Ländliche Klassengesellschaft 1770-1848: Bauern und Unterschichten, Landwirtschaft und Gewerbe im östlichen Westfalen 9783666357237, 3525357230, 9783525357231

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Ländliche Klassengesellschaft 1770-1848: Bauern und Unterschichten, Landwirtschaft und Gewerbe im östlichen Westfalen
 9783666357237, 3525357230, 9783525357231

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Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 64

Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Herausgegeben von Helmut Berding, Jürgen Kocka, Hans-Ulrich Wehler

Band 64

Josef Mooser Ländliche Klassengesellschaft

1770-1848 Bauern und Unterschichten, Landwirtschaft und Gewerbe im östlichen Westfalen

Göttingen · Vandenhoeck & Ruprecht · 1984

Ländliche Klassengesellschaft 1770-1848 Bauern und Unterschichten, Landwirtschaft und Gewerbe im östlichen Westfalen

von

Josef Mooser

Göttingen · Vandenhoeck & Ruprecht · 1984

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der Deutschen

Bibliothek

Mooser, Josef: Ländliche Klassengesellschaft 1770-1848: Bauern u. Unterschichten, Landwirtschaft u. Gewerbe im östl. Westfalen / von Josef Mooser. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1984. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 64) ISBN 3-525-35723-0 NE: GT

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort © Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1984. - Printed in Germany. Alle Rechte des Nachdrucks, der Vervielfältigung und der Übersetzung vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, das Werk oder Teile daraus auf photomechanischem (Photokopie, Mikrokopie) oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. Gesetzt aus Bembo auf Linotron 202 System 3 (Linotype). Satz und Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen. Bindearbeit: Hubert & Co., Göttingen

Für meine Eltern

Inhalt

Vorwort

I. Einleitung

15

19

1. Motive und Ziele

19

2. Begriffe und Konzepte zur Untersuchung der ländlichen Gesellschaft a) »Stand«, »Klasse« und Unterschichten b) »Bauerngesellschaft« und ländliche Klassen c) Proto-Industrialisierung und bäuerliche Gesellschaft

22 23 26 29

3. Raum, Zeit und Aufbau der Darstellung

30

4. Literatur und Quellen

35

II. Soziale und wirtschaftliche Strukturen in Minden-Ravensberg und Paderborn. Die Ausgangslage um 1800

39

1. Das Bild der Zeitgenossen

39

2. Agrarische Besitzstrukturen und ihre Genese

40

3. Landhandwerk und proto-industrielles Textilgewerbe a) Städtisches und ländliches Gewerbe b) Landhandwerk c) Proto-industrielles Textilgewerbe

43 44 46 48

4. Landwirtschaft und ländliche Gewerbe a) Bodennutzung und agrarische Intensivierung b) Viehwirtschaft und Viehhaltung c) Bäuerliche Landwirtschaft und Proto-Industrialisierung . . . .

52 53 57 59

5. Die Produktionsverhältnisse im proto-industriellen Textilgewerbe a) Proto-Industrie und Agrarverfassung b) Handelskapital und Kleinproduzenten c) Die Familienwirtschaft der Unterschichten

61 62 67 71

6. Zusammenfassung und Ausblick: Zur Lage von Bauern und Unterschichten

80

7

III. Strukturen und Tendenzen der Bevölkerungsentwicklung bis 1850

84

IV. Agrarreformen und wirtschaftliche Entwicklungen im Agrarsektor

93

1. Bedeutung und Ziele der liberalen Agrarreformen 2. Ausgangsbedingungen für die Agrarreformen a) Rentengrundherrschaft und bäuerliche Rechte b) Bäuerliche Pflichten und Belastung c) Grenzen der Grundherrschaft in der ländlichen Gesellschaft . .

95 95 99 103

3. Reformen und Reformgesetzgebung bis 1829 a) Begrenzte Reformen in Minden-Ravensberg bis 1806 b) Agrarreformen und Konflikte im Königreich Westphalen . . . c) Die Ablösungsgesetze von 1825 und 1829

105 105 106 111

4. Entwicklung der Agrarreformen bis 1848 und Lage der Unterschichten a) Schleppende Ablösung und Verschuldung b) Die Krise der Kleinbauern in Paderborn und die Einrichtung der Tilgungskasse c) Gemeinheitsteilungen und bäuerliche Klassengesellschaft . . . 5. Marktentwicklung und agrarische Intensivierung a) Getreidepreise und Marktintensivierung b) Fortschritte und Intensivierung der vollbäuerlichen Landwirtschaft c) Kleinbäuerliche Grenzen der agrarischen Intensivierung . . . .

V. Entwicklungen im gewerblichen Sektor

8

93

113 113 118 122 131 132 135 142

146

1. Konjunkturen, Krisen und zögernde Industrialisierung a) Krisenhaftes Wachstum der Leinenweberei b) Zusammenbruch der Garnspinnerei c) Industrien neben der Textilindustrie

146 147 154 158

2. Die Krise der proto-industriellen Produktionsverhältnisse a) Die »Landesfabrik« in der Systemkonkurrenz mit der Fabrikindustrie b) Durchsetzung des Verlagssystems c) Die Familienwirtschaft in der Krise des Textilgewerbes

160 160 168 171

3. Expansion und strukturelle Stagnation im Handwerk

176

VI. Struktur und Entwicklung der bäuerlichen Klassengesellschaft

182

1. Die Bauern als Stand und Klasse a) Grundherrschaft, Staatsbildung und Adelsstand b) Bäuerliches Erbrecht und Besitzdifferenzierung

183 183 185

2. Bäuerliche Heiratskreise und ländliche Sozialstruktur a) Funktion und Bedeutung der Brautschätze b) Heiratskreise, berufliche Mobilität und soziale Verflechtung im Kirchspiel Quernheim

189 190

3. Aspekte der Klassenstruktur in der bäuerlichen Gesellschaft . . . . a) Klassen- und Schichtenbildung durch Grundbesitz b) Seßhaftigkeit und horizontale Mobilität c) Horizontale und vertikale Integration in die Gemeinde

197 198 201 207

4. Bodenmobilität und Veränderungen der agrarischen Besitzstruktur bis 1850 a) Umfang und Merkmale der Bodenmobilität b) Vertikale Mobilität und bäuerlicher Agrarkapitalismus c) Herkunft der Kleinbauern

209 211 218 227

5. Zunahme und innere Differenzierung der besitzlosen Bevölkerung a) Alte Heuerlinge und neue Einlieger b) Handarbeiter und Wanderarbeiter

231 232 239

194

VII. Das Heuerlingssystem: Beziehungen zwischen Klassen in der bäuerlichen Gesellschaft

246

1. Die quasifeudale Struktur des Heuerlingssystems

247

2. Bauernfamilie und Heuerling a) Begrenzte Emanzipation: Heuerling und Gesinde b) Formen patriarchalischer Integration

255 255 260

3. Krisen und Spannungen im Heuerlingssystem während des Vormärz a) Wandel der Pacht-und Arbeitsverfassung b) Erosion der patriarchalischen Beziehungen c) Konflikte und soziale Kontrolle

266 267 272 276

VIII. Proto-Industrialisierung und ländliche Klassengesellschaft im Vormärz

281

1. Formen proto-industriellen Handels und die Blockierung eines bäuerlichen Verlagssystems

282

9

2. Städtisches Handelskapital und ländliche Gesellschaft a) Konservierung von Kaufsystem und Leggezwang b) Konjunkturen und soziale Mobilität c) Städtischer und ländlicher Kredit

287 287 288 293

3. Unterschichtenkultur und Klassengegensätze a) »Sittenlosigkeit«, »Luxus« und Emanzipation b) Soziale Lage und konservatives Klassenbewußtsein der Heuerlinge

298 299

IX. Pauperismus und Armutserfahrungen im 18. Jahrhundert und im Vormärz

308

317

1. Armut und methodische Probleme mit der Armut

318

2. Pauperismus und Proto-Industrialisierung

321

3. Armut in Minden-Ravensberg und Paderborn

326

X. Konservative Unterschichten und Revolution: Rückblick und Ausblick

342

1. Evolution und Involution in der bäuerlichen Gesellschaft von Minden-Ravensberg

343

2. Fortschritt und kleinbäuerliche Überforderung im Paderborner Land

347

3. Soziale Kontrolle und gebremste Emanzipation: Die Lage der besitzlosen Unterschicht in der ländlichen Klassengesellschaft . . .

350

4. Rebellion und Konservatismus: Unterschichten, politische Religiosität und Staat in der Revolution 1848/1849

355

Anmerkungen

368

Tabellarischer Anhang

458

Münzen und Maße

495

Abkürzungsverzeichnis

496

Quellen und Literatur: I. Archivalische Quellen II. Gedruckte Quellen III. Literatur

498 498 499 505

Register

518

10

Verzeichnis der Tabellen

Tabellen im Text 1 Getreideerträge in Ravensberg und Paderborn um 1800 2 Viehhaltung in Minden, Ravensberg und Paderborn, 1802 3 Zahl der Weberfamilien und Webstühle in einigen Kreisen des Rgbz. Minden, 1838-1849 4 Zahl und Zugehörigkeit der eigenbehörigen Familien in Minden-Ravensberg (1795) und Paderborn (1750/1800) 5 Ablösungen im Rgbz. Minden, 1821-1911 6 Stand der Gemeinheitsteilungen in Minden-Ravensberg, 1801 7 Prozentuale Zunahme der Vieharten im Rgbz. Minden, 1816-1849 . . . . 8 Bodenerträge in Ravensberg in dz/ha, ca. 1845 9 Leinenwebstühle in Minden-Ravensberg und Paderborn/Corvey, 18001846 10 Leinenwebstühle im Rgbz. Minden und in Gesamtpreußen, 1822-1849 . . 11 Spinnerbevölkerung im Rgbz. Minden, 1838-1849 12 Anteil der Kinder an der Gesamtbevölkerung, durchschnittliche Familiengröße und Bewohner pro Wohnhaus in der Feldmark von Bielefeld, 1787-1843 13 Handwerkerdichte im Rgbz. Minden, 1822-1846 14 Entwicklung der Grundhandwerke im Rgbz. Minden, 1822-1846 15 Handwerkerdichte und Betriebsgrößen (Zahl der Gesellen pro 100 Meister) der Grundhandwerke im Rgbz. Minden, 1822-1846 16 Handwerksmeister in Stadt und Land im Rgbz. Minden, 1800-1846 . . . . 17 Soziale Zusammensetzung der unterbäuerlichen Klasse (Zahl der Hauswirte) in Minden-Ravensberg (1798) und Paderborn (1802) 18 Bodenbewegung und beteiligte Besitzergruppen in Minden-Ravensberg/ Wiedenbrück und Paderborn, 1865-1867 19 Zahl der Familien mit Landbesitz und Heuerlingsfamilien in den Landgemeinden in Minden-Ravensberg, Kr. Wiedenbrück und Paderborn, 1800-1846 20 Zahl der Vollbauern- und Heuerlingsfamilien in Minden, Ravensberg und Paderborn, 1800-1846 21 Zahl der Heuerlingspachten und Heuerlingsfamilien in Ravensberger Gemeinden im Vormärz 22 Beschäftigungs- und Grundbesitzverteilung nach der Zahl der Familien in den Gemeinden Schildesche und Jöllenbeck, 1849 23 Schulden und Gläubiger eines Erbpächters, 1828 24 Zahl der von der Klassensteuer befreiten Personen und ihrer Angehörigen in der Provinz Westfalen, 1830-1850

56 59 67 97 114 124 140 141 152 154 155

172 177 177 178 179 199 220

232 234 235 237 297 321

11

25 Zahl der Heuerlings- und Neubauernfamilien in Minden-Ravensberg 1830 und Anteil der in »gewöhnlichen« und den Teuerungsjahren 1830/31 aus Armenmitteln unterstützten Familien 26 Verarmung, Verschuldung und Zivilprozesse in den Gerichtsbezirken Bünde und Büren, 1818-1830

328 339

Tabellen i m A n h a n g 1 Bevölkerungsentwicklung im Rgbz. Minden, 1763-1905 2 Faktoren der Bevölkerungsentwicklung in den Rgbz. Minden und Münster, 1816-1874 3 Faktoren der Bevölkerungsentwicklung in Minden-Ravensberg und Paderborn im späten 18. und 19. Jahrhundert 4 Männliches Heiratsalter nach Altersgruppen (in %) in den Kreisen Herford, Warburg und Höxter, 1840-42 und 1854-56 5 Martini-Marktpreise für 1 Berliner Scheffel Roggen, Durchschnitte fur Minden-Ravensberg, 1765-1850 6 Martini-Marktpreise für 1 Paderborner bzw. Berliner Scheffel Roggen im Paderborner Land, 1765-1850 7 Hektarerträge in den Kreisen des Rgbz. Minden, 1879 8 Bäuerliche Belastung mit Steuern, Abgaben und Schulden in den Paderborner Kreisen, 1835 9 Ablösungen in den Kreisen des Rgbz. Minden, 1821-1849 10 Zahl der bäuerlichen Betriebe in den Landgemeinden von Minden-Ravensberg.Kr. Wiedenbrück und Paderborn, 1800-1859 11 Adeliger und bürgerlicher Großgrundbesitz in den Kreisen des Rgbz. Minden, 1824-1854 12 Bodenverkäufe und Bodenpreise im Rgbz. Minden und in der Provinz Westfalen, 1834-1855 13 Parzellenverkäufe in den Kreisen des Rgbz. Minden, 1834—1852 14 Bodenverkehr und Besitzveränderungen in den Kreisen des Rgbz. Minden, 1816-1859 15 Veränderungen des Grundbesitzes in den Ämtern Rehme und Schlüsselburg (Kr. Minden), 1837-1851 16 Besitzstruktur und Besitzentwicklung in der Gemeinde Klosterbauerschaft (Kr. Herford), 1828-1866 17 Grundstücksverkäufe des Colon Niemeier in Gehlenbeck Nr. 20 (Kr. Herford), 1800-1831 18 Pachtland in Gemeinden der Kreise Halle, Herford und Bielefeld, 1820er Jahre 19 Heuerlingspachten in Gemeinden der Kreise Halle, Herford und Bielefeld, 1820erJahre 20 Preise für Heuerlingspachten (Rt pro Mg) in den Kreisen des Rgbz. Minden, 1809-1855 21 Sozial- und Gewerbestruktur auf dem platten Land in Minden-Ravensberg, 1796/97 22 Preise für Moltgarn und Garnausfuhr in Minden-Ravensberg, 1784-1851

12

458 459 460 461 462 463 464 465 466 467 469 470 471 472 473 474 475 476 477 478 479 480

23 Statistik der Leggen des Kr. Lübbecke, Löwendleinen in preußischen Ellen, 1788-1868 24 Statistik der Bielefelder Legge, Stück Leinen zu 60 Ellen, 1787-1850 25 Leinenproduktion im Kauf- und Verlags- bzw. Fabriksystem. Leggeleinen und gebleichtes Leinen in Ravensberg, 1855-1870 (Stück Leinen) . . . 26 Heiratskreise im Kirchspiel Quernheim, 1801-1870, Abstromquoten . . . 27 Intergenerationelle berufliche Mobilität im Kirchspiel Quernheim, 1801-1870, Abstromquoten 28 Budget einer Heuerlingsfamilie, 1809 29 Vertrag zwischen dem Gut Hüffe und einem Heuerling, 1785 30 Vertrag zwischen dem Gut Hüffe und einem Heuerling, 1855 31 Zahl und Zusammensetzung der »Handarbeiter« in den Kreisen des Rgbz. Minden, 1846-1849 32 Zahl der Hollandgänger in den Kreisen des Rgbz. Minden, 1817-1843 . . . 33 Zahl der ausgewanderten Personen aus den Kreisen des Rgbz. Minden, 1844-1853 34 Zahl und Themen der Petitionen aus dem Rgbz. Minden an die Berliner Nationalversammlung, 1848

482 483 484 485 486 487 489 490 491 492 493 494

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Vorwort

Die vorliegende Studie wurde unter dem Titel »Bäuerliche Gesellschaft im Zeitalter der Revolution 1789-1848. Zur Sozialgeschichte des politischen Verhaltens ländlicher Unterschichten im östlichen Westfalen« im Sommersemester 1978 von der Fakultät für Geschichtswissenschaft an der Universität Bielefeld als Dissertation angenommen. Gegenüber der ursprünglichen Fassung ist die vorliegende gekürzt, teilweise auch ergänzt und unter Berücksichtigung der seither erschienenen Literatur überarbeitet worden. Andere Verpflichtungen haben das leider ungebührlich verzögert. Für Anregungen, Rat, weiterfuhrende Kritik und vielfache Unterstützung, nicht zuletzt aber auch für ihre Geduld bin ich meinem Doktorvater Prof. R. Koselleck und Prof. J. Kocka besonders verbunden. Daneben danke ich Prof. H.-U. Wehler und Prof. W. Mager für wichtige Hilfen. Für die Lektüre des ursprünglichen Manuskripts, ihre ständige Diskussionsbereitschaft und ihre über vieles hinweghelfende Ermunterung bin ich herzlich verpflichtet G. Dohrn-van-Rossum, H. Homburg, H. Medick, R. G. Moeller, H. Reif und H. Schissler. M. Hettling danke ich für seine Mitwirkung beim Korrekturlesen und bei der Herstellung des Registers. Den Leitern und Mitarbeitern der Archive und Bibliotheken in Bielefeld, Detmold und Münster danke ich für ihre Beratung und die großzügig entgegenkommenden Arbeitsbedingungen. Die Arbeit an der Dissertation wurde 1973 bis 1976 durch die Graduiertenforderung von Bund und Ländern unterstützt. Dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe, der Verwertungsgesellschaft Wort und dem Kreisheimatverein Herford е. V. danke ich für Druckkostenzuschüsse. Die Anfänge dieses Buches liegen weit zurück. Im langen Atem bei der Arbeit hatte ich die Mühsal der bäuerlichen Vorfahren vor Augen. Auch aus diesem Grunde ist es meinen Eltern gewidmet. Bielefeld, im April 1984

Josef Mooser

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»Nicht n u r die Kunst des Pächters, die allgemeine Leitung der landwirtschaftlichen Verrichtungen, sondern auch viele untergeordnete Z w e i g e der ländlichen Arbeit erfordern viel m e h r Geschicklichkeit und E r f a h r u n g als die meisten mechanischen Gewerbe«. Tiere, Werkzeuge, B o d e n und Materialien, die bearbeitet werden, »müssen mit viel Urteil und Vorsicht behandelt werden. D e r gewöhnliche Bauer, der im allgemeinen als ein M u s t e r v o n Einfalt und D u m m h e i t angesehen wird, entbehrt selten dieses Urteils und dieser Vorsicht. Freilich ist er weniger mit dem geselligen U m g a n g vertraut als der H a n d w e r k e r , der in der Stadt lebt. Seine S t i m m e u n d Sprache sind rauher u n d für die, welche nicht daran g e w ö h n t sind, weniger verständlich. Aber sein Verstand, der sich täglich mit einer größeren Mannigfaltigkeit v o n Gegenständen beschäftigen m u ß , ist in der Regel d e m der anderen, deren ganze A u f m e r k s a m k e i t v o m M o r g e n bis z u m Abend an eine oder zwei höchst einfache Verrichtungen gefesselt ist, weit überlegen. Wie sehr die niederen Volksklassen auf d e m Lande denen in der Stadt wirklich überlegen sind, weiß jeder, den seine Geschäfte oder Neugierde dazu gefuhrt haben, mit beiden viel zu verkehren«. Adam Smith, Eine U n t e r s u c h u n g über Wesen und Ursachen des Volkswohlstandes, L o n d o n 1786, 4. Aufl., Buch I, Kapitel 10.

»Was hilft uns das alles, w i r müssen erst Gänseweide haben«. K o m m e n t a r von Einliegern zu den Wahlen im Mai 1848

»Wie ein B a u m gegen den Wind m u ß t e mein Vater Zeit seines Lebens kämpfen, n u r u m auf einem Fleck zu bleiben. Der Fortschritt wird nicht am Schicksal eines einzelnen gemessen, sondern an der Menschheit, u n d die ist bislang i m m e r erfolgreich gewesen, allein ihre Zahl beweist das und die wachsende Lebenserwartung«. Herbert Achtembusch, Die Stunde des Todes, 1975

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I. Einleitung

1. M o t i v e und Ziele Das historische Interesse an Unterschichten, an Arbeitern, aber auch am vorindustriellen »Volk« hat in der letzten Zeit stark z u g e n o m m e n . Motive f ü r eine genaue Untersuchung des in der Geschichtsschreibung schon i m m e r mehr beschworenen als kenntlich gemachten Volkes und seiner Rolle in der Geschichte gibt es genug. Die wichtigsten liegen wohl in den Erfahrungen mit den politischen Massenbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts, in deren historischen Legitimationsbedürfnissen, aber auch in den Katastrophen und Krisen unserer Zeitgeschichte. Faschismus und Stalinismus haben tragende nationale, demokratische u n d sozialistische Fortschrittsideologien teils obsolet gemacht, teils diskreditiert. Was liegt näher als die Frage nach ihren >massenhaften< Antriebs- u n d Zerstörungskräften oder der Zweifel an der Identität von B e w e g u n g und Ideologie? Was z . B . bewegte den g e wöhnlichem Arbeiter in und neben der politischen Arbeiterbewegung? D a r über hinaus haben die Kontinuität von A r m u t und Ausbeutung besonders in der »Dritten Welt« auch Grenzen des ökonomischen Fortschritts und der Industrialisierung politisch spürbarer werden lassen, während gleichzeitig der fast revolutionäre Wandel der Lebensbedingungen seit den 1950er Jahren in den hochindustrialisierten Ländern kulturkritische Stimmungen nach sich zog. N u r ein S y m p t o m dieser Lage ist, daß der Marxismus, eine der mächtigsten Quellen des fortschrittsorientierten Geschichtsbewußtseins der letzten hundert Jahre, heute seine Lebendigkeit gerade noch in der Selbstreflexion seiner Krise beweist. Das Interesse an den Unterschichten hat so einen ideologiekritischen, fortschrittsskeptischen U n t e r t o n gewonnen, ganz im Gegensatz zu den älteren liberalen, demokratischen oder sozialistischen Traditionen, in denen das »Volk« z u m Bannerträger des Fortschritts stilisiert und heroisiert w u r de. Von kurzschlüssigen nostalgischen Neigungen zu einer Sozialromantik der vorindustriellen Welt einmal abgesehen, enthält diese Wendung einen entscheidenden methodischen Vorzug. Sie erlaubt einen Perspektivenwechsel, durch den das »Volk« oder die »Arbeiterklasse« nicht mehr nur als O p f e r , anonymer Hintergrund oder Träger geschichtsphilosophisch, soziologisch oder politisch zugeschriebener Ideen und Ziele erscheint, sondern durch den die g e w ö h n l i c h e m Menschen als Betroffene zugleich als aktiv und b e w u ß t handelnde ernstgenommen und begriffen werden können. Eine

19

solche Optik bzw. Geschichte »von unten« erweitert unsere Kenntnisse historischer Prozesse und ist nicht zuletzt ein Korrektiv gegen die gängigen technokratischen Ideologien des späten 20. Jahrhunderts, indem sie vielleicht realistische Kriterien für den Fortschritt, ein Leben in Freiheit und Würde für alle, zu erkennen hilft. Auch und gerade mit den »Verlierern« in der Geschichte - wie ζ. B. den Handwebern, die sich gegen die kapitalistische Fabrik sperrten - schrieb Ε. P. Thompson - der mit seinem Buch über die aus der vorindustriellen Welt stammenden sozialen und kulturellen Antriebe der frühen englischen Arbeiterbewegung ein grundlegendes Beispiel für jenen Perspektivenwechsel b o t - , »we may discover insights into social evils which we have yet to cure« 1 . Auch die vorliegende Studie hat von dem angedeuteten Perspektivenwechsel Impulse erhalten, kann aber natürlich nur einen begrenzten Beitrag zu den damit aufgeworfenen Fragen und Problemen liefern. Sie beschränkt sich auf den Zeitraum vom späten 18. Jahrhundert bis zur Revolution von 1848, den auch viele Untersuchungen zur Entstehung und Vorgeschichte der modernen Lohnarbeiterschaft umfassen, konzentriert sich dabeijedochan einem regionalen Beispiel — auf die ländlichen Unterschichten und ihren Platz in der ländlichen Gesellschaft. Ins Blickfeld gerückt werden wirtschaftliche und soziale Zustände, Verhaltensweisen und Entwicklungen, die der Geschichtsschreibung in manchen Aspekten wohlbekannt sind - wie die Agrarreformen oder der vormärzliche Pauperismus - , die in der systematischen Reflexion der Entstehung der »modernen Welt« dann aber doch im Schatten dieser Welt, d. h. der städtischen Industrie, Politik, Bildung und Kultur verbleiben. Dabei wurde von einigen grundlegenden Prozessen in der Herausbildung der »bürgerlichen« Gesellschaft des 19. Jahrhunderts Bevölkerungsvermehrung, Auflösung der ständischen Herrschaft, innere Staatsbildung, Expansion der Marktwirtschaft und des Gewerbes, Entstehung marktbedingter Klassen - seit dem 18. Jahrhundert auch und gerade die Landbevölkerung ergriffen, die im übrigen bis ins späte 19. Jahrhundert noch die Mehrheit der Gesellschaft bildete. Fragt manjedoch nach dem Erbe dieser einem starken Wandel unterworfenen ländlichen Gesellschaft für die »moderne« städtische Welt, dann erscheint sie auch heute noch leicht als Ort der »Rückständigkeit« und Hemmung, selbst wenn wir nicht mehr wie Kautsky von der »geheimnisvollen Macht« der bäuerlichen Welt reden, die der Sozialdemokratie und »früheren demokratisch-revolutionären Parteien so manche Überraschung bereitet« habe 2 . Der gleichsam naturwüchsig konservative Bauer, der apathische Landarbeiter und der bedürfnislose, wenig organisationsbereite, ungelernte Industriearbeiter vom Lande zählen zu den bekannt-unbekannten Stereotypen der Sozialgeschichte. Unlängst charakterisierte H. Zwahr, einer der führenden Forscher über die Entstehung der Lohnarbeiterklasse und die sozialen Grundlagen der Arbeiterbewegung, den »agrarisch vorgeprägten Arbeitertyp« wie folgt:

20

»mit enger Bindung an das Dorf, an Bauern- oder Landarbeiterfamilien, an die Kirche, mit ländlichen Lebensgewohnheiten, gering entwickeltem Widerstandswillen, aber großer Bereitschaft zur Anpassung an Ausbeutung und Unterdrückung« 3 .

Zweifellos kann ein solch konservativer, zumindest auf den ersten Blick oft gefügiger Arbeiter - besonders im Bergbau und in der Textilindustrie häufig beobachtet werden und sicherlich liegen die Ursprünge der organisierten, sozialistischen Arbeiterbewegung in den Städten. Aber mit diesen Befunden ist die (selten gestellte) Frage nach den angeblichen »agrarischen« Ursachen für jene Dispositionen noch nicht beantwortet, ganz abgesehen davon, daß es möglicherweise noch andere Erklärungen für diese gibt. Die vorliegende Untersuchung zielt nicht unmittelbar auf den konservativen Arbeiter, sondern problematisiert - gewissermaßen im Vorfeld - das diesem anhängende agrarisch-konservative Stereotyp durch eine Analyse der Struktur der ländlichen Gesellschaft in einem Zeitraum, in dem sich die Erfahrungen und Erwartungen derjenigen Familien bildeten, aus denen eine Vielzahl von Industriearbeitern nach 1850 stammte. War diese Gesellschaft tatsächlich so beschaffen, daß sie Bescheidenheit und Anpassungsbereitschaft förderte? In Anlehnung· an die oben zitierte Charakteristik des »agrarisch vorgeprägten Arbeitertyps« und im Vorgriff auf die hier dargestellten Regionen - einerseits eine proto-industriell durchsetzte, andererseits eine kleinbäuerliche ländliche Gesellschaft, die ein Reservoir für die industriellen Lohnarbeiter in der Industrialisierung Rheinland-Westfalens bildeten - lassen sich folgende Leitfragen formulieren: 1. Wie »agrarisch« war überhaupt die ländliche Gesellschaft? Welche Bedeutung hatten neben der Landwirtschaft die handwerklichen und hausindustriellen Gewerbe für die wirtschaftliche Struktur und Entwicklung und für die soziale Lage der verschiedenen Schichten? 2. Welche Formen der sozialen Ungleichheit kennzeichneten die ländlichen Verhältnisse? Was waren die Determinanten sozialer Schichtung, der Verteilung von Einkommen, Macht und Ansehen? Wie wirkten Bevölkerungsvermehrung, Agrarreformen und gewerbliche Entwicklung auf die soziale Schichtung? 3. Wie gestalteten sich die sozialen Beziehungen zwischen den Schichten? Wie »eng« und von welcher Art waren insbesondere die Bindungen der Unterschichten an die Bauern? Wie wandelten sich diese unter dem Druck der unter 2. genannten Prozesse? 4. Wie war die »soziale Lage« der Unterschichten, d.h. die bedingenden Zustände für Lebensführung und soziale Chancen innerhalb der ländlichen Gesellschaft? Wie haben sie soziale Ungleichheit erfahren, welche Chancen, soziale Mobilität oder ein gewisses Ansehen und soziale Sicherheit zu gewinnen, gab es für sie? 5. Welche sozialen Spannungen und Gegensätze gab es in der ländlichen Gesellschaft? Wurzelte der »gering entwickelte Widerstandswille« der

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agrarisch vorgeprägten Arbeiter möglicherweise in einer konfliktarmen oder umgekehrt in einer alternativarmen, strukturell repressiven Gesellschaft, die den Unterschichten nur sehr begrenzt »Widerstand« erlaubte? 6. Welche Erfahrungen und Hoffnungen begründeten demgegenüber die Rebellionen und das politische Verhalten in der Revolution von 1848, deren weit verbreitete ländliche Unruhen sich abheben von der »Ruhe« bis 1848 und der Vorstellung einer politisch apathischen Landbevölkerung? Gab es 1848 eine Art von rebellischem Konservatismus der Unterschichten gegen die »bürgerliche« Gesellschaft? Diese Leitfragen zielen auf eine Geschichte sozialer Ungleichheit, die der Sozialgeschichte in einem engeren Sinne verpflichtet ist, d. h. der mit der Wirtschaftsgeschichte eng verbundenen Untersuchung überindividueller, »objektiver« wirtschaftlicher und sozialer Strukturen, der Entwicklung und Lage der Klassen und Schichten, ihrer Beziehungen und Konflikte. N u r am Rande, soweit die benutzten Quellen es zulassen, geht die Untersuchung über in die um einen sozialanthropologischen Begriff der »Kultur« erweiterte Sozialgeschichte. »Kultur« wird dabei nicht als ein eigenständiges System von Wissen, Normen und Symbolen verstanden, sondern als schichtenspezifisch alltägliche »Lebensweise«, als »materielle Kultur«, in der Wissen, Normen und Symbole mit der Organisation der materiellen Produktion unauflöslich verflochten sind. Anders als in jener engeren Sozialgeschichte werden dabei die »subjektiven« Erfahrungen und Wahrnehmungen sozialer Strukturen und Prozesse als »Ausdruck« von sozialen Beziehungen und Herrschafts Verhältnissen ins Zentrum gerückt, und insofern ist die neuere »Kulturgeschichte« eine methodische Variante und Radikalisierung des erwähnten Perspektivenwechsels. Es liegt aber auf der Hand, daß auch für sie eine möglichst detaillierte »engere« Sozialgeschichte ein notwendiges Element bleibt, will sie nicht der Gefahr erliegen - nicht zuletzt angesichts der oft riskanten Quellenlage-, dem gesuchten »Eigensinn« der Unterschichten wie gehabt doch wieder nur den politischen, geschichtsphilosophischen oder spekulativen »Eigensinn« der Forscher zu unterlegen 4 .

2. Begriffe und Konzepte zur Untersuchung der ländlichen Gesellschaft Was aber sind ländliche »Unterschichten« im 18. und 19. Jahrhundert? Üblicherweise werden sie im Plural bestimmt, um ihre Heterogenität zu kennzeichnen und von den Bauern abgegrenzt. Genauer werden sie daher auch »unterbäuerliche Schichten« genannt, wobei als Kriterium für den >eigentlichen< Bauern eine getreidewirtschaftlich definierte Ackernahrung angenommen wird, die als solche groß genug war, um neben den grundherrlichen und öffentlichen Lasten eine Familie allein auf der Grundlage der Landwirtschaft zu ernähren. Diese »Vollbauern« (zuweilen auch »Hofbau22

ern« oder »Hofbesitzer«) hatten i.d.R. ein Pferdegespann fur die Ackerbestellung und herrschaftlichen Dienste, so daß sie zeitgenössisch auch die »spannfähigen« Bauern hießen, und befanden sich vielfach im rechtlich und/ oder faktisch gesicherten Besitz des Hofes, bis zu den Agrarreformen allerdings ohne freies Eigentum bzw. Verfügungsrecht. Ihnen gegenüber umfassen die Unterschichten die Kleinbauern ohne genügend Land für eine ausschließlich agrarische Subsistenz, bloße Hausbesitzer und schließlich die land- und hausbesitzlosen Familien. Diese in den Quellen regional sehr vielfältig bezeichneten landarmen und landlosen Unterschichten - Seidner, Häusler, Kätner, Gärtner, Brinksitzer, Heuerlinge, Inwohner usw. - stellten im 18. Jahrhundert auf dem Gebiet des Reiches knapp zwei Drittel der ländlichen Bevölkerung bzw. etwa 40% der Gesamtbevölkerung; im europäischen Raum schätzte man ihren Anteil auf 35% der Gesamtbevölkerung. Die Lebensgrundlagen dieser ländlichen Unterschichten bildeten die kleine Acker- und Vieh wirtschaft, oft auf der Basis von gepachtetem Land und der mehr oder weniger legalen Nutzung der genossenschaftlichen Ländereien (Gemeinheiten, Marken, Allmende) und verschiedene »Nebengewerbe«: ländliches Handwerk und »proto-industrielles« Textilgewerbe sowie gelegentliche Lohnarbeit in Landwirtschaft oder Gewerbe. Ihre Lebensumstände werden immer als armselig bezeichnet, so daß nicht selten Bettel und Diebstahl zur Fristung des Lebens beitragen mußten 5 . Diese deskriptive Definition, mit der auch hier gearbeitet wird, sagt allerdings jenseits negativer Aussagen wie über die Armut noch wenig aus über die konkrete Lage und Bedeutung der Unterschichten in der Gesellschaft. Sie behandelt diese als marginale Schichten, in merkwürdigem Kontrast zu ihrem gewaltigen Anteil an der Bevölkerung. Dieses Problem erfordert eine Reflexion auf die Struktur der Gesellschaft, auf die Faktoren für die Verteilung und Umverteilung von Einkommen, Macht und Ansehen, die zur Bildung von Unterschichten fuhren, zumal dieser Terminus als solcher offensichtlich ein formal relationaler ist, der historisch sehr verschiedene soziale Gruppen enthalten kann. Solche fur die Erkenntnisziele dieser Untersuchung grundlegenden Vorüberlegungen seien im folgenden für die Begriffe »Stand« und »Klasse« sowie für die Konzepte »Bäuerliche Gesellschaft« und »Proto-Industrialisierung« kurz umrissen.

a) »Stand«, »Klasse« und

Unterschichten

»Man kann weder von Ständen noch Klassen sprechen, sondern höchstens von gewesenen Ständen und ungeborenen Klassen.« Mit diesem Seufzer von Marx und Engels angesichts der »Misere der deutschen Bürger« im Zeitalter der Französischen Revolution und in einer Gesellschaft mit vorwiegend kleinbäuerlichem Ackerbau und einer »auf dem Spinnrad und dem Handwebstuhl beruhenden Industrie« kann man auch heute die Unsicher23

heit bzw. den dürftigen Forschungsstand über die gesamtgesellschaftliche Schichtungsstruktur des 18. und frühen 19. Jahrhunderts resümieren 6 . Diese Unsicherheit liegt begründet in der problematischen sozialen Reichweite von »Stand« und »Klasse«, selbst wenn man die vielfältigen Bedeutungsgehalte dieser Begriffe vernachlässigt und von bestimmten Definitionen derselben ausgeht. Als »Stand« sei hier verstanden eine soziale Gruppe, die eine von anderen Ständen deutlich abgegrenzte, rechtlich umschriebene gesellschaftliche Funktion, eine besondere Form materieller Subsistenz, Teilhabe an politischer Macht und ein spezifisches Prestige (»Ehre«) teilt. Die Verflechtung dieser Merkmale stiftete eine umfassende, für das Individuum normative Identität und eine relativ statische soziale Schichtung in Adel, Klerus, Bürger und Bauern, zumal der Zugang zu den Ständen und ihre Lebensweise rechtlich bzw. herrschaftlich kontrolliert war. »Klassen« hingegen bilden sich in der Dynamik von sich selbst regulierenden Märkten, im Austausch, Kaufund Verkauf von Gütern und Leistungen innerhalb einer arbeitsteiligen Gesellschaft durch Individuen mit gleichen Rechten. Die Lebenschancen der Menschen werden v. a. bestimmt durch wirtschaftliche Konjunkturen und durch ihre Marktmacht, dem Besitz bzw. Nichtbesitz von Produktionsmitteln zur Erzeugung von Waren für den Markt. Sie unterliegen somit prinzipiell einem ökonomischen Risiko, das nicht mehr - wie noch die wirtschaftlichen Grundlagen der Stände-durch »außerökonomische«, herrschaftliche und genossenschaftliche Kontrollen reguliert wird 7 . Projiziert man diese idealtypischen Schichtungsbegriffe auf die ländliche Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, dann kommt man zu nicht weiter überraschenden Teils-Teils-Aussagen. Höchstens die Vollbauern bildeten noch einen Stand: Der Grundbesitz, der durch das Erb- und Familienrecht garantiert war, sicherte ihre Subsistenz, und in Haus und Gemeinde übten die selber abhängigen Bauern noch begrenzte Herrschaftsrechte aus. Bei den Kleinbauern reichte der geringe Grundbesitz schon nicht mehr zu einer ständisch anerkannten Subsistenz und Ehre, wie ihr oft faktischer Ausschluß von der Gemeindepolitik und ihr rechtlicher Ausschluß vom ständischen Wahlrecht im 19. Jahrhundert zeigt. In der Grund- bzw. Gutsherrschaft waren beide freilich noch der ständischen Herrschaft unterworfen und auch das »Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten« von 1794 (ALR) vereinigte sie. Danach gehörten zum »Bauernstand . . . alle Bewohner des platten Landes, welche sich mit dem unmittelbaren Betriebe des Ackerbaus und der Landwirtschaft beschäftigen, in so fern sie nicht durch adliche Geburt, A m t oder besondere Rechte, von diesem Stande ausgen o m m e n sind« 8 .

Dies war freilich schon eine relativ >moderneMarktrollen< ζ. B. als saisonale Lohnarbeiter, Handwerker, Spinner oder Weber aufgehoben waren in der familialen Produktions- und Erwerbsgemeinschaft. »Stand« und »Klasse« in der definierten Form sind geeignete Kategorien zur Kennzeichnung des gesamtgesellschaftlichen Wandels aus der Vogelper25

spektive. Als solche perspektivischen Begriffe sind sie notwendig, aber nicht hinreichend fur die Analyse der sozialen Schichtung in der langen »Übergangszeit« selber. Eine sinnvolle Ergänzung für einen solchen Versuch stellt das Konzept der Bauerngesellschaft bzw. »Peasant society« dar, das bisher v.a. für die »unterentwickelten« außereuropäischen Länder, z.T. auch für die russische und französische, aber noch wenig für die deutsche Agrargeschichte entwickelt und diskutiert wurde 1 0 .

b) »Bauerngesellschaft«

und ländliche

Klassen

Die Bauerngesellschaft wird als eine »Teilgesellschaft«, als ein relativ geschlossenes »Segment« innerhalb der Gesamtgesellschaft begriffen. Sie wird zwar beherrscht von den »mächtigen Außenseitern« (T. Shanin) Staat, Grundherrn und Städte als Repräsentanten des politisch, militärisch und kulturell überlegenen anderen Segments; gleichzeitig besitzt sie aber ein »>eigenmächtiges< Regelsystem« 11 , durch das die Verteilung von Einkommen, Macht und Ansehen nicht nur an das Herrschaftssystem, sondern auch an Familie und Verwandtschaft, an Heirats- und Vererbungsstrategien der Bauern gebunden ist. Die ökonomische Grundlage der Bauerngesellschaft bildet die kommunal bzw. genossenschaftlich ergänzte kleinbetriebliche, lohnarbeitslose und subsistenzorientierte agrarische Familienwirtschaft. Darin gründet eine relativ große soziale Homogenität der Landbevölkerung im Hinblick auf das nicht-bäuerliche Gesellschaftssegment, aber auch im ländlichen Segment selber, da angenommen wird, daß von der Familienwirtschaft keine maßgebliche Kraft zur dauerhaften strukturellen sozialen Differenzierung ausgeht. Diese Homogenität wird gestützt durch ein auf die Gemeinde orientiertes System traditionaler und konformistischer Werte, so daß die Bauerngesellschaft auch eine strukturelle Resistenz gegenüber den v. a. von den »mächtigen Außenseitern« ausgehenden Wandlungsprozessen besitzt. Unverkennbar spiegelt sich in diesem Konzept der auch für die europäische Geschichte fundamentale Stadt-Land-Gegensatz, den Marx einmal von der hohen Warte der Geschichtsphilosophie herab auf die Formel zuspitzte, daß die Bauern diejenige Klasse repräsentierten, »welche innerhalb der Zivilisation die Barbarei vertritt« 12 . Tatsächlich werden - bezogen auf Alteuropa - in dem Modell der »Teilgesellschaft« die auch nicht-herrschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Segmenten unterschätzt. Insbesondere bleibt es schichtungstheoretisch blaß und unzulänglich im Hinblick auf die interne Differenzierung der Bauerngesellschaft. Die Betonung der sozialen Homogenität und die Bestimmung von ländlichen Gewerbetreibenden, Tagelöhnern und anderen nicht-bäuerlichen Gruppen auf dem Lande als zwar nicht numerisch, aber doch »analytisch marginale Gruppen« zerreißt wieder das konkrete Sozialsystem. Diese Gruppen, definitionsgemäß 26

nur teilintegriert, da sie nicht alle Merkmale der besitzenden Mitglieder der Bauerngesellschaft tragen, sind - ähnlich wie im Begriff des »Standes« schon Symptome fur deren Auflösung 13 . Die Struktur der bäuerlichen Gesellschaft verschwindet gleich wieder im Prozeß ihres Wandels, bevor nach der funktionalen Bedeutung jener Gruppen für die Bauern und damit auch fur den sozialen Wandel in der bäuerlichen Gesellschaft gefragt wird 1 4 . Gleichwohl behält das Konzept der »Teilgesellschaft« gerade für diese Frage einen hohen heuristischen Wert, da es dazu einlädt, jenes »>eigenmächtige< Regelsystem« ernstzunehmen als Einstieg in die Analyse der ländlichen Unterschichten, deren konkrete Lage gleichsam zwischen »Stand« und »Klasse«, aber auch zwischen den »Bauern« oszillierte. Es regt an, die ländliche Sozialstruktur in ihrer relativen Eigenständigkeit zu untersuchen und die Beharrung und Stabilität ländlicher Zustände nicht nur in ihrer »Rückständigkeit« gegenüber »allgemeinen« historischen Prozessen, sondern auch und zuerst von ihren spezifischen Mustern der Ökonomie und sozialen Reproduktion her zu bestimmen. Der entscheidende methodische Vorzug ist, daß mit der Gedankenfigur des von Grundherr, Staat und Stadt immer auch relativ unabhängigen Bauern die von der bäuerlichen Verfügung über Land ausgehenden und determinierten Prozesse greifbar werden, die für die Entstehung und soziale Lage der Unterschichten zentral sind. Deren historisch spezifische Gestalt wird in dieser Studie auch durch den Blick auf die Bauern zu rekonstruieren sein. Beabsichtigt ist damit ein Umriß der spezifisch ländlich-bäuerlichen Klassengesellschaft. Den Schlüssel dafür bildet die Art und Weise der Verfügung über Grund und Boden, dem wichtigsten Produktions- und Subsistenzmittel in der ländlichen Gesellschaft. Der Gebrauch des Begriffs »Klasse« lehnt sich dabei an Max Weber an: »Wir wollen da von einer >Klasse< reden, wo 1. einer Mehrzahl von Menschen eine spezifisch ursächliche Komponente ihrer Lebenschancen gemeinsam ist, soweit 2. diese Komponente lediglich durch ökonomische Güterbesitz- und Erwerbsinteressen und zwar 3. unter Bedingungen des (Güter- oder Arbeits-) Markts dargestellt wird« 15 .

Allerdings können die drei Dimensionen dieses Begriffs gleichsam nur partiell bzw. sukzessiv durch die Darstellung gefüllt werden, da Marktklassen in der ländlichen Gesellschaft zwar zunehmende Bedeutung erlangten, aber doch nicht voll ausgebildet waren. Dieser Mangel ist bis zu einem gewissen Teil auszugleichen bzw. zwingt zur Reflexion auf die besonderen Funktionen des Landbesitzes und die Art und das Ausmaß von Marktbeziehungen in der bäuerlichen Gesellschaft 16 sowie auf deren Einfluß auf die Beziehungen zwischen den Klassen. Die Konzentration auf die Analyse einer (regionalen) bäuerlichen Teilgesellschaft zieht allerdings das Zurücktreten einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive als Verlust nach sich. Dieser Nachteil wurde in Kauf genom27

men, da ihm ein forschungsstrategischer Vorteil gegenübersteht und zum andern vorliegende gesamtgesellschaftlich orientierte Konzepte fur die ländliche »Ubergangszeit« des 18. und 19. Jahrhunderts unzureichend sind. Das gilt auch für die marxistische Sozialgeschichte der DDR, die im übrigen in der letzten Zeit viele gehaltvolle und weiterfuhrende Studien dazu vorgelegt hat 17 . Die empirische Aufarbeitung der sehr differenzierten Agrarstruktur im 18. Jahrhundert und der sozialen Schichtung der ländlichen Gesellschaft im 19. Jahrhundert unterspült jedoch gewissermaßen die orthodox-marxistische Begrifflichkeit. Welche aufschließende und orientierende Kraft besitzt noch ein Begriff der »Feudalgesellschaft« bzw. der »Übergangsgesellschaft«, deren »relative Einheitlichkeit in der komplizierten Agrarstruktur . . . der feudale Charakter der Produktionsverhältnisse (war)«, wenn die »relative Einheitlichkeit« nur mehr eine Art kleinster gemeinsamer Nenner ist? Welche Substanz enthält der Begriff der »feudalen Produktionsverhältnisse« noch, wenn einerseits konzediert wird, daß die sehr unterschiedliche-»Vielfalt. . . geradezu zum Charakteristikum (wurde) « und andererseits die hauptsächlichen Ursachen der Differenzierung in der Wirkung der Warenproduktion und der Gestaltung des bäuerlichen Besitzrechts festgestellt werden 18 ? Ähnlich höhlen die vertieften Studien zu Verlauf und Ergebnis der liberalen Agrarreformen das Modell des »preußischen Weges« der kapitalistischen Differenzierung der ländlichen Gesellschaft aus. Die Konditionen der Reformen haben zweifellos die Junker begünstigt und die Bauern belastet; sie haben aber nur zu einem unwesentlichen Teil zu deren (modellmäßig vorgesehener) »Proletarisierung« gefuhrt, während andererseits modellwidrig viele neue Kleinbauern neben den Besitzlosen entstanden. Die marxistisch konzipierte Polarisierung der ländlichen Sozialstruktur in eine kapitalistisch wirtschaftende Gruppe von Großgrundbesitzern sowie eine »Dorfbourgeoisie« aus »Groß- und Mittelbauern« einerseits und eine heterogene Landarbeiterschaft einschließlich »werktätiger Kleinbauern« andererseits, deren wesentliches Merkmal aber doch die Lohnarbeit war, trifft nur Tendenzen, aber nicht das breite Feld der aus der Dynamik der bäuerlichen Klassengesellschaft entspringenden Entwicklungen, zu der allerdings eine Konsolidierung der Vollbauernschaft gehörte. Ein Symptom dieses Prozesses ist deren geringer Widerstand gegen die Bedingungen der preußischen Agrarreformen, auffallenderweise ζ. B. auch in Schlesien, das vor den Reformen eine sehr unruhige Provinz war, bis dann 1848 insbesondere die Kleinbauern rebellierten 19 . Auch darüberhinaus hat sich die bäuerliche Familienwirtschaft, obgleich mit zunehmender Marktintegration, als ein scheinbarer »Anachronismus« in der Welt der Lohnarbeit und Konzentration der Produktionsmittel erhalten 20 .

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с) Proto-Industrialisierung

und bäuerliche

Gesellschaft

Neben dem im Hinblick auf die innere Schichtung modifizierten Modell der bäuerlichen »Teilgesellschaft« hat fur die vorliegende Untersuchung das Konzept der »Proto-Industrialisierung« eine wichtige heuristische Funktion gewonnen. Unter diesem Reizwort werden seit etwa 10 Jahren die alte Haus- und Verlagsindustrie in einem vor allem durch die Bevölkerungs-und Familiengeschichte erweiterten Kontext untersucht. Verstanden als »Industrialisierung vor dem Fabriksystem« (Tilly), insbesondere in »ländlichen Regionen, in denen ein großer Teil der Bevölkerung ganz oder in beträchtlichem Maße von gewerblicher Massenproduktion fur überregionale und internationale Märkte lebte«, betont das Modell einen langfristigen Prozeß des Wachstums der gewerblichen Wirtschaft (vornehmlich im Textilgewerbe) vor der eigentlichen »Industriellen Revolution« 2 1 . Als Medium des Bevölkerungswachstums wandelte das proto-industrielle Gewerbe die Sozialstruktur der europäischen Agrargesellschaften um und wirkte damit als »zentrales«, wenn auch nicht allein entscheidendes Moment in der Transformation der feudalen Agrargesellschaft zur kapitalistischen Industriegesellschaft, ohne daß die Proto-Industrialisierung in den von ihr erfaßten Regionen notwendig zur »ersten Phase des Industrialisierungsprozesses« wurde, wie der Begriff ursprünglich und wörtlich besagt. Bis zu ihrem Ende - sei es im Verfall des Gewerbes durch »De-Industrialisierung«, sei es durch den Übergang zum kapitalistischen Fabriksystem - blieb die Proto-Industrie »zwischen zwei Welten, der engen Welt des Dorfes und der alle Grenzen überschreitenden Welt des Handels« 22 . Ihre Produktionsverhältnisse waren so gekennzeichnet durch eine strukturell heterogene Symbiose der hausindustriellen, subsistenzorientierten ländlichen Familienwirtschaft und der gewinnorientierten handelskapitalistischen Unternehmung (zumeist) in der Stadt, die sowohl die gewerbliche Wirtschaft wie auch die ländliche Gesellschaft dynamisierte. Dieses Modell, bislang mehr eine äußerst komplexe, materiale Forschungshypothese denn ein System gesicherter Erklärungen, wurde schon heftig kritisiert, hat dadurch aber seinen anregenden Charakter zur Untersuchung einer regionalen ländlichen Gesellschaft noch nicht eingebüßt 2 3 . Es hebt das ländliche Gewerbe heraus aus dem Schattendasein des bloßen »Nebengewerbes«, das fur das Verständnis der »Agrargesellschaft« folgenlos gehalten wird und erlaubt eine wichtige Differenzierung im Hinblick auf die »Territorialisierung« des Gewerbes 2 4 : Auch das Handwerk trat über die zünftige Stadt-Land-Grenze hinaus, es blieb allerdings meist auf lokale Nachfragemärkte beschränkt, während das spezialisierte, exportorientierte proto-industrielle Gewerbe infolge der größeren Nachfrage zu einer höheren regionalen Verdichtung der Produktion und der Bevölkerung führte. Dadurch wurden auch unterschiedliche Rückwirkungen des Gewerbes auf die Wirtschafts- und Sozialstruktur der Regionen in Gang gesetzt. Proto-

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Industrialisierung, aber kaum das lokal-regionale Handwerk konnte bis zu einem gewissen Grade als »Leitsektor« 25 - der allerdings kein sich selbst erhaltendes ökonomisches Wachstum freisetzte - für die gesamte regionale Ökonomie und insbesondere auch für die bäuerliche Landwirtschaft fungieren. Die starke Vermehrung der kleinbäuerlichen und mehr noch der besitzlosen Unterschichtgruppen konstituierte einen lokalen »inneren Markt« für Lebens- und gewerbliche Produktionsmittel, der einen Anreiz bildete für die Intensivierung der bäuerlichen Landwirtschaft. Proto-Industrialisierung konnte nicht nur zur mferregionalen Arbeitsteilung zwischen gewerblichen und agrarischen Regionen beitragen, sondern auch zur mnerregionalen Arbeitsteilung und agrarischen Kommerzialisierung 26 . Nicht zuletzt änderte sich dadurch die Lage der Bauern im System der Grundherrschaft und ihr Verhältnis zu den Unterschichten 27 . Das Konzept der Proto-Industrialisierung ist somit eine fruchtbare Herausforderung, die übliche Trennung der Agrargeschichte in eine miteinander wenig verbundene Agrarsoziologie, Agrarverfassungs- und Landwirtschaftsgeschichte 28 sowie das Schweigen zwischen der Agrar- und Gewerbegeschichte zu überwinden. Erst ihre Verknüpfung ermöglicht eine Geschichte der ländlichen Gesellschaft und der Lage der ländlichen Unterschichten. Gewerbe und Landwirtschaft waren eine wirtschaftlich und gesellschaftlich konkrete Einheit, deren methodische Auflösung in »Sektoren« die ländliche Sozialgeschichte und letztlich auch die allgemeine Sozialgeschichte behindert 29 .

