Mimesis und Repräsentation sowie diejenige zwischen Wahrheit, ihrer Wahrnehmung und deren Differenzen ist innerhalb dieses Modells (welches in China aus eben diesen Gründen ja gar keinen Modellcharakter haben kann) gänzlich aufgehoben. So wird der Weg frei für einen Wahrheitsbegriff, der sich nicht an den Kategorien von Identität und Differenz mißt. Dieser wiederum verweist auf das Verständnis einer »Hyperrealität« (Haun Saussy). Sie schließt sowohl die als Bezugsebene ›wirkliche‹ äußere Realität im Sinne des europäischen Verständnisses wie auch deren Diskurse und lyrisch-metaphorische Repräsentationen sowie die Wahrnehmung und Reaktion des Autoren und die Rezeption des Publikums mit ein. Dies verdeutlicht etwa das Bild »Früher Frühling« ( Zaochun tu)41 des Song-zeitlichen Malers Guo Xi , welches – wie die meisten Werke der chinesischen Landschaftsmalerei in der Shanshui-Tradition ( Berg-Wasser) – nicht als Abbild der dargestellten Landschaft, sondern vielmehr als lyrische Reflexion über dieselbe funktioniert. In seiner beredten Multiperspektivität zieht es den Betrachter nicht in einen einzigen dominierenden Fluchtpunkt hinein, sondern eröffnet ihm die Zeitkomponente des bewegten, ständig umherschweifenden Blicks. Wahrheit wird dabei als

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I 40 Vgl. Pauline Yu: T R . Princeton 1987, S. 35. 41 (Zaochun tu). Palace Museum, Taipei. HE

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ENTORTUNGEN diskursive, von der Metaphorik der Darstellung und der eigenen Wahrnehmung abhängige Größe definiert und das Bild selbst in unendliche Variationen aufgelöst. Die Begriffe von Wahrheit und Authentizität beziehen sich also nicht auf den Vergleich mit der Natur und den unmittelbaren – symbolischen oder allegorischen – Bezug auf eine außer- bzw. vormediale Realität. Vielmehr beziehen sie sich auf diejenige des lyrischen Diskurses, der somit im Moment seiner Wahrnehmung immer wahr ist und auch auf dieser Ebene die Differenz zwischen den jeweiligen Bedeutungsebenen der Natur und ihrer Repräsentation aufhebt. So wird das wen im Kreislauf des dao zu einem Mikrokosmos der Bedeutungsproduktion, wie Joseph Roe Allen treffend ausführt: One might even say that wen is itself the cosmos, not a sign in place of something else, but a sign that is the very thing to which it refers.42 Auf dieser Ebene hebt sich schließlich auch die Differenz zwischen den Größen von Realität und Konstruktion auf, die im Hinblick auf den mimetischen Wahrheitsbegriff evident und dem Fernsehdispositiv – als Imagination – zwingend eingeschrieben ist. Das chinesische System von Kultur stellt dem saussureschen Zeichen die Größe des Symbols gegenüber. Dieses ist nicht unmittelbar indexikalisch zu deuten, sondern bezieht sich auf die – imaginären – Prozesse der Repräsentation und Wahrnehmung der äußeren Realität. Es verschafft sich im wen einen prägnanten und nicht nur für die Literatur, sondern auch für alle anderen Medien chinesischer Kultur gültigen Ausdruck. In diesem Sinne hat es sich mit seinen »chinesischen« Eigenschaften auf die eine oder andere Weise auch in das eigentlich mimetische Fernsehen und dessen Ordnungsstrukturen eingeschrieben. Allerdings haben auch die importierten Bedingungen der Moderne und V O :C M B P . 42 Joseph R. Allen: I Ann Arbor 1992, S. 19. Zitiert aus Haun Saussy: ›The Prestige of Writing‹, S. 8. N THE

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VOM EIGENEN UND FREMDEN seit den 1980er Jahren auch des Fernsehens selbst die kulturelle Wahrnehmung in China überlagert und seinem ökonomisch-kulturellen Wandel einen vorläufigen Höhepunkt beschert. Um dieses Wechselspiel beschreiben zu können, muß noch einmal konkreter auf die unterschiedlichen Ordnungskonzepte eingegangen werden, welche den Kulturbegriffen des Fernsehens zugrunde liegen. Zum einen ist von einem als traditionell zu bezeichnenden vormodernen, also sich mit Hilfe vortechnischer Medien konstituierenden und kommunizierenden Ordnungsbegriff auszugehen. Dieser wird retrospektiv gerne unter dem Terminus des »Konfuzianismus« zusammengefaßt, obgleich dabei keine wirkliche Äquivalenz mit den so genannten klassischen Schulen hergestellt wird, die sich zudem in zumindest vier unterschiedliche historische Phasen mit teilweise erheblich voneinander abweichenden Ausprägungen der jeweiligen Übersetzungs- und Aneignungsschritte ausdifferenzieren; 1. die Zeit des Konfuzius und seiner Nachfolger Mengzi und Xunzi ; 2. der Neo-Konfuzianismus der Song-Zeit; 3. die Funktionalisierung »konfuzianischer Werte« in der jüngeren Geschichte und Gegenwart; 4. die Philosophen des NeuKonfuzianismus, darunter z.B. Tu Wei-ming. Die industrielle Moderne hat die dritte dieser Phasen entscheidend mit geprägt und damit zugleich die Voraussetzungen für die traditionalistischen Rekonstruktionsstrategien des Neu-Konfuzianismus im Hinblick auf die »wahre Lehre« geschaffen. Sie hat mit ihren ganz eigenen ökonomischen, technischen und auch kommunikationsmedialen Eigenschaften auf die eine oder andere Weise das vormoderne Modell überlagert und zur Differenzbildung und Auseinandersetzung gezwungen. Diese Auseinandersetzung ist inzwischen in die Dynamik eines gegenwärtigen chinesischen Wirtschafts- und Kulturkonzepts eingetreten. Darin finden sich die Versuche der vollständigen Ablehnung wieder. Sie sind zunächst seitens der ›modernen‹ neukonfuzianischen Schulen formuliert worden, die sich ja erst durch die Entdeckung des Anderen zu formieren vermochten und ihrem eigenen Anliegen damit bereits in gewissem Sinne widersprechen. Sie entäußerten sich aber

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ENTORTUNGEN bereits in der unbegrenzten Übernahme durch einige Reformer der Bewegung des 4. Mai 1919 und der hegemonialen kulturellen Neukonstruktion aus Elementen des einen wie auch des anderen in der radikalpolitischen Phase der frühen siebziger Jahre. Als »Modernisierung« werden sie von der Staatsregierung seit den 1990er Jahren dominant kommuniziert und zur Grundlage des – nationalen – Eigenen bestimmt. Die chinesische Kultur der ausgerufenen Moderne hat sich infolge der kulturell-geistigen Umwälzungen in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts einem westlichen Kulturbegriff zumindest vordergründig angenähert. Sie hat den Terminus wenhua für Kultur herausgebildet und untrennbar mit dem im Reich der Mitte seit mehr als zwei Jahrtausenden bedeutendsten kulturellen Aufzeichnungssystem, besagtem Zeichen wen für Schrift, verbunden. In dieser Bedeutung taucht wen als Radikal zahlreicher Schriftzeichen auf und steht im reformierten Sprach- und Schriftsystem Chinas nahezu allen Begriffen des geistigen und kulturellen Lebens als Kompositum voran. Diese Begriffe rekurrieren mit nur wenigen Ausnahmen allesamt auf die Schriftlichkeit von Kultur und damit auf deren hegemoniale vormoderne Formen. Die Einführung des sich an industrielle Konzepte von Kultur anlehnenden Kulturbegriffs wenhua und die dabei vorgenommene Ergänzung des vormodernen Begriffs wen durch den dynamischen, lineare Prozesse bezeichnenden Terminus hua haben das fremde Modell von Kultur, das ja vor allem auf industrielle und technische Vermittlungsformen setzt, mit in das Eigene aufgenommen und in eine dynamische Beziehung zum Verständnis des wen gestellt. Es zeigt sich, daß eine in der Rezeption von Kulturen gerne als Hybridität bezeichnete Polysemie der Einflüsse des vermeintlich Eigenen und des als solches wahrgenommenen Fremden in diesem wie in den meisten Fällen bereits in ihrer Anlage begründet und nicht erst ein Produkt der postfordistischen Globalisierungstendenzen ist. Eine Akzentverschiebung zeichnet sich in China allerdings im Hinblick auf die medialen Eigenschaften von Kultur und die kulturellen

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VOM EIGENEN UND FREMDEN Bedingungen der Medien seit dem frühen 20. Jahrhundert vor allem in der Auseinandersetzung mit dem Anderen ab, welches von da an der »Westen« für China darstellte. Sie hat unter den Bedingungen des nationalen und transnationalen Fernsehens in der jüngsten Vergangenheit eine neuerliche Wende genommen. Allerdings kommt die zyklische Bewegung, die sich im Spannungsfeld zwischen dem vermeintlich fixen wen und dem dynamischen hua Ausdruck verschafft, durchaus auch dem vormodernen Begriff der Kultur und ihrer Medien sowie einem Ordnungsverständnis entgegen, welches sich selbst nicht unter der Fixierbarkeit von Gesetzen und einer bestimmten medialen Kommunikationsform sondern als diskursive und situativ veränderbare, dabei multimediale Einheit begreift. Auf der Grundlage des vormodernen chinesischen Ordnungsverständnisses, das unter dem Begriff des li greifbar geworden ist, haben sich schon früh in der chinesischen Geschichte feste Konzeptionen von Zeit und Raum als Einheiten kultureller und gesellschaftlicher Ordnung konstituiert und die Mediatisierungen von Kultur wie auch das kulturelle Selbstverständnis selbst maßgeblich bestimmt. Ihre Entwürfe sind ebensowenig wie die Verwendung des Begriffs dao oder die Repräsentationsstrategien im Sinne einer Narrativierung der Natur als mythisch zu bezeichnen. Vielmehr haben sie seit jeher die Funktion, nicht die äußere Welt sondern vielmehr die menschliche Wahrnehmung derselben zu ordnen und innerhalb des jeweiligen Kontextes zu organisieren. Dies hat etwa die frühe Bedeutung des chinesischen Ordnungsverständnisses auf der Grundlage der funktionierenden (Kommunikations-)Wege (dao ) gezeigt, welche sowohl als räumliche wie auch als zeitliche Komponenten des Verhältnisses zwischen dem Ich und dem Anderen zu verstehen sind, indem sie die Differenzen zwischen dem hier und dem dort sowie zwischen dem jetzt des Standpunktes und dem dann des Ausgangs- oder Zielortes markieren, gleichzeitig aber auch die Funktion der Überwindung derselben ausüben. Von entscheidender Bedeutung ist, daß sich die Wahrnehmung des hier wie dort und des jetzt wie dann immer ausschließlich innerhalb der Bedingungen des hier und jetzt





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ENTORTUNGEN abspielt und durch diese geprägt ist. In diesem Sinne ist die kantsche Definition des Zeit-Raum-Begriffs als »intuitive« Komponente der Wahrnehmung zwar nicht gänzlich von der Hand zu weisen.43 Eine entscheidendere Rolle spielt bei der Konstruktion dieser Ordnungsparameter aber zweifellos deren kulturelle und soziale Determiniertheit, aber auch die individuelle Weltwahrnehmung des rezipierenden Ich. Diese wiederum ist vor allem medial geprägt und steht in einer unabänderlichen Abhängigkeit von den jeweiligen technischen Bedingungen ihrer Vermitteltheit in der wahrnehmenden Gegenwart. So schrieb Guan Zhong , der nur schwerlich einer der großen klassischen chinesischen Philosophenschulen zuzurechnen ist, in seinem Werk GUANZI (Meister Guan) bereits im 3. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung:

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Der Schüler fragt: »Stimmt die frühere Zeit mit der heutigen Zeit überein?« Der Meister antwortet: »Sie stimmt überein!« Der Schüler fragt: »Und stimmen die Menschen überein?« Der Meister antwortet: »Sie stimmen nicht überein.«44 Die Wahrnehmung der äußeren Wirklichkeit ist bereits in Guan Zhongs Verständnis sehr viel weniger durch dieselbe sowie deren Gegenwart und Ort als vielmehr durch deren Mediatisierungen und kulturelle Wahrnehmung in der Zeit und an dem Ort des wahrnehmenden Subjekts geprägt. Nicht das repräsentierte Ereignis, sondern vielmehr dessen Repräsentation und Wahrnehmung bestimmen also die Wahrheit. In diesem Sinne werden im Prozeß der Wahrnehmung von Realität deren Zeit und Ort zwangsläufig zu Metaphern innerhalb eines kulturellen und sozialen Komplexes und der jeweiligen individuellen Bedingungen des wahrnehmenden Subjekts; etwa so wie in der modernen Hermeneutik die PoV . In: Ders.: W 43 Vgl. Immanuel Kant: K B . (hg. von Wilhelm Weischedel) Darmstadt 1983. . Shanghai 1985, S. 138 (Rolle 12): : 44 G ? : . ? : . (Übers. S. Kramer) RITIK DER REINEN

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VOM EIGENEN UND FREMDEN sition des Erkennenden gegenüber dem Erkannten im Verstehensprozeß aufgewertet wurde. Paul Ricœur sieht die Metapher in der Funktion, das Fremde in das Vertraute übersetzen und dadurch aneignen zu können.45 Unter diesen Bedingungen verschieben sich alle tatsächlichen und in ihrer Existenz kaum abstreitbaren Differenzen und Identitäten von Zeit und Raum in die Imagination und unter deren ganz eigene Bedingungen, unter denen sie zur kulturellen Metapher innerhalb weiterer Prozesse der Kultur und Gesellschaft generieren, innerhalb derer Realität wahrgenommen wird. Der taiwanesisch-amerikanische Sinologe Kuang-ming Wu ( Wu Guangming) verweist in diesem Zusammenhang auf die Metaphorik der Wahrnehmung von Zeit und Raum innerhalb ihrer kulturellen Realitätskonzeption in China:

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What is peculiar about Chinese thinking is that in China the web, the thinking, of space-time is itself spacetimed and time-spaced. […] Metaphorical thinking understands the unfamiliar »that« in the light of the familiar »this«. Metaphorical thinking goes from the »this« here to the »that« there, and this going-fromhere-to-there is a movement in space that takes time. This metaphorical thinking is »webed« in a space-timed manner.46 Dabei bleiben die chinesischen Zeit-Raum-Konstruktionen immer konkret. Sie stehen in einer unmittelbaren, allerdings nicht mimetischen oder allegorischen, sondern, wie Kuangming Wu zudem darlegt, metaphorischen und kulturell geprägten Beziehung zur äußeren Realität. Dies entspricht auf der Zeit-Raum-Ebene des chinesischen Ordnungsverständnisses exakt den obigen Anmerkungen zur Evolution des dao 45 Paul Ricœur: ›Die Metapher und das Hauptproblem der HermeneuM . (Überarb. tik‹. In Anselm Haverkamp (Hg.): T Ausg.) Darmstadt 1996, S. 356 – 378. 46 Kuang-ming Wu: ›Spatiotemporal Interpretation in Chinese ThinkS ing‹. In: Chun-Chieh Huang und Erik Zürcher (Hg.): T C C . Leiden, New York, Köln 1995, S. 17. HEORIE DER

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ENTORTUNGEN von einer real-pragmatischen Ordnungskomponente zu einem prägenden kulturellen Konzept und gesellschaftlichen Metadiskurs. Dieser nimmt aber – entgegen zahlreichen überwiegend westlichen Interpretationen – niemals mythische Kodierungen an oder ist gar esoterisch zu begreifen. Vielmehr ist er immer als Reaktion auf bzw. als Diskurs über und vor allem als Dialog mit der wahrgenommenen äußeren Wirklichkeit zu verstehen. Die Medien der Vermittlung aber auch der Konstruktion von Kultur sind in diesem Sinne zugleich auch diejenigen der Konstitution eines Raum-ZeitVerständnisses und Ordnungskonzepts. Auf dieser Ebene nehmen sie durch ihre technischen Eigenschaften, ihre Wege (dao) der Kommunikation, selbst genauso Einfluß auf die Raum-Zeit-Konzeptionen der Wirklichkeit und die sich aus dem Spannungsbogen zwischen ihrer Realität und ihren Kommunikations- und Wahrnehmungsformen herausbildenden Metaphern der Ordnung, wie diese auf der anderen Seite Einfluß auf die Konzeption der Medien kultureller Repräsentation nehmen. Die Einführung der technischen Moderne hat China ein zielgerichtetes Entwicklungsmodell der Differenz zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beschert. Dieses ist mit seinem Zeitverständnis, das auf den Moment und den Zyklus (etwa der Jahreszeiten und Generationen) ausgerichtet ist, und seinem (so etwa in der Landschaftsmalerei) multiperspektivischen Raumbegriff der Variationen, der auf der Imagination und poetischen Rekonstruktion beruht, in einen ständigen Dialog eingetreten.47 Darüber hinaus hat das Raumverständnis der Mimesis den Fluchtpunkt der Zentralperspektive, der die geometrischen Formen und alle Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich zieht, eingeführt und damit ein Spannungsfeld herausgebildet, innerhalb dessen sich Ordnung in China gegenwärtig konstituiert. Aus diesen Diskursen heraus, die auf die eine oder andere Art aufS 47 Diesen Gedanken führt Albert Breier aus: D Z R H . S. 38ff. Dabei ist das Raumverständnis im übrigen – anders als etwa in der chinesischen Landschaftsmalerei, in deren Raumbrüchen zwangsläufig das Zeitelement Eingang finden kann – vom Zeitverständnis gänzlich abgekoppelt. IE

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VOM EIGENEN UND FREMDEN einander montiert sind, hat sich jener dritte Raum ergeben, welcher China und die Gegenwart der sich diesem kulturellen Raum zugehörig fühlenden Menschen prägt. Er ist nicht als Ort des Durchgangs zu verstehen, wie Homi K. Bhabha ihn beschreibt. Vielmehr begreift und kommuniziert er sich in seiner Vielfalt und seinen polysemischen Strukturen als fixes Eigenes im Moment und im Fluß. Aus der unmittelbaren postkolonialen Situation und damit auch aus dem Zwang zum Verweis auf die kolonialen Einschreibungen herausgelöst, wird er durch Bhabhas Beschreibung also nur noch bedingt greifbar. Aus den Konstellationen der äußeren Wirklichkeit sowie ihrer Mediatisierung und Wahrnehmung innerhalb eines chinesischen Raum-Zeit-Konzeptes und Ordnungsverständnisses, welches unmittelbar auf das kulturelle Selbstverständnis innerhalb der jeweiligen chinesischen Diskurse zurückverweist, ergibt sich ein vielfältiges Beziehungsgeflecht gegenseitiger Bezugnahmen und Abhängigkeiten. Auf diesen müssen schließlich auch die technischen Medien bei ihrer kulturellen Aneignung rekurrieren und sich in ihrer jeweiligen Fremd-Eigen-Konstellation verorten. Die wahrgenommene Realität ( xianshi) ist immer bereits mediatisierter und somit auch historischer Natur, sie wird also zur Geschichte ( shi). Da das von der industriellen Kultur angeeignete Mimesis-Verständnis einer Kopierbarkeit und Reproduzierbarkeit der Natur dem chinesischen Ordnungsverständnis bis dahin weitgehend fremd war, wird sie in ihrer mediatisierten Form, durch die sie sich dem Wahrnehmungsprozeß aussetzt, zwangsläufig auch zur Metapher ( yinyu), ohne dabei allerdings ihren – dem Realitätsverständnis äquivalenten – Status als Wahrheit zu verlieren. Eine dem Sinnerweiterungsverständnis der technischen Medienerfindungen ursprünglich bedeutungskonstitutiv eingegebene Differenz zwischen dem xianshi , dem shi , dem dao und schließlich dem wen , der Schrift, die zugleich Kultur und immer auch Metapher ist, existiert in diesem Verständnis von vorne herein nicht. Die Metapher, die von ihrer Natur her zeitlos, in ihrer Wahrnehmung aber

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ENTORTUNGEN immer gegenwärtig ist, stellt dabei die ausschließliche (auch historische) Realität dar. Sie muß nicht, wie in das MimesisVerständnis eingeschrieben, erst mit einer äußeren Realität in eine mimetische oder allegorische Verbindung eintreten, um authentisch oder zu Wahrheit zu werden. Da die Wahrheit in der Metapher selbst begründet ist, ist auch die Vergangenheit, die durch das Fernsehen mediatisiert und medial repräsentiert wird, die wahrgenommen und im Wahrnehmungsprozeß zur Metapher und zu Kultur wird, immer ausschließlich ein Teil des Gegenwärtigen und als solcher auch Wahrheit. Eine Wahrheit, die allerdings nicht in der Authentizität der (oftmals durchaus mimetisch) dargestellten Ereignisse oder deren Zeit und Ort zu finden ist, sondern in der Gegenwart und an dem Ort ihrer medialen Wahrnehmung und Imagination. In diesem Konzept wird die Vergangenheit des Vergangenen bedeutungslos und durch den kulturellen Diskurs in der Gegenwart ersetzt. Natur und äußere Realität sind also immer zugleich Kultur. Eine im Hinblick auf die Frage nach der Authentizität der Repräsentation entworfene indexikalische Konstruktion der Zeichen sowie die Problematisierung des Verhältnisses zwischen einer außer- und vormedialen Realität wie der medialen und nachmedialen Wirklichkeit wird auf der Ebene kultureller Wahrnehmung durch ein auf seiner Metaphorik beruhendes multiperspektivisches Kulturkonzept ersetzt. In ihm ist die mediatisierte Realität genauso real, wie Geschichte zur Gegenwart, das dort zum hier und nicht zuletzt das Fremde zum Eigenen werden. Fernsehen bleibt in seinen medialen und ökonomischen Eigenschaften und seiner Nutzung auch in China durchaus Fernsehen. Es bekommt in seiner eigenen Produktions- und Wahrnehmungssituation dort allerdings eine Bedeutung, welche letztendlich näher an traditionellen Diskursen orientiert ist und aus diesen heraus seine Raum-Zeitvorstellungen konzipiert sowie seine Verortung eher zwischen dem Globalen und dem Lokalen vornimmt, als sich den Transnationalisierungsprozessen eines vermeintlichen euroamerikanischen Neoimperialismus zu unterwerfen.