3. Raum, Zeit und Aufbau der Darstellung Gegenstand der Untersuchung sind zwei westfälische Regionen, MindenRavensberg und das Paderborner Land, die im 19. Jahrhundert verwaltungsmäßig zum Rgbz. Minden gehörten, sozialökonomisch aber deutlich unterschieden waren. Agrarverfassungsgeschichtlich waren beide geprägt vom Typ der nordwestdeutschen Grundherrschaft mit einem relativ günstigen bäuerlichen Besitzrecht 30 . In Minden-Ravensberg ragte dabei eine kleine Gruppe von Großbauern heraus, um die die Legende sächsischer Freiheit und karolingischer Vassalität schwebte. Das außerordentliche Selbstbewußtsein dieser >Bauernaristokratie< - die häufig als Repräsentant des bäuerlichen Westfalen überhaupt gilt - zeigt sich noch heute im genealogischen Bewußtsein vieler Familien und in stattlichen musealen Bauernhäusern 31 . Überlieferungsmacht und -reichtum dieser Gruppe spiegelt ihre Vormachtstellung in der alten bäuerlichen Gesellschaft, die nicht selten den kleinen Landadel in den Schatten drängte. Aber auch die Lage der weniger großen Vollbauern gestaltete sich in Minden-Ravensberg infolge der komplexen Wirkungen des proto-industriellen Gewerbes günstig. Im vorwie-

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gend kleinbäuerlichen Paderborner Land lasteten dagegen die »mächtigen Außenseiter« Grundherr und Staat schwer auf der großen Mehrheit der Landbevölkerung. Diese Differenz gründete wesentlich in den unterschiedlichen Typen des ländlichen Gewerbes in beiden Regionen. Minden-Ravensberg war ein hochentwickeltes proto-industrielles Zentrum der Garnspinnerei und Leinenweberei in Preußen, getragen insbesondere von den besitzlosen Heuerlingen, die um 1800 etwa ein Drittel der Landbevölkerung ausmachten. Einer der besten zeitgenössischen Kenner der wirtschaftlichen und sozialen Zustände Deutschlands, Gustav v. Gülich, stellte noch 1843 fest, daß mit Ausnahme weniger anderer Gebiete Preußens »in keinem Teil der Monarchie eine so große industrielle Produktion als in Minden-Ravensberg« bestehe 32 . Im Paderborner Land verblieben jene Gewerbe in einem Kümmerzustand, während vom verbreiteten ländlichen Handwerk und der saisonalen Wanderarbeit längst nicht die Rückkoppelungseffekte auf die ländliche Wirtschaft ausgingen wie vom verdichteten proto-industriellen Gewerbe. Im Vormärz waren beide Regionen überschattet von einem Pauperismus jeweils unterschiedlicher Gestalt. In Minden-Ravensberg wurde das bis dahin stark expandierende Garn- und Leinengewerbe infolge der internationalen Konkurrenz und Fabrikindustrialisierung des Textilgewerbes in seinen alten Strukturen erschüttert und partiell zerstört. Im Paderborner Land, wo nach der preußischen Überlieferung um 1800 ein »zukunftsloser Schlummerzustand« herrschte 33 , stürzten die Agrarreformen und der preußische Steuerstaat die Kleinbauern in eine tiefe, ausweglos scheinende Krise; 1836 wurde es ein »deutsches Irland« 34 genannt. In beiden Regionen hatten die Krisen Aus- bzw. Abwanderungen zur Folge. Im Verlauf der Industrialisierung nach 1850 wurden das Paderborner Land und zeitweise auch Teile von Minden-Ravensberg zu agrarischen »Passivregionen«, die Arbeitskräfte an das neue Industriezentrum an der Ruhr abgaben. Nur im Bielefelder und (schwächer) im Herforder Raum entwickelte sich eine große Fabrikindustrie, während in anderen Teilen von Minden-Ravensberg die Strukturen der ländlichen Hausindustrie in der seit 1870 stark expandierenden Zigarrenindustrie fortdauerten. Im Hinblick auf die politische Geschichte sind die beiden Regionen bzw. ist der Rgbz. Minden auch ein Beispiel für die Expansion des preußischen Staates und seine Vielgestaltigkeit im frühen 19. Jahrhundert. MindenRavensberg zählte zu den ältesten Besitzungen Preußens im Westen: 1609 fiel die Grafschaft Ravensberg zusammen mit Jülich-Kleve, 1648 die Reichsstadt Herford und das Reichsbistum Minden (seither Fürstentum genannt) an den Kurfürsten von Brandenburg. Zu diesen protestantischen Gebieten kamen mit der Säkularisation 1802/03 und der Auflösung der napoleonischen Territorien 1813 überwiegend katholische Gebiete hinzu: das ehemalige Fürstbistum Paderborn, die ehemalige benediktinische Reichsabtei (seit 1783 Fürstbistum) Corvey bei Höxter und schließlich noch drei kleinere 31

Territorien zwischen den Blöcken Minden-Ravensberg und Paderborn, die in ihrer sozialökonomischen Verfassung zu Minden-Ravensberg zu rechnen sind: nämlich das ehemalige Amt Reckenberg (vor 1803 eine Exklave des Fürstbistums Osnabrück), die Herrschaft Rheda des Fürsten BentheimTecklenburg und die vor 1807 im Besitz des österreichischen Staatskanzlers Kaunitz befindliche Grafschaft Rietberg. Alle genannten Territorien waren 1807 bis 1813 Bestandteil des Königreichs Westfalen, mit Ausnahme der Herrschaft Rheda, die zum Großherzogtum Berg geschlagen wurde und des Gebietes zwischen Minden und Bielefeld, das seit 1811 zum französischen Kaiserreich gehörte. In denjahren zwischen 1807 und 1815 (in letzteremjahr konstituierte sich der Rgbz. Minden) spiegelt die territoriale Geschichte also auch den Tiefpunkt der preußischen Geschichte. Bei der Auflösung Preußens nach dem Zweiten Weltkrieg vergrößerte sich der Rgbz. Minden durch die Angliederung des ehemaligen Fürstentums Lippe und wurde mit der Verlegung des Regierungssitzes 1946 nach Detmold in Rgbz. Detmold des Bundeslandes Nordrhein-Westfalens umbenannt 3 5 . Der Regierungsbezirk bestand 1815 aus 13, seit 1832 aus 11 Kreisen, deren Grenzen sich an überkommene Territorial- und Verwaltungsgrenzen anlehnten. Die Kreise Minden und Lübbecke umfaßten in etwa das ehemalige Fürstbistum Minden; die Kreise Herford, Bielefeld und Halle die ehemalige Grafschaft Ravensberg; der Kreis Wiedenbrück die kleinen Territorien Rekkenberg, Rheda und Rietberg; das Gebiet des ehemaligen geistlichen Staates Paderborn und der Abtei Corvey war in vier Kreise geteilt, nämlich Paderborn, Büren, Warburg und Höxter. Der 95,3 Quadratmeilen oder 5241 km 2 große Bezirk mit rd. 350000 bis 470000 Einwohnern zwischen 1820 und 1850 wurde von der »Regierung« in Minden, der Nachfolgerin der alten Kriegs- und Domänenkammer (KDK) und von zumeist aus dem einheimischen Adel stammenden Landräten verwaltet. Sowohl in der Regierungswie Justizverwaltung war ein starkes bürgerliches, bürokratisch-liberales Element wirksam 3 6 . Ihre »Untertanen« lebten meist auf dem Land. N u r die vier »mittleren« Städte Minden, Herford, Bielefeld und Paderborn, um 1830 jeweils mit etwa 7000 Einwohnern, waren mahl- und schlachtsteuerpflichtige Städte. Alle anderen 31 Klein- und Kleinststädte wurden steuermäßig und seit der Einfuhrung der Landgemeindeordnung 1841 auch politisch als Landgemeinden eingestuft 37 . Sie unterschieden sich sozialökonomisch nur wenig vom umliegenden Land. Die vier größeren Städte waren teils Verwaltungs- (Minden, Paderborn), teils Handelszentren (Herford, Bielefeld), von denen nur Bielefeld mit der Industrialisierung eine größere Bedeutung gewann. Auch die Geschichte der politischen Ereignisse und Haltungen enthält allgemeinere preußische Züge. Minden-Ravensberg und Paderborn erlitten beide im Siebenjährigen Krieg große Schäden und Verluste, blieben jedoch von direkten Einwirkungen der Revolutionskriege seit 1792 verschont, fielen dann aber an das napoleonische Frankreich. Offene Unruhen waren 32

selten. Die politische Mentalität war - der konventionellen Überlieferung und Selbstdarstellung zufolge - geprägt von einem »stammesartigen« und konfessionellen, scheinbar naturwüchsigen Konservatismus. Loyalität z u m Herrscherhaus und zur weltlichen und geistlichen Obrigkeit verband sich mit einem hohen, eher introvertiertem Selbstwertgefuhl über die eigene »ruhige, besonnene« Art und eine besondere Zähigkeit und Rechtlichkeit. Gerne erinnert man sich, als einer indirekten Anerkennung des »unbeugsam e n Rechtsgefiihls«, an einen Ausspruch Friedrichs II., der 1746 anläßlich der Justizreformen sagte, daß er in Preußen keine Advokaten mehr sehen wolle, »den Westfälingern aber, die von Gott und der Vernunft entfernt, z u m Z a n k geboren sind«, u m »ihres Herzens Hartnäckigkeit willen« so viele Advokaten lassen wolle wie sie wünschten 3 8 . N u r die Paderborner Bevölkerung mit ihrem »ungestümen Temperament« (Annette v. Droste-Hülshoff) fugte sich nicht in das Bild über das »ruhige, besonnene, in sich selbst verschlossene Wesen der Westfälinger«, wie der Freiherr v. Stein schrieb 3 9 . Es waren anscheinend also »eigensinnige« Konservatismen. Seit 1848 bildete das Paderborner Land eine der »schwärzesten« Bastionen des politischen Katholizismus, Minden-Ravensberg dagegen eine H o c h b u r g des protestantisch-preußischen Konservatismus. In Gestalt des Stoeckerschen christlichsozialen, antisemitischen Konservatismus erfaßte er auch große Teile der ländlichen Unterschichten, w u r d e bis 1914 aber von der Sozialdemokratie in den Städten und deren industriellem U m l a n d zurückgedrängt. Freilich hat die ostwestfälische Sozialdemokratie seit ihrem Aufstieg u m die J a h r h u n dertwende den Ruf, »gemäßigt« zu sein und ihr ungekrönter König Carl Severing war in der Weimarer Republik knapp acht Jahre lang preußischer Innenminister 4 0 . Obgleich die politische Konstellation nach 1850 durch die Transformation der älteren Sozialstrukturen geprägt wurde, steckten in ihr auch noch die Zeiten vor 1850, denen die vorliegende Studie gewidmet ist. Sie erstreckt sich über den Zeitraum von 1770 bis 1850 und thematisiert damit die Lage der Unterschichten, der Bauern und die ländliche Klassenstruktur in einer besonders problematischen Phase der ländlichen Gesellschaft. Das starke Bevölkerungswachstum bildete eine grundlegende Herausforderung für die überlieferten wirtschaftlichen u n d sozialen Strukturen. Ein neuer A u f s c h w u n g des proto-industriellen Gewerbes einerseits und - in M i n d e n Ravensberg schon bald nach 1763 einsetzende - Agrarreformen andererseits waren funktionale »Antworten« darauf, die gleichwohl das soziale Problem, die Integration der Unterschichten in eine Gesellschaft der Grundbesitzer durch die ihnen eigene Form und D y n a m i k nur begrenzt bzw. nicht lösen konnten. Die Proto-Industrialisierung vergrößerte die besitzlose U n t e r schicht, die i m m e r weniger über eine Landnutzung verfugen konnte und deren Existenzgrundlagen in den K o n j u n k t u r e n und Krisen von Landwirtschaft u n d Gewerbe gleichsam zerbröselten. Im weiteren w u r d e die Wahl des Zeitraums der Untersuchung von der Frage nach der »Fundamentalpoli-

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tisierung« seit 1789 und dem politischen Verhalten der Unterschichten bestimmt. Mit den sozialökonomischen Veränderungen, der Aushöhlung der Familienwirtschaften, der Verbreiterung von Markt- und Klassenstrukturen n a h m auch die politische Betroffenheit und die Angewiesenheit auf Politik zu 4 1 . Diese Probleme stauten sich bis 1848 und explodierten gleichsam in den Märzrebellionen, in denen auch die »besonnenen« Westfalen und die ländlichen Unterschichten in einem die Zeitgenossen überraschenden Maße »unruhig« waren. Dieser letzte Aspekt wird jedoch nur in Ausblicken berührt. Detailliert schildert die Darstellung die gesellschaftliche Vorgeschichte der Rebellionen und H o f f n u n g e n in der Revolution. Ihr Aufiau ist nicht chronologisch, sondern spiegelt gleichsam eine (allerdings nicht vollständige) Enthäutung der Zwiebel »ländliche Gesellschaft«. Kapitel II umreißt die Ausgangsbedingungen u m 1800, während die folgenden Kapitel jeweils bestimmte Aspekte der ländlichen Wirtschafts- und Sozialstruktur und ihrer Entwicklungen chronologisch in sich geschlossen bis zum Vorabend der Revolution verfolgen. Einem kurzen U m r i ß der Bevölkerungsentwicklung (III) folgen zwei Kapitel über die Agrarreformen (IV) und die gewerblichen Konjunkturen und Krisen (V), die - soweit sich das trennen läßt - die ökonomischen Seiten darstellen, während anschließend die sozialen im Vordergrund stehen. Kapitel VI beleuchtet die u m den bäuerlichen Grundbesitz herum organisierte ländliche Klassenstruktur und die Auswirkungen von Bevölkerungsvermehrung, Agrarreformen und gewerblichen Entwicklungen auf die soziale Schichtung. Kapitel VII vertieft die Frage nach der Klassenstruktur am Beispiel des Heuerlingssystems, wobei insbesondere die M o m e n t e sozialer Integration bzw. Spannung interessieren. In Kapitel VIII wird die ländliche Gesellschaft unter der Frage betrachtet, bis zu welchem Grade und in welchen Formen die Proto-Industrialisierung soziale Schichtung und Beziehungen auf dem Lande beeinflußte. Abschließend wendet sich die Darstellung der A r m u t zu, dem elementaren Lebensproblem der U n t e r schichten, wobei insbesondere nach dem gesellschaftlichen Erfahrungsgehalt der A r m u t und nach Unterschieden zwischen kleinbäuerlichem und proto-industriellem Pauperismus gefragt wird. Trotz der jeweils zwischen Minden-Ravensberg und Paderborn vergleichenden Perspektiven liegt ein relatives Schwergewicht auf der Darstellung der ersteren Region. Teils haben die Probleme der proto-industriell durchsetzten bäuerlichen Gesellschaft schon in der damaligen Verwaltung einen reichhaltigen »Diskurs« in Gang gesetzt und überliefert, teils - was wichtiger ist - war Minden-Ravensberg infolge der Proto-Industrialisierung eine »komplexere« ländliche Gesellschaft als das Paderborner Land. Landwirtschaft und Proto-Industrie waren funktional und sozial eng miteinander verbunden und gleichzeitig der Dynamik des Handelskapitalismus ausgesetzt. Das warf die Frage auf, ob und wie das städtische Handelskapital die bäuerliche »Teilgesellschaft« in ihrem Inneren veränderte. Die Analyse die34

ser Frage bzw. der agrarisch-gewerblichen Verflechtung und damit der Klassenstruktur der Proto-Industrie stellt auch den Beitrag zur Debatte über Proto-Industrialisierung dar, den die Untersuchung leisten konnte 4 2 . Sie enthält keine Gesamtdarstellung der minden-ravensbergischen Proto-Industrialisierung, sondern begreift diese als ein, freilich zentrales und weitwirkendes Strukturelement der ländlich-bäuerlichen Gesellschaft dieses Raums, welches bewirkte, daß sich am Ende die Bauern als die allein risikolosen Gewinner der Proto-Industrialisierung erwiesen. Dies war eine Folge der engen Anpassung der proto-industriellen Produktionsverhältnisse an die der bäuerlichen Landwirtschaft in Gestalt des Heuerlingssystems. Die Darstellung beleuchtet diese Konstellation in verschiedenen Durchgängen und mag insofern einen gewissen statischen Charakter besitzen. Dieser Gliederungseffekt reflektiert jedoch ein inhaltliches Element, die Kontinuität der gesellschaftlichen Strukturen zwischen 1770 und 1850. Dies zeitigte wiederum spezifische Probleme des Wandels, nämlich eine Zersetzung von Elementen der alten Strukturen, ohne daß sich neue gebildet hätten, so daß mit den sich kumulierenden Problemen die »Dauer zum Ereignis« wurde 4 3 . Die Darstellung bleibt strikt auf die beiden westfälischen Regionen bezogen, nur gelegentlich wird auf ähnliche oder unterschiedliche Probleme in anderen Regionen hingewiesen. Aber selbst diese Beschränkung zeigt etwas von der regionalen Vielfalt ländlicher Existenz, die weitere Vergleiche wahrscheinlich noch viel deutlicher machen würden. Im übrigen hat diese regionale Borniertheit der Darstellung ein fundamentum in re. Die Lebensweise und der Orientierungsraum der hier geschilderten Menschen waren wesentlich lokal-regional bestimmt. Der wirtschaftliche und gesellschaftliche Regionalismus war bekanntlich ein politisches Problem des 19. Jahrhunderts gerade in Preußen, dessen staatsgesellschaftliche Einheit im Vormärz erst durch die Verwaltung und dann durch die Unterschichten begründet wurde. Die gesellschaftliche Einheit entstand »in gemeinsamer Not, wenn man so will: im Proletariat« 44 . Allerdings war dies eine noch negative Einheit. Denn das vormärzliche Proletariat, das 1842 eine gesamtstaatliche Armengesetzgebung nötig machte, war eine gesamtstaatliche Unterschicht gerade deshalb, weil es als sozial desintegrierter »Bevölkerungsüberschuß« aus den lokal-regionalen Gesellschaften hinausgedrängt wurde.

4. Literatur und Quellen Die Darstellung, die Agrar- und Gewerbegeschichte mit der Geschichte sozialer Klassen zu integrieren sucht, konnte sich auf mehrere landes- bzw. regionalgeschichtliche Vorarbeiten stützen. Relativ am besten erforscht ist das Garn- und Leinengewerbe in Ravensberg, insbesondere auch durch einige neuere Arbeiten, die nach Abschluß der Forschungen für die vorlie35

gende Studie erschienen 45 . Gegen diese reichhaltige Literatur heben sich deutlich mehr oder weniger große Forschungslücken ab für das ländliche Handwerk, das proto-industrielle Gewerbe im alten Fürstentum Minden und die Landwirtschaft in Minden-Ravensberg. Für das Paderborner Land liegen einige fundierte Untersuchungen zur Agrar- und Gewerbegeschichte des 18. Jahrhunderts vor; die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte dieser Region i m 19. Jahrhundert ist dagegen - mit Ausnahme einiger lokaler Untersuchungen - noch weithin unerforscht 4 6 . Diese Lücken können in der vorliegenden Untersuchung nur teilweise gefüllt werden. Trotz mancher U n genauigkeiten ist wegen seiner empirischen Breite Schultes Werk »Volk und Staat« i m m e r noch eine Art von Handbuch zur politischen und Sozialgeschichte Westfalens i m Vormärz und in der Revolution. Die in Schultes ungewöhnlich realistischer Darstellung der sozialen Krisen und Unruhen in den Unterschichten wirksame Annahme eines naturwüchsigen westfälischen Konservatismus wird hier nicht als regionale Eigenart, sondern als ein sozialgeschichtliches Problem thematisiert. Aber auch und gerade in diesem Zusammenhang bleibt eines der von Schulte überzeugend dargestellten Ergebnisse gültig, nämlich, daß in Westfalen die Revolution ganz von der »sozialen Frage« bestimmt wurde. - Anregend und vergewissernd unterstützten diese Untersuchungen zu Minden-Ravensberg und Paderborn neben den grundlegenden Werken zur Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts nicht zuletzt auch Arbeiten über andere westfälische und nordwestdeutsche Regionen mit teilweise ähnlichen Problemstellungen und Befunden zur ländlichen Sozialgeschichte 47 . Als Quellen wurden in der Hauptsache solche staatlicher Provenienz in den westfälischen Archiven herangezogen, vornehmlich die Akten der Kriegsund Domänenkammer Minden, der Paderborner fürstbischöflichen Behörden, für die Zeit nach 1815 die Überlieferung des Oberpräsidiums der Provinz Westfalen in Münster, der Regierung Minden, der staatlichen Gerichte und — soweit noch vorhanden und geordnet - der Landratsämter und Amtsverwaltungen. Auf der Suche nach den Unterschichten wurden alle Verwaltungsbereiche gewissermaßen durchgekämmt. Dabei k a m in ausfuhrlichen und genauen Berichten, vor allem aber in einer unvermuteten Vielzahl von Petitionen, die in den Sachakten enthalten sind, mehr über spezifische Probleme und das Verhalten der Unterschichten zutage als in einer Quellengruppe wie den monatlichen »Zeitungsberichten«, deren Schema w i e die Jahresverwaltungsberichte der Regierung 4 8 den gesamten Bereich der Verwaltung abdeckte, die aber häufig nur stereotype Formeln bieten. Das mag auch mit der relativ hohen Ebene der Überlieferung zusammenhängen. Mit wenigen Ausnahmen sind für die Zeit bis 1850 nur noch die Zeitungsberichte der Regierung Minden erhalten, die aus den monatlichen Berichten der Landräte redigiert wurden, so wie diese ein Resümee der Berichte der Amtmänner waren. Es liegt auf der Hand, daß damit - w i e Reste von erhaltenen Landrats- und Amtmännerberichten nahelegen - viele

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auch strukturell aufschlußreiche Details im Filter überblicksartiger und glättender Formulierungen verloren gingen. Gleichwohl enthalten die regelmäßigen Zeitungs- und Jahresverwaltungsberichte einen unentbehrlichen Fundus an sozialgeschichtlicher Dokumentation. N u r sekundär und exemplarisch innerhalb einer mit konventionellen Quellen erarbeiteten Argumentation wurden die in der neueren Regionalgeschichte grundlegenden seriellen Massenquellen der staatlichen und kirchlichen Verwaltung, d.h. Katasterbücher, Protokolle der freiwilligen Gerichtsbarkeit und Kirchenbücher herangezogen. Mit ihrer und der Hilfe zeitgenössischer Statistiken wurde versucht, die »Masse des >Banalen< und >Typischen< (als das) Material der Geschichte« 49 zu fassen, das die historische Alltagswirklichkeit beherrschte. Die oft frustrierenden Mängel der statistischen Quellen, ihre für heutige Fragestellungen unscharfen Kategorien, ihre Lücken und Ungenauigkeiten - das gilt besonders für die Agrarstatistik-, das mühsame und unsicher bleibende Geschäft ihrer Neugruppierung feien von selbst gegen eine quantifizierende Zahlengläubigkeit. Gleichwohl spiegeln sich in den Preisreihen, Besitzzählungen usw. massenhaft relevante Zustände und Bedingungen wie Resultate menschlichen Handelns, die bei allen Mängeln eine conditio sine qua non fur die Erforschung der allermeist anonym bleibenden Unterschichten sind, selbst wenn man heute P. Vilars optimistisches Urteil von 1973 mit einem skeptischen Fragezeichen versehen mag, nämlich, daß »nur« die historische Statistik die »Möglichkeit einer materialistischen Geschichte als die der Massen (begründet), d.h. sowohl der massiven Tatsachen an der Basis als auch der menschlichen >Massengegen den Strich< lesen, und doch bleibt ein (zuweilen dröhnendes) Schweigen, das vielleicht auch ein Trotz war gegen die Zumutungen der Geschichte. Oder wie damals ein vom Geist der 37

Aufklärung durchdrungener, aus einer Patrizierfamilie stammender, langjähriger katholischer Landpfarrer in einem württembergischen D o r f das »Studium« seiner Pfarrkinder resümierte: »Die vorzüglichsten Fehler der Landleute, Härte, Grobheit, Dieberei, Zank um Kleinigkeiten sind Folgen ihrer Armut und ihres Elends. Ich fasse leicht, warum der Bauer - ich meyne den größten Theil, Besitzer kleiner Gütchen, Tagelöhner - in der Kirche nicht singen will. Er überläßt es den Chorknaben, die des Lebens Mühe nicht kennen, und nimmt keinen Theil daran. « 52

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II. Soziale und wirtschaftliche Strukturen in Minden-Ravensberg und Paderborn. Die Ausgangslage um 1800 1. Das Bild der Zeitgenossen »Glückliches, kräftiges Ländchen! Karg ausgestattet von der Natur, reich durch den Fleiß seiner Bewohner - du bist die letzte unter den glücklichen westfälischen Provinzen Preußens, die ich nenne, aber wahrlich eine der ersten, die genannt zu werden verdiente! Deine steigende Blüthe beweist mehr als alles die Weisheit deiner Regierung und die Emsigkeit deiner Bürger, die es wert sind, das beste Schicksal unter diesem Zepter zu genießen.«

In dieser panegyrischen Anrufung des Ravensberger »Linnenländchens« durch Justus Gruner kulminiert das Lob dieser »industriösen« preußischen Provinz in der zeitgenössischen Publizistik1; die utilitaristischen Spätaufklärer sahen hier ihr Ideal ökonomischer Entwicklung durch »Industriosität«, einer vielseitig ausgebildeten und asketischen Arbeitsamkeit, wenn schon nicht ganz erfüllt, so doch auf einem guten Wege der Vollendung. In der Tat kamen die proto-industriellen Zustände in Minden-Ravensberg den physiokratisch-kameralistischen Projekten eines volkswirtschaftlichen Wachstums mit der gewerblichen Verarbeitung von Rohprodukten durch die »nützlichen Arbeiten« der ländlichen Unterschichten nahe. Wie es im »Westfälischen Magazin«, das diese Zustände ebenso dokumentiert wie das Fortschrittsbewußtsein der borussophilen westfälischen Intelligenz - in beidem apologetisch gegen das zeitübliche Vorurteil gegen Westfalen-, heißt: »Hier ist alles Spinner oder Fabrikant, und man kann gewissermaßen das ganze Land wie eine Werkstätte betrachten. «2 Am merkantilistischen Wohlstandsbarometer, dem ausländischen »Debit«, gemessen, gehörte Minden-Ravensberg zu den drei reichsten und fleißigsten Provinzen des Königreichs Preußen 3 . U m so krasser mußten sich der selbstbewußt-überlegenen preußischen Beamtenschaft und Intelligenz die Zustände in Paderborn darstellen. Das Fürstbistum war um 1800 nicht nur in der regionalen westfälischen Publizistik das Schreckbild eines unaufgeklärten, zurückgebliebenen Landes. Vincke faßte 1804 die ökonomische Kritik zusammen: Eine kleinbäuerliche Landwirtschaft, 30% des Bodens durch die »tote Hand« gebunden, Städte, 39

die bloße Dörfer seien; Verschwendung von Arbeitszeit durch die zwar abgesetzten, »aber noch viel gefeierten Festtage«; endlich fand er, »daß man die häusliche Industrie des Spinnens und Webens, so charakteristisch für Westfalen und von so unschätzbarem Wert, weil sie jeden sonst nutzlosen Augenblick zu Gelde macht, hier völlig vermißt, ebenso in den Städten jede Idee von Handel - eine in quali et quanto höchst elende Krämerei verdient den Namen nicht und jede Spur von Spekulationsgeist. Eine nur für den nächsten Notbedarf einer wenig bedürfenden Genügsamkeit mobilisierte Indolenz ist allgemein . . ,« 4

Am nächsten greifbar als Symptom und Ursache für Armut, Bettelei und Indolenz war für die protestantischen Autoren die katholische Religion: Müßige Geistliche und abergläubisch-fanatische Mönche würden Bildung und Aufklärung durch ihr Beispiel einer weitabgewandten Frömmigkeit behindern. Bildung und Fleiß war im Erziehungsglauben der Aufklärer aber eins, der Rückschluß somit naheliegend. Kurz und bündig konnte von einer »Nationalneigung zur Faulheit« gesprochen werden 5 . Indikatoren der zeitgenössischen Statistik bestätigen dieses Bild nicht immer. Das Fürstbistum hatte um 1800 zwar eine fast um die Hälfte niedrigere Bevölkerungsdichte; hier lebten 38, in Minden-Ravensberg hingegen 74 Menschen auf einem km 2 . Andererseits aber hatte es auf den ersten Blick eine ähnlich hohe ländliche Gewerbedichte. In beiden Regionen waren 17% der ländlichen »Hauswirte« in ihrem Hauptberuf Gewerbetreibende, und bezogen auf die Bevölkerung war die ländliche Gewerbedichte im Paderborner Land sogar etwas höher als in Minden-Ravensberg (35,9 bzw. 31,3 Gewerbetreibende pro 1000 Einwohner). Daneben war in beiden Regionen noch eine Vielzahl von landarmen Kleinbauern und landbesitzlosen Heuerlingen und Einliegern auf außeragrarische Einkommen angewiesen 6 . Das für die Zeitgenossen so auffällige Wohlstandsgefälle zwischen MindenRavensberg und Paderborn läßt sich also nicht ohne weiteres auf den Gegensatz zwischen agrarischer Rückständigkeit und gewerblichem Fortschritt reduzieren. Welche Faktoren bewirkten aber dann den Unterschied? Welches Gewicht hatte jeweils das ländliche Handwerk und das proto-industrielle Textilgewerbe? Antworten darauf sollen im folgenden versucht werden durch eine nähere Darstellung der agrarischen Besitzstrukturen, der verschiedenen Typen ländlicher Gewerbe und deren Folgewirkungen für die Landwirtschaft.

2. Agrarische Besitzstrukturen und ihre Genese In Minden-Ravensberg und Paderborn waren im späten 18. Jahrhundert die Vollbauern in einer Minderheit. Diese Gruppe mit einem Pferdegespann und einer vollen Ackernahrung, d. h. genügend Land (mindestens 5 ha) für

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die ausschließlich agrarische Subsistenz einer Familie, machte um 1800 in Minden-Ravensberg 26% und im Paderborner Land 22% der »hauptberuflich« agrarisch erwerbstätigen Hauswirte aus. Die gegenüber dieser Gruppe »unterbäuerlichen Schichten«, die auf einen Zuerwerb angewiesenen Kleinbauern stellten hingegen 31% bzw. 54% und die Heuerlinge bzw. Einlieger 43% bzw. 24% der Hauswirte 7 . Diese beiden Gruppen waren die Hauptträger der ländlichen Gewerbe. Ihre Zunahme war zunächst eine Folge der frühneuzeitlichen Bevölkerungsvermehrung; die Bevölkerung der Grafschaft Ravensberg hat sich zwischen 1550 und 1800 von ca. 31000 Menschen auf knapp 90000 verdreifacht 8 . Der Status jener Gruppen und ihre regional unterschiedlichen Anteile waren dann ein Resultat des durch die herrschaftliche Agrarverfassung und die Intensität ländlicher Gewerbe modifizierten demo-ökonomischen Problems der Agrargesellschaft: Bevölkerung und Wirtschaft konnten bei einer sehr langsam ansteigenden Arbeitsproduktivität nur wachsen bei einer Ausdehnung der Anbaufläche. Seit dem Spätmittelalter bedeutete die Bevölkerungsvermehrung eine Siedlung auf weniger ertragreichen Randböden bei gleichzeitiger Verkleinerung der Betriebe 9 . In Ravensberg 10 ist seit dem 16. Jahrhundert die Siedlung der Markkötter oder Brinksitzer zu beobachten. Sie waren kleinbäuerliche Siedler, die sich ein Haus bzw. einen Kotten auf dem Markenland bauten und dazu von den Gemeinden und adeligen Markenherren Zuschläge an Land erwarben. Die zunächst geringe Qualität und Quantität des Landes zwang sie zur landwirtschaftlichen Kultivierung und gewerblichen Arbeit. Mit der zunehmenden Siedlung der Markkötter fiel die Expansion der ländlichen Spinnerei und Weberei zusammen, die selbst wiederum die Ausdehnung dieser kleinbäuerlichen und unterbäuerlichen Schichten begünstigten. Charakteristischerweise zog der Markkötter sehr schnell einen weiteren Siedlertyp nach sich, der noch stärker auf das ländliche Gewerbe angewiesen war, den Heuerling. Er war ein besitzloser kleiner Pächter oder Einlieger ohne Land, der bei einem Bauern zur Miete wohnte und seinem »Wirt« die Pacht oder Miete durch Arbeitsleistungen und mit Geld abbezahlte. Der Heuerling war ein Landarbeiter mit eigener Wirtschaft und daneben Spinner oder Weber, manchmal auch ein Handwerker. Schon im 17. Jahrhundert waren auch Kleinstätten Heuerlingskotten zugeordnet, wahrscheinlich als Bargeldquelle für die kleinbäuerlichen Wirte. Dies läßt annehmen, daß der Heuerling auch in der Frühzeit in erster Linie ein Spinner oder Weber war, der als Landarbeiter allerdings spannungsvoll in die bäuerliche Wirtschaft integriert blieb 11 . Die starke Zunahme gerade dieses Typs innerhalb der unterbäuerlichen Schichten gründete neben dem expandierenden Textilgewerbe auch in der Agrarverfassung. Einmal duldeten die Minden-Ravensbergischen Grundherren, die Rentenbezieher ohne größere Eigenwirtschaften waren, und der preußische Landesherr im Interesse ihrer Einkünfte aus Renten oder Heuerlingsgeldern die Ansiedlungen. Z u m anderen gelang es ihnen, anders offen41

bar als im Paderborner Land, bei steigenden bäuerlichen Lasten die im Meierrecht festgeschriebene »geschlossene« Vererbung der Höfe auch durchzusetzen. Diese sollte die Stabilität und kontinuierliche Leistungsfähigkeit der Höfe sichern. Das damit verbundene Anerbenrecht drängte die nicht-erbenden bäuerlichen Nachkommen entweder in die kleinbäuerliche Markensiedlung oder auf Heuerlingsstellen. Da dies eine gewisse Einschränkung der Markennutzung für die Altbauern bedeutete, verhielten diese sich anfänglich widerstrebend 12 . Schließlich aber waren ihnen die Heuerlinge als eine Quelle des infolge steigender Steuern und Abgaben nötiger werdenden Bargeldes willkommen. Zuweilen wird sogar berichtet, daß sie Gläubiger der Bauern waren 13 . Eine quantitative Nachzeichnung dieses Prozesses sozialer Differenzierung auf dem Lande ist wegen schwer vergleichbarer Kategorien allein für Ravensberg näherungsweise möglich; insbesondere die Zunahme der Markkötter ist in ihren einzelnen Phasen schwer erkennbar. Stellen bzw. Familien von Heuerlingen oder - nach ihrem älteren Namen - »Hüssenten« wurden in Ravensberg um 1550 103, imjahre 1672 3807 gezählt, im Jahre 1762 dann 4295 und imjahre 1797 schließlich 7064. Einem Schub im 16./17. Jahrhundert folgte danach ein neuerlicher Aufschwung nach dem Siebenjährigen Krieg mit dem Boom des Textilgewerbes, der erbpachtweisen Parzellierung der Domänen und den einsetzenden Markenteilungen. Dabei konzentrierte sich gegen 1800 die Heuerlingsbevölkerung auffallend in den Gegenden des alten Bistums Minden und vor allem der Grafschaft Ravensberg mit besonders intensiver Spinnerei und Weberei. Der unterschiedliche Grad von Proto-Industrialisierung schlug sich nieder in der Bevölkerungsdichte: Minden hatte imjahre 1777 48 Einwohner pro km 2 , das Ravensberger »Linnenländchen« hingegen 7614. Auch im Paderborner Land waren die oben angedeuteten immanenten agrargesellschaftlichen Restriktionen für demographisches und wirtschaftliches Wachstum wirksam. Die Neusiedler, hier alte und neue Zulägerer genannt, wurden auf klein- und kleinstbäuerliche Stellen, schließlich als Häusler, Beilieger oder Einlieger - der Name »Heuerling« war hier weniger gebräuchlich - auf landlose Stellen gedrängt 15 . Neben dieser Neusiedlung resultiert der größere Anteil von Kleinbauern im Paderborner Land wahrscheinlich auch noch aus Teilungen von alten Höfen. Seit den spätmittelalterlichen Wüstungen haben die Bauern den Grundherren das Erbrecht unter der Bedingung der ungeteilten Übergabe des Hofes abgerungen, gleichzeitig aber eine große Dispositionsfreiheit gewahrt. Gegen das meierrechtliche Teilungsverbot haben sie die Höfe nicht nur nach dem Anerbenrecht übergeben, sondern u. U. auch unter die Erben geteilt, wie wiederholte Einschärfungen des Teilungsverbotes annehmen lassen16. Begünstigt wurde dies durch das neben dem Meierrecht bestehende Erbzinsrecht, das den bäuerlichen Besitzern gegen eine Realabgabe die freie Verfügung über den Boden und ein freies Erbrecht garantierte. Das Land 42

dieser Bauern stellte wie die »walzenden« Grundstücke in Süddeutschland ein mobiles Land dar, das als »Austauschmittel, Vergütung für Kindesteile und Brautschätze« fungierte und dazu beitrug, »den Verkehr zu befördern und Geldschulden zu verhindern« 17 . Aus dieser relativ weitgehenden bäuerlichen Dispositionsfreiheit folgte eine gewisse Beschneidung und Zersplitterung der Höfe. Schon um 1700 waren von den Betrieben der landesherrlich abhängigen Bauern (etwa 20% aller Bauern) 34% kleiner als 2 ha, 60% kleiner als 5 ha und 80% kleiner als 10 ha; die große Mehrzahl lag also deutlich unter dem Minimum einer vollen Ackernahrung von 8 ha für das Paderborner Land. 1802 wurden im gesamten Fürstbistum 5582 Kleinbauern (Kötter, Bardenhauer) und 2481 Einlieger und Beiwohner gegenüber 2277 Voll- und Halbmeiern gezählt18. Offenbar behinderte gerade der kleinbäuerliche Zuschnitt des Paderborner Landes die Ansiedlung jener »Beiwohner«, da sie das Markenland belasteten, das die Kleinbauern für ihre Viehwirtschaft dringend nötig hatten. Ravensberger Verhältnisse, d. h. ein Überwiegen der Besitzlosen gegenüber den Grundeigentümern beobachtete Schwerz nur »an einigen Orten« im Paderborner Land, nämlich besonders dort, »wo viele Gemeingründe sind«19. Nicht wenige der Einliegerstellen waren zudem keine Familienstellen wie bei den Heuerlingen in Minden-Ravensberg, sondern stellten eher eine Art des Gesindes dar 20 . Die Befunde über die unterschiedlichen agrarischen Besitzstrukturen in Minden-Ravensberg und Paderborn konvergieren nicht mit der landwirtschaftlich-betriebssoziologischen Feststellung von Schwerz, daß Kleinbetriebe in den gewerbedichten ländlichen Zonen überwiegen würden und dort, wo sich die Erwerbstätigkeit auf den Ackerbau beschränke, die Wirtschaften größer seien21. Danach wäre ein kleinbäuerlich bestimmtes Minden-Ravensberg und ein eher großbäuerlich bestimmtes Paderborner Land zu erwarten. Anscheinend war für die Entwicklung der ländlichen Gewerbe das Angebot »überschüssiger« kleinbäuerlicher Arbeitskraft zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung. Von Bedeutung waren daneben der spezifische Charakter dieser Gewerbe und ihre Rückwirkungen auf die Landwirtschaft selber.

3. Landhandwerk und proto-industrielles Textilgewerbe Die oben erwähnte annähernd gleiche ländliche Gewerbedichte in MindenRavensberg und Paderborn wird bei einem zweiten Blick beträchtlich ungleicher. Dies gründet im verschiedenen Charakter der Gewerbe. Von den zwei Typen des ländlichen Gewerbes, dem Landhandwerk mit einem vorwiegend lokalen Absatz und dem proto-industriellen Exportgewerbe waren in Minden-Ravensberg beide, im Paderborner Land das letztere hingegen 43

nur schwach entwickelt. Bevor dies näher geschildert wird, empfiehlt sich jedoch eine Abgrenzung des ländlichen Gewerbes gegenüber dem städtischen.

a) Städtisches und ländliches

Gewerbe

In beiden Regionen läßt sich im späten 18. Jahrhundert wie auch anderswo nicht mehr von einer gewerblich-agrarischen Arbeitsteilung zwischen Stadt und Land sprechen. Die Städte hatten zwar noch eine erheblich höhere Gewerbedichte; hier kamen 90 und mehr, auf dem Land hingegen 31 bis 36 hauptberuflich Gewerbetreibende auf 1000 Einwohner. In absoluten Zahlen aber erreichte oder überflügelte das ländliche Handwerk (ohne die Leineweber) das städtische. U m 1800 lebten in Minden-Ravensberg 2209 Handwerksmeister in den Städten, gegenüber 3009 ländlichen Handwerkern; im Paderborner Land war das entsprechende Verhältnis 2295 zu 2046. Besonders verbreitet und zahlreicher als in den Städten waren auf dem Land die Handwerksberufe für den »Grundbedarf«, die Schneider, Schuster, Schmiede, Zimmerleute, Tischler und Rademacher und natürlich die Leineweber, die hier aber nicht berücksichtigt werden sollen, da bei ihnen lokale und Exportproduktion sich vermischten. Jene Berufe waren auch die in der Grafschaft Ravensberg 1719 konzessionierten ländlichen Handwerker. In ihrer Gesamtheit machten sie in Minden-Ravensberg und Paderborn um 1800 7 3 % bzw. 7 8 % der ländlichen Handwerker (ohne Leineweber) aus 22 . Angesichts dieser handwerklichen Selbstversorgung des Landes schrumpfte die gewerblich-zentralörtliche Funktionsleistung der Städte für das Umland auf Spezialhandwerke und den Handel. Als solche ragten aus der Vielzahl der Kleinstädte (weniger als 2000 Einwohner) die Festungs- und Verwaltungsstadt Minden, die Handels- und Garnisonstädte Herford und Bielefeld sowie die Residenz- und Verwaltungsstadt Paderborn mit jeweils 4000 bis 5000 Einwohnern heraus. Auch diese Städte und erst recht die Kleinstädte hatten noch einen breiten landwirtschaftlichen Unterbau. Die letzteren unterschieden sich in ihrer Beschäftigungsstruktur nur wenig von ihrem ländlichen Umland, denn Kleinhändler waren auch auf dem Lande häufig anzutreffen. »Die Hauptnahrungszweige«, heißt es über das Städtchen Halle in Ravensberg, »sind Ackerbau, Handlung und Spinnen« 23 . Kein Wunder, daß die städtischen Handwerker über die Konkurrenz der Landhandwerker klagten und wie diese unterbeschäftigt oder auf Mehrfachbeschäftigung angewiesen waren. Die häufig kümmerliche Lage machen schon die durchschnittlichen Betriebsgrößen wahrscheinlich: In MindenRavensberg waren 50%, im Paderbornischen 7 5 % der städtischen Meister ohne Gesellen. Am schlechtesten standen sich wahrscheinlich die nichtzünftlerischen Alleinhandwerker, die zur Miete wohnten und vermutlich nicht selten vom Land zugewandert waren. Zwei Tischler, die 1766 nach 44

Halle gezogen waren - »da doch leider Gottes Erbarmen ein Heuersmann bals hie bals dorten ziehen muß« - petitionierten zwei Jahre später an den König um den Erlaß der unbezahlbaren Steuern: »Hierzulande muß ein Tischeier den Winter über das spinradt vor die Kniee kriegen . . . darum ist er noch viel schlimmer (daran) wie ein gemeiner Tagelöhner . . . « 2 4 . Ganz im Schatten der »Landesfabrik«, der ländlichen Spinnerei und Weberei standen schließlich auch die städtischen »Fabriken und Manufakturen«. Unter diesem Terminus hat die preußische Verwaltung über Akziseund Handelsstatistiken insbesondere die Produktion für überlokale Märkte neben dem lokalen Handwerk zu erfassen versucht. Erfaßt wurde die Weberei von Wolle, Leinen und Baumwolle, die Produktion in Zuckersiedereien, Lohgerbereien, Seifensiedereien, Mühlen und in den Eisen- und Tabakmanufakturen. Obwohl mit wenigen Ausnahmen diese kleinen »Fabriken« in den Städten, hauptsächlich in Minden und Bielefeld angesiedelt waren, wurden sie von der ländlichen Hausindustrie, die unter jenem Zugriff ebenfalls zu den »Fabriken und Manufakturen« rechnete, weit überflügelt. Selbst ohne die nicht erfaßte Garnspinnerei entfiel 1796 vom Produktionswert der »Fabriken« im Mindenschen 27%, in Ravensberg aber 76% auf die ländliche »Industrie«, die mit der Weberei von Leinen fast identisch war. Auch die »Arbeiter« der »Fabriken« wohnten zu 87% (Minden) bzw. 79% (Ravensberg) auf dem Lande. Berücksichtigt man die unvollkommene Erfassung, dann ist das Urteil des Wirtschaftshistorikers des Ravensberger Leinengewerbes nicht übertrieben: »Alle Theorie, daß die Bauern vom Ackerbau, die Bürger vom Handwerk und Handel zu leben hätten, wurde hier auf den Kopf gestellt.« 25 Von den anderen Teilen des späteren Rgbz. Minden sind für das späte 18. Jahrhundert keine den preußischen vergleichbare Quellen vorhanden, so daß man auf Einzelangaben angewiesen bleibt. In der Grafschaft Rietberg, im Osnabrückischen Amt Reckenberg und in der Herrschaft Rheda, die zusammen den späteren Kr. Wiedenbrück bildeten, war Ackerbau und Garnspinnerei das Hauptgewerbe. Die Kleinstädte Rheda, Wiedenbrück und Rietberg hatten gegenüber der ländlichen Umgebung keine ökonomische Funktion, sondern wurden darin vom Dorf Gütersloh (1825 zur Stadt erhoben) überragt, das 1803 mit 2300 Einwohnern größer war als jene Kleinstädte und ein Zentrum der Spinnerei und des Garnhandels bildete. Die Leinenweberei war in diesem Gebiet wenig verbreitet. Daneben gab es eine Strumpffabrik, ein paar Mühlen, Ziegeleien und Tabakspinnereien mit insgesamt vielleicht 50 Beschäftigten 26 . Im Paderborner Land arbeiteten nach einer Erhebung von 1811 etwa 550 Menschen in »Fabriken«, davon 120 in einer nur kurzlebigen Tuchmanufaktur in Neuhaus bei Paderborn; etwa 100 »Arbeiter« waren in Glashütten beschäftigt, der Rest in vier Lederfabriken und einer Vielzahl von Mühlen, die wie die Glashütten Kleinbetriebe waren. Etwa 100 Pottaschensiedereien waren reine Ein-Mann-Betriebe. Hinzu kam das Fürstbischöfliche Salzwerk 45

bei Salzkotten mit 30 Arbeitern, das an Alter, Umfang des Betriebes und Absatzes das »bedeutendste und bestorganisierte Großunternehmen des Landes (bildete)«. Anders als dieses Salzwerk waren die sonstigen »Fabriken«, vor allem die Glashütten, in den Händen ausländischer Unternehmer; auch die dort beschäftigten Arbeiter waren zum größten Teil Fremde. Entsprechend der notwendigen Nähe zu den Rohstoffen waren diese Betriebe auf dem Lande angesiedelt. Manche Städte aber waren in ihren Funktionen stark auf sie ausgerichtet, wie die Kleinstadt Driburg, die um die Jahrhundertwende 1263 Einwohner hatte, darunter 88 Glashändler und über die ein Zeitgenosse berichtet: »Ackerbau und Viehzucht machen hier nicht wie bei den übrigen Städten den Haupterwerb der Bewohner aus, sondern mehr Nebenquellen, welchem man durch Glashandel, Ziegen fettmachen und Arbeiten in den Ziegel- und Glashütten zu Hülfe kommt.« 2 7

Der Produktionsumfang der Paderborner »Fabriken« wurde von der preußischen Verwaltung vor 1807 nicht mehr erstellt. Einen ungefähr vergleichbaren Eindruck vermittelt nur eine geschätzte Aufstellung der Ausfuhrwerte aus dem Jahre 1811 fur den Distrikt Höxter für die Zeit vor der Kontinentalsperre. Dieser Distrikt umfaßte die östliche Hälfte des Paderborner Landes und war mit einer Bevölkerung von rund 63000 Einwohnern ähnlich groß wie das Gebiet des alten Bistums Minden. Nach jener Aufstellung wurden Güter im Werte von 352800 Rt exportiert, davon für 200 000 Rt Getreide, für 80000 Rt Glas, 40000 Rt Wolle, 20000 Rt Leinen und für den Restbetrag von 12800 Rt Driburger Mineralwasser, Papier, Körbe und Zichorien. Diese Schätzung verdeutlicht das Gewicht des ländlichen Leinengewerbes; in Minden repräsentierte das Exportleinen 1796 einen Wert von 97 273 Rt und in Ravensberg von712211 Rt 28 . Die Differenz bestätigt, wenn man diese Ziffern als Indizien für Einkommenschancen der Bevölkerung liest, das von den Zeitgenossen beschriebene Wohlstandsgefälle zwischen der preußischen Provinz und dem geistlichen Staat.

b)

Landhandwerk

Das ländliche Handwerk hat diese Differenz kaum verkleinert. Es war überwiegend auf den Grundbedarf an Möbel, Kleidung und Werkzeuge ausgerichtet, zuweilen argwöhnisch von den städtischen Zünften beobachtet, daß es den konzedierten Rahmen von Ausbesserungsarbeiten nicht überschritt. Die Schuster zum Beispiel sollten sich auf die »Altflickerei« beschränken, und die Landtischler sollten nur »die Särge und das Gerät auf die Brautwagen in Bauren-Kotten und von derselben eigenen Holze verfertigen« 29 . Auch wenn sie sich daran wahrscheinlich nicht gehalten haben, blieb ihr Markt beschränkt. Die cum grano salis positive Korrelation zwi-

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sehen der Dichte jener Handwerker und der Intensität des ländlichen Gewerbes überhaupt (einschließlich des Exportgewerbes) sowie mit dem größeren Anteil klein- und unterbäuerlicher Gruppen bezeugt zwar eine zunehmende gesellschaftliche Arbeitsteilung und die Bildung eines »inneren Marktes« 3 0 . Die Nachfrage auf diesem Markt kam jedoch dann meist von Gruppen mit einer relativ geringen Kaufkraft, während die im späten 18. Jahrhundert wohlhabender werdenden (Groß-) Bauern ihr Bedürfnis nach »Luxus«, den besseren Kleidern, schöneren Möbeln usw. wohl nicht bei den Landhandwerkern befriedigten 31 . Berücksichtigt man diese Umstände, dann wird das den zeitgenössischen Statistiken zugrunde liegende Merkmal der »Hauptbeschäftigung« der ländlichen Handwerker fragwürdig. Es übergeht typische Merkmale der Dorfhandwerker wie die Kombination mit einem kleinen Grundbesitz oder Pachtland und die Mehrfachbeschäftigung, die sich auch als Indikatoren der Unterbeschäftigung der Handwerker bzw. als Zwang, diese Unterbeschäftigung zu kompensieren, lesen lassen 32 . Ein wahrscheinlich außergewöhnliches Muster von Vielseitigkeit war der Tischlermeister Heinrich Becker in Schildesche im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts. Er fertigte Hölzer und Werkzeuge an, Möbel aller Art, war Zimmermann und betrieb zugleich ein Wirtshaus mit einem Laden, in dem alle Gegenstände des täglichen Bedarfs zu kaufen waren 33 . Sicherlich war die Tüchtigkeit dieses Mannes, der neben seinen beiden Söhnen noch mit ein bis zwei Gesellen arbeitete, durch die Gewerbefreiheit und die große Nachfrage in seiner Umgebung, dem Zentrum der Ravensberger Leinenweberei, gefordert worden. Ähnliche U m stände und der fehlende oder nur lose zünftlerische Integrationszwang ermöglichten aber auch schon früher jene Vielseitigkeit. Eine weitere und wahrscheinlich weniger einträgliche Möglichkeit als in dem genannten Beispiel, die Unterbeschäftigung zu kompensieren, war, den engen lokalen Nachfragemarkt zu überschreiten. Das Handwerk ging dabei über in saisonale Wanderarbeit und verband sich mit dem Hausierhandel und den Besuch von Jahrmärkten. Auch vor dem Eisenbahnbau gab es eine nicht unbedeutende überlokal konzentrierte Nachfrage nach bestimmten Arbeiten. Festungsbauten und die Aufträge der Klöster zogen viele Bauhandwerker zusammen 34 . Bestimmte Dörfer hatten sich dazu quasi spezialisiert. So galt Lüchtringen im Kr. Höxter als das Dorf der Maurer, Natingen im Kr. Warburg als das Dorf der Dachdecker. Unter den Tausenden, die im Frühjahr nach Holland gingen, waren auch Bauhandwerker. In Dahlhausen im Kr. Höxter hat man jahrhundertelang - angeblich bis nach dem Zweiten Weltkrieg - Weidenkörbe geflochten, welche die Korbmacher selbst in ganz Nord- und Westdeutschland verkauften. Neben Körben wurden in anderen Dörfern des Paderbornischen, in Lippspringe, Neuhaus, Delbrück, Nieheim und Beverungen Holzschuhe verfertigt. Selbst die Holzköhler verkauften einen Teil der Pottasche ins Bergische oder nach Osnabrück 35 . Die Kompensationen der relativen Unterbeschäftigung haben 47

kaum das Einkommen der einzelnen Handwerker erhöht. Sie trugen eher dazu bei, den Arbeitspreis zu senken. Die billigere Arbeit der ländlichen Handwerker war notorisch und verursachte immer wieder entsprechende Klagen der städtischen Zünfte. Der Arbeitspreis war angesichts des Geldmangels auf dem Lande jedoch von untergeordneter Bedeutung. Weithin erfolgte nämlich die Arbeit, soweit sie auf den lokalen Markt bezogen war, in der Form des »Lohnwerks« (K. Bücher), wobei der Lohn in Naturalien und Arbeitsleistungen entgolten wurde. Die bäuerliche Kundschaft zahlte mit Lebensmitteln, durch Ackerarbeit auf den kleinen Ländereien oder dadurch, daß dem Handwerker eine Parzelle zur Nutzung überlassen wurde. Im Ravensbergischen wurde er auch mit einem Stück Flachsland entlohnt 3 6 . In dieser geldarmen ländlichen Arbeits-Tausch-Wirtschaft verweisen die Kompensationen, vor allem die Landnutzung, auf ein strukturelles Verhältnis der auf den lokal-regionalen Markt angewiesenen kleinbäuerlich-gewerblichen Ökonomie. Die durch die Knappheit hervorgerufene außeragrarische Arbeit wirkte weniger differenzierend, sondern eher agglomerierend. Die Produzenten vereinigten in ihrem Haushalt agrarisch-gewerbliche, auch händlerische Tätigkeiten zum Zweck der Einkommensstabilisierung ohne eine nachhaltige strukturelle Entmischung der wirtschaftlichen Aktivitäten 3 7 . Eine »Ökonomie des Notbehelfs« (O. Hufton) 38 überbrückte gleichsam die beginnende gesellschaftliche Arbeitsteilung unter Bedingungen der Knappheit. Insofern blieb die Basis aller »vorindustriellen« Ökonomie die Agrarwirtschaft. Teilweise galt das auch noch für das proto-industrielle Textilgewerbe. Allerdings hat seine Dynamik, die starke Nachfrage »von außen« und die Rückwirkung auf die Landwirtschaft dann auch eine gesellschaftliche Differenzierung ermöglicht.

c) Proto-industrielles

Textilgewerbe

Garnspinnerei und Leinenweberei neben dem »Hauswerk« (K. Bücher), der Herstellung von Textilien für den eigenen Verbrauch, sind im ostwestfälischen Raum schon im 16. Jahrhundert zu beobachten. Ravensberg und Lippe waren ein »Garnland« der Wuppertaler Kaufleute. Daran anknüpfend und unterstützt durch die merkantilistische Politik der preußischen Verwaltung steigerte sich im Schlepptau des holländischen Kapitalismus die Produktion bis ins frühe 18. Jahrhundert - verglichen mit dem Aufschwung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts - nur relativ langsam. Mit der Ausweitung des Überseehandels aber schnellte der Garn- und Leinenexport in dramatischer Weise hoch. Zwischen 1770 und 1800 hat sich in der Grafschaft Ravensberg der Wert des Leinenexports von rund 400000 Rt auf etwa eine Million Rt mehr als verdoppelt, während der Wert des Garnversands sich zwischen 1722 und 1785 in Minden-Ravensberg insgesamt von rund

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100000 auf418200 Rt vervierfachte 39 . Am Ende des 18. Jahrhunderts wurde die Ravensbergische »Landesfabrik« »politisch betrachtet zu den vollkommensten« gezählt, »welche sich unser Land (d.i. Preußen, J . M.) nur rühmen kann«. Unter dem merkantilistischen Gesichtspunkt der aktiven Handelsbilanz wurde besonders die Verarbeitung des im Lande erzeugten Flachses »bis zur letzten Vollkommenheit der Handelsware« geschätzt. Zudem wurde nicht nur der für die Weberei erforderliche Bedarf des Garns erzeugt, sondern darüber hinaus eine »ungleich größere Quantität, wovon der Fabricant (d. i. der Weber, J . M.) sich das Beste und seiner vorhabenden Arbeit angemessenste Garn aussucht« 40 . Dies verweist auf eine innerregionale Differenzierung des proto-industriellen Gewerbes, die eine Spezialisierung nach Leinensorten ermöglichte und insbesondere auch den Aufstieg des Feinleinenzentrums in der Umgebung von Bielefeld, das für viele mit dem »Linnenländchen« identisch war. Ganz Minden-Ravensberg 41 war zunächst ein Land der Handspinner. Spinnen war »Füllarbeit« zwischen den agrarisch-saisonalen Arbeitsspitzen im bäuerlichen Betrieb und die wichtigste Geldquelle für die Heuerlinge; diese bezogen nach einem Haushaltsbudget daraus 80% ihres Geldeinkommens. Das bäuerliche Gesinde wurde teilweise durch die Bereitstellung einer Ackerparzelle entlohnt; der darauf gewonnene Flachs wurde auf eigene Rechnung versponnen, allerdings unter Ablieferung eines bestimmten Quantums Garn an den Bauern 42 . Es wurde bedeutend mehr gesponnen als innerhalb der Region die Weber verbrauchten. Im Mindenschen wurden 3/4, in Ravensberg fast die Hälfte des Garns über die Landesgrenzen hinaus verkauft. Einige Mindensche Gegenden, aber auch die Ämter Limberg, Vlotho, Werther und Enger in Ravensberg sowie das Gebiet des späteren Kr. Wiedenbrück waren hauptsächlich Spinnergegenden, in denen wenig gewebt wurde; teilweise hatten sie sich darauf spezialisiert, das Garn für die Feinleinenweber in Bielefeld zu spinnen. In dieser horizontalen Spezialisierung und Arbeitsteilung haben wahrscheinlich viele Umstände eine Rolle gespielt: Die Güte des Flachsbaus, die Fähigkeiten der Spinner, eingespielte Handelsbeziehungen und vor allem das Vermögen oder besser: die Armut der meisten Spinner. Sie waren häufig auf den schnellen Tausch des Garns gegen Lebensmittel angewiesen, wie eine Schilderung der Usancen des ländlichen Garnhandels aus dem Jahre 1776 erkennen läßt: »Wie können diese Leute, wenn sie ein oder zwei Stück gesponnen und dafür ihre nötigsten Bedürfnisse eintauschen wollen, ein oder zwei Stunden zur Stadt sich begeben? Denn die wenigsten sind imstande, so lange das gesponnene Garn zurückzuhalten, bis sie eine Quantität haben, die die Mühe verlohnt, solches einem Garnhändler in der Stadt feilzubieten, und sie müssen allezeit einen Abnehmer behalten, welches ein Landcommerciante ist, der ihnen auch stückweise das gesponnene Garn bezahlet.« 4 3

49

Diese Zwangslage machte unmöglich, was für den Weber notwendig war, die Bildung eines gewissen Geldfonds für den Einkauf des Garns, zumal gerade die Spinner des am meisten exportierten Moltgarns auch als Spinner weniger verdienten. Dieses Garn war um 30% bis 50% billiger als das Voll- oder Feingarn aus gutem Flachs, das für das Feinleinen gebraucht wurde. Jene Umstände begründeten auch die Verschiedenheit der Weberei innerhalb Minden-Ravensbergs. Das gröbere Flachs- und Hanfgarn wurde in den Ämtern Rahden und Reineberg (späterer Kr. Lübbecke) und Ravensberg (späterer Kr. Halle) zu Löwendleinen verwebt, aus dem Segeltücher und »grobe Zeuge« hergestellt wurden. Es war billiger als das »feine« Leinen der u m Bielefeld liegenden Ämter Brackwede, Schildesche und Heepen und forderte so einen höheren Arbeitsaufwand für das gleiche Einkommen. Der Produktionswert pro Webstuhl lag entsprechend niedriger. Jene feine und dichte, breit sortimentierte Leinwand, die im Unterschied zum Löwendleinen erst nach der Bleiche in den Export ging, wurde seit dem späten 17. Jahrhundert von der preußischen Gewerbepolitik besonders gefordert und stellte das Löwendleinen, das auch in den angrenzenden westfälischen Regionen, im Tecklenburger Land und in Osnabrück gewebt wurde, bald in den Schatten. Das Feinleinen ebnete den Weg für den Aufstieg der Handelsstadt Bielefeld zum ökonomischen Zentrum Ostwestfalens seit dem 18. Jahrhundert und für eine Gruppe kapitalkräftiger Kaufleute, die später zu industriellen Unternehmern werden konnten. Auch im Paderborner Land war Spinnen und Weben nicht unbekannt; es war allerdings nicht so gleichmäßig und dicht verbreitet wie in MindenRavensberg 44 . Es wurde weniger und offenbar schlechterer Flachs gewonnen und damit auch schlechteres Leinen. Eine weitere Verbreitung erreichte das Textilgewerbe nur im westlichen, an Ravensberg/Wiedenbrück angrenzenden Teil des Paderborner Landes, gewissermaßen als ein Anhängsel des Ravensberger Gewerbes, sowie im östlichen Teil, wo die Leinenweber auch Garn aus dem Hessischen bezogen. Hier waren Garn und Leinen ein »guter Notpfennig« 4 5 , aber auch nicht mehr, obwohl im Jahre 1811 eine relativ große Zahl von Webstühlen gezählt wurde. Danach kamen auf die Cantone Delbrück, Neuhaus, Ringboke im Westen und Höxter, Albaxen im Osten, in denen zusammen 64% der Webstühle des Paderborner Landes konzentriert waren, 55,3 Webstühle auf 1000 Einwohner (unter Einschluß der Stadtbevölkerung). Das wäre sogar mehr als in Ravensberg (37,1 Webstühle pro 1000 Einwohner), aber die Produktionsintensität lag wahrscheinlich weit unter derjenigen in der preußischen Provinz 46 . Mit aller Vorsicht angesichts der nur lückenhaften Kenntnisse über das Gewerbe des Paderborner Landes lassen sich folgende Faktoren für die im Vergleich mit Minden-Ravensberg trotz eines breiten, unterbeschäftigten kleinbäuerlichen Arbeitskräftepotentials nur geringe Entwicklung des proto-industriellen Textilgewerbes anführen. Einmal war vermutlich der 50

Flachsbau weniger ergiebig. Zum andern gab es kaum kapitalkräftige Kaufleute. Die kleinen, oft jüdischen »Ellenhändler« waren häufig von hessischen, thüringischen oder bergischen Kaufleuten als deren Kommissionäre abhängig und lagen auch relativ abseits der auf Bremen und Hamburg bezogenen dichten Handelsströme für Textilien 47 . Drittens und damit zusammenhängend erfuhren jene einheimischen Kaufleute von der Verwaltung des geistlichen Staates bei weitem nicht die kräftige, nachhaltige Unterstützung wie die Bielefelder Leinenhändler durch die merkantilistische Politik des preußischen Staates. Für diese waren die Leinenkaufleute die »Seele des Ganzen«, wie der Bielefelder Stadtdirektor 1776 schrieb. Ihnen wurde ein wirksames Handelsmonopol durch die Leggepolitik verschafft. Darüber hinaus wurde durch die Förderung der Bleicherei und die Differenzierung der Leinensortimente die Qualität der »Handelsware« gehoben. Ähnliche Verordnungen, ζ. T. in bewußter Anlehnung an die Gewerbepolitik in Ravensberg, waren auch in Paderborn nicht unbekannt, blieben aber offenbar unwirksam. Die Leggen, die 1714 konzessioniert und 1781 fur die Ämter Neuhaus, Delbrück und Boke »befohlen« wurden, kamen nicht zustande. Diese unter anderem fiskalisch motivierten Vorstöße des Landesherrn versandeten nur zu leicht in der vom katholischen Adel beherrschten ständischen Verwaltung, da der Adel in großer Distanz zur Welt des »bürgerlichen« Gewerbes lebte und in seiner ungefährdeten Macht auch keinen Anlaß hatte, dem preußischen Beispiel einer >Entwicklungspolitik< im Rahmen eines militärisch-bürokratischen Staates zu folgen 48 . Ob - viertens - im katholischen Fürstbistum ein »protestantisches Arbeitsethos« fehlte, kann angesichts der genannten Umstände dahingestellt bleiben; weder weiß man über dieses Arbeitsethos in den Unterschichten der protestantischen Regionen Genaueres, noch hat der katholische Glaube in anderen Regionen wie Münster oder Osnabrück eine stärkere Entwicklung des Gewerbes behindert 49 . Fünftens und endlich ist auch nicht auszuschließen, daß Ravensberger Kaufleute das Paderborner Gewerbe bewußt nicht hochkommen lassen wollten 50 . Diese Umstände haben im Paderborner Land offenbar ein gewerbliches Produktionspotential brachliegen lassen. Auf eine für »rückständige« Regionen typische Weise trug es jedoch bei zur Entwicklung in anderen Regionen. Das Paderborner Land exportierte Rohstoffe wie Wolle, Pottasche, insbesondere aber Arbeitskräfte. Viele Paderborner reihten sich ein in den jährlichen Strom der »Hollandgänger«, der landwirtschaftlichen Saisonarbeiter, oder verdingten sich auswärts als Gesinde. Dies erfolgte offenbar in solchem Ausmaß, daß die Paderborner Landstände über den Mangel an geeignetem Gesinde klagten und in der Gesindeordnung von 1800 Erlaubnisscheine für die Kontrolle der Abwanderung eingeführt wurden 51 . Nicht zuletzt waren Paderborner Frauen als Mägde in Ravensberg beschäftigt, wo sie - wie eine Zeitungsnotiz aus 51

dem Jahre 1815 schildert - als >Gastarbeiter< diejenigen Arbeiten verrichteten, die fur Ravensberger nicht mehr rentabel waren: »Die Einwohner, die das Feinspinnen zum Verkauf fabrikmäßig betreiben, nehmen dergleichen Personen gern auf eine gewisse Zeit ins Haus und besorgen durch sie ihren Hausbedarf (an Garn, J. M.) zur jährlichen Bleiche, weil sie ihre eigenen Leute vorteilhafter zum Feinspinnen gebrauchen. Solche Personen erlangen hier oft ein hohes Alter, ohne einen anderen Wohnort zu haben als die Gemeinde, in der sie 20, 30, 40Jahr von Haus zu Haus gesponnen haben.« 52

Der überdurchschnittlich hohe Anteil des Gesindes an der Bevölkerung in Ravensberg macht wahrscheinlich, daß dies kein seltenes Phänomen war 5 3 . Glaubt man dem Gedicht »Der Ravensberger Spinner«, das in erhabenen Versen die Spinnstube zeichnet, dann war die Paderbornerin eine typische Erscheinung, die mit ihrem katholischen Aberglauben auch zur Unterhaltung der »industriösen« preußischen Protestanten beitrug. Zu der Schar in der Spinnstube heißt es: ». . . auch ist da wohl Sybille, die Paderbornerin und macht den Haufen stille. Die kennt das Geisterreich, weiß zu erzählen viel, und schwört, es sei kein Scherz mit Hexenkunst und Spiel.« 54

Verglichen mit dem ländlichen Handwerk hat das proto-industrielle Textilgewerbe die »Ökonomie des Notbehelfs« der Unterschichten bedeutend verändert. Der Sog des großen »äußeren Marktes« hat gleichsam die brachliegenden Arbeitskräfte des kleinen »inneren Marktes« der saisonalen Landwirtschaft und des unterbeschäftigten Handwerks mobilisiert. Mit Ausnahme von Krisenzeiten war in Ravensberg die Hollandgängerei bezeichnenderweise eine seltene Erscheinung. Proto-Industrialisierung verknüpfte hier Zeit und Arbeitskraft von Landwirtschaft und »Industrie« in einer Weise, daß von ihr auch Impulse zur Entwicklung der Landwirtschaft ausgingen.

4. Landwirtschaft und ländliche Gewerbe Der Flachsbau war ein Element der direkten Rückwirkung der ProtoIndustrialisierung auf die Landwirtschaft. Hier sollen jedoch auch die eher indirekten Wirkungen herausgearbeitet werden, hauptsächlich gestützt auf die zeitgenössischen Agrarschriftsteller. Wenn sie auch in der Erwartung einer großen strukturellen Reform der Landwirtschaft häufig eher den »Schlendrian« betonten, so lassen sich aus ihren Schilderungen doch auch spezifische Chancen zur agrarischen Intensivierung in Gebieten mit unterschiedlicher Gewerbedichte erkennen 55 .

52

a) Bodennutzung

und agrarische

Intensivierung

Schwerz beschreibt sowohl für Minden-Ravensberg als auch für Paderborn günstige Bodenverhältnisse für den Ackerbau; selbst zwei Drittel der Gemeinheiten im Paderbornischen spricht er noch gute Qualität zu. Der auch von anderen Zeitgenossen 56 erweckte Eindruck einer überwiegenden Fruchtbarkeit des Bodens muß jedoch korrigiert werden; die Betonung der landwirtschaftlichen Methoden hat die Reformschriftsteller motiviert, die Bodenvoraussetzungen eher gering zu veranschlagen. Die fruchtbaren Bodenflächen waren im Rgbz. Minden ungleich verteilt. Von der Gesamtfläche waren nach einer geologischen Vermessung in den 1860er Jahren 55% Lehm- und Tonboden, 12,4% Sandboden mit Lehm vermischt, 29% Sandboden, 3,5% Moorboden und 0,1% Wasserfläche. Von diesen Bodenarten war bis Ende des 19. Jahrhunderts allein der lehm- und tonhaltige Boden von größerer agrarischer Ertragsfähigkeit. Der Grad von Nässe und Trokkenheit erschwerte aber seine Bearbeitung. Die besten natürlichen Voraussetzungen hatte Minden-Ravensberg, mit Ausnahme der Kr. Halle und Lübbecke, die einen hohen Anteil von Sandboden hatten. Ähnlich gute Bedingungen sind nur in Teilen der Kr. Warburg und Höxter zu finden. In den anderen Zonen des Paderbornischen erschwerte die Höhenlage, ein überwiegend steiniger und sandiger Boden den Ackerbau. Im Kr. Wiedenbrück schließlich war der Großteil eine wüste Sandfläche57. Umfang und Art der Bodennutzung hingen ab vom verfugbaren Boden und der Bevölkerungsdichte. Nach groben Schätzungen waren in MindenRavensberg wie Paderborn etwa 45% des Landes »urbar«, d. h., sie wurden als Acker-, Wiesen- und Gartenland bewirtschaftet 58 . Daneben wurden aber auch Wald, Gemeindeländereien und Heiden landwirtschaftlich genutzt. Die ersteren waren die wichtigste Grundlage der Vieh Wirtschaft, die Heiden wurden als Düngereservoir benutzt: Plaggen von grasnarbigem Heideland wurden in Ein- bis Vier-Jahresrhythmen zusammen mit Viehdung dem Ackerland untermischt, um den Boden aufzulockern und ihm neue Nährstoffe zuzuführen. Getreidebau war die weitaus vorherrschende Ackernutzung, wobei wiederum, in Relation zur Bevölkerungsdichte, der Anbau des Brotgetreides Roggen überwog. Während im Durchschnitt des deutschen Reiches 25% der Ackerfläche mit Roggen bebaut wurde, waren es im Paderbornischen 38%-56%, in Minden und Ravensberg 35% bzw. 37% 59 . Gemessen an der doppelt so hohen Bevölkerungsdichte in Minden-Ravensberg müßte der Roggenanteil höher sein als im Paderbornischen. Die Proto-Industrie erzwang, aber erlaubte auch infolge der außeragrarischen Einkommen die extensive Getreidewirtschaft zugunsten intensiverer Landwirtschaft (Flachsbau) einzuschränken und das Ernährungsdefizit durch Zukäufe zu decken 60 . Die möglichst ausgedehnte Getreidewirtschaft war dagegen eine Folge der kleinbäuerlichen Agrarstruktur; sie ist die Signatur des malthusia53

nischen Dilemmas: je dichter die Bevölkerung und je geringer die außeragrarischen Einkommensmöglichkeiten, desto stärker mußte die agrarische Ernährungsbasis in ihrer elementaren Form, dem Brotgetreidebau, genutzt werden. Zu diesem Zweck wurde die Brache eingeschränkt. Im Paderbornischen betrug diese noch 20% des Ackerlandes, der größte Teil davon reine Brache. Im dichter bevölkerten Minden dagegen war Ende des 18. Jahrhunderts wenig oder gar keine Brache mehr vorhanden, höchstens aber 10% des Ackerlandes. Ein ähnliches Verhältnis herrschte im Durchschnitt in der Grafschaft Ravensberg; in den fruchtbareren Gegenden der Grafschaft findet man allerdings trotz der höchsten Bevölkerungsdichte die größten Brachanteile, nämlich zwischen У* bis Уъ des Akkerlandes. Dies steht zunächst im Widerspruch zu Berichten, daß bei Parzellenwirtschaft der Kleinbauern und Heuerlinge »der Getreidebedarf die Brache einfach nicht erlaubt«61. Wahrscheinlich wird die relativ große Brache aber, wenn man annimmt, daß sie von mittleren und größeren Bauern noch geübt wurde und nicht, wie im Paderbornischen »rein« liegen blieb, sondern wegen der besseren Bodenqualität »besömmert«, d.h. mit Futterpflanzen, Gemüse, Kartoffeln und Flachs bebaut wurde 62 . Der relativ hohe Anteil der Brache wäre demnach schon nicht mehr in den Kategorien der Dreifelder-Wirtschaft zu lesen, sondern als Indiz einer beginnenden Fruchtwechselwirtschaft. Darauf deutet auch die mehrstufige Felderfolge hin. Wie im gewerblich hoch entwickelten Sachsen herrschte in Ravensberg eine Sieben-Felderfolge, d. h. nur alle sieben Jahre wurden die Felder brach gelegt63. »Die gewöhnlichste Fruchtfolge« im Mindenschen war dagegen eine Vier-Felderfolge, offenbar ohne Brache, aus Getreide und Flachs, im Paderbornischen eine Drei- und Fünf-Felderfolge allein mit Getreide und größtenteils reiner Brache. Hier herrschte nach Schwerz eine »reine Körnerwirtschaft« 64 . Der weniger fruchtbare Boden erzwang also fast eine Getreidemonokultur, die auch den Flachsbau behinderte, so daß einer intensiveren ländlichen Textilindustrie die agrarische Basis fehlte. Anders im Ravensbergischen: hier haben die natürlichen Bedingungen und die Chancen infolge der Proto-Industrie auch zu einer Intensivierung des Ackerbaus gefuhrt. Das hohe Preisniveau für Getreide und die Einkommen aus dem Flachsbau haben dies erleichtert. Zur »Industriosität« der Provinz gehörte auch eine nach zeitgenössischen Maßstäben hochentwickelte und fortschrittliche Agrikultur. Mitte der 1780er Jahre schrieb der Ravensberger Landpfarrer Johann Moritz Schwager in Jöllenbeck bei Bielefeld: »An Fleiß läßt sich der Ravensberger Bauer nicht übertreffen, wenn er seine Arbeit belohnt sieht. Er kennt seinen Acker durch und durch, weiß meisterlich, ihn so hoch zu nutzen, als er genutzt werden kann, und verbessert ihn mit einer bewundernswürdigen Unverdrossenheit. Kein Fußtritt liegt ungenutzt, keine Furche wird ungleich umgestürzt, und nirgend kann der Acker sorgfältiger und zweck54

mäßiger bearbeitet werden als hier. Der Bauer raffiniert auf Vermehrung des D ü n gers, keine Mergelgrube ist ihm zu entfernt. « 65

Über den fur die Bevölkerungsentwicklung wichtigen Kartoffelbau gibt es für die Zeit um 1800 noch keine Zahlen. Sein Umfang muß aber bedeutend gewesen sein, zumal nach der Hungerkrise von 1772 die Vorurteile gegen den Kartoffelbau fielen. Nach Moser baute in Westfalen aber schon in den 1760erJahren »ein jeder« die Kartoffel an. Schwager erwähnt sie 1784 als tägliche Speise und als Viehfutter. Auch in Paderborn fehlten sie in keinem Bauerngarten, wurden offenbar aber doch in weniger großem Umfang angebaut als in Minden-Ravensberg. Hier war die Kartoffel schon um 1800 der Regulator des Pauperismus, der hohe Getreidepreise kompensierte, bei einem Ausfall der Kartoffelernte die Menschen aber um so hilfloser dem Elend preisgab 66 . Ein wesentlicher Katalysator für die Intensivierung der Landwirtschaft war jedoch der Flachs- und Hanfbau. Beide Faserpflanzen gehörten wie Rüben, Tabak und Hopfen zu den »Handelsgewächsen« oder »Manufakturpflanzen«, deren Verbreitung seit dem späten Mittelalter zunahm. Ihr Anbau in Gärten und insbesondere auf dem Brachland verbesserte gewissermaßen kumulativ die Bodenqualität, teils durch vermehrte Düngung wie beim Hanf, vor allem aber durch die aufwendige Bodenbearbeitung. Infolge mehrfachen Pflügens, Eggens und Walzens war der Arbeitsaufwand für die Bodenbestellung von einem Mg Flachsland genau so groß wie für drei Mg Getreide. In den Augen des Gemeindevorstehers von Werther war »die westindische Sklavenarbeit (höchstwahrscheinlich) nicht beschwerlicher« als die Arbeit beim Flachsbau67. Angesichts dieser Mühsal war er rentabel nur in der lohnarbeitslosen Familienwirtschaft oder bei niedrigen Landarbeiterlöhnen, bei günstigen Bodenverhältnissen, die einen hochwertigen Flachs ermöglichten und bei guten Absatzverhältnissen. Alle diese Bedingungen wirkten in Minden-Ravensberg zusammen, aber viel weniger im Paderborner Land. Jene Region war um 1800 zusammen mit Tecklenburg-Lingen die Region mit dem intensivsten Flachs- und Hanfbau in Preußen. Während in Gesamtpreußen durchschnittlich 1 % der Ackerfläche mit Flachs und Hanf bebaut wurde, in Schlesien 4,6%, waren es injenen westfälischen Provinzen 12% bis 24%. In Ravensberg gab es schon 1723 kaum mehr einen Bauern, der nicht Flachs baute und im 18. Jahrhundert vermehrte sich die Anbaufläche noch. Im späteren Kr. Herford verdreifachte sie sich zwischen 1723 und 1800 um etwa 2200 auf ca. 7000 Mg. Aber auch in bestimmten Teilen Mindens nahm der Flachsbau stark zu, so daß um 1800 hier etwa soviel Flachs angebaut wurde wie in der Grafschaft Ravensberg, wo freilich der hochwertige Flachs besonders verbreitet war. Hanf wurde vor allem im Amt Ravensberg (späterer Kr. Halle) gewonnen. Insgesamt dienten um 1800 in Minden-Ravensberg bis zu 20000 Mg der Produktion der Rohstoffe für das Leinengewerbe, d. s. mindestens 10% des urbaren Landes68. Ange55

sichts des mindestens vierjährigen Wechsels des Flachslandes wurde jedoch weit mehr Ackerland der ertragsfördernden, besonders intensiven Bodenbearbeitung unterworfen. Im Paderborner Land hingegen wurde Flachs und Hanf in annähernd vergleichbarem Umfang nur in einigen abgegrenzten Gegenden angebaut, deren bedeutendste das Delbrücker Land (Kr. Paderborn/Büren) und Teile des späteren Kr. Höxter waren. In jenem Gebiet wurde vor allem Hanf, in diesem Flachs gezogen. Auf das gesamte Paderborner Land umgelegt ergibt das jedoch nur etwa ein Drittel des Umfangs, den der Flachs- und Hanfbau in Minden-Ravensberg hatte. Die Aussaatmenge von Flachs und Hanf betrug im Jahre 1801/02 im alten Bistum Minden 10% der Aussaatmenge aller Getreidesorten, in der Grafschaft Ravensberg 12%, im Fürstbistum Paderborn hingegen nur 3% 6 9 . Obgleich es nicht möglich ist, bei den Erträgen des Ackerbaus den Anteil der intensiveren Bodenkultur gegenüber der Bodenqualität zu gewichten, weisen die wenigen Ertragsziffern, die nur auf zeitlich punktuellen Schätzungen beruhen, besonders für Ravensberg überdurchschnittlich gute und wahrscheinlich höhere Ernten als im Paderborner Land aus (vgl. Tabelle 1). Tab. 1: Getreideerträge in Ravensberg und Paderborn um 1800 (Vielfaches der Aussaat) 70

Weizen Roggen Gerste Hafer

Ravensberg

Spenge

1790

1815

4 7 5,5 4

4-5 7-8 8-9 10-11

Wiedenbrück/ Rietberg 1810

Distrikt Paderborn 1810

Distrikt Höxter 1810

3-5,5 5-5,5 5,5

4-9,5 4-10 4-11 4-12

4-8 4-8 4-9 4-12

7

Die Angaben in Tabelle 1 lassen herausragende Durchschnittsergebnisse für die gesamte Region Ravensberg erkennen (gestützt durch das Einzelbeispiel Spenge), weit unterdurchschnittliche Ernten in der Sandgegend des späteren Kr. Wiedenbrück und breit differenzierte Ergebnisse im Paderborner Land. Die Ernten der Ravensberger Bauern überschritten (mit Ausnahme des Weizens) die damaligen Durchschnittserträge und reichten an die Erträge »fortschrittlicher« Guts wirtschaften heran, die im allgemeinen die Vorreiter der Ertragssteigerung waren. Schwerer einzuschätzen sind die Ernteergebnisse im Paderborner Land, die lokal sehr stark schwankten und infolge anderer, sehr viel niedriger liegenden Angaben zweifelhaft sind. Die lokale Differenzierung der Ernteergebnisse von 1810 zeigt, daß von den 26 Cantonen der Distrikte Paderborn und Höxter bei dem am meisten angebauten Roggen nur zehn Cantone das Ergebnis von Ravensberg erreichten oder überflügelten 71 . In einigen besonders fruchtbaren Gegenden wie der Warburger Börde waren die Erträge freilich bedeu56

tend höher als in Ravensberg. Aus diesen Gegenden, nicht zuletzt aber aus den bäuerlichen Naturalabgaben flöß auch die Getreideausfuhr aus dem Paderbornischen 72 . Trotz der relativ guten Erträge konnte Ravensberg im späten 18. Jahrhundert seinen Getreidebedarf nicht mehr ganz decken; der »Kartoffelstandard« der Unterschichten zeichnete sich schon ab. In den meisten Ämtern MindenRavensbergs mußte vor allem Roggen zugekauft werden, besonders in denen mit hoher Bevölkerungsdichte und einem hohen Anteil von Heuerlingen. Gewisse Überschüsse an Weizen, Gerste und Hafer wurden hingegen insbesondere in den Ämtern des alten Bistums Minden erzielt. Das eingeführte Getreide kam zum Teil aus dem Paderbornischen und aus der weiteren Umgebung von Westfalen, Lippe und Hessen. Es machte jedoch nur einen geringen Bruchteil des in der Region produzierten Getreides aus73. Von einer arbeitsteiligen Spezialisierung zwischen agrarischen und gewerblich verdichteten Regionen läßt sich in Westfalen nicht sprechen74.

b)

Viehwirtschaft

und

Viehhaltung

Die landwirtschaftliche Kritik am Ende des 18. Jahrhunderts war immer auch eine Kritik der Viehwirtschaft. Sie galt als der Schlüssel fur landwirtschaftliches Wachstum und damit für den Fortschritt überhaupt. Dieser sollte buchstäblich vom bäuerlichen Misthaufen ausgehen; mehr Dünger sollte die Ackererträge steigern, wofür wiederum eine intensivere Viehhaltung mit Stallfütterung und Futtermittelbau Voraussetzung war 75 . Die letzten beiden Merkmale waren sozusagen Testfragen für den Entwicklungsstand der Landwirtschaft. Nach dem bisher Ausgeführten ist es nicht verwunderlich, daß diese Testfragen wiederum zugunsten der preußischen Provinz ausfallen. In den 1780er Jahren kannten die ravensbergischen Bauern zwar noch nicht die propagierte ganzjährige Stallfütterung; Kleebau und die Fütterung des Viehs mit Kartoffeln, Gemüse und ähnlichem waren jedoch schon üblich. Die Viehzucht wurde »mit äußerster Sorgfalt betrieben«. Entsprechende Hinweise finden sich für Paderborn nicht. Hier waren die Gemeinheiten und Waldungen die fast ausschließliche Basis der Viehwirtschaft 76 . Diese kollektiv genutzten Ressourcen machten im Paderborner Land die Hälfte, in Minden-Ravensberg etwa ein Drittel der Gesamtfläche aus. Schwerz kritisierte entrüstet die »Nomadenwirtschaft« auf den »ungeheuer« ausgedehnten Gemeinheiten des Paderborner Landes und meinte, daß die »nichtskostenden Weidereviere« die Bauern verleitet haben, »weit mehr Vieh zu halten, als sie es im Verhältnis zu ihrem übrigen Grundeigentum zu tun vermögen« 77 . Über die relative Intensität der kleinbäuerlichen Viehwirtschaft hat Henning eindrucksvolle Rechnungen zusammengestellt. Sie zeigen, daß - mit 57

Ausnahme der Schafe, die vor allem von den großen Gütern, den Städten und Gemeinden als Korporationen gehalten wurden - die kleinen und kleinsten Bauern die relativ meisten Kühe, Schweine und selbst Pferde hielten; letzteres war eine Besonderheit infolge des umfangreichen Landbesitzes der Stadtbürger, für welche die Kleinbauern die Ackerarbeiten leisteten. Der relative Ertrag pro Hektar aus der Viehwirtschaft war bei den kleinen Besitzern bis zu dreimal höher als bei den Bauern 78 . Diese kleinbäuerliche Vieh Wirtschaft gründete zwar auch auf den relativ geringen individuellen Kosten, obwohl man nicht vergessen darf, daß die historisch jungen kleinbäuerlichen Siedler und insbesondere die landbesitzlosen Heuerlinge und Einlieger schlechtere Anteilsrechte an den Gemeinheiten hatten. Sie war aber von elementarer Bedeutung für die Ernährung und auch noch für das Geldeinkommen der Familie. Der Verkaufswert der Viehprodukte war mindestens genauso groß wie ihr unmittelbarer Gebrauchswert. »Im Sommer«, schreibt Schwager über die Ravensberger Kötter, worunter er die Heuerlinge versteht, »ist das tägliche Gericht saure Milch, und es gibt Kötterweiber, die von einer kleinen Kuh ihre ganze Haushaltung stehen, und doch jährlich noch fur 8-10 Rt Butter verkaufen. « 79 Erst aus letzterem wird verständlich, was der Landpfarrer Weihe aus dem Mindenschen berichtet: »Vor der Gemeinheitsteilung hielten die >kleinen Leute< gewöhnlich mehr Vieh als sie durchwintern konnten, kauften in der Ernte etwas Korn zusammen, um ihr überzähliges Vieh bei Leben zu erhalten und mußten dann das Geld für das Erkaufte kümmerlich zusammenspinnen. « 80

Diese hohe Bedeutung des Viehs für die Landarmen war der rationelle Kern der idyllisierenden Reden über die »zärtliche« Behandlung einer guten Kuh, über die mit einem »Enthusiasmus gesprochen« werde, »dessen sich weder Frau noch Kinder zu erfreuen haben«. Die Kehrseiten dieser Viehwirtschaft, besonders bei zunehmender Bevölkerung, waren freilich die von Schwerz beschriebenen: Behinderung neuer Fruchtarten auf der Brachweide; die Ruinierung der Wälder und nicht zuletzt der ständige Alltagsärger über des Nachbarn Kuh in Garten und Feld 81 . Die Auseinandersetzungen um Weiderechte und -möglichkeiten waren ein ständig schwelender Herd sozialer Konflikte. Vergleichende Zahlen über die Viehhaltung (vgl. Tabelle 2, S. 59) zeigen teilweise ein unerwartetes Bild. Das Paderborner Gebiet war danach um 1800 insbesondere ein Land der Schaf- und Schweinehaltung, während die Rinderhaltung in Minden-Ravensberg etwas stärker verbreitet war. Das bestätigt insofern den kleinbäuerlichen Zuschnitt der Viehhaltung im Paderbornischen, als neben den großen adeligen Gütern die Markenberechtigten der Kommunen große Schafherden hielten; Wolle war ein relativ bedeutendes Ausfuhrprodukt 8 2 . Am auffälligsten ist jedoch die im Vergleich zu Minden wie Paderborn geringere Viehdichte in Ravensberg. Hier war der 58

Zusammenhang zwischen hoher Bevölkerungsdichte mit einem großen Anteil klein- und unterbäuerlicher Schichten und Expansion der Viehwirtschaft abgebrochen. Das legt zwei Schlußfolgerungen nahe. Die gerühmte Sorgfalt der Viehwirtschaft war demnach im Hinblick auf das Ausmaß der Viehwirtschaft vorwiegend ein bäuerliches Phänomen, während andrerseits Tab. 2: Viehhaltung in Minden, Ravensberg und Paderborn 180283 a) Viehbestand pro

Quadratmeile

Minden Ravensberg Paderborn b) Viehbestand pro 100 Minden Ravensberg Paderborn

Pferde

Kühe u. Jungvieh

Schweine

Schafe

434 317 394

1262 1210 809

420 345 502

914 631 1868

55 36 47

18 10 29

40 19 109

Einwohner 19 9 23

sich die Annahme, daß alle Heuerlinge ihre gute Kuh hatten, nicht halten läßt. Offenbar gab es Ende des 18. Jahrhunderts schon eine nicht unbedeutende Menge Heuerlinge, die nurmehr die »Kuh des armen Mannes«, die Ziege, halten konnten, die als ein Zeichen der Armut galt84. Der Viehbestand in Schildesche bei Bielefeld stützt diese letzte Überlegung. In diesem typischen proto-industriellen Dorf, dessen Einwohner in großer Mehrzahl Heuerlinge bzw. Spinner und Weber waren, war die Viehdichte noch geringer als in Gesamt-Ravensberg. Hier kamen imjahre 1810 nur 20,5 Kühe und Rinder und 7,5 Ziegen auf 100 Einwohner 8S .

c) Bäuerliche Landwirtschaft

und

Proto-Industrialisierung

Die Befunde einer in ihren betriebswirtschaftlichen Methoden, ihrer Arbeitsproduktivität und in ihren Erträgen überdurchschnittlich produktiven Landwirtschaft in Minden-Ravensberg bekräftigen die These, daß am »landwirtschaftlichen Fortschritt« im späten 18. Jahrhundert nicht nur die großen Güter, sondern auch die Bauern einen bedeutenden Anteil hatten 86 . Das war möglich ohne eine dramatische Veränderung der grundherrlichen Abhängigkeit der Bauern und der gemeindlichen kollektiven Beschränkungen der Betriebswirtschaft. Die hemmende Rolle dieser Momente: die Behinderung der bäuerlichen Kapitalbildung durch das feudale Obereigentum 59

und die Abgaben sowie die Blockierung der individuellen ökonomischen Freiheit durch Flurzwang und kollektive Nutzungsrechte war freilich in Minden-Ravensberg durch die Form der Rentengrundherrschaft und weitgehender Durchsetzung der Geldrente sowie durch die Einzelhofsiedlung schon abgeschwächt. Im Paderborner Land waren diese Restriktionen noch viel stärker wirksam 8 7 . Dennoch hätte ihr relativ geringeres Gewicht in Minden-Ravensberg allein kaum ausgereicht, um den hohen Entwicklungsstand der Landwirtschaft zu gewährleisten. Das erfolgte erst durch die schichtenspezifisch verteilten - Chancen und Zwänge der Proto-Industrialisierung. Die Rückwirkung des ländlichen Exportgewerbes auf die Intensivierung der Landwirtschaft war stärker als entsprechende Wirkungen des ländlichen Handwerks. Dieses brachte geringere gewerbliche Einkommen und milderte so nur wenig die feudale und steuerliche Belastung, während die Bevölkerungsvermehrung die Nahrungsqualität der kleinbäuerlichen Stellen weiter drückte. Der im 18. Jahrhundert anhaltende Aufschwung des proto-industriellen Textilgewerbes hingegen sicherte das starke Bevölkerungswachstum auch ökonomisch ab. Der entscheidende Unterschied im Hinblick auf die strukturellen Wirkungen scheint die höhere Bevölkerungsdichte mit einem entsprechend großen Anteil unterbäuerlicher Schichten. Diese Schichten mit einer nur geringen oder gar fehlenden agrarischen Selbstversorgung bildeten die Grundlage für die Entwicklung einer kommerziellen, markteingebundenen Landwirtschaft. Sie stellten zum einen billige Arbeitskräfte für die arbeitsaufwendige intensivierte Landwirtschaft; zum anderen bildeten sie ein großes Nachfragepotential für Lebensmittel, das - drittens durch die außeragrarischen Einkommen auch befriedigt werden konnte. Die umfängliche ländliche Industrie implizierte bei den gegebenen Produktionsverhältnissen eine Kanalisierung der Spinner- und Webereinkommen in die Taschen der Bauern. Sie waren mehrfache Nutznießer des proto-industriellen Aufschwungs: Als Verkäufer von Getreide und Flachs und als Verpächter von Land. Die Angebots- und Nachfrageeffekte dieses »inneren« agrarischen Marktes konzentrierten sich insbesondere auf diejenigen Bauern, die genügend Land hatten, solches zu verpachten und Überschüsse zu produzieren. Ebenso mußte sich die Intensivierung der Landwirtschaft in ihrem strukturell-dauerhaften Effekt auf diese Gruppe beschränken. Nur sie hatte nämlich eine genügend große Nutzfläche, um ihre Betriebswirtschaft sinnvoll auf die »rationellen« Methoden, den Futtermittelbau, die Stallfutterung und längere Fruchtfolgen umzustellen. Den kleinen Besitzern und Heuerlingen war das trotz intensivster Parzellenwirtschaft kaum möglich, in der »alles durch die Arbeit muß erzwungen werden, und die Intelligenz (d.h. die Anwendung rationeller Methoden, J. M.) weder Spielraum noch Kräfte hat, sich zu erheben«. Gleichwohl waren sie die anfänglichen technischen Träger bestimmter Methoden landwirtschaftlicher Intensivierung. Schwerz

60

zollte der Feldkultur der Ravensberger Kleinbauern und Heuerlinge das höchste Lob - »so kann sie wohl nicht höher steigen, als sie in dem Ravensbergischen gestiegen ist« - und sah sie als Initiatoren des Wiesenbaus und einer besseren Viehhaltung durch die Verfutterung von Kartoffeln und Gemüse: »Der Nutzen davon leuchtete bald ein und wurde allgemeiner. Die alten Bauern sahen, daß diese Leute mehr Milch gewannen und nahmen deren Verfahrensart an.« 8 8 Es war jedoch die Landnot der Heuerlinge und kleinen Bauern, die eine solche Landwirtschaft erzwang und bei einem unsäglichen Arbeitsaufwand 89 doch keine Erträge abwarf, die in einer Relation zu dem gesteigerten Arbeitsaufwand gestanden hätten. Dieses Mißverhältnis, das »Gesetz vom abnehmenden Bodenertrag«, beobachtete der Landpfarrer Schwager in der Spatenkultur der Heuerlinge: »Er geizt aber ängstlich mit dem Flächeninhalt, läßt den Grasweg nicht größer liegen, als es die Notdurft erfordert, mit dem Schiebekarren durchzukommen, und besetzt seine Beete so dicht und so enge, daß er kaum die Hälfte erntet. « 9 0

Als Ackerbauern waren die kleineren Eigentümer und Heuerlinge nicht lebensfähig. Sie waren höchstens »Kuhbauern« und notwendig auf die kollektiven Weideressourcen angewiesen. Diese wurden ihnen jedoch durch die Agrarreformen häufig entzogen. In einem gewissen Sinn kehrte sich somit die weitere Intensivierung der Landwirtschaft gegen einen ihrer wichtigen Träger. Die Proto-Industrialisierung hat in Minden-Ravensberg die bäuerliche Landwirtschaft in vielfältiger Weise gefordert. Damit wurde indirekt auch die (groß-)bäuerliche Besitzstruktur gestützt, die durch die herrschaftliche Agrarverfassung erhalten werden sollte. Andererseits wurde durch die Einkommen aus der günstigen Marktsituation das Gewicht der grundherrschaftlichen und steuerlichen Belastung gemildert. Die Bauern des Paderborner Landes hingegen wurden von diesen Lasten fast erdrückt 91 . Die Proto-Industrialisierung war also keine »Bürde«, die das Handelskapital dem Agrarsektor im Konkurrenzkampf um das ländliche Arbeitskräftepotential auferlegte 92 . Die funktionale und soziale »Verflechtung« von bäuerlicher Landwirtschaft und proto-industriellem Gewerbe 93 gründete freilich auch in spezifischen Produktionsverhältnissen, die im folgenden näher betrachtet werden sollen.

5. Die Produktionsverhältnisse im proto-industriellen Textilgewerbe Nach dem bisher Geschilderten überrascht die Feststellung nicht, daß die Produktionsverhältnisse der ländlichen Industrie, die funktionale und soziale Beziehung der beteiligten Gruppen, nicht von den Produktionsverhältnissen in der Landwirtschaft zu lösen sind. Freilich gehen sie auch nicht in 61

ihnen auf. Entscheidend für die Proto-Industrialisierung war der Nachfragesog »von außen« und damit das Auftreten des Kaufmanns, da in der Regel die unmittelbaren Produzenten, die Spinner und Weber, den Handel nicht selbst ausführen konnten. Über die Kaufleute waren die ländlichen Gewerbetreibenden in einen kapitalistischen Handel eingebunden, dessen Träger die private und autonome »Unternehmung« von Handelskapitalisten war, die ihre Waren nach den Maximen der Gewinnorientierung kauften und verkauften 94 . Hingegen erstreckte sich die kapitalistische Einbindung noch nicht auf den Arbeitsmarkt, da die hausindustriellen Produzenten noch keine Lohnarbeiter waren, die ihre Arbeitskraft, sondern Selbständige, die ihr Produkt verkauften. Die gleichwohl bestehende Abhängigkeit von den Kaufleuten ist begrifflich nicht leicht zu fassen, fügt sich jedenfalls nicht dem eingebürgerten Begriff des Verlags. Diesem zufolge schießt der Kaufmann dem Produzenten die Produktionsmittel vor, beschäftigt also Lohnarbeiter wie der Fabrikunternehmer, nur mit dem Unterschied, daß »die Arbeiter bei sich daheim beschäftigt werden« 95 . Eine solche, gewissermaßen »modernistische« begriffliche Fassung der proto-industriellen Produktionsverhältnisse benennt zwar Tendenzen ihrer Entwicklung, unterbelichtet jedoch strukturelle Eigentümlichkeiten der Arbeitsverfassung und kann insofern nur schwer erklären, warum sich diese lange Zeit so zäh erhalten haben 953 . Diese Eigentümlichkeit und das Spannungsverhältnis zwischen Kaufleuten und Produzenten deuten hingegen drei zeitgenössische Begriffe an, die verschiedene Seiten der proto-industriellen Produktionsverhältnisse in MindenRavensberg beschreiben. Weddigen bezeichnete diese als eine »Landesfabrik«, in der ein einheimischer Rohstoff unter Beteiligung aller Gruppen zum Endprodukt verarbeitet werde. Schwerz charakterisierte sie als »Volksfabrik«, in der im Unterschied zur »Fabrik einiger Privater« sich »jeder selbst nährt« und nicht von einem Fabrikherren abhängig sei. Jung-Stilling schließlich nannte Verhältnisse, in denen »kleine Fabrikanten zwar auf eigenen Verlag arbeiten, aber ihre Fabrikate nicht anders als an die Kaufleute verkaufen dürfen«, eine »Zwangfabrike« 96 . In ihrer Kombination lassen sie sich ein »Kaufsystem« nennen 97 , das im folgenden in drei Aspekten dargestellt werden soll. Diese sind die agrarische Einbindung der Produzenten, ihre Position gegenüber den Kaufleuten und ihr sozialer Status als familienwirtschaftlich arbeitende Produzenten in einem sich arbeitsteilig ausdifferenzierenden ländlichen Gewerbe.

a) Proto-Industrie

und

Agrarverfassung

Die agrarische Einbindung der Spinner und Weber war eine funktionale und soziale. Der Flachsbau und die witterungsabhängige Qualität von Flachsoder Hanfernten sowie die landwirtschaftliche Arbeit bestimmten Qualität und Umfang ihrer gewerblichen Produktion. Sowohl die Garnspinnerei als 62

auch die Leinenweberei folgte deutlich agrarsaisonalen Schwankungen mit Höhepunkten im Winter, wenn die landwirtschaftliche Arbeit ruhte. Dies war stärker ausgeprägt in der Weberei des Löwendleinens als der des Feinleinens, in der es offenbar schon um 1800 eine bedeutende Zahl von Feinspinnern und Webern gab, die ihr Gewerbe annähernd als Vollzeitbeschäftigung ausübten. Aber auch sie blieben von der agrarischen Rohstofferzeugung abhängig; in einem »Mißjahr im Flachse« standen gerade sie sich »äußerst elend« 98 . Die soziale agrarische Einbindung war eine dreifache: Über die eigene Landwirtschaft, das Heuerlingssystem und die grundherrschaftliche Verfassung. Die Einbindung in die letztere war zweifellos am schwächsten. Die Spinner und Weber unterlagen kaum einer »feudalen« Bindung ihrer Arbeitskraft. Im Unterschied zum Paderborner Land, wo noch eine bedeutende Zahl von Heuerlingen der Leibeigenschaft und ihren Mobilitätshindernissen unterworfen war, waren sie in Minden-Ravensberg in ihrer übergroßen Mehrzahl »freie Leute«, wie 1789 einige Heuerlinge empört gegen den Richter des Gutes Hüffe feststellten, der sie zu Diensten heranziehen wollte. Auch die Reste einer »wilden« Leibeigenschaft haben ihre Mobilität nicht behindert". Soweit die grundherrlich abhängigen Bauern Spinner oder Weber waren, folgten daraus zumindest keine drückenden Abgabepflichten. Bis zu einem gewissen Grade verbreitet war der Zehnt auf den Flachs. Garnabgaben wie im Paderbornischen waren offenbar nicht üblich. Im 16. Jahrhundert nachweisbare Dienste zur Flachsbearbeitung auf den herrschaftlichen Höfen sind im 18. Jahrhundert ebenso wie der frühere adelige Garnhandel zumindest bis zur Bedeutungslosigkeit zurückgegangen 100 . Obwohl eine nähere Untersuchung der Grundherrschaft in Minden-Ravensberg in der Frühen Neuzeit noch aussteht, haben wahrscheinlich die Struktur der kleinen Rentengrundherrschaften ohne bedeutenden Eigenbetrieb, die absolutistische Staatspolitik Preußens, die Zurückdrängung der ständischen Macht des Adels und das fiskalische Interesse des Staates einer grundherrlichen Ausbeutung der gewerblichen Produktion und damit einer weiteren Belastung der »Untertanen« vorgebeugt. Weit wichtiger als die grundherrliche Verfassung war in Minden-Ravensberg die bäuerliche Arbeitsverfassung für die ländliche Industrie, das Heuerlingssystem. Dieses Pacht- und Arbeitsverhältnis zwischen dem Bauern und Heuerling unterlag keinen besonderen rechtlichen Regelungen. Die faktisch sehr starke Abhängigkeit des Heuerlings hingegen wurde als »Leibeigenschaft« charakterisiert, da dieser auf den »Wink« des Bauern mit Weib und Kind zur Arbeit kommen müsse und so »oft zu Hause mehr versäumen« würde, als sein Tagelohn wert sei 101 . Diese Abhängigkeit hat jedoch die proto-industrielle Nachfrage nach Arbeitskräften kaum behindert. Das Heuerlingssystem war vielmehr eine höchst flexible Arbeitsverfassung, gleichsam ein Scharnier zwischen dem gewerblichen und agrarischen »Sektor«, die die mögliche Konkurrenz der Bauern und Kaufleute um das ländli63

che Arbeitskräftepotential zu Lasten der Heuerlinge ausbalancierte. Die zwei Seiten der häuslichen Wirtschaft des Heuerlings, seine agrarische und hausindustrielle Tätigkeit, waren für seine Subsistenz so notwendig und eng miteinander verflochten, daß er keine von beiden zu Gunsten einer jeweils anderen aufgeben konnte. Weder als reiner Landarbeiter noch als reiner gewerblicher Produzent konnte er unter den gegebenen Verhältnissen einer geringen agrarischen Eigenwirtschaft, saisonaler landwirtschaftlicher Lohnarbeit und häufig zu geringen gewerblichen Einkommen insbesondere als Spinner existieren. Erst ihre familienwirtschaftliche Kombination sicherte das Leben der Heuerlingsfamilie 102 . In der Grafschaft Ravensberg war die Heuerlingsbevölkerung im späten 18. Jahrhundert freilich schon so weit angewachsen, daß ein zweiter Typ von Heuerling beobachtet wurde, der Heuerling des Kleinbauers mit geringerer Arbeitsverpflichtung. Unter dem Eindruck der anhaltenden Hochkonjunktur für Garn und Leinen waren diese Heuerlinge für den Pastor Schwager gegenüber den »leibeigenen« Heuerlingen der größeren Bauern »noch die glücklichsten«: »Ihr Wirt bedarf ihrer Hilfe selten, sie sind also Herr ihrer Zeit und wenn das Garn irgend in gutem Preise steht, so können sie sehr bestehen. « 103

Bei fallenden Garnpreisen waren sie freilich der Verarmung am schutzlosesten preisgegeben; sie bildeten die vom vormärzlichen Pauperismus am härtesten betroffene Gruppe der Unterschichten. Im späten 18. Jahrhundert waren diese Spinner-Heuerlinge auch Indizien für eine vertikale Arbeitsteilung zwischen den hausindustriellen Familien neben der horizontalen Arbeitsteilung zwischen Gemeinden 104 . Im Unterschied zum Bereich der Löwendleinenweberei, wo die häusliche Vereinigung sämtlicher Produktionsstufen bis ins 19. Jahrhundert dauerte, waren im Bereich des Feinleinengewerbes um Bielefeld die verschiedenen Produktionsstufen: Flachsbau und Bearbeitung des Flachses, Spinnen und Weben nicht mehr in einem Haushalt zusammengefaßt 105 . Flachsbau und Spinnen waren in der Regel nur noch im bäuerlichen Haushalt vereinigt, wo das Spinnen eine Füllarbeit im Winter und eine Tätigkeit des Gesindes war. Bei den Heuerlingen war dagegen ein eigener Flachsbau nicht mehr selbstverständlich. Sie mußten dafür den Leinsamen auf Kredit kaufen und das Land pachten, jedes Jahr aufs neue, denn auf demselben Boden konnte der Flachs, je nach Bodengüte, nur alle vier, sechs oder neun Jahre gebaut werden. Sie mußten also Flachs zukaufen. Das war im 18. Jahrhundert sehr wahrscheinlich noch weniger verbreitet als später; wie jedoch Beschwerden über die schlechte Qualität des bäuerlichen Flachses und Ausfuhrverbote für Flachs zeigen, war der Flachszukauf auch schon vor 1800 üblich 106 . Die Heuerlinge waren in ihrer Mehrzahl Spinner, die das Garn in kleinen Quantitäten an die Weber oder Garnhändler verkauften. Die Weber trieben ihr Gewerbe meist mit einem oder zwei Webstühlen und trugen das »fertige Gewebe wie es vom Stuhle kommt, zur Stadt (Bielefeld)« und zum Verkauf 107 . 64

Diese Arbeitsteilung hatte sich herausgebildet ohne einen erkennbar lenkenden Eingriff der Kaufmannschaft, vielmehr ging mit dem Aufschwung der Feinleinenweberei die Auflösung eines um 1700 bestehenden Verlagssystems einher 108 . Auch eine gewerbliche Spezialisierung unter dem Vorzeichen einer expandierenden Konjunktur führte nicht oder nur in einem begrenzten Maße aus der agrarischen Einbindung heraus - ihre Auflösung erfolgte erst später im Zeichen der Krise. Die Spinner und Weber blieben Heuerlinge oder kleine Grundbesitzer. Gerade Weber in der Umgebung Bielefelds mit mehreren Webstühlen, die also auch in stärkerem Maße Vollzeitweber waren, hatten sich um 1800 zum Teil bedeutend verschuldet, um einen kleinen Grundbesitz zu erwerben: 21 % der Weber mit nur einem Webstuhl hatten eigenen Grundbesitz oder waren Erbpächter, aber 44% der Weber mit zwei Stühlen und 79% der Weber mit drei und mehr Stühlen. Die Mehrzahl der knapp 1000 Weber hatte freilich keinen eigenen Landbesitz (64%), waren also Heuerlinge und 42% arbeiteten auch nur mit einem Webstuhl 109 . Dies verweist auf eine starke Differenzierung unter den Feinleinenwebern, die auch Verlagsbeziehungen von Webern untereinander und zwischen Webern und Spinnern nach sich zog. Der differenzierende Faktor dabei war jedoch weniger der eigene Grundbesitz. Schwerz charakterisierte die Verhältnisse der Weber in der Umgebung Bielefelds so: »Der Wohlstand des Webers gründet sich auf seinen Geldfonds, seine Kenntnisse, seine Sparsamkeit und seinen Fleiß. Viel Grundeigentum dient ihm nicht.« 110

Das Wichtigste war der Geldfonds. Sein Umfang entschied nämlich darüber, wieviel Garn welcher Qualität der Weber vorkaufen konnte. Schwerz unterschied unter den »vielen Klassen« der Weber anhand dieses Kriteriums fünf »Hauptklassen«: 1. Weber, die im eigenen Haus drei und mehr Stühle hatten und außerdem noch mehrere »Lohnweber« außer Haus beschäftigten. 2. Weber mit drei und mehr Stühlen im eigenen Haus ohne »Lohnweber«. Diese beiden Klassen beschäftigten in der Regel Webergesellen und hatten soviel Geld, daß sie größere Garnvorräte kaufen konnten, woraus sie »großen Nutzen« zogen, da die Homogenität des Garns die Qualität des Leinens steigerte. Sie wurden daher auch als die »reichen Weber« bezeichnet, die die »schönste und gleicheste Leinwand (verfertigten) weil sie das zusammenpassende Garn aus ihren beträchtlichen Vorräten zusammensortieren können«. 3. Weber mit ein bis drei Webstühlen, aber noch soviel Geldvermögen, daß sie selber Garn vorkaufen, aber keine größeren Vorräte anlegen konnten. 4. Weber mit einem Stuhl, aber ohne Geld, die Garn in kleinen Mengen und auf Kredit von den Webern der Klasse eins kauften, aber ihr Leinen noch selbständig verkauften. 5. Weber ohne Geld und schlechten Kredit, die von den Webern der Klasse eins nur das schlechtere Garn erhielten, »welches Eigentum des Darleihers bleibt, der mit dem Weber auf knappen Lohn accordiert, das gefertigte Linnen gegen Bezahlung

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des vereinbarten Lohnes an sich nimmt« und verkauft. Weber dieser Klasse mußten, wie sie selber sagten, »die Fäden für andere knüpfen« 1 1 1 .

Die Weber der Klasse eins waren also Verleger der Klassen vier und fünf, denn auch die vierte Klasse wurde »gewöhnlich« zu den Lohnwebern gerechnet, da der Garnkredit ihre Selbständigkeit aushöhlte 112 . Daneben erstreckte sich infolge ihrer großen Nachfrage nach Garn ihre ökonomische Macht auch auf die Spinner; die »reichen« Webern hatten ihre »eigenen Spinner«, denen sie wahrscheinlich Kredit gaben 113 . Die Zahl dieser verlegerischen Weber ist nicht genau festzustellen, sie waren aber nur eine kleine Gruppe. 1814 wurden in der Umgebung Bielefelds 121 selbständige Weber mit eigenem Garneinkauf und mehr als drei Webstühlen gegenüber 259 Lohnwebern gezählt. Nicht allejener selbständigen Weber beschäftigten jedoch Lohnweber. Die Verlagsgeschäfte waren im Durchschnitt nicht sehr umfangreich; nur die größten Verleger-Weber betrieben 10 Webstühle »außer Haus«. Nach der Zahl der Webstühle und der Fähigkeit zum selbständigen Garneinkauf gerechnet, lassen sich von den ca. 1000 Webern in der Umgebung Bielefelds 27% zu den Lohnwebern der oben genannten Klassen vier und fünf, 13% zu den »reichen« Webern der Klassen eins und zwei (mit drei oder mehr Webstühlen im Hause) und 60% zu den selbständigen Webern mit eigenem Garneinkauf und ein oder zwei Webstühlen (ein Webstuhl = 33%, zwei Webstühle = 27%) rechnen 114 . Der typische, am häufigsten vorkommende Weber war also trotz einer beträchtlichen Differenzierung noch der »geringe« 115 , aber selbständige Weber, der nur manchmal mit familienfremden Gesellen arbeitete und häufig ein Heuerling war. N i m m t man die Lohnweber hinzu, die nur selten einen eigenen Grundbesitz hatten 116 , dann veranschaulicht dies die noch überwiegende soziale Einbindung in das bäuerlich beherrschte Heuerlingssystem. Andererseits hat offenbar die funktionale Einbindung in den breiten bäuerlichen Flachsbau und die regionale Überproduktion von Garnjene Differenzierung erst ermöglicht. Gerade die reichen Weber mit großen Garnvorräten konnten, wie der Bielefelder Stadtdirektor Consbruch 1784 schrieb, »aus dem einheimischen unermeßlichen Vorrat an Garn das ihrer Fabrikation eigentümlich anpassende beste Garn aussuchen« 117 . Über die Weber des Löwendleinens im Kr. Halle und im Mindenschen sowie die Weber im Paderborner Land sind keine Quellen vorhanden, die eine ähnliche Differenzierung wie im Bielefelder Umland erkennen lassen würden. Da die Weberei in diesen Gebieten insgesamt ärmlicher war - ein minderes Garn ermöglichte ein nur grobes und schlechter bezahltes Leinen wird sie kaum zu jener vielfältigen Differenzierung der Weber geführt haben. Vorherrschend war der saisonal tätige, vielfach auch bäuerliche Weber mit ein bis zwei Webstühlen, auf denen das selbst gesponnene Garn verwebt wurde 1 1 8 . In einer Aufnahme aus dem Jahre 1838 wurden die Weberfamilien jener Gebiete im Unterschied zum Kreis Bielefeld zum aller66

g r ö ß t e n Teil nicht als Weber v o n »Profession«, sondern als solche bezeichnet, die das » G e w e r b e als Füllarbeit betreiben u n d den E r t r a g d a v o n zu ihrer Subsistenz n o t w e n d i g haben«. D e r Vergleich mit der Z a h l der Webstühle verdeutlicht, daß i m D u r c h s c h n i t t die meisten der Familien n u r einen W e b stuhl in Betrieb hatten (vgl. Tabelle 3). Tab. 3: Z a h l der Weberfamilien u n d Webstühle in einigen Kreisen des R g b z . M i n d e n , 1838-1849 1 1 9 Kreis

Minden Lübbecke Herford Halle Bielefeld Wiedenbrück Paderborn

Weberfamilien 1838 »Profession« »Füllarbeit«

17 58 13 329 94 2

1500 3682 605 (1012) 941 153 381

Webstühle für Leinen Insgesamt Haupt-/Nebengew. 1838 1849 1821 ? ? ?