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VOM EIGENEN UND FREMDEN Kuang-ming Wu hat zudem in der Fortsetzung seiner Darlegungen zum chinesischen Denken und seiner – literarischen – Repräsentationen die Bedeutung der Metapher innerhalb der Kommunikationsprozesse von Kultur eindrücklich dargelegt. Sie ist für die mediale Wahrnehmung und kulturelle Verortung des Fernsehens in China grundlegend. Damit hat er einen maßgeblichen (sich in der chinesischen Wahrnehmung letztendlich aber auch wieder aufhebenden) Unterschied zwischen Fernsehen hier und Fernsehen dort herausgestellt und festgestellt, daß es letztendlich keine Differenz zwischen dem Denken, seiner Repräsentation und der Kultur gibt: Literalism is an operation of designating something as something else. Now what else is this designatory operation if not an ostensive definition, a pointing? It is a performance of standing here, as a reference point, to refer us to there. From »here« to »there«, that is the structure of referring-pointing, an operation of ferrying us over. And this ferrying-over is none other than what »metaphor« means.48 In dem hier geschilderten Kommunikationsprozeß vom hier zum dort drückt sich exakt das chinesische Kulturverständnis aus, welches sich entgegen der fixen Ausgangspunkte in Bhabhas Beschreibung postkolonialer Prozesse von Beginn an weder im hier noch im dort verortet, sondern im Moment und in der unaufhörlichen Bewegung zwischen diesen beiden Polen zu finden ist. Es findet sich im dao, das aus der Leere, dem wu, in die Ordnung, das li, und von dort wieder zurück in das wu fließt, um denselben Kreislauf unaufhörlich fortzusetzen. Dabei heben sich alle Gegensätze auf und werden zur Metapher, bei der sich innerhalb der ständigen Dynamik des kulturellen Prozesses auch die Parameter von Subjekt und seinem Stellvertreter, dem Ich und dem Du, dem hier 48 Kuang-ming Wu: ›Spatiotemporal Interpretation in Chinese Thinking‹. S. 33.

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ENTORTUNGEN und dem dort, dem jetzt und dem dann ineinander verschieben und sich ihre Differenzen am Ende gar auflösen. Es entsteht eine Identität der Kultur in Form der durchaus mathematisch zu sehenden Gleichung »x = y«, bei der sich, wie Wu weiter feststellt, die Einheit genauso im Gegensatz der Elemente definiert, wie auf der anderen Seite die Kontraste in der Einheit der Elemente zu finden sind. Um dieses metaphorische Verständnis von Identität, das vor allem auch als kulturelles Ordnungskonzept zu verstehen ist, zu belegen, ruft der renommierte Zhuangzi-Forscher mit dem SCHMETTERLINGSTRAUM eine der – selbst metaphorisch argumentierenden – Parabeln des daoistischen Philosophen Zhuangzi in Erinnerung:

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Einst träumte Zhuangzi, daß er ein Schmetterling sei, ein flatternder Schmetterling, der sich wohl und glücklich fühlte und nichts wußte von Zhuangzi. Plötzlich wachte er auf: da war er wieder wirklich und wahrhaftig Zhuangzi. Nun weiß ich nicht, ob Zhuangzi geträumt hat, daß er ein Schmetterling sei, oder ob der Schmetterling geträumt hat, daß er Zhuangzi sei, obwohl doch zwischen Zhuangzi und dem Schmetterling sicher ein Unterschied ist. So ist es mit der Wandlung der Dinge.49 In Zhuangzis Gleichnis zeigt sich die in China bereits vor zweieinhalb Jahrtausenden kulturell erfaßte Ungewißheit in aller scheinbaren Realität, mit dem Zweck, den Menschen in eine höhere, eine ewige Wirklichkeit zu heben, welche sich jenseits der definitorischen Differenzen bewegt und ihre Identität im ständigen Fluß der Dinge, eben jenem dao, findet, welches zugleich Kultur und gesellschaftliche Ordnung, aus Sicht der Elite also die Konsolidierung von Machtstrukturen, bedeutet. In Zhuangzis Metapher finden sich auf die eine oder andere Weise auch bereits die Träume wieder, welche die Menschen mit der Entwicklung der Medien und 49 Kuang-ming Wu: ›Spatiotemporal Interpretation in Chinese Thinking‹. S. 34ff. ›Der Schmetterlingstraum‹. In: Dschuang Dsi: D B B . Köln 1969, Buch II, 12, S. 52.

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VOM EIGENEN UND FREMDEN der Medienapparate verbunden haben und nach wie vor verbinden. Der den audio-visuellen technischen Medienapparaten eingegebene Anspruch auf Wahrheit und Authentizität, den sie im Hinblick auf ihre mimetischen Qualitäten niemals einzulösen imstande sein werden, erfüllt sich nämlich im Verständnis Zhuangzis allein auf ihrer metaphorischen Ebene der Wahrnehmung. Diese fragt nicht nach äußerer Wahrheit. Sie erfüllt statt dessen von vorne herein die Wahrheit und Authentizität der Wahrnehmung im Hinblick auf ihre Verortung innerhalb des kulturellen Zusammenhangs, in dessen Gegenwart und an dessen Ort sie jeweils stattfindet. Wenn man den Anspruch des Fernsehens auf eine Authentizität seiner Repräsentation, die möglichst an die Identität zwischen Abbild und abgebildeten Objekt, zwischen dem Signifikanten und seinem Signifikat heranreicht, als eine kulturelle Konstruktion relativiert und daneben auch andere Definitionen zuläßt, kann diese importierte Medienapparatur durchaus zu einem eigenen Medium chinesischer Kultur werden, ohne sich diese (ureuropäische) Frage nach dem Eigenen und dem Anderen überhaupt stellen zu müssen. Auf der Ebene einer (absolut nicht im aristotelischen Sinne zu begreifenden, sondern vielmehr durch ihre Symbolhaftigkeit geprägten) Metaphorik ihrer Einschreibungen und Äußerungen kann das Fernsehen sich in das dynamische und sich integrativ gegenüber dem Fremden öffnende Modell chinesischer Kultur und Ordnung einfügen. Es kann sich als Konstrukteur wie Reproduzent der alle Differenzen auflösenden bzw. in sich vereinigenden Metaphern betätigen. Letztere heben allesamt nicht in den Mythos ab, den zu konstruieren und zu kommunizieren das Fernsehen eigentlich angetreten ist. Vielmehr sind sie durchaus konkret und weisen unmittelbare Umweltbezüge auf. Damit würde sich das Fernsehen ungeachtet seines eigentlich fremden technischen, dispositiven und ökonomischen Charakters, seiner Zweidimensionalität, Zentralperspektivität und seiner spezifischen Nutzungsbedingungen innerhalb der auch in China längst in feste Raum- und Zeitabläufe sowie Ordnungsstrukturen der Moderne resp. Spät-

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ENTORTUNGEN moderne eingepaßten Gesellschaften dennoch in eine Reihe der Medien eigener kultureller Repräsentation stellen. Diese reichen, um nur die prägendsten zu erwähnen, von der besagten Schriftkultur mit ihren überwiegend lyrischen und auch in Prosa- wie sogar historiographischen Texten eher metaphorisch zu lesenden Zeichen über die Landschaftsmalerei mit ihrem lyrischen Diskurs über die Dinge bis hin zur Bühnenkunst und schließlich zum Schattenspiel, welches als – chinesischer – Vorläufer des Kinos schließlich zu dessen Referenzkunst erklärt wurde. Insbesondere die performativen Künste haben in ihrem Verzicht auf dramatische Bögen und eine Illusionierung des Geschehens zugunsten eines metaphorischen Umgangs mit einer etwaigen außermedialen Realität, die sich vor allem in die Imagination und schließlich in den Dialog zwischen Darsteller und Publikum verlagert, Vorgaben gemacht für eine mögliche chinesische Variante von Fernsehen. Deren Charakteristika beziehen sich weniger auf seine Technik und Dispositive, als vielmehr auf die Beziehung, den inneren Dialog zwischen Produzenten und Publikum, die hinter den Bildern und Tönen steht und auf einen gesamtkulturellen Zusammenhang (und eine hegemonial konstruierte Wahrheit) verweist. Während Immanuel Kant die Intuition als Grundlage der Zeit-Raum-Konzeptionen begreift und die Medien der Moderne diesem Verständnis ihre technischen »Realzeiten« und medialen »Realräume« entgegenhalten, um daraus jeweils ihre Ordnungsvorstellungen zu gewinnen, versteht sich demgegenüber ein vormodernes chinesisches Ordnungsmodell, das in vielfacher Weise aber auch in die Moderne übertragen worden ist, als metaphorische Raum-Zeit-Konzeption. Sie steht nicht auf der Abbildungs- sondern vielmehr auf der Wahrnehmungsebene immer in einem unmittelbaren Bezug zur (kulturellen) Realität, wenn das wen der Kultur mit dem shi der Geschichte in ihrer Metaphorisierung eine untrennbare − kulturelle − Einheit als wenshi zwischen der Geschichte und ihrer Repräsentation und Wahrnehmung genauso wie zwischen der Gegenwart und dem Ort der Wahrnehmung von Geschichte konstituieren, auch wenn diese nach unseren angenommenen »Realmaßstäben« Tausende Kilome-

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VOM EIGENEN UND FREMDEN ter und Jahrhunderte auseinanderliegen. Mehr als jedes andere bisherige Medium ist das Fernsehen angetreten, diesen Anspruch kraft seiner spezifischen medialen Eigenschaften zu erfüllen.

Wu Jie und das Modell der Systemdialektik Die unterschiedlichen Diskurse Chinas über seine Kultur zwischen Traditionalismus (Eigenem) und Moderne (dem angeeigneten Anderen) beruhen überwiegend auf den jeweiligen Übersetzungen, Interpretationen, Mediatisierungen und Rezeptionen, also den Imaginationen von Zeit und Raum, aus denen sich die unterschiedlichen Ordnungskonzeptionen in Kultur, Politik und Wirtschaft ergeben. Mit den Widersprüchen der Modelle des gegenwärtigen chinesischen Selbstverständnisses zwischen dem hier und dem dort sowie zwischen dem jetzt und dem dann hat sich aus der hegemonialen staatspolitischen Perspektive vor allem der Philosoph, Wirtschaftstheoretiker und Politiker Wu Jie auseinandergesetzt. Wu ist mit dem Ziel einer staatspolitischen Legitimation auf der Grundlage der oben ausgeführten differierenden Modelle eines vormodernen chinesischen und eines evolutionären europäischen Verständnisses im Hinblick auf seine systemtheoretischen Ordnungsstrukturen vor allem darum bemüht, eine Auflösung derselben zugunsten eines modernen hegemonialen chinesischen Ordnungskonzepts zu erreichen. Dieses soll den ökonomischen und sozialen Fortschritt mit der systemlegitimierenden und die nationale Gemeinschaft stärkenden Tradition in Einklang bringen. Der durchaus im traditionellen Sinne integrative Versuch der Harmonisierung der unterschiedlichen Parameter von Kultur, bei dem Einheit aus der Differenz und die Kontraste aus der Einheit der Elemente gewonnen werden, ist zugleich Grundlage von Wus systemdialektischem Modell und als solches Ausgangspunkt der postsozialistischen Staatspolitik und nicht zuletzt auch der hegemonialen Medien- und Fernsehtheorie und Praxis im China des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts. In Wahrheit bestätigt sich in seinen Ausfüh-

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ENTORTUNGEN rungen die dem vormodernen Modell letztendlich doch grundlegend zuwiderlaufende und machtpolitisch funktionalisierte Interpretation der Traditionen durch die dominanten Diskurse der Gegenwart. Sie berufen sich vor allem auf die sino-marxistische Version einer postsozialistischen Systemtheorie, lassen dabei aber – bewußt oder unbewußt – auch das vormoderne Verständnis von Kultur mit in ihre Modellbildung einfließen. Die tradierte chinesische Redensart »Der Bambus wächst im Herzen« ( Xiong you cheng zhu) läßt sich im vormodernen chinesischen Denken in gleicher Weise auf die angenommenen Produzenten wie auch auf die vorgestellten Rezipienten des Kulturprozesses beziehen, deren Differenz sich in der wechselseitigen metaphorischen Kommunikation aufhebt. Sie nimmt neben der äußeren Realität als Referenzmaterial vor allem auch die Vorstellungskraft des Künstlers als unabdingbare Voraussetzung für sein Werk an. Dabei agieren Phantasie und Imagination, aber auch die produktiv bedeutungsgebende Lesefähigkeit der kodierten Zeichen (und Metaphern) des Rezipienten als gleichwertige Größen bei der kulturellen Sinnkonstruktion. Beide sind, wie oben dargelegt, nicht als mimetische oder allegorische Abbildung von Realität, sondern vielmehr als deren Imagination und als Diskurs über dieselbe zu begreifen. Dabei stehen innerhalb des kulturellen Kreislaufs jeweils die Imagination des Künstlers wie auch des Rezipienten als innere Prozesse der kulturellen Bedeutungsproduktion vor deren Materialisierung und Mediatisierung. Sie werden schließlich, nachdem sie sich aus der jeweiligen Weltwahrnehmung ihrer Produzenten bzw. Rezipienten heraus gebildet und als Bedeutungen in deren Innenwelten eingefügt haben, als Zeichen und Metaphern wieder in die reale Welt expediert, um mit dieser eine neue Verbindung einzugehen. Damit setzen sie auch auf dieser Ebene einen Kreislauf in Bewegung, der sich als ständiger Prozeß mit ersterem verbindet bzw. mit diesem in einen unaufhörlichen Kommunikationsfluß und Austausch tritt. In diesem Kreislauf manifestieren sich die Grundprinzipien eines hegemonialen traditionellen bzw. traditionalisti-

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VOM EIGENEN UND FREMDEN schen gegenwärtigen chinesischen Weltverständnisses und kulturellen Ursprungsgedankens. Sie umfassen sowohl die, folgt man Terry Eagleton50, spirituelle wie auch die materielle Kultur, deren Kommunikation untereinander und gegenseitige Abhängigkeit demnach das Verständnis einer als universalistisch rekonstruierten Kultur als kollektive Identität Chinas in der Gegenwart bedingen. Dagegen haben die Einschreibungen der bipolar und linear angeordneten Kultur der industriellen Moderne, des Marxismus-Leninismus wie nicht zuletzt auch der transnationalen Medien- und Konsumkultur in das chinesische Selbstverständnis im 20. Jahrhundert dem Reich der Mitte in gewisser Weise erst die Bedingungen aufgezwungen, welche das metaphorische Verständnis durch die kolonialen und postkolonialen Ich-Du-Dichotomien, immer mehr aber auch durch multiple Diskurse ersetzt hat. Diese nehmen inzwischen ihre medial von außen oktroyierte Hybridität zusehends zur Kenntnis und gestalten diese zum Teil des eigenen Selbstverständnisses, welches mit Hilfe der industriellen Medien im selben Zuge auch erst den vermeintlichen Universalismus der als Eigen imaginierten Traditionen prägnant ins kollektive Bewußtsein gehoben hat. Dies hat insbesondere nach der sozialistischen Entideologisierung und dem Bedeutungszuwachs des nationalen Modells Chinas, mit dem das von Mao Zedong hinterlassene Wertevakuum aufgefüllt werden sollte, in den 1990er Jahren zu einer intensiven politischen und wissenschaftlichen Konfrontation mit den im 19. und 20. Jahrhundert überhaupt erstmals in dieser Vehemenz wahrgenommenen Konstruktionen des Eigenen und des Fremden geführt. Die Auseinandersetzungen, die inzwischen weder im traditionalistischen Sinne auf die Kenntnisnahme des Fremden verzichten noch sich im postkolonialen, marxistisch-maoistischen Verständnis auf die Oppositionen zwischen dem Ich und dem feudalistischen oder imperialistischen Anderen bzw. dem Klassenfeind reduzieren lassen, werden inzwischen auf zahlreichen Ebenen 50 Terry Eagleton: W

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ENTORTUNGEN zwischen dem Globalen und dem Lokalen, zwischen dem Universellen und dem Partikularen ausgetragen. Ihnen gegenüber hat sich das seit 1992 von der chinesischen Regierung forcierte nationale Projekt als Abwehrreaktion verfestigt. Der von der Zentralregierung propagierte chinesische Nationalismus wendet sich gegen die Dominanz der transnationalen Kulturindustrie, deren Kommunikationsmittel er selbst verwendet. Seine Vertreter haben aber auch die Partikularisierung Chinas in seine lokalen Bezugsräume und multiplen Diskurse als Gefahr erkannt. Indem sie die Macht und Autorität in Form der vereinten Parameter von Gesetzgebung, Jurisdiktion und Exekutive und nicht zuletzt auch die Herrschaft über die Medien und somit über die Kommunikation von Wissen und Bedeutung an sich gerissen haben, haben sie es erreicht, daß der Nationalismus innerhalb Chinas längst selbst den Status einer hegemonialen Konstruktion erlangt hat. Die damit verbundene Definitionsmacht über das Ordnungsverständnis und das Wissen in China sowie über dessen sozialen und kulturellen Raum hat die kommunistische Regierung zunächst vor allem über die Printmedien und den Kinofilm, später immer mehr auch über das Fernsehen und unter deren jeweiligen dispositiven Bedingungen ausgeübt. In diesem Sinne ist das gegenwärtige China in seiner historischen Anlage zwar nach wie vor in gewisser Weise als Widerstandsmodell zu begreifen. Allerdings hat es seine eigenen Widerstandsdiskurse hervorgebracht und dabei nicht zuletzt dieselben Medien der hegemonialen Diskurse verwendet, welche den sozialen und kulturellen Raum Chinas längst in eine Vielzahl von sich selbst bestimmenden (nicht ausschließlich geographisch und geopolitisch definierten) Räumen aufgelöst haben. Mit ihnen hat es sich, wie nicht zuletzt die paranoide Reaktion des offiziellen China auf die religiös motivierte Bewegung Falun Gong seit 1999 zeigt, als Gegner im Streit um die Macht über die Bedeutungen auseinanderzusetzen. Auf dieser Grundlage ist das existierende hegemoniale System Chinas um Aufrechterhaltung seiner – nationalen – Form von Ordnung bemüht, die sich also auch immer wieder

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VOM EIGENEN UND FREMDEN aufs Neue gegenüber den sie bedrängenden lokalen und globalen Diskursen zu legitimieren hat. Die hegemonialen Diskurse Chinas, auf denen auch die Theorie und Praxis des Regierungsfernsehens begründet ist, beziehen ihre Legitimation inzwischen vorwiegend aus der chinesischen Interpretation der Systemtheorie, welche in China bereits seit den 1980er Jahren rezipiert wird, aber erst von Wu Jie in den frühen neunziger Jahren unter dem Begriff der »Systemdialektik« ( Xitong bianzhenglun) für die Mediendiskurse zugänglich gemacht worden ist. Die »nationale« Legitimation von Wu Jies Systemdialektik rührt vor allem aus den Parametern der kulturellen Imagination und Konstitution her, die im Prozeß des Kommunikationskreislaufs aufeinandertreffen. Darunter verstehen sich in gleichem Maße sowohl das traditionalistische Verständnis einer in die mediale Gegenwart expedierten »fünftausendjährigen Kulturnation« ( Wuqian nian de wenhua minzu) wie auch das marxistische, dem traditionellen Selbstverständnis mit dem Entstehen der Kommunistischen Partei und den »Befreiungskriegen« einen weiteren Ursprungsmythos hinzufügende Konstrukt eines postkolonialen Nationalstaats. Nicht zuletzt zählt inzwischen auch die moderne, sich zusehends als »Global Player« positionierende Volkswirtschaft Chinas dazu.

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Die chinesische Systemdialektik hat sich als dominantes Modell eines hegemonialen postsozialistischen Selbstverständnisses in die politischen und philosophischen Diskurse eingeschrieben. Dabei hat sie aber den legitimatorischen Anspruch eines marxistischen Nationalstaats nicht aufgegeben. Sie hat den Mythos neben die Metapher, den Realismus gegen die Imagination und den Diskurs gestellt. Sie konstruiert das gegenwärtige Ordnungsmodell und die Wissenssysteme Chinas maßgeblich mit und prägt gleichzeitig die kulturelle und soziale Verortung der Medien, mit denen sie sich selbst kommuniziert. Dabei versucht sie alle scheinbar widersprüchlichen Konstrukte von Traditionalismus und Nationalismus, Marxismus und Inter-, bzw. Transnationalismus miteinander zu harmonisieren und daraus ein gegenwärtiges

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ENTORTUNGEN Ordnungsgefüge herzustellen, zu mediatisieren und zu kommunizieren. Sie begreift die Welt in ihrem Kulturverständnis, das zwar an strukturalistische Methoden angelehnt ist und sich auf diese beruft, tatsächlich aber vor allem das lyrisch-metaphorische Kulturverständnis, auf dem sich das Wir der chinesischen Nation errichtet hat, bemüht, als ein organisches Ganzes. Dieses setzt sich aus verschiedenen materiellen Elementen mit spezifischen Funktionen zusammen, um ein gemeinsames Ziel zu verfolgen, das in der Interpretation Wu Jies bis dahin weitgehend mit den Grundcharakteristika der unterschiedlichen Schulen einer westlichen Systemtheorie übereinstimmt.51 Die Systeme, welche die materielle Welt als fest definierbaren Komplex aus Prozessen beschreiben, die in der traditionellen Kunstvorstellung privilegierte Imagination innerhalb der Kommunikationsprozesse hingegen fast zur Gänze ausklammern und die – in der traditionellen Vorstellung so wichtige – Existenz des NichtMateriellen gar vehement negieren, stellen demnach eine universelle Verbindung zwischen der Natur, der Gesellschaft und dem Denken der Menschen her. Letzteres läßt sich allerdings in jedem Moment auf die Prozesse der materiellen Welt zurückbeziehen und steht in einem gegenseitig nachvollziehbaren, systematisch greifbaren und in Systemen erklärbaren Abhängigkeitsverhältnis zu diesen.52 In seinem Modell wendet Wu Jie das marxistische Prinzip einer materialistischen Philosophie auf die Gegenwart der technisierten chinesischen Gesellschaft an. Diese teilt er in sich gegenseitig bedingende Systeme unterschiedlicher Mikro- und Makrostrukturen ein, die ein gemeinsames Ziel haben, jeweils funktional auf dieses ausgerichtet sind und zu-

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(Systemdialektik). 51 Wu Jie : X Neuaufl., Peking 1997. Ders.: D X S (Deng Xiaoping Gedanken). Neuaufl., Peking 1997. Ders.: M (Das Systemdenken im Marxismus-Leninismus). Neuaufl., Peking 1997. Wu Jie hat sich zudem als Gründungsherausgeber der Zeitschrift »Xitong bianzheng lun« (Systemdialektik) hervorgetan. (Systemdialektik). S. 2. 52 Wu Jie: X ITONG BIANZHENG LUN ENG