2135 ?

?

20 28 214 169 2925 98 17

5 4183 1087 1535 194 135 1102

D i e U n t e r s c h e i d u n g zwischen H a u p t - u n d N e b e n g e w e r b e w a r freilich ein weiches K r i t e r i u m , das willkürlich u n d s c h w a n k e n d a n g e w e n d e t w u r d e . I m m e r h i n verweist es auf eine unterschiedliche Intensität der Weberei 1 2 0 .

b) Handelskapital

und

Kleinproduzenten

D i e Selbständigkeit der ländlichen Weber fand ihre Grenze i m H a n d e l . S o w o h l der H a n d e l selbst w i e auch die E n d v e r a r b e i t u n g des r o h e n Leinens zur H a n d e l s w a r e der »Bielefelder« L e i n w a n d lag in den H ä n d e n der städtischen Kaufleute. Die Bleicherei u n d A p p r e t u r w u r d e in der zweiten H ä l f t e des 18. J a h r h u n d e r t s in b e d e u t e n d e m M a ß e zentralisiert u n d verbessert. 1769 errichtete die Bielefelder K a u f m a n n s c h a f t eine erste, 1792 eine zweite genossenschaftliche »holländische« Bleiche, die d u r c h ein verbessertes Verfahren das Leinen w e i ß e r bleichte u n d die Bielefelder H ä n d l e r v o n den holländischen Bleichern u n d H ä n d l e r n u n a b h ä n g i g machte; bis dahin w u r d e ein Teil des Leinens i m holländischen H a r l e m gebleicht. N i c h t zuletzt d u r c h das Bleichwesen haben sich die Bielefelder Kaufleute einen g u t e n R u f u n d ihre starke Stellung in der Region gesichert 1 2 1 . U n m i t t e l b a r b e d e u t s a m e r f ü r das Verhältnis zwischen den Webern u n d Kaufleuten w a r j e d o c h das Leggewesen, das die M a r k t m a c h t der H ä n d l e r institutionell absicherte. Die Leggen, staatlich verwaltete Schauanstalten, w a r e n schon ein I n s t r u m e n t der städtischen G e w e r b e - u n d Marktpolizei i m Mittelalter, w u r d e n in M i n d e n - R a v e n s b e r g h i n g e g e n seit d e m späten 17. J a h r h u n d e r t m i t der Absicht der E x p o r t f ö r d e r u n g eingeführt u n d - i m

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Unterschied zum Paderborner Land - auch effektiv durchgesetzt, wenigstens was die Bielefelder Legge für feines Leinen betrifft 122 . 1669 wurden Leggen für Löwendleinen in Borgholzhausen, Oldendorf und Vlotho, 1678/ 80 Leggen für feines Leinen in Herford und Bielefeld und für Löwendleinen in Lübbecke gegründet. Im Laufe des 18. Jahrhunderts kamen noch Leggen für Löwendleinen in den ländlichen Orten Rahden, Dielingen, Levern und Wehdem des Kreises Lübbecke hinzu. Mit diesen Schauanstalten war ein Handelsmonopol der stadtansässigen Kaufleute verbunden, so daß im 17. Jahrhundert noch unbehindert herumreisende »ausländische« Kaufleute verdrängt wurden; gleichzeitig wurde den Bauern und Webern der eigene Handel verboten. Daneben enthielten die Leggeordnungen Produktionsvorschriften über Länge, Breite und Dichte der Leinwand, die durch die Leggebeamten, mit Unterstützung anderer Staatsdiener, kontrolliert werden sollten 123 . Durch den Leggezwang, d. h. die Pflicht, das Leinen vor der Bleiche in der Schauanstalt prüfen und stempeln zu lassen, wurden diese Kontrollen gesichert, zumal gleichzeitig der Verkauf des Leinens an die Kaufleute erst nach der Kontrolle auf der Legge gültig wurde. Die Vorteile des Leggewesens konzentrierten sich somit einseitig bei den Kaufleuten. Die Weber trugen die Gebühren und die Einschränkung ihrer Verkaufsmöglichkeiten, während die Produktionskontrolle, die Herstellung einer annähernd standardisierten Qualitätsware, deren Ruf im Handel eine gewichtige Rolle spielte, allein den Kaufleuten zugute kam. Insbesondere aber haben die Kaufleute das Ankaufsmonopol genutzt. Es erlaubte ihnen einen konjunkturell elastischen Einkauf und die Abwälzung von Preisrückschlägen auf die Weber. Es ist daher nicht verwunderlich, däß Verstöße gegen die Leggeordnungen an der Tagesordnung waren und trotz aller Verbote der Schmuggel des Leinens an den Leggen vorbei und der Verkauf an wandernde Kleinhändler nicht abriß. Beschwerden und Petitionen der Weber zu einer Revision der Leggeordnungen blieben jedoch erfolglos 1 2 4 . Vor allem die Bielefelder Legge blieb bis zur Auflösung der proto-industriellen Produktionsverhältnisse ein schlagkräftiges marktpolitisches Instrument in den Händen der Kaufleute und eine »Zwangfabrik« für die meisten Weber. Das Kaufsystem war zwar idealiter ein Marktsystem, realiter aber war die Marktmacht sehr ungleich verteilt. Nur die »reichen« Weber konnten den Kaufleuten ein gewisses Gewicht entgegensetzen. Sie waren nicht so sehr auf den sofortigen Verkauf angewiesen und konnten ihr Leinen zurückhalten, »bis sich die Preise bessern, die . . . ihren Auslagen nicht entsprechen« oder konnten selbst den Handel wagen 1 2 5 . Diese oben schon als Verleger anderer Weber charakterisierten Weber waren also durchaus marktbewußt und bildeten wahrscheinlich auch die (verbotenen) sogenannten Vor- oder Aufkäufer, die den Bielefelder Leinenhändlern großen Ärger bereiteten, da sie Zeiten der Hochkonjunktur ausnutzten und durch den Ankauf des Leinens von anderen Webern die Preise für die Kaufleute verteu68

erten. In einer Immediateingabe vom Juli 1791 beschrieben die Bielefelder Leinenhändler diesen Vorgang in nur mühsam zurückgehaltener Wut: »Die Fabrikanten (d. i. Weber, J. M.) treffen nun entweder in den Wirtshäusern auf den Dörfern oder unterwegs (nach Bielefeld, J. M.) scharenweise zusammen, finden sich auch in den Wirtshäusern der Stadt beieinander, und bei diesen Zusammenkünften geschieht nun hauptsächlich die Auf- und Vorkauferei, und zwar so heimlich und schnell, daß Käufer und Verkäufer nach Ansicht der Ware gleich unter sich einig werden . . ., ohne daß eine Entdeckung der Tat mit einer zur richtigen Bestrafung erforderlichen Gewißheit erfolgen kann.« Aber selbst wenn der Kaufmann sichere Indizien habe, schrecke er vor einer Anzeige zurück, »aus der nicht unbegründeten Furcht, daß die Leinenweber ihn als den Handelsfiskal ansehen und beim Ausbieten ihrer Leinwand (an) seiner T ü r vorbeigehen werden«.

Die Händler forderten (erfolglos) nicht nur die »geschärfte« Zuchthausstrafe, sondern auch die namentliche Zeichnung der Leinenstücke 126 . Die Weber hingegen begründeten diesen Vorkauf teils pragmatisch, teils mit Aussagen, die auf ein sehr gespanntes Verhältnis zu den Kaufleuten schließen lassen: Manche Weber seien krank oder wegen Heuerlingsdiensten unabkömmlich und wieder andere seien Lohnweber oder nicht verkaufsberechtigte Witwen. Sie reklamierten jedoch auch die »Freiheit des Handels«, da es ohnehin schon nachteilig sei, »daß beinahe 1000 Weber alle ihr Fabrikat bloß an 28 Bielefelder Kaufleute bringen müssen«, von denen manche nur wenig einkaufen und die sich zudem »zu gewissen Preisen und . . . Regeln des Einkaufs« verabreden würden. Außerdem wollten sie auf jene Weise dem »Nachteil« begegnen, daß ein zwar nicht in der Arbeit, aber im Handel »unerfahrener und ungewitzter Leinenweber« einem »kundigen, verschlagenen und auf wohlfeilen Einkauf erpichten Kaufmann« gegenüberstehe. Diese Gründe wurden von den Händlern natürlich empört zurückgewiesen 127 . Das Ausmaß dieser Vorkauferei oder die Verteidigung der Kaufleute, daß eine echte Konkurrenz herrsche, ist naturgemäß schwer zu überprüfen. Kredite für den Leinsaatkauf, die mit Leinen abbezahlt wurden, eine enge verwandschaftliche Verflechtung innerhalb der Kaufmannschaft, deren Allergie gegen aufstrebende homines novi 1 2 8 und die Dominanz einer Handvoll großer Handelshäuser geben jedoch eher den Webern recht. Kaufleute aus den Familien Laer, Weber, Krönig, Bertelsmann und Delius, den fuhrenden Familien in Bielefeld, kauften 1794 über die Hälfte und 1832 zwei Drittel des Leinens auf der Bielefelder Legge auf 1 2 9 . Angesichts dieser Umstände waren die Chancen der Weber, die engen Spielräume auf dem Markt auszunutzen, gering, da die Vorkauferei als Druckmittel auch nur bei starker Nachfrage funktionierte. Häufiger wird der Fall gewesen sein, was 1801 so beschrieben wird: »Viele unvermögende Leineweber müssen sich aus Not oft Preise gefallen lassen, wobei sie auf Dauer nicht bestehen können. « 1 3 ° Die Eigenversorgung der Produzenten mit Rohstoffen und die fast mono69

polartige Marktstellung gegenüber den Webern haben es den Leinenkaufleuten bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts nicht notwendig erscheinen lassen, über die Bestellung bestimmter Leinensorten hinaus einen direkten Einfluß auf die Produktion auszuüben. Die Weber besorgten nach den Worten des Bielefelder Stadtdirektors Consbruch von 1794 »den Verlag der Webstühle fur ihre eigene Rechnung« und verkauften an die Händler, »ohne daß diese das geringste mit der Weberei zu schaffen oder ihre eigenen Weber« hatten 1 3 1 . Die gleichwohl große Abhängigkeit im Kaufsystem schloß keine kaufmännische Disposition über den Produktionsprozeß ein. Eine solche Unternehmerfunktion übten vielmehr bis zu einem gewissen Grade das Leggewesen und staatliche Verordnungen über die erforderliche Güte des Leinens für den Verkauf an den Händler und ähnliche Verordnungen über Länge und Fadenzahl von Garnen aus. Die Legge war ein ständiges »Examen« für die Weber. Gegen diese Auflagen wurde zwar oft verstoßen - der Warenbetrug gehörte zum Alltag des Kaufsystems-, die Kontrolle war aber auch nicht ganz unwirksam und Verstöße wurden empfindlich mit Geldstrafen, Prügel und Pranger bestraft und sogar die Zuchthausstrafe war angedroht 1 3 2 . Diese Form der Produktionskontrolle war ein Element der durch die Gewerbe- und Handelspolitik und direkte Subventionen wahrgenommenen unternehmerischen Funktionen und Leistungen des Staates für die Kaufleute 133 . Unter diesen Umständen war das Leben der Kaufleute ein ziemlich »gemächliches« und für die Entwicklung des modernen kapitalistischen Unternehmers wenig herausfordernd 134 . Charakteristischerweise haben die vermögenden Bielefelder Kaufleute sich gescheut, außerhalb des Leinenhandels zu investieren und ließen so die Chance zur verlegerischen Verarbeitung des in Minden-Ravensberg überschüssigen und nach Elberfeld exportierten Garnes vorübergehen. Eine königliche Kapitalschenkung von 50000 Talern (»Gnadenfonds«) mit der Absicht, dieses Garn wie in Elberfeld zu Zwirn und Bändern verarbeiten zu lassen, mußte ihnen in dieser Zweckbestimmung »förmlich aufgedrängt« werden. Die in diesem Zusammenhang 1791 gegründete Zwirnfabrik Ε. A. Delius offerierte dieser 1806 wieder zum Verkauf mit dem Bemerken, daß er das investierte Kapital »mit mehr Nutzen« im Leinenhandel gebrauchen könne - »und, um die Wahrheit zu sagen, wir haben auch mehr Lust zu diesem Handel als zur Fabrikensache« 135 . Das Kaufsystem bestimmte auch den Löwendleinen- und Garnhandel nach auswärts. Jener war ebenfalls durch das Leggewesen privilegiert, dieser hingegen nur in wenig wirksamer Weise durch die Akziseverfassung, so daß die städtischen Kaufleute von ländlichen »Garnsammlern« im Auftrag von Konkurrenten übergangen wurden. Trotz des Leggezwangs erreichten die Löwendleinenhändler nur mit wenigen Ausnahmen im 19. Jahrhundert (wie Delius-Versmold und Kisker-Halle) ebenso wie die Garnhändler in Herford und anderen Kleinstädten nicht die Kapitalstärke der Bielefelder Leinenkaufleute. Sie waren offenbar häufig als Kommissionshändler von

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ihren auswärtigen Hauptabnehmern abhängig. Insbesondere der Garnhandel war auch ein Tummelplatz der »kleinen kapitallosen Tagediebe«, die als »Commerzianten« ihr Glück versuchten. Aber auch fur den Löwendleinenhandel stellte der Landrat des Kr. Bünde 1820 einen Mangel an »angesehenen Handlungshäusern« fest; der Handel erfolge über kleine Kaufleute und Juden, die nicht sofort bar bezahlen könnten, von den Webern Kredit verlangten und sie schließlich teilweise mit Waren entschädigen würden, derer diese nicht bedürften 136 . Wie dieser Hinweis auf das Trucksystem zeigt, enthielt das Verhältnis der Spinner und Weber auch zu kleinen Händlern spannungsreiche Elemente.

c) Die Familienwirtschaft

der Unterschichten

Die vielfach abhängigen Spinner und Weber waren im Kaufsystem als Produzenten gleichwohl selbständig. Sie bildeten in dieser Hinsicht eine nicht mehr grundherrlich, aber auch noch nicht in ein Lohnarbeitsverhältnis eingebundene Gruppe. Soweit sie ohne Grundeigentum waren, stellten sie den scheinbar paradoxen Typ eines besitzlosen Selbständigen dar, der seine Produktionsmittel - Flachs, Garn und Land - kaufen bzw. pachten mußte. Immer aber waren sie selbständig in der Kontrolle über den Arbeitsprozeß. Die Selbständigkeit gründete also weniger auf einem Besitz, wenn auch Produktionsinstrumente wie das Spinnrad und der Webstuhl allermeist als Eigentum vorhanden waren, sondern auf der Verfugung über die Arbeitskraft der Familie. Die hausindustriellen Produzenten sind nicht als einzelne »Arbeiter« zu begreifen, sondern als »Mitarbeiter« in einer Familienwirtschaft, in der die familienfremde Lohnarbeit selten war. Die der Familienwirtschaft eigentümliche ökonomische und soziale Ratio war ein strukturelles Moment der Produktionsverhältnisse des proto-industriellen Gewerbes, das für die Lage der Unterschichten und die quälend lange Krise des Textilgewerbes von grundlegender Bedeutung war. Ein Modell der lohnarbeitslosen bäuerlichen Familienwirtschaft hat der russische Wirtschaftstheoretiker Alexander Tschajanov entworfen, das Hans Medick für das Verständnis auch der gewerblichen Unterschichten in anregender Weise aufgenommen hat 137 . Danach ist das ökonomische Handeln in der Familienwirtschaft nicht mit marktwirtschaftlichen Kategorien allein zu fassen, da es eingebunden bleibt in den Gesamtzusammenhang von Produktion, Konsum und demographischer Reproduktion der Familie. Ihr Muster ökonomischer Rationalität ist nicht die Gewinnrechnung nach der Rentabilität der eingesetzten Produktionsfaktoren, sondern das Gleichgewicht zwischen Arbeitsaufwand und Arbeitseinkommen der Familie, dessen Ziel die familiale Subsistenz ist. Die Höhe des Arbeitseinkommens wird bestimmt durch die Größe und soziale Zusammensetzung der Familie und die äußeren Produktionsfaktoren: Bodenrente, Kapital, Marktpreise, Zins. 71

Hingegen fehlt in der familienwirtschaftlichen Kalkulation der Arbeitslohn. Unter dem Imperativ der Subsistenz wird die Arbeitskraft nicht nach der Ratio der Produktivität der eingesetzten Produktionsfaktoren und des »Reingewinns«, sondern nach ihrem absoluten Arbeitsertrag eingesetzt. Es wird daher auch gegen die Rentabilität der genannten Produktionsfaktoren gearbeitet, solange die familiale Subsistenz nicht gesichert ist. Dieses nach den Maßstäben einer markt- und gewinnorientierten Ökonomie »irrationale« Verhalten einer bedürfnisorientierten Ökonomie nennt Tschajanov die »Selbstausbeutung« oder »Selbstausnützung« der familialen Arbeitskraft. Der physische Arbeitseinsatz, die Arbeitslast wird »aufs strengste« durch die — historisch-kulturell variierenden - »Verbrauchsansprüche« der Familie vorgeschrieben 138 . Der leicht mißverständliche Terminus »Selbstausbeutung«, der bei Tschajanow nur gelegentlich auftaucht und vermutlich eine implizite Polemik gegen das marxistische Bild vom kleinen Bauern als verkleideten Proletarier darstellt, benennt eine ökonomische Antriebskraft und Arbeitsdisposition, die quer zum Markt lag auch dann, wenn die Familienwirtschaft schon in ein Marktgeschehen eingebunden war. Unter sich ändernden äußeren Bedingungen war immer die Logik der bedürfnisorientierten Balance zwischen Arbeitsaufwand und -einkommen wirksam. Die »Fremdausbeutung«, etwa durch herrschaftliche Abgaben oder ungleiche Tauschbedingungen wie im Kaufsystem, wurde insofern gleichsam überlagert durch die »Selbstausbeutung«, deren Mehrarbeit dem Kaufmann »gewissermaßen als Gratisprofit zufiel« 139 . Dies scheint ein Grund für die »außerordentliche Zähigkeit und Widerstandskraft der bäuerlichen Familienwirtschaften« 140 , aber auch der Familienwirtschaften der gewerblichen ländlichen Unterschichten. Die familiale Subsistenzwirtschaft zeigt gewöhnlich keine Extravaganzen des wirtschaftlichen Gebarens, in der Regel wiesen einige Funktionsgrößen, die das größte Arbeitseinkommen und den höchsten Reinertrag liefern, in die gleiche Richtung. Qualität und Umfang des Bodens, der Einsatz fixen Kapitals, Preise, Marktlagen und die Dringlichkeit des Bedarfs bestimmen beide. Und insofern ist die »Selbstausbeutung«, besonders unter Bedingungen der marktwirtschaftlichen Reproduktion, auch durch das Maß der Fremdausbeutung bestimmt. In Grenzfällen zeigt die Familienwirtschaft jedoch Besonderheiten, die der marktwirtschaftlichen Rentabilitätsrechnung >merkwürdig< vorkommen. Es sind dies die Fälle, in denen die marktwirtschaftlichen Funktionsgrößen innerhalb der familienwirtschaftlichen Regelung von Arbeitsaufkommen und Arbeitseinkommen sich positiv oder negativ kumulieren. Im ersten Fall wird die Ratio gesteigerten Arbeitsaufwandes entfallen, wenn bei günstigen Konjunkturen das notwendige Familieneinkommen mit weniger Arbeit zu sichern ist. Die rentabilitätsrechnenden Zeitgenossen sprachen dann von der »Faulheit« der Unterschichten. Im zweiten Fall, etwa unter Bedingungen des Landmangels und schlechter Preise wird dagegen die Arbeit fortgesetzt, um ein Einkommen überhaupt 72

zu erlangen, was nun als »unproduktive Arbeit« erschien. Dieser Fall ist wohl der historisch gewöhnliche, denn gerade unter Marktbedingungen tendierte die familienwirtschaftliche Produktionsweise durch ihre eigene Dynamik: steigendes Arbeitskräfteangebot und Landhunger, dazu, den negativen Grenzfall immer wieder zu reproduzieren. Diesen »Fluch der Hausindustrie« 141 kennzeichneten zwei Momente. Einmal standen Boden- und Pachtpreise über der wirtschaftlichen Rentabilität des Ackerbaus; in bevölkerungsdichten Regionen zahlten scheinbar paradoxerweise die Ärmsten die höchsten Pacht- und Bodenpreise. Zum zweiten wurden hohe Zinsen in Kauf genommen, sofern das Kapital zur Subsistenz notwendig war oder versprach, den Grad der »Selbstausbeutung« zu senken. Beide Momente hingen oft zusammen; weil der Grundbesitz eine Form sozialer Sicherheit war, wurden hohe Schulden fur den Haus- und Landkauf eingegangen. Das Modell der Familienwirtschaft ist im Kern ein ahistorisches Modell demographischer Differenzierung und sagt theoretisch kaum etwas über das Verhältnis der einzelnen Familienwirtschaften zur Volkswirtschaft aus. Im weithin gegebenen Fall des Lebens an der Grenze zur Dürftigkeit lassen sich die angedeuteten »irrationalen« Phänomene der Familien Wirtschaft auch als eine ständige Anpassung an externe Bedingungen und nicht als Ausdruck einer eigenständigen Regelhaftigkeit lesen142. Darüber hinaus läßt sich der systematische und autonome Zusammenhang zwischen Produktion, Konsum und demographischer Reproduktion im Rahmen der familienwirtschaftlichen Arbeits- und Einkommensbalance in Zweifel ziehen143. Vorläufig, d. h. so lange nach Schichten und Familienzyklen differenzierte Untersuchungen fehlen, läßt sich die Familienwirtschaft der Unterschichten eher als eine Überlebenswirtschaft begreifen, als eine »Ökonomie des Notbehelfs«, in der die Familienmitglieder verschiedene Einkommensbeiträge einbrachten, gewerbliche ebenso wie solche aus zeitweiliger Lohnarbeit und aus der eigenen Landwirtschaft, wenn nötig auch aus der Bettelei, dem Schmuggel oder dem kleinen Diebstahl 144 . Unter Bedingungen saisonal und konjunkturell schwankender, im einzelnen immer unzureichender Einkommen war eine Kooperation der Arbeitskräfte bzw. Kumulation der Einkommen nötig. Diese Familienwirtschaft der hausindustriellen Produzenten unterschied sich von der familialen Erwerbsgemeinschaft der Lohnarbeiter bei niedrigen Löhnen nur in einem, für das Sozialprestige aber wichtigen Punkt: Der häuslichen Selbständigkeit und Kontrolle über den Arbeitsprozeß. Diese Selbständigkeit befreite von der Diskriminierung und Verfolgung des »herrenlosen Gesindels«, der nicht Seßhaftenund »unehrlichen« Außenseiter 145 und bis zu einem gewissen Grade auch von einer direkten persönlichen Herrschaft. Nicht allein die nichterbenden Kinder von Kleinbauern griffen »zu hundert verschiedenen Erwerbungsmitteln« - (saisonale) Lohnarbeit in verschiedenen Formen, Landpacht und Spinnen-, »um nur nicht in die Klasse der Dienstboten oder Tagelöhner herabzusinken, weil die von den 73

Vätern ererbte Ehre damit streitet« 146 . Mit ihrer Familie entgingen sie damit dem Schicksal der Vereinzelten und Unverheirateten. Der Status dauernder Gesindearbeit war wahrlich keine Alternative. Einer permanenten hausherrlichen Kontrolle mit nur geringen Rechten unterworfen, endete das Schicksal der lebenslangen Knechte und Mägde wohl öfter, als sich das historisch ausmachen läßt, in einem Höllenkreis von Siechtum und Einsamkeit. Eine Zeitungsnachricht v o m Jahre 1815 aus Werther bei Bielefeld wirft kein günstiges Licht auf die patriarchalische Fürsorge. Eine achtzigjährige Frau, die ihr Leben lang im D o r f reihum als Spinnerin gearbeitet hatte, lebte nach ihrer Krankheit bei verschiedenen früheren Brotherren, wurde schließlich aber von einem Bauern aus dem Haus gewiesen. Damit wurde die Frau zu einem »Fall« für die Behörden, die vorsahen, sie als Paderbornerin über die Grenze zu schieben, was schließlich durch den Tod der Frau sich erübrigte 1 4 7 .

Gegen ein solches Ende stellten die Familien auch bei den Besitzlosen einen Schutz dar, die große Anstrengungen unternahmen, durch die Solidarität zwischen den Generationen sich gegen Krankheit und Alter zu sichern 1 4 8 . Über diese elementare Funktion hinaus verschaffte sie ein Minimum von Anerkennung in einer Gesellschaft, in der die Familien vor den Individuen bzw. nur die Selbständigen soziale Achtung genossen, die durch »separata oeconomia, Amt (oder) eigenes Gewerbe« ihren Unterhalt verdienten 149 . Das außerhalb der Familien bzw. der Hausherrschaft stehende Individuum und damit auch der »freie« Lohnarbeiter mußte sich im 19. Jahrhundert seine Anerkennung erst noch erringen, wie eine Petition von Arbeitern in Zigarrenmanufakturen der Stadt Minden aus dem Jahre 1845 erkennen läßt. Diese teilweise noch unverheirateten, aber relativ gut verdienenden Arbeiter klagten in zweifacher Hinsicht über die »Gesetzlosigkeit« ihres Zustandes: Einmal über die »Abhängigkeit und Knechtschaft, in welche eine schrankenlose Gewerbefreiheit den eigentlichen Arbeiter gebracht« habe und zum anderen über die »Lage . . . ohne allen Halt«. Offenbar gerade als selbstbewußte Arbeiter schrieben sie: »Es zeigt sich oft genug, und es ist uns nicht unbekannt geblieben, daß die allgemeine Meinung kein günstiges Urteil über uns hat, und obwohl durch unsere Arbeit mancher Mensch in hiesiger Stadt ernährt wird, so verkennen wir doch nicht, daß die frühe Selbständigkeit und die häusliche Unabhängigkeit v o m Brotherren, die in unserem Geschäfte liegt, manigfaches Übel herbeifuhren muß.«

Sie forderten daher einen »festeren Verband«, der ihnen eine »sittliche und religiöse« Ordnung geben sowie ihr »Recht« feststellen und schützen sollte. Wahrscheinlich schwebte ihnen eine zunftartige Organisation vor, die ihr Ansehen heben und auch den Arbeitsmarkt kontrollieren sollte; denn gleichzeitig beschwerten sie sich über die Abwanderung der Zigarrenindustrie aufs Land und die dort übliche billigere Frauenarbeit 150 . Was von diesen Lohnarbeitern durch Organisation anvisiert wurde, eine 74

sozial anerkannte Sicherheit, war für die Hausindustriellen innerhalb der ländlichen Gesellschaft das Streben nach Haus- und Grundbesitz. Er war bei schwankenden, oft unberechenbaren Einkommen ein gewisses stabilisierendes Element und bürgte für den notwendigen Kredit 1 5 1 . Grundbesitz, sei es auch nur ein »Fleck«, war nach einer Beschreibung Osnabrücker Verhältnisse »gleichsam Instinkt, ein Gefühl der Volksehre«, und u m ein »kleines Häuschen am Ende des Dorfes« zu erbauen, entzog sich die Familie »Kost, Speise und Trank« 1 S 2 . Die Weber in der U m g e b u n g Bielefelds haben sich u m 1800 für den Erwerb von Grundeigentum in relativ hohem Maße verschuldet. Das gute Drittel der Weber mit Grundeigentum war häufiger und stärker verschuldet als die Weber ohne Grundeigentum. Von jenen waren nur 16%, von diesen hingegen 48% ohne Schulden und für mehr als 100 Taler in der Kreide standen 12% der Heuerlings-Weber, aber fast 80% der Weber mit Grundeigentum. Einige Lohnweber mit mehreren Webstühlen und Gehilfen und hohen Schulden lassen annehmen, daß für den Landbesitz sogar eine - wahrscheinlich als vorübergehend eingeschätzte - Abhängigkeit von einem verlegerischen Weber in Kauf genommen w u r d e 1 " . Diese Tendenzen - Lösung aus der herrschaftlichen Kontrolle, Annäherung an das vorbürgerliche Ehrsystem und Besitzbildung - beleuchten die familienwirtschaftliche »Ökonomie des Notbehelfs« von einer anderen Seite. Diese war in jenen Hinsichten auch ein Stück Emanzipation und die »Selbstausbeutung« ein Mittel, sie unter restriktiven Bedingungen zu behaupten. Insofern es keine (oder höchstens schlechtere) wirtschaftliche Alternativen gab, wäre der Begriff »Selbstausbeutung« nur in dieser ökonomischen Hinsicht obsolet, ja zynisch. Da es aber auch u m ein nicht selbstverständliches M i n i m u m an gesellschaftlicher Anerkennung ging, verweist der Begriff auf Verhaltensdispositionen der Familien jenseits des engeren ökonomischen Bereichs. Wie sah nun die Familienwirtschaft der Spinner und Weber in MindenRavensberg im »Inneren« aus und welche Bedeutung hatte sie gegenüber der gleichwohl zu beobachtenden Gesindearbeit? Es gehört zum älteren, unsentimentalen Familienbegriff - dem »ehlich leben und haushallten« wie Luther sagte 1 5 4 -, wenn ein wichtiges Element der Familienwirtschaft, die regelmäßige Arbeit der Kinder, fast nur beiläufig und ohne moralische E m p ö r u n g berichtet wird. Etwa ab dem Alter von fünf Jahren waren die Kinder der Heuerlinge wie der Bauern gehalten, ein regelmäßiges Q u a n t u m Garn zu spinnen, nötigenfalls erzwungen durch die »Verachtung (der) Fleißigeren« und empfindliche körperliche Strafen 1 5 5 . Die selbstverständliche Verbreitung und Bedeutung der Kinderarbeit zeigte sich, als im 19. Jahrhundert die Verwaltung die Schulpflicht und ein niedrigeres Schuleingangsalter durchzusetzen suchte. 1826 sollte dieses auf sechs Jahre herabgesetzt werden, sofern der Schulweg nicht länger als 15 Minuten dauerte. Die bildungsbewußten Beamten stießen dabei auf fast einhelligen Widerstand. Während sie die Kinder aus den »dürftigen und einförmigen 75

U m g e b u n g e n des Hauses« herausreißen wollten, u m deren geistiges Verm ö g e n darin nicht ersticken zu lassen, w u r d e ihnen entgegnet, daß die Kinder i m Alter von sechs Jahren noch zu schwach für die Schule seien, gleichzeitig aber versichert, daß die Kinder der Spinner seit d e m 4. Lebensj a h r arbeiteten, da »es eine anerkannte Sache ist, daß gute und beste Spinner sich hierzu in diesem Alter (d. h. v o m 4. bis z u m 7. Lebensjahr) ausbilden«. N u r über K o m p r o m i s s e w u r d e schließlich das Ziel halbwegs erreicht. D u r c h Schichtunterricht teilten sich der Staat und die Familien ihre A n s p r ü che an die Kinder, da er so eingerichtet wurde, daß wenigstens ein Kind i m m e r zu Hause war. Dennoch rissen die Beschwerden über das frühe Einschulungsalter nicht ab, und 1843 m u ß t e die Regierung Minden in ihrem Schulbericht eingestehen, daß in den armen Gegenden des Regierungsbezirks, »wo die Kinder mehr als gewöhnlich (!) z u m B r o d e r w e r b von den Eltern mit angehalten werden«, der Schulbesuch trotz aller Förderung und Kontrolle »noch bedeutend zu wünschen übrig« lasse 1S6 . Wie lange die Kooperation zwischen Kindern und Eltern dauerte, läßt sich mangels genauerer Untersuchungen des Familienzyklus noch schwer sagen. Vielfach dienten die Kinder der Heuerlinge nach der Konfirmation als Gesinde 1 5 7 . Einige Angaben über die Anzahl der Kinder i m Familienhaushalt liegen relativ niedrig, insbesondere niedriger als die Zahl der Kinder in bäuerlichen Haushalten und warnen insofern vor übertriebenen Vorstellungen über die Größe der häuslichen Arbeitsgemeinschaften. Im Jahre 1820 lebten in der für die Feinleinenweberei typischen Bauerschaft Heepen bei den Bauern durchschnittlich 4,9, bei den Webern 3,1, bei den Spinnern 2,8 und bei den H a n d w e r k e r n 2,0 Kinder im Familienhaushalt. Eine ähnliche Differenzierung zwischen den sozialen Schichten läßt sich 1843 in der Spinnergemeinde Spenge beobachten, allerdings auf einem niedrigeren Niveau, in d e m sich möglicherweise schon die große Krise der Garnspinnerei spiegelt: Hier lebten durchschnittlich i m Haushalt der Vollbauern 4,00, der Kleinbauern 3,12, der Heuerlinge mit Landnutzung 3,27 und im Haushalt der bloßen Mieter oder Einlieger 1,75 eigene Kinder 1 5 8 . In diesen D u r c h schnitten ist freilich auch ein gewisser Anteil von Familien mit mehr Kindern enthalten; in Heepen hatten 24% der Spinner-Familien und 40% der Weber-Familien 4 und mehr Kinder i m Hause 1 5 9 . Das läßt annehmen, daß mindestens bei den Webern die Kinder bis zu ihrer Verheiratung oft bei den Eltern blieben, so daß die Familie phasenweise zu einer umfänglichen P r o duktionsgemeinschaft anwachsen konnte 1 6 0 . In den Weber-, aber auch in den Feinspinnerhaushalten wurden dabei die älteren Kinder entlohnt, m ö g licherweise zur Ansparung eines »Brautschatzes« 1 6 1 . Mit der Heirat gründeten die Kinder in der Regel einen eigenen Haushalt. Die Namensgleichheit von Heuerlingsfamilien bei einem Bauern deutet jedoch an, daß die Kooperation in einem Haushalt auch zwischen verheirateten Kindern und Eltern erfolgen konnte 1 6 2 . Dabei stellten sich dann wohl auch die aus den bäuerlichen Altenteilsregelungen bekannten Spannungen ein, die ein Vertrag i m

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Jahre 1848 zwischen dem Heuerlings-Weber Heinrich Markmann in Schildesche mit seinem Sohn erkennen läßt: Er »verkaufte« in diesem Vertrag seinem Sohn als Weberlohn für diesen und dessen Frau Mobilien und Naturalien im Wert von 42 Rt - darunter 2 Ziegen, 1 Bett und Werkzeug - und trat ihm fur 1 Jahr die Nutzung seines Pachtlandes ab. Den Gebrauch der verkauften Gegenstände sollte der Vater nur »bittweise« ausüben. Bald darauf erschienen sie jedoch wieder vor Gericht und erklärten, »daß sie, wenngleich im nämlichen Hause wohnend, doch schon seit beinahe 2 Jahren eine gesonderte Wirtschaft führen und deshalb die väterliche Gewalt beiderseits aufhöre« 163 .

Die unterschiedliche Familiengröße bei Spinnern und Webern in dem oben genannten Beispiel verweist darauf, daß die Familienwirtschaft nicht immer eine häusliche Produktionsgemeinschaft sein mußte. Die Größe der Hausgemeinschaften konnte auch mit der Komplexität des Arbeitsprozesses variieren. So war die Weberei mit umfangreichen Vorarbeiten, dem Kochen, Waschen, Trocknen, Spulen und Aufziehen des Garns verbunden 164 , die aufwendiger waren als in der Spinnerei (wenn man die Flachszubereitung nicht rechnet) und somit mehr »Hände« innerhalb eines Produktionsganges beschäftigten. Aber auch wenn die Spinnerkinder eher und häufiger aus dem Hause gingen, waren sie fur die familienwirtschaftliche Einkommenskumulation nicht verloren. Insbesondere bestimmte Formen der Naturalentlohnung des bäuerlichen Gesindes, die Überlassung einer Parzelle für den Flachs- oder Kartoffelbau, waren auf die Kooperation mit den Eltern zugeschnitten: Jenes Land wurde nämlich von den Eltern der Dienstboten bebaut. Die Familienwirtschaft war nicht nur eine häusliche Produktionsgemeinschaft, sondern auch eine Erwerbs- und Unterstützungsgemeinschaft von räumlich nahe beieinander wohnenden Verwandten 165 . Die Kooperation innerhalb der Unterschichtenfamilie war gegenüber der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in bäuerlichen Familien, in der sich Männer und Frauen die Feld- bzw. Hausarbeit teilten, eingeebnet, manchmal sogar umgestürzt: »Wenn man in die Wohnungen der Landbewohner tritt, welche nicht dem größeren Grundbesitz angehören und welche sich eben durch Spinnen ihre dürftige Subsistenz erwerben, so findet man oft die ganze Familie am Spinnrade. Nicht selten sieht man Großmutter, Mutter und Enkelin mit Spinnen beschäftigt, während der Vater und der erwachsene Sohn auf dem Felde arbeiten oder andere häusliche Arbeit verrichten, die Mahlzeit vorbereiten, Rüben putzen oder Kartoffeln schälen, wenn und solange sie deren haben.« 166

Die hier beschriebene, noch residuale Arbeitsteilung nach bäuerlichem Muster Schloß jedoch nicht aus, daß auch der Mann zum Spinnrad griff. Dies war mindestens in Ravensberg die Regel, während bemerkenswerterweise die Männer im Paderborner Land dies für einen »Schimpf« hielten. Dennoch ist auffällig, daß die hausindustrielle Tätigkeit zunächst doch eine Domäne der Frau war, überraschenderweise auch bei den Webern: 77

»In den Weberwohnungen ist der Vater mit Bereitung des Garns beschäftigt, wenn er nicht ausgezogen ist, um Garn zu kaufen oder die fertige Leinewand zu verkaufen, oder wenn er nicht mit dem erwachsenen Sohn den Acker bestellt. Die Mutter ist am Herde beschäftigt oder wartet des Viehes. Die größeren Töchter sitzen auf dem Webstuhle und die kleinen noch schulpflichtigen Kinder müssen in den freien Stunden das Garn aufSpulen winden.« 1 6 7

Ähnlich wie hier Bitter um die Mitte des 19. Jahrhunderts beschrieb Schwerz eine Generation früher die häusliche Wirtschaft bei den Webern ohne Gehilfen in der Umgebung Bielefelds, in der »(die Männer) kochen, fegen und melken, um das gute, fleißige Weib in seiner Arbeit ja nicht zu stören«. Auch die Gehilfen waren oft junge, unverheiratete Frauen. Ebenso arbeiteten in der Herstellung des Löwendleinens in der Regel die Töchter bzw. Hausfrauen am Webstuhl, während die Männer nur am Spinnen beteiligt waren 1 6 8 . Offenbar waren die Kinder, Töchter und Frauen diejenigen, die am stetigsten der hausindustriellen Arbeit nachgingen, während die Söhne und Männer die Gelegenheiten der aushäusigen Lohnarbeit als Saisonarbeiter und Tagelöhner wahrnahmen oder die Heuerlingsdienste verrichteten und erst in zweiter Linie an das Spinnrad oder den Webstuhl gingen 169 . Durch alle Varianten hindurch ist eine außerordentliche ökonomische Bedeutung der Frau fur die Familienwirtschaft erkennbar, die ihre Funktion als kochende Hausfrau nicht nur überragte, sondern sogar einschränkte. Zu Gunsten der landwirtschaftlichen und gewerblichen Arbeit durfte die Heuerlingsfrau zur Zubereitung der Speisen »nur wenige Zeit verwenden«. Die fast stets gleiche Nahrung aus gefettetem Gemüse neben Zichorienkaffee, Pumpernickel und saurer Milch wurde auf Vorrat gekocht und eine Woche lang nur aufgewärmt. Im übrigen schildert Schwager die »häuslichen Geschäfte« einer Heuerlingsfrau, deren Mann oft außer Haus arbeitete, in einem Genrebild, das den mühseligen Alltag unmittelbar vor Augen fuhrt: Sie »schafft Futter für ihre Kuh oder in deren Ermangelung, für ihre zwei bis drei Ziegen, und behält doch noch Zeit übrig, ein bis anderthalb Stück Garn zu spinnen. Hat sie ein kleines Kind, das sie zu Hause keinem größeren anvertrauen kann, so nimmt sie es mit aufs Feld oder in den Garten, wenn sie für ihr Vieh Futter holt, legt es solange auf Gottes Erdboden, und wenn sie fertig ist, so packt sie beide Hürden auf und k o m m t schwer beladen wieder nach Hause. Zu Hause wacht sie darüber, daß die größeren Kinder ihr genanntes Garn spinnen, und ist das Kleinste noch jung, so liegt es neben ihrem Spinnrad in der Wiege, wirds ungeduldig, so nimmt sie es aufs Knie, reicht ihm die Brust und spinnt immerfort dabei, und ist es im Begriffe gehen zu lernen, so überläßt sie es ihm selber, und es muß solange auf allen vieren kriechen, bis es sich selbst aufrichten und allein gehen kann. « 170

Die formenreiche Ordnung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in der hausindustriellen und Unterschichtenfamilie überhaupt, so läßt sich generell folgern, hat sich nicht mehr an bestimmten Arbeitsbereichen orien78

tiert, sondern an der Anpassung an die Überlebensbedingungen, die dann eine »Überschreitung der tradierten Arbeitsteilung der Geschlechter und Altersklassen« nach sich zog 171 . In den Augen der Reformer des späten 18. Jahrhunderts wurde damit die gewerbliche Unterschichtenfamilie wohl ungewollt zu einem Vorbild der neuen, auf ökonomisches Wachstum gerichteten »Zeitökonomie«. So klagte ein Autor 1795, daß die bäuerliche Arbeitsteilung in den »mehresten Gegenden« noch von der »tyrannischen Gewohnheit« bestimmt werde, »daß eine Schande auf den zu fallen pflegt, welcher eine Arbeit verrichtet, die ftir Personen seines Geschlechtes sich nach der Tradition nicht schickt«. Dagegen lobte er die Verhältnisse in den »kleinen Familien«: »In den kleinen Familien, w o häuslicher Fleiß herrscht, setzen sich die Hausgenossen über dergleichen Vorurteile am ehesten hinweg; Knechte und Mägde aber halten am meisten auf diese konventionellen Gesetze.« 172

Bemerkenswert bleibt die soziale Seite dieser Beobachtung. Möglicherweise gab neben dem Imperativ der Not auch die andere Autorität der Eltern über die arbeitenden Kinder als diejenige des Bauern über das Gesinde den Ausschlag bei der Durchsetzung der »Zeitökonomie«, die stets auch eine stärkere Anspannung der Arbeitskraft (»Selbstausbeutung«) bedeutete. Die Familienwirtschaft schließt typischerweise die Mitarbeit von Familienfremden aus. Welche Bedeutung hatte demgegenüber die nicht selten zu beobachtende Lohnarbeit für die Familien? Einerseits boten Mitglieder der Familien Lohnarbeit an, in der Form saisonaler Wanderarbeit oder wechselnder Tagelöhnerei, um die Einkommen zu ergänzen. Andererseits verwendeten die Familien auch Lohnarbeit in verschiedenen, meist ergänzenden Funktionen. Die Feinspinner hielten »für eine gewisse Zeit« Dienstboten zur Spinnerei des Garns für ihr Hausleinen. Ähnlich beschäftigten »begüterte Weber« Heuerlinge für »häusliche Arbeiten, als Graben, Holz hauen etc. . . . , damit die Webstühle des Wirts immer im Gang bleiben«. Wohl für Heuerlings-Feinspinner oder Heuerlings-Weber mit mehreren Webstühlen gilt auch die Feststellung von Steuerbeamten, daß Heuerlinge Dienstboten hielten, »weil sie außer Stande sind, die den Colonen contractlich zu stellende Arbeitshilfe persönlich zu leisten«173. In diesen Formen fand Lohnarbeit gewissermaßen subsidiär Eingang in die gewerbliche Familienwirtschaft, als hauswirtschaftliche Entlastung für die gewerbliche Arbeit. Hingegen wurde in der vielfach differenzierten Feinleinenweberei in der Umgebung von Bielefeld Lohnarbeit auch in der Produktion verwendet. Insbesondere die »reichen« Weber beschäftigten »jahraus, jahrein« weibliche und männliche Dienstboten am Webstuhl 174 . In dieser kleinen Gruppe von Webern mit mehreren Webstühlen waren also ständig Lohnarbeiter im Haus, wahrscheinlich aber nicht bei anderen Webern, die ebenfalls Gehilfen beschäftigten. Insgesamt hielten 52% aller selbständigen Weber und auch noch 15% aller Lohnweber familienfremde Gehilfen, 27% bzw. 10% jedoch 79

jeweils nur einen und 25% bzw. 5 % zwei und mehr Gehilfen. Diese überwiegend geringe Zahl der Gehilfen, wie andererseits der U m s t a n d , daß auch ein gutes Drittel der Weber mit zwei Stühlen ohne Gehilfen, aber umgekehrt auch 15% der Weber mit nur einem Stuhl mit Gehilfen produzierten, deuten d a r a u f h i n , daß außer bei der Gruppe der »reichen« Weber die familienfremden Gehilfen oft nur fehlende Familienarbeitskräfte ersetzten 1 7 5 . Das war u m so zwingender, als die Kinder erst ab 14 Jahren am Webstuhl, hingegen schon ab 5 Jahren am Spinnrad arbeiten konnten. Obgleich zwischen der Zahl der betriebenen Webstühle und der Beschäftigung der Gehilfen ein enger Z u s a m m e n h a n g bestand, blieb den meisten Weberhaushalten die regelmäßige Lohnarbeit fremd. Die große Mehrzahl der Arbeitskräfte in der Feinleinenweberei insgesamt waren Familienmitglieder, w e n n m a n berücksichtigt, daß zwei Webstühle f ü n f Menschen »hinlänglich« beschäftigten. Die Gesamtzahl der Arbeitskräfte betrug demnach 1814 bei den selbständigen Webern mit 1204 Webstühlen 3010 Menschen, darunter 605 Gehilfen ( = 20%), bei den Lohnwebern mit 334 Webstühlen 834 Menschen, darunter 58 Gehilfen ( = 7%) 1 7 6 . Wie unter den Bauern nur die Großbauern, so beschäftigte auch unter den Webern nur eine kleine G r u p p e ständig Gehilfen bzw. Gesinde, während dieses sonst gewissermaßen den Familienzyklus ergänzte 1 7 7 . Infolge ihres subsidiären Charakters war Lohnarbeit kein dauerhaft strukturbildender Faktor 1 7 8 . Es entstand keine Klasse von lebenslangen ausschließlichen Lohnarbeitern, denn in der Regel war die Tätigkeit altersspezifisch zugeschnitten. Das bäuerliche Gesinde u n d die Gehilfen der Weber waren meist j u n g e Leute aus den Heuerlings- und Kleinbauern- bzw. Weberfamilien, die durch Lohnarbeit auf eine Aussteuer für die Ehe zu sparen versuchten. Bemerkenswerterweise vermieteten sich die Söhne u n d Töchter der »geringeren« Weber, nachdem sie zu Hause »Meister in der Kunst geworden«, an die »reichen« Weber u n d die Frauen kamen von dort »desto eher« unter die Haube, »je besser sie weben« u n d damit verdienen konnten 1 7 9 . M e h r als ein objektives Daseinselement w a r die Lohnarbeit also ein lebensgeschichtliches Durchgangsstadium und eine bestimmte Phase der Sozialisation. Anders als der freie Lohnarbeiter unterstand das Gesinde einer umfassenden sozialen Kontrolle, die gerade unter proto-industriellen Bedingungen Versuche zur Emanzipation v o m Gesindestatus veranlaßte 1 8 0 .

6. Zusammenfassung und Ausblick: Z u r Lage von Bauern und Unterschichten Die bisherigen A u s f ü h r u n g e n gingen einigen Aspekten der von den Zeitgenossen sehr unterschiedlich beurteilten Zustände in den ländlichen Gesellschaften Minden-Ravensbergs und Paderborns nach. Der von ihnen hervor-

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gehobene Kontrast zwischen »Industriosität« und »Rückständigkeit« wurde dabei vor allem unter dem Blickwinkel der Bedeutung und Wirkung der ländlichen Gewerbe auf die Wirtschafts- und Sozialstruktur untersucht. Die große Rolle der Gewerbe resultierte aus der Knappheit des Nahrungsspielraums der frühneuzeitlichen Agrargesellschaft unter dem Druck der Bevölkerungsvermehrung. Unter diesen Bedingungen waren die eigentlichen Bauern, d. h. die Pferde haltenden Besitzer einer vollen Ackernahrung in der ländlichen Gesellschaft des späten 18. Jahrhunderts zu einer (freilich noch starken) Minderheit geworden. Für die Mehrheit der Landbewohner, die landarmen Kleinbauern und die grundbesitzlosen Heuerlinge waren außeragrarische Tätigkeiten und Einkommen im Handwerk und proto-industriellen Textilgewerbe zu einem wichtigen, teilweise schon grundlegenden Bestandteil ihrer Existenz geworden. Insofern war die ländliche Wirtschaft und Gesellschaft des 18. Jahrhunderts nicht immer rein agrarisch bestimmt, sondern von einer agrarisch-gewerblichen Verflechtung unterschiedlicher Gestalt. In dem für einen lokal-regionalen Absatz produzierenden Handwerk war diese Verflechtung allerdings weniger dicht geknüpft als in der hausindustriellen Spinnerei und Weberei für einen überregionalen Markt. Diese hatten größere Beschäftigungs- und Einkommenseffekte, ermöglichten so eine höhere Bevölkerungsdichte und schufen damit auch einen »inneren Agrarmarkt« für Lebensmittel und Pachtland. Zusammen mit dem großen (saisonalen) Angebot an landwirtschaftlichen Arbeitskräften förderte das intensive proto-industrielle Gewerbe so eine kommerzielle Landwirtschaft, deren Hauptnutznießer die Bauern waren. Wie das ländliche Handwerk blieb zwar auch das proto-industrielle Gewerbe funktional und sozial an die Landwirtschaft zurückgebunden, von ihm gingen aber weit stärkere Impulse zur relativen Entspannung und teilweisen Lösung des Strukturproblems der agrarischen Gesellschaft aus, nämlich dem Druck auf deren Ressourcen angesichts von Landknappheit, Bevölkerungsvermehrung und noch geringen Möglichkeiten agrarischer Überproduktion. Der Vergleich zwischen dem proto-industriell durchsetzten preußischprotestantischen Minden-Ravensberg und dem kleinbäuerlich-handwerklichen, katholischen Paderborner Land zeigt, daß das hausindustrielle Exportgewerbe besonders in der jahrzehntelangen Aufschwungphase in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein nicht nur konjunkturell, sondern auch strukturell wirksamer Einkommensfaktor war, der insbesondere die Lage der bäuerlichen Bevölkerung anhob. Obwohl zweifellos von antikatholischen Vorurteilen und borussophiler Apologie sowie der Aufregung über die »von unten« kommende Auflösung ständischer Normen geprägt, zeichnen die bürgerlichen Beobachter ein insgesamt plausibles, steil abfallendes Wohlstandsgefälle zwischen Minden-Ravensberg und Paderborn. Trotz beträchtlicher grundherrlicher Abgaben- und staatlicher Steuerlasten (die er eher verharmlost), schildert der Ravensberger Landpfarrer Schwager ausführlich Erscheinungsformen des bäuerlichen Wohlstandes, wie er aus dem 81

Paderbornischen nicht bezeugt ist: Die Bauern wollten nicht nur notdürftig, sondern gut leben und liebten »starken Kaffee mit viel Zucker« - den Modekonsum des späten 18. Jahrhunderts - und »viel Fleisch«; ihr Feiertagskleid bestehe aus mehreren Westen und einem Rock, beides aus feinem Tuch und übersät mit so vielen prangenden Knöpfen »als nur Raum haben«; insgeheim trügen sie schon Taschenuhren, »denn noch wagen sie es nicht, das Uhrband zu zeigen«; ähnlich seien die Bauersfrauen sonntags mit kostbaren Kleidern überladen. Ein Bedürfnis nach Repräsentation herausgehobenen Lebens verrät auch die Baukonjunktur und eine erstaunlich reiche, an bürgerlichem Stilwillen orientierte bäuerliche Wohnkultur. Wie im Ravensberger galt auch im Mindener Raum: »Der Landmann zeigt, daß er Geld hat, besonders wenn die Brautleute zur Stadt kommen, die legen einen schönen Taler Gold für Aussteuer an. « 181 Dagegen wurde die Lage der Paderborner Bauern in schwarzen Farben gemalt. Im Gegensatz zu der schon zeitgenössischen Legende, daß unter dem Krummstab gut leben sei, sah Gruner unter dem »finsteren Schatten des Krummstabes . . . Elend, Druck und Finsternis«, hervorgerufen durch die »Willkürlichkeit« der Abgaben und war »erstaunt über den ärmlichen Aufzug der Landleute« 182 . Jener bäuerliche Wohlstand in einer proto-industriellen Region war auch ein Resultat der gewerblichen Produktionsverhältnisse. Über den Anbau und Verkauf von Flachs und die Verpachtung von Wohnung und Land schöpften die Bauern die gewerblichen Einkommen der Spinner und Weber ab. Diese selbst wahrten als familienwirtschaftlichen Produzenten eine meist notdürftige Selbständigkeit zwischen der Abhängigkeit von den Bauern einerseits und den städtischen Händlern und Kaufleuten andererseits. Familienwirtschaft und Kaufsystem bildeten die Grundlage für eine nicht mehr grundherrlich, aber auch noch nicht in ein Lohnarbeitsverhältnis eingebundene landbesitzlose Unterschicht, die sich mit ihrer prekären Selbständigkeit gleichwohl aus der unmittelbaren persönlichen Abhängigkeit des Gesindes emanzipierte und durch Seßhaftigkeit und Familiengründung rudimentär am ständischen Ehrsystem partizipierte. Der von den Merkantilisten gepriesene »innere Reichtum« Minden-Ravensbergs ging jedoch an vielen von ihnen vorbei. Allein für eine kleine Gruppe von Feinwebern mit mehreren Webstühlen in der Umgebung von Bielefeld war ein Einkommen über einem elementaren Subsistenzniveau wahrscheinlich. Das zeigt ihr Hausund Grunderwerb und die angesichts der Vielzahl von Einflußfaktoren auf die Erlöse der Weber vorsichtig ausgedrückte zeitgenössische »Erfahrung, daß fleißige und sparsame Leute mit 2 Stühlen ihren Unterhalt verdienen« 183 . Neben der Zahl der Webstühle bestimmte die Art des Leinens die Webereinkommen. Das Löwendleinen brachte weniger Gewinn als das Feinleinen und ähnlich wurde beim Spinnen das grobe Moltgarn schlechter bezahlt als das Feingarn. Für die zahlenmäßig stärkste Gruppe der protoindustriellen Produzenten, die Grobspinner, war die rastlose Arbeit zugleich die »armseligste Beschäftigung« 184 . Die Hochkonjunktur für Garn und 82

Leinen war für viele nur ein schwaches Polster gegen den in der ProtoIndustrialisierung angelegten Pauperismus. Insofern war die exportorientierte Hausindustrie gerade infolge ihrer agrarischen Einbindung und den daraus folgenden schichtenspezifischen Auswirkungen ein zentraler Faktor der ländlichen Klassengesellschaft.

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III. Strukturen und Tendenzen der Bevölkerungsentwicklung bis 1850 Spätestens in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stieg die Diskussion über die sozialen und politischen Dimensionen der Bevölkerungsentwicklung von den Höhen der philosophischen Reflexion in den Alltag herunter. Es charakterisiert auch den selbstgewissen Optimismus der Aufklärung, wenn der Ravensberger Landpfarrer Schwager die Proto-Industrialisierung als Träger einer nicht destruktiven Bevölkerungsvermehrung begriff. Er berief sich auf seine Umgebung, als er 1773 nicht die Gefahr einer Übervölkerung sah, »besonders da wir durch die Vermittlung des Kaufmanns in den Stand gesetzt werden, jede, auch die schlechteste Gegend zu nutzen und uns fur unsere Produkte andere Notwendigkeiten des Lebens zu verschaffen, die unser Erdstrich uns versagt«; er warnte vielmehr vor einer Entvölkerung durch Krankheiten, schlechte Medizin und Abwanderung, wogegen er im Sinne der Peuplierungspolitik eine bessere Gesundheitsfürsorge empfahl 1 . Schon eine Generation später, als mit den Agrarreformen und Absatzstokkungen im Garn- und Leinenhandel Armut und soziale Spannungen unübersehbar wurden, machte sich ein malthusianischer Pessimismus breit. Seit 1800 fehlt bei kaum einer Beschreibung dieser Phänomene der Hinweis auf die »Übervölkerung« und Heirats- wie Ansiedlungsbeschränkungen wurden zu beliebten, schnell geforderten Maßnahmen dagegen. Die »fleißigen Hände« schienen zu potentiell gefährlichen und kriminellen Händen zu werden. Wie der Landrat des Kr. Halle 1822 schrieb: »Die zunehmende Überfullung des Heuerlingsstandes bei dem so äußerst prekären Prinzip seiner Existenz, ist dasjenige, welches uns notwendig für die Zukunft mit gerechter Furcht erfüllen muß«, da die »körperliche und moralische Verkrüppelung dieser Menschenklasse« unvermeidlich sei2.

Im folgenden kann und soll nur ein kursorischer Blick auf die Bevölkerungsentwicklung geworfen werden, zumal insbesondere für Minden-Ravensberg bald umfassende Untersuchungen zu erwarten sind und andererseits das vorhandene Material recht inhomogen bzw. nicht differenziert genug ist 3 . Wenn damit auch kein eigentlicher Beitrag zur Sozialgeschichte des Bevölkerungswachstums und insbesondere nicht zur kontroversen Diskussion über ein proto-industrielles Muster des Bevölkerungswachstums 4 84

geleistet werden kann, gibt auch ein grober Umriß einen gewissen Einblick in grundlegende Elemente der sozialen Lage der Unterschichten. Die oben zitierte Äußerung über die »Überfullung des Heuerlingsstandes« spiegelt die starke BevölkerungsVermehrung in Minden-Ravensberg nach dem Siebenjährigen Krieg wider. Bei dem hohen Anteil der Unterschichten an der Bevölkerung schon im späten 18. Jahrhundert mußte dies ein weiteres Wachstum dieser sozialen Gruppen bedeuten. In den rund 70 Jahren zwischen 1763 und 1831 hat sich die Bevölkerung knapp verdoppelt, in dem ebenfalls 70 Jahre umfassenden Zeitraum zwischen 1818 und 1885 hat sie hingegen nur um zwei Drittel zugenommen 5 . Die »Bevölkerungsexplosion«, die die ostelbischen Landgebiete in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebten, setzte in Minden-Ravensberg also schon früher ein. Sicherlich war der Boom des Garn- und Leinengewerbes eine Schubkraft für dieses Wachstum, daneben aber auch die in dieser Zeit einsetzenden Gemeinheitsteilungen mit neuen Ansiedlungsmöglichkeiten für Kleinbauern und Heuerlinge. Die etwas stärkere Zunahme in Minden-Ravensberg auch noch zwischen 1818 und 1852 im Vergleich zum Paderborner Land verweist auf die besondere Rolle des proto-industriellen Gewerbes, sollte aber - wenigstens auf der Grundlage der hier verwendeten Zahlen - auch nicht überschätzt werden. In den Paderborner Kreisen, wo neben oder trotz einer niederdrückenden bäuerlichen Verschuldung die Kleinbauernstellen stark zunahmen, das ländliche Textilgewerbe jedoch in dem >unterentwikkeltern Zustand des 18. Jahrhunderts verharrte, wuchs die Bevölkerung zwischen 1818 und 1852 sogar etwas stärker als im Kr. Wiedenbrück, indem viele heimgewerbliche Spinner wohnten. Offenbar trug selbst die ärmlichste Ansiedlung auf einer Ackerparzelle auch ein gewisses Bevölkerungswachstum, freilich ohne stabiles Fundament. Obwohl das Paderborner Land von der Krise des Textilgewerbes infolge seiner Wirtschaftsstruktur nicht so durchschlagend betroffen war wie Minden-Ravensberg/Wiedenbrück, setzte auch hier in den 1840er Jahren eine Stagnation ein, die sogar bis zum Ende des Jahrhunderts anhielt. In Minden-Ravensberg erfolgte hingegen seit den 1870er Jahren ein neuer Aufschwung, der hauptsächlich getragen wurde durch die Industrialisierung in den Kreisen Bielefeld, Herford und Minden; in den Kreisen Lübbecke und Halle, die abseits der industriellen Entwicklung in der zweiten Jahrhunderthälfte lagen, stagnierte die Bevölkerung bis 1905 ebenfalls auf dem Niveau von 1843 6 . Der schon in den 1820er Jahren einsetzenden Krise des proto-industriellen Textilgewerbes folgte erst in den 1840er Jahren mit dem Zusammenbruch der Garnspinnerei ein Abschwung der Bevölkerung, hervorgerufen durch Aus- und Abwanderung, aber auch durch einen Rückgang der Eheschließungen und Geburten. Zwischen 1844 und 1871 emigrierten aus dem Rgbz. Minden 43398 Menschen, die Mehrzahl davon aus Minden-Ravensberg. Bis in die 1860er Jahre zählte diese Region wie die anderen Regionen Nordwestdeutschlands mit einem ehemals dichten hausindustriellen Textilgewerbe zu den von der 85

Auswanderung am stärksten betroffenen Regionen Preußens. In den agrarisch-kleinbäuerlichen Kreisen des Paderborner Landes erfolgte weniger eine Auswanderung, sondern häufiger eine Abwanderung ins Ruhrgebiet. Hier hat der »Export« überschüssiger Arbeitskräfte, der schon im 18. Jahrhundert zu beobachten ist, im 19. Jahrhundert offenbar noch bedeutend zugenommen 7 . Der Auf- und Abschwung in der Bevölkerungsentwicklung bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts folgte also den im 18. Jahrhundert ausgebildeten ökonomischen Strukturen. Darauf verweist auch ihr ländlicher Modus. Wie vor 1800 nahm auch bis 1850 die ländliche Bevölkerung stärker zu als die städtische. Zwischen 1831 und 1846 wuchs die Stadtbevölkerung zwar schneller als die Landbevölkerung, jene nahm um 30%, diese nur um 14% zu; dieses stärkere städtische Wachstum, konzentriert auf die vier größten Städte Minden, Herford, Bielefeld und Paderborn, gründete aber auch in der Zuwanderung aus dem unmittelbaren Umland, die angezogen wurde von einem gewissen gewerblichen Ausbau und der besseren Armenversorgung in den Städten. Da die Zuwanderer sich jedoch vorwiegend in den geteilten städtischen Feldmarken niederließen, war das städtische Bevölkerungswachstum v. a. ein Wachstum ländlicher Unterschichten innerhalb der politischen Stadtgrenzen. Es stand somit mehr unter dem Vorzeichen des ländlichen Pauperismus als unter dem einer Urbanisierung infolge eines städtischen Wirtschaftswachstums wie in der zweiten Jahrhunderthälfte. Die Bielefelder Feldmark ζ. B. besiedelten bis 1850 Kleinstbauern, Handwerker, Spinner und Weber, so daß sich hier zwischen 1794 und 1840 die Bevölkerung vervierfachte, während die Einwohnerzahl der Innenstadt im gleichen Zeitraum nur um 16% zunahm. Trotz der schnelleren Zunahme der Stadtbevölkerung wohnten 1846 von der Gesamtbevölkerung des Rgbz. Minden immer noch 80,5% auf dem Lande und 19,5% in Städten, 11% davon freilich in den kleinen Ackerbürgerstädten 8 . Wie die absolute Entwicklung der Bevölkerung den traditionellen Strukturen folgte, so blieb auch die »Bevölkerungsweise« 9 , die Verknüpfung der generativen Verhaltensweisen (Heirat, Fruchtbarkeit und Sterblichkeit) untereinander und mit dem Sozialsystem, dem überkommenen Muster verhaftet. Insgesamt trieb ein Geburtenüberschuß die Bevölkerungszahl hoch, kaum hingegen ein Wanderungsgewinn oder eine sinkende Sterblichkeit. Die Zuwanderung spielte im Rgbz. Minden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wahrscheinlich eine vernachlässigenswerte Rolle 10 . Die Sterblichkeit sank von rd. 32%o im späten 18. Jahrhundert auf 28%o bis 30%o zwischen 1818 und 1874 nur geringfügig. Der »demographische Übergang«, das Bevölkerungswachstum infolge sinkender Sterblichkeit bei stagnierenden oder steigenden Geburtenzahlen setzte erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ein 11 . Bis zur Abschwungphase in den 1840/60er Jahren zeichnete sich der Rgbz. Minden innerhalb der westfälischen Provinz durch die relativ höchsten Geburten-, aber auch durch die relativ höchsten Sterbeziffern aus. 86

Bei einer gleichzeitig steigenden absoluten Zunahme in einer seßhaften Bevölkerung infolge des relativen Zurückbleibens der Sterbeziffer verweist dies auf das »demographische Grundmuster der Proto-Industrialisierung« 1 2 . Dieses Grundmuster unterscheidet sich von der »vorindustriellen Bevölkerungsweise« 1 3 in bäuerlichen Regionen bzw. Schichten weniger durch das hohe Niveau der Fruchtbarkeit und Sterblichkeit, sondern hauptsächlich durch einen Schwund der sozialen Wachstumskontrollen mittels einer geringen Heiratshäufigkeit und einem hohen Heiratsalter. Diese Kontrollen orientierten sich am Nahrungsspielraum, den die bäuerlichen und handwerklichen »Vollstellen« gewährten und bildeten gleichsam eine »eiserne Kette von Besitz und Erbschaft« 1 4 . Für die Nicht-Erbenden und die Besitzlosen war die Ehelosigkeit vorgesehen. Durch das proto-industrielle Gewerbe konnte jene Kette zerbrochen bzw. der bäuerliche Vollstellen-Imperativ umgangen werden. Den sonst ehelos Bleibenden wurde die Familiengründung ermöglicht, während andrerseits die familienwirtschaftliche Produktionsweise in der Hausindustrie das Bevölkerungswachstum möglicherweise zusätzlich stimulierte. Die Kinderarbeit begünstigte eine hohe Fertilität. Die Proto-Industrialisierung war in ihren sozialökonomischen und d e m o graphischen Strukturen ein demo-ökonomisches System, in das das Bevölkerungswachstum strukturell und bis zu einem gewissen Grade kojytfflkturell unabhängig eingebaut war. Die innerdemographischen Mechanismen, die proto-industrielle Regionen zu einem »demographischen Treibhaus« (R. Schofield 15 ) machten, waren ein niedrigeres Heiratsalter und eine größere Heiratshäufigkeit als in bäuerlichen Regionen bzw. Schichten. Diese Argumentation als eine Begründung für das Bevölkerungswachst u m seit dem 17. Jahrhundert ist vorläufig nicht mehr als eine »material gehaltvolle Modellhypothese« 1 6 , die empirisch noch nicht differenziert genug erforscht ist und schon Einschränkungen und Kritik erfahren hat 1 7 . Als Hypothese sei hier jedoch an ihr festgehalten. Denn einmal erklärt sie die besonders starke oder unterschiedlich starke Z u n a h m e besitzloser U n t e r schichten in Regionen wie den hier untersuchten, in denen diese nicht durch eine Nachfrage nach landwirtschaftlichen Arbeitskräften - wie in Ostelbien - plausibel ist, und zum andern bietet sie ein Modell der sozialen Vermittlung zwischen Bevölkerungs- und Wirtschaftsgeschichte, das über die D e mographie hinaus sozialgeschichtlich bedeutsam ist. Notwendig ist jedoch der die allgemeine Reichweite der Hypothese einschränkende Hinweis, daß in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts das agrarische Bevölkerungswachstum in den ostelbischen Provinzen insgesamt stärker war als das gewerbliche in den westlichen Provinzen Preußens 1 8 . - Die empirische Begründung m u ß hier jedoch bruchstückhaft bleiben und sich auf einen sehr groben regionalen Vergleich einiger Faktoren, das Heiratsverhalten und die Geburtenhäufigkeit, beschränken. Zumindest tendenziell weisen sie positiv in die Richtung der Hypothese. 87

Eine der kritischen Variablen für eine spezifisch proto-industrielle Bevölkerungsweise, die Heiratshäufigkeit, w a r i m R g b z . Minden insgesamt deutlich höher als im benachbarten, stärker vollbäuerlich geprägten Rgbz. Münster 19 und in Minden-Ravensberg höher als im Paderborner Land. Eine Eheschließungsziffer von 9%o, die an die Heiratshäufigkeit in den ostelbischen Provinzen heranreichte, hielt in Minden-Ravensberg wahrscheinlich vom späten 18. Jahrhundert bis in die 1830/40er Jahre hinein an. Danach sank sie um l,5%o, etwa auf das frühere Niveau des Paderborner Landes, während sie hier noch geringer wurde. Dieser Unterschied im Heiratsverhalten zwischen Minden-Ravensberg und Paderborn erhärtet sich, wenn man zusätzlich das Heiratsalter betrachtet. Zumindest der Anteil früher Heiraten von Männern aus der Unterschicht war in den 1840er und 1850er Jahren im Kr. Herford deutlich höher als in den Kreisen Höxter und Warburg. In jenem gewerbedichten Kreis war 1840/42, also gerade an der Schwelle des Niedergangs der in diesem Kreis verbreiteten Garnspinnerei, gut jeder fünfte Bräutigam jünger als 24 Jahre, hatte also noch nicht die gesetzliche Volljährigkeit erreicht; in den beiden letzteren Kreisen war nur knapp jeder zwanzigste Bräutigam aus der Unterschicht jünger als 24 Jahre 20 . Gewichtiger freilich ist der andere Befund. Sowohl im proto-industriell verdichteten Kr. Herford wie in den kleinbäuerlich-handwerklichen Kreisen Warburg und Höxter heiratete die große Mehrheit der Männer aus der Unterschicht erst später, hauptsächlich im Alter zwischen 24 und 30 Jahren, und erst bei den spät Heiratenden gibt es wieder deutliche Unterschiede. Aber selbst im Kr. Herford war Anfang der 1840er Jahre noch jeder dritte älter als 30 Jahre, in den Kreisen Warburg und Höxter dagegen fast jeder zweite. Trotz dieser regionalen Unterschiede, die in die Richtung eines protoindustriellen Heiratsverhaltens im Herforder Kreis weisen, war das Ausmaß früher Heiraten von Unterschichten offenbar doch begrenzt. Das legt auch ein schichtenspezifischer Vergleich des männlichen Heiratsalters nahe. Zwar heirateten die Männer aus der Unterschicht im Kr. Herford häufiger im Alter unter 2 4 Jahren ( 2 1 , 4 % anno 1 8 4 0 - 4 2 ) als die Männer aus der Mittelund Oberschicht ( 1 2 , 9 % ) , während ein schichtenspezifischer Unterschied bei frühen Heiraten in den Kreisen Warburg und Höxter nicht so deutlich ist. Weitere Beispiele lokal unterschiedlicher Höhen des Heiratsalters lassen auf vielfältige, lokal variierende, aber innerhalb der jeweiligen örtlichen Heiratskreise lokal relativ stabile Determinanten des Heiratsalters schließen, die möglicherweise stärker waren als klassenspezifische Determinanten 21 . Die größere Heiratshäufigkeit hat sich auch in einer deutlich höheren Geburtenziffer niedergeschlagen. Die Geburtenziffern zwischen 40%o und 50%o in Minden-Ravensberg erreichten ostelbische Höhen und lagen weit über den Geburtenziffern im Rgbz. Münster (rd. 30%o) und in den Jahren 1 8 2 0 / 3 4 auch deutlich über denjenigen im Paderborner Land ( 3 9 , 5 % o ) . Nicht feststellen läßt sich mit dem vorhandenen Material die eheliche Fruchtbar88

keit, obgleich die Fruchtbarkeitsziffern, bezogen auf alle Frauen im gebärfähigen Alter, vermuten lassen, daß auch diese im Rgbz. Minden höher war als im Rgbz. Münster. Wenn man den für Minden-Ravensberg errechneten Geburtenzahlen (die sich freilich nicht immer auf ein identisches Gebiet innerhalb dieser Region beziehen) wenigstens als Trendzahlen folgt, dann hat besonders in den Kreisen Herford und Bielefeld die Geburtlichkeit in den ersten vier Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts noch zugenommen und lag dort 1834 mit jeweils 51%o um ll,5%o höher als der Durchschnittswert für das Paderborner Land zwischen 1820 und 1834. Auch wenn diese Ziffern auf das »demographische Treibhaus« hinweisen, spricht die Gesamtheit der Befunde vorläufig doch eher dafür, das Ausmaß der Unterschiede im demographischen Verhalten zwischen proto-industriellen und insbesondere kleinbäuerlichen Regionen bzw. Schichten nicht zu übertreiben. Das zu einem bedeutenden Teil gleichartige Heiratsalter zwischen Bauern und Unterschichten spiegelt auf der demographischen Ebene die starke sozialökonomische Einbettung der ländlichen Industrie in die bäuerliche Gesellschaft wider. Wie ein begrenzter Anteil von Frühheiraten annehmen läßt, war eine spezifisch proto-industrielle Bevölkerungsweise wahrscheinlich eher eine .demographische »(Extrem-) Variante unterbäuerlichen Daseins«22. Die Mehrzahl der Heuerlinge hat sich jedoch, wie in anderen Regionen proto-industrieller Verdichtung innerhalb eines bäuerlichen Milieus, in der Praxis ihres Heiratsverhaltens an das bäuerliche Vorbild (und an die bäuerliche soziale Kontrolle!) angelehnt. Die prospektive Sicherheit, die bei bäuerlichen Heiraten der Besitz darstellte, war für die Besitzlosen wahrscheinlich die Akkumulation eines gewissen Heiratsfonds, möglicherweise durch den Gesindedienst, der eine relativ späte Heirat nach sich zog, jedenfalls eine spätere als bei der aus dem sozialen und funktionalen Kontext der bäuerlichen Gesellschaft herausgelösten »reinen« ländlichen Industriebevölkerung 23 . Dieser Befund kontrastiert eigentümlich der auch in Westfalen verbreiteten zeitgenössischen communis opinio über das frühe Heiraten der Heuerlingsbevölkerung. Am deutlichsten, aber wohl unzutreffend im Hinblick auf deren Gesamtheit, hat es Moser ausgedrückt: »Die hiesigen Heuerleute (im Fürstentum Osnabrück, J. M.) heiraten mit 20 Jahren und mithin 10 Jahre früher als die Anerben.« 24 Ebenso scheint der OP Vincke auf die Ausnahmen hereingefallen zu sein, als er 1832 einem Protokoll über die Lage der Heuerlinge in Minden-Ravensberg die Bemerkung hinzufügte, diese würden »oft« schon mit 18 Jahren heiraten und beim Eintritt ins Militär zwei bis drei Kinder haben 25 . Gewöhnlicher als solche noch relativ präzisen Angaben sind jedoch die stereotypen Feststellungen, daß die leichtsinnigen frühen Heiraten, »ohne Vorrat gesammelt zu haben«, die »wahre Ursache« für die Armut der Heuerlinge seien26. Oder wie der Landrat des Kr. Halle 1822 schrieb:

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»Das frühe, oft ganz unüberlegte Heiraten junger Leute, die gar keine sichere Subsistenzmittel haben, vermehrt hier nur zu sehr die Leiden der unteren Klasse. Es wird gewöhnlich erst bereut, wenn es zu spät ist. «27 Es ist durchaus nichts Ungewöhnliches, von auffälligen Erscheinungen auf das Typische zu schließen, auch wenn diese bei näherem Zusehen nicht die Regel darstellen. Das schnelle Vorurteil scheint sich vor allem dann zu bilden, wenn Beobachtungen die Erwartungen und Normen des Beobachters aufstören. Die Empörung und die Klagen der Pfarrer, Beamten und auch Bauern 28 über das »frühe« Heiraten der Heuerlinge spiegeln so weniger eine massenrelevante Verhaltensweise wider, sondern mehr die Verletzung sozialer Normen der Mittel- und Oberschicht durch die besitzlose Unterschicht. So gesehen gründen jene Aussagen in der Überzeugung, daß die Besitzlosen angesichts der Unsicherheit ihrer Existenz nicht nur später, sondern besser überhaupt nicht heiraten sollten, die dann in der klassenspezifischen Mentalität der Ignoranz über die vielfältigen und objektiven Ursachen der Armut vulgär-malthusianisch zugespitzt wurde: Die Armen seien an ihrer Armut selber schuld. Insofern hatte die Rede von den frühen Heiraten auch eine moralische Entlastungsfunktion angesichts des Skandals weit verbreiteter Armut. Demgegenüber verweist die große Heiratshäufigkeit auf die schon betonte Emanzipation der Unterschichten durch eine Familiengründung, während gleichzeitig der Umstand, daß die Heuerlinge häufig ältere Frauen mit eher mehr Ersparnissen als junge Frauen heirateten, eine vorsichtige Sorgsamkeit bei der Eheschließung annehmen läßt, die wohl ein stilles Dementi all jener aufgeregten Kritik darstellt 29 . U m so mehr enthüllen auch die demographischen Faktoren die soziale Krise zwischen 1840 und 1870. Der Bevölkerungsabschwung dieser Jahrzehnte resultierte nicht nur aus der Ab- und Auswanderung, sondern auch aus nicht mehr zustande gekommenen Ehen oder verzögerten Heiraten oder weniger Geburten. Im Rgbz. Minden, bezeichnenderweise aber nicht im Rgbz. Münster, sind alle Indikatoren dafür gesunken. Wahrscheinlich gründete die zurückgehende Heirats- und Geburtenhäufigkeit in einem partiellen Zusammenbruch der demographischen Reproduktion 3 0 und kündigte noch kaum die säkulare Änderung des demographischen Verhaltens an. In den 1870er Jahren näherten sich mit dem industriellen Aufschwung die Heiratsund Geburtenhäufigkeit wieder dem früheren Niveau. In den Jahrzehnten davor jedoch war die wirtschaftliche Krise für Teile der Unterschichten auch eine Krise der traditionellen Lebensform, indem die Eheschließung schwieriger wurde 3 1 . Bemerkenswerterweise ist in dieser Zeit aber kein dramatischer Anstieg der unehelichen Geburten zu verzeichnen. Diese nahmen in Minden-Ravensberg, soweit die bruchstückhaften Zahlen eine solche Tendenz erkennen lassen, zwischen 1790 und 1830 leicht zu und stagnierten danach. Die Unehelichenquote, d. h. der Anteil der unehelichen Geburten an der Ge-

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samtzahl der Geburten, betrug in der Grafschaft Ravensberg in den Jahren 1782/92 2,7%, in Minden-Ravensberg insgesamt in den Jahren 1801/02 schon 4,4% (Ravensberg = 4,0%, Minden = 4,9%) und in den Jahren 1820/34 5,2%. Im Kr. Bielefeld waren 1832 bis 1840 4,8% aller Geburten uneheliche, in den Jahren 1841 bis 1845 nur 4,3%. Im Kirchenkreis Halle lag zwischen 1842 und 1850 die entsprechende Quote bei 5,1% und in MindenRavensberg/Wiedenbrück 1862/64 bei 5,3%. Nur im Paderborner Land ist zwischen 1820/34 und 1862/64 die Unehelichenquote spürbar von 5,7% auf 7,5% gestiegen32. Diese nur leichte Zunahme der Illegitimität schloß freilich nicht aus, daß lokal die unehelichen Schwangerschaften in den Augen zumindest der lokalen Behörden besorgniserregend zunahmen und Beamte wie den Amtmann des Amtes Versmold (Kr. Halle) zu der pädagogisch gemeinten öffentlichen Anprangerung von Betroffenen veranlaßten. Die Anzeigen unehelicher Schwangerschaften haben sich in diesem Amt allerdings drastisch erhöht von 19 zwischen 1837 und 1852 auf 53 in den Jahren 1853 bis 1862, ohne daß aus den Anzeigen die Ursachen dafür ersichtlich wären. Überwiegend waren die Betroffenen junge Bauernmägde und Knechte oder Tagelöhner im Alter von etwa 20 Jahren, von denen in Einzelfällen die Frauen als gewissermaßen sozial stigmatisierte, die selbst schon unehelich geboren oder früh verwaist waren, erkennbar sind. Mindestens sechs Frauen wurden schwanger infolge von Vergewaltigungen 33 . Im Ganzen jedoch war - wie in der Provinz Westfalen insgesamt und auch in anderen nordwestdeutschen Ländern - der Anteil der unehelichen Geburten weit niedriger als ζ. B. in Süddeutschland oder Sachsen, wo die Unehelichenquote in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf 15% und mehr kletterte. Fehlende rechtliche Hindernisse für die Eheschließung, wie sie außerhalb Preußens fast die Regel waren, mögen dafür ebenso verantwortlich gewesen sein wie eine religiös-moralische Selbstkontrolle in der kirchlichen Bindung, die mit der pietistischen Erweckungsbewegung seit dem frühen 19. Jahrhundert noch stärker geworden ist34. Kaum jedoch zeugen die wenigen unehelichen Geburten von einer sexuellen Emanzipation, sondern wohl mehr von den kurzfristigen Stockungskrisen auch in der Aufschwungphase der Proto-Industrie, die Heiratspläne durchkreuzen konnten. Ihre relative Stagnation in den Krisenjahrzehnten verweist auf die hohe Moralität der Armen, die wahrscheinlich gerade in Krisenzeiten darin ihre Reputation und Selbstachtung zu retten suchten 35 . Sie bemühten sich, die »Tugend« dem »Elend« vorzuziehen; insofern kann man von einer malthusianischen Reaktion auf die Krise sprechen. Es liegt auf der Hand, daß die Vermehrung der Bevölkerung viele und einschneidende ökonomische, soziale und mentale Folgen hatte. Die Nachfrage nach Lebensmitteln und das Angebot von Arbeitskräften mußten steigen. Infolge der Ausgangsbedingungen mit einem schon hohen Unterschichtenanteil mußte sich das System der sozialen Schichtung zuungunsten 91

der Besitzenden verändern, die dann in den Besitzlosen eine soziale Last sahen, so daß die Spannungen zwischen den Klassen größer wurden. Darauf wird, an verschiedenen Stellen, noch zurückzukommen sein.

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IV. Agrarreformen und wirtschaftliche Entwicklungen im Agrarsektor 1. Bedeutung und Ziele der liberalen Agrarreformen Auch wenn angesichts der engen agrarisch-gewerblichen Verflechtung eigentlich nur unter einem darstellungstechnischen Gesichtspunkt von einem »Agrarsektor« gesprochen werden kann, ist gleichwohl offensichtlich, daß gerade wegen dieser Verflechtung den agrarischen Entwicklungen im engeren Sinne auch fur die Lage der Unterschichten eine grundlegende Bedeutung zukam. Die Bevölkerungsvermehrung forderte eine Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion heraus und stellte gleichzeitig die Frage nach den Mitteln hierfür und nach der sozialen Integration der besitzlosen Unterschichten. Die bürgerliche Öffentlichkeit und die staatliche Verwaltung im Zeichen eines »aufgeklärten Absolutismus« tasteten in einer breiten öffentlichen und internen Diskussion Spielräume für eine Reform der überkommenen Agrar- und Gewerbeverfassung ab. Den Weg wiesen dabei Schlagworte wie »Freiheit und Eigentum« und »rationelle Landwirtschaft«, die im einzelnen unterschiedlich akzentuiert waren, aber immer um das Problem der wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen für ein ökonomisches Wachstum kreisten1. Bemerkenswerterweise zielte die Diskussion nicht nur auf eine Überwindung von >Rückständigkeit< - der katholischen gegenüber den protestantischen Ländern und von beiden gegenüber dem Vorbild England - sondern auch auf eine weitere Mehrung des »inneren Reichtums« in merkantilistischen Musterregionen wie Minden-Ravensberg. »Hindernisse« dafür sah der Beamte Hoffbauer in der KDK Minden 1787 gerade in der Sozialstruktur, die sich mit der proto-industriellen Entwicklung herausbildete: In der »Menge von Heuerlingen und deren unangenehmem Verhältnis« infolge der durch die Agrarverfassung blockierten Besitzbildung. Er plädierte daher für einige Änderungen des grundherrschaftlichen Systems, für eine Auflösung der Gemeinheiten, die »Veredelung« des Textilgewerbes und insbesondere für eine Emanzipation der Heuerlinge von den Bauern durch ihre Umwandlung in kleine Eigentümer und Erbpächter. Die Reformen sollten unter obrigkeitlicher Lenkung erfolgen 2 . Historisch wirkungsmächtig wurden bis 1850 freilich nicht die spätabsolutistischen »wohlfahrtspolizeilichen« Reformen, sondern die nach dem Zusammenbruch Preußens 1807 in Gang gesetzten wirtschaftsliberalen Reformen, die die Reformziele durch ein marktwirtschaftliches Modell zu erreichen suchten bzw. durch die »natürliche Freiheit«, durch den »mög93

liehst freien Gebrauch der Kräfte der Untertanen aller Klassen«, die nicht mehr behindert werden sollten durch »übel gewählte Polizeigesetze oder schädliche Vermischungen der Eigentumsrechte« 3 . Die Agrarreformen, die »Ablösung« der bäuerlichen Betriebe von der ständisch-herrschaftlichen und bäuerlich-genossenschaftlichen Verfassung, dienten der Herstellung des »freien« Eigentums, waren darüber hinaus aber auch als Schlüssel zum ökonomischen Fortschritt in der Landwirtschaft und zur Eigentumsbildung konzipiert. In dem von Thaer formulierten, 1811 gleichzeitig mit dem Regulierungsedikt erlassenen »Edikt zur Beförderung der Landkultur« wurden die optimistischen Erwartungen des ökonomischen Liberalismus beschrieben: Die Freiheit des Eigentums werde das Land in die Hände des besten Wirts lenken und die jeweils günstigste Allokation der Ressourcen bewirken, Verschuldung verhindern und insbesondere auch den »sogenannten kleinen Leuten . . . Gelegenheit (geben), ein Eigentum zu erwerben« 4 . Dieses Programm, abgezogen vom englischen Vorbild 5 , war ein kühner Entwurf gegen die überlieferte Agrarverfassung, der den Ansätzen einer kapitalistischen Agrarwirtschaft vorauseilte und den Konsens über die Prinzipien einer liberalen Eigentümergesellschaft überschätzte. Neben einer kleinen Gruppe von schon mit Lohnarbeit wirtschaftenden adligen Großbetrieben, bildeten den größeren Teil der adeligen Güter Gutsherrschaften oder Rentengrundherrschaften, deren Betrieb noch ständisch-herrschaftlich organisiert war und auf der unfreien Arbeit der Bauern und/oder ihren Rentenzahlungen beruhte. Die bäuerlichen Wirtschaften auf der anderen Seite waren weithin zu klein, um nach dem Modell der oeconomia rationalis konkurrenzfähig zu sein. Das Versprechen der Ablösung, von den Bauern in der Hoffnung auf eine Befreiung von den Lasten schnell aufgenommen, schien vielen Gutsbesitzern eine Bedrohung ihrer Existenz. Im Gegensatz zu der ursprünglichen Erwartung, daß innerhalb von vier Jahren der Reformprozeß zwischen den Beteiligten freiwillig abgeschlossen sein werde, zog sich dieser nicht nur bis in die zweite Hälfte des Jahrhunderts hin. Mit der »Deklaration« zum Regulierungsedikt im Jahre 1816 gelang es dem Adel auch, die liberalen Reformen im Interesse der herrrschaftlichen gutswirtschaftlichen Arbeitsverfassung entscheidend einzuschränken: Nur alteingesessene Vollbauern konnten bis 1850 in den östlichen Provinzen ablösen. Diese Teilreform sicherte zusammen mit den weiterdauernden Herrschaftsrechten in der Gerichtsbarkeit und Polizei den adeligen Großgrundbesitzern im östlichen Preußen die Vorteile der herrschaftlichen Arbeitsverfassung, während sie gleichzeitig aus den bäuerlichen Entschädigungen an Land und Geld ihre Betriebe erweitern und modernisieren konnten. Bis schließlich die Revolution die ganze Erfüllung des Versprechens von 1807/1811 erzwang, trugen die Konditionen der preußischen Agrarreform bei zur Bildung eines weiterhin politisch privilegierten Großgrundbesitzes, während die Vollbauern einen Teil ihres Landes verloren, aber gleichzeitig der Kleinbesitz stark zunahm 6 . 94

Dies war, aufs äußerste verknappt, Gang und Ergebnis der Agrarreformen im östlichen Preußen bis zur Revolution. Ihre bekannte, »junkerlich« geprägte Geschichte soll hier als ein Ausgangspunkt und als eine Kontrastfolie fur die weniger bekannte, bäuerlich geprägte Geschichte der Reformen in den westlichen Provinzen dienen. Die folgenden Ausführungen können nur einige Schlaglichter auf die noch ungeschriebene Geschichte der Agrarreformen in Westfalen werfen 7 . Nach einer Skizze der Ausgangsbedingungen fur die Reformen soll insbesondere gefragt werden, wie weit die Ziele der Reformen bis 1848 erreicht wurden. Die Darstellung konzentriert sich dabei auf ihre Wirkungen in den unterbäuerlichen Schichten der ländlichen Gesellschaft, ohne die Vollbauern und den Adel aus den Augen zu verlieren, da Chancen und Gewinne dieser Gruppen auch die Lage von jenen beeinflußten.

2. Ausgangsbedingungen für die Agrarreformen a) Rentengrundherrschaft

und bäuerliche

Rechte

Im Unterschied zur ostelbischen Gutsherrschaft mit ihrer charakteristischen Verknüpfung von großer adeliger Eigenwirtschaft, Grundherrschaft, Patrimonialgerichtsbarkeit, Polizeiherrschaft und Patronatsrechten über Schule und Kirche zu einem lokalen ökonomisch-politischen Herrschaftskomplex waren in der westfälischen Rentengrundherrschaft diese Herrschaftsdimensionen teils schon staatlich absorbiert, teils lokal auf eine Vielzahl kleinerer Berechtigungen zerstreut, während die Eigenwirtschaft des Adels nur selten einen größeren Umfang erreichte8. Am stärksten ausgeprägt war dieses Verhältnis in Minden-Ravensberg. Zu einem durchschnittlichen Rittergut gehörten vielleicht 200 dienst- und abgabepflichtige Voll- und Kleinbauern und ein Eigenbesitz von etwa 300 Morgen, der selten in einer geschlossenen Fläche vereinigt und gerade in den »volkreichen Gegenden« meist in Parzellen verpachtet war, da dies infolge der konkurrierenden Nachfrage eine höhere Rente einbrachte als die Bewirtschaftung der Güter 9 . Knapp die Hälfte der ehemals landtagsfähigen Güter zahlte 1824 einen Grundsteuersatz von weniger als 75 Rt und war damit kleiner als mancher großbäuerliche Betrieb. Nur zu wenigen Gütern (sieben von 33) gehörte die Patrimonialgerichtsbarkeit, allerdings ohne strafrechtliche Kompetenz 10 . Ein deutlich größeres Gewicht hatten Eigenwirtschaft und lokale Herrschaft im Paderborner Land. Aus den spätmittelalterlichen Wüstungen waren hier relativ umfangreiche Adelsgüter entstanden, die entweder selbst bewirtschaftet oder als Ganzes verpachtet wurden. Nur etwa ein Drittel der Güter zahlte 1824 weniger als 75 Rt Grundsteuer. U m 1800 gehörten zu 85 95

adeligen Eigenbetrieben, in der Regel zwischen 400 und 600 Morgen groß, ca. 100000 Morgen an Acker-, Wiesen- und Gartenland, d. s. etwa 15% der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche 11 . Verbreiteter als in MindenRavensberg und in der Kompetenz umfangreicher war auch die Patrimonialgerichtsbarkeit des Paderborner Adels. Neben der ständischen Gerichtsbarkeit des Domkapitels besaß er in der Regel die niedere Gerichtsbarkeit und Polizei in den Dörfern, die geschlossen einem adeligen Gut angehörten. Das war in 40% der Dörfer mit insgesamt etwa 15000 Einwohnern oder 20% der Gesamtbevölkerung des Paderborner Landes der Fall. In einigen Gegenden, insbesondere in den Kreisen Büren und Warburg, wo sich große Adels wirtschaften mit der Gerichts- und Polizeigewalt verbanden, gab es somit durchaus eine »adelige Grundherrschaft, die nach ihrer Struktur eher zu den Gutsherrschaften osteuropäischer Prägung zu zählen ist« 12 . Dies waren zugleich die Gebiete mit den heftigsten Konflikten zwischen Grundherren und Bauern, zumal diese »steif und fest« glaubten, daß die adelige Gerichtsbarkeit ein Instrument sei, »um allerlei vermeinte gutsherrliche Rechte . . . durchzusetzen, gutsherrliche Revenuen beizutreiben und Bauern zu züchtigen, die es an dem verlangten servilen Respekt fehlen ließen« 13 . Im 19. Jahrhundert spielte die private Gerichtsbarkeit im ganzen eine noch geringere Rolle. Als 1814, nach der Aufhebung der Patrimonialgerichtsbarkeit durch die französische Verwaltung, diese wieder restituiert wurde, verzichteten die meisten Gerichtsinhaber unter dem Druck, die Grenzen und Ausstattung der Gerichte zu reformieren, auf ihre Gerechtsame. An nichtstaatlicher Gerichtsbarkeit blieb im Paderborner Land nur das Patrimonialgericht Fürstenberg, in Minden-Ravensberg das Gericht Petershagen sowie das standesherrliche Land- und Stadtgericht des Fürsten Bentheim-Tecklenburg in Rheda 14 . Von jenen Teilen im Paderborner Land abgesehen, war im späteren Rgbz. Minden die Lage der Bauern überwiegend durch die Rentengrundherrschaft bestimmt. Die »Gutsherren« 15 bezogen aufgrund ihres Obereigentums über das bäuerlich genutzte Land vorwiegend Abgaben, da die Dienste infolge der geringen Eigenwirtschaften nur zum kleineren Teil ausgenutzt werden konnten und die bäuerlichen Dienstpflichtigen für nicht geleistete Dienste ein Geldäquivalent zu leisten hatten. In beiden Teilen der Region waren die Landesherren die größten Grundherren. In Minden-Ravensberg waren Ende des 18. Jahrhunderts 38% der Höfe dem König pflichtig, im Paderborner Land unterlagen 45% des Bodens der furstbischöflichen Grundherrschaft. Der Rest war jeweils zum größeren Teil im Besitz adeliger Familien, daneben im Besitz von Stiftungen, im Paderborner Land insbesondere auch vom Domkapitel und von Klöstern. In Minden-Ravensberg kauften sich im späten 18. Jahrhundert auch einige Bürgerliche in meist kleinere Grundherrschaften ein 16 . Die bäuerliche Rechtslage war im späten 18. Jahrhundert weithin gleichartig, mit Ausnahme der »Eigenbehörigkeit«, die zeitgenössisch auch als 96

»Leibeigenschaft« bezeichnet wurde. Ihr wichtigstes Institut war der »Sterbfall«, eine Vermögensabgabe beim Tod des Eigenbehörigen, die nach dem Grundsatz: »was der Eigenbehörige erwirbt, erwirbt er dem Herrn«, sich auf die Hälfte des mobilen Nachlaßvermögens erstreckte. Neben außerordentlichen Baufronen war an die Eigenbehörigkeit noch gebunden: der Heiratskonsens, der halbjährige Gesindezwangsdienst der Kinder und die Pflicht der nicht erbenden Kinder zum Freikauf, wenn sie die Stätte verließen. Der Anerbe konnte sich nicht freikaufen 17 . Bei einem im wesentlichen gleichen Inhalt der Eigenbehörigkeit in Minden-Ravensberg und Paderborn war sie in diesen beiden Regionen am Ende des 18. Jahrhunderts doch unterschiedlich weit verbreitet. In der preußischen Provinz waren ihr in dieser Zeit noch 59%, im geistlichen Staat Paderborn nur noch annähernd ein Drittel der Bauern unterworfen 1 8 (vgl. Tabelle 4). Tab. 4: Zahl und Zugehörigkeit der eigenbehörigen Familien in Minden-Ravensberg (1795) und Paderborn (1750/1800) 19 Minden-Ravensberg abs. % E. adeliger u. bürgerl. Herren E. von Klöstern u. Stiften bzw. des Domkapitels E. des Königs bzw. Fürstbischofs E. auswärtiger Herren E. ohne Einordnung Familien ohne Eigenbehörigkeit Summe der Besitzstellen

Paderborn abs. %

2608

20

249

3

955

7

165

2

3843

29

1455

18

346

3

273

3

-

543

7

-

5484

41

5174

66

13236

100

7859

100

In Minden-Ravensberg haben die Gutsherren wie der König an der Eigenbehörigkeit als Einkommensquelle festgehalten, während sich im Paderbornischen im 16./17. Jahrhundert viele Bauern von ihr freimachen konnten. Daraus resultierte ihre schichtenspezifisch unterschiedliche Verteilung. Während sie sich in Paderborn auf alle bäuerlichen Besitzergruppen erstreckte, zu einem nicht unbedeutenden Teil auch auf die Besitzlosen, waren ihr in Minden-Ravensberg vor allem die alteingesessenen größeren und mittleren Bauern unterworfen. Zumindest seit der »Eigentums-Ordnung« von 1741 sollte sie nicht mehr weiter ausgedehnt werden, so daß die N e u siedler des 18. Jahrhunderts vor ihr geschützt waren. Unter dem Eindruck der steigenden Konjunktur der ländlichen Textilindustrie scheint der Adel 97

zwar versucht zu haben, auch die Heuerlinge der Leibeigenschaft zu unterwerfen - wobei ihm auch Rechtsgelehrte ihre Feder liehen-, jedoch ohne nennenswerten Erfolg. Der Gutsherr hatte gewöhnlich nicht einmal Einfluß auf die Ansiedlung der Heuerlinge auf bäuerlichem Boden, selbst wenn sonst jede bäuerliche Disposition über das Land konsenspflichtig war. So blieb das »wilde Eigentum« der Heuerleute, die Verbindung von Eigenbehörigkeit und horizontaler Mobilität nur auf die wenigen Heuerlinge beschränkt, die Nachkommen leibeigener Bauern und noch nicht persönlich freigekauft waren 20 . Im 18. Jahrhundert war die Eigenbehörigkeit gleichsam erstarrt zu einer Sonderabgabe, den Sterbefall, da sich die sonstigen Besitz- und Verfugungsrechte und Pflichten der leibfreien und leibeigenen Bauern weithin angeglichen hatten. Die staatlichen Steuerinteressen und die nach Egalisierung der Rechtsbestände strebenden Juristen schufen faktisch ein einheitliches bäuerliches Erbrecht bzw. ein durch das grundherrliche Obereigentum eingeschränktes bäuerliches Mindereigentum, das »Colonatrecht« genannt wurde. In Minden-Ravensberg war es mit Ausnahme der Eigenbehörigkeit identisch mit dem Meierrecht 21 . Die leibeigenen Bauern hatten wie die leibfreien Meier ein erbliches Besitzrecht unter der Bedingung der unzerteilten Übergabe des Hofes an einen Anerben. Beide Bauerngruppen warenden gleichen Diensten und Abgaben und in wesentlichen Teilen auch den gleichen grundherrlichen Konsensrechten in der Verfugung über Grund und Boden unterworfen. Auch die Meier mußten den Heiratskonsens einholen, Weinkauf (eine Besitzwechselabgabe) zahlen und sich bei jeder Art der Veräußerung und Disposition über den Besitz (Verpfändung, Verschuldung, Abfindung der Kinder und betriebswirtschaftliche Maßnahmen) die Zustimmung des Obereigentümers sichern. In etwas anderer Akzentuierung hatten sich die bäuerlichen Rechte und Pflichten im Paderbornischen angeglichen. Hat in Minden-Ravensberg dieser Prozeß zu einer strengen Fassung des Meierrechts gefuhrt, so hat in Paderborn das dominierende Meierrecht einmal die Eigenbehörigkeit aufgebessert, zum anderen aber das hier besonders unter den Kleinbauern und städtischen Grundbesitzern relativ stark verbreitete Erbzinsrecht verschlechtert. Dieses enthielt gegen Pachtabgaben ein erbliches Besitzrecht ohne jegliche Einschränkungen der Verfügungsgewalt. Im 17. Jahrhundert wurde es, wenn auch nicht vollständig und im ganzen nicht erfolgreich, von meierrechtlichen Prinzipien erfaßt. Im 18. Jahrhundert galt im Zweifelsfalle für jedes bäuerliche Gut die meierrechtliche Qualität 22 . Das Meierrecht hatte als erbliches Besitzrecht zweifellos Vorteile für die bäuerlichen Familien. Gegen seine ideologische Überhöhung und Romantisierung zu einem marktfernen, stabilen und harmonischen gutsherrlichbäuerlichen Verhältnis, wie sie schon im 18. Jahrhundert im Gegenzug gegen die Kritik an der feudalen Herrschaft einsetzte 23 , ist die herrschaftliche Funktion dieses Besitzrechts hervorzuheben. Es war gewissermaßen ein 98

bäuerlicher Fideikommiß zugunsten der Grundherren. Mag das unteilbare Erbe einerseits die Kontinuität und Stabilität der Höfe garantiert haben, so diente es andrerseits der »Prästationsfähigkeit« dieser Höfe, d.h. ihrem Vermögen, die einmal auf das Gut als Ganzes gelegten Lasten auch tragen zu können. Das fiskalische Interesse des Staates und die Interessen der Grundherren an Renten trafen sich dabei. Diesen Interessen wurde Nachdruck verliehen durch die Androhung der »Abmeierung« oder »Abäußerung«, d. h. der Absetzung des bäuerlichen Besitzers, wenn dieser seinen Pflichten nicht nachkam. Dieses Heimfalls- oder Caducitätsrecht trat u. a. bei Mißwirtschaft und einem nicht genehmigten Rückstand in den Abgaben von zwei oder drei Jahren in Kraft. Mochte dieses Recht für die Gutsherren durch das staatliche Verbot des Bauernlegens auch nicht sehr wirksam werden; nach dem Wegfall des Bauernschutzes wurde das Caducitätsrecht jedoch im Paderbornischen zu einer Falle für die verschuldeten Bauern 24 . Daneben wirkte angesichts der Belastung der Betriebe das Gebot der Unteilbarkeit restriktiv, durch das die Kreditwürdigkeit der Bauern, die Möglichkeiten betriebswirtschaftlicher Sanierungen und familienpolitischer Vermögensdispositionen stark eingeengt wurden. Ständig wiederholte Verbote von Teilungen, Verkäufen und Verschuldungsmaßnahmen verdeutlichen, welche Fessel das Meierrecht zumindest für die Bauern darstellte, deren Betrieb und Vermögen nicht groß genug war, um die Abgabenlasten und die Subsistenz der Familie zu tragen. Trotzdem oder wahrscheinlich gerade deshalb war die Verschuldung der Bauern unter allen Besitzklassen im späten 18. Jahrhundert enorm. Bei den geringen ökonomischen Spielräumen war die Verschuldung bei außergewöhnlichen Aufwendungen, bei landwirtschaftlichen Verbesserungen, Unfällen, besonders aber bei der Abfindung der Kinder zwangsläufig. Angesichts der Geldknappheit neigten die Bauern jedoch weithin zu einer geldlosen Form der Schuldentilgung, der Verpfängung von Nutzungsrechten an Grund und Boden. Solche »Elocationen« waren auch ohne Konsens der Gutsherren weit verbreitet 25 .

b) Bäuerliche Pflichten und Belastung

Die Verschuldung verweist auf die bäuerlichen Pflichten, die sich insgesamt zu einer schweren Last summierten. Zu leisten waren unregelmäßige und regelmäßige Abgaben und Dienste. Die unregelmäßigen Abgaben aus der Eigenbehörigkeit wie der Sterbfall, der »Freibrief« für den persönlichen Freikauf von abziehenden Kindern und die Ablösung des Gesindezwangdienstes konnten sich zusammen mit dem Weinkauf zu bedeutenden Beträgen kumulieren, da sie alle in einer relativ engen Zeitspanne des Familienzyklus fällig wurden. Je nach Hofgröße reichte der Sterbfall und Weinkauf von 20 bis 80 Rt, der »Freibrief« kostete mindestens 10 Rt und die Ablösung des Gesindezwangsdienstes 2 bis 5 Rt (5 Rt repräsentierten um 1800 immerhin 99

den Wert einer Kuh). Insgesamt hat man aus den Pflichten der Eigenbehörigkeit eine Mehrbelastung von 20% gegenüber den leibfreien Bauern geschätzt 26 . Den Hofgrößen angepaßt waren natürlich auch die regelmäßigen Abgaben für das Nutzungsrecht an Grund und Boden, die »Pächte« oder »Zinsen« in Minden-Ravensberg und die »Heuer« im Paderborner Land, sowie die Dienste. Gewöhnlich waren die Vollbauern j e nach Besitzgröße maximal zu einem wöchentlichen Spanndienst mit einem, zwei oder vier Pferden und die Kleinbauern zu einem wöchentlichen Handdienst verpflichtet. Wegen der geringen Eigenwirtschaft, die mit einigen Ausnahmen auch mehr mit Gesinde als mit bäuerlichen Diensten betrieben wurde, traten an die Stelle der Dienste jedoch häufig Geldzahlungen. Dabei wurden in Minden-Ravensberg für die Spanndienste jährlich 10 Rt und für die Handdienste die Hälfte verlangt, im Paderbornischen lagen die Beträge etwas niedriger 2 7 . Eine letzte, keineswegs unbedeutende Abgabe war der Zehnt auf den naturalen Rohertrag des sogenannten Zehntlandes; er war im Paderborner Land, wo 80% des bäuerlichen Ackerlandes der Zehntpflicht unterlagen, die »am meisten verhaßte Abgabe«, da hier unmittelbar jemand erntete, »wo er nicht gesät und gearbeitet hatte« 2 8 . Ein Urteil über das relative Gewicht dieser Lasten im Vergleich zu den Erträgen und Einkommen kann sich nur auf näherungs weise Schätzungen stützen, da die Homogenisierung und der Vergleich der vielfaltigen Formen von Abgaben, Leistungen und Einkommen im Zeitverlauf fast unlösbare methodische Probleme aufwerfen 2 9 . Die Rechnungen und Schätzungen von F.-W. Henning für landesherrliche Bauernhöfe in drei Ämtern des Fürstbistums Paderborn über die Gesamtbelastung aus Steuern, Abgaben für Kirche und Schule sowie aus den regelmäßigen grundherrlichen Abgaben (also ohne die unregelmäßigen Abgaben beim Besitzwechsel und ohne den Sterbfall) ergeben etwa folgendes Bild: Die jährliche Gesamtlast lag bei kleinen Betrieben bis zu 2 ha zwischen 7,7 Rt und 12,5 Rt, bei mittleren Höfen von 5 bis 10 ha zwischen 10,5 Rt und 24,7 Rt und bei Höfen mit 15 bis 20 ha zwischen 45,5 Rt und 71,8 Rt. Die Belastung schwankte lokal beträchtlich, immer aber waren die Kleinbauern relativ am stärksten belastet. Umgelegt auf die Belastung pro Hektar ergibt sich bei den Kleinbauern eine Abgabensumme von 8,4 Rt, bei den mittleren von 2,7 Rt und bei den größeren Bauern von 3,3 Rt. Offenbar erstreckte sich bei den Kleinbauern der Zugriff auch auf die außeragrarischen Einkommen. Bezogen auf den landwirtschaftlichen Reinertrag, der das bäuerliche Einkommen bildete, mußten die kleinen Besitzer 21% bis 39%, die mittleren 10% bis 20% und die größeren Besitzer 20% bis 27% des Reinertrages abtreten. Für Minden-Ravensberg stehen vergleichbare Untersuchungen noch aus; einige Beispiele weisen aber daraufhin, daß sie sich im Rahmen der Ergebnisse fur das Paderborner Land bewegen 3 0 . Es muß allerdings hervorgehoben werden, daß in jenen Ziffern der Belastung schon ein bedeutender Anteil staatlicher Steuern enthalten ist und

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damit ein Faktor neben der Grundherrschaft. Sie mögen bei einer Gesamtanalyse des »Feudalsystems« noch zu einer »Feudalquote« geschlagen werden 31 ; in der Perspektive der Agrarreformen sind siejedoch von den grundherrschaftlichen Abgaben zu trennen, da damit die Bedeutung der wirtschaftlichen Entlastung durch die (teilweise oder ganz entschädigungslose) Ablösung vorstellbar wird, während die Steuern bekanntlich blieben. Diese waren in Minden-Ravensberg offenbar höher als im Paderborner Land, wo sich freilich die Landesherrschaft und die breite Grundherrschaft des Fürstbischofs vermischte. Schätzungsweise betrug der Anteil der Steuern im Fürstbistum (Grund- und Kopfsteuer) ein gutes Drittel des gesamten Abgabenvolumens, in Minden-Ravensberg etwa die Hälfte 32 . Hier wurde eine an dem taxierten Ertrag orientierte Grundsteuer (»Kontribution«) neben dem Kavalleriegeld erhoben, die zusammen von 1 Rt Ertrag 13 Groschen oder 54% absorbierten. Unter diesen Bedingungen zu leben, wäre nach den Worten des Geheimen Oberfinanzrats Roden »schlechterdings unmöglich« gewesen, »wenn der Bauer sich nicht sonst durchzuhelfen versuchte«, nämlich durch Spinnen und Weben33. Auffälligerweise wunderten sich die preußischen Beamten bei der Besitznahme der säkularisierten Territorien über die niedrigen Steuern in den ehemals geistlichen Staaten und bezeichnenderweise führte die preußische Neuregelung der Grundsteuer im 19. Jahrhundert im Paderborner Land, nicht aber in Minden-Ravensberg zu großen Problemen 34 . Die Gesamtheit dieser Lasten lag schwer auf den bäuerlichen, insbesondere kleinbäuerlichen Betrieben. Angesichts der knappen Erträge ist die Feststellung wohl nicht übertrieben, daß sie wie eine »jährlich wiederkehrende Mißernte« auf die wirtschaftliche Lage der bäuerlichen Bevölkerung wirkten, zumal die natürlichen Bedingungen der Landwirtschaft noch keine stabilen Erträge gewährten 35 . Regelungen der »Remission« von Abgaben bei Unglücks fällen glichen das nicht immer aus. In Minden-Ravensberg wurden Nachlässe konzediert bei einer Mißernte, wenn diese nur die Hälfte einer normalen Ernte ergeben hatte. In Paderborn gab es ein Moratorium nur dann, wenn der Bauer ohne eigenes Verschulden - eine unsichere und dehnbare Klausel - zahlungsunfähig war 36 . Der Alltag der Grundherrschaft, aber auch des Steuerstaates, war daher gezeichnet von Abgabenrückständen, um die dann in langwierigen Prozessen gefochten wurde. So hat zum Beispiel die Gemeinde Fürstenberg mit dem Grafen von Westphalen, dem größten Grund- bzw. Gutsherren im Paderborner Land, wegen rückständiger Zehnten aus den Jahren 1698-1779 bis zum Reichskammergericht prozessiert. 1796 kam es schließlich zu einem Vergleich, weil der Gemeinde das Geld für diesen Prozeß, neben dem noch ein anderer beim Reichskammergericht anhängig war, nicht mehr reichte und der Graf einen Teil seiner Einkünfte retten wollte 37 . Dem Mangel einerseits und der Abgabenlast andererseits entsprang auch das zähe, mehr oder weniger stille, mit List und Tücke geführte Feilschen der Bauern um Abgaben und Dienste, die schnelle 101