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VOM EIGENEN UND FREMDEN dem in einem ständigen Kommunikationszusammenhang untereinander stehen. Indem er den Ausgangspunkt seiner kulturtheoretischen Betrachtungen auf die materielle Struktur der Dinge und ihrer Beziehungen zueinander legt, gelingt es ihm, sich auf europäische Denktraditionen, so insbesondere auf die Einordnung der Dichtkunst in das Spektrum der anderen, der mimetischen Künste in der Poetik des Aristoteles, zu berufen.53 Im selben Zuge führt er aber auch den in China bis dahin gänzlich unbekannten Katharsis-Begriff einer Läuterung des Zuschauers durch die Tragödie ins Feld. Wu Jie meint zudem auch in der chinesischen Tradition, sowohl in dem oben zitierten Buch GUANZI (Meister Guan)54 und im Buch SUNZI BINGFA (Kriegskunst des Meisters Sun)55 aus dem 5. Jahrhundert v.Chr., wie auch im (Buch der Lieder)56 und vor allem dem HUANGDI SHIJING NEIJING (Medizinischer Kanon des Gelben Kaisers)57 aus der Zeit der Streitenden Reiche (475 − 221 v.Chr.) den Gedanken einer systematischen Ordnung der materiellen Dinge und eine organische Verbindung derselben untereinander zu erkennen. Insbesondere in letzterem werden, so Wu, bereits der menschliche Körper in seine anatomischen Einzelteile zerlegt und diese wiederum mit den kosmischen (und gesellschaftlichen) Elementen zu einem Metasystem verbunden, innerhalb dessen alle Elemente in einem Kommunikationszusammenhang stehen. Wu Jie erkennt in dem

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Bereits in dieser Konstruktion von Parallelen, die vor allem als wissenschaftshistorische Legitimierung und Versuch der 58 S

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limn(.1. ›Qi yue‹ (). 227

VOM EIGENEN UND FREMDEN theoretischen Vereinnahmung des systemtheoretischen Denkens in die chinesischen Diskurse gedacht ist, werden die Differenzen deutlich. Sie zeichnet Wu Jie – scheinbar ohne eigene Kenntnisnahme – zwischen dem europäischen und dem chinesischen Ordnungsmodell auf, um darüber zugleich (ungewollt wie scheinbar auch unbemerkt) den Universalismus der Systemtheorie als »Supertheorie« in Frage zu stellen. Die Differenzen, welche das systemtheoretische Denken in China letztlich ungeachtet der ausgiebigen Bemühungen Wu Jies um eine vormoderne kulturelle Vereinnahmung und Herstellung von kultureller Kontinuität offenbart, begründen sich, bezogen auf ihre Ursprünge, vor allem auf der Problematik des ausschließlich rationalistisch organisierten téchnai-Verständnisses, welches einem jeden systemtheoretischen Denken zugrunde liegt. Während dieses zudem auch allen Konstruktionen von Systemstrukturen und deren Kommunikationsprozessen voransteht, ist es dem in den vergangenen zwei Jahrtausenden dominanten chinesischen Kulturverständnis genauso fremd wie die aus ihm hervorgehende Frage nach der Identität und Differenz der Elemente, welche wiederum unabdingbare Voraussetzung für die Konstruktion von Systemen ist. Dies offenbart sich besonders deutlich in Wu Jies Konzept von Raum und Zeit ( Shi kong guan), welches maßgeblichen Einfluß auf die chinesische Fernsehtheorie seit Mitte der neunziger Jahre genommen hat und zugleich Grundlage wie Repräsentantin für ein gegenwärtiges hegemoniales Ordnungsmodell in China ist. Es spielt vor allem den ökonomischen Entwicklungen und den politischen Herrschaftsansprüchen seiner Konstrukteure in die Hände, übersieht dabei aber an seinem Betrachtungsgegenstand das prägende Element in der Kommunikation des kulturellen Selbstverständnisses, die Metapher, die Wu in seinen Darlegungen paradoxerweise selbst benutzt.59 Auf der Grundlage der marxistischen Annahme einer ausschließlich materiellen Beschaffenheit aller Dinge, welche erst die geistigen Prozesse

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59 Wu Jie: X

ITONG BIANZHENG LUN

(Systemdialektik). S. 61 – 73.

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ENTORTUNGEN steuere, geht Wu von einer festen kausalen Beziehung zwischen Zeit und Raum auf der einen und dem wahrnehmenden Bewußtsein und der Kultur auf der anderen Seite aus. Eine umgekehrte Kausalität, eine Abhängigkeit der jeweiligen Raum-Zeit-Konstellationen von ihrer Wahrnehmung und den sozialen und kulturellen Prozessen, läßt er in seinem Modell dagegen nicht gelten. Statt dessen ist seine ausschließlich materielle Raum-Zeit-Konzeption, für deren Begründung er bis hin zu Albert Einsteins Relativitätstheorie ausholt, letztendlich als Versuch einer Verobjektivierung und also Verabsolutierung des gegenwärtigen chinesischen Ordnungskonzeptes wie auch seiner eigenen Theorie zu begreifen. Er geht von einer doppelten Beziehung dieser Parameter aus: Zum einen beschreiben die »synchronischen Beziehungen« zwischen Raum und Zeit die materiellen Raumbezüge innerhalb einer festgelegten Zeitperiode, aus denen sich Systeme bilden, und zum anderen beschreiben die »diachronischen Beziehungen« die Zeitbeziehungen aller Systeme innerhalb eines fixierten Raums, aus denen sich die Prozesse ergeben, welche Voraussetzung für die Dynamik der Systeme bei ihrer ständigen Rekonstruktion von Ordnung sind. Von der tatsächlichen kulturellen, sozialen und ideologischen Konstruktion dieser Systeme und von deren Beziehungen untereinander sowie deren Abhängigkeit von der jeweiligen Wahrnehmung von Raum und Zeit, welche anstelle einer – hier als ausschließlichen Untersuchungsgegenstand herangezogenen – materiellen Welt die Imagination und die Metapher wie die Medien von deren Vermittlung an die Seite stellen würde, nimmt Wu indes keine Notiz. So übersieht er auch die ideologisch-kulturelle Prägung und somit Konstruiertheit seiner eigenen Beweisführung und führt zudem ausgerechnet die tatsächlich überwiegend kulturell geprägten Zeitmaße und Raumeinheiten als Beleg für die materielle Natur dieser Parameter an. Wu Jie konstruiert in seiner Systemdialektik ein (maßgeblich auf der Raum-Zeit-Konzeption basierendes) chinesisches Ordnungsmodell. Dieses liegt auch der hegemonialen kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Verortung der Me-

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VOM EIGENEN UND FREMDEN dien in China zugrunde. Während sich allerdings die europäisch geprägte Systemtheorie vor allem mit dem Problem beschäftigt, wie sich aus der organischen Welt Elemente ausdifferenzieren und auf der Basis ihrer aus der Differenz gewonnenen Identität als unverwechselbare Einzelne in weitreichenden Kommunikationsprozessen zu Systemen verbinden, geht das selbst universell strukturierte vormoderne chinesische Selbstverständnis, auf das sich Wu zu gleichen Teilen beruft, tatsächlich von einem quasi kosmischen, dabei metaphorisch zu verstehenden Gesamtsystem aus, an dessen nostalgisch verklärter, essentialisierender Rekonstruktion er nicht zuletzt selbst Anteil hat. Dessen einzelne Elemente kennen keine Differenz, ermangeln damit der Fähigkeit der Selbstbetrachtung und können also auch kein inhärentes System bilden. Überträgt man das ursprünglich vor allem aus den (in China bis dahin ebenfalls nach anderen als den téchnai-Strukturen ausgerichteten) technisch-naturwissenschaftlich orientierten Diskursen hervorgegangene Systemdenken auf gesellschaftliche Strukturen, so heben sich auch die sich in Handlungen manifestierenden Kommunikationsprozesse aus Information, Mitteilen und Verstehen für den chinesischen Kontext zunächst einmal auf. An ihrer Stelle beruft sich Wus Modell – mehr oder weniger unbewußt – nach wie vor auf einen geschlossenen Kreislauf ohne jegliche Differenzen und also auch Identitäten, dessen Kommunikationsstrukturen nicht interaktiv zwischen Elementen ablaufen. Vielmehr sind sie intraaktiv, also nach innen orientiert. Innerhalb des chinesischen Tianxia-Verständnisses, das sie nicht wirklich zu überschreiten vermögen, finden sie auch keine Grenzen vor, die eine Interaktion, wie sie zwischen sich differenzierenden Systemen unabdingbar ist, ermöglichen und notwendig machen würden. Der vielfach so benannte – in den europäischen Diskursen häufig selbst zum Mythos des Anderen stilisierte – Universalismus des chinesischen Kulturverständnisses schließt die Wahrnehmung eines kulturell Anderen und damit auch der Identität der eigenen Kultur von vorne herein aus. Dies entzieht nicht zuletzt auch einer interkulturellen oder intersystemischen Kommunikation jegliche Basis. Die Aufhebung der für

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ENTORTUNGEN die Konstruktion von Identität notwendigen Differenz schließt aber auch jene Fähigkeit der Beobachtung der – anderen – Systeme und Systemelemente aus, welche in der europäischen Systemtheorie Grundlage für deren Unterscheidung und semantische Bezeichnung ist. Aus ihr heraus vermögen sich Systeme erst zu formieren und mit ihrer Umwelt zu kommunizieren. Dies läßt sich anhand von Wu Jies Modell der Kategorien von Systemelementen sowie ihrer Kommunikationsprozesse untereinander darstellen. 60 Darin geht er von einer systematischen Welt aus den Elementen Materie, Energie und Information (oberster Kasten) aus, die sich in systemischen Prozessen jeweils in die Elemente Natur, Gesellschaft und Denken (unterster Kasten) auflöst, von dort ihren Weg aber auch immer wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurückfindet. Damit ist das Grundkonzept von Wu Jies Modell auf den ersten Blick vom vormodernen chinesischen Kulturverständnis des wu (Leere), das über das dao (Weg) in das li (Ordnung) fließt, um von dort den Weg (dao) zurück in das wu zu finden, nicht so weit entfernt. Der Unterschied zwischen diesem Modell und dem zyklischen vormodernen Ordnungsverständnis, das sich der starren Modellhaftigkeit ja eigentlich entzieht, entfaltet sich dagegen in der materiellen Grundlage aller Kommunikationsprozesse innerhalb des Systemmodells. Er besteht zudem in seinen inhärenten Kategorisierungen, welche zwar selbst universalistischen Anspruch erheben und damit die Differenz nach außen und den eigenen Relativismus praktisch negieren, dabei jeweils aber inhärent eine Differenz der Elemente voraussetzen. So konstruiert Wu Jie innerhalb der Rahmen seines Kreislaufs eine Existenz der (materiellen) Dinge, die sich prozeßhaft in Raum und Zeit bewegen (2. Kasten), um dabei ein Gesetz der Synergie der Differenzen als (dialektische) Einheit der Gegensätze in Ganzheit, Struktur und Hierarchien zu generieren, innerhalb dessen die Negationen negiert und Quantität in Qualität sowie Qualität in Quantität umgewandelt werden (3. Kasten). 60 Wu Jies Modell der Elemente und Kategorien der Systemdialektik. L (Systemdialektik). S. 71. Wu Jie: X ITONG BIANZHENG

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VOM EIGENEN UND FREMDEN Aus diesem Prozeß ergeben sich gleichberechtigt die – von Wu Jie jeweils in weitere Unterkategorien ausdifferenzierten – Kategorien des Seins, der Entwicklung, der Prozesse, der Gesellschaft und der Erkenntnis (4. Kasten), aus denen sich die am unteren Ende des Schaubildes stehende Kategorie der Gesellschaft konstituiert und in die Natur und das Denken expediert, um von dort den Kreislauf zur zuoberst stehenden materiellen Welt aus Materie, Energie und Information zu schließen. Die in diesem Modell evident werdende intraaktive Form des chinesischen Kommunikations- und Kulturverständnisses schließt einige der maßgeblichen Grundlagen für ein funktionierendes systemtheoretisches Modell im Verständnis der westlichen Systemtheoretiker von vorne herein aus. Daran vermögen auch Wu Jies Versuche der Anpassung seiner Überlegungen an die Normativität des europäischen Systemdenkens nichts zu ändern. So lassen sich einige der wesentlichen Elemente des frühen chinesischen Kulturverständnisses, die Wu Jie zitiert, allenfalls durch Inkaufnahme ihrer Reduktion auf ihre materialistischen Aspekte, welche die eigentlich evidenten Kommunikationszusammenhänge ignorieren, und selbst dann nur unter erheblichen Vorbehalten systemtheoretisch erklären. Weder verstand sich der menschliche Körper, wie er im HUANGDI NEIJING als sich immer auf eine auch kulturelle Ordnung beziehend beschrieben wird, als bloße Summe seiner miteinander kommunizierenden organischen Systeme, noch lassen sich die in dem in der frühen Westlichen ZhouDynastie (11. J.h. v.Chr. – 771 v.Chr.) zusammengetragenen Buch YIJING (Buch der Wandlungen)61 zum Tragen kommenden fünf Grundelemente von Erde, Holz, Metall, Feuer und Wasser tatsächlich als ein organisches Ganzes begreifen, das sich auf der Grundlage der materiellen Beschaffenheit seiner Elemente durch deren Ausdifferenzierung zu einem System miteinander kommunizierender Elemente zusammenfügen ließe. Vielmehr sind die Grundelemente vor allem metaphorisch zu begreifen. Sie stehen jenseits ihrer Materiali-

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61 Vgl. die Übersetzung von Richard Wilhelm: I G W . (Neuausg.) Düsseldorf 1960.

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ENTORTUNGEN tät selbst als Medien für die Kultur, die sich in ihnen auf vielfältige Weise verkörpert und aus ihnen herauslesen läßt.

Abb. 15 Das systemdialektische Modell Wu Jies Noch weniger läßt sich das aus den Beobachtungen des chilenischen Biologen und Neurophysiologen Humberto R. Maturana62 von Zellen als lebendigen, sich fortdauernd selbst bildenden Systemen für das systemtheoretische Selbstver-

62 Humberto R. Maturana: ERKENNEN. DIE ORGANISATION UND VERKÖRPERUNG VON WIRKLICHKEIT. AUSGEWÄHLTE ARBEITEN ZUR BIOLOGISCHEN EPISTEMOLOGIE. Wiesbaden 1985.

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VOM EIGENEN UND FREMDEN ständnis fruchtbar gemachte Modell autopoietischer Systeme auf den Kontext eines traditionellen chinesischen Natur- und Kulturverständnisses übertragen. Denn dieses setzt, mehr noch als alle anderen Parameter der Systemtheorie, eine bis auf die Ebene des Individuellen herabreichende Bildung von Differenz voraus. Es erfordert zudem eine – damit einhergehende – weitgehende, wenn auch nicht undurchlässige, funktionale und strukturelle Abgeschlossenheit und scharfe Identität als Abgrenzung gegenüber dem als solches wahrgenommenen Anderen. Die Systemtheorie hat in ihren textund schließlich auch medienwissenschaftlichen Ausprägungen aus dem Modell der Autopoiesis vor allem die sie bis in die Gegenwart tragende Erkenntnis gewonnen, daß sich eine äußere Wirklichkeit und also auch kulturelle Texte durchaus empirisch erfassen ließen. Dagegen fehlt innerhalb der prägenden vormodernen Diskurse Chinas – wiederum – das Element der Differenz, welches sowohl einer Unterscheidung zwischen »harten« und »weichen« Wissenschaften wie auch einer Greifbarmachung des Einzelnen vorausginge, aus dem sich die Systeme erst formen könnten. Zwar scheint der konsequent fortgeführte autopoietische Gedanke eines ganzheitlichen Metasystems natürlicher und kultureller Elemente und Prozesse auf den ersten Blick durchaus gar nicht so weit von dem universalistischen chinesischen Gedanken eines makrokosmischen Systems entfernt zu liegen. Die prägende Kluft zwischen beiden besteht aber gerade in dem evolutionären, aus der kommunizierenden Differenz gewonnenen Zusammenhang, welchen die Systemtheorie in dieses Metasystem hineinlegt. Demgegenüber schließt sich ein solcher in dem zyklischen, nicht inter- sondern intraaktiv organisierten Verständnis, das in seiner Metaphorik selbst gar keinen Anspruch auf einen Modellcharakter erhebt, von vorne herein aus. Wu Jie hat es sich in seinen systemtheoretischen Schriften zur Aufgabe gemacht, die gesellschaftlichen und kulturellen Widersprüche des »postsozialistischen« Chinas und seines Ordnungsverständnisses aufzulösen. Sie bestehen zwischen der Konstitution und Legitimation gegenwärtiger chinesischer Gesellschaft und Kultur sowie ihrer Ordnungs-

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ENTORTUNGEN diskurse und Kommunikationsstrukturen und den die Apparate und Dispositive vorgebenden transnationalen Strukturen, innerhalb derer sich auch jeder einzelne chinesische Kulturpartizipient zu verorten hat. Allerdings hat er, indem er zwar Phänomene der unterschiedlichen Gesellschaften miteinander vergleicht, deren Grundstrukturen und vor allem Grundgedanken aber außer Betracht läßt, gerade dieses Ziel verfehlt und sich selbst in den Kreislauf indifferenter Differenzierung begeben, den er eigentlich untersuchen wollte. Wu Jies Arbeit hat gerade in Hinsicht ihrer absichtsvollen Reduktion von Kultur und Geschichte auf einige wenige Parameter ihrer Materialität ihre Bedeutung für die gegenwärtigen hegemonialen Diskurse von Politik, Ökonomie, Gesellschaft sowie der Kultur und ihrer Medien in China erlangt und in diesem Sinne auch die Medientheorie und -praxis maßgeblich geprägt. Für den Kontext der Betrachtungen dieser Arbeit sind weniger die historisch-empirischen Übereinstimmungen und Differenzen zwischen den unterschiedlichen Modellen von Kultur von Bedeutung. Auch sollen nicht die tradierten Dichotomisierungen zwischen dem vermeintlichen Eigenen und dem Anderen oder die Mythen eines chinesischen Universalismus rekonstruiert und selbst zur Grundlage der hier angestellten Betrachtungen werden. Vielmehr stehen die gegenwärtigen Diskurse des chinesischen Selbstverständnisses im Vordergrund der Betrachtung. Diese konstituieren sich zwar maßgeblich aus dem Blick auf die – reale oder imaginierte – Vergangenheit des Eigenen und der (Nicht-)Wahrnehmung des Fremden. Sie haben aber auch zahlreiche andere Diskurse angeeignet und diese zu einem staatsdominanten Modell chinesischer Kultur und Kommunikation geformt. Bereits auf dieser Ebene hat sich eine ausgeprägte Ausdifferenzierung des Kulturverständnisses in die chinesischen Diskurse eingeschlichen. Diese erhält Wu zwar im Hinblick auf die Verortung des Eigenen gegenüber seinem Anderen aufrecht. Er setzt sie aber im Hinblick auf die inhärente Legitimation der eigenen Ordnungsstrukturen genauso konsequent auch wieder außer Kraft.

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VOM EIGENEN UND FREMDEN Die sinifizierte Interpretation einer Systemdialektik durch den chinesischen Wirtschaftstheoretiker und Philosophen rekurriert sowohl auf konfuzianische Strukturen wie auch auf einen ökonomischen Marxismus und nicht zuletzt auf die marktwirtschaftlich-liberalen Strukturen einer transnationalen Weltökonomie, ohne darin irgendwelche Widersprüche zu vermuten. Auf dieser Ebene der Nicht-Ausdifferenzierung und der Essentialisierung einer chinesischen Makrokultur liest sich seine Variante eines auf den Grundlagen verschiedenster Elemente des vermeintlich Eigenen und Fremden basierenden Ordnungsverständnisses als scheinbar hybrides Kulturmodell. Dieses ist aber, wenn es unter Verzicht auf jegliche Ausdifferenzierungen seiner Ursprünge seine Differenzen als neuerliche Imaginationen konstruiert und kommuniziert, in sich weitgehend konsistent. In dieser Form repräsentiert es auf eine – angesichts seiner mannigfachen Bezugsquellen – über die Maßen monosemische Weise die dominanten Diskurse der chinesischen Kultur und Politik; und das mit weitreichenden Auswirkungen auf die Aneignung und Gestaltung der technischen Medien und vor allem des Fernsehens. Das Fernsehen ist als privilegiertes Medium der hegemonialen Staatskultur und als Leitmedium öffentlicher Diskurse in China in mehrfacher Hinsicht zu einem Teil und Motor des systemischen Kulturverständnisses im postsozialistischen Reich der Mitte geworden. Dabei kommt es zu einem Prozeß der technischen Vereinnahmung der eigentlich fremden Medienmaschinen. Sie etablieren auf der Grundlage sowohl ihrer Apparativität wie auch der gesellschaftlichen Ordnungsstrukturen, auf die sie stoßen, eine unverwechselbare staatsdominante Fernsehkultur. Darüber hinaus hat sich die politisch-kulturelle Aneignung des Fernsehens in dessen chinesische Programmstrukturen und Programminhalte eingeschrieben. Diese folgen vor allem den dominanten Diskursen und werden in dieser Hinsicht unter Verwendung der fremden Programmodelle in China nur marginal an dessen spezifische Bedingungen angepaßt. Sie imaginieren und kommunizieren unter einer weitgehenden Mißachtung der tatsächli-

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ENTORTUNGEN chen kulturell-medialen Differenzen nationale Ausdifferenzierungen, durch die China sich als Nationalstaat definiert und legitimiert. Schließlich generieren dieselben Dispositionen und Programme des Fernsehens, die ihren Einsatz als Kommunikationsinstrumente von nationaler Bedeutung haben, dabei aber nicht zuletzt auch selbst in ihrer Apparativität eigene Bedeutungen konstituieren, im Rezeptionsprozeß durch chinesische Publika auch ihre Gegendiskurse. Diese sind zwangsläufig in die Medialität des Fernsehens eingeschrieben und bedingen somit nicht nur die Konstruktion von Ordnung sondern im selben Zuge auch deren Destruktion und Rekonstruktion unter immer neuen Bedingungen. Auf dieser Ebene werden sie zu einem Element ureigenster chinesischer Diskurse und erschaffen diese immer wieder neu. Letzteren Aspekt, der eigentlich unter den kulturellen Bedingungen Chinas unabdingbare Voraussetzung eines jeden Systemdenkens wäre, ignoriert Wu Jie allerdings in seinem systemdialektischen Ordnungsmodell. Er füllt dieses statt dessen mit der überwiegend monosemischen Bedeutung seiner Traditionalismus–(Inter-)Nationalismus–Marxismus–Ökonomismus-Variante auf und erstickt dabei alle Widersprüche zwischen diesen unterschiedlichen Modellen bereits im Keim. Auch konstruiert er erst in der imaginierten und in ihrer Mediatisierung und Kommunikation zugleich materialisierten und zur – wahrgenommenen – Realität gewordenen Bedeutung die hegemoniale Gegenwartskultur Chinas. Indem Wu die ›eigene‹ geistesgeschichtliche Tradition in dieser Hinsicht konsequent im Hinblick auf ihre Systemmaterialität verfolgt und zudem eine parallele Entwicklungskette auch in der europäischen Tradition von Aristoteles Poetik über Darwins Evolutionstheorie, Kants Transzendentalphilosophie und Hegels Dialektik des »absoluten Geistes« bis hin zum frühen Marxismus nachvollzieht, gelingt es ihm, eine Legitimationskette für seine marxistisch-sinifizierte Interpretation der Systemtheorie zu konstruieren. Unter einem auf jegliche Ausdifferenzierung verzichtenden Rückgriff sowohl auf den Gebrauch des Systembegriffs bei Marx/Engels wie auch auf das Systemverständnis des makrokosmischen Universalismus in der frühen chinesischen