Bereitschaft, um scheinbare Kleinigkeiten zu prozessieren und schließlich nährten jene Umstände immer wieder das vielfach festgestellte, abgrundtiefe Mißtrauen gegen den Gutsherren. »Ein echtes Landeskind«, schrieb Annette von Droste-Hülshoff über die Paderborner, betrachtete diesen als »Erbfeind«, dem es »nur aus List, um der guten Sache willen, schmeichle und übrigens Abbruch tun müsse, wo immer es könne« 38 . Der alltägliche Konflikt in der Grundherrschaft war im Paderborner Land offenbar intensiver als in Minden-Ravensberg, da im Fürstbistum drei U m stände die Abgabenlast noch relativ erschwerten: Die häufigere Kombination von Grundherrschaft und Patrimonialgerichtsbarkeit 39 , der Mangel oder die Schwäche außeragrarischer Einkommen und die überwiegende Naturalform der Abgaben. In Minden-Ravensberg dagegen gestalteten sich diese Faktoren fur die Bauern günstiger. Insbesondere hatte hier die Geldform die Naturalform der Abgaben zurückgedrängt 40 . Unter der Voraussetzung relativ regelmäßiger Geldeinkommen, wie sie das proto-industrielle Gewerbe ermöglichte, stellte sie eine gewisse Erleichterung der Abgabenlast dar. Die Geldleistung wirkte sich weniger unmittelbar auf die agrarischen Einkommen aus, entlastete die Kleinbauern vom Getreidezukauf, steigerte die betriebswirtschaftliche Dispositionsfreiheit und gewährleistete eine gewisse wirtschaftliche Berechenbarkeit. Vor allem die letzten beiden Momente waren die Hauptmotive der staatlichen Politik zur Umwandlung der Natural- in Geldleistungen, um die »Industrie« der bäuerlichen Bevölkerung zu fordern. Am Ende des 18. Jahrhunderts war in Minden-Ravensberg die Geldleistung bei den königlichen Bauern (immerhin knapp 40% aller Besitzer) fast ausschließlich verbreitet, in weniger eindeutigem Maße aber auch bei den Pflichtigen der anderen Grundherren 4 1 . Die »EigentumsOrdnung« von 1741, eine umfassende Regelung der gutsherrlich-bäuerlichen Rechtsverhältnisse, ließ die Geldleistung zu, betonte aber, daß die Bauern sich daraus kein »Jus oder eine Possession erzwingen« dürften. Eben dies scheint weit verbreitet gewesen zu sein, da in der Revision jener Eigentumsordnung im Jahre 1791 - die zwar keine Rechtskraft erlangte, aber deutlich die Bestrebungen der Gutsherren offenlegte - ausführliche Bestimmungen die Legitimität von Naturalforderungen behaupten. Offenbar wollte der Adel an der Agrarkonjunktur partizipieren, entweder durch Naturallieferungen oder durch Forderungen eines marktgängigen Preises dafür, eine Klausel, die in der Eigentumsordnung von 1741 noch nicht enthalten war. Der Beamte Hoffbauer prognostizierte in seinem Kommentar, daß gegen diese Revision der Gewohnheit von Geldzahlungen der Bauer sich in »unendlich vielen Prozessen« wehren werde, »ehe er sich eine solche Anmutung in Güte gefallen läßt« 42 . Im Paderborner Land hingegen wurden gerade die umfänglichste Abgabe, das Heuerkorn, dazu kleinere Abgaben und ein Teil der Dienste i.d.R. natural geleistet. Die Geldleistung nach den marktorientierten »Fruchttaxen« hatte nur eine sekundäre Bedeutung 43 . Wahrscheinlich kalkulierten die 102

Paderborner Gutsherren ähnlich wie der Freiherr v. Stein, der bei den kleinen Bauern immer die Naturallieferung vorzog, da diese nur manchmal Geld, stets aber Getreide hätten 44 . Der Zehnt dagegen war, vermutlich eine Folge des bäuerlichen Widerstands gegen seine naturale Erhebung, häufig verpachtet. Dabei leistete ein Bauer für den Zehnt der ganzen Gemeinde ein Höchstgebot, das nach Absprachen so niedrig wie möglich war. Die dabei u. U. durch Gewalt erzwungene Solidarität im Konflikt mit den Grundherren läßt ein Vorfall im Dorf Ahden (Kr. Büren) erkennen. Hier wurden 1789 ein Bauer und seine Frau von vier anderen Bauern erschlagen, weil er durch ein höheres Gebot die kommunale Solidarität verlassen hatte. In der Gemeinde Wormeln (Kr. Höxter) veranlaßte 1797 eine Veränderung der Zehnterhebung eine große Revolte gegen das zehntberechtigte Kloster Wormeln 45 .

c) Grenzen der Grundherrschaft in der ländlichen

Gesellschaft

Die Grundherrschaft war ein wichtiges Element in der Lage der bäuerlichen Bevölkerung, allerdings nicht mehr das einzige, wie der hohe Steueranteilan der Gesamtbelastung zeigt, und von anderen Gegebenheiten der ländlichen Verhältnisse schon bedeutend modifiziert, wie an der Geldform der Abgabenleistung zu erkennen ist. Schließlich bleibt noch auf eine soziale Grenze der Grundherrschaft hinzuweisen, die diese selbst wiederum nicht unberührt ließ. Im 18. Jahrhundert wuchs einerseits eine (nicht genau quantifizierbare) Gruppe vorwiegend kleinbäuerlicher Besitzer heran, die wie die große Masse der landbesitzlosen Heuerlinge andererseits nicht mehr der Grundherrschaft unterworfen war. Jene Gruppe setzte sich zusammen aus den »Neubauern«, d. h. Neusiedlern auf Markenland, die rechtlich als Freie, Erbzinsleute oder Erbpächter behandelt wurden und insbesondere aus den Erbpächtern selber, die zunächst hauptsächlich auf Domänenland, daneben auch auf adeligem Land und mit der Durchsetzung der Markenteilung auch auf Bauernland angesessen waren 46 . Diese Erbpächter unterlagen nicht mehr einem Herrschaftsverhältnis, sondern einem sachlich bestimmten Pachtvertrag, der noch einige formale Restelemente der Grundherrschaft enthielt, aber ansonsten keine Vorrechte des Verpächters über das Vermögen des Pächters erlaubte. Der Erbpachtvertrag garantierte ein erbliches Besitzrecht und das volle Eigentumsrecht des Pächters. Dessen Leistungen bestanden in einem fixierten, nur vertraglich änderbaren Erbpachtzins und dem »Erbpachtgeld« bei Besitzwechsel, das zuweilen auch analog den grundherrschaftlichen Verhältnissen als »Weinkauf« bezeichnet wurde. Dienste waren nicht mehr zu leisten. Beim Verkauf war allerdings noch der Konsens des Verpächters nötig und bei anhaltend schlechter Wirtschaft konnte dieser den gerichtlichen Verkauf der Erbpachtgerechtigkeit beantragen 47 . Eine in ihrer Wirkung bedeutendere Grenze stellte jedoch die zahlreiche 103

Heuerlingsklasse dar. Mit Ausnahme von Resten einer »wilden« Eigenbehörigkeit waren sie keinerlei besonderen Rechten mehr unterworfen, sondern wurden nach den »gemeinen Rechten, wie die Bürger in den Städten, beurteilt« 4 8 . Sie zahlten an den Landesherrn ein »Heuerlingsgeld« (eine Art Personalsteuer) und unterlagen im übrigen einem durch Gewohnheiten und Machtlagen bestimmten Arbeits- und Pachtverhältnis mit den Bauern, das auch deshalb als drückend empfunden wurde, weil dafür, insbesondere für ihre Dienstverpflichtungen, keine spezifischen Rechtsnormen existierten. Für die Bauern war die Heuerlingsverfassung ein flexibles System neben der relativ starren Grundherrschaft, das sie von dieser bis zu einem gewissen Grade entlastete. Die Heuerlinge leisteten eventuell anfallende grundherrschaftliche Dienste für ihre bäuerlichen »Herren« oder bildeten ein Reservoir von Tagelöhnern, auf das die grundherrlichen Eigenwirtschaften anstelle der bäuerlichen Dienste zurückgreifen konnten 4 9 . Mehr noch: die Verpachtungen besserten nicht nur die Einkommen der Bauern auf, sondern stellten zugleich ein Element flexibler betriebswirtschaftlicher Disposition dar, das die rechtliche Unteilbarkeit der Höfe de facto auflockerte. Innerhalb der grundherrschaftlichen Verfassung bildete sich so ein quasi-feudales Heuerlingssystem heraus, in dem der Bauer sich ebenso als »Herr« über den Heuerling fühlte wie der Grundherr über ihn. Oder nach einem berühmten Bild gesprochen: der auf den Schultern der Heuerlinge sitzende Bauer fühlte den Druck des Grundherren nicht mehr so stark, weil er ihn teilweise weiterleiten konnte. Allerdings war dies eine ausgesprochen schichtenspezifische Entlastung von der Grundherrschaft, nämlich eine der Vollbauern, die genügend Land für die Verpachtung hatten. Sie verweist aber auch auf die Relativierung der Grundherrschaft durch die mit der Proto-Industrialisierung einhergehende Veränderung der ländlichen Sozialstruktur insgesamt. Wo diese fehlte oder weniger ausgeprägt war, wie im Paderborner Land, lastete die Grundherrschaft schwer insbesondere auf den kleinen Bauern. Die Agrarreformen waren daher zwei unterschiedlich leicht lösbaren, tendenziell gegensätzlichen Problemen konfrontiert: der vollständigen Entfesselung einer schon kommerzialisierten vollbäuerlichen Landwirtschaft und der Entlastung einer kümmerlichen kleinbäuerlichen Subsistenzwirtschaft.

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3. Reformen und Reformgesetzgebung bis 1829 a) Begrenzte

Reformen in Minden-Ravensberg

bis 1806

Im Unterschied zum Paderborner Land, wo sich im späten 18. Jahrhundert kein Finger zu reformerischen Eingriffen in die Grundherrschaft rührte, drängte in Minden-Ravensberg eine Gruppe von Beamten in der KDK Minden, unter ihnen auch der Freiherr v. Stein, auf eine Reform der »Rustikalverhältnisse«. »Das Wesentliche der Verbesserungen des bürgerlichen Zustands des Bauern«, schrieb v. Stein 1801, »besteht in Überweisung des ungeteilten Eigentums seines Landes, der Aufhebung der Dienste und solcher Abgaben, wodurch sein Gewerbefleiß unterdrückt. . . wird. « so Diesem Ziel folgte die 1769 eingeleitete Teilung der Gemeinheiten, die Fixierung der unregelmäßigen zu regelmäßigen Abgaben, die für den Weinkauf und Sterbfall bei den königlichen Bauern schon seit 1722 bestand, die Umwandlung sämtlicher Gefalle in Geldzahlungen und schließlich die Aufhebung der Eigenbehörigkeit gegen Entschädigung. Für die königlichen Bauern bestand seit 1797 im Rahmen einer »freiwilligen Verabredung« die Möglichkeit der vollständigen Ablösung 51 . Wieviel davon bis 1806 erreicht wurde, läßt sich noch nicht genau sagen. Relativ weit fortgeschritten waren zu diesem Zeitpunkt die Gemeinheitsteilungen in der Grafschaft Ravensberg und die Umwandlung der Domänenvorwerksbauern in Erbpächter; die Ablösung der anderen königlichen Bauern stockte jedoch, da eine gesetzliche Grundlage fehlte. Gar nichts konnte infolge des adeligen Widerstandes gesetzlich bewegt werden für die Bauern der »privaten« Gutsherren. Nur im Rahmen freiwilliger Vereinbarung kam es manchmal zur Ablösung der Eigenbehörigkeit, wahrscheinlich besonders von wohlhabenden Bauern. Die Heuerlinge schließlich gingen bei allen Reformüberlegungen und -projekten fast leer aus52. Zwischen den adeligen Grundherren und den Bauern in Minden-Ravensberg kam es im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts wahrscheinlich zu einem verschärften Verteilungskampf um die aus den Verpachtungen und steigenden Getreidepreisen anwachsenden bäuerlichen Einkommen. Er ist ablesbar an den Auseinandersetzungen zwischen den Beamten und Bauern einerseits und den Ständen andererseits um die Revision der Eigentumsordnung von 1741. Diese Revision sollte den obengenannten Reformzielen dienen, die Adeligen versuchten aber offenbar, sie zu einem Mittel der reaction seigneuriale zu machen. Gegen die oft geübte Praxis und das staatliche Streben nach einer allgemeinen Fixierung der Dienste und Abgaben pochten sie überall auf ihre herrschaftlichen Rechte zu einer autonomen Festsetzung mit der durchscheinenden Absicht, die Abgaben zu erhöhen. Angesichts der Kritik an diesem Verhalten waren die Mindener Gutsbesitzer zu Reformen nur unter maßlosen Bedingungen bereit, die das Ressentiment der Machtlosigkeit mindestens ebenso offenlegen wie die latenten Ansprüche. Als Kom105

pensation fur eine Fixierung des Weinkaufs und Sterbfalls forderten sie die Hälfte des Reinertrags der Höfe und die Gerichtsbarkeit53. Dies wurde ebenso wenig Gesetz wie die Revision der Eigentumsordnung. Die sich ergebnislos hinziehenden Auseinandersetzungen mobilisierten aber die Vollbauern. Mit Unterstützung von Beamten verlangten sie 1792, 1797, 1802 und 1803 in Immediateingaben und Deputationen zum König eine Fixierung der ungewissen Gefalle. Sie reihten sich damit ein in die selbstbewußten Bewegungen bäuerlicher Oberschichten in anderen Teilen Nordwestdeutschlands, die eine zukunftsgerichtete Reform der Agrarverfassung forderten, im Unterschied zu den eher defensiv abwehrenden kleinen Revolten der Paderborner Kleinbauern54.

b) Agrarreformen

und Konflikte

im Königreich

Westphalen

Gegenüber den zäh sich hinziehenden und letztlich gescheiterten preußischen Reformprojekten vor 1806 ergriffen die französischen Eroberer schnell die ersten notwendigen gesetzlichen Maßnahmen zur Befreiung der Bauern. Nachdem diese schon in der Konstitution des Königreichs Westphalen 55 vom 15. November 1807 verkündet worden war, folgte mit dem Dekret vom 23. Januar 1808 die »Aufhebung« der Leibeigenschaft, die infolge des sehr verbreiteten Streits um die Legitimität der Dienste durch das Dekret vom 27. Juli 1809 über den Charakter der Dienste präzisiert wurde. Eine Ablösungsordnung vom 18. August 1809 sowie ein Dekret vom 7. September 1810, welches die Zehntablösung genauer bestimmte, schlossen die wichtigsten gesetzlichen Maßnahmen ab56. In den grundlegenden Bestimmungen folgten sie sowohl den anfänglichen Gesetzen der Französischen Revolution 57 wie auch den gleichzeitigen preußischen Reformgesetzen: die aus der Leibeigenschaft und damit nicht mehr legitimierbaren Momente der Herrschaft über die Person herrührenden Pflichten wurden entschädigungslos aufgehoben, während alle anderen Verpflichtungen gegenüber den Gutsherren als Ausfluß eines Nutzungsrechts an Grund und Boden, der als Eigentum des Grundherrn begriffen wurde, als dessen »wohlerworbene Rechte« losgekauft oder abgelöst werden sollten. Bis zu ihrer Ablösung mußten diese Dienste und Abgaben weiter geleistet werden. Was hatten die Bauern damit gewonnen? Die Aufhebung der Leibeigenschaft befreite sie von den Sterbfallszahlungen, den »bloß persönlichen Diensten« und den »unbestimmten Diensten«, dem Heiratskonsens, dem Gesindezwang und der Pflicht zum Freikauf aus der Eigenbehörigkeit. Eine durch das Obereigentum begründete, persönlich folgenreiche Abhängigkeit blieb freilich erhalten. Die Bauern waren weiterhin dem Konsens des Gutsherrn bei wirtschaftlichen Dispositionen unterworfen 58 . Den unmittelbaren Gewinn aus der entschädigungslosen Aufhebung der Leibeigenschaft kann man aus der heftigen Reaktion des Adels ablesen. Der Minden-Ravensber106

ger Adel klagte in einer Vorstellung bei König Jerome, daß er durch die aufgehobenen Rechte jährlich 40000 Taler verliere59. Die Kosten der Ablösung dagegen waren ähnlich hoch wie später unter den preußischen Bedingungen. Die Geldrenten mußten mit dem zwanzigfachen, die Naturalrenten, Dienste und Zehnten mit dem funfundzwanzigfachen Betrag abgelöst werden, wobei fur die Bestimmung des Wertes der Naturalien ein dreißigjähriger Durchschnittspreis zugrunde gelegt werden sollte, der infolge der hohen Getreidepreise im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts nicht niedrig ausfallen konnte. Dennoch ergriff eine nicht unbedeutende Zahl von Bauern ziemlich rasch die neuen Möglichkeiten. Die Gesetze erfüllten die nicht selten anzutreffenden Hoffnungen der ländlichen Bevölkerung auf die neuen Machthaber. Zuweilen wurden sie, wie ζ. B. in Paderborn/Corvey, als Befreier empfangen, bei deren Einmarsch die preußenfeindliche Haltung der Bevölkerung sich in demonstrativen Gewalttätigkeiten und Drohgesten gegen die Beamten entlud 60 . Insbesondere Napoleon erschien als charismatischer Held, dessen Wille ein Garant positiver Veränderung sein mußte, wie die Bauerndelegationen zu ihm zeigen61. Diese Delgationen waren für die Bauern das letzte und in ihrem Glauben wohl auch unfehlbare Mittel, eine Entscheidung über den in den vielen Prozessen am meisten umstrittenen Punkt der Ablösung während der französischen Herrschaft herbeizuführen, nämlich über die Frage, ob die Dienste entschädigungslos abzuschaffen oder gegen Geld abzulösen seien. Die Gesetzgebung blieb in dieser Frage trotz nachgeschobener Präzisierungen unklar. Die Bauern beriefen sich immer auf das ursprüngliche Dekret und seine Formulierung und sahen in der das Gesetz konservativ auslegenden Rechtsprechung »sophistische Versuche zur Umgehung des Gesetzes«, während sie - im »schlichten Menschenverstand« - glaubten, daß mit der Leibeigenschaft die Dienstpflicht »überhaupt in ihrem ganzen Umfange sowohl nach Hand- und Spanndienste, ohne Unterschied abgeschafft sey«62. Denn selbst angesichts der eingrenzenden Bestimmungen konnten die Bauern willkürliche Momente in der Forderung der Dienste aus ihrer Erfahrung berichten. Wie die Gemeinde Altenbergen (Kr. Höxter), die in einer Eingabe vom 9. März 1810 an den Justizminister Simeon zwar konzedierte, daß die Zahl der Diensttage bestimmt sei, aber weder die Art der zu leistenden Arbeit noch die Tage selbst63. Alle Pflichtigen dieser Gemeinde verweigerten ihrem Gutsherrn v. Haxthausen die Dienste, den auslegungsfähigen Gesetzen und Gerichtsurteilen zum Trotz, die sie zur Leistung der Dienste verpflichteten. Die Gemeinde Altenbergen war kein Einzelfall. 1811 bestritten mehrere Bauern des Gutes Hüffe (Kr. Lübbecke) die Legitimität der Dienste und verweigerten sie, so daß es zu Prozessen kam. Ähnliches passierte vielerorts: »Unzählige Prozesse und Verwicklungen« waren nach Haxthausen die Folge der Aufhebung der Leibeigenschaft im Königreich Westphalen64. 107

Die Heftigkeit dieser Konflikte mag angesichts der geringen Bedeutung der Dienste überraschen. Die Bauern haben ihre Legimität freilich bestritten im Hinblick auf die Ablösungsentschädigung, die nicht unerheblich war, wenn man sich den funfundzwanzigfachen Betrag eines jährlichen Dienstgeldes von 10 Rt vergegenwärtigt. Darüber hinaus kollidierte in diesem Streit wahrscheinlich ein bäuerliches Verständnis der Agrarreformen als Entlastung von der schweren Abgabenbürde, die nach 1807 infolge von Steuererhöhungen noch drückender wurde, mit der straffen Reorganisation der Grundherrschaft durch den Adel, die dieser unter dem Druck von Einkommensverlusten und einer Krise des Kreditmarktes in Gang setzte 65 . Insofern hatte jener Konflikt grundsätzliche Dimensionen und griff auf den gesamten Komplex der Ablösung über. Die mögliche Intensität der Auseinandersetzungen sei am Beispiel der Gemeinde Altenbergen illustriert 66 . Diese Gemeinde des Gutsherrn Werner von Haxthausen beantragte im Jahre 1809 die Ablösung sämtlicher Lasten und stellte daraufhin ihre Leistungen ein. In mehrfachen Eingaben an den französischen Justizminister Simeon in Kassel - insgesamt sind 11 erhalten, die erste v o m 18. März 1808, die letzte v o m 4. Juni 1813 - betonten die Supplikanten ihre Armut, die Unfruchtbarkeit ihrer Ländereien, was sie sich sogar gerichtlich bestätigen ließen, die Überlastung mit gutsherrlichen Abgaben und Steuern und forderten zunächst einen Steuernachlaß und eine Kommission zur Regelung der Ablösung. Es kam jedoch, auch infolge der Indolenz der unteren Behörden, nicht einmal zur Einsetzung einer solchen Kommission 6 7 . Haxthausen, offenbar ohne Interesse an einer Ablösung, verklagte vielmehr die Gemeinde zur Leistung ihrer Pflichten, bekam damit recht und ließ zweimal die Rückstände durch Militär und Gendarmen pfänden. Die Anrufung des Kasseler Justizministers konnte dies jeweils nur hinauszögern, aber nicht verhindern, daß schließlich Vieh und Möbel der Pflichtigen gepfändet wurden. 1813 schwebte über einigen Gemeindemitgliedern die drohende Versteigerung ihres Besitzes. Diese Eskalation führte zu einer Radikalisierung der Gemeinde, die in ihrer letzten Eingabe nicht nur den schärfsten Ton anschlug, sondern über die geltenden Gesetze hinaus auch die Legitimität der Abgaben, nicht nur der Dienste, anzweifelte: ». . . haben wir schon lange immerfort gegen das dauernde vorgebliche Recht dieser precären Grundabgaben protestieret und dahin getrachtet, daß nach dem Art. 767 der Proceß-Ordnung, der angebliche Grund-Oberherr seine Lehenurkunden, nebst denen von unseren Vorfahren gegebenen Anerkennungsurkunden oder Reversbriefe vor Gericht vorlegen müßte - indem wir dessen Erhebe-Register lediglich vor private Familien-Papiere blos erkennen, auch weil der H: von Haxthausen nicht ein Jahr hindurch in ruhigem Besitze ohne Widerspruch geblieben. Unsere gerichtlichen Geständnisse beruhen also blos auf Irrthum und Unwissenheit der Gesetze . . .«

Denkwürdig bleibt, was auch die politische Dimension dieser Ablösungskonflikte enthüllt, daß die Supplikanten die fremde Macht noch kurz vor

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deren Zusammenbruch um Schutz und Beistand baten »als getreue königliche Unterthanen«, wie sie ausdrücklich hervorhoben. Die Subhastation ging schließlich im Zusammenbruch der Verwaltung unter, ohne freilich den Leidensweg der Bauern Altenbergens schon zu beenden 68 . Neben der Verschleppung und Verweigerung der Ablösung, wie es auch der Baron von Oeynhausen gegenüber der Gemeinde Sommersell (Kr. Höxter) tat 69 , wurde diese durch die Passivität des Adels torpediert. Anders als die Bauern kalkulierte er, daß die napoleonische Herrschaft nicht lange dauern würde. Gutsherren im Mindeschen klagten daher nicht gegen die Abgaben verweigernden Bauern, weil sie Kosten und Prozesse scheuten, besonders aber, weil sie es »vorzogen, bessere Zeiten zu erwarten« 70 . Nach 1813 klagten sie dann die Rückstände ein. Auch diese Beispiele bestätigen also das bisher immer wieder festgestellte »klägliche Ergebnis« der Bauernbefreiung in den Jahren der französischen Herrschaft 71 . Innere Schwierigkeiten der Anwendung der Gesetze auf die historisch überlieferten Rechtsbestände, die Indolenz der unteren Behörden, besonders auch das Fehlen einer Institution wie der späteren preußischen Generalkommission, welche die Gerichte von den komplizierten Auseinandersetzungen hätte entlasten können, nicht zuletzt aber die Geldnot der meisten Bauern, die Steuererhöhungen und die ökonomischen Rückschläge durch die Kontinentalsperre und Kriege würden es fast als ein Wunder erscheinen lassen, wenn es in dieser kurzen Zeit anders gewesen wäre. Darüber hinaus war die Reformgesetzgebung selbst durch Machtrücksichten auf den Adel blockiert, die es unmöglich machten, wirksame Verbesserungen in den Konditionen der Ablösung zu schaffen - ein Widerspruch, den auch ein entschiedener Gegner der Gesetzgebung der französischen Herrschaft wie August von Haxthausen konzedierte: diese Gesetze waren »eine Anfeindung aller aristocratischen Prinzipien, ohne durchgreifenden Krieg gegen dieselben, wie in Frankreich zur Revolutionszeit« 72 . Dennoch waren sie nicht wirkungslos. Das Diktum, die Gutsherren hätten »verloren, allein die Bauern nicht gewonnen« 73 , kann zwar in einem unmittelbaren, aber nicht in einem weiteren historischen Sinne gelten. Mit der Aufhebung der Leibeigenschaft waren die Verhältnisse »aus ihrer ruhigen Bahn geworfen« 7 4 und sie nach 1813 wieder darauf zurückzufuhren war unmöglich angesichts der östlichen Reformen. Die Grundzüge der französisch-westfälischen Gesetzgebung blieben daher erhalten, insbesondere die entschädigungslose Aufhebung der Eigenbehörigkeit. Das war wegen der rechtlich anders gelagerten Erbuntertänigkeit im Osten auch nach dem OktoberEdikt keine Selbstverständlichkeit, zumal nach der preußischen Reformtradition vor 1806 an eine Ablösung des Sterbfalls gedacht war 7 5 . Darüber hinaus blieben bis zum preußischen Gesetz vom 25. September 1820 die französischen Gesetze noch in Kraft und waren die Grundlage für eine Reihe von Ablösungen, besonders im Ravensbergischen 76 . Die fortdauernde Geltung implizierte aber auch, daß die Auseinanderset109

Zungen zwischen Bauern und Gutsherren weitergingen, sogar noch mit erhöhter Intensität. Die Bauern sahen sich in ihrer bisherigen Haltung durch das Oktober-Edikt bestätigt, dessen Gültigkeit auch fur die wiedergewonnenen westlichen Provinzen für sie unzweifelhaft war, und dessen Anwendung sie deshalb in vielen Eingaben energisch forderten. So machte der Colon Poliert aus Oldendorf (Kr. Lübbecke) in einer Eingabe vom 17. Februar 1814 die Regierungskommission Minden auf das Oktober-Edikt »aufmerksam«, demzufolge es »nur freie Leute« gäbe und durch das die Exekutionen rückständiger Abgaben - »diese gewaltsamen Erpressungen« - aufgehoben seien. Sicherlich ein starkes Stück für die Behörde und zugleich ein Hinweis darauf, daß die Bauern wohl informiert waren, war das ausdrückliche Zitat der Schlußformel des Oktober-Edikts, daß nach dieser »Allerhöchsten Willensmeinung . . . sich ein jeder, den es angeht, in Sonderheit aber unsere Landeskollegia und die übrigen Behörden genau und pflichtgemäß zu achten« hätten; Poliert bekräftigte dies noch durch eine Imitation der Unterschrift des Königs im verschnörkelten Kanzleistil des 18. Jahrhunderts 77 . Die Bescheide der Verwaltung an die Supplikanten, daß sich an ihren Pflichten nichts geändert habe 78 , hat diese nicht davon abgehalten, an dem Versprechen, daß sie nun freie Leute seien, festzuhalten und es in ihrem Interesse auszulegen. Im Mindenschen verweigerten mehrere Gemeinden weiterhin die naturale Lieferung des Zehnten, die unter der französischen Herrschaft eingestellt worden war, weil seine Umwandlung in Geld und seine Ablösung gesetzlich fixiert werden sollte. Letzteres wurde nun neuerlich gefordert - »weil wir ihn (den Zehnt) selbst notwendig haben, wegen dem schweren Druck des Krieges und (um) unsere Saat wieder zu bestellen« - und mit dem »größten Widerstand« gegen die naturale Ziehung des Zehnten gedroht. Gendarmen mußten daraufhin den Zehnten erheben 79 . Auch die Gemeinde Altenbergen setzte ihre Verweigerungen fort, denen sich nach 1813 noch weitere Gemeinden in der nächsten Umgebung anschlossen 80 . Diese Ausweitung der Verweigerungen war zunächst eine Reaktion gegen das Verhalten der Gutsherren, die nach 1813, als für sie wieder die »besseren Zeiten« gekommen schienen, die Rückstände, manchmal mit einer Erhöhung der Forderungen, einklagten 81 , dann aber, und in noch stärkerem Maße, eine Reaktion auf die К О vom 15. Mai 1815. Diese Order, Ersatz für die ausstehende preußische Gesetzgebung, sollte die Situation durch eine Suspendierung der Prozesse bis zu einer endgültigen Gesetzgebung beruhigen; ihre Formulierung stiftete allerdings zusätzliche Unruhe: »Daß in den mit der Monarchie wieder vereinigten Provinzen die gutsherrlichen und bäuerlichen Verhältnisse in dem Zustande, worin sie sich derzeit befanden, provisorisch verbleiben, und alle Prozesse, welche in den neuen und wiedergewonnenen alten Provinzen über die Auslegung und Anwendung der vormaligen französischen Gesetze entstanden seien mit Beibehaltung des aktuellen Besitzstandes suspendiert bleiben sollten. « 8 2

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Die Bauern »mißverstanden« es so, daß die Zahlung der Gefalle suspendiert sei, und im übrigen war es offenbar eine Einladung zum Prozessieren. Denn diejenigen, die prozessiert hatten, schienen in einer günstigeren Lage als diejenigen, die das nicht getan hatten. Die Entscheidung der КО, schrieb Wigand, Assessor beim Land- und Stadtgericht Höxter, »war deshalb von so üblen Folgen, weil die Bauern auch das Klare und Unstreitbare streitig gemacht hatten und die Gerichte sehr geneigt waren, möglichst alles in die Kategorie der zu sistierenden Prozesse zu bringen« 83 . Wahrscheinlich auch angeregt durch liberale Richter 84 , griff die »Prozeßwut« der Bauern so noch weiter um sich. »Viele Gutsherren«, klagte August von Haxthausen, die 1807 bis 1813 »in ungestörter Hebung ihrer Gefalle geblieben waren«, seien nun um deren Besitz gekommen 85 . Sein Vater Werner von Haxthausen, Gutsbesitzer in Bökendorf, war dadurch in »äußerste Not« geraten, wie er 1820 in einer Eingabe an Hardenberg schilderte, und bat um eine Übernahme der gutsherrlichen Berechtigungen durch den Staat oder eine Kommission zur Ablösung seiner Bauern 86 . Ruinöser noch waren diese Konflikte freilich fur die Bauern. Ihre Hoffnungen erfüllten sich nämlich nicht. Als nach dem Fehlschlag des Gesetzes vom 25. September 1820 endlich am 21. April 1825 das Gesetz über die gutsherrlich-bäuerlichen Verhältnisse und am 13. Juli 1829 die Ablösungsordnung erschien, hatte sich der Adel weitgehend durchgesetzt 87 . In der Zwischenzeit aber waren die Rückstände aus den verweigerten Leistungen enorm angewachsen, und kein Pardon ermäßigte sie; im vollen Umfang waren sie nachzuzahlen88. Nicht zuletzt hat dies zu der tiefen Verschuldung der bäuerlichen Güter gefuhrt, die neben anderen Momenten für die Paderborner Kreise schon vor 1850 eine entscheidende Revision der preußischen Ablösungsgesetzgebung erzwingen sollte.

c) Die Ablösungsgesetze

von 1825 und 1829

Das Gesetz von 182589 hat zwar die mit der Eigenbehörigkeit verbundenen Pflichten entschädigungslos aufgehoben (§ 4f.), darunter auch das Schutzgeld der Heuerlinge (§ 11), und in der gleichen Weise fielen auch die Dienste aus der Gerichtsbarkeit, die Jagdfronen (§ 12) sowie die Zwangs- und Bannrechte der Gutsherren weg (§ 60); im weiteren aber brachte es keine Erleichterungen für die Bauern. Alle sonstigen Leistungen mußten abgelöst werden, und für die Qualifizierung der ablösungspflichtigen »gemessenen« Dienste galten - im Unterschied zum französisch-westfälischen Gesetz viele und weiche Kriterien (§ 6), die alle Dienste darunter subsumieren ließen, zumal im Zweifelsfall die Bauern den Nachweis zu fuhren hatten, daß die Leistungen als Folge der Leibeigenschaft zu betrachten seien (§ 46)90. Das Obereigentum mit der entsprechenden Konsenspflicht bei wirtschaftlichen Dispositionen blieb bis zur Ablösung erhalten (§§ 17, 22, 24, 40), was 111

den fur die Ablösung nötigen Kredit nicht gerade begünstigte, zumal das Heimfallsrecht des Gutsherrn bzw. sein Recht fortbestand, die Subhastation zu beantragen, wenn der Bauer »unvermögend« war, die Lasten zu entrichten (§§ 32, 37). Die Paderborner Gutsherren wußten das zu nutzen. Die Konditionen der Ablösung nach dem Gesetz von 1829 9 1 waren in den Grundzügen die gleichen wie in der französisch-westfälischen Ablösungsordnung, in einem Punkt noch erschwert. Sämtliche Lasten mußten zum fünfundzwanzigfachenjahreswert abgelöst werden, sofern die Kapitalabfindung gewählt wurde (§ 32), wie es dann in der Regel auch geschah. Bei der Ermittlung der »Normalpreise«, d.h. der Preise, aus denen der Wert der abzulösenden Naturalien gebildet wurde, verzichteten die »Berechtigten« nicht auf die hohen Preise am Anfang des 19. Jahrhunderts. Die N o r m a l preise sollten aus zwei vierzehnjährigen Durchschnitten gebildet werden: einem ersten aus den Jahren vor der Bekanntmachung des Gesetzes, also von 1811 bis 1825, und einem zweiten aus den vierzehn Jahren vor der Provokation, d. h. des Antrags auf die Ablösung (§ 49). Nach dieser Konstruktion, eine Modifikation des dreißigjährigen Durchschnitts in der westfälischen Ablösungsordnung, die zu hohen Normalpreisen fuhren mußte, fürchtete die Generalkommission zu Recht ein Stocken der Ablösung für die nächsten zehn Jahre 9 2 . Tatsächlich brachten erst die Jahre nach 1835 eine für die Bauern günstige Version dieser Korrelation, indem in den einen Durchschnitt die niedrigen Preise der 1820er Jahre eingingen, zum anderen aber die Einkünfte aus den steigenden Preisen seit den 1830er Jahren sich verbesserten. Etwa u m 1840 begann auch eine große Welle von Ablösungen. Neben der Kapitalabfindung war noch die Ablösung durch eine laufende Geldrente möglich (§ 19), was keine große Bedeutung erlangte, und die Ablösung durch die Abtretung von Land. Letztere war allerdings solchen Einschränkungen unterworfen - dem Bauern mußten zwei Drittel seines Besitzes verbleiben, mindestens jedoch so viel, daß eine »landübliche, spannfähige bäuerliche Nahrung« erhalten blieb (§ 24) - , daß sie nur ein Pyrrhussieg für den Adel war, der danach hartnäckig verlangt hatte 93 . Ähnlich wirkungslos war das damit umstrittene Provokationsrecht des Adels. Denn in Verbindung damit, daß der jeweils Provozierte das Wahlrecht über den Modus der Ablösung in Land oder Kapital hatte (§ 22f.), war der Vorteil einer möglichen einseitigen Festsetzung der Landabfindung wieder zunichte. Eine gewisse Erleichterung stellte schließlich die Möglichkeit dar, einzelne Lasten abzulösen (§ 7). Die Vorteile dieser Ablösungsordnung für die Bauern gegenüber derjenigen in den östlichen Provinzen sind unverkennbar. Einmal konnten nicht nur die spannfähigen Bauern wie im Osten, sondern alle bäuerlichen Gruppen ablösen - ein Erbe auch der weitgehenden Angleichung der Besitzrechte seit dem 17. Jahrhundert-, zum anderen aber war ein Bauernlegen über den Weg der Ablösung effektiv verhindert, nicht zuletzt ein Verdienst des Oberpräsidenten Vincke, der sich stets, aus einem gesellschaftspolitischen K o n 112

servatismus heraus, fur die »Existenz einer zahlreichen, sich wohlbefindenden mittleren Klasse von freien ländlichen Grundeigentümern, dem eigentlichen Kern des Volks«, einsetzte und dabei sogar heftige Konflikte mit seinen adligen Standesgenossen nicht scheute 94 . Dramatische Veränderungen der agrarischen Besitzstruktur waren bei diesem Bauernschutz nicht zu gewärtigen. Von Nutzen war ferner, daß das schwierige Geschäft der »Auseinandersetzung«, das im Königreich Westfalen im wesentlichen über die »gütliche Einigung« und die Gerichte erfolgen sollte, nun von einer Sonderbehörde, der Generalkommission - 1821 fur die Provinz Westfalen eingesetzt - übernommen wurde 9 5 . Dem stand aber ein wesentlicher Mangel gegenüber. Wie in der französisch-westfälischen Zeit verhinderte die staatliche Finanzkrise öffentliche Maßnahmen zugunsten des bäuerlichen Kredits. Besonders fur die geldarmen und verschuldeten Kleinbauern, die am schwersten unter der »feudalen« Belastung zu tragen hatten, mußte infolge dieses Mangels, neben anderen Umständen, das Versprechen der Ablösung »in eine Verhöhnung (ausarten)« 96 . Zusammen mit den adelsfreundlichen Bestimmungen des Gesetzes von 1825 ist es daher nicht verwunderlich, daß durch dieses Gesetz die großen Hoffnungen der Bauern - »durch die Ereignisse der Zeit und durch die allerhöchsten Suspensionen sehr hoch gesteigert« - »nicht ganz befriedigt« wurden, wie der Warburger Landrat in der gedämpften Verwaltungssprache schrieb, während es »die Erwartungen der Gutsherren (übertraf)« 97 .

4. Entwicklung der Agrarreformen bis 1848 und Lage der Unterschichten a) Schleppende

Ablösung

und

Verschuldung

Einer Antwort auf die Frage nach der Entwicklung der Agrarreformen stehen noch mehrere offene Probleme entgegen. Die zeitgenössischen Ablösungsstatistiken sind geprägt von der komplizierten rechtlichen und institutionellen Struktur des ganzen Ablösungsgeschäfts und infolgedessen im einzelnen unvollständig und zeitlich wenig differenziert. Ferner fehlt eine zuverlässige Statistik der belasteten Betriebe, so daß die Ablösungsquote, die Zahl der Bauern und die Summe ihrer Aufwendungen, gemessen an den gesamten abzulösenden Lasten, nicht genau zu bestimmen ist 98 . Einige Anhaltspunkte müssen daher im folgenden genügen, den Gang der Agrarreformen zu demonstrieren. Unvollständig sind auch die hier verwendeten Statistiken. Die in Anhang 9 aufgeführte Übersicht über die Ablösungen in den Kreisen des Rgbz. Minden bis 1849 und Tabelle 5 (S. 114) enthalten nicht die Ablösung der Domänenbauern, da diese nicht den Generalkommissionen, sondern den Regierungen bzw. dem Fiskus unterstand und auch nicht die Ablösungen in 113

den Paderborner Kreisen zwischen 1836 und 1856 durch die nur hier eingerichtete Tilgungskasse. Tabelle 5 enthält für den Zeitraum 1850-1911 auch die erst seit 1850 mögliche Ablösung der Erbpächter und die erst 1872 gesetzlich geregelte Ablösung der Pflichten gegenüber Kirche und Schule, während die nach 1850 in Form von Rentenbriefen vermittelten Ablösungszahlungen wiederum nicht enthalten sind". Tab. 5: Ablösungen im Rgbz. Minden, 1821-1911 100 Zeitraum

Ablösungspflichtige

Ablösungskapital (RM)

1821-1849 1850-1911

9827 53643

1 651 230 5522423

Aufgehobene Dienste SpannHandDiensttage 14773 10306

40786 28398

Trotz der Lücken und Vergleichsprobleme läßt Tabelle 5 erkennen, daß (mit Ausnahme des Paderborner Landes, wo dank der Tilgungskasse die Ablösung der gutsherrlichen Gefalle bis 1850 annähernd abgeschlossen war) die Einleitungen der Ablösung und die Zahlungen in der Mehrzahl der Fälle erst nach 1850 erfolgten, und damit zu günstigeren Bedingungen als vor der Revolution, die sich für die Bauern durchaus gelohnt hat. Das Ablösungsgesetz vom März 1850 reduzierte nämlich den Entschädigungssatz vom 25fachen auf das 20- bzw. 18fache des Jahreswerts des abzulösenden Gegenstandes. N u r die Dienste waren bis 1848 schon überwiegend in ihrem Kapitalbetrag nominell festgestellt und damit aufgehoben, aber noch nicht real bezahlt. Auch vereinzelte Angaben verweisen auf eine nur schleppende Ablösung bis 1850. Im Mindenschen gehörte sie 1837 »noch zu den Seltenheiten« und auch zehn Jahre später waren die gutsherrlichen Rechte »noch längst nicht abgelöst«. Die durchschnittliche Ablösungssumme, die in den minden-ravensbergischen Kreisen bis 1849 zwischen 80 und 213 Rt schwankte, deutet darauf hin, daß man sich bis dahin eher von kleineren Diensten oder Abgaben wie dem Zehnten auf das Vieh, dem Weinkauf oder von Lasten auf einzelnen Ackerstücken losgekauft hat 101 . Dabei wurden seit der Mitte der 1830er Jahre die Zahlungsbedingungen allmählich besser. Die Regelung der »Normalpreise« gewährte nun eine relativ günstige Konstellation, während die Getreidepreise stiegen. In Minden-Ravensberg stabilisierte sich nach den Krisenjahren um 1830 noch einmal die ländliche Spinnerei und Weberei. Diese Situation hatte die Mindener Regierung vor Augen, als sie im Zeitungsbericht vom Februar 1836 schrieb: »Die Bauern aber, wenngleich fast durchgängig verschuldet, genießen, wenigstens gegen frühere Jahre, verbesserten Credit, und können sich deshalb eher erhalten und vermögen hin und wieder Verbesserungen an ihrer Wirtschaft vorzunehmen, namentlich die Domanial- und gutsherrlichen Prästationen abzulösen.« 102

114

Man wird daher annehmen dürfen, daß der Großteil der Ablösungen bis 1850 in den Jahren zwischen 1835 und 1850 erfolgte. Der in den einzelnen Kreisen unterschiedliche Fortschritt der Ablösung ist, von den Paderborner Kreisen abgesehen, mangels näherer Hinweise vorläufig schwer zu qualifizieren. Einzig die Vielzahl der freilich kleinen Ablösungen im Kr. Wiedenbrück sticht heraus. Hier hat der Unternehmer und Gutsbesitzer Friedrich L. Tenge, der 1822 die ehemalige Grafschaft Rietberg aus dem Besitz des österreichischen Staatskanzlers Kaunitz erworben hatte, die Bauern zur Ablösung gedrängt - und sich damit eine Bauernrebellion im März 1848 eingekauft 103 . Ebenso schwierig sind Aussagen über die gruppenspezifische Entwicklung der Ablösung. Im allgemeinen traten den kleinen Bauern die Hindernisse gehäuft entgegen, während für die größeren im Laufe des Vormärz die Konjunktur der Preise und des Bodenmarktes sich günstig gestaltete. Verpachtung und Verkauf von Parzellen haben den »Wohlstand und Credit der Bauern gehoben«, berichtete 1837 der Bielefelder Landrat über die Ravensberger Bauern. Immerhin deuten die durchschnittlichen Ablösesummen in den Kreisen Lübbecke, Herford, Bielefeld und Halle daraufhin, daß hier auch einige größere Positionen abgelöst wurden. In der Mehrzahl scheinen sich aber auch die größeren Bauern Zeit gelassen zu haben. Im Bielefelder Kreis waren in den 1840er Jahren die gutsherrlichen Gefalle der »Landwirte« »z. T. noch bedeutend«; selbst ein Großbauer wie Meyer zu Heyno mit 1100 Mg leistete noch Domänenabgaben von jährlich 68 Talern. Ähnlich waren im Kr. Halle die großen Höfe noch »selten freigekauft«, und auf einem Hof von 145 Mg lasteten noch 100 Taler gutsherrliche Abgaben 104 . Die entsprechende funfundzwanzigfache Höhe der Ablösung dieser Lasten stellte einen Betrag dar, den die Mehrzahl der Bauern in der Regel nur über Neuverschuldung oder Landverkauf aufbringen konnten. Ein mittelgroßer Hof von 35 Mg Ackerland im Kr. Minden, der 1839 seine Getreidegefälle für 1229 Rt ablöste, nahm dafür ein Darlehen von 1000 Talern bei einer Beamtenwitwe auf. Der Colon Hillingmeier in Bieren (Kr. Herford) mit einem Besitz von 74 Mg, der 1842 bis auf eine geringe kirchliche Abgabe seine sämtlichen Lasten ablöste, mußte dafür neben den Verfahrenskosten 2776 Taler aufbringen, eine Schuld, die er durch einen bedeutenden Landverkauf tilgte. Gegenüber drastischen Einschnitten in die bäuerliche Wirtschaft oder den Risiken der Verschuldung bei fehlenden Kreditanstalten mochte die Weiterleistung der Abgaben als ein kleineres Übel erscheinen, zumal - wenigstens im Ravensbergischen - mittlerweile alle in Geld umgewandelt waren 105 . Auffällig ist — neben der Bedeutungslosigkeit der Landabfindung - der geringe Umfang der Ablösung in Form einer Geldrente. Dabei wurde der Wert der Abgaben kapitalisiert und in jährlichen Renten amortisiert, also eine Form der Ablösung, die später mit den Rentenbanken die übliche wurde, bis dahin aber - mit Ausnahme der Paderborner Tilgungskasse - der 115

Übereinkunft der Parteien oblag. Offenbar haben dieser für die Bauern günstigen Form der Ablösung aber die adeligen »Berechtigten« nur wenig zugestimmt, da sie dadurch eine Entwertung ihres Vermögens fürchteten 106 . Die Ursachen für die schleppende Entwicklung sind leichter anzugeben als die Umstände der tatsächlich erfolgten Ablösungen. Neben den Kosten, welche diese selbst bereiteten, dem fehlenden Kredit und den hohen Ablösungssummen kamen auf die bäuerliche Bevölkerung im 19. Jahrhundert eine Reihe neuer Belastungen hinzu. In den ehemals nichtpreußischen Gebieten wurde nach den Katasteraufnahmen (bis 1834), die ihrerseits eine große Summe verschlangen, die Grundsteuer bis zum Dreifachen des alten Satzes erhöht, was die Mindener Regierung schon 1828 befürchten ließ, daß diese »den Ertrag der Besitzer auf nichts reduzieren« würde 107 . Hinzukam die Klassensteuer und vor allem eine drastische Erhöhung der Kommunalabgaben zur Finanzierung der intensivierten Kommunalverwaltung und zur Tilgung der Kommunalschulden. Im Kirchspiel Rheda verdreifachte sich fast zwischen 1806 und 1830 die Kommunalsteuer von 682 auf 1732 Taler jährlich 108 . Auch die verbesserte Justizpflege forderte ihren Tribut. Im Gerichtsbezirk Warburg z.B. wurden in den 1820er Jahren durchschnittlich 19000 Taler Gerichtskosten und Stempelgebühren bezahlt, mehr, als sonst »bei günstigeren Zeiten der Inbegriff aller Staatsabgaben« war 1 0 9 . Ferner gab es noch überhängende Schulden aus den Kontributionen der napoleonischen Zeit, den Kriegssteuern von 1813-15 und den zuweilen großen Rückständen aus den verweigerten Zahlungen der Abgaben. Die 65 Bauern der Gemeinde Altenbergen mußten ihrem Gutsherrn v. Haxthausen für die Jahre 1808 bis 1830 selbst nach einem bedeutenden Nachlaß noch rund 11000 Rt nachzahlen, eine Schuld, für welche die Gemeinde bis 1847 mehrmals den Gläubiger gewechselt hat, ohne sie tilgen zu können 110 . Staatliche Hilfe forderten die Bauern dabei in der Regel vergeblich. Zehn durchweg größere Bauern aus dem Lübbecker Kreis, jeder mit mehr als 1000 Talern rückständiger Abgaben belastet, die 1832 in einer Immediateingabe um eine staatliche Vermittlung bei der Tilgung dieser Schulden baten, wurden abschlägig beschieden: eine »Einmischung des Staates in das Privatverhältnis« zum Gutsherrn müsse »gerechtes Bedenken erregen«, für eine Kreditbeihilfe seien keine Mittel und für eine Gnadenbewilligung kein Anlaß vorhanden, da die Bauern selbst schuld und im übrigen nicht so arm seien, wie sie vorgäben 1 1 1 . Eine weitere Quelle der Überlastung und daraus entspringender Verschuldung mußte unter diesen Umständen die Abfindung der Kinder werden. Zeitgenossen betonten, bei auffälliger Vernachlässigung der bisher genannten Faktoren, gerade dieses Moment, da es ihnen Symptom der Zerrüttung der bäuerlichen Verhältnisse durch die liberale Gesetzgebung war, die auch das Anerbenrecht aufgehoben hatte und sie unvorbereitet aus der Geborgenheit einer herrschaftlichen Verfassung entlassen habe 112 . 116

Diesen anwachsenden Belastungen entsprach bei vielen Bauern keine Ertragssteigerung, die sie hätte kompensieren können. Schon bei mittleren Bauern des Wiedenbrücker Kreises sah 1832 die Mindener Regierung nach Abzug sämtlicher Lasten kein Einkommen, »welches als ein hinreichendes bezeichnet werden könnte«; den Kleinbauern gar »dient das Colonat . . . nur dazu, die Pflichten gegen den Staat, den Gutsherren und die Commune . . . zu erfüllen; sein und seiner Familie Unterhalt muß er nebenbei durch Taglohn zu verdienen suchen«113. Dieser »Taglohn« aus dem ländlichen Handwerk, der Spinnerei und Weberei, sollte freilich auch schrumpfen. Übrig blieb die Verschuldung, welche durch Verkauf und Verpachtung von Land nur notdürftig in Grenzen gehalten werden konnte, im übrigen nur zu einer Umverteilung der Schuld zwischen den sozialen Klassen führte. Die landhungrigen Unterschichten waren aber bald ebenso zahlungsunfähige Schuldner wie die Bauern selber114. Der bäuerliche Schuldenberg wurde so nur wenig entlastet. Die Verschuldung hat im Vormärz nicht nur in den Paderborner Kreisen ein fast unerträgliches Maß erreicht. Als in Minden-Ravensberg/Wiedenbrück mit der Krise der Textilindustrie die gewerblichen Einkommen zurückgingen, brauten sich hier seit den 1830er Jahren Paderborner Zustände zusammen. Im Gerichtsbezirk Bünde waren um 1830 Bauern und Heuerlinge mit einer halben Million Taler an »meist reiche Städter und tote Fonds« verschuldet. Schuldklagen und Exekutionen wirkten so aufreizend, daß Gerüchte und anonyme Aufruhrzettel zirkulierten, die einen (allerdings nicht eingetretenen) Sturm auf das Gerichtsgebäude und die Vernichtung der Schuldbücher androhten 115 . In Valdorf (Kr. Herford) überstiegen 1841 die Zinsen der Privatverschuldung die Summe aller Abgaben und Steuern. Bei einzelnen Bauern betrug der Anteil der Zinsen an ihren jährlichen finanziellen Verpflichtungen zwischen 37% und 75%. Besonders Kleinbauern verloren zunehmend Kredit, so daß nach der mißratenen Kartoffelernte 1845 staatliche Unterstützungen zum Ankauf von Saatkartoffeln notwendig waren 116 . In der Senne zwischen Bielefeld und Paderborn, wegen des unfruchtbaren Sandbodens eine der ärmsten Gegenden des Regierungsbezirks, schluckten Zinsen, Steuern und Abgaben bei den größeren Bauern die Hälfte des Reinertrags, bei den mittleren mehr als 90% und bei den Kleinbauern überstieg die Belastung sogar den Reinertrag um 10%. Die durchschnittliche Verschuldung der kleineren Bauern mit 160 Talern/ha übertraf bei weitem die Verschuldungsrate, wie sie Henning für das 18. Jahrhundert ermittelt hat 117 . Aus diesen Angaben, die freilich noch ergänzungsbedürftig sind, läßt sich schließen, daß die neuen Belastungen im 19. Jahrhundert und die sinkenden außeragrarischen Einkommen vor allem die Kleinbauern in Gegenden mit schlechten Böden in eine tiefe Krise stürzten, aber auch die etwas besser gestellten Kleinbauern bedrängten, da sie aufgrund ihrer Landarmut kaum Vorteile aus der Agrarkonjunktur ziehen konnten. Eine Notbremse gegen 117

den Strudel der Verarmung, die sich im Verwaltungsalltag in Schuldprozessen, Subhastationen und Pfändungen zeigte, wurde vergeblich gefordert. Die Einrichtung einer Tilgungskasse für die Ablösung, wie sie der LSGDirektor Weingärtner fur seinen Vlothoer Bezirk forderte, scheiterte ebenso wie ein analoger Antrag der Kreisstände von Wiedenbrück; sowohl das Ministerium, das gegen die N o t eine rationellere Landwirtschaft empfahl, wie die Gutsherren lehnten ab 118 .

b) Die Krise der Kleinbauern

in Paderborn und die Einrichtung der

Tilgungskasse

Im Paderborner Land hingegen wurde eine Notbremse gezogen. Hier häuften sich die genannten Momente der Belastung auf eine kaum entwicklungsfähige bäuerliche Landwirtschaft, die im ländlichen Handwerk auch nur eine schwache zusätzliche Stütze hatte. Jahraus, jahrein mußte die Verwaltung seit den 1820er Jahren eine immer weiter wuchernde Verarmung und Verschuldung der Grundbesitzer konstatieren, die, wie der Warburger Landrat 1828 berichtete, bald nach der Ernte die Früchte ihrer Arbeit wieder los waren, da gleich »der Gerichts-, Domänen-, der Gemeindeexecudant (erscheint), u m von ihnen die rückständigen und laufenden Abgaben ohnmittelbar und außergerichtlich beizutreiben. Gegen Martini ist in der Regel kein Brot- und Saatkorn mehr vorrätig« 119 . Die Bauern waren daher gezwungen, selbst Lebens- und Betriebsmittel sich auf Kredit zu verschaffen. Beides erhielten sie vornehmlich von den jüdischen Landhändlern, die, entgegen den weithin geteilten Vorurteilen über den »jüdischen Wucher« geradezu lebensnotwendig fur die Wirtschaftsführung waren. Die Einschränkung der Gewerbefreiheit für die in den vier Paderborner Kreisen ansässigen Juden ( К О v. 20. Sept. 1836), gleichzeitig mit der Einrichtung der Tilgungskasse in der wohlmeinenden Absicht verfugt, die Bauern vom Wucher zu befreien, enthüllte dies schlagend. Die Bauern handelten nun verstärkt mit Juden aus dem benachbarten Hessischen und unterstützten im übrigen Gesuche der jüdischen Kaufleute um einen Gewerbeschein 120 . Dieser jüdische Kredit war freilich nur derart, daß er das Leben fristen ließ, seiner Funktion nach aber mit jeder Ernte, die nicht gut ausfiel, wie es um 1830 mehrmals der Fall war, die Bauern nur noch tiefer in Schulden stürzte 121 . Mitte der 1830er Jahre absorbierten allein die Zinsen einen Großteil des bäuerlichen Reinertrages, d. h. des bäuerlichen Einkommens, errechnet aus den normalen Bodenerträgen abzüglich der Sachkosten: im Kr. Paderborn 32%, in Büren und Höxter 38% und im Warburger Kreis gar 63%. Die Zinsen, Grund-, Kommunalund Klassensteuer sowie die gutsherrlichen Abgaben zusammengenommen, noch nicht einmal das Ganze, was hätte bezahlt werden sollen, erreichten oder überstiegen den Reinertrag: in den Kreisen Paderborn und Höxter blieben 28% bzw. 8%, in den Kreisen Büren und Warburg dagegen waren die Lasten u m 5% bzw. 39% höher als der Reinertrag 122 .

118

Unter solchen Umständen war nicht nur die Ablösung unmöglich; die vollständig verschuldeten Güter waren zudem Anträgen der Gläubiger wehrlos ausgeliefert. Vor allem das Interesse des Adels an einer Erweiterung seines Grundbesitzes, zumal die Renteneinkünfte wegen der bäuerlichen Armut und Überschuldung stockten und er selbst infolge der Agrarkrise der 1820er Jahre in einer schwierigen Lage war, begründet so nicht nur die Gefahr, sondern, besonders im Kr. Warburg, auch schon die Realität eines Bauernlegens trotz der im Gesetz von 1825 formulierten Absicht des Bauernschutzes. Der legale Schlüssel dafür waren nach der Aufhebung des Caduzitätsrechts 1833 123 besondere Bestimmungen zum Schutz des gutsherrlichen Eigentums im Gesetz von 1825. Bis 1833 ließen Gutsherren die Bauern »rücksichtslos« in die »Falle« des Heimfallsrechts laufen, indem sie drei Jahre scheinbar Nachsicht gegenüber den zahlungsunfähigen Bauern übten, um dann das Gut einzuziehen. Aber auch nach der Aufhebung dieses fur andere Gläubiger ruinösen Rechts stand den Gutsherren ein »weites Feld von acquisitionen und consolidationen offen«, wie der Warburger Landrat besorgt feststellte 124 . Zusammen mit dem Recht, bei Zahlungsunfähigkeit die Subhastation zu beantragen, war ihnen ein Vorzugsrecht auf ihre Schulden konzediert, und daneben konnten sie Gläubiger nicht-bäuerlichen Standes vom Erwerb solcher Parzellen ausschließen, auf denen ihr Obereigentum ruhte 125 . Da die anderen Gläubiger eben Städter undjuden waren, stand dem Zugriff auf das Land der Bauern nichts mehr im Wege. Diese Bestimmungen machen auch die Verteidigung der Paderborner Juden plausibel, daß sie nur wenige Subhastationen beantragt hätten, dagegen die Mehrzahl solcher Anträge von den Gutsherren ausginge 126 . Zugleich wurde durch jene Klausel die Konkurrenz bei Versteigerungen eingeschränkt. Eine detaillierte Liste von Subhastationsfällen im Bereich des LSG Büren zeigt so eine kaum verwunderliche Differenz zwischen dem Taxwert und dem Meistgebot bei Subhastationen bäuerlicher Güter; letzteres war in den meisten Fällen niedriger, oft um 30% und mehr, was freilich auch durch verschwörerische Absprachen unter den Bauern bewirkt sein konnte 127 . Wieviel bäuerliches Land auf so billige Weise den Besitzer wechselte und besonders in die Hände der großen adligen und bürgerlichen Gutsbesitzer überging, läßt sich nicht feststellen. Auch eine Statistik der Subhastationen fehlt noch. Immerhin vermittelt einen Eindruck von diesem »Bauernlegen« die Zahl der Subhastationen im Jahre 1837: bei den Gerichten in MindenRavensberg und im Kr. Wiedenbrück erfolgten 318 öffentliche Versteigerungen vom Haus- und Grundbesitz, in den Paderborner Kreisen dagegen 642 1 2 8 . Die Rittergüter hier expandierten beträchtlich, neben dem Zukauf von Säkularisationsgut und Gewinnen aus der Ablösung der Servitute auch durch Einziehen von Bauernland. Ein Rittergut in Schwenkhausen (Kr. Warburg) ζ. В., das zwischen 1808 und 1840 von 2900 auf 3800 Mg wuchs, gewann im gleichen Zeitraum 425 Mg Land von den Bauern im Dorf, das war mehr als die Hälfte des ursprünglichen bäuerlichen Landes; fünf spann119

fähige Bauern sind dabei eingegangen 129 . Es ist sehr wahrscheinlich übertrieben, daß es dem Adel »zum großen Teil gelungen« sei, die verarmten Bauern auf den Status von Pächtern herabzudrücken 130 , aber sicherlich hat die Expansion der großen Güter auch zu der Zunahme kleiner und kleinster bäuerlicher Betriebe im Paderbornischen beigetragen. Im Kr. Büren erreichte die Ausdehnung des Großgrundbesitzes durchaus ostelbisches Ausmaß. Hier hatten im Jahre 1858 die 62 Besitzer von Gütern mit mehr als 300 Mg 40% der landwirtschaftlichen Nutzfläche inne, darunter Riesengüter wie der Besitz der Grafenfamilie Westphalen zu Fürstenberg, der 1861 knapp 24000 Mg umfaßte 1 3 1 . Die preußische Verwaltung, die 1803 angetreten war, das Paderborner Land in 10 bis 20Jahren aus seiner »Rückständigkeit« zu befreien, mußtenun feststellen, daß dieses Land immer noch zu den »ärmsten Gebieten der preußischen Monarchie überhaupt« zählte 132 . Die innere Staatsbildung, für die Verwaltung der Motor des Fortschritts, mußte unter solchen Umständen stocken. Die ländliche Bevölkerung, die in einem Dauerkampf mit den Gutsherren lag, konnte diese nur als eine zusätzliche Last erfahren, gegen die sie sich auf ihre Weise wehrte: durch Steuerverweigerungen, durch die anonyme Gewalt und Schikane gegen die Beamten, die dadurch so eingeschüchtert wurden, daß die Autorität und Durchsetzungsfähigkeit des Staates, besonders gegen die endemisch verbreiteten Holzdiebstähle, auf dem Spiele stand. Die Vielzahl der Prozesse zwischen Gläubigern und Schuldnern überlastete die Gerichte 133 . Vor allem jedoch war das fiskalische Interesse des Staates bedroht. Mit der Festsetzung der neuen Grundsteuer war die Grenze erreicht, hinter der ohne erleichternde Maßnahmen die »Steuergleichheit mit dem Ruin der Steuerzahler erkauft« worden wäre 134 . Schon 1828 regte die Mindener Regierung daher eine Ermäßigung der gutsherrlichen Abgaben an 135 . Die »Bedenken« staatlichen Eingriffs in ein Privatverhältnis mußten einer Intervention weichen, um die ökonomischen Grundlagen des liberalen Staates, die steuerliche Gleichheit seiner »Untertanen«, nicht zu gefährden. Der Liberalismus der Mindener Regierung, der Patriarchalismus Vinckes, Forderungen des westfälischen Landtages und schließlich die Vorstellung eines münsterländischen Adligen, Ferdinand von Galen, beim Kronprinzen, der dessen Mitleid über das Los der Paderborner Bauern rührte, führten schließlich zur Einsetzung einer Untersuchungskommission, deren Frucht die staatliche Tilgungskasse zur Ablösung der gutsherrlichen Abgaben war und eine knappe Kredithilfe zur Anschaffung von Betriebsmitteln 136 . Diese Tilgungskasse, deren endgültige Einrichtung nach »Schwierigkeiten« 1836 erfolgte 137 , brachte zwei wesentliche Erleichterungen. Die Ablösung erfolgte durch Schuldverschreibungen der Tilgungskasse, aus denen der »Berechtigte« seine Kapitalabfindung erhielt und welche die pflichtigen Bauern durch jährliche Geldrenten an die staatliche Kasse zu tilgen hatten, die 4'/б% der jeweiligen Schuldverschreibung umfaßten. Diese Rente ermä-

120

ßigte sich auf 4%, wenn der Bauer die Verpflichtung einging, sein Gut außer für Erbabfindungen künftig nicht mit Schulden zu belasten, die Erbabfindungen zu begrenzen und seinen Besitz nicht zu parzellieren - eine jener pädagogisch und sozialpolitisch gedachten Maßnahmen zur Erhaltung des »Bauernstandes«, die dieser selbst wenig honorierte 138 . Solche Einschränkungen der Dispositionsfreiheit konnten die Bauern um so weniger auf sich nehmen, als sie ja weiterhin die Renten zu zahlen hatten, ohne eine eigentliche Kredithilfe 139 , denn der Staat fungierte gleichsam nur als Vermittler und Zwischenfinanzier zwischen den Ablösungsparteien und brachte die schon im Gesetz von 1829 ermöglichte Geldrentenablösung in Gang, die bis dahin am Desinteresse des Adels stockte. Die zweite wesentliche Verbesserung war eine Senkung des Ablösungssatzes. Die bäuerlichen Gefalle mußten statt des funfundzwanzigfachen nunmehr zum achtzehnfachen Betrag abgelöst werden, wogegen jedoch die Einzelablösung aufgehoben wurde und der Bauer sein Provokationsrecht verlor. Nur der »Berechtigte« konnte den Antrag auf Ablösung nach den Konditionen der Tilgungskasse stellen und mußte in einen solchen »alle Leistungen« einschließen, »welche dem Berechtigten in einer und derselben Gemeinde zustehen« 140 . Mit dieser Klausel wurde besonders die Ablösung der Servitute beschleunigt, denn die Gutsherren drängten danach, während die Gemeinden sich dagegen sträubten, so daß in einzelnen Fällen dadurch die Ablösung verzögert wurde 1 4 1 , in der Hauptsache aber die Konflikte um die Holz- und Weiderechte sich verschärften. Die Bauernrebellionen im Paderborner Land im März 1848 waren ein vehementer Protest gegen den Verlust dieser Rechte. Obwohl die Tilgungskasse dem Adel einen teilweisen Verzicht abnötigte, ergriff er doch schnell sein Recht, die Ablösung zu beantragen. Die Schwierigkeiten, seine Gefalle gegen den Widerstand der Bauern und über mühselige Prozesse einzutreiben, ließen den Verlust kleiner erscheinen. Schon fünf Jahre nach der effektiven Einsetzung der Tilgungskasse waren fast zwei Drittel des Ablösungskapitals festgestellt. Das »festgestellte« Ablösungskapital wuchs von rd. 404000 Rt im Jahre 1838 über 1152000 Rt imjahre 1841 auf 1786000 Rt imjahre 1849. In diesem letzten Jahr wurden nur noch 85 neue Ablösungen eingeleitet 142 . A m Vorabend der Revolution waren so die meisten der gutsherrlichen Bauern von ihren Leistungen an die Gutsherren frei. Bei den feststehenden Geldrenten und steigenden Getreidepreisen konnte sich ihre ökonomische Lage verbessern. Das Ausmaß der »Zunahme des Wohlstandes«, welche die Beamten berichten, wird sich freilich in Grenzen gehalten haben 143 . Die Schulden aus der Vergangenheit drückten weiterhin und ihre Tilgung blieb mühselig, solange wirksame Kreditanstalten fehlten. Nur ein schwacher Ersatz dafür konnte die Initiative von Privatleuten sein. Im Kr. Warburg konstituierte sich 1844 ein »Verein zur Regulierung des Kapitalschuldenwesens der städtischen und bäuerlichen Grundbesitzer«, der, hauptsächlich von Beamten getragen, sich bemühte, besonders 121

den kleinen Grundbesitzern mit »zweckdienlichem Rat« und Darlehen aus dem Vereinsfonds bei der Tilgung ihrer Schulden zu helfen. Bis 1846 vermittelte er für 330 Personen Darlehen im Gesamtwert von 120250 R t 1 4 4 . Nachzutragen bleibt noch, daß der Staat als »Berechtigter« gegenüber den Domänenbauern in den Paderborner Kreisen weniger entgegenkommend war. Für diese galt das Reglement der Tilgungskasse nicht. Einem Gebot der Gerechtigkeit folgend, wurden ihnen 1837 zwar 2 8 % ihrer Abgaben erlassen - das entsprach der Reduktion des Ablösungssatzes vom Fünfundzwanzigfachen auf das Achtzehnfache - und 1840 schließlich eine Ablösung nach dem Modus der Tilgungskasse konzediert; einschränkende Voraussetzungen dafür weichten diese Gleichstellung aber wieder auf. Die beiden wichtigsten zwangen die Domänenbauern, mit der Rentenablösung durch die Tilgungskasse sich Einschränkungen ihrer Dispositionsfreiheit zu unterwerfen - wofür die Privatbauern einen besonderen Bonus erhielten - und vor einer Ablösung die Berechtigungen in den staatlichen Forsten zu regulieren 1 4 5 . Letzteres konnten zwar auch die privaten Gutsherren von ihren Bauern verlangen, jedoch ohne eine so bestimmte gesetzliche Fixierung. Petitionen der Domänenbauern an den Landtag und ein Antrag desselben auf eine völlige Gleichstellung blieben erfolglos. Die pädagogische Absicht und das »Interesse der Waldkultur« - der Staat war der größte Waldbesitzer wurden höher eingestuft 146 . Dennoch war auch unter diesen Bedingungen die Ablösung der Domänenbauern in den Paderborner Kreisen um 1850 annähernd abgeschlossen, im Unterschied zu Minden-Ravensberg und dem Kr. Wiedenbrück, wo jene Erleichterungen für die Domänenbauern nicht eingeführt worden waren 1 4 7 .

c) Gemeinheitsteilungen

und bäuerliche

Klassengesellschaft

Die Trennung des gutsherrlich-bäuerlichen Verhältnisses war nur ein M o ment in der Entwicklung des freien Eigentums auf dem Land, das von den Agrarreformen angestrebt wurde; das andere war die Auflösung der genossenschaftlich gebundenen agrarischen Produktionsweise durch die Teilung der Gemeinheiten und Ablösung der Servitute oder die »Separationen«. Sie hatten tiefe Eingriffe in die bäuerliche Betriebswirtschaft und eine gigantische Neuverteilung von Eigentumsrechten zur Folge, deren Wirkungen kaum zu überschätzen sind. Anders als bei der Stiftung des freien Eigentums durch die Ablösung war der Kreis der Betroffenen viel größer. Über die bäuerlichen Besitzergruppen hinaus hatten die Markenteilungen einschneidende, wenn auch nicht eindeutige Folgen für die besitzlose Unterschicht. Sie griffen so in die gesamte ländliche Sozialstruktur ein und berührten für die kleinen Besitzer und die Besitzlosen zwei elementare Bereiche: Die Landknappheit einerseits und die Notwendigkeit der kollektiven Ressourcen andrerseits. 122

Vor diesem Hintergrund bedeutete die Verknüpfung zweier Prinzipien der Gesetzgebung über die Gemeinheitsteilungen eine krasse schichtenspezifische Privilegierung bzw. Repression von Lebensmöglichkeiten, die wie die Privilegierung der Gutsherren bei der Ablösung aus der Umwandlung ständischer Rechte in privates Eigentum folgte. Einmal waren bei der Teilung nur die alteingesessenen, besitzenden Bauern berechtigt, abgestuft nach der Größe ihres Besitzes bzw. ihren »Teilnehmungsrechten«, und zum anderen sollte die Teilung im Interesse der »Landeskultur« selbst gegen den mehrheitlichen Widerstand der Betroffenen erfolgen. Ihre Notwendigkeit war in den Reformdiskussionen unumstritten und tief in der wirtschaftsliberalen Basisideologie verankert, daß Privateigentum und Fortschritt eins seien. Das Legalitätsprinzip und die zwangsweise Durchführung bewirkten, daß bei diesem Teil der Agrarreformen der Fortschritt der Mehrheit der ländlichen Bevölkerung gleichsam voll ins Gesicht blies. Mit der Erosion der absolutistischen »Wohlfahrts «-Politik zugunsten einer Politik der Entwicklung einer freien Eigentümergesellschaft ist sogar noch eine gewisse Verschärfung zu beobachten. Bei den Gemeinheitsteilungen im späten 18. Jahrhundert sollten, zumindest nach dem Willen Friedrichs II., die Interessen der unterbäuerlichen Nutzungsteilnehmer stärker berücksichtigt werden. Wenn sie auch nicht als Berechtigte anerkannt wurden, sollten ihre Interessen doch nach den Prinzipien der Gerechtigkeit geschont werden. In Minden-Ravensberg wurde den Heuerlingen »wenigstens ein Kuh-Theil« konzediert, der bei der Abfindung der Bauern besonders zu berücksichtigen war 1 4 8 . Im ganzen blieben die Heuerlinge aber auf die Bereitschaft der Bauern angewiesen, solche Anteile auch herauszugeben, was nicht immer geschah. In der Bauerschaft Nieder-Jöllenbeck ζ. B. erhielten die Heuerlinge nur 74 Mg Weideland statt der nach jener Regelung für sie ausgemittelten 115 Mg; die Hälfte der Heuerlinge ging vollkommen leer aus. Zudem waren es gewöhnlich »armselige und verwahrloste Flächen«, die man ihnen überließ. Die Bemühungen der Beamten haben schwere Konflikte zwischen Bauern und Heuerlingen bei diesen Teilungen nicht verhindern können. 1809 klagten die »sämtlichen Heuerlinge im Canton Schildesche«, daß sie »noch keinen Hudeteil« von den Bauern erhalten hätten und riefen in tiefer, religiös formulierter Unterwürfigkeit den Oberpräfekten Delius in Bielefeld um Hilfe an. Gleichzeitig entluden sich die Spannungen im (Holz-) Diebstahl und der methodischen Zerstörung der bäuerlichen Wälder und Holzanpflanzungen, auf die die Bauern mit einer brutalen Selbstjustiz antworteten 149 . Im 19. Jahrhundert schwand durch die Praxis der Generalkommissionen auch jene Gerechtigkeit zugunsten strenger Legalität. Die Nutzung der Gemeinheiten durch die Heuerlinge wurde als Ausfluß eines Privatvertrages mit den Bauern gedeutet, so daß jene, wie Heuerlingen der Bauerschaft Löhne beschieden wurde, ihre Anteile mit den Bauern auszuhandeln hätten 150 . Bei den Heuerlingen freilich blieb die Erinnerung an die Regelung aus dem späten 18. Jahrhundert 123

erhalten. Noch 1848 beriefen sie sich »allgemein« auf ihren »Heuerlingsteil«151. Keine Verschärfung der Rechtslage, wohl aber eine intensivere Ausschöpfung des vorhandenen Rechts brachte die Praxis der Generalkommissionen bei der Durchführung der Teilung gegen den mehrheitlichen Widerstand der Betroffenen. Im Bewußtsein, längst Überfälliges und Notwendiges zu leisten, wurde von den staatlichen Kommissaren im 19. Jahrhundert weit rigoroser verfahren als von den Teilungskommissaren des 18. Jahrhunderts, die aus der regionalen Beamtenschaft und zu einem Teil auch aus der bäuerlichen Oberschicht stammten 152 . Die Möglichkeit dazu boten ihnen die Bestimmungen des Gesetzes über die Gemeinheitsteilung von 1821, daß die Teilung auch nach dem Antrag nur eines Berechtigten durchgeführt werden müsse und »ohne Beweisführung anzunehmen« sei, »daß jede Gemeinheitsauseinandersetzung zum besten der Landkultur gereiche und ausführbar sey«153. Diese Bestimmungen mußten für die Kleinbauern wie Hohn klingen, denn der kleine Entschädigungsteil konnte ihnen kaum die bisher genutzten gemeinsamen Ressourcen ersetzen. Zusammen mit den hohen Kosten der Teilung - zwei kleine Paderborner Gemeinden z.B. mußten dafür fast 500 Taler aufbringen 154 - begründete dies die überall verbreitete kleinbäuerliche Abneigung gegen die Teilungen. Sie störten eine Unmenge von Prozessen und Konflikten zwischen den Beteiligten auf. Beschwerden und Eingaben, besonders aus dem Paderbornischen, um eine Modifikation der Teilungsordnung und um eine Erleichterung der Teilung durch Einrichtung einer Kreditkasse blieben ohne Erfolg 155 . Da die Widerspruchsmöglichkeit eingeengt war, vor allem aber, weil die Gemeinheitsteilung andere soziale Probleme implizierte als die Ablösung, hatte der Fortschritt hier einen anderen Gang. Die Teilung lief der Ablösung weit voraus, wie in Minden-Ravensberg, oder hinkte ihr nach, wie in Paderborn. In der altpreußischen Provinz begünstigte die intensive Landwirtschaft die Lösung der Bauern aus der genossenschaftlichen Produktionsweise; zusätzlich wird sie die übermäßige Beanspruchung der Gemeinheiten durch die Heuerlingsbevölkerung zur Teilung motiviert haben 156 . Bald nach dem Siebenjährigen Krieg einsetzend, waren die Separationen um 1800 schon in vollem Gange, am weitesten in Ravensberg (Tabelle 6). In Minden waren also schon die Hälfte, in Ravensberg fast die Gesamtheit Tab. 6: Stand der Gemeinheitsteilungen in Minden-Ravensberg, 1801157

Minden Ravensberg

А

В

С

D

143548 114889

10297 81374

63770 25 377

69481 6724

A = Fläche der sämtlichen Gemeinheiten in Morgen В = davon geteilt, С = zur Teilung eingeleitet D = noch ungeteilt

124

der Gemeinheiten geteilt oder in der Teilung begriffen. Mochte sich im einzelnen der völlige Abschluß der Teilung noch Jahrzehnte hinziehen 158 , viel blieb der Generalkommission in Ravensberg nicht mehr zu tun. Schwerz, der Ravensberg im Jahre 1816 bereiste, ging schon von der Tatsache weitgehend vollendeter Teilung aus, wenn er Heuerlinge schilderte, die ihr Vieh nurmehr auf den Feldrainen hüten konnten. Bis 1850 wurden in den Ravensberger Kreisen nurmehr 43950 Mg separiert, in den Kreisen Minden und Lübbecke aber noch 110168. Zumindest im Kr. Bielefeld waren um die Mitte des 19. Jahrhunderts schon alle Spuren der traditionellen Landwirtschaft getilgt: die Gemeinheiten waren ebenso verschwunden wie Holz- und Weidegerechtsame 159 . Im Kr. Wiedenbrück wurden viele Gemeinheiten in den 1820er Jahren geteilt. Der größte Teil der Separationen durch die Generalkommission kam, wie die Teilungen in den Paderborner Kreisen, jedoch erst in den 1830er Jahren in Gang, nach dem Abschluß der Katasteraufnahme (1834) und mit Beginn der Ablösungswelle infolge der Tilgungskasse: der Staat und die adligen Gutsherren verbanden hier die Ablösung mit der Separation. Gleichwohl war diese bis 1850 noch nicht so weit fortgeschritten wie in Minden-Ravensberg. Die gut 150000 Mg Land, die im Paderbornischen von der gemeinschaftlichen Nutzung befreit wurden, waren nur ein Bruchteil der davon betroffenen Ländereien. Denn neben dem großen Umfang der eigentlichen gemeinen Weiden waren fast sämtliche Wälder mit Holz- und Weiderechten sowie ein unbekannt großer Teil des Acker- und Wiesenlandes mit Rechten kollektiver Weide nach der Ernte, besonders für die Schafherden, belastet 160 . 1848 waren in den Paderborner Kreisen die verhaßten Separationen also gerade richtig angelaufen und hatten dadurch auch das Feuer für die März-Rebellionen gelegt. In Minden-Ravensberg dagegen waren sie in der Revolution ein geringerer Konfliktstoff; hier hat die frühere Gemeinheitsteilung schon Wirkungen gezeitigt, welche die durch sie ausgelösten Probleme zwar nicht gelöst, aber z.T. in andere Bahnen gelenkt haben. Die Wirkungen der Gemeinheitsteilungen auf die ökonomische und soziale Verfassung der ländlichen Gesellschaft sind so vielfältig, komplex und von so großer Bedeutung, daß das Fehlen einer zulänglichen Agrarstatistik doppelt enttäuschend ist. Beispiele müssen daher genügen, sie zu veranschaulichen. Durch die Separationen kam eine gigantische Masse Landes in die Hände der bäuerlichen Gruppen und in ihre freie Verfügung 161 . Die Schichtungspyramide des Landbesitzes wurde gleich einer vulkanischen Bewegung angehoben; die Abfindung der kleinen und kleinsten Bauern verbreiterte ihren Sockel, während die proportionale Zuteilung nach dem vorhandenen Besitz die Pyramide streckte. Wenn - wie im Paderborner Amt Boke - der Vollmeier 81, der Halbmeier 54, der Viertelmeier 36, der Achtelmeier 24, und der Sechzehntelmeier 16 gleiche Teile erhielten, mußte das den Abstand 125

zwischen den einzelnen bäuerlichen Besitzgruppen vergrößern. Das bedeutete konkret und in Abhängigkeit von der Gesamtmasse des zu verteilenden Landes, daß ein Vollmeier ζ. B. 115 bis 130, ein Halbmeier 70 bis 90, ein Viertelmeier 40 bis 60, ein Achtelmeier 40 bis 50, und ein Sechzehntelmeier 15 bis 20 M g erhielt. Falls weniger zur Verteilung anstand, schrumpften die Abfindungen natürlich, das Strukturverhältnis blieb aber gleich 162 . Wenigstens nach dem nominellen Landbesitz - faktisch mußten diese Ländereien ja erst kultiviert werden - stiegen mit diesen Landgewinnen viele Kleinbauern zu Bauern mit einer vollen Ackernahrung auf. In Klosterbauerschaft (Kr. Herford) verschob sich die Betriebsgrößenstruktur zwischen 1682 und 1825 infolge der Markenteilung, aber auch der Parzellierung von Land des Stiftes Quernheim so, daß bei einer etwa gleichbleibenden Zahl von Höfen (61 bzw. 58) im Jahre 1682 zwei Drittel (63%), im Jahre 1825 aber nur mehr 43% der Bauern weniger als 5 ha besaßen. Die Hälfte der 50 Kleinbauern hat (nominell) die Schwelle zur vollen Ackernahrung erreicht oder überschritten. Ein solcher Aufstieg konnte auch über zusätzlichen Landerwerb aus den Anteilen anderer Bauern erfolgen. Ein Kleinbauer in Kirchlengern (Kr. Herford) vergrößerte sich zwischen 1752 und 1825 von 3,5 auf 10,5 ha, wobei er nur etwa 3 ha aus den Zuschlägen der Markenteilung gewonnen hatte; den Rest erwarb er von anderen Bauern 1 6 3 . Der Landgewinn der größeren Bauern war oft so groß, daß er betriebswirtschaftlich noch nicht sinnvoll integriert werden konnte, zumal neben Abgaben und Steuern das Kapital zur Kultivierung knapp und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Technik der Meliorationen noch nicht so gut entwickelt war. Dies war die Quelle vieler Ansiedlungen von Heuerlingen und Erbpächtern sowie von Teilverkäufen. Nicht zuletzt speiste sich daraus der Wohlstand der großen Bauern, für die die Gemeinheitsteilungen eine Art Gründerzeit waren. In Ravensberg hat jene Ansiedlung schon in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts ein Ausmaß angenommen, daß bald, als Handelskrisen für Garn und Leinen die Armut dieser Siedler offenbarten, davon gesprochen wurde, einige Ämter würden »an wirklicher Übervölkerung (kränkeln)« 164 . Im Amt Schildesche waren vor der Gemeinheitsteilung 761, nach ihrem Abschluß im Jahre 1806 893 Heuerlingsfamilien ansässig. Der Großbauer Meier zu Altenschildesche hat in dieser Zeit 70 Scheffelsaat Land in Erbpacht ausgegeben, wofür er zusammen mit den Heuerlingsmieten im Jahre 1815 450 Rt einnahm. In Steinhagen (Kr. Bielefeld) verdoppelte sich zwischen 1783 und 1822 die Zahl der Neubauern von 38 auf 77, während zu den vorhandenen 108 Heuerlingskotten noch 13 neu gebaut wurden 165 . Zusammen mit der günstigen Konjunktur der Textilindustrie hat diese Siedlungsbewegung das Bevölkerungswachstum getragen, das in Ravensberg deutlich größer war als in Minden, wo neben der ländlichen Industrie auch die Gemeinheitsteilungen weniger entwickelt waren. Während hier nach dem Siebenjährigen Krieg 126

bis 1800 in den ländlichen Gemeinden die Bevölkerung um ein Drittel wuchs, vermehrte sie sich in Ravensberg um die Hälfte 166 . Auch im 19. Jahrhundert hielt diese Siedlungsbewegung an und griff auf andere Teile der Region über. Die Bauern nutzten Verpachtung und Parzellenverkauf, um ihre Schulden zu tilgen. Besondere Bedeutung erreichte dies im Mindenschen. Die Zahl der Heuerlinge, die hier im 18. Jahrhundert gegenüber den bäuerlichen Gruppen noch in der Minderheit waren, wuchs in vielen Dörfern um das Zwei- bis Dreifache. Da die meisten bäuerlichen Betriebe nicht größer als 60 Mg waren und die Bauern noch Gesinde hielten, war die Arbeitsverpflichtung für die Heuerlinge gering. Von ihrem Wirt höchstens mit 1 bis 2 Mg ausgestattet, vergrößerten sie dieses Land durch zusätzliche Pachtungen auf in der Regel 3 bis 6 Mg, mit denen sie, zusammen mit Resten gemeiner Weide, bis zu drei Kühe fütterten. Selbst die Nachteile, daß diese Bevölkerungsklasse in schlechten Jahren zu »Exzessen und Verbrechen« gegen das Eigentum neigte und die gemeindliche Armenunterstützung in Anspruch nahm, wogen für die Bauern die Vorteile auf, welche sie aus den Pachten und der Kultivierungsarbeit trugen - »weil eben durch diese Bevölkerung der Wert und der Ertrag des Grundeigentums fortgesetzt erhalten und dadurch deren Besitzer ihr Vermögen festgestellt wird« 167 . Ähnliches gilt auch für die Ravensberger Kreise, wo dieLandverpachtung und Standortvorteile der Textilindustrie sogar auswärtige Siedler anzog; allein im Kr. Bielefeld wurden zwischen 1816 und 1830 236 Neubauerstellen gegründet. Im benachbarten Kr. Wiedenbrück benutzten die Bauern, wie der Landrat 1837 berichtete, »gerne jede sich darbietende Gelegenheit, ihnen entbehrliche Grundstücke, vorzüglich die ihnen mit den Gemeinheitsteilungen zugefallenen Anteile, mit Erbpächtern zu besetzen«. Die Bauern wälzten dabei einen Teil ihrer Belastung auf diese Pächter um. Die Pachtpreise pro Mg waren infolge der großen Nachfrage höher als die entsprechenden gutsherrlichen Abgaben auf ihren Äckern. 1837 war im Kr. Wiedenbrück ein großer Teil der kleinbäuerlichen Stellen, die ihrerseits über die Hälfte der Höfe ausmachten, mit solchen Erbpächtern besetzt 168 . Insgesamt haben die Gemeinheitsteilungen und der durch sie ausgelöste Bodenverkehr neben anderen Quellen der Bodenmobilität wie der Parzellierung und dem Verkauf von Säkularisationsgut, die im Paderborner Land eine bedeutende Rolle spielten, eine große Siedlungswelle ausgelöst. Zwischen 1800 und 1859 hat in Minden-Ravensberg und im Paderborner Land die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe (ohne die Heuerlingspachten) um rd. 80% bzw. 100% zugenommen; allein im Kr. Wiedenbrück vermehrten sie sich infolge der weiten Sandwüsten nur um ein Drittel. Die meisten der neuen Betriebe waren wie in der frühneuzeitlichen Siedlung solche von Kleinbauern, die agrarisch nicht subsistenzfähig waren 169 . Die ökonomische Dimension dieser Siedlungsbewegung war ein Moment im Prozeß des agrarischen Fortschritts im 19. Jahrhundert (Ausdeh127

n u n g der landwirtschaftlich genutzten Fläche, bessere Bodenbearbeitung); ihre soziale Dimension implizierte über die Stiftung neuen Eigentums hinaus eine Konsolidierung oder wenigstens Sicherung der größeren G r u n d b e sitzer. D e r Landhunger der klein- und unterbäuerlichen Gruppen war so groß, daß die Bodenpreise durch ihre konkurrierende Nachfrage in eine H ö h e schnellten, die den Reinertrag erreichte u n d überschritt. Ein agrarischer Reingewinn war diesen kleinen Pächtern k a u m möglich, was darauf hinweist, daß die familienwirtschaftliche Vernunft der kleinen Produzenten anderen Kriterien folgte. In den Gemeinden Brackwede und Heepen i m Kr. Bielefeld z . B . vergrößerten sich zwischen 1776 und 1826 das in Erbpacht ausgegebene Land von 567 M g auf 1062 M g , die Pachtsumme dafür stieg von 871 Rt auf 1190 Rt, während der veranschlagte Reinertrag des Pachtlandes von 1031 Rt auf 973 Rt sank 1 7 0 . Auch und gerade fur das schlechtere Land w u r d e n also, gemessen am möglichen Ertrag, überhohe Preise bezahlt. M e h r noch trieb die Konkurrenz die Heuerlingspachtcn »über alle Berechnung hinaus«. Im Mindenschen zahlten Heuerlinge in den 30er Jahren das Doppelte des Reinertrags: während ein Bauer bei weniger guten Getreidepreisen zwei bis drei Rt Gewinn pro M g erwirtschaftete, bekam er v o m selben M o r g e n vier bis sechs Taler Pachtgeld von Heuerlingen 1 7 1 . All dies flöß in die Taschen der Bauern, vornehmlich der größeren. Darüber hinaus wuchs ihnen mit den Markenteilungen eine Masse Land zu, das keinen Verfiigungsbeschränkungen mehr unterworfen war, wie dies bis zur Ablösung noch für das grundherrlich gebundene Land galt. D a v o n w u r d e reger Gebrauch gemacht. Allein Ackerparzellen - Garten- und Wiesenland sowie den Verkauf von geschlossenen H ö f e n nicht gerechnet wechselten i m Rgbz. Minden von 1834 bis 1852 in einem Wert v o n 11,5 Millionen Taler den Besitzer, wobei die Preise im Durchschnitt u m m e h r als 50% stiegen 1 7 2 , - eine Steigerung, der k a u m eine gleichzeitige Verbesserung der Böden entsprach. D e r freie Bodenverkehr, dessen agrarstrukturelles Ergebnis eine Z u n a h m e der kleinen Stellen war, hat damit die in die Agrarreformen gesetzten H o f f n u n g e n des ökonomischen Liberalismus nur teilweise und widersprüchlich erfüllt. Einerseits haben die Vollbauern daraus Gewinn gezogen, u n d es w u r d e auch neues Eigentum geschaffen. Andrerseits aber war dies ein kleinbäuerliches Eigentum, das nicht Träger des landwirtschaftlichen Fortschritts sein konnte. Insofern wanderte der Boden oft nicht z u m »besten Wirt«. Auch eine wesentliche Entschuldung der Güter hat der Bodenverkehr angesichts alter und neuer Belastungen nicht bewirken können. Im Ganzen w a r seine Funktion weniger fortschrittlich-innovativ, sondern eher struktur-konservativ in der weiteren Reproduktion einer ü b e r k o m m e n e n Besitzverteilung mit einer gewissen Konsolidierung der mehrheitlich i m m e r noch vielfach belasteten Bauernschaft, während die unterbäuerlichen Schichten sich gleichsam hoffnungslos in die Chancen und Z w ä n g e der liberalen Agrarreformen verstrickten. 128

Die Gemeinheiten und Servitute hatten für die Landwirtschaft der Kleinbauern und Landbesitzlosen eine essentielle Bedeutung. Wie immer nach Berechtigungen abgestuft und mit der steigenden Bevölkerungsdichte auch schon beschädigt, enthielt die faktisch bedarfsorientierte, »gewissermaßen communistische« Nutzung 1 7 3 von Weiden und Holzungen doch Vorteile, welche auch die kleinen Entschädigungen bei weitem nicht wettmachen konnten. Die Privatisierung dieser Ländereien mußte von jenen Schichtender Mehrheit der Landbevölkerung - daher als eine Bedrohung ihrer Existenzmöglichkeiten wahrgenommen werden. Dieser Verlust ist ein klassischer Topos der vormärzlichen Diskussion über den Pauperismus der ländlichen Unterschichten 174 . Nach der bisherigen Darstellung ist allerdings die Wirkung der Markenteilung nicht so eindeutig, zumindest läßt sie sich nicht auf den einfachen Nenner bringen, daß die Viehhaltung mit dem Verlust der kollektiven Weide »radikal« zurückgegangen sei 175 . Verschiedene Momente haben dazu beigetragen, daß die Wirkung vermittelter und damit ambivalenter, wenn auch nicht weniger drückend war. Zunächst führte die rechtliche Markenteilung nicht in jedem Fall auch zu einer Nutzungsänderung der Gemeinheiten. Ζ. T. reservierten die Gemeinden noch Reste zur kollektiven Weide, ζ. T. wurden die individuellen Anteile weiterhin kooperativ genutzt. Ähnlich nutzten die Heuerlinge der Bauerschaft Löhne (Kr. Herford) bis in die 1830er Jahre noch die Markenteile der Bauern, wobei sie die Grundsteuer für dieses Land bezahlten. In anderen Gemeinden waren Teile des kommunalen Besitzes an die Heuerlinge verpachtet 176 . Da ein Teil der Gemeinheiten jedoch kultiviert wurde, mußte das Weideland knapper werden und die Weide sich verteuern. In Ravensberg zahlte man bis zu 10 Rt Weidegeld für eine Kuh. Der Bedarf freilich blieb übergroß. Die »communistische« Nutzung erstreckte sich nun, mit der Kuh oder Ziege am Strick, auch auf die kümmerlichen Reste des Gemeinguts: die Wegraine, Gräben, den Kirchplatz oder das Unkraut auf den Feldern. Wie Einzelverbote und die umfassende preußische Feldpolizeiordnung von 1847 annehmen lassen, lagen solche marginalen Restformen kollektiver Nutzung noch lange im spannungsreichen Gemenge mit dem »agrarischen Individualismus« (M. Bloch). Die Feldpolizeiordnung sammelte und verallgemeinerte ältere lokale und regionale Verbote der »unbefugten« Nutzungen von Privatland. Sie sollte-wie das Holzdiebstahlsgesetz von 1821 der Forstwirtschaft — »dem Landbau einen wirksameren Schutz gewähren« und drohte Geldstrafen an ζ. B. für unberechtigtes Weiden, die Nachlese auf den abgeernteten Feldern, das Grasschneiden an den Wegrändern, das Sammeln von Dünger und Laub oder die Beschädigung von Einfriedungen und Grenzen 177 . Entsprechende Delikte wurden auch vorher schon u. U. drastisch geahndet; 1829 wurde ein Kleinbauer zu 10 Peitschenhieben und den Kosten des Verfahrens verurteilt, weil er in der Feldmark unberechtigt Plaggen gestochen hatte, die im übrigen nur fünf Silbergroschen wert waren 178 . In welchem Ausmaß durch jene Änderungen die Vieh- bzw. Rinderhal129

tung der Heuerlinge beeinträchtigt wurde, läßt sich mangels zeitlich unterschiedlicher schichtenspezifischer Viehzählungen nicht genau sagen. Im Canton Delbrück (Kr. Paderborn), wo es um 1835 bei den Gemeinheitsteilungen zu schweren Konflikten zwischen den Bauern und Heuerlingen kam, waren zu dieser Zeit von 722 Heuerlingsfamilien 27% ohne Kuh, 54% der Familien besaßen eine und 19% zwei und mehr Kühe. Mit diesen Zahlen wollte der Landrat den »Wohlstand« der Heuerlinge demonstrieren 179 . Immerhin hatten hier noch drei von vier Heuerlingsfamilien einen Viehbesitz, der als der Reichtum der armen Leute galt; in der Bauerschaft Schildesche (Kr. Bielefeld) war dies 1855 nur noch bei gutjeder zweiten Heuerlingsfamilie der Fall. Von 160 Familien waren 24% ohnejedes Vieh, 22% besaßen nur eine Ziege, 49% eine Kuh und nur 5% hatten zwei und mehr Kühe 1 8 0 . Diese Zahlen machen sowohl einen Schwund der unterbäuerlichen Viehwirtschaft plausibel, sie zeigen aber auch, wie zäh sich diese gehalten hat, nicht zuletzt durch technische Umstellungen. Die schwindende Weide wurde kompensiert durch die Stallfütterung, teilweise auch durch die teure Pacht von Wiesenparzellen. Kühe und insbesondere Schweine wurden mit Kartoffeln und Rüben durchgefuttert, die auch auf schlechteren Böden wuchsen. »Der Kartoffelbau ward mit einem Male unglaublich ausgedehnt«, heißt es 1801 in bezug auf Ravensberg, und »der geringste Kötter (hier: Heuerling, J. M.) mästete sich sein Ferken oder Schwein mit Kartoffeln«; dadurch stieg allerdings der Holzverbrauch für die Zubereitung der Kartoffeln und damit der Holzdiebstahl 181 . Auch diese Innovation war also noch auf Ressourcen von außen angewiesen, d. h. auf solche, die nicht im Besitz der Heuerlinge waren. Ein weiteres Kriterium für ihre Landwirtschaft war die Größe des genutzten Landes und dessen Qualität. Je kleiner es war, desto geringer wurde, bei der notwendigen Priorität der menschlichen Ernährung, die Chance, Vieh zu halten. Die Gemeinheitsteilungen haben zwar das Potential von Pachtland vergrößert; infolge der Bevölkerungsvermehrung und der drängenden Nachfrage hatte das aber für die einzelnen Pächter nicht überall auch zur Folge, daß ihnen genügend Land zur Verfugung stand. Am ehesten war dies noch im Mindenschen und in den Sandgegenden der Kreise Wiedenbrück und Paderborn, weniger dagegen in Ravensberg der Fall. Im Trend sank die durchschnittliche Größe einer Heuerlingspacht im Laufe des Vormärz auf die Hälfte, von 3 bis 5 Mg auf 1 bis 3 Mg 1 8 2 . Aber selbst, wenn von dem noch unkultivierten Neuland mehr gepachtet oder gekauft wurde, verbesserte sich die Landwirtschaft nur wenig. Das Neuland war noch wenig fruchtbar und brachte, besonders bei sandigen Böden, oft nicht die Hälfte des Ertrages einer normalguten Parzelle. Die Lage der Neubauern, die solches unter Schulden erwarben, wird oft als noch trostloser als die der Heuerlinge geschildert; sie gehörten, wie der Bielefelder Landrat 1833 bemerkte, »mit wenigen Ausnahmen zu der dürftigsten Klasse der Einwohner der Provinz und stehen teilweise noch unter den Heuerlingen« 183 . Das 130

erhoffte Glück der kleinen Parzelle war angesichts der sehr harten Kultivierungsarbeit oft nur von kurzer Dauer. Das Schicksal vieler Neusiedler war: dem ersten den Tod, dem zweiten die Not, dem dritten das Brot - oder wie der Bielefelder Bürgermeister 1835 über die Besiedlung der städtischen Feldmark berichtet: »Zwar sind die ersten Anbauer meist zugrunde gegangen und samt ihren Besitzungen eine Last der Gemeinde geworden. Da aber die Besitzungen bereits in zweiter oder dritter Hand sind, so ist dieser Zustand vorübergehend.« 184 Wie man es auch wendet: die Gemeinheitsteilungen haben gerade dadurch, daß sie noch einmal einen Siedlungs- und Bevölkerungsschub mitgetragen haben, das strukturelle Problem der Agrargesellschaft, die Landnot, verschärft. Eine weitreichende ökonomische Folge stellte sich unmittelbar ein: mit dem Schwund oder der Verteuerung der Landwirtschaft mußte für die Unterschichten die ländliche Industrie eine noch größere Bedeutung gewinnen als sie schon im 18. Jahrhundert hatte. Zugleich war damit eine Zunahme der über Geld und Markt vermittelten Reproduktion des Lebens verbunden. Sie machte die Lebenschancen der Unterschichten sehr verwundbar und beeinflußte ihre sozialen Beziehungen insbesondere zu den Bauern. Damit haben die Agrarreformen mit ihrer Freisetzung liberaler Marktprinzipien auch die Strukturen der bäuerlichen Klassengesellschaft, d. h. die im Besitz und in der Verfügung über Land begründeten Lebenschancen, freigelegt oder deutlicher hervortreten lassen als das im 18. Jahrhundert der Fall war. Dies wird noch darzustellen sein.

5. Marktentwicklung und agrarische Intensivierung Es war ein vorrangiges Ziel der Agrarreformen, durch eine Änderung der Produktionsbedingungen die landwirtschaftlichen Erträge zu steigern. Allgemeine Schätzungen zeigen eine knappe Verdoppelung des agrarischen Produktionsausstoßes in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, gemessen freilich an einem Ausgangsniveau der Jahre 1800/1810, das infolge von Mißernten und Kriegsfolgen eher unter dem im späten 18. Jahrhundert erreichten Niveau lag. Zweifellos förderten die Agrarreformen durch die Siedlungsbewegung und durch die mit den Gemeinheitsteilungen möglichen betriebswirtschaftlichen Umstellungen diesen Fortschritt der Produktion und auch der Produktivität, zumal er unter den Herausforderungen und Chancen eines säkularen Bevölkerungswachstums und einer seit dem späten 18. Jahrhundert ansteigenden Preiskonjunktur erfolgte. Als die hauptsächlichen Träger jenes Aufschwungs lassen sich am leichtesten die Großgrundbesitzer ausmachen, da ihnen neben anderen Voraussetzungen gerade aus den Reformen Kapital dafür zufloß 185 . Hier sollen hingegen wenigstens im Umriß Ausmaß und Grenzen der noch 131

wenig erforschten bäuerlichen Teilhabe an dieser Entwicklung dargestellt werden.

a) Getreidepreise und

Marktintensivierung

Die Entwicklung der Preise des Roggens, des am meisten angebauten und der als Brotgetreide wichtigsten Getreideart, läßt sich für Minden-Ravensberg und das Paderborner Land wie folgt charakterisieren: In beiden Regionen lagen die Getreidepreise im Vormärz über den preußischen Durchschnittspreisen, wie überall in den westlichen Provinzen infolge der höheren Bevölkerungsdichte als in den östlichen Provinzen. Innerhalb des Rgbz. Minden waren die Preise im Paderborner Land >normalerweise< niedriger als in Minden-Ravensberg, in Krisenzeiten wie um 1830 und in dem anhaltenden Aufschwung seit Mitte der 1830er Jahre überflügelten sie jedoch die Preise in der bevölkerungsdichteren Region. Dies war eine Folge der >Exportorientierung< der Paderborner Preise, die durch die Knappheit anderswo besonders in die Höhe getrieben wurden, zumal mit dem verbesserten Straßenzustand der Getreidehandel nach Herdecke, dem größten westfälischen Getreidemarkt, zunehmend lebhafter wurde 1 8 6 . Chronologisch folgen die Preise dem allgemeinen Bild: einem starken Aufschwung im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, der etwa bis 1820 andauerte, einem darauf folgenden Abschwung und einem neuerlichen, anhaltenden Aufschwung etwa seit 1835. Innerhalb dieses Rhythmus haben Mißernten infolge von Dürre oder Regen die Preise bis zum Doppelten hochschnellen lassen. Dies war besonders 1770/71, 1802-1805, 1816/17, 1830 und 1845/46 der Fall 187 . Der Abschwung in den 1820er Jahren zog in Westfalen offenbar keine so tiefe Krise wie in den ostelbischen Provinzen unter den exportabhängigen und hoch verschuldeten großen Gütern nach sich 188 . Im Hinblick auf die Masse der kleinbäuerlichen und besitzlosen Bevölkerung kann man im Gegenteil eine positive Wirkung derjenigen Faktoren feststellen, die sonst die Agrarkrise auslösten. Die Überproduktion infolge guter Ernten und die damit sinkenden Preise haben die Lage jener Schichten erleichtert und die beginnende Krise der ländlichen Textilindustrie zu einem Teil kompensiert. ». . . wenngleich die Garnpreise noch immer nicht die Höhe früherer Jahre erreicht haben«, berichtete die Regierung Minden im Juli 1825, »so sind bei den geringen Getreidepreisen die Ausgaben des Spinners zur Bestreitung seiner Subsistenz auch bedeutend geringer«. Unter den gegebenen strukturellen Bedingungen hatten die niedrigen Agrarpreise für die Bauern nur einen negativen Effekt: sie behinderten die Ablösung, die nach den höheren Durchschnittspreisen der früherenjahre hätten geleistet werden sollen 189 . In den 1840er Jahren kehrte sich dieser schichtenspezifische Gewinn um. Die hohen Preise waren nicht nur eine Folge schlechter Getreideernten, sondern auch von schlechten Kartoffelern132

ten. In diesem Jahrzehnt, in dem auch die Krise der Textilindustrie ihren Gipfel erreichte, scheint keine einzige Kartoffelernte normal ausgefallen zu sein. Das »Brot der Armen« mußte daher mindestens teilweise durch Roggen ersetzt werden. Die Agrarkrise der 1840er Jahren war so wesentlich bestimmt von einem modernen Element innerhalb der Landwirtschaft, dem Kartoffelbau. Mit Ausnahme des Jahres 1846, als auch bei Roggen nur etwa die Hälfte geerntet wurde, litten unter den Ernteausfällen daher vor allem die unterbäuerlichen Schichten, deren Ernährung und Landwirtschaft in starkem Maße von der Kartoffel abängig war. Die größeren Bauern dagegen waren in den 40er Jahren in einer »im ganzen günstigen Lage« 1 9 0 . Die Getreidepreise bildeten einmal natürlich ein Einkommen, allerdings nur für die größeren Betriebe mit einer nennenswerten Marktquote. Für die Mehrheit der ländlichen Bevölkerung, die landarme oder landlose unter(voll)bäuerliche Klasse, stellten sie hingegen eher und öfter einen Kostenfaktor dar. Sie mußte Getreide zukaufen, zumal bei schlechten Ernten und dann, wenn ihr Rohertrag durch naturale Abgaben gekürzt wurde 191 . Steigende Getreidepreise polarisierten daher die Einkommens- und Lebenschancen der ländlichen sozialen Klassen, wenn und solange die Angehörigen der unterbäuerlichen Klasse nicht die relativen Erträge ihrer Landwirtschaft oder ihre außeragrarischen Einkommen steigern konnten. Da dies in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kaum der Fall war, mit der Bevölkerungsvermehrung aber jene Schichten zunahmen, intensivierte sich nun ein »innerer Markt« für Lebensmittel mit einer Kommerzialisierung der Lebensbedürfnisse, der die soziale Ungleichheit auf dem Lande vertiefte, aber auch die agrarische Produktion anstachelte. Dieser vorwiegend lokale Markt existierte auch schon im 18. Jahrhundert. In den folgenden Jahrzehnten erweiterten sich seine Grenzen bei einem häufiger werdenden Austausch zwischen Stadt und Land und auf dem Lande selbst. Die Zahl der Kaufleute und Kleinhändler nahm zu, verbunden mit einer Durchdringung des Landes mit gewerblichen Konsumgütern und einer Steigerung des interregionalen Handels 192 . Davon erfaßt wurden aber auch Lebensmittel und die Rohstoffe für die ländliche Textilindustrie. Im Laufe des Vormärz scheint der naturale Tausch von Arbeit gegen Lebensmittel nicht unbedeutend zurückgegangen zu sein. Holz, Flachs, aber auch Getreide mußten auf Auktionen und Märkten erworben werden. Gleichzeitig nahm, ausgehend von den großen Gütern, die Naturalentlohnung der Landarbeiter ab; auch die Heuerlinge verloren zumindest teilweise ihren im Arbeitslohn eingeschlossenen Naturalanteil. Jahr- und Wochenmärkte, auf denen alle Gegenstände des täglichen Bedarfs und Lebensmittel gehandelt wurden, vermehrten sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In Minden-Ravensberg hatte fast jeder Kirchort seinen Jahrmarkt, während die weniger bevölkerungsdichten und gewerbeärmeren Paderborner Landkreise bezeichnenderweise auch weniger Märkte hatten 193 . Charakteristisch ist die Entwicklung der Bielefelder Märkte. Während am Ende des 18. Jahr133

hunderts nur sechs Jahrmärkte fur Getreide und Vieh gehalten wurden, ein Wochenmarkt noch fehlte - da im Umland » alle Hände bei der Spinnerei und Leinenfabrikation beschäftigt sind, und die Landleute vom Spinnen und Weben einen ungleich größeren Verdienst und Nahrungserwerb ununterbrochen zu genießen haben, als sie vom Garten- und Gemüsebau erwerben können« - , wurde seit 1826 auch ein Wochenmarkt gehalten 194 . Ein stabilisierendes und zugleich weiter forderndes Moment in der Bildung dieses inneren Marktes waren infrastrukturelle Verbesserungen. Durch den Straßen- und Kanalbau wurden auch schon vor dem Auftauchen der Eisenbahn die Grenzen der lokalen Märkte durchlässiger und erweitert. Der Getreideabsatz aus dem Paderborner Land in den Westen, der vorher über die Weser und abenteuerliche Landwege ging, wurde durch bessere Straßen erheblich gefordert. Auch wenn sich diese Fortschritte gegenüber der Revolutionierung des Transportwesens durch die Eisenbahn eher bescheiden ausnehmen, sollte man ihre Wirkung nicht unterschätzen. Die Verdichtung des Straßennetzes, dessen Länge in der Provinz Westfalen zwischen 1816 und 1844 sich verdreifachte, hat den kleinräumigen Austausch durch die Senkung der Mühen und Kosten des Transports erleichtert und intensiviert 195 . Der Handel wurde dadurch nicht nur umfangreicher, sondern auch regelmäßiger, so daß sich auch den kleineren Produzenten gewisse Verkaufschancen boten. Während um 1800 in Ravensberg nur eine geringfügige »Ausfuhr« von Agrarprodukten zu beobachten ist, ging um 1850 ein erstaunlich hoher »Export« von Butter, Schinken, Speck und Talg nach Meinung der HK Bielefeld auch auf die Produktion der »unendlich vielen kleinen Besitzungen« zurück. Deren Inhaber mußten dabei freilich einen Konsumverzicht zugunsten der notwendigen Bareinnahmen leisten 196 . Die Intensiverung der lokalen Märkte hatte unterschiedliche Folgen für die sozialen Klassen auf dem Land. Für die Vollbauern bedeutete sie einen Anreiz zur Steigerung der Erträge, zur agrarischen Intensivierung und Konzentration auf die preisgünstigeren Produkte. Der Rückgang des bäuerlichen Flachsbaus, ein Element der Krise der proto-industriellen Produktionsverhältnisse 197 , ist auch in diesem Zusammenhang zu sehen. Für die Konsumenten in der unterbäuerlichen Klasse hingegen war jene Entwicklung ein weiteres Moment in der Verteuerung der Lebenshaltung, da sich mit der Erleichterung des Verkehrs die Preise innerhalb der wachsenden Markträume offenbar nach oben anglichen. Die Heuerlinge aus Alten-Schildesche klagten 1845 über eine Folge des Straßenbaus von diesem Ort nach Bielefeld, das eine Stunde Fußweg entfernt war: Sie müßten nun den höheren Bielefelder Roggenpreis auch in Schildesche bezahlen, »da es den Bauern sonst nicht der Mühe wert ist, es uns zu tun« 1 9 8 .