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VOM EIGENEN UND FREMDEN Philosophie und in den Gedanken der hierarchischen sozialen Beziehungen im Konfuzianismus geht Wu allerdings über die bloße Beschreibung der materiellen Welt hinaus. Ihn interessiert das Verhältnis zwischen natürlichen und materiellen Phänomenen und solchen sozialer Gemeinschaften, die schließlich in ihrer Mediatisierung durch das Fernsehen ebenfalls materialisiert werden. Er erschafft und legitimiert unter dem Begriff der Systemdialektik das Modell einer spätresp. postsozialistischen chinesischen Gesellschaft und Kultur, innerhalb derer sich auch die Medien materiell zu verorten haben. Sein Systemverständnis beruft sich – ohne dabei offensichtliche Widersprüche zu erzeugen – sowohl auf die eigene Tradition wie auch auf den Marxismus, mit dem sich das politische System Chinas nach wie vor legitimiert. Diesen befreit er allerdings von seiner in China teilweise nach wie vor gültigen textlichen Autorität und positioniert ihn statt dessen in dem Raum- und Zeitkontext seiner Anwendung. Damit rückt er die in der Systemdialektik angenommene Abhängigkeit des Denkens von den materiellen Bedingungen der äußeren Welt im Sinne der am Reißbrett erdachten Theorie an die Stelle der von Mao Zedong avisierten Konstruktion der äußeren Welt. Darüber hinaus begreift Wu Jie die Welt als komplexes Metasystem, das auf miteinander verbundenen mikro- und makrokosmischen Systemen beruht und dabei materiell aber dennoch dynamisch ist. Auf dieser Grundlage, die nicht die Autopoiesis sondern vielmehr die Verbindungen der Systeme und Systemelemente untereinander in den Vordergrund rückt, konstruiert er eine untrennbare Verknüpfung zwischen der materiellen Welt und deren Kommunikation. Diese schließt gleichzeitig die kybernetischen Beziehungen zwischen der anorganischen und der organischen Welt, der Technik und dem Menschen ein. Den Menschen berücksichtigt Wu Jie in seinem marxistisch wie gleichermaßen traditionell chinesisch geprägten Systemverständnis bezeichnenderweise nicht in seiner individuellen Beziehung und Ausprägung, sondern ausschließlich als Teil der Gesellschaft.63 Insbesondere die Informationstechnologie

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ENTORTUNGEN und die technischen Kommunikationsstrukturen, die sich innerhalb der materiellen Welt aus ihr ergeben, stellen, wie Wu weiter ausführt, neue Bezüge der Systeme und Elemente zueinander her. Diese überwinden sowohl das hier als homogen und feudalistisch-theistisch konstatierte Modell des vormodernen China wie auch das bipolare Muster der marxistischen Dialektik, welches Maos Klassenkampf und seine auf diesem errichtete Kulturpolitik als Widerstreit fixer Systemparameter noch bis in die 1970er Jahre beherrscht hatte. An ihre Stelle sieht er sein Verständnis der Systemdialektik getreten, das multipolar und dynamisch, in Form von Prozessen, angeordnet ist. Dabei konstituiert es auf der Basis der Dialektik in der Beziehung der Systeme und Elemente zueinander diese immer wieder aufs Neue, um somit den immer rascher fortschreitenden und ihre Verknüpfungen immer breiter streuenden Prozessen der materiellen Welt gerecht werden zu können.64 So gelingt es Wu, unter dem Begriff der Systemdialektik eine Einheit des chinesischen Selbstverständnisses zu konzipieren, welche den auf die Imagination und Kommunikation von historischen Mythen angewiesenen Nationalgedanken mit den Herleitungen und Konzeptionen der europäischen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte von Aristoteles über Diderot, Kant und Hegel bis zur sozialwissenschaftlichen Systemtheorie Talcott Parsons65 und nicht zuletzt dem Dialektikgedanken des Marxismus verbindet. Das in der Prozeßhaftigkeit dieser Entwicklungen zum Ausdruck gebrachte evolutionistische Modell indes führt er auf ein zyklisches Bewußtsein zurück, um alle darin vorkommenden Ordnungssysteme zu einem neuen Universalismus von Natur, Technik, Gesellschaft und Denken zusammenzuführen. Dieser Universalismus löst am Ende alle inhärent gezogenen Grenzen zwischen den Systemen und ihren Elementen wieder auf und scheint dabei einem von ihm im selben Zuge als identitätsstiftende (Systemdialektik). S. 28. 63 Wu Jie: X 64 Ebd. S. 31f. G 65 Vgl. Talcott Parsons: D S München 2000. ITONG BIANZHENG LUN

AS

YSTEM MODERNER

239

. (Neuaufl.)

ESELLSCHAFTEN

VOM EIGENEN UND FREMDEN Imagination rekonstruierten vormodernen chinesischen Universalismus auf den ersten Blick zum Verwechseln ähnlich zu sein. Allerdings ist die Welt dabei tatsächlich in allen ihren Prozessen unmerklich aus den spirituellen Elementen und der Metaphorik ihres Kulturverständnisses herausgelöst und in eine ausschließlich materielle Gegenwart expediert worden. Zwar läßt sich unter dem Banner der Systemdialektik eine Annäherung des marxistischen Materialismus an die inzwischen auch in China dominante Konsumindustrie imaginieren, um das postsozialistische Ordnungssystem zu legitimieren. Auch werden die dominanten Kommunikationsmuster von Bedeutung in ihrem kybernetischen Sinne als Systeme der Reizübertragung innerhalb der Technik-Mensch-Beziehungen transparent. Allerdings reduziert sich in den Ausführungen Wu Jies über die materielle Welt und die Mediatisierungen von Kultur durch die Informationstechnologie das chinesische Kulturverständnis auf seine systemisch greifbaren materiellen Elemente. Damit werden alle diejenigen Prozesse von vorne herein ausgeschlossen, die keine unmittelbaren Bezüge zu der von ihm als objektiv bezeichneten Realität aufzuweisen haben. 66 Dazu gehören nicht zuletzt auch die im vormodernen chinesischen Selbstverständnis bedeutsamen Kommunikationsstrukturen, die maßgeblich zur Konstitution von Ordnung beigetragen haben. Sie verstehen den Prozeß des dao (Weg), welches das wu (Leere) in li (Ordnung) expediert, um von dort wieder in die Leere zu gleiten, nicht ausschließlich als einen solchen der Kybernetik, der linearen Übertragung von Reizen, bei welchen nach mehr oder weniger fixen semantischen Regeln Bedeutung in Kodierungen und diese – mimetisch oder allegorisch – wieder in Bedeutung übertragen werden. Vielmehr steht im chinesischen Kommunikationsmodell vor allem die Performanz der Kommunikation, also auch hier wieder die Metapher im Vordergrund. Dies verdeutlicht bereits die etymologische Herkunft des am Anfang des kulturellen Zyklus stehenden Zeichens wu , das – wie oben dar-

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66 Wu Jie: X

ITONG BIANZHENG LUN

(Systemdialektik). S. 27f.

240

ENTORTUNGEN gelegt – ja ursprünglich den gestischen Ausdruck des Tänzers bezeichnete, bevor es seine prägende kulturelle und handlungs- oder vielmehr seine nicht-handlungsorientierte (wuwei ) Bedeutung innerhalb des daoistischen Gesellschaftsmodells zugewiesen bekam.67 So gewinnt auch der – im Kommunikationsverständnis der Systemdialektik als aktiver Teilnehmer von den Prozessen gänzlich ausgeschlossene – Rezipient an kulturell konstruktiver Bedeutung. Die Kommunikationsprozesse verlagern sich auf die Ebene des wechselseitigen Dialogs zwischen dem Tänzer und dem Zuschauer. Bei diesem ist weder die Zuordnung zu einem historisch differenzierenden System noch auch nur die in der westlichen Semiotik privilegierte Indexikalität, also eine nicht metaphorische sondern vielmehr mimetische bzw. allegorische Bezugnahme auf eine – materielle – außermediale und außerimaginäre Welt von Bedeutung. Diese würde die Systemdialektik letztendlich doch wieder in eine überwiegend europäische Kultur- und Wissenschaftstradition verweisen. In diesem Sinne hebt sich auch die für Wu Jie evidente Differenz zwischen der materiellen, also der nichtfiktionalen und der in der Kunst, aber auch in den revolutionären, nationalen und konsumindustriellen Mythisierungen zum Tragen kommenden fiktionalen Welt am Ende auf. An ihre Stelle tritt eine lyrisch-diskursive und dabei auf der imaginativen Ebene stets interaktive Beziehung zwischen den Parametern des jeweiligen Kommunikationskreislaufs. Sie verweist auf ihre eigene, metaphorische Weise aber auch immer unmittelbar auf die äußere Welt und muß also gerade keine Mythen herausbilden, wie sie für das Funktionieren von Marxismus und Globalismus evident sind. K. Ludwig Pfeiffers Beschreibung des Verhältnisses zwischen den Produzenten, den Medien und den Rezipienten kultureller Kommunikationsprozesse in Japan läßt sich demnach durchaus auch auf die Bedingungen Chinas anwenden:

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67 Vgl. den entsprechenden Eintrag in dem im Jahre 121 dem Han(Aufklärung Thron vorgelegten Wörterbuch S über die Schriftzeichen), S. 267 der Ausgabe Peking 1963. HUOWEN JIEZI

241

U&VW

VOM EIGENEN UND FREMDEN Aber diese Künste werden durch unterschiedliche, hoch spezialisierte und überwiegend performative Fähigkeiten definiert, die starke und zugleich dem definitorischen Zugriff sich entziehende Impressionen produzieren. Die Künste stehen techne und ars nahe, also Techniken, Geschicklichkeiten (skills), Verfahren; weniger erheblich ist die Frage, ob sie fiktionalen oder nichtfiktionalen Bereichen zuzuschlagen sind. Ästhetische Eindrucksqualitäten werden subtil auseinandergehalten. Ihre Hervorbringung hängt an medialen Präferenzen; einem historisch differenzierten System fügt sich das alles nicht.68 Im Mittelpunkt dieser Definition des kulturellen Systems Japans (bzw. Chinas), von dem Pfeiffer zu Recht »die Unangemessenheit, den komplexen Zusammenhang, der hier abkürzend Japan genannt wird, als kulturelles System zu rekonstruieren oder in ihm Künste als einzelne Systeme zu unterscheiden«69 konstatiert, steht demnach im Unterschied zum Systemdenken Wu Jies tatsächlich ein Modell, das sich vor allem aus seinen »Impressionen«, also aus seiner Imagination und metaphorisierten Kommunikation der äußeren Welt und nicht aus deren Imitation und Überwindung konstituiert. Dabei spielt die materielle Welt im Prozeß der Kommunikation selbst eine nur untergeordnete Rolle. Sie ist aber immer Bezugsrahmen der Kommunikation und gewinnt schließlich durch ihre Imagination und Metaphorisierung auch wieder an kultureller Bedeutung. Demgegenüber steht sie in der Systemdialektik Wu Jies genauso wie in seinem marxistischen Referenzmodell als einziger empirischer Bezugsrahmen von Kultur, wenn nicht gar als Kultur selbst, im Vordergrund und wird auch in seiner Interpretation sowohl der – von ihm imaginierten – Kulturtradition wie auch des transkulturellen Flusses von Kapital und Bedeutung privilegiert.

68 K. Ludwig Pfeiffer: D M M 69 Ebd. AS

ANTHROPOLOGISCHER

I .D . Frankfurt a. M. 1999, S. 276.

EDIALE UND DAS

EDIENTHEORIE

242

MAGINÄRE

IMENSIONEN KULTUR-

ENTORTUNGEN In China stehen sich mit dem Systemdenken, welches eine ausschließlich materielle Welt der Differenzen annimmt und dabei für sich selbst einen universalistischen Anspruch erhebt, und dem auf Impressionen basierenden imaginativen Verständnis der kosmischen Zusammenhänge, welches zwar die Differenzen zugunsten eines Universalismus aufzuheben trachtet, sich dabei aber in der Moderne selbst erst als Differenz zum – nationalen – Systemdenken wieder hat etablieren können, zwei grundlegende Konzepte von Kultur gegenüber. Beide schließen sich in ihren Identitätskonstruktionen zwar gegenseitig aus, können auf der anderen Seite aber nur durch die Vereinnahmung des jeweils Anderen in ihre inhärenten Diskurse und die gleichzeitige Abgrenzung gegenüber demselben existieren. Somit haben sie das verleugnete Andere unmerklich längst zum Teil der eigenen Diskurse und also auch der eigenen Identität bestimmt. Entgegen dem dichotomischen Verständnis des von Autoren wie Francis Fukuyama oder Samuel Huntington prognostizierten »Kampfes der Kulturen«70, der gleichzeitig ein solcher von Gesellschaften und Nationen sei, fließen beide Konzepte auf die eine oder andere Art in das chinesische Selbstverständnis ein und fördern in ihrem Dialog resp. ihrer Auseinandersetzung untereinander ein Drittes zutage. Dieses ist zwar von außen betrachtet hybrid und dynamisch, ein Ort des Durchgangs, und entspricht zumindest auf dieser Ebene dem von Homi K. Bhabha – aus einer spezifischen postkolonialen und damit bipolar argumentierenden Situation des Widerstands heraus – beschriebenen Ort des »Dazwischen«. Es findet gerade in diesen Eigenschaften aber auch seine spezifische Identität, seine Kultur, und ist somit durchaus auch als kohärentes System von Ordnung und als fixierbares Eigenes zu bezeichnen. So vermögen in der sozialen Wirklichkeit Chinas und seinen Medienkonstruktionen das national hegemoniale Modell 70 Francis Fukuyama: K K . a.a.O. Ders.: D K K Z K .D N K . a.a.O.

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.D K K .W ? a.a.O. Samuel P. Huntington: W 21. J

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VOM EIGENEN UND FREMDEN von Wu Jie (einschließlich der sich aus seinen Überlegungen konstituierenden staatsdominanten Fernsehtheorie und -politik) und die theoretisch-historische Rekonstruktion einer imaginären Vergangenheit als universelles Tianxia oder von ihrer Umwelt abgeschlossene lokale Strukturen ihren Modellcharakter angesichts ihrer jeweiligen Ausschließlichkeit beide nicht zu überspringen. Vielmehr ergeben sich aus den Diskursivierungen dieser beiden Modelle und ihres Verhältnisses zueinander die Parameter eines insgesamt äußerst vielfältigen und dynamischen Selbstverständnisses zwischen der Materialität und der Spiritualität von Kultur, zwischen ihrer Vergangenheit und deren Rekonstruktion in der Gegenwart, dem ich und dem wir sowie dem (klein!) anderen und dem (groß!) Anderen, dem hier und dem dort sowie dem jetzt und dem dann. In diesem Sinne hat Wu Jies Systemdialektik mit ihren Bezügen sowohl zur marxistischen Dialektik wie auch – wenn auch arg konstruiert – zu einem vormodernen Ordnungsverständnis und nicht zuletzt zu einer gegenwärtigen globalen Wirtschaftsordnung das hegemoniale Verständnis der Medien wie insbesondere des Fernsehens in China maßgeblich geprägt. Die Idee von Fernsehen als inhärentem System wie auch als Teil der Metasysteme chinesischer Kultur und Gesellschaft läßt sich in der chinesischen Theoriebildung sowohl in seiner Materialität wie auch in seinen Kommunikationsprozessen, also der Beziehung zwischen seiner Materialität und der Gesellschaft, deren Teil es selbst ist, auf Wus sinifiziertes systemtheoretisches Modell zurückführen. Fernsehen wird auf dieser Ebene ungeachtet seiner ureigentlich fremden Apparativität und Dispositivität zu einem Medium der Kommunikation von dominanten Diskursen Chinas, mithin zum Instrument von deren Materialisierung. Als im marxistischen Sinne politisches und im postsozialistischen China auch und vor allem ökonomisches Subjekt wird der Zuschauer dabei letzten Endes entgegen seiner kulturellen Prägung – mit mehr oder weniger großem Erfolg – vordergründig in eine Empfängerposition des Kommunikationsprozesses gedrängt, aus der heraus er seine konstitutive Funktion innerhalb des gesamtgesellschaftlichen Systems und seiner hierarchischen Strukturen wahrnehmen soll. Inso-

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ENTORTUNGEN fern richtet sich die Aufmerksamkeit der Fernsehtheorie, die sich ja selbst auch nicht außerhalb des betrachteten Systems verorten kann, wie es eigentlich Bedingung für die Errichtung kritischer Diskurse wäre, fast zwangsläufig auf die Programme und deren Gestalter. Sie sieht ihre eigene Rolle vor allem darin, eine Mittlerfunktion zwischen Politik und Praxis einzunehmen, selbst also als Medium eines hegemonialen chinesischen Diskurses durch die Ausgabe von Handlungsdirektiven Einfluß auf die mediale Bedeutungsproduktion und -vermittlung zu nehmen. Wu Jie und die chinesische Systemund Medientheorie haben die Provokation von Kolonialismus und Transnationalismus angenommen und sind erst dadurch, daß sie sich unter der Verwendung von deren Strategien gegen ihre drohende Hegemonie wandten, in die Falle des Anderen und der bipolar angeordneten Wahrnehmung von Differenz gegangen, die sich somit unumkehrbar in ihre Diskurse des Eigenen und ihr kulturelles Selbstverständnis eingeschrieben hat.

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3 VERORTUNGEN: MEDIENTHEORIE UND FERNSEHKULTUR Meine Idee dabei war, daß der Krieg in Indochina nicht mit dem unrühmlichen Rückzug der USA geendet hatte. Sie hatten ein hölzernes Pferd vor den Toren stehenlassen, und als die Indochinesen das Geschenk akzeptierten, kamen die eigentlichen Krieger Amerikas – die großen Konzerne, die Sportarten Basketball und Baseball sowie natürlich der Rock’n’Roll – aus seinem Bauch hervorgequollen und stürmten das Land. (Salman Rushdie: DER BODEN UNTER IHREN FÜßEN)

Wie die Entwicklungen im China des 20. Jahrhunderts zeigen, wird die Geschichte von Kultur und Kulturen auch dort immer nur über ihre Mediatisierungen greifbar. Sie ist erst in einem zweiten Prozeß kultureller und medialer Übersetzung, Rekonstruktion und Wiedergabe wissenschaftlich darzustellen. Indem jede Kultur erst durch ihre Medien zu einer solchen wird, stellt eine Geschichte der Medien zugleich auch immer eine solche der Kultur der jeweiligen Gesellschaft dar, innerhalb derer sich die Medien verorten und durch welche sie geprägt sind bzw. welcher sie selbst ihren Stempel aufdrücken. Schaut man auf die technischen Medienap247

VOM EIGENEN UND FREMDEN paraturen der Moderne, so zeigt sich das in deren Programmen und Inhalten, welche jeweils auf soziopolitische und kulturelle Entwicklungen innerhalb der Gemeinschaften, derer sie sich zuzählen, oder auf Konflikte dieser Gemeinschaften mit ihrem Anderen reagieren. Es zeigt sich aber auch durch ihre Funktion als Vermittler verschiedener Diskurse wie nicht zuletzt durch ihre Medialität selbst. Durch deren kulturelle Einschreibungen und ihre inhärenten Adressierungen sind die Medien in einer gewissen Unabhängigkeit von den Programmen selbst schöpfend und sinnbildend an den gesellschaftlichen Prozessen und deren Ordnungssystemen beteiligt, welche zu kommunizieren sie angetreten sind. Die soziale und kulturelle Position der Medien zeigt sich aber auch an den kulturellen, politischen und wissenschaftlichen Diskursen, die in China ohnehin kaum voneinander zu trennen sind. Sie entstehen innerhalb und außerhalb des betreffenden Mediums, hier also des Fernsehens, und begründen eine ständige Wechselwirkung mit diesem. In der medien- und kulturwissenschaftlichen Debatte werden die Entwicklungen des Fernsehens nicht nur reflektiert. Vielmehr werden sie häufig auch antizipiert und motiviert oder, wie es bei den dominanten politischen Diskursen Chinas zumeist der Fall ist, durch die Voranstellung ideologischer Modelle auch von außen oktroyiert. Insofern ist Mediengeschichte gleichzeitig immer auch eine Geschichte der Mediendiskurse und der Theorie- und Modellbildung um das betreffende Medium und dabei kaum von den gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Bedingungen abtrennbar, aus denen sie schöpft und in die sie hineinwirkt. Sie spielt im Falle Chinas angesichts von dessen vehementer Politisierung aller Künste und Medien seit dem 20. Jahrhundert eine bedeutende Rolle bei der Produktion und Distribution von Film, Printmedien und seit den 1980er Jahren auch des Fernsehens. Auf der anderen Seite hat sie sich aber, sei es durch die Aneignung von oder den Widerstand gegen die hegemonial kommunizierten Diskurse, auch entscheidend auf dessen Wahrnehmung und Rezeption ausgewirkt. Im Sinne von Stuart Halls Modell eines »Circuit of Culture« haben die Diskurse der Fernsehwahrnehmung somit letztendlich nicht

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VERORTUNGEN nur in ihrer dominanten Form, sondern durchaus auch als solche des Widerstands Einfluß auf die kulturelle Produktion durch die Fernsehanbieter genommen.1

Fernsehen und seine Dispositive Die Theorien über die Medien und das Fernsehen sowie die gesellschaftlichen Diskurse über die Kultur und ihre Medien sind in China – mehr noch als in den meisten Gesellschaften – als ein ständiger, sich wechselseitig bedingender Prozeß des Austauschs mit den kulturellen und vor allem politischen Entwicklungen des Landes und seines Selbstverständnisses innerhalb der globalen (Medien-) Gesellschaft zu begreifen. Sie spielen unmittelbar in die mediale und gesellschaftliche Konstitution von Sinn und Bedeutung hinein und nehmen dabei unübersehbar Einfluß auf die Selbstverortung der »vorgestellten Gemeinschaft« (Benedict Anderson) Chinas. Dabei ist es in vielen Phasen des für China politisch äußerst turbulent verlaufenen 20. Jahrhunderts kaum mehr auszumachen gewesen, ob die politischen Prozesse und mit ihnen die politisierten Diskurse der hegemonialen nationalen Medientheorie die Entwicklung der Medien bedingt haben, oder ob eher die umgekehrte Erklärung zutrifft. Demnach wären im Sinne einer postkolonialen Theorie die Entwicklungen der Medien und die damit einhergehenden Prozesse der Moderne und des Imperialismus denjenigen des kulturellen Bewußtseins und somit der Herausbildung des modernen chinesischen Selbstverständnisses, also auch jeder Medientheorie, vorangegangen. Dies bedeutete, daß letztere somit nunmehr vor allem als Chronistin derjenigen Prozesse auftritt, welche von ihr selbst kaum bestimmt werden. Tatsächlich trifft wohl eine beiderseitige Beeinflussung zu, nach der die Moderne mit ihren Medien zweifellos als kolonialistisches Konzept mit zunächst durchweg fremden Anordnungs-bedingungen nach China gelangte, dort aber auf 1

Stuart Hall: ›Encoding/Decoding‹. a.a.O.

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VOM EIGENEN UND FREMDEN die eine oder andere Weise sehr rasch in die Diskurse des Eigenen integriert und im Hinblick auf das eigene – durch den Kontakt mit dem Fremden bereits veränderte – Ordnungsverständnis angeeignet werden konnte. Genauso wie die Geschichtsschreibung und die Diskurse zur Mediengeschichte zumeist mehr über ihre eigene als über die von ihnen betrachtete Zeit aussagen, so repräsentieren auch die medientheoretischen Schriften Chinas überwiegend die dominanten Diskurse ihrer jeweiligen Zeit. Sie haben im 20. Jahrhundert ihre Rolle vor allem als Wegweiser und Normengeber für die eigene Auseinandersetzung mit dem vermeintlichen Fremden und die kulturelle Aneignung und politische Vereinnahmung der Medien im Rahmen eigener, allerdings unmittelbar auf das Fremde reagierender und rekurrierender Diskurse gefunden. Dabei bezieht sich die Theoriebildung selbst allerdings nur in zweiter Linie auf die tatsächlichen, apparativ eingeschriebenen Dispositive der Medien, welche ihr eigentlich fremd geblieben sind. Statt dessen ist sie in allen Phasen der postkolonialen Politik und Nationenbildung vor allem als der Versuch zu verstehen, die Medien aus ihrer kolonialen Bedeutung herauszulösen und ihnen eine nationale Legitimation und Verortung gegenüber der Welt zuzuweisen, um dabei die ordnungspolitischen Diskurse der jeweiligen Regierungen, als deren Sprachrohr sich nicht zuletzt auch die – publizierte – Theorie begreift, in die Medienproduktion zu expedieren. So wird diese schließlich ihrer »nationalen« Rolle als verlängerter Arm der Politik und als – allerdings einseitig kommunizierender – Mittler zwischen der Macht und ihren Empfängern, dem Volk, zugeführt. Die zentralen Bemühungen der politischen und kulturellen Wegbereiter Chinas im 20. Jahrhundert galten der kulturellen Assimilation der technischen Medienapparaturen in die »eigenen« kulturellen Strukturen und in die (imaginären) Dispositive von deren vortechnischer Medialität. Es ging zudem um die soziopolitische Aneignung und Funktionalisierung der Medien, welche sich bereits bei der Verwendung der industriell hergestellten Zeitungen und Bücher sowie des Kinofilms in der Frühphase seiner Entwicklung in China herauskristallisiert hatte. Das Kino hat zu weiten Teilen die Be-

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VERORTUNGEN dingungen des Fernsehens vorweggenommen. Der Film fand sowohl in Händen von europäischen und amerikanischen Filmpionieren als Medium der kolonialen Agitation wie in Händen der nationalen Kräfte, die sich seit der Bewegung des 4. Mai 1919 in immer größerem Ausmaß formiert haben, als Instrument der antikolonialen Propaganda seinen Einzug in das späte Kaiserreich und in die im Jahre 1912 gegründete chinesische Republik. Er wurde schließlich zum Symbol wie zugleich Sprachrohr des nationalen Modernismus, als welches er sich einerseits in den fortschrittsgläubigen Komödien und Dramen der dreißiger Jahre, andererseits in den Heldenund Fortschrittsepen des sozialistischen Realismus unter Mao Zedong seit den fünfziger Jahren präsentierte. Gleichzeitig fand der Kinofilm aber auch als Speicherund Reproduktionsmittel eines rückwärtsgewandten Traditionalismus seinen Einsatz. In dieser Hinsicht präsentierte er sich vor allem in den Verfilmungen klassischer Dramen. Bei diesen sollte die Technik allerdings tatsächlich nicht mehr als einen bloßen Aufzeichnungs- und Reproduktionscharakter haben, der die Medialität des Films weitgehend unbewußt bleiben ließ. Letztere fand auch bei der kulturpolitischen und wissenschaftlichen Rezeption von Film und Fernsehen in China zunächst kaum wirklich Beachtung. Statt dessen sorgten Politik und Theorie sich eher um die didaktische und staatspropagandistische Funktion der Programmgestaltung als um die Dispositivität und die medialen Bedingungen der Projektion und Wahrnehmung. So werden die Medien in den politischen Programmen wie auch in der wissenschaftlichen Theoriebildung Chinas nach wie vor als Mittel der linearen interaktionsfreien Kommunikation von Diskursen der Macht verstanden. Auf der anderen Seite konnte sich weder eine apparativ orientierte Medienwissenschaft herausbilden, noch wurde auch nur der Versuch unternommen, die Wirkungsbedingungen der Medien oder gar deren tatsächliche Wirkung bei einem individualisierten (und somit der Auffassung der Politik zuwider laufenden) Publikum wissenschaftlich zu erfassen, um damit der Vielfalt der Formen und Diskurse in den Medien wie ihrer Nutzung und Rezeption gerecht wer-

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VOM EIGENEN UND FREMDEN den zu können, deren tatsächliche Polysemie auch in China kaum noch zu leugnen war. Die Bemühungen der jeweiligen Regierungen Chinas richteten sich auf die kulturelle Aneignung und politische Vereinnahmung des Films wie später auch des Fernsehens als Instrumente einer hegemonialen Staatskultur. Sie beschränkten sich in der Politik wie auch in der Medientheorie allerdings bislang weitgehend auf deren Inhalte und Narrationen wie ästhetische Formen. Die dispositiven Bedingungen der Medien wurden dabei teilweise durchaus zur Kenntnis genommen und im Hinblick auf die Bedürfnisse der Macht optimiert. Dies zeigte sich, wenn etwa Mao Zedong in den 1950er Jahren das ganze Land mit mobilen Filmvorführtrupps überschwemmte, um die Menschen emotional zu erreichen und für die Revolution zu mobilisieren. Allerdings vermochte die Medientheorie in China den politischen Prozessen jeweils nur nachzufolgen und diese zu bestätigen. In Anknüpfung an die »Yan’an Reden Mao Zedongs« über den Weg von Kunst und Literatur im kommunistischen Staat aus dem Jahre 1942 bestätigte sich das bereits in den fünfziger Jahren in Maos Versuchen, das Kino in die Idee einer sozialistischen Volkskunst und schließlich in die »sinifizierte Volkskultur« zu integrieren, welche Chinas radikale Regierung in den frühen siebziger Jahren anstrebte. Unter deren Logo entstand damals, zu einer Zeit, als das sich noch in den Kinderschuhen befindliche Fernsehen eine kaum nennenswerte Rolle in der Kultur und Politik Chinas spielte, unter dem Markenzeichen des politischen »Modellstücks« ( Yangbanxi) eine Reihe streng stilisierter, in höchstem Grade artifizieller Bühnenverfilmungen. Bei diesen wurden die medialen Eigenschaften des Films zugunsten eines Potpourris aus realsozialistischem Bühnendrama und traditioneller chinesischer Oper weit in den Hintergrund gedrängt. Weder die Apparativität des Films noch seine Wirkung gelangten zu einem Gegenstand des politischen und wissenschaftlichen Interesses. Bei dieser Form der hegemonialen Verwendung chinesischer Medien, welche zudem unter dem Signet der Volkskultur ( Renmin wenhua) tatsächlich bereits eine hegemoniale Massenkultur (

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VERORTUNGEN

 Dazhong wenhua) etablierte, an der das Volk selbst allen-

falls noch als Konsument und willenloser Empfänger partizipieren sollte, ging also jeweils die politisch-theoretische Konstruktion der medialen Schöpfung voraus. Die in China allen Überlegungen zu den Medien voranstehende Idee der Kommunikation von Macht hatte sich tatsächlich seit jeher (und so auch von Beginn der Geschichte der technischen Medien an) weit von allen Volkskünsten entfernt, auf die sie sich bis in die Gegenwart beruft. Sie setzte jeweils einen idealen, also passiven Rezipienten voraus. Dieser hatte die – medial standardisierte – Semantik der ihm präsentierten kulturellen Texte innerhalb desselben Rahmens kultureller und politischer Bedeutungsdiskurse zu dekodieren, welcher auch die Kodierung bedingte. Damit sollte er in seiner dekodierten Bedeutung exakt mit der von den Produzenten kodierten, mediatisierten und kommunizierten Bedeutung übereinstimmen und auf diese Weise die Regierungsdirektiven bestmöglich umsetzen. In ihrer hegemonialen Verwendung durchaus an die einseitig kommunizierenden vortechnischen Kommunikationsstrukturen der kaiserlichen und fürstlichen Herolde Chinas anknüpfend, haben dieselben Medien, die zum linear kommunizierenden, die Gesellschaft homogenisierenden Sprachrohr der Regierungsdiskurse wurden, auf der anderen Seite aber auch die Möglichkeit der Erzeugung zahlreicher Formen alternativer Diskurse motiviert. In diesem Sinne fanden nahezu alle Debatten innerhalb der zweitausend Jahre des chinesischen Einheitsstaats im Spannungsfeld zwischen Opportunität und der – von dieser zwangsläufig mit etablierten – Disponibilität im Hinblick auf die Zeit und den Ort des jeweiligen Diskurses wie auch auf die Macht statt, der gegenüber sie sich positioniert haben.2 Letztere hat – quasi als Überlebensstrategie – das bis in die Gegenwart prägende Konzept der Metapher hervorgebracht, mit der etwas ausgedrückt werden konnte, ohne etwas direkt zu sagen und eine unmittelbare indexikalische Verbindung zum Angesprochenen herzustellen. Sie er2 Vgl. François Jullien: D U . S. 110f. ER

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VOM EIGENEN UND FREMDEN gibt sich allerdings umso deutlicher auf der Ebene ihrer Dekodierung. Somit konnte sich auf dem Umweg über die hegemoniale nationale Massenkultur und mit deren Instrumenten durchaus auch wieder, wenn nicht überhaupt zum ersten Mal in China, eine Zivilkultur etablieren, die sich lokal verortete und dabei ein weiteres Mal auf die Volkskultur rekurrierte. Dabei entdeckte sie aber – sehr viel unmittelbarer als die sich national in internationalen Vergleichen verortende Hegemonialkultur – vor allem auch ihre Beziehungen zu einer globalen Medienkultur und fand dort ihre transnationale Verortung sehr viel eher als in den nationalen Diskursen Chinas. Dies zeigte sich etwa in den sozialkritischen Filmen der dreißiger oder auch der frühen sechziger Jahre, im postkulturrevolutionären Kino der achtziger und dem unabhängigen urbanen Kino der neunziger Jahre. Sie haben es unter ihren jeweiligen politischen und soziokulturellen Bedingungen mit unterschiedlichen Mitteln und Ausrichtungen allesamt in ähnlichem Maße vermocht, alternative Bedeutungen zu propagieren.3 Zudem ergänzten sie diese immer zugleich auch durch neue Formen und semantische Muster, mit denen sie sowohl auf die Medialität ihrer Instrumente wie zugleich auf ihre Wahrnehmung der eigenen und fremden Kultur reagierten. Die Semantik der alternativen Mediendiskurse hat sich teilweise aber auch in die regionalen und lokalen Fernsehsender der Gegenwart eingeschrieben, deren Narrationen sich längst von denjenigen der nationalen Diskurse losgesagt und zu lokalen Verortungen gefunden haben. Dabei begreifen sie sich zugleich aber auch, so etwa in ihren Werbeprogrammen oder Musiksendungen, als Teile einer transnationalen Konsum- und Medienkultur, auf deren Formen sie unverhohlen rekurrieren. In jedem Fall kommt die nicht- oder antihegemoniale Bedeutung der Massenmedien aber immer im Rezeptionsprozeß durch das Publikum zum Ausdruck, welches sich auch in China in Wirklichkeit niemals auf seine Funktion als ideale Leserschaft reduzieren ließ. Vielmehr hat 3 Vgl. Stefan Kramer: G

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VERORTUNGEN es auch dort, entgegen der monosemischen Bedeutungskonstruktionen durch die Organe der Zentralregierung, durchaus zahlreiche eigene Bedeutungen produziert und sich damit als aktives, empirisches Publikum erwiesen, auch wenn dies bislang in keiner der – publizierten – chinesischen Medientheorien zur Kenntnis genommen worden ist und es auch kaum Eingang in die Medienpolitik der Regierung und deren Konzept des »dem Volke dienen« ( Wei renmin fuwu) gefunden hat.4

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Ähnlich wie beim Film verlief auch beim Fernsehen das von den hegemonialen Diskursen initiierte Wechselspiel zwischen Produktion, Politik und Theorie. Anders als das im kommunistischen China vor allem als politisches Proklamationsmedium funktionalisierte Radio konnte das Fernsehen vielfältige, auch selbstreferentielle Diskurse entwickeln. Dabei spielten vor allem seine ökonomischen Aspekte, seine nicht nur politisch-ideologische Verortung im nationalen Rahmen und insbesondere auch seine wirtschaftliche Standortbestimmung eine wesentliche Rolle. Eine sich von ihrem Objekt loslösende Theorie- und Modellbildung gibt es weder in China noch in irgendeiner anderen Gesellschaft und Kultur. Sie findet weder in der Medien- und Fernsehwissenschaft noch in irgendeiner anderen Disziplin statt. Allerdings liegen die Verflechtungen der Fernsehtheorie mit Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sowie den Kulturkonflikten zwischen Tradition und Moderne, Eigenem und Fremdem in China noch deutlicher auf der Hand als in vielen anderen Gesellschaften. Dort sind die technischen Medien zum Teil eines mehr oder weniger linearen Entwicklungsprozesses geworden. Von daher waren sie nicht an derart scharfen gesellschaftlichen und kulturellen Brüchen beteiligt oder von diesen betroffen, wie es im China des 20. Jahrhunderts der Fall gewesen ist. Während die Photographie in China in ihrer Frühphase kaum politisch oder wissenschaftlich rezipiert wurde, wur4 Vgl. dazu meine Untersuchungen: D a.a.O.

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VOM EIGENEN UND FREMDEN den der Kinofilm sowie ein halbes Jahrhundert später das Fernsehen von Beginn an zu Instrumenten und Objekten der politischen Auseinandersetzung. Sie fanden auch die Aufmerksamkeit der vor allem politisch determinierten Wissenschaften. Die frühe Filmgeschichte fiel historisch in eine Phase der zunehmenden kolonialen Einflußnahme aus Europa und Amerika und der durch diese initiierten national orientierten Widerstandsbewegungen. Anstelle eines konsequenten Traditionalismus verschrieben sie sich denselben Modernisierungsideen und Medien wie ihre kolonialen Widersacher. In diesem Sinne ist die Bewegung des 4. Mai 1919 nicht allein als politischer Protest zu ihrer Bedeutung gelangt, als der sie nach den für China unvorteilhaften Beschlüssen der Ver-sailler Konferenz mit der Abtretung der deutschen Kolonien an Japan ursprünglich begonnen hatte. Vielmehr ist sie als Initialzündung zu einer chinesischen Nationalisierung und Modernisierung und der damit untrennbar verbundenen Aneignung der technischen Moderne zu verstehen, die bereits in den Demütigungen des Kolonialismus und der genauso repressiven wie erfolglosen Politik des mandschurischen Kaiserhofes begründet lagen. Sie hatte Japan bereits ein halbes Jahrhundert zuvor den Aufstieg zur Weltmacht beschieden. Im zweiten und dritten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts waren es vor allem die Initiatoren der kulturellen Erneuerung wie die seinerzeit sowohl als Schriftsteller und Filmautoren wie auch als Kulturtheoretiker und politische Aktivisten tätigen Zhang Shichuan (1890 – 1954), Hong Shen (1894 – 1955), Zhao Dan (1915 – 1980) oder Shi Dongshan (1902 – 1955), aus deren theoretischen Überlegungen und Schriften heraus die Grundlagen für die Kunst und die Filmkunst des modernen China geschaffen wurden. Daraus hat sich schließlich eine – allerdings weniger in ihrer Programmgestaltung als in ihrer Ästhetik und Narrativität signifikante – chinesische Fernsehkultur konstituiert.5 Der Kinofilm, der inzwischen selbst überwiegend in die Programme des Fernsehens integriert worden ist, wurde von

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5 Vgl. Yingjin Zhang (Hg.): C – 1943. Stanford 1999.

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VERORTUNGEN Beginn an sowohl in seiner Medialität und seinen dispositiven Strukturen wie auch in seinen Programmen und Inhalten quasi zur medialen Realisation einer am Reißbrett der Kulturtheoretiker entstandenen ersten geistigen – weniger industriellen – chinesischen Moderne. Sie konstituierte sich aus den Versatzstücken der chinesischen Wahrnehmung des modernen Europa und seiner Kulturtechniken und nicht zuletzt aus der eigenen künstlerischen Prägung seiner chinesischen Interpreten. Ihr machten schließlich der Asien-Pazifik-Krieg (1937 – 1945) und die kommunistische Machtübernahme im Jahre 1949 ein jähes Ende. Auch unter kommunistischer Herrschaft war der Film in China nach wie vor in erster Linie ein Produkt seiner politischen Theoretiker. Sie hatten auf der Grundlage von Maos kulturpolitischen Reden bei den »Yan’an-Aussprachen über Literatur und Kunst« im Jahre 1942 in ihren Texten und den Gesetzen und Vorschriften zum Filmwesen die maßgeblichen Richtlinien für die Produktion und Distribution von Filmen vorgegeben. Diese haben im Großen und Ganzen bis in die Gegenwart ihre Gültigkeit beibehalten und sich auch in das Fernsehen eingeschrieben. Die prägenden chinesischen Filmtheorien, darunter diejenigen des wohl bedeutendsten Filmtheoretikers des kommunistischen China, Zhong Dianfei (1919 – 1987)6, sowie des bis zum Vorsitzenden des Filmbüros und Stellvertretenden Kulturminister aufgestiegenen Xia Yan (1900 – 1995) 7 , gelten in allen wesentlichen Punkten auch für die soziale, politische und kulturelle Verortung des erst sehr viel später etablierten Fernsehens. Ursprünglich aus dem literarischen, durch das – ebenfalls importierte – Sprechtheater geprägten Medienverständnis ihrer Schöpfer hervorgegangen, welches schließlich in das Filmmedium expediert wurde, sind diese kultur-medien-polit-

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6 Vgl. die gesammelten Aufsätze von Zhong Dianfei :Q (Die Geschichte von Aufstieg und Kampf). Peking 1986. 7 Vgl. die wichtigsten Schriften des auch als Schriftsteller und Drehbuchautor an die Öffentlichkeit getretenen Xia Yan zum Film: (Xia Yan über den Film). Peking X Y 1993.

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VOM EIGENEN UND FREMDEN ischen und -theoretischen Überlegungen in ihrer bis in die Gegenwart aufrecht erhaltenen Funktion als politische Richtlinien für alle Medien der gesellschaftlichen Massenkommunikation weitgehend unangetastet geblieben. Dies gilt nahezu uneingeschränkt für die Film- und Fernsehtheorie, die sich nach wie vor überwiegend als ein gut funktionierendes Sprachrohr der politischen Führung erweist, obgleich sich innerhalb der Medien und der Künste selbst inzwischen multiple Prozesse ergeben haben. Diese haben sich in ihrer Eigenständigkeit weit von den dominanten nationalen Diskursen entfernt und präsentieren an deren Stelle ein vielfältiges Bild. Dafür bleibt ihnen aber die öffentliche Anerkennung noch immer verweigert, und sie müssen sich statt dessen mit Zensur und Behörden auseinandersetzen. Angesichts der ihnen zu großen Teilen verwehrten Kommunikationskanäle erreichen sie allenfalls ein Nischenpublikum. Daran hat sich auch in der liberalen Phase des Films unter der Reformpolitik seit den 1980er Jahren nichts Entscheidendes geändert. Das hat nicht zuletzt die von George S. Semsel8 zusammengetragene Sammlung chinesischer Texte zur Filmtheorie gezeigt, welche inzwischen der sich immer weiter von ihren politischen und theoretischen Vordenkern lossagenden filmkünstlerischen Realität kraß hinterherhinkt. Schließlich wurde, wie der Abriß der Fernsehgeschichte gezeigt hat, auch das Fernsehen in seiner Früh- und Planungsphase auf genau denselben Grundlagen wie zuvor bereits das Sprechtheater und das Kino zu einem Produkt politischen Denkens. Das ging einher mit der Entwicklung eines theoretischen Modells als Grundlage und Handlungsanweisung für seine Programmentwicklungen. Der Aufstieg des Fernsehens zum Medium der Massenkommunikation von Regierungsdiskursen in den 1980er Jahren und seine Entdeckung als ökonomisches Objekt durch die Industrie in den 1990er Jahren haben es in den Mittelpunkt des Interesses seitens der Politik, Wissenschaft und Kritik 8 George S. Semsel (Hg.): C C a.a.O. Ders. (Hg.): F – 1989. a.a.O.

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VERORTUNGEN gestellt. Seine spezifischen Programm- und Wahrnehmungsstrukturen haben das Fernsehen gegenüber dem Kino als Trägermedium der in China immer stärker Fuß fassenden Produktwerbung qualifiziert. Zudem haben die politischen Verwertungsmöglichkeiten seines Authentizitäts- und Aktualitätscharakters und seine Stellung als »kaltes Medium«, welche die (den hegemonialen Diskursen im ungünstigsten Fall durchaus auch zum Nachteil gereichende) Aktivität des Publikums bei der Bedeutungskonstitution quasi herausfordert, zu einer allmählich intensiveren Beschäftigung mit den Bedingungen seiner Medialität geführt. Dabei traten durchaus kontroverse Standpunkte zutage. Sie äußerten sich einerseits in einer ungebremsten Fortschrittseuphorie im Hinblick auf den wirtschaftlichen und technischen Ausbau des Fernsehens. Andererseits offenbarten sie die Möglichkeiten seiner Funktionalisierung zu einem ständig präsenten und aktuellen Medium der hegemonial gesteuerten, dabei privatisierten Öffentlichkeit. Das Fernsehen bot der Regierung und ihrer Politik über seine zentral regulierten Programme quasi jederzeit in jeden Haushalt Einlaß. Im selben Zuge stellte sich ein Denken ein, welches neben dem ordnungspolitischen Nutzen des Fernsehens auch dessen Risiken für das zentralistische Kulturkonzept in Erwägung zog. Dieses drängte sich schon bald durch ausländische Sender wie VOA, BBC World, das taiwanesische Free China TV oder die zahlreichen liberalen Hongkonger Sender auf, welche Einlaß in den chinesischen Markt begehrten und überdies ohnehin längst über die – vor keiner Staatsgrenze halt machenden – Satellitenempfänger nach China eingedrungen waren. Ein offener Fernsehmarkt nährte die im Allgemeinen mit der Dezentralisierung einhergehenden Ängste vor einem Verlust der zentralisierten Macht und gar der Abgabe von Kompetenzen an multinationale Konzerne. Sie sind im Hinblick auf die meinungsbildende Wirkung des Fernsehens dort aber in besonderem Maße greifbar geworden und verbanden sich mit dessen (technisch gebotener und ökonomisch notwendiger) Dezentralisierung. Beide Grundausrichtungen, auf denen sich die unterschiedlichsten methodischen Zugänge zum Fernsehen aufbauten, fanden auf die

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VOM EIGENEN UND FREMDEN eine oder andere Weise immer wieder Eingang in die theoretischen Debatten seit den 1990er Jahren. Es ist dem Fernsehen gelungen, sich angesichts seiner medialen und ökonomischen Eigenschaften teilweise aus seiner Bindung an den Kinofilm und die politisch motivierten Modelle von Kultur zu befreien. Auch die Theorie vermochte sich eine gewisse Eigenständigkeit und engere Bindung an das Medium selbst zu verschaffen. Eingebunden in die Dynamik einer sich zusehends globalisierenden Medien- und Konsumgesellschaft, erweist sich das Fernsehen seitdem als resistenter gegenüber den – nationalen – sozio- und kulturpolitischen Vereinnahmungsversuchen seitens der politischen Zentralregierung und der lokalen Behörden. Nicht zuletzt verweigert es sich immer mehr auch einer Theorie, die sich in China traditionell immer stärker als Medium der Macht versteht denn als Beobachterin und Analytikerin. Statt dessen ist das Fernsehmedium ungeachtet der nahezu ausschließlich national orientierten Fernsehtheorie und -politik tatsächlich in ganz neue, sehr viel komplexere Abhängigkeiten und Wirkungskreisläufe hineingeraten. Diese beherrschen seit den 1980er Jahren nicht nur seine Realität, sondern immer mehr auch seine Diskurse, welche sich kaum noch gegenüber den globalen Kultur- und Mediendebatten abschließen lassen. Daran hat nicht zuletzt auch das Fernsehen selbst mit seinem inter- und transnationalisierenden Einfluß auf die Gesellschaft seinen Anteil. Der mit der Verselbständigung des Fernsehens gegenüber seinen Theorien vorgegebene Aufbruch auch der politisch oktroyierten Homogenität und Monosemie konnte in der Realität niemals so konsequent durchgeführt werden, wie von den politischen Meinungsbildnern ursprünglich beabsichtigt. Die sich offenkundig durchsetzende Heterogenität der Kultur und Polysemie ihrer Diskurse haben erst in den achtziger und neunziger Jahren die grundsätzliche Problematik des Umgangs mit dem importierten Medium zutage treten lassen. Bei aller auch politischen und wissenschaftlichen Fortschrittseuphorie und Bereitschaft zur Anpassung an die globalisierte Fernsehkultur trat neben derjenigen nach der poli-

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VERORTUNGEN tischen und ökonomischen Funktion zugleich deutlich die Frage nach dem Umgang mit den im Fernsehen evident werdenden Dichotomien zwischen dem Eigenen und dem Fremden in den Vordergrund der Auseinandersetzung. Dabei geht es um die medial vermittelten und in der Apparativität des Mediums selbst evident werdenden Diskurse. 9 Sie erwiesen sich noch deutlicher als beim Film in dem scheinbaren Widerspruch zwischen der technischen Ratio sowie der Fremdheit der Apparatur und ihrer dispositiven Strukturen auf der einen und der als Eigenes wahrgenommen lyrisch-metaphorischen Struktur der chinesischen Tradition auf der anderen Seite befangen. Im Hinblick auf die Problematik seiner sozialen und kulturellen Verortung, zu der sich die Politik und – als deren verlängerter Arm – die Wissenschaft berufen fühlten, fand das Fernsehen seit den späten achtziger Jahren unter dem Begriff einer »Neuen chinesischen Fernsehkultur« (Xin Zhongguo dianshi wenhua) seinen Platz im Rahmen einer sich neu formierenden und dabei weitgehend am offiziellen Diskurs der »...mit chinesischer Prägung« (»Zhongguo tese de…« » …«) orientierenden Politik und Medientheorie. Dies bedeutete zudem seine Ein- und Unterordnung unter das postsozialistische Modell einer chinesischen Nationalkultur. Damit trachteten Deng Xiaoping und seine Nachfolger an den Schalthebeln der Macht Maos Diktatur der Ideologie und die didaktische Funktionalisierung von Kunst und Medien zu ersetzen. Gleichzeitig drücken sich bereits in der Terminierung und in der Darstellung des Fernsehens als »unentbehrlicher Teil der chinesischen Kultur«10 die scheinbaren Widersprüche zwischen dem nationalen, also vor allem auf dem Konzept der Differenzen basierenden Verständnis von Kultur und der Berufung auf den vermeintli-

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9 Vgl. Zhong Danian , Guo Zhenzhi , Wang Jiyan : D (Die Internationalisierung des Fernsehens und die Nationalkultur). Peking 1998. 10 Hu Zhifeng : Z (Das chinesische Verständnis von Fernsehen). Peking 2000, S. 3. IANSHI

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VOM EIGENEN UND FREMDEN chen Universalismus einer kontinuierlichen chinesischen Kulturtradition aus. Letztere hatte sich ja vor allem durch Integration von allem Fremden immer wieder neu konstituieren und damit über alle historischen Perioden und Fremddynastien wie Eroberungen hinweg erhalten können. Das Wort Xin (Neu), welches bereits in der Konstruktion des kommunistischen Staates als Xinhua (Neues China) nach 1949 seine bis heute gängige revolutionäre Bedeutung als Abgrenzung gegenüber dem tatsächlich oder vermeintlich Dagewesenen zugeteilt bekommen hatte, fand dabei im doppelten Sinne Eingang in die Bezeichnung und das Verständnis einer technischen, apparativen Kultur seit den 1980er Jahren. Gleichzeitig wirkte es sich mehr denn je auf die dichotomischen Raum-Zeit-Strukturen aus, die das hegemoniale chinesische Ordnungsverständnis in der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart bestimmen. Diesem wurde zunächst der Kinofilm als frühester Vertreter einer postkolonialen apparativ-visuellen Medienkultur Chinas zugerechnet. Dem Film ist es nach dem Verständnis der chinesischen Kulturtheorie besser als allen anderen Medien gelungen, die drei wichtigsten Diskursparameter des gegenwärtigen Kulturverständnisses miteinander zu verknüpfen. Dies sind zum einen die sozialistische Revolution mit ihrem didaktischen Kunst- und Kulturverständnis, zum anderen die seit der Einführung der Modernisierungspolitik in den Mittelpunkt der politischen Bestrebungen gerückte industrielle und technische Moderne Chinas, und schließlich die inzwischen an die Stelle der Revolutionsmythen getretenen nationalen Erzählungen einer »fünftausendjährigen Kulturtradition«. Auf diesen Parametern des dominanten chinesischen Kulturdiskurses seit den 1980er Jahren beruht im Großen und Ganzen auch die theoretische Wahrnehmung des Kinos. Dieses war ja auch in China als Medium und Repräsentant der Moderne angetreten und gleichzeitig zum wichtigsten Kommunikator der sozialistischen Revolution und eines kollektiven kommunistischen Gedächtnisses geworden. Als solchem war ihm die Aufgabe zugefallen, nicht nur in seinen Erzählungen die kulturelle und nationale Tradition in die Gegenwart der kollektiven Wahrnehmung zu befördern, sondern

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VERORTUNGEN auch die medialen Repräsentationsformen einer vortechnischen und vorkolonialen Kulturtradition unter seinem Dach zu vereinen. Nachdem der Kinofilm in den neunziger Jahren allerdings zusehends aus den Kinosälen, die seitdem unter einem dramatischen Zuschauerschwund leiden, auf die Fernsehbildschirme expediert worden ist, hat er inzwischen mit seinen narrativen Fähigkeiten erheblich dazu beigetragen, die Vorgeschichte Chinas wieder in das Gedächtnis der Öffentlichkeit zurückzubefördern. Der Kinofilm wird in der Medientheorie in China kaum gegenüber der Kritik abgegrenzt. Er orientiert sich überwiegend eng an den Werken und folgt bei seiner Herstellung von deren Beziehung zur außermedialen, gesellschaftlichen Realität der marxistischen Tradition der Filmanalyse. Er wird nach wie vor in erster Linie als Speicher- und Reproduktionsmedium traditioneller Formen der kulturellen Repräsentation wahrgenommen. Das gilt auch für die zahlreichen Produktionen nach dem vermeintlichen »Wegwerfen des Krückstocks Drama«.11 In dieser Hinsicht hat die Theorie den hoch subventionierten chinesischen Film-Mainstream als Instrument der »nationalen« Legitimation funktionalisiert, indem sie den Werken die notwendige Verknüpfung zwischen Tradition, sozialistischer Revolution und schließlich der postsozialistischen Moderne quasi nachlieferte. Wie vor allem die Arbeiten des auch in seinen Ämtern die Kohärenz zwischen Wissenschaft, Kunst und Politik repräsentierenden einflußreichen Schriftstellers, Filmautoren, Filmtheoretikers und Kulturpolitikers Xia Yan12 zeigen, ist es der Filmpolitik und -theorie gelungen, ihren Betrachtungsgegen11 So lautet der Titel eines Aufsatzes, in dem der Pekinger Filmtheoretiker Bai Jingsheng bereits im Jahre 1979, unmittelbar nach der Einleitung der Reformpolitik, eine Befreiung des Films von der Bühnenkunst und dessen Rückbesinnung auf seine filmischen Eigenschaften fordert. Bai Jingsheng: ›Throwing Away the Walking Stick of F T .AG Drama‹. In George S. Semsel (Hg.): C N E . New York 1990, S. 5 – 9. 12 Vgl. die filmtheoretische Schriftensammlung: X Y (Xia Yan über den Film). a.a.O. HINESE

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VOM EIGENEN UND FREMDEN stand unter einer ständigen narrativen und formalästhetischen Referenznahme auf vortechnische und als solche im 20. Jahrhundert als chinesisch und dem Eigenen zugehörig wahrgenommene Repräsentationsformen zu fundieren. Ihnen verdankt der Film in Gestalt von Landschaftsmalerei, Volksmusiken, Erzählliteratur, Bühnendrama und nicht zuletzt dem Schattenspiel seinen gegenwärtigen Namen Dianying (Elektrische Schatten), der aus der frühen chinesischen Kinobezeichnung Xiyang Yingxi (Westliches Schattenspiel) hervorgegangen ist. Er rückt in die Reihe einer imaginären, nicht zuletzt durch die apparativen Medien erst neu konstruierten Kulturtradition. Gleichzeitig konnte er durch die Kraft seiner emotionalen Wirksamkeit gegenüber dem Publikum zum privilegierten medialen Vertreter einer industriellen Moderne und in allen Phasen seiner Entwicklung seit 1949 auch eines postkolonialen chinesischen Nationalstaats stilisiert werden. Das Kino hat seine herausragende Bedeutung bei der Kommunikation dominanter Diskurse in China nicht zuletzt durch diese Mehrfachrolle erlangen können, die es jedem anderen Medium zunächst überlegen erscheinen ließ.

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Die Überlegenheit des Kinofilms und seine privilegierte Position unter den Medien des modernen China fand allerdings mit dem Aufkommen des Fernsehens in den achtziger Jahren ein jähes Ende. Damals begann sich die Kulturtheorie gerade erst ernsthaft mit den medialen Eigenschaften des Kinos auseinanderzusetzen und dieses damit nach seiner ersten auch theoretischen Hochphase in den dreißiger und vierziger Jahren wieder aus seiner ideologischen Umklammerung zu befreien. Das Kino war vor allem als Medium der nationalen Konstitution Chinas aufgetreten und mit seinen Programmen, seinen Dispositiven und seiner Wahrnehmungssituation zu deren »natürlichem« Teil geworden. Das Fernsehen und seine Theoretiker dagegen präsentierten sich von Beginn an als Vermittler bzw. Medien einer postmaoistischen Öffentlichkeit, die sich zusehends privatisierte und aus alten kollektiven Mustern befreite. Die Prozesse einer postsozialistischen Relokalisierung sowie einer Inter- resp. Transnatio-

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VERORTUNGEN nalisierung Chinas seit 1992, deren zwangsläufige Folge die explosionsartige Verbreitung des Fernsehens war und gleichzeitig das Fernsehen als deren Beschleuniger erleben ließ, gingen Hand in Hand und bedingten sich gegenseitig. Seither sehen sich die Kulturtheorie und -politik völlig neuen Fragen nach der geopolitischen Selbstverortung und der kulturellen Repräsentation Chinas unter den Bedingungen der Globalisierung und der Auflösung herkömmlicher Formen der Kommunikation gegenübergestellt. Ihnen hatte sich seit dem Ende des Kaiserreichs im Jahre 1911, der Republikgründung ein Jahr darauf sowie der Bewegung des 4. Mai 1919 auch die Konstitution von Chinas »nationaler« Identitätsgemeinschaft verdankt. Dem Fernsehen kam also die ambivalente Rolle des privilegierten Mediums der Internationalisierung und Denationalisierung Chinas in Richtung einer sich zusehends globalisierenden Medienkultur und -ökonomie zu. Zugleich wurde es zum Kommunikator der – postrevolutionären – »vorgestellten« nationalen Gemeinschaft. Letztere hat im Hinblick auf das kulturelle Selbstverständnis innerhalb der dominanten Diskurse die sozialistischen Utopien aus dem China Mao Zedongs inzwischen weitreichend ersetzt. In diesem Sinne verstand und versteht sich auch die Kultur- und Fernsehtheorie in ihren maßgeblichen Diskursen vor allem als Verfechterin einer Harmonisierung dieser scheinbaren Widersprüche und einer kulturellen Neu- resp. Redefinierung Chinas als moderne Medien- und Informationsgesellschaft, die zugleich die hegemonialen politischen Ansprüche bedienen soll. Sie beruft sich außerdem auf ihre Jahrtausende alte kontinuierliche kulturelle Tradition und versteht es, sich auf diese Weise gegenüber den nationalen Auflösungstendenzen zu behaupten. Das Fernsehen tritt in seiner Realität und in seinen Diskursen also sowohl als Medium der Abgrenzung wie auch als ein solches der Integration, als Medium von Unterhaltung wie auch als ein solches der Information und Kommunikation gesellschaftlicher Diskurse, als Medium der kulturellen Erinnerung und Rekonstruktion wie auch als Teil der zukunftsweisenden Ökonomisierung und Materialisierung von Kultur

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VOM EIGENEN UND FREMDEN auf. So hat Wu Jie die Kultur in seiner Systemdialektik beschrieben, und so tritt sie auch in den Globalisierungsprozessen der Konsum- und Medienindustrie auf. Fernsehen wird bei allen diesen Prozessen allerdings kaum mehr als importierte Kulturtechnik mitsamt den ihr eingegebenen dispositiven Eigenschaften, sondern längst als Eigenes wahrgenommen. Als solches ist es zugleich Repräsentant und Motor der gegenwärtigen chinesischen Kultur und Gesellschaft und spiegelt deren Selbstverständnis wie seine Verortung gegenüber seinem realen oder imaginären Anderen besser wider als jedes andere Medium.

Fernsehen und Gesellschaft Das Fernsehen hat sich in den 1980er Jahren binnen kurzer Zeit in den Alltag der urbanen Gesellschaft Chinas eingeschrieben und darin eine prägende Rolle übernommen. Es ist auch im ländlichen China immer mehr zum privilegierten und – anders als in den Städten mit ihren vielfältigen Unterhaltungsangeboten – konkurrenzlosen Medium der Information und Unterhaltung geworden. Seit der Forcierung des Ausbaus der Empfangsfrequenzen und der wirtschaftlichen Öffnung, welche die Empfangsgeräte auf die Märkte in nahezu jedem Dorf getragen hat, läßt sich von einer nahezu flächendeckenden Versorgung Chinas mit Fernsehen sprechen. Bei der noch immer zu großen Teilen illiteraten bäuerlichen Öffentlichkeit, die nach wie vor den größten Bevölkerungsanteil stellt, wurde das Fernsehen aufgrund seines visuellen und vermeintlich realitätsnahen Kodierungssystems und seiner spezifischen Nutzungsdispositivität sehr viel leichter angenommen und in die Tagesabläufe integriert, als es bei den Printmedien und selbst beim Rundfunk mit seinen ausschließlich auditiven Wahrnehmungsmustern der Fall gewesen war. Im ruralen mehr noch als im urbanen China konnte das Fernsehen, nachdem der Zwischenschritt der typographischen Medien und des Kinos sich nur marginal in die kulturelle Wahrnehmung der Menschen dort hat einschreiben kön-

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VERORTUNGEN nen, in gewissem Sinne an die oralen und performativen Traditionen der vormodernen Kultur anknüpfen. Die damit einhergehende Selbstverständlichkeit der Fernsehwahrnehmung führt dazu, daß sich auch die Mehrzahl der marxistisch und national orientierten fernsehtheoretischen Texte in China weniger mit seiner Apparativität und Medialität als vielmehr vor allem mit seiner sozialen Funktion innerhalb der Gesellschaft sowie mit seinen Inhalten und Programmen auseinandersetzt. Die Entwicklung des chinesischen Fernsehens wird im Hinblick auf die bei der hegemonialen Wahrnehmung privilegierte Fragestellung nach der Beziehung zwischen Macht, Fernsehen und Gesellschaft von den Medienhistorikern im Allgemeinen in drei Phasen eingeteilt. Dabei handelt es sich erstens um die »Anfänge« des Fernsehens in China bis zur Einleitung der Reformpolitik nach 1978, welche vor allem durch den technischen Aufbau und die didaktische Funktionalisierung des jungen Mediums bestimmt ist. Ihr folgte zweitens die Phase der »Belebung«, in der seine medialen Eigenschaften entdeckt und seine Vielfalt ausgebaut wurden. Schließlich bezeichnet drittens die »Wendephase« seit 1992 die ökonomische Dezentralisierung und die sich teilweise privatwirtschaftlich entwickelnde Medienlandschaft innerhalb des erst beginnenden kulturellen und sozialen Wandels sowie der Inter- und Transnationalisierung des Fernsehens. Die Anfangsphase des chinesischen Fernsehens war vor allem durch den Wettlauf mit dem chinesischen Konkurrenten Taiwan und der kommunistischen Kontrahentin Sowjetunion um Modernisierung und den prestigeträchtigen Ausbau der medientechnischen Infrastruktur geprägt. Unter diesen Bedingungen konnte sich angesichts der damaligen gesellschaftlichen Bedeutungslosigkeit des Fernsehens sowie der politischen Diktatur aller sozialen, politischen und kulturellen Prozesse allerdings noch kaum eine kritische Theorie herausbilden. Auch eine Institutionalisierung der Forschung, die sich zunächst auf technische Fragen beschränkte, fand nicht statt. Die meisten Texte betrachteten das Medium indes weniger im Hinblick auf seine medialen Eigenschaften oder seinen tatsächlichen Propagandanutzen als vielmehr im

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VOM EIGENEN UND FREMDEN Hinblick auf seine technische Entwicklung und deren nationale wie ideologische Legitimationsrolle im Sinne der Politik des »Großen Sprungs Vorwärts«. Aufzeichnungen zum Fernsehen finden sich bis in die siebziger Jahre hinein in ununterbrochener Tradition von Maos »Yan’an Kulturpolitik«. Sie bewegen sich fast ausschließlich im Rahmen politischer Ankündigungen und Pläne durch die Zentralregierung. 13 Die Theorie stand zugleich, weitab von den Realitäten des Fernsehdispositivs, in der Jahrhunderte alten Tradition des chinesischen Gelehrtenbeamten, der sich ausschließlich als Weiser im Sinne der Diskurse der Macht begreift, die er stützt und auf ihre fortgesetzte Legitimation hin überprüft, anstatt ihnen ein grundlegend neues Modell und damit eine Opposition gegenüberzustellen. Erst ab dem Jahre 1979 fanden sich unter dem Eindruck der allmählich einsetzenden Reformpolitik Deng Xiaoopings mit der Begründung einiger Fernsehzeitschriften wie der »Beijing guangbo xueyuan xuebao« ( Studienzeitschrift der Pekinger Rundfunkakademie, seit 1995 »Xiandai chuanbo« , Moderne Medien), »Dianshi yewu« (Fernsehangelegenheiten, später: »Dianshi yanjiu« , Fernsehforschung) oder »Zhongguo guangbo dianshi xuekan« ( Chinesische Studienschriften für Rundfunk und Fernsehen) erste geeignete Foren für die Etablierung einer chinesischen Fernsehwissenschaft. Hinzu kam die Aufnahme von Fernsehbüchern in die etablierten Verlage und die Neugründung von Fernsehverlagen wie des Chinesischen Fernsehverlags ( Zhongguo dianshi chubanshe) oder des Verlags der Pekinger Rundfunkakademie ( Beijing guangbo xueyuan chubanshe). Deren Diskurse konnten sich von den etablier-

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13 Vgl. ›Mao Zedong tongzhi yu geming zhanzheng niandai de renmin guangbo‹ (Genosse Mao Zedong und der Volksrundfunk in den Zeiten von Revolution und Krieg). In: Zhao Yuming : ZHONGGUO GUANGBO DIANSHI SHI. WENJI (Geschichte des Rundfunks und Fernsehens in China. Materialien). S. 134 – 149.

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VERORTUNGEN ten Forschungsfeldern und damit auch von der Bindung des Fernsehens an das tradierte Spektrum der Medien und Kommunikationsformen loslösen und gelangten allmählich zu einer gewissen Eigenständigkeit. Die systematische Erforschung des Fernsehens in China begann allerdings erst in den 1990er Jahren. Unter dem Eindruck der wirtschaftlichen und kulturellen Öffnung gegenüber der Weltgemeinschaft entstand bezüglich der Medien eine breitere institutionalisierte Wissenschaftslandschaft. Sie ist historisch und kulturhistorisch orientiert und erfaßt auch die sozialen Prozesse von Fernsehen in nationaler und inter- resp. transnationaler Perspektive. Dabei hat auch sie allerdings kaum die – bedeutungsbildende – Apparativität und Medialität ihres Gegenstands ins Blickfeld genommen. So beklagt der zu den bedeutenden Fernsehtheoretikern Chinas zählende Hu Zhifeng zu Recht eine nach wie vor fehlende Unabhängigkeit der wissenschaftlichen Diskurse von der Politik und der Fernsehpraxis. Deren rasche Entwicklungen hätten Maßstäbe gesetzt, denen die Wissenschaft, ohne wegweisende Visionen und antizipierende Erklärungsmodelle, lediglich mühselig hinterherhinken könne.14

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Die chinesische Fernsehforschung setzt sich vor allem unter Berufung auf die marxistisch-maoistische Tradition der Kunst- und Kommunikationswissenschaften im kommunistischen China mit den Auswirkungen ihres Gegenstands auf die Kultur und das Kunst- und Medienspektrum, die Politik, Wirtschaft und Ideologie und vor allem die Gesellschaft und Kultur auseinander, mit deren Prozessen in zahlreichen Schriften eine lebendige Wechselwirkung notiert wird. Hu Zhifeng betont daher die Notwendigkeit einer eigenständigen chinesischen Theoriebildung, welche sich zwar auf westliche Wissenschaftsmodelle berufen könne, dabei aber einen starken Fokus sowohl auf den chinesischen wie auch auf den marxistischen Charakter der Verortung des Fernsehens wie vor allem auf seinen Standpunkt zwischen Tradition und Moderne 14 Hu Zhifeng: Z ständnis von Fernsehen). S. 50f. HONGGUO

DIANSHI

GUANNIAN

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LUN

(Das chinesische Ver-

VOM EIGENEN UND FREMDEN genauso wie zwischen Theorie und Praxis zu legen habe.15 Eine ›chinesische‹ Fernsehwissenschaft hätte demnach die vorrangige Aufgabe, sich aus ihrer Rolle als Chronistin und Deuterin von Ereignissen und Entwicklungen zu befreien, um statt dessen aktiv dazu beizutragen, die Bezüge des importierten Mediums zur vortechnischen Kulturtradition wie auch zu den kulturellen und gesellschaftlichen Prozessen der Modernisierung herzustellen und eine Harmonisierung zwischen dem transnationalen Charakter des Fernsehens und seiner nationalen wie lokalen Verortung zu erreichen.16 Damit gerät die Apparativität und Medialität des Fernsehens erstmals in das Blickfeld seiner Theoretiker. Im Sinne von Marshall McLuhans Beschreibungen von Fernsehen als Erweiterung des Anwendersubjekts, bei der der kanadische Wissenschaftler davon ausgeht, daß die mediale Wirkung ohne unmittelbare Beziehung zu ihren Programminhalten stehe,17 nimmt auch Hu Zhifeng eine bedeutungsbildende Eigenschaft der Apparativität des Fernsehens an. Diese entziehe sich teilweise der Kontrolle durch den Programmgestalter und schreibe sich in die Anordnungen zwischen Produzenten und Rezipienten ein.18 Er führt diesen Gedanken allerdings nicht in Richtung einer weitergehenden Untersuchung der Mensch-Maschine-Beziehung fort. Damit hätte er die Gedanken der Kybernetik, wie sie Norbert Wiener19 für den europäischen Kontext entwickelt und Norbert Bolz20 auf gegenwärtige Bedingungen der Mediengesellschaften angewendet hat, weiterentwickeln und auf das kulturelle Selbstverständnis Chinas anwenden und in diesem Sinne bestätigen oder zugunsten einer Medientheorie verwerfen können, welche die chinesischen Bedingungen ins Blickfeld hätte rücken können. 15 16 17 18 19

Hu Zhifeng. S. 71. Ebd. S. 72f. K . S. 38. Marshall McLuhan: D Hu Zhifeng. S. 99ff. .R N Norbert Wiener: K L M . Reinbek 1968. M . München 1990. 20 Norbert Bolz: T IE MAGISCHEN

YBERNETIK

EBEWESEN UND

ANÄLE

EGELUNG UND

ASCHINE

HEORIE DER NEUEN

EDIEN

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ACHRICHTENÜBERTRAGUNG IN

VERORTUNGEN Statt dessen fallen Hu und die meisten der chinesischen Fernsehtheoretiker unter Berufung auf Wu Jies Modell der Materialität der Denkprozesse von dieser Erkenntnis wieder zurück in das überkommene marxistische Schema. Daraus leiten sie eine Ambivalenz zwischen der Medienapparatur und der Gesellschaft ab, die nicht in der Lage sei, die Maschine vollständig zu kontrollieren. Hu erkennt in der Apparatur die Quelle einer fortwährenden Störung gesellschaftlicher Prozesse. 21 Dies bedeutet, daß sich die Medien – und dabei nähert er sich unbewußt durchaus dem Gedanken der Kybernetik an –, unmerklich und aufgrund ihrer technischen Anordnungen auch bis zu einem gewissen Grade durch die staatlichen Institutionen unkontrollierbar, selbst bedeutungsgebend in die gesellschaftlichen Prozesse einschreiben und diese wie – im schlimmsten Fall – auch deren Machtverhältnisse und Ordnungsbedingungen zu verändern vermögen. Hu schließt daraus in seinem konfuzianisch-marxistischen Kulturverständnis auf eine besondere moralische Verantwortung der Fernsehproduzenten wie auch der Fernsehtheorie. Beide sollen dieser »Störung« mit gesellschaftlichen Mitteln, also mit Möglichkeiten der Programmgestaltung, begegnen. Sie sollen die Störquelle neutralisieren oder gar deren Bedingungen im Sinne des eigenen Ordnungssystems nutzen. So erweist sich auch die Theorie, deren Bestreben vor allem der Harmonisierung zwischen dem Eigenen und dem Anderen sowie zwischen dem jetzt und dem dann und dem hier und dem dort im Fernsehdispositiv gilt, selbst in ihrer Methodik als Schulterschluß zwischen einem traditionell-hegemonialen moralisch argumentierenden konfuzianischen Denken und dem marxistischen Modell einer »Diktatur des Volkes«. Dessen von der Macht konstruierte und kommunizierte Bedürfnisse seien – medial – zu befriedigen. Hu spricht dem Fernsehmedium einen gegenüber der Literatur abgeschwächten Abstraktionsgrad und somit eine in seiner Visualität und Auditivität entsprechend höhere Authentizität zu. Diese präsentiert sich allerdings nicht als Realitätsabbildung sondern 21 Hu Zhifeng. S. 103f.

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VOM EIGENEN UND FREMDEN als ein Diskurs, der im Rezeptionsprozeß des Publikums entsteht und durch den Produzenten in seiner inhaltlichen und formalen Darstellung beeinflußbar ist. In diesem Sinne wird Fernsehen in China nicht als Medium der Mimesis begriffen, sondern als eines der mehr oder weniger bewußten Kommunikation von gesellschaftlicher und moralischer Bedeutung. Daraus ergibt sich eine durch die Ap-parativität eingeschränkte Beeinflußbarkeit des Publikums durch das Fernsehen und seine Programme, woraus Hu um so mehr auf die noch stärkere moralische Verantwortlichkeit des Produzenten und Distribuenten bei der inhaltlichen und formalen Gestaltung der Produkte schließt. In einer Abwandlung von Marshall McLuhans These von den Medien als Erweiterungen von Körper und Sinnen sowie – im Hinblick auf die technischen Medien – als Ausdehnung des Zentralnervensystems 22 , geht Hu Zhifeng von einer Bedeutung des Fernsehens als Erweiterung des gesellschaftlichen Alltags aus. Damit stellt er sich exakt in die konfuzianische und gleichermaßen marxistische chinesische Tradition der Kultur- und Medientheorie sowie deren gemeinsame systemtheoretische Interpretation.23 In der privilegierten Betrachtung der Beziehung zwischen Medien und Gesellschaft tritt die Apparativität der Medien nunmehr als »Störfaktor« einer unbehinderten Vermittlung von Sinn und Bedeutung auf, wie Hu Zhifeng konstatiert: Die Bedeutung des Fernsehens liegt nicht allein in seiner Rolle als Vermittler [von Botschaften vom Sender zum Empfänger] begründet. Vielmehr wirkt das Fernsehen auch durch seine eigene Medialität auf gesellschaftliche Prozesse ein und stellt sich damit selbst apparativ in den Mittelpunkt gesellschaftlicher Prozesse. […] Es ist also festzustellen, daß das Fernsehen nicht ausschließlich ein »kühler« Beobachter gesellschaftlicher Prozesse ist, sondern durch seine Medialität selbst ein Spannungsfeld zwischen positiven und negativen 22 Marshall McLuhan: D 23 Hu Zhifeng. S. 125ff.

IE MAGISCHEN

K

ANÄLE

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. a.a.O.

VERORTUNGEN Entwicklungen der Gesellschaft aufbaut. Die Medialität des Fernsehens beinhaltet also immer zugleich das Risiko, sich als apparativer Störfaktor auf die gesellschaftlichen Prozesse auszuwirken. Dabei haben die Programmacher allerdings ihrerseits die Möglichkeit, das Fernsehen [durch die Programmgestaltung] positiv im Sinne der Gesellschaft einzusetzen. Die Verantwortung liegt also einzig und allein bei den Fernsehmachern.24 Diese mediale Verortung des Fernsehens schafft die Voraussetzungen für den Anspruch, den Hu Zhifeng und die dominanten Diskurse der chinesischen Medientheorie gegenüber dem Fernsehen und seinen Produzenten erheben. Er besteht im Sinne einer sozial argumentierenden marxistischen Kunstund Medientheorie in erster Linie in deren sozial-ideologischer (resp. moralischer) Verantwortung gegenüber dem Publikum. Der Zuschauer, der durch die Dispositive des Mediums als Konsument mit eingeschränkten, aber durchaus vorhandenen Möglichkeiten der interaktiven Mitgestaltung bei der medialen Bedeutungsproduktion positioniert ist, soll, wie Hu ausführt, von den Programmanbietern an die Hand genommen werden. 25 Damit soll er als Individuum, als das der Fernsehkonsument gegenüber dem Kino in verstärktem Maße auftritt, geradehin zum Mitglied der medial kommunizierten »vorgestellten« Gemeinschaft werden. Das Fernsehen wird in diesem Sinne von der chinesischen Medientheorie aus der ihm apparativ eingegeben Funktion als Medium der Privatisierung öffentlicher Diskurse herausgelöst. Seine starke Subjektzentrierung auf den individualisierten Zuschauer, welche die Rolle des Nutzungsverhaltens und Rezeptionsprozesses des eigenverantwortlichen Nutzers in den Vordergrund hebt, soll auf die Funktion eines mehr oder weniger einseitig kommunizierenden »Instrumentes« in Händen der Macht zurückgeführt werden. Somit hat das Fernsehen unter Aufsicht der nationalen Diskurse und der zentralisierten Kulturpolitik Chinas und entgegen der von 24 Hu Zhifeng. S. 103 (Übersetzung S. Kramer). 25 Ebd. S. 121f.

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VOM EIGENEN UND FREMDEN dieser propagierten, als Gegendiskurs von unten auftretenden, »Volkskultur« ( Renmin wenhua) in Wirklichkeit längst die Repräsentations- und Vermarktungsmittel sowie den Status eines Mediums der hegemonialen nationalen »Massenkultur« (Dazhong wenhua ) angeeignet, gegen dessen – transnationale – Vorherrschaft es eigentlich als Widerstandsdiskurs antreten wollte. Die Vorteile des Fernsehens für die Konstitution der nationalen Macht in China indes erkennt der Pekinger Medienhistoriker Chen Zhiang in seiner umfassenden Abhandlung über das chinesische Fernsehen vor allem im Hinblick auf die Geschwindigkeit und Unmittelbarkeit des medialen Zugriffs durch die Fernsehmacher auf gesellschaftliche Prozesse. Das vor allem habe dieses Medium dem schwerfälligen Kinofilm durch seine kurzen Produktionsphasen von Fernsehfilmen und -serien, aber auch bei Nachrichtensendungen und Liveübertragungen voraus. 26 Zudem betont er die Fähigkeit des Fernsehens, Mischgattungen im Sinne fiktionaler und nicht-fiktionaler Formate oder der Verbindung von Livesendungen und historischem Material zu produzieren und dadurch seine inhärente Multimedialität herauszustellen, welche es allen anderen Medien voraushabe. Dazu kämen seine vielfältigen Kommunikationsstrukturen, die es über den Kinofilm hinaushöben und ihm die Rolle eines Instrumentes der Metakommunikation chinesischer Kultur und Information einbrächten.27 Wenn Chen darüber hinaus auch die schnellen Distributionswege des Fernsehens hervorhebt, welche eine unmittelbare und scheinbar authentische, dabei mehr oder weniger ungestörte, wenn auch einseitige Kommunikation zwischen der Macht und ihren Empfängern, dem Volk, ermögliche, dann läßt sich darin nicht nur die kommunistische Tradition erkennen. Vielmehr findet darin durchaus auch das vormoderne chinesische Kulturverständnis von den funktio-

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26 Chen Zhiang :Z (Historische Abhandlung über die chinesische Fernsehkunst). Peking 2000, Bd. 1, S. 4ff. 27 Ebd. S. 180ff.

HONGGUO DIANSHI YISHU TONGSHI

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VERORTUNGEN



nierenden Wegen ( dao) als Grundlage jeglicher Ordnung und Einheit seinen Widerklang. Die Fernsehtheorie verlegt die Verantwortung für die Überwindung des apparativen Störfaktors gänzlich in die Hände des Produzenten und versteht sich in diesem Sinne selbst vor allem als dessen Weisungsgeberin. Das Kino hatte die Menschen noch in kollektiv erlebte Massenveranstaltungen mit enorm emotional bindendem Charakter gezwungen, welche im China Mao Zedongs zu integralen Bestandteilen der Arbeits- und Freizeitabläufe erklärt wurden. Das Fernsehdispositiv dagegen leistet einer Individualisierung der Gesellschaft Vorschub. Es hat im Hinblick auf die scheinbare Authentizität des medialen Erlebens und angesichts seiner in der chinesischen Mediengeschichte beispiellosen Aktualität und Gleichzeitigkeit wie auch inhaltlichen und formalen Übereinstimmung der kollektiven Weltwahrnehmung völlig neue Formen von Gemeinschaft und Öffentlichkeit hervorgebracht. Damit wiederum haben sich auch ganz neue Möglichkeiten einer hegemonialen »nationalen« Identitätskonstruktion ergeben, die ihre Widerstandsdiskurse allerdings immer im gleichen Zuge mit hervorgebracht hat. Insbesondere deren Risiken hebt Chen Zhiang hervor, wenn er in seiner Arbeit einen Rundumschlag gegen alle nicht-konformen und oppositionellen sowie Hongkonger, taiwanesischen und westlichen Programme führt, die sich nicht dem nationalen Projekt Chinas verschrieben haben. Mit besonderem Augenmerk auf die 1988 gesendete kulturkritische Fernsehdokumentation HESHANG (Flußelegie) und alle »schlechten« ausländischen Programme, welche deren »konterrevolutionären Charakter« und ihren Geist der »Beschmutzung der chinesischen Kultur und Geschichte« beeinflußt hätten, brandmarkt er diese nach dem überkommenen Freund-Feind-Schema der maoistischen Ideologie und unter Rückgriff auf die Kriegsrhetorik der fünfziger Jahre als »kapitalistisch«, »imperialistisch«, »dekadent« oder »konterrevolutionär«. Auf der anderen Seite plädiert er für ein nationales sozialistisches Fernsehen frei von jeglichem schädlichen Einfluß, worunter Chen



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VOM EIGENEN UND FREMDEN alle auch nur marginal vom Regierungsprogramm abweichenden Diskurse rechnet.28 Sowohl der gemäßigt politisch argumentierende Hu Zhifeng, der die dispositiven Eigenschaften des Fernsehens durchaus im Auge behält, wie auch der die Medien ausschließlich ideologisch auslegende und unter didaktischen Gesichtspunkten verortende Chen Zhiang nehmen einen ständigen wechselseitigen Dialog zwischen dem Fernsehen in Gestalt seiner Produzenten und Programmgestalter und der konsumierenden und dabei als Weisungsempfänger auftretenden Gesellschaft als Voraussetzung ihrer Theorien an. Beide Modelle kommen auf dieser Grundlage zurück auf die programmatischen Fragen nach dem Inhalt und der Form des Mediums und seiner Programme. Deren Harmonisierung untereinander wie auch gegenüber dem Staat (resp. der Regierungspolitik) und dem Publikum (resp. dem Volk) läßt sich bei beiden als wichtigstes Ziel des Fernsehens erkennen. Indem sie die Medialität ihres Betrachtungsobjekts zwar nicht gänzlich übersieht, sie aber als zu überwindenden Störfaktor betrachtet, bewegt sich die Fernsehtheorie nach wie vor überwiegend innerhalb des bereits in Maos Yan’an Reden29 vorgegebenen Rahmens eines didaktischen Medien- und Kulturverständnisses. Sie orientiert sich am linearen Sender– Medium–Empfänger-Modell der frühen Filmsemiotik und legt dieses in einem sinifiziert marxistischen Sinne aus, um das Fernsehen als verantwortlichen Kommunikator von Bedeutung, Wissen und Ordnung herauszustellen.30 Chen Zhiang leitet aus dieser Konstellation eine ausschließlich programmatische Fernsehtheorie ab, die sich wie auch das Objekt ihrer Wissenschaft quasi als verlängerte Arme der Regierung begreift, um das Fernsehen auf seine rein didaktische Funktion zu reduzieren. Vor diesem Hintergrund verlagert der liberalere Hu Zhifeng den Schwerpunkt seiner Be28 Chen Zhiang. Bd. 1, S. 157 – 167. 29 Vgl. Bonnie S. McDougall : MAO ZEDONG’S TALKS AT THE YAN’AN CONFERENCE ON LITERATURE AND ARTS. Ann Arbor, Mich. 1980. 30 Vgl. Umberto Eco: EINFÜHRUNG IN DIE SEMIOTIK. München 1972.

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VERORTUNGEN trachtung im Hinblick auf die vorausgesetzte Verantwortung des Fernsehschaffenden gegenüber seinem Publikum von der Beziehung zwischen Medium und Gesellschaft zurück auf die Programme des Mediums. Er fragt vor allem nach Möglichkeiten einer Harmonisierung von Ästhetik und Narrativität, Bild und Erzählung im Sinne einer optimalen, allerdings auch mediengerechten Umsetzung der hegemonialen Diskurse. Durch die Harmonisierung von Form und Inhalt des Fernsehens soll demnach in einem nächsten Schritt eine ebensolche zwischen dem Fernsehen und seinem Publikum erreicht werden. Dabei sollen die visuellen, mimetischen Eigenheiten des Mediums und seine dispositiven Eigenschaften wie vor allem sein privater Nutzungscharakter, anstatt diese zum soziopolitischen Risiko einer Aufweichung der kommunizierten Gemeinschaft geraten zu lassen, vielmehr zum Nutzen für die (hegemonialen Diskurse der) Gemeinschaft eingesetzt werden. Ihr gegenüber ist der Fernsehschaffende verpflichtet. Die dringlichste Aufgabe des Produzenten von Fernsehprogrammen besteht demnach bezeichnenderweise nicht in der effektiven Nutzung, sondern in der Überwindung des Fernsehens als Apparatur mit Hilfe seiner Apparativität und in seiner Rückführung auf seine ursprünglich erdachte Bedeutung als »neutrales« Instrument in den Händen der Schöpfer seiner Programme. Die chinesische Fernsehwissenschaft versteht sich nicht vor allem als Analystin der Apparate und Dispositive der Medien. Vielmehr begreift sie sich als Instrument der Verlautbarung von Regierungsdiskursen und als Chronistin der Entwicklungen. Sie versucht zudem über eine Einschätzung der Beziehungen zwischen den Medien, der Politik, der Gesellschaft und der Ökonomie zu inhaltlichen Aussagen über die Gestaltung von Form und Ästhetik der Medienprogramme zu gelangen. Auf dieser Ebene findet auch die für die eigene kulturelle Verortung unabdingbare Standortbestimmung des Fernsehens zwischen seiner – »westlichen« und von daher nicht weiter betrachteten – Apparativität und deren kulturellen Vereinnahmungsstrategien durch chinesische Produzenten und Zuschauer statt. Medienwissenschaft bewegt sich demnach bei Hu Zhifeng überwiegend im Rahmen einer di-

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VOM EIGENEN UND FREMDEN daktischen Sozialmedienwissenschaft. Als solche hat sie sich bereits in ihrer kollektivistisch orientierten Umdeutung von McLuhans Verständnis vom Fernsehen als Erweiterung der Sinne zu einer Erweiterung der Gesellschaft in der chinesischen Interpretation einer marxistischen Kunst- und Kommunikationstheorie angedeutet. Sie setzt sich mit dem Publikum nur im Hinblick auf seine kollektive Empfängersituation auseinander und verlagert die Bedeutungsproduktion wie auch die moralische Verantwortung ausschließlich auf den Sender, seine Programmgestalter. Der Zuschauer wird zwar als gleichwertiger Mitspieler ( Pingminhua)31 betrachtet. Tatsächlich gilt er jedoch, indem er ausschließlich als Teil einer homogenen Masse angenommen wird, welche die hegemonial konstruierte Gesellschaft ausmachen soll, nach wie vor nicht als Gestalter sondern vor allem als Objekt der medialen Bedeutungsproduktion. Er erhält seine Funktion ausschließlich in dieser letzten Endes immer passiven Rolle. Die Gestalter von Fernsehprogrammen in China haben nach Chen Zhiang oder Hu Zhifeng die vorrangige Aufgabe, die Veränderungen von Gesellschaft, Wirtschaft und Politik aktiv zu begleiten und deren dominanten Diskurse unter Berücksichtigung von »Geschmack, Bedürfnissen, Lebensorientierung und Alltagsvorstellungen des Publikums« an dieses zu vermitteln.32 Konkret bedeutet das bei beiden vor allem die metaphorisch kodierte und kontextualisierte Vermittlung von Regierungsdirektiven an ein Publikum, das im gleichen Zuge unter weitgehender Mißachtung seiner tatsächlichen Rezeptionssituation und dispositiven Verortung von den Medien homogenisiert und zu einem idealen Betrachtersubjekt im Sinne einer Identität der konnotierten mit der denotierten Bedeutung medialer Diskurse erzogen werden soll. Anders also als der empirische Zuschauer als letzte und höchste Autorität der Bedeutungsproduktion im Kulturkreislauf Stuart Halls33, der auf Grundlage der Wahrnehmung der In-

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31 Hu Zhifeng. S. 25ff. 32 Ebd. S. 29f. 33 Stuart Hall: ›Encoding/Decoding‹. a.a.O.

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VERORTUNGEN halte und Dispositive des Fernsehens, innerhalb derer er sich verortet, aber auch seiner kulturellen Prägung und Lebenssituation seine eigenen Diskurse errichtet, wird der Zuschauer in den beherrschenden Diskursen der chinesischen Medienund Fernsehtheorie als Konstrukt und Erzeugnis des Produzenten begriffen. Als solches wird er innerhalb eines Systems der Kommunikation dominanter Diskurse sowie des gesellschaftlichen Metasystems verortet, über das sich eine chinesische Kultur definiert und innerhalb dessen auch die Medien- und Fernsehtheorie ihren festen Platz einnehmen. Im hegemonialen Verständnis der Medien Chinas wird der Zuschauer auch im beginnenden 21. Jahrhundert als Subjekt und Individuum kaum wahrgenommen. Dies wirkt sich angesichts der Größe Chinas und seiner kulturellen wie auch sprachlichen Heterogenität und angesichts der gänzlich unterschiedlichen natürlichen und strukturellen Bedingungen in seinen Teilen dort noch einschneidender aus als in Staaten kleineren Ausmaßes und mit einer homogeneren Bevölkerungsstruktur. Statt dessen bekommt der Zuschauer von der Fernsehtheorie und -politik die starre, von ihm selbst nicht beeinflußbare Funktion als Teil der medialen Textstrategien zugewiesen – dies freilich, ohne diese Rolle auch wirklich anzunehmen. Der Versuch der Erzeugung eines idealen Betrachtersubjekts wiederum setzt die Existenz eines idealen Autorensubjekts voraus, das selbst zum verlängerten Arm der Macht und gleichzeitig der Gesellschaft wird, zu deren alleinigem Vertreter sich die oftmals kaum noch voneinander abkoppelbaren Institutionen von Partei und Regierung ernannt haben. Der theoretischen Konstruktion eines in diesem Rahmen zu verstehenden idealen Autorensubjekts, die zugleich als Handlungsanweisung an die Programmschaffenden zu verstehen ist, widmet sich die chinesische Fernsehwissenschaft inzwischen vorrangig. Dabei geht sie im Hinblick auf die Apparate von Produktion und Distribution von fixen Systemparametern aus und betrachtet die Rezeption als einzigen beweglichen, daher durch die Programmacher steuerbaren Teil des Systems der gesellschaftlichen Metakommunikation Chinas. Die Aufmerksamkeit der chinesischen Medien- und Fern-

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VOM EIGENEN UND FREMDEN sehtheorie nach der Entdeckung der Attraktion der Medienapparatur und der verstärkten Bestrebung um die Befreiung der technischen Medien von ihren Bezugsgrößen in Literatur und Bühnendrama seit Mitte der neunziger Jahren wieder deutlich von der Medialität des Fernsehens fort. Sie verweigert sich in letzter Konsequenz auch einer tatsächlichen Analyse der medialen Anordnungen, also der realen und möglichen Beziehungen zwischen Medienapparatur, Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und dem einzelnen Zuschauer sowie dem Hintergrund seiner sozialen und kulturellen Prägung, welche dieser mit in seine Bedeutungsproduktion im Rezeptionsprozeß einbringt. Dies bedeutet die theoretische Konstruktion und Legitimation einer chinesischen Medienkultur, die sich weniger über ihre Medialität als vielmehr nahezu ausschließlich über ihre Programminhalte definiert, welche innerhalb dieses Prozesses zu Steuerungsinstrumenten der Rezeption werden sollen. Dabei spielt weder die Disposivität des Mediums noch auch nur der empirische, also eigene Perspektiven hervorbringende Zuschauer eine Rolle, wenn es der Fernsehtheorie statt dessen in erster Linie um die Konstruktion eines idealen Betrachtersubjekts, sowie damit zwangsläufig auch eines idealen Autorensubjekts geht. In dieser Hinsicht haben sich Kulturpolitik und Kulturtheorie seit den »Yan’an-Reden« Mao Zedongs im Jahre 1942 kaum weiterentwickelt. Die Theorie des Fernsehens in China befindet sich auch im beginnenden 21. Jahrhundert nach wie vor in der Tradition der »Yan’an-Reden«, aber auch in der konfuzianischen Annahme eines unfehlbaren Herrschers. Sie findet ihre Aufgabe weder in der analytischen Rezeption der Medien, ihrer Programme und Wirkungen, noch in einer kritischen Bewertung und Antizipation von medialen und gesellschaftlichen Prozessen. Vielmehr hat sie vor allem die hegemoniale Funktion, politische Handlungsanleitungen auf ihren Gegenstand zu beziehen und an die Programmgestalter weiterzureichen, um diesen wiederum die notwendigen Mittel zur Erzeugung eines idealen Publikums an die Hand zu geben. Auf dieser Ebene gerät die Theorie selbst zum Medium innerhalb eines

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VERORTUNGEN nach wie vor weitgehend einseitig linearen Kommunikationsprozesses der Vermittlung einer hegemonialen und stets monosemischen Bedeutung an ein Publikum, das im selben Zuge zu Homogenität im Sinne der offiziellen öffentlichen Diskurse zu erziehen ist. Den Medien und ihren Theoretikern fallen mit dieser politischen Funktionalisierung eine Vermittlerrolle zwischen Entscheidungsträgern und Entscheidungsempfängern und gleichzeitig die schwierige Aufgabe einer Interessenharmonisierung zwischen den verschiedenen Einflußebenen der Fernsehproduktion und -distribution zu. Hu Zhifeng zählt dabei – unter weitgehender Auslassung des Publikums – als maßgebliche Interessenverbände im Hinblick auf das Fernsehen Wirtschaft, Politik, Kultur und Gesellschaft auf und nennt zudem die Faktoren Technik, Ethik und Recht als Parameter einer angewandten Fernsehforschung.34 Eine Harmonisierung dieser teilweise äußerst konträren Interessenlage sieht der Pekinger Medienwissenschaftler fast ausschließlich in den Programminhalten. Ihnen gilt somit seine maßgebliche Aufmerksamkeit. Bei der Verlegung ihrer Forschungsschwerpunkte auf die Programminhalte des Fernsehens, von deren Mikroperspektive sie wiederum zurück auf die Makrostrukturen schaut und die notwendigen Verknüpfungen mit den unterschiedlichsten Parametern medienwissenschaftlicher Relevanz, also auch der Kultur, Politik, Technik und Dispositivität von Fernsehen und Gesellschaft herstellt, beruft sich die chinesische Fernsehtheorie vor allem auf Wu Jies Modell der Systemdialektik. Wu Jie hatte in seinen systemtheoretisch-marxistischen ordnungspolitischen Überlegungen und vor allem in seinen daraus abgeleiteten Raum-Zeit-Konstellationen gleichzeitig die notwendigen Voraussetzungen für den medientheoretischen Schulterschluß zwischen den didaktischen Ansprüchen der Politik an das Fernsehen und dessen technischen und ökonomischen Arrangements mitsamt ihren Auswirkungen auf Staat und Gesellschaft und nicht zuletzt zwischen der geis-

34 Hu Zhifeng. S. 61f.

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VOM EIGENEN UND FREMDEN tesgeschichtlichen Tradition Chinas und der importierten technischen Moderne geschaffen. So wie Wu Jie die Prozesse der chinesischen Gesellschaft und Kultur in ihren Beziehungen untereinander als dialektisches System begreift, innerhalb dessen auch dem Fernsehen ein fester Platz zukommt, läßt sich auch das Fernsehen selbst in seinen Mikroprozessen, welche vor allem die Programme und deren Inhalte zeichnen, als ein in sich abgeschlossenes und doch in die gesellschaftlichen Makroprozesse eingebundenes System begreifen. Es tauscht sich auf der einen Seite – dialektisch – mit dem makrokosmischen System der Gesellschaft und Kultur aus, ist auf der anderen Seite aber auch durch feste inhärente Zuordnungen gekennzeichnet. Die konstruktivistische Ausrichtung einer systemtheoretischen Medien- und Literaturwissenschaft, die unter Bezugnahme auf die Systemtheorie Niklas Luhmanns etwa von vollständig geschlossenen Kommunikationssystemen ausgeht, stützt ihre Interpretationspraxis weniger auf soziale als vielmehr auf symbolische Systeme. 35 Dagegen begreift die chinesische Theorie einer marxistisch orientierten, sinifizierten Systemdialektik die Medien wie deren Programme und nicht zuletzt auch das Publikum und die Kritik und Theorie allesamt als Teile eines gesamtgesellschaftlichen Systems, das durchaus an konfuzianische Gesellschaftsstrukturen erinnert.36 Damit knüpft sie zwar vordergründig an das Modell einer polykontexturalen Medienwissenschaft an, wie es Gerhard Plumpe und Niels Werber unter Verweis auf Luhmann für die deutschen Literaturwissenschaften haben etablieren können. 37 Die chinesische Systemtheorie unterscheidet sich 35 Vgl. Niklas Luhmann: ›Was ist Kommunikation?‹ In: »Information Philosophie«. Heidelberg 3/1987. Vgl. außerdem: ders.: D K G . Frankfurt a. M. 1995. 36 Vgl. auch Oliver Jahraus und Benjamin Marius Schmidt: ›Systemtheorie und Literatur. Teil III. Modelle Systemtheoretischer Literaturwissenschaft in den 1990ern.‹ In: »Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur«. 23.1.1998, S. 66 – 111. L 37 Vgl. Gerhard Plumpe und Niels Werber: B .A L . Opladen 1995. IE

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VERORTUNGEN von diesem Modell, das von einem auf alle sich in ihrer Umwelt befindlichen Systeme reagierenden Sozialsystem Literatur ausgeht, ganz entschieden dadurch, daß sie sich gerade nicht außerhalb der Umwelt verortet und somit auch nicht einseitig reflexiv auf sie reagiert. Vielmehr sind die Medien und die Theorie im chinesischen Systemdenken selbst unabdingbare Teil des jeweils anderen wie auch ihrer Umwelt. Auf diese reagieren sie also nicht mehr flexibel, wie es das Systemdenken eigentlich zwingend vorsieht, sondern nehmen in ihr ihre feste Position ein, aus der heraus sie an den Kommunikationsprozessen teilhaben. Ein kausaler Austausch zwischen Medien, Medientheorie und Umwelt, unter der in der marxistischen Variante des chinesischen Systembegriffs vor allem die Gesellschaft zu verstehen ist, findet somit zwar in beiden Richtungen statt. Er bewegt sich jedoch innerhalb des geschlossenen Kreises eines gesamtchinesischen Makrosystems und macht damit eine Außenperspektive, die jeder kritischen Reflexion zugrunde liegen müßte, von vorne herein unmöglich. Auf diese Weise wird die Zwischenstellung der chinesischen Fernsehtheorie zwischen der marxistischen Wissenschaft und der Vorstellung einer eigenen Kulturtradition evident. Sie veräußert sich im Hinblick auf die Verfestigung bestehender Machtverhältnisse vor allem als selbstlegitimierende Kommunikationseinheit. Dabei wird sie vor allem auf das soziale, streng hierarchisch in Beziehungen von Loyalität bzw. Pietät ( Xiao) und Güte ( Ren) eingeteilte Beziehungsgefüge des Konfuzianismus und diesem nahestehender Schulen und die Festschreibung der Dominanzverhältnisse innerhalb ihres Systems reduziert, welche zugleich die Kommunikationsstrukturen definieren. Konfuzianische Klassiker wie Zeng Shens (505 – 436 v.Chr.) XIAOJING (Klassiker der Kindesehrfurcht) haben wie der in der Nähe zum Konfuzianismus seiner Zeit angesiedelte Philosoph Mozi (480? – 390? v.Chr.) in seinem Text JIAN’AI (Gegenseitige Liebe) 38 die Gesellschaft als ein auf moralethischen

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ANORDNUNGEN vor gegenüber den übermächtigen Diskursen des Nationalen zu verorten, die sich allerdings selbst vor allem als solche des Widerstands gegen die Partikularisierung durch das – neokolonialistisch auftretende – Globale begreifen. Bei allen diesen Prozessen steht immer auch die Frage nach der Konstruktion und Wahrnehmung des Eigenen und des Anderen im Vordergrund. Die hegemonalen nationalen Diskurse im Reich der Mitte erheben ihrerseits Anspruch auf eine ausschließliche Gültigkeit ihrer Konstruktion der nationalen Differenzen und innerstaatlichen Identität. Sie gehen unter Bezugnahme auf Wu Jies Systemdialektik von einer globalen Gemeinschaft sich materiell definierender nationaler Einheiten aus, welche medial miteinander kommunizieren. Globale und lokale Diskurse werden, wie die Texte der maßgeblichen Fernsehtheoretiker Chinas gezeigt haben, in diesem Verständnis zwar als ökonomische Notwendigkeit erkannt. Dabei gelten sie aber zugleich als machtpolitische und kulturelle Gefahr. Als solche sollen sie, wenn sie im Hinblick auf die wirtschaftliche Entwicklung und soziale Stabilität schon nicht ausgeschaltet werden können, so doch zumindest durch regulative Maßnahmen unter zentraler Kontrolle gehalten werden. Die zentralistische chinesische Medienkultur stellt mehr als alle anderen gesellschaftlichen Bereiche eine Verbindung zwischen den Feldern von Kultur, Gesellschaft und Ökonomie her. Sie etabliert im Hinblick auf ihre politischen Zielsetzungen eine imaginäre Einheit zwischen der sozialistischen Ideologie und dem ungebremsten Fortschrittsglauben der wirtschaftlich-technischen Entwicklung. Dabei wird in der chinesischen Übersetzung des importierten Sozialismus-Modells auch wieder der ursprüngliche kulturkonstitutive chinesische Gedanke der begehbaren Wege (und Kommunikationsstrukturen) als Grundlage jeglicher Ordnung transparent. Dieser hat seit jeher eine unabdingbare Pragmatik und Diskursivität in alle Entscheidungsprozesse und Repräsentationen eingeschrieben und somit die mit dem Fremden nach China gelangte Dogmatik von Modellen allenfalls zur Grundlage des Diskurses, niemals aber zum Diskurs selbst bestimmt. So hat die Ideologie des Sozialismus in ihrer

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VOM EIGENEN UND FREMDEN chinesischen Übersetzung zwar die Reproduktion des Anderen in die multiperspektivischen Diskurse des Eigenen eingeschrieben. Sie ist aber in ihrem Totalismus, wie er etwa in der Kulturrevolution angestrebt wurde, tatsächlich niemals mehr als nur eine Utopie geblieben. Innerhalb postkolonialer Prozesse ist sie als Antwort auf das Fremde zu verstehen, dessen Sprache dem Eigenen hegemonial seine Modellhaftigkeit aufgezwungen hat. Es bedarf der europäischen Fremdperspektive, welche die chinesische Übersetzung des Sozialismus in die eigenen Kontexte rücküberträgt, um eine Widersprüchlichkeit zwischen dem Modell und Deng Xiaopings prägenden Sinnspruch zu entdecken, daß die Farbe der Katze unerheblich sei, wenn sie nur Mäuse fängt, also ihre gesellschaftliche Aufgabe zufriedenstellend erfüllt. Mit ihm knüpfte Deng zu Beginn der achtziger Jahre in derselben metaphorischen Form, welche die kulturellen Repräsentationen aller Dynastien in der chinesischen Geschichte geprägt hatte und auch im Postkolonialismus nur vordergründig durch die Mythen der Nation ersetzt worden war, an die lyrische Diskursivität und Pragmatik des traditionellen Ordnungsverständnisses an. Dieses hatte ja gerade keinen Modellcharakter. Vielmehr war es situativ, also im Moment verortet. Deng übertrug diese Form der kulturellen Wahrnehmung auf die Bedingungen eines quasi post-postkolonialen Selbstverständnisses. Dieses beginnt sich zwar allmählich von seiner antikolonialen Motivation zu verabschieden. Das dabei entstehende Vakuum in der Legitimation der sozialistischen Macht versucht es allerdings gleichzeitig mit seinem hybriden Konstrukt aus einem traditionellen, auf Moral und Einheit beruhenden, zyklisch angeordneten Universalismus, einem sich im Gegensatz zu diesem auf Differenz begründenden Nationengedanken, einem machterhaltenden sozialistischen Zentralismus und nicht zuletzt dem ökonomisch orientierten linearen Fortschrittsgedanken aufzufüllen. Paradoxerweise wird letzterer nicht nur von fremden Kritikern wie Samuel Huntington oder Francis Fukuyama, sondern auch in den chinesischen Diskursen selbst, so etwa bei Du Weiming, unter dem Begriff des »konfuzianischen Modells« geführt, was auch immer darunter zu

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ANORDNUNGEN verstehen ist. Er soll China als asiatische und gleichzeitig globale Führungsmacht in die Zukunft führen. Bei aller vordergründigen Widersprüchlichkeit entspricht dieses komplexe Gebilde des gegenwärtigen hegemonialen chinesischen Selbstverständnisses und Ordnungsgedankens exakt jenem zentral propagierten »Sozialismus mit chinesischen Charakteristika« ( Zhongguo tese de shehuizhuyi). Es bedient sich sowohl der Kommunikationsmittel einer vorkolonialen Tradition wie auch einer importierten Industrietechnik. Zwischen diesen hat es in gewissem Sinne eine Intermedialität der Repräsentationsformen im Hinblick auf den gesellschaftlich-politischen Metadiskurs errichtet. Auf der anderen Seite benötigen dieselben Diskurse der Nation dazu allerdings auch die Multiperspektivität vormoderner chinesischer Diskurse des Eigenen, welche integrativ angelegt, d.h. jeweils in der Lage sind, das Fremde, über das sie sich kommunizieren, anzueignen. Dabei verstehen sie das Eigene nach wie vor nicht als fixe Position sondern als ständige Bewegung. Sie sind also nicht dazu gezwungen, sich unter Ausschluß des Anderen auf eine der in ihren Diskursen selbst als nationale Differenz errichteten Verständnisformen einzulassen. Das Fernsehen erweist sich also als geeignetes Medium, die Wahrnehmung eines importierten linearen Entwicklungsmodells auf seinem Bildschirm in ein Wahrnehmungsmodell zu expedieren, das auch wieder Elemente eines vormodernen chinesischen Denkens und Kommunikationsverständnisses einschließt. Dieses vermag zwar die fremde Technik und die importierten Dispositionen anzueignen. Es ist aber selbst nicht linear und zielgerichtet, sondern zyklisch und zugleich situativ angeordnet. Es veräußert sich jeweils im hier und jetzt seiner Wahrnehmung, nicht aber in der Vergangenheit oder gar Zukunft seines Signifikats, zu dem es eine ›nur‹ metaphorische, nicht aber eine mimetische oder allegorische Beziehung unterhält, wie es die Dispositive des Fernsehens eigentlich vorsehen. Die hegemonialen chinesischen Diskurse des Eigenen sowie deren Anwendung auf die Medienpolitik und die Programme, Gestaltungen und Kontextualisierungen des »nationalen«

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VOM EIGENEN UND FREMDEN Fernsehens werden auch im Hinblick auf die »postsozialistische« Motivation transparent, die sich gleichermaßen auf einen modernen Nationalgedanken wie auf eine postmoderne Inter- und Transnationalisierung der Ökonomie beruft. In der Herleitung ihrer Legitimation, aber auch in ihren Aneignungs- und Wahrnehmungsstrukturen rekurrieren sie zugleich auf vormoderne Elemente des Eigenen bzw. auf deren Übersetzung in die Gegenwart. Der bei diesen wechselseitigen Prozessen der Konstitution eigener und fremder Räume entstehende Ort hat im spezifischen Fall des sich von Beginn an multiperspektivisch und dynamisch begreifenden China ein sich gerade in der ständigen Bewegung fixierendes Eigenes hervorgebracht, welches das Fremde problemlos anzueignen und zu assimilieren vermag. Indem die Medienindustrie im Hinblick auf globale Märkte eine Transkulturalisierung und weltweite Homogenisierung der Kultur anstrebt, propagiert und erzeugt sie in ihren lokalen Produkten und Bedeutungen – quasi als Abfallprodukt ihrer Universalisierungsstrategien – eine sich ständig verschiebende, immer wieder auflösende und neu strukturierende Welt der Differenzen. Damit generiert sie das Wechselspiel, welches in seiner ständigen zyklischen Bewegtheit an vormoderne chinesische Muster anzuknüpfen vermag, ohne dabei seine modernistischen Tendenzen verleugnen zu müssen. Die nationalen Mediendiskurse verstehen sich bei allen diesen Entwicklungen zugleich als Widerstand gegen die kulturellen Folgen der Globalisierung und die machtbedrohlichen Einflüsse transnationaler NGO’s und weltumspannender Konzerne wie auch der mit den erleichterten Kommunikationstechniken wiedererstarkten lokalen Bewegungen. Insbesondere letztere haben in China an der Seite des zentralen Staatsfernsehens und der in dessen Einflußbereich stehenden Provinzsender in Form zahlreicher lokaler Sendeanstalten bis hin zu Stadtteilsendern und den im wachsenden Kabelnetz zunehmenden Spartenkanälen ein eigenes Gegengewicht gegen die Tendenzen von Nationalismus und Transnationalismus errichtet. Sie orientieren sich im Rahmen der ihnen gegebenen Freiheiten, aber auch in den Zwischentexten ihrer Programme, sehr viel mehr als ihre Mit- und Ge-

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ANORDNUNGEN genspieler an ihren aktiven Publika und haben sich daher mit ihren lokalen Informationen, Nachrichten und Unterhaltungsprogrammen ein wachsendes Publikum sichern können. Die audiovisuellen Apparate der Konstruktion und Kommunikation transnationaler Bedeutung haben bislang durchaus nicht ausschließlich die von Terry Eagleton konstatierte postmoderne Gleichförmigkeit heraufbeschworen. Vielmehr haben sie dazu beigetragen, der Kultur und den Kulturen Chinas, die zudem weitgehend frei waren von den in Europa entwicklungshemmend wirksamen Mythen einer hegemonialen Lesekultur,40 zu einer – lokalen – Vielfalt der Bedeutungen und Repräsentationssysteme zurückzuverhelfen. Demzufolge präsentieren sich die nationale Medienpolitik und das – nun selbst in eine Widerstandsposition gedrängte – zentralistische Fernsehen vor allem in einer Verteidigerrolle gegen die vermeintlichen Eindringlinge des medientechnischen Neokolonialismus. Diese haben Zhong Danian , Guo Zhenzhi und Wang Jiyan in ihrer Studie zur Inter- und Transkulturalität von Rundfunk und Fernsehen formuliert. 41 Sie ist zugleich zur Grundlage für zahlreiche weitere Untersuchungen aus der jüngsten Zeit geworden. Wie etwa die jüngsten Texte von Liu Jinan oder von Cai Guofen , welche in der chinesischen Medienwissenschaft eine gewisse Aufmerksamkeit erlangt haben, zeigen, beziehen diese sich überwiegend auf Zhong et. al. und folgen dabei weitgehend deren Argumentation.42

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