134

b) Fortschritte und Intensivierung

der vollbäuerlichen

Landwirtschaft

Folgt man den landwirtschaftlichen Schriftstellern, dann hat sich in der bäuerlichen Agrikultur bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts kaum etwas geändert: »Die große Masse wirtschaftet nach altem Schlendrian fort« - so resümierte Lengerke, einer der führenden preußischen Agrarschriftsteller, 1847 die bäuerliche Wirtschaft in Minden-Ravensberg 199 . Die Indolenz der Bauern gegenüber den postulierten ökonomischen Reformen ist freilich eine stete Klage seit dem späten 18. Jahrhundert, die eine ganze Gattung >populärer< Literatur zur Motivierung der bäuerlichen Bevölkerung, wohl aber ohne unmittelbare Wirkung, hervorrief 200 . Die nächste Generation der Reformer hatte die Bildungsfähigkeit des Volkes nurmehr indirekt im Auge; nicht nur durch Einsicht, sondern auch durch den Zwang der Tatsachen sollte dieses lernen. Der Höxteraner Landrat Metternich wollte 1837 die Bauern zur fortschrittlichen Agrikultur nötigen: »Wie der Landmann zu Abgaben gezwungen werden kann, so muß er auch zu dem gezwungen werden können, was ihm wirklich gut ist, was er aber leider nicht einsieht!« Denn gegenüber dem Ungebildeten galt nicht die aufklärerische Gewißheit der Selbstverwirklichung des Fortschritts durch die Zeit: »Will man dies alles von der Zeit erwarten, die gewiß einmal kommen wird: so widersprechen diesem die Ansprüche, die die Zeit an ihre Zeitgenossen macht. « 201 Die Resistenz der Bauern gegenüber den Ansprüchen der »Zeit« war jedoch nicht so allgemein wie behauptet, hauptsächlich aber in den strukturellen und finanziellen Barrieren besonders der kleinbäuerlichen Wirtschaft begründet. Darüber hinaus dürfte sich nicht selten erwiesen haben, daß ihr erfahrungsgesättigter »Schlendrian« den theoretischen Postulaten der »Oeconomen« praktisch überlegen war, da die agronomischen Innovationen bis 1850 ohne genaue Kenntnisse der Wirkungszusammenhänge der Natur mit einem hohen Risiko belastet waren und nur zu oft ohne den theoretisch postulierten Erfolg blieben202. Die landwirtschaftlichen Theoretiker sind mit ihren den strukturellen Möglichkeiten der meisten Bauern weit vorauseilenden Modellen daher keine sehr guten Zeugen der sich im Alltag lautlos durchsetzenden Fortschritte, über die auch deswegen nicht mehr gesprochen wurde, weil sie nur ein Einholen früherer Forderungen waren. So war die Stallfutterung, cause celebre des landwirtschaftlichen Fortschritts im späten 18. Jahrhundert, 50 Jahre später offenbar fast selbstverständlich203, was nun aber nicht mehr honoriert wurde, da mittlerweile weitere Intensitätsstufen der Viehwirtschaft, der Anbau von Futtermitteln, die Anlage künstlicher Wiesen und die Düngerwirtschaft die >Mode< des agrarischen Fortschritts waren 204 . Im Rückblick müssen freilich gegenüber den »gewaltigen Fortschritten« und Meliorationen seit den 1860er Jahren die Veränderungen und Verbesserungen in der ersten Jahrhunderthälfte verblassen205. In der Tat findet man in den bäuerlichen Wirtschaften während dieses Zeitraumes keine Maschinen, 135

keinen Kunstdünger, j a nicht einmal überall die mit Eisen befestigten Geräte. Lengerke beobachtete in Minden-Ravensberg noch die überlieferten hölzernen Ackerwerkzeuge 2 0 6 . Ebenso zeichnen sich die Veränderungen in den Betriebssystemen nicht durch eklatante Neuerungen, sondern durch eine kaum zu gewichtende Mischung von Traditionalität und Fortschritt aus. Neben Futtermitteln wurden für die Viehwirtschaft noch Reste kollektiver Weide oder individuelle Weiden in Kooperation genutzt. Die Fruchtfolgen wurden gegenüber dem 18. Jahrhundert kaum verändert, durch mehr Brachfrüchte und Kartoffeln wurde das Land jedoch intensiver bebaut. Generell scheint sich die Verbesserung der bäuerlichen Wirtschaften über einen vorsichtig die bisherigen Methoden verändernden höheren Arbeitsaufwand vollzogen zu haben, für den in der ländlichen Unterschicht genügend Arbeitskräfte vorhanden waren. Wie Gülich berichtet, »erwachte« schon im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts nicht nur bei den Besitzern und Pächtern großer Güter, sondern, wie er ausdrücklich fur die preußischwestfälischen Provinzen betont, auch bei den Bauern »ein viel regerer Sinn fiir die Verbesserung ihrer Grundstücke, als man vormals bei denselben bemerkte, und wenngleich sie fast nie zu neuen landwirtschaftlichen Systemen übergingen, was auch bei den größeren Ackerbauern selten der Fall war, so wurde doch die Bodenkultur von ihnen durch eine sorgfaltigere Beobachtung fast aller Wirtschaftszweige, vornehmlich jedoch der Feldbestellung gar sehr gefordert.« Die Erträge seien dadurch u m ein Drittel und mehr gesteigert worden 2 0 7 . Obwohl die Veränderungen und Fortschritte in der bäuerlichen Landwirtschaft sich im Windschatten der zeitgenössisch diskutierten agrarischen Innovationen bewegten, war insbesondere fur die Großbauern diese Entwicklung auch ein Bewußtwerdungsprozeß. Zugleich eine Organisationsform und ein kulturelles Symbol für den »gebildeten Landwirt« waren die landwirtschaftlichen Vereine. Diese wurden in Minden-Ravensberg zwar weitgehend von Beamten geleitet, und die Vielzahl bürgerlicher, nichtlandwirtschaftlicher Mitglieder dokumentiert, daß der agrarische Fortschritt wie bei den Physiokraten des 18. Jahrhunderts noch in den Zusammenhang des in der bürgerlichen Öffentlichkeit diskutierten allgemeinen Fortschritts gehörte; anders als im 18. Jahrhundert war die bäuerliche Teilnahme jedoch beträchtlich. Im Jahre 1844 waren 53% der 520 Mitglieder der landwirtschaftlichen Vereine in Minden-Ravensberg/Wiedenbrück »Colonen«, »Oeconomen« und »Meyer« 2 0 8 . Der Titel »Oeconom« war freilich die Visitenkarte des wissenschaftlich gebildeten Landwirts, mit der sich jedoch auch Bauern schmückten. Im Notjahr 1831 baten Bauern aus der Gemeinde Exter (Kr. Herford) den Oberpräsidenten Vincke, sie von der Stellung von Kavalleriepferden zu befreien. Diese Petition, in der sie ihre Armut beteuerten und Angst vor ihrer Depossedierung äußerten - »daß wir unsere Pferde abschaffen, unsere Äcker durch Kühe bestellen, und aus der Reihe des Mittel-Bauernstandes ausscheiden sollen«-, wurde auch von 136

einem »Oeconom Bruhne« unterzeichnet. Danach ist es nicht verwunderlich, daß die ravensbergischen Großbauern, die Besitzer mehrerer hundert Morgen, »mehr und mehr in die Modernität« gerieten, wie ein konservativer Bauernideologe klagte, und sich »Herr« und »Oeconom« nannten 209 . Aus diesen Kreisen stammt wohl auch eine Eingabe der Gemeinden Ummeln und Isselhorst (Kr. Bielefeld) im Jahre 1847 an das Berliner Innenministerium. Die Bauern, die sich selbst »Landwirte« nannten, forderten, nachdem sie von der staatlichen Unterstützung der Bielefelder Leinenindustrie durch den »Gnadenfonds« erfahren hatten, eine Förderung des Ackerbaus aus dem gleichen Fonds, da die Landwirtschaft das »Fundament der Staatswohlfahrt« sei. In diesem Dokument einer bäuerlichen Interessenvertretung, die sich im Gegensatz zur Industrie wußte - »weil ohne Ackerbau keine Nation bestehen kann, eher sind Maschinen und dergleichen künstliche Getriebe, die oft der geringen Klasse die Arbeit entziehen und den Reichen noch reicher machen, zu entbehren« - klingt eine Politisierung agrarisch-bäuerlicher Interessen an, die nach 1870 wesentlich das politische Geschehen bestimmte, 1848 aber nur eine geringe Rolle spielte210. Im Gegenteil wußte sich das bäuerliche Interesse damals noch scheinbar politikfrei im Obrigkeitsstaat geborgen und doch auf der Bahn des Fortschritts. Wie ein Paderborner Bauer 1848 in den Torbalken seines Hauses meißelte211: »Willst Du sein ein frommer Christ, Bauer bleib auf Deinem Mist; laß die Narren Freiheit singen, düngen geht vor allen Dingen.«

Wieweit läßt sich der ökonomische Fortschritt der Landwirtschaft über die motivationale Ebene hinaus in >objektiveren< Zahlen fassen? Mangels genauer Vergleichsdaten muß ein solcher Versuch allerdings bruchstückhaft bleiben 212 . Während generell angenommen wird, daß durch die Urbarmachung der Gemeinheiten und die Überwindung der reinen Brache in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die landwirtschaftliche Nutzfläche sich verdoppelte, war diese Expansion aufgrund der relativ hohen Intensität des Landbaus besonders in Minden-Ravensberg geringer. Geht man davon aus, daß um 1800 im Gebiet des Regierungsbezirks Minden etwa 45% der Gesamtfläche als Acker, Wiesen und Gartenland genutzt wurden, dann wurde bis in die 1860er Jahre diese landwirtschaftliche Nutzfläche um ein Drittel gesteigert, nämlich auf 64% der Gesamtfläche. Neben den Meliorationen vorwiegend durch die Großgrundbesitzer war ein wesentliches Mittel dafür der kleinbäuerliche Siedlungsschub. Andererseits waren in der Mitte des 19. Jahrhunderts der Ackermelioration noch natürliche Grenzen gesetzt. Die Sandböden, die insbesondere in den Kreisen Lübbecke, Halle, Wiedenbrück und Paderborn verbreitet waren, konnten erst mit Hilfe des Kunstdüngers ertragreich als Ackerland genutzt werden 213 . Über die Nutzungsarten der landwirtschaftlichen Flächen lassen sich kei137

ne genauen Angaben machen. Aus der großräumigen Darstellung MüllerWilles geht immerhin soviel hervor, daß die Intensität des Feldbaues bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts noch deutlich von der Bevölkerungsbewegung und -dichte der ländlichen Zonen selbst bestimmt wurde 2 1 4 . Das heißt, Fruchtarten und Methoden des Feldbaues folgten den im 18. Jahrhundert ausgebildeten Bahnen, wenn auch mit einer gesteigerten Intensität und Varietät des Fruchtanbaues, wodurch die verbesserte Dreifelderwirtschaft der Fruchtwechselwirtschaft sehr nahe rückte. Getreide blieb das Hauptanbauprodukt, Kartoffel gewann aber an Bedeutung; in die Brachflächen drangen immer mehr Klee- und Hackfrüchte ein. Selbst in den Paderborner Kreisen, deren Landwirtschaft in den 1830er Jahren ähnlich wie im 18. Jahrhundert als ein vitiöser Zirkel von Armut, Rückständigkeit und Indolenz beschrieben wurde, schwand seit den 1840er Jahren die Brachwirtschaft. Die zeitliche Entwicklung des agrarischen Fortschritts läßt sich vorerst nur in Andeutungen markieren. Sie wurde beeinflußt durch die Preiskonjunktur, den Gang der Ablösung und der Gemeinheitsteilungen. Letztere setzten in Ravensberg schon Ende des 18. Jahrhunderts ein und waren bis in die 1860er Jahre auch in den anderen Teilen des Rgbz. Minden annähernd abgeschlossen, wobei wahrscheinlich der größte Schub zwischen 1835 und 1860 erfolgte. Der ökonomische Fortschritt lief also teils der Ablösung voraus oder setzte gleichzeitig mit ihr ein. Im Paderborner Land wurde ein deutlicher Zusammenhang zwischen ihm und den verbesserten Bedingungen der Ablösung durch die Tilgungskasse beobachtet und von der Mindener Regierung mehrmals herausgestrichen: »Im Paderbornischen erwacht allmählich der Landmann zu einer größeren Tätigkeit, was sich bereits auf eine erfreuliche Weise in der intensiveren Verbesserung der Ackerwirtschaften, in einer vermehrten Spekulation, Unternehmen von künstlichen Wiesenkulturen und dgl. kundgibt. « 2 1 S

Ein Spiegel der landwirtschaftlichen Intensivierung ist der Wandel der Bodennutzung, insbesondere der relative Zuwachs an Ackerland und Wiesen (als ein Indikator der Verbesserung der Vieh Wirtschaft). In Minden und Ravensberg wuchs der Anteil des Ackerlandes an der Gesamtfläche zwischen 1800 und 1865 von 25% bzw. 28% auf 47% bzw. 60%, wobei der größte Schub bis 1840 erfolgte; im Paderborner Land steigerte sich dieser Anteil zwischen 1825 und 1865 von37% auf51%. Wiesen waren in MindenRavensberg bezeichnenderweise verbreiteter als im Paderbornischen (zwischen 11 % und 24% gegen 7% im Jahre 1865). Die regionalen Unterschiede im Rückgang der ehemals bloß extensiv genutzten Flächen war abhängig von der Entwicklung der Gemeinheitsteilungen, der natürlichen Bodenbeschaffenheit, aber auch von den besitzstrukturellen Verhältnissen. In den Kreisen Herford, Halle und Bielefeld betrug der Anteil des Ackerlandes im Jahre 1865 69%, 47% und 54%. Im Kr. Herford sind die vielen Kleinbauern offenbar auch auf Grenzböden ausgewichen, begünstigt freilich durch rela138

tiv ertragreichere Böden als in den anderen beiden Kreisen 216 . Ähnlich wurden im Kr. Minden von den Kleinbauern die alten Gemeinheiten zu Ackerland umgebrochen, »wo es irgend tunlich war«. Die Natur setzte dem angesichts technisch begrenzter Mittel freilich noch Grenzen. Aber immerhin wurden von den im ganzen Rgbz. Minden zwischen 1821 und 1835 geteilten 69 449 Mg Markenland 25 767 Mg (37%) urbar gemacht und darauf 449 neue Stellen errichtet 217 . Die Ausdehnung der landwirtschaftlichen Nutzflächen ist so gesehen also nicht nur ein Indikator der agrarischen Intensivierung auf den vorhandenen Flächen, sondern ein Symptom des Landhungers der unterbäuerlichen Schichten. Dennoch hatte dieser auch Rückwirkungen auf die Landnutzung der großen Bauern. Die Neulandgewinnung und Mobilisierung des Bodens entlastete diese zu einem gewissen Teil von der Nachfrage nach Pachtland und erlaubte ihnen die Arrondierung ihrer Flächen, womit sie sich betriebswirtschaftliche Vorteile sicherten. Dies gilt zumindest fur die größeren Bauern im Ravensberger Land, über die berichtet wird: »Die vermögenden bäuerlichen Wirte wüßten auch den Wert des größeren Grundbesitzes so wohl zu schätzen, daß siejede Gelegenheit benutzten, gut gelegene Parzellen an sich zu kaufen und insbesondere die früher von ihren Hufen ausgegebenen Erbpachtstücke wieder an sich zu bringen. « 2 l e

Diese Arrondierung wurde erleichtert durch die schon überlieferte relative Geschlossenheit der großen Höfe in dieser Region, während die Flurzersplitterung der kleinbäuerlichen Betriebsflächen durch die Bodenmobilität noch vergrößert wurde. Die der Privatisierung der Gemeinheiten folgende >Verkoppelung< der Grundstücke, ihre Zusammenlegung zu betriebswirtschaftlich günstigen Flächen erfolgte dagegen in durchgreifendem Ausmaß erst seit den 1860er Jahren 219 . Ein Indikator relativer Ertragssteigerung ist die Viehhaltung pro Flächeneinheit. Eine Zunahme der Vieheinheiten pro Fläche bedeutet einerseits ein größeres Futtermittelaufkommen und andererseits mehr Dünger, sie repräsentiert also zwei Dimensionen der »rationellen Landwirtschaft«. Rechnerisch nahm der Viehbestand pro Quadratmeile im Rgbz. Minden nach einer Stagnation in den ersten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts von 2086 Rindvieheinheiten im Jahre 1831 auf 2466 Einheiten im Jahre 1849 zu 2 2 0 . Tatsächlich war der Fortschritt der Viehwirtschaft und damit die daraus mögliche Intensivierung der Bodenwirtschaft bescheidener. Am stärksten vermehrten sich nämlich neben den Schweinen die weideextensiven und anspruchslosen Schafe und Ziegen (Tabelle 7, S. 140). Läßt man die irregulären Verhältnisse um 1822 außer acht 221 , dann kann man Tabelle 7 so erläutern: Der leichte Rückgang der Pferde war ein Effekt der Ablösung der Dienste bzw. ihrer Geldumwandlung. Die nicht mehr zu Fuhren verpflichteten mittleren Bauern gebrauchten nun Kühe als Zugvieh, während die größeren Bauern die Pferde behielten, die dadurch auch ein 139

Tab. 7: Prozentuale Z u n a h m e der Vieharten im Rgbz. Minden, 1816-1849 2 2 2 Jahr

Pferde

Rinder

Schafe

Ziegen

Schweine

1816 1822 1831 1840 1849

100 105 91 95 95

100 110 102 108 117

100 128 104 157 172

100 118 139 191 255

100 118 119 164 182

besonderes Statussymbol w u r d e n 2 2 3 . Daneben läßt das auch erkennen, daß die Inhaber der vielen neuen H ö f e keine Pferdebauern waren. D i e Z u n a h m e der Rinder, Schweine und Schafe ist deutlich konjunkturell bestimmt: die Fleisch- und Wollpreise stiegen wie die Getreidepreise seit den 1830er J a h ren, w o b e i die Schafwirtschaft nur von den großen Gütern, zunächst auch als Kompensation für die niedrigen Getreidepreise, w a h r g e n o m m e n w u r d e 2 2 4 . D i e weit geringere Z u n a h m e der Rinder gegenüber den Schweinen verweist noch auf die Grenzen der Viehzucht: die Schweine waren angesichts eines noch relativ geringen Futtermittelbaus leichter, gerade auch von den Kleinbauern, mit Kartoffeln u. ä. zu futtern. Der Verkauf von Speck und Schinken war ein nicht unbedeutender Einkommensfaktor für den kleinbäuerlichen Haushalt. A m stärksten haben sich freilich die Ziegen vermehrt, w o z u besonders die Gemeinheitsteilungen beigetragen haben. Nicht nur die Heuerlinge, auch die Kleinbauern verloren mit der kollektiven Weide die relativ billige Möglichkeit der Rinderhaltung, die sie offenbar durch Ziegen kompensierten. Auffallenderweise war die Ziege als die sprichwörtliche » K u h des armen Mannes« in den gewerbeärmeren Kreisen, vor allem in Warburg und Höxter, relativ weiter verbreitet als i m gewerbedichten M i n den-Ravensberg, was wieder darauf verweist, die Viehhaltung der protoindustriellen Unterschicht nicht zu überschätzen 2 2 5 . Mit d e m Schwund, wenn auch sicher nicht einem völligen R ü c k g a n g der klein- und unterbäuerlichen Rinderhaltung ist die Vermehrung der Rinder u m so mehr als ein Phänomen der mittel- und großbäuerlichen Landwirtschaft zu sehen. Diese Bauern gewannen aus den Gemeinheitsteilungen zusätzliche Ländereien, die für Futtermittelbau und Wiesen verwendet werden konnten. Sie setzten die Rinderhaltung aber noch vornehmlich instrumentell, zur Verbesserung des Düngers und damit der Ackererträge ein, was auch den relativ langsameren Anstieg der Rinderhaltung gegenüber den anderen Vieharten erklärt. D i e mangelnde Massenkaufkraft setzte der Fleischproduktion von der Nachfrageseite her noch enge Grenzen. D i e bäuerliche Vieh Wirtschaft behielt so bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts noch die dem Ackerbau dienende Funktion, wie es für die Viehhaltung in der »vorindustriellen« Landwirtschaft insgesamt charakteristisch ist 2 2 6 . Ü b e r die Erträge des Ackerbaus sind bis 1850 nur wenige und in ihrer 140

Repräsentativität zweifelhafte Angaben überliefert. Sie deuten allerdings auf eine nicht unwesentliche Steigerung des Ertrags pro Flächeneinheit hin. Im Kr. Bielefeld wurde je nach Bodenqualität das 6- bis 12fache der Aussaat geerntet. Aber auch auf schlechteren Böden im Kr. Halle erntete in den 1840er Jahren ein Bauer so viel, wie um 1800 nur auf guten erzielt wurde. Tab. 8: Bodenerträge in Ravensberg in dz/ha, ca. 1845227

Weizen Roggen Kartoffel

A

В

С

13-20 15-22 100-180

8-12 10-14 153-172

15-25 13-19 192-230

A = Bäuerliche Betriebe im Kr. Bielefeld В = Bäuerliche Betriebe im Kr. Halle С = Gut Oberbehme im Kr. Herford

Nimmt man die Mittelwerte aus Lengerkes Angaben (Tabelle 8) und vergleicht sie mit Ravensberger Ertragsschätzungen um 1800, dann liegen sie bei Weizen um 25% bis 150%, bei Roggen um 14% bis 25% höher. Diese Steigerungen liegen bei Roggen innerhalb derjenigen, die auf großen Gütern erzielt wurden. Es bezeugt den guten Stand der bäuerlichen Betriebswirtschaft, wenn deren Roggenerträge an diejenigen des >Mustergutes< Oberbehme heranreichten. Die angegebenen Erträge liegen deutlich über den durchschnittlichen Erträgen in Gesamtpreußen und Westfalen (10-12 dz/ha für alle Getreidesorten) und bewegen sich im Rahmen des Ertragsniveaus der hoch entwickelten sächsischen Landwirtschaft. Außerordentlich hoch waren die Kartoffelerträge, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts in ganz Preußen etwas über 50 dz/ha und in Sachsen rd. 145 dz/ha betrugen. Sie haben sich auf den bäuerlichen Höfen wahrscheinlich nur wenig verändert; schon aus dem frühen 19. Jahrhundert wird aus Ravensberg ein Ertrag von 70 bis 80 Scheffel Kartoffel pro Morgen (oder 153 dz/ha) berichtet. Das weist zurück auf den guten Stand der ravensbergischen Landwirtschaft um 1800228. Allerdings ist gerade in Zeiten eines wenn auch langsamen, so doch tiefgreifenden Wandels der agraren Betriebswirtschaft mit je nach Bodenlage, Kapitalausstattung, Kenntnissen und Risikobereitschaft individuell stark variierenden Erträgen zu rechnen. Vermutlich repräsentieren die in Tabelle 8 genannten Erträge Spitzenwerte, wie die auf einer breiteren und zuverlässigeren Grundlage erhobenen durchschnittlichen Ertragszahlen für die einzelnen Kreise aus dem Jahre 1879 annehmen lassen229. Diese Ertragsangaben liegen niedriger, sie weisen aber auch überdurchschnittlich gute Erträge in den minden-ravensbergischen Kreisen aus und insbesondere auch höhere Erträge in diesem Gebiet als im Paderborner Land (fur das frühere Ertragszahlen nicht zu finden waren). Hier wurde infolge meist schlechterer Böden bei allen Anbaufrüchten deutlich weniger geerntet. Das agrarwirtschaftliche 141

Gefalle zwischen Minden-Ravensberg und Paderborn hat sich also auch im 19. Jahrhundert erhalten. Die Expansion der Anbauflächen und die Steigerung der Erträge führte nicht zu einer Verbesserung der Ernährung. Nur mühsam und nicht überall hielt die agrarische Intensivierung mit der Bevölkerungsvermehrung Schritt. Unterdurchschnittliche Ernten rissen die malthusianische Lücke auf, teils reichten auch durchschnittliche Getreideernten nicht übers Jahr; »oft monatelang« mußten sich die Menschen »ohne Brod von Kartoffeln erhalten« 230 . In Ravensberg wurde nur im Kr. Herford das notwendige Brotgetreide produziert, in den Kreisen Bielefeld und Halle aber nicht die Hälfte davon. Wenn trotzdem Butter, Speck usw. »ausgeführt« wurden, dann resultiert das aus einem notwendigen Konsumverzicht und der fehlenden Kaufkraft des »großen Teils der Bevölkerung«, der sich mit »Kartoffeln und trocknem Brode begnügen mußte« 2 3 1 . In der Tat war die Kartoffel-das wohlfeilste und ergiebigste, aber auch schlechtere Nahrungsmittel im Vergleich zum Roggen - eine Grundlage sowohl für das Bevölkerungswachstum 2 3 2 als auch für die agrarwirtschaftliche Expansion. Für die Kleinbauern, Neusiedler und Heuerlinge war sie bis zu einem gewissen Punkt Getreideersatz, zumal auf den Randböden, da die Kartoffel auch auf weniger gutem Boden wächst. Weil sie, wie jede Hackfrucht, eine sorgfältige Bodenbearbeitung verlangte, war sie auch ein Katalysator der landwirtschaftlichen Intensivierung, da mit ihr auch die schlechteren Böden stärker bearbeitet wurden. Darüber hinaus hat die Kartoffel als weithin verwendetes Viehfutter zum viehwirtschaftlich induzierten Intensivierungskreislauf beitragen 233 . Trotz der zeitüblichen Kritik an der bäuerlichen Landwirtschaft auch in Minden-Ravensberg kann man doch festhalten, daß diese überdurchschnittlich gut entwickelt war. Das wurde schließlich auch von einem Kritiker wie Gülich konzediert, wobei er zugleich auf das bäuerliche Mittel zum agrarischen Fortschritt hinwies: die »sorgfältige Bearbeitung des Bodens« habe den »Mangel an Dünger einigermaßen ersetzt« 234 . Der - wie im 18. Jahrhundert - durch Mehrarbeit vorangetriebene Fortschritt wäre freilich nicht möglich gewesen ohne das große Arbeitskräftepotential der ländlichen U n terschichten, auf das die Bauern zurückgreifen konnten, infolge der Krise der Textilindustrie sogar zu relativ geringeren Kosten. Auch der im Vergleich zu späteren Zeiten noch relativ bescheidene agrarische Fortschritt war antagonistisch und trug bei zu den sozialen Spannungen auf dem Lande; darauf wird noch zurückzukommen sein.

c) Kleinbäuerliche

Grenzen der agrarischen

Intensivierung

Die zeitgenössische communis opinio über die rückständige Landwirtschaft der meisten Bauern ist sozial ziemlich eindeutig einzugrenzen. Schon ein 142

flüchtiger Blick auf die bäuerlicher Besitzstruktur zeigt, daß diese »meisten« kleine und mittlere Bauern waren. U m die Mitte des 19. Jahrhunderts waren im Rgbz. Minden mehr als 75% aller Besitzungen kleiner als 30 Mg, fast die Hälfte waren nicht größer als 5 Mg 2 3 S . Obwohl auch diese kleinen und mittleren Bauern über eine Steigerung des Arbeitsaufwands höhere Erträge erzielten und über die sich konstituierenden kleinräumigen inneren Märkte auch an der Kommerzialisierung der Landwirtschaft teilnahmen, standen ihnen doch die Hindernisse fur einen agrarischen Strukturwandel in gehäufter Form entgegen. Erst später, mit der stärkeren Erschließung des Landes durch Verkehrsmittel, unter dem harten Zwang zu »Selbstausbeutung«, Verschuldung und schließlich mit Hilfe einer stützenden Wirtschafts- und Sozialpolitik, vollzogen die Kleinbauern im 19. Jahrhundert diesen Wandel. In ihrem Jahres verwaltungsbericht von 1837 resümierte die Forstverwaltung der Mindener Regierung die Gründe, weshalb die Gemeinden in den Paderbornischen Kreisen sich hartnäckig weigerten, ihre Weideberechtigungen in den Staatsforsten abzulösen 236 : 1. Diese Berechtigungen seien ihnen noch unentbehrlich, da die Kleinbauern die Stallfutterung noch nicht kennen. Der Rückstand in der betriebswirtschaftlichen Methode, obwohl der Boden fur den Futtermittelbau geeignet sei, gehe wiederum zurück auf: 2. die große Armut der Bauern, die ihnen nicht erlaube, Bodenflächen zum Kleeund Futtermittelbau dem Getreideanbau zu entziehen. 3. Den Mangel an Großvieh und damit an Dünger. D. h., in der kleinbäuerlichen Ziegen- und Schweinewirtschaft war auch die Stallfutterung wenig sinnvoll. 4. Die Belastung der bäuerlichen Felder mit Servituten der adeligen Grundherren. Die Bauern fürchteten, daß die Schafherden der großen Güter den Klee wegfressen würden. Endlich verhindere jeden Fortschritt 5. die »Abneigung gegenjede Neueinrichtung«.

Daraus geht ein Zustand der Agrikultur hervor, wie ihn für Paderborn Schwerz schon eine Generation früher kritisch dargestellt hat. Die ersten vier Punkte umschreiben in verschiedenen Aspekten die objektive Barriere gegen ökonomische Innovationen bei den Kleinbauern. Geringe Erträge und eine nur kleine Marktquote, Kapitalmangel und - wie man noch hinzufugen muß - eine enorme Verschuldung infolge steuerlicher und feudaler Belastungen stifteten einen fatalen Zirkel, den aufzubrechen die Kleinbauern selbst nicht in der Lage waren, ja, zu dessen gleichsam schlechter Reproduktion sie noch auf außeragrarische Einkommen und eine dauernde Borgwirtschaft angewiesen waren 237 . Eine Hilfe von außen, d. h. durch den Staat, wurde den Kleinbauern dabei nur in sehr geringem Umfang zuteil. Zwar ist die positive Wirkung der Tilgungskasse zur Erleichterung der Ablösung in den vier Paderborner Kreisen nicht zu leugnen; es war eine langfristige Hilfe, sofern die Schuldenlast aus der Ablösung zeitlich gestreckt wurde. Die mit ihr verbundenen unmittelbaren Hilfsmaßnahmen waren aber ein Schlag ins Wasser. Die 143

Kapitalhilfen in Form von Darlehen zur Anschaffung von Inventar waren gegenüber dem Bedarf absurd gering. Während allein den 1500 von privaten Gutsherren abhängigen Bauern des Kreises Paderborn Inventar im Wert von knapp 65 000 Talern fehlte, umfaßten die Darlehen bis zur Einstellung dieser Hilfe im Jahre 1841 in allen vier Paderborner Kreisen nur einen Betrag von 12105 Talern, davon 3145 Taler für den Paderborner Kreis 238 . Andere Formen der agrarischen Entwicklungshilfe^ ebenfalls von geringem U m fang, waren implizit für die größeren Bauern bestimmt 2 3 9 . Bleiern drückte die objektiv begründete Unfähigkeit auch auf die subjektive Motivation zu einer möglichen agrarischen Innovation. Wenn die gebildeten Zeitgenossen durchweg die Trägheit, Unwissenheit und den ökonomischen Traditionalismus kritisierten und diese Verhaltensweisen nicht selten als die »wesentliche Quelle« von Armut und Rückständigkeit bezeichneten 240 , dann haben sie nicht nur die Armut verharmlost, sondern auch das spezifische Geschick, unter solchen Bedingungen überhaupt zu wirtschaften, unterschlagen, ja wahrscheinlich gar nicht wahrgenommen. In der Tat war die kleinbäuerliche Landwirtschaft trotz ihrer hohen Arbeitsintensität doch nur eine »scarcely controlled poverty« (S. van Bath) 241 , die sich schon wegen des Risikos von Innovationen gegen solche konservativ verhalten mußte. In ihrer häufigen Form der Kombination von Landwirtschaft und Gewerbe verlangte sie aber auch ein bestimmtes Maß der Kalkulation der Ressourcen, Preise, Arbeitszeiten, Nützlichkeit usw., deren Ratio vielleicht gerade darin liegen konnte, am »alten Schlendrian« festzuhalten. Gegen einen Vorschlag, den Kreislauf intensiverer Landwirtschaft durch vermehrte Viehhaltung dadurch zu beginnen, den Getreidebau zugunsten des Futtermittelbaus einzuschränken 242 , konnte nicht nur auf die absolute Notwendigkeit des Getreides als Lebensmittel und die Landknappheit hingewiesen werden; darüber hinaus ist gar nicht sicher, ob bei der gegebenen Ackerfläche der vermehrte Gewinn den gesteigerten agrarischen Arbeitsaufwand einerseits, den Verlust an gewerblicher Arbeitszeit und damit außeragrarischen Einkommen andrerseits auch lohnte. Aus negativer Sicht werden diese Zusammenhänge aus einem Bericht der Domänenverwaltung deutlich, die 1845 schrieb: »Die Folgen eines mangelhaften Wirtschaftsbetriebes treten besonders in denjenigen Gegenden hervor, w o früher bei den hohen Garnpreisen den bäuerlichen Wirten aus dem Betriebe der Garnspinnerei ein ansehnlicher Nebenerwerb erwuchs, welcher hinreichte, einen großen Teil der ihnen obliegenden Leistungen zu decken, und durch welchen verwöhnt, sie ihren Wirtschaften weniger Aufmerksamkeit schenkten. « 243

Jene Überlegung bleibt freilich etwas spekulativ, da die Kleinbauern keine Dokumente über die Motive und den Charakter ihrer Agrarwirtschaft hinterlassen haben. Die Neugründung von kleinen und kleinsten landwirtschaftlichen Stellen, die ohne Einkommen als Spinner, Weber oder Hand144

werker nicht existenzfähig waren, bezeugen nicht nur den »Instinkt« der Unterschichten zum Besitzerwerb 2 4 4 , sondern gründeten offenbar auch in einer ökonomischen Kalkulation, die Landwirtschaft und Gewerbe nicht alternativ, sondern komplementär ansetzte und dabei freilich gegen den modernen ökonomischen Rationalismus verstieß. Die Proto-Industrie in Minden-Ravensberg und das ländliche Handwerk im Paderborner Land haben also noch im 19. Jahrhundert einen agrarischen Stellenausbau mitgetragen, der gleichzeitig ein strukturelles Hindernis für die Intensivierung der Landwirtschaft sein mußte, denn diese implizierte eine betriebswirtschaftliche Trennung von ländlicher Industrie bzw. ländlichem Gewerbe und Agrarwirtschaft. Der sich fortsetzende agrarisch-protoindustrielle Landesausbau konnte auch Rückwirkungen auf die bäuerlichen Wirtschaften selbst haben, die ebenfalls innovationshemmend wirkten. Wie es scheint, scheuten unter besonders ungünstigen Bedingungen wie hoher Verschuldung und schlechtem Boden die Bauern das Risiko ökonomischer Reform auch deswegen, weil ihnen die Ausbeutung des Heuerlingsverhältnisses erlaubte, ihr Einkommen zu stabilisieren. Bitter stellte fur die Senne gleichzeitig mit der steigenden Belastung der Bauern eine Verwandlung des »patriarchalischen Verhältnisses« zwischen Bauern und Heuerlingen in ein »System der Speculation, der Ausbeutung der Reste des Wohlstandes wie der Armut bei den Heuerlingen« fest. Die Bauern verpachteten einen großen Teil, in der Senne mehr als ein Drittel, ihrer Ländereien, j a selbst noch einen Teil des Inventars der Heuerlingshaushalte zu hohen Preisen. Der Heuerling wurde so zur »notwendigen Erwerbsquelle« besonders für den kleineren Bauern, ja selbst wiederum für den Neubauern 2 4 5 . Nicht nur der Fortschritt, auch der Rückschritt oder die Stagnation belastete also das Verhältnis der sozialen Klassen auf dem Lande. Beide Fälle wurden maßgeblich durch die Struktur und Entwicklung des ländlichen Gewerbes bzw. der Proto-Industrie bestimmt, deren für das 18. Jahrhundert festgestellte Differenz zwischen Minden-Ravensberg und Paderborn im 19. Jahrhundert fortdauerte.

145

V. Entwicklungen im gewerblichen Sektor 1. Konjunkturen, Krisen und zögernde Industrialisierung Die Veränderungen im Agrarsektor waren widersprüchlich: einer partiellen Intensivierung der Landwirtschaft der größeren Bauern stand eine Fortsetzung des Landesausbaus im Kontext der ländlichen Industrie gegenüber. Wie selbstverständlich letzteres den Zeitgenossen war und welche Hoffnungen sie auf die Verbindung von Parzellenwirtschaft und Gewerbe gründeten, zeigt selbst noch 1837 der Bielefelder Landrat: »Wer in der Gemeinde Jöllenbeck, wo auf weniger als dem dritten Teile einer Quadratmeile über 4000 Menschen leben, die sorgfältige Kulturj eden Fußtritt Landes und die Wohlhabenheit, welche aus allen Häusern hervorleuchtet, sieht, wird sich der Bemerkung nicht erwehren können, das dies ein schlagender Beweis sei, wie Landwirtschaft und Fabrikbetrieb sich gegenseitig beleben, und wie wünschenswert es sei, daß der kleine Fabrikant Gelegenheit finde, ein Grundeigentum zu erwerben, (i1

Aber dieses kleine Grundeigentum war teuer und bildete bei den meisten nicht das erhoffte Krisenpolster. Das ländliche Gewerbe und besonders die Textilindustrie blieb doch der Hauptpfeiler der ökonomischen Existenz der ländlichen Unterschichten. Ihrer Entwicklung kommt daher ein entscheidendes Gewicht für die ökonomische und soziale Lage der Unterschichten während des Vormärz zu. In keiner landesgeschichtlichen Darstellung dieses Zeitraums fehlen Hinweise auf die »Not der Spinner und Weber« und die Krise, den Verfall oder Niedergang des traditionellen Leinengewerbes. Zu schnell verschwinden dabei hinter der Schilderung der zeitgenössischen Klagen und der Massenarmut die Strukturen der Krise, die oft nur pauschal in zwei Ursachen bestimmt wird: den Absatzverlusten infolge der Kontinentalsperre und der englischen Konkurrenz durch die industriekapitalistische Textilproduktion. Angeblich erfolgte so seit Anfang des 19. Jahrhunderts ein kontinuierlicher Niedergang des westfälischen Leinengewerbes. Ein näherer Blick auf die Handelskonjunktur zeigt jedoch etwas anderes. Selbst die detaillierte Darstellung von Hans Schmidt verwirrt mit der breiten Darstellung aller Momente, die in der Krise der 1840er Jahre sich aktualisierten (Absatzrückgang, Preisverfall, englische Konkurrenz, Flachsmangel, Mißernten, Produktverschlechterung, Kaufsystem), mehr das Bild als es zu klären. Nicht alle Momente, welche die Krise verschärften, habe sie auch verursacht 2 . 146

Eindeutiger ist dagegen Adelmarins Bestimmung. Er begreift die Massenarmut als Folge einer »strukturellen Krise« des ländlichen Textilgewerbes in der Auseinandersetzung mit der englischen und belgischen fabrikindustriellen Textilproduktion. Diese habe in dreifacher Weise auf jenes eingewirkt: (1) durch die »Substitutionskonkurrenz der billigen mechanischen Baumwollgarne«; (2) durch die Mechanisierung der Flachsspinnerei seit den 1830er Jahren und (3) durch die Mechanisierung der Weberei seit den 1840er Jahren 3 . Ausgehend von einer solchen Systemkonkurrenz zwischen Proto-Industrie und Fabrikindustrie ist über Adelmann hinaus aber nach der spezifischen Form und dem Verlauf dieser Konkurrenz zu fragen. Mögen auch die Anstöße in der Krise von außen erfolgt sein, krisenhaft wurde die Konkurrenz erst dadurch, daß das System der Proto-Industrie im Laufe dieser Konkurrenz seine Möglichkeiten, die Herausforderung zu verarbeiten, aufzehrte 4 . Neu waren nicht sinkende Einkommen bzw. Niedrigpreise, sondern, daß die fabrikindustrielle Produktion auch diese Preise noch unterbieten konnte. Anders gesprochen: Zur Krise des Leinengewerbes gehört notwendig die Krise der Produktionsverhältnisse der Proto-Industrie. Mit dieser Problemstellung lassen sich mehrere Punkte schärfer fassen, die für Lage und Verhalten der Unterschichten zentral sind: die verschiedene Entwicklung in den einzelnen Produktionsstufen der ländlichen Textilindustrie, die schichtenspezifische Wirkung der Krise und damit verbunden ihr Verlauf5.

a) Krisenhaftes

Wachstum der

Leinenweberei

Die Leggezahlen für das Bielefelder Feinleinen6 zeigen einen Anstieg von Produktion und Absatz seit dem späten 18. Jahrhundert, der nur unterbrochen wurde durch einen lang anhaltenden Rückgang nach der Kontinentalsperre bis Mitte der 20er Jahre. Diese im ganzen expansive Tendenz der Leinenindustrie bis in die 1840er Jahre noch auf der Basis der alten Produktionsverhältnisse widerspricht den dauernden Klagen über Verfall und Rückgang des Leinenhandels der Kaufleute. Neben wirklichen Schwierigkeiten des Geschäfts waren diese Klagen auch eine Geschäftstaktik im Kaufsystem, mit der den Webern gegenüber die Preise niedrig gehalten werden konnten 7 . Der Widerspruch zwischen den Klagen und der statistisch evidenten Ausweitung des Handels ist besonders groß in den 1790er Jahren. Die Zeitungsberichte der städtischen Magistrate an die KDK Minden sprechen in diesen Jahren mit wenigen Ausnahmen ständig von Stockungen und schlechten Aussichten im Leinenhandel, den nur ein baldiger Friede hoffentlich wieder bessern werde. Im Gegenteil scheinen jedoch gerade die Kriege bis über das Jahr 1800 hinaus dem Leinenhandel neue Märkte erschlossen zu haben. Direkte Aufkäufe der Armeen, vor allem aber der Ausfall der franzö147

sischen Leinenproduktion während der Revolution eröffnete dem deutschen Leinenexport die bis dahin französischen Märkte in Mittel- und Südamerika. Das bedeutet, daß gerade in dieser Zeit der Bielefelder Leinenhandel Zugang zu einem neuen Markt gewann, der die Grundlage des neuen Aufschwungs nach 1825 wurde. Ohne daß die bis dahin das meiste Ravensberger Leinen aufnehmenden nordosteuropäischen Absatzmärkte verlorengingen, wurden also noch neue hinzugewonnen. Auch Frankreich und Belgien, daneben auch Spanien und die Balkanländer kauften nun Bielefelder Leinen 8 . Eines verdeutlicht noch den Aufschwung der 1790er Jahre. Im Juni 1798 berichtete der Amtmann aus dem Weberzentrum Schildesche bei Bielefeld, daß die reichsten Weber »angefangen (haben), ihr Leinen selbst bleichen zu lassen und damit die Messen zu beziehen, u m so den Profit, welchen sonst die Leinwandhändler erhielten, selbst zu acquirieren«. Auch dieser U m stand mag Anlaß für die Klagen der Kaufleute über die schlechten Geschäfte gewesen sein, da sie den selbständigen Verkauf der Weber als einen Angriff auf ihre monopolistisch gestützten Gewinne betrachteten 9 . Die Wirkung der Kontinentalsperre auf den Leinenhandel ist schwierig abzuschätzen. Entsprechend ihrer zweischneidigen Wirkung: Absperrung von überseeischen, aber auch Schutz von kontinentalen Märkten, wird sie fur den Ravensberger Leinenhandel unterschiedlich eingeschätzt. Einmal werden der Verlust der überseeischen Märkte und die Finanzschwierigkeiten der Kaufleute infolge der Bankrotte von Handelsfirmen in den Hansestädten, mit denen die Bielefelder Kommissionsgeschäfte tätigten, betont, und demzufolge ein Rückgang des Exports behauptet. Andererseits wird der kompensatorische Effekt der stärkeren kontinentalen Nachfrage, vor allem in Holland, in der Schweiz und den nordeuropäischen Staaten infolge der Absperrung von englischen Waren betont. Die Legge-Zahlen sprechen für die zweite Version, abgesehen von einem Rückschlag im Jahre 1807/08 durch die Störung des Handels mit Nordosteuropa und Geldmangel infolge von Währungsoperationen der Besatzungsmacht 1 0 . Schwerer als die Kontinentalsperre als solche wirkte die napoleonische Territoralpolitik im Jahre 1811. D e m auf ganz Nordwestdeutschland erweiterten Kaiserreich Frankreich wurden auch die Teile der Grafschaft Ravensberg einverleibt, welche die Weber in der U m g e b u n g Bielefelds mit Garn versorgten. Dieses wurde dadurch knapp und teuer. Hinzu kamen die Auswirkungen des Tarifs von Trianon von 1810 (erhöhte Besteuerung von Kolonialwaren) auf die Kommissionsgeschäfte mit den Großhändlern in den Hansestädten, Zollerhöhungen in Holland, Italien und schließlich eine hohe Besteuerung des Weserhandels - eine Kumulation von Hindernissen, welche die Kauflaute ihren Einkauf einschränken ließ. Niedrige Leinenpreise und teures Garn, aber auch die Kriegspflicht vieler Weber führte endlich auch von der Produktionsseite her zu einem deutlichen Rückgang. Besonders Weber mit mehreren Webstühlen setzten einen Teil ihrer Stühle 148

außer Gang: gegenüber 1806 waren in der U m g e b u n g von Bielefeld i m j a h r e 1814 15% weniger Webstühlein Betrieb 1 1 . Wie die Legge-Zahlen zeigen, hielt dieser Rückgang bis Mitte der 1820er Jahre an, wenn auch zu berücksichtigen ist, daß der schwindende Absatz an gebleichter Leinwand zu einem Teil kompensiert wurde durch einen größeren Verkauf von ungebleichter Leinwand vor allem nach Frankreich 12 , daß ferner manche Weber, nun nicht mehr in Aussicht auf hohe Gewinne wie 1798, sondern aus N o t wieder zum selbständigen Verkauf übergingen. Die Kaufleute schränkten ihre Einkäufe ein oder zahlten den Webern »nicht viel über den Wert des Garns« 13 . Nach 1825 expandierte der Absatz nach Mittel- und Südamerika, aber auch nach Frankreich und Spanien, während daneben noch innerhalb des Reiches und in den anderen europäischen Ländern verkauft wurde. Eine zunehmende Bedeutung erlangte insbesondere der Handel nach Rußland 1 4 . Anders als ζ. B. die schlesische Leinenweberei, die seit dem frühen 19. Jahrhundert zugunsten der Baumwollweberei zurückging 1 5 , erlebte die ravensbergische Feinleinenweberei etwa zur gleichen Zeit einen Aufschwung, als in England die technische U m w ä l z u n g der Leinwandproduktion erfolgte. Diese setzte auch hier später ein als der entsprechende Vorgang in der Baumwollindustrie, nämlich in den späten 1820er Jahren, als die mechanische Flachsgarnspinnerei verbessert wurde. Die erst in den folgenden Jahrzehnten gelösten technischen Probleme bei der mechanischen Herstellung von feinem Garn und feinem Leinen hoher Qualität schienen der qualifizierten Handspinnerei und -weberei eine Überlebenschance zu bieten. Gleichwohl geriet die proto-industrielle Handweberei in eine Systemkonkurrenz mit der Fabrikindustrie. Sie war seit den 1830er Jahren einer Preis-, Produkt- und Marktkonkurrenz mit der Baumwolle und dem aus Maschinengarn gewebten Handleinen, später auch mit dem mechanisch gewebten Leinen ausgesetzt. Auf der Seite des fabrikindustriell produzierten Leinens kumulierten sich mit der Zeit alle Vorteile: es wurde immer billiger und als Produkt besser. Die Waffe der Handweberei war dagegen eine ständige Senkung der Preise zu Lasten der Produzenten. Die Wirkung der englischen Konkurrenz war so nicht ein absoluter Rückgang des Absatzes, sondern ein relativer, dessen klassenspezifische Wirkungen eine Quelle des quälend langen »Niedergangs« der Proto-Industrie waren. In ihrem Jahresverwaltungsbericht von 1842/43 stellte die Mindener Regierung die kontinuierliche Ausdehnung der Bielefelder Leinenindustrie fest, welche die britische Konkurrenz nur in der Form beeinträchtigt habe, »daß ohne sie die Vermehrung noch bedeutender gewesen wäre, und daß dieselbe eine entschiedene Wirkung auf das Herabsinken der Preise ausgeübt hat, vornehmlich also auf das Sinken des Arbeitslohnes der Weber und demnächst des Profitsatzes der Kaufleute« 1 6 . In der Struktur ähnlich, aber aus der Sicht der Kaufleute, sprach auch der Verfasser des ersten Berichts der Handelskammer Bielefeld, Rudolf Delius, ein entschiedener Kritiker der 149

überkommenen Produktionsverhältnisse, nur von einem relativen Rückgang, gemessen an der Ausweitung des Textilmarktes, während die absolute Steigerung der Produktion durch die »große Konkurrenz und Tätigkeit des hiesigen Handelsstandes und durch äußerste Genügsamkeit unserer Spinner und Weber« erreicht worden sei 17 . Die familienwirtschaftliche Askese und »Selbstausbeutung« der Produzenten sowie der strukturelle Effekt des Kaufsystems hat den Kaufleuten noch eine gewisse Zeit die »traditionelle Höhe des Profits« (M. Weber) 18 ermöglicht. Dies war aber gewissermaßen nur noch eine Galgenfrist für die überkommenen Produktionsverhältnisse, die sich unter dem Preisdruck, den Veränderungen im Agrarsektor und unter der Last des Pauperismus zersetzten. Die Forderung nach Schutzzöllen wurde bei diesen Aussichten nicht zuletzt sozialpolitisch begründet. 1842 schrieb Gustav Delius, der größte Bielefelder Leinenhändler, in diesem Zusammenhang an die Berliner Regierung: »Der hiesige Kaufmann muß der Konkurrenz wegen bemüht sein, die Leinwand zu dem niedrigsten Preise an sich zu bringen, ohne Rücksicht daraufnehmen zu können, ob Weber und Spinner dabei bestehen können, da es ihnen doch schwer genug wird, die Ware wieder an den Mann zu bringen. Der Kaufmann aber leidet dabei am wenigsten und sucht sich durchzuschlagen. Was hilft es aber dem Staate, wenn hier allenfalls dreißig Handlungen ihr Geschäft notdürftig erhalten, während die ganze U m g e g e n d (d. h. die Spinner und Weber, J. M.) nach und nach verarmt?« 1 9

Es ist fast unmöglich, diese Aussagen durch Preisreihen zu kontrollieren. Die Leinenpreise variierten j e nach Maß und Qualität zwischen 10 und 100 Rt pro Stück, selbst bei den am meisten gefertigten Sorten noch zwischen 30 und 60 Rt. Anders als die Garnpreise wurden wohl auch aus diesem Grund - neben der argwöhnisch verschlossenen Haltung der Kaufleute - die Leinenpreise nicht von den Behörden verfolgt. Nach bruchstückhaft überlieferten Angaben sanken sie schon zwischen 1794 und 1834 um 50%; besser belegt ist der Preisfall um 20 bis 25% in den 1840er Jahren. Ein anhaltender Fall der Leinenpreise, soweit sie als Verkaufspreise der Weber betrachtet werden, wird aber plausibel, wenn man berücksichtigt, daß sie sich auch parallel zum Steigen oder Fallen der Garnpreise bewegten. Die Preise für das feinere Webergarn fielen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zwar nicht so stark wie für das grobe Garn, aber mindestens um 25% 2 0 . Die Gewinne der Kaufleute dagegen haben sich zumindest bis in den Anfang der 1840er Jahre hinein gehalten. Danach fielen sie von durchschnittlich 10% auf 7,5%. Wie Berichte von Beamten wahrscheinlich machen, waren diese Gewinne des größten Bielefelder Leinenhändlers, Delius, keine Ausnahme: »Das Wohlbefinden der Kaufleute geht aus eigenen Äußerungen hervor, aber auch aus dem Umstände, daß auch jüngere Handelshäuser in nicht langer Zeit zum Aufblühen und zum Wohlstand gelangt sind. « 2 1

150

Keines der Bielefelder Handelshäuser fallierte in den 1840er Jahren, im Gegenteil nahm die Zahl der Kaufleute von 40 imjahre 1840 auf 50 imjahre 1849 zu 22 , wobei allerdings die homines novi hauptsächlich Damast- und Seidenwebereien gründeten, die von der Krise des überkommenen Leinengewerbes nicht betroffen waren. Die Spinner und Weber hatten also so unrecht nicht, wenn sie in einer Eingabe an den Oberpräsidenten 1847 schrieben: »Was nun endlich noch das Preishalten und das Absetzen der Leinwand anbelangt, so beweisen die üppigen Testamente der Kaufleute deutlich und laut, daß sie ungeheuer gewinnen und gewonnen haben. Wird ζ. B. dies oder jenes Testament eines verstorbenen Kaufmanns geöffnet, dann hört man verkündigen: Dieser ist 80000, jener 100000 und darüber reich gewesen, der doch meistens nur mit einem kleinen Kapitale angefangen; ja, dann wird man gewahr, w o unsere sauren Schweißtropfen gesammelt und aufgespeichert sind. « 2 3

Die Gewinne der Kaufleute hielten trotz sinkender Preise auch so lange an, als sie die relativ sinkenden Gewinne durch vermehrten Umsatz kompensieren konnten. Diese Möglichkeit nahm jedoch ab mit dem Verlust des amerikanischen Marktes, den seit Mitte der 30er Jahre die englische Leinenindustrie immer mehr eroberte und Ende der 1840er Jahre fast vollständig besetzte. Seit den frühen 40er Jahren fiel die deutsche Leinenausfuhr dorthin rapide ab. Zwischen 1839 und 1842 sank der Bielefelder Absatz nach Südund Mittelamerika von 500000 auf250000 Rt, während in derselben Zeit die Einfuhr nach Frankreich, Spanien und Italien durch Zollerhöhungen erschwert wurde. Diese Marktverluste machten sich auf der Bielefelder Legge in einem Stagnieren des Ankaufs bzw. einer schwächeren Steigerung bemerkbar 24 . Diese Jahre scheinen der entscheidende Bruch in der Exportorientierung des traditionellen Leinengewerbes. Von nun an war es vornehmlich auf den »inneren Markt« angewiesen und in dessen Probleme verstrickt. U m 1850 war nach zeitgenössischen Schätzungen der Zollverein das fast ausschließliche Absatzgebiet für das deutsche Leinengewerbe: mehr als 90% aller produzierten Sorten Leinwand wurden hier verbraucht. Den Bielefeldern verblieb nur der Export nach Rußland 2S . Auf dem Binnenmarkt war der Leinenabsatz aber mit drei Problemen konfrontiert: 1. Der verstärkten Konkurrenz, da auch die anderen Produktionsregionen ihren auswärtigen Absatz verloren hatten. Die Preise sanken für die Hauptsorten gerade in den 1840er Jahren deutlich und anhaltend um 20 bis 25%. 2. Der Umwälzung der Nachfrage durch die billigere Baumwolle. Während der Pro-Kopf-Verbrauch von Leinen zwischen 1806 und 1849 bei 4 bis 5 Ellen fast stagnierte, erhöhte sich der entsprechende Verbrauch von Baumwolle von 0,75 auf 16 Ellen 26 . Angesichts der wachsenden Bevölkerung bedeutete dies noch keinen absoluten Rückgang, wohl aber eine Preiskonkurrenz dieser Produkte. 151

3. D e r E i n f u h r v o n Leinwand, m e h r n o c h v o n M a s c h i n e n g a r n 2 7 . Letzteres d r ü c k t e z w a r die P r o d u k t i o n s k o s t e n f ü r die Weber u n d w a r so ein gewisser Ausgleich f u r die niedrigen Leinenpreise; den T o d e s s t o ß versetzte es aber der einheimischen Spinnerei, so daß die Frage der Industrialisierung der Garnherstellung d r i n g e n d w u r d e . Eine andere k o n j u n k t u r e l l e E n t w i c k l u n g als das Feinleinen hatte das L ö w e n d l e i n e n , hauptsächlich infolge des verschiedenen G e b r a u c h s w e r t s der beiden G e w e b e . Jenes w a r ein Textil f ü r Kleidung u n d Wäsche, w ä h r e n d dieses n u r v o n Sklaven getragen u n d daneben zu Sack- u n d Packleinen verarbeitet w u r d e . I m K r . Halle differenzierte sich aus der L ö w e n d l e i n e n weberei u n t e r F ü h r u n g des Handelshauses Delius-Versmold die Segeltuchweberei, die seit den 1830er J a h r e n stark expandierte. W ä h r e n d in den ersten beiden J a h r z e h n t e n des 19. J a h r h u n d e r t s das Bielefelder Leinen w e n i g e r abgesetzt w u r d e , stieg der Verkauf des Löwendleinens in diesem Z e i t r a u m eher. D i e Verluste auf d e m amerikanischen M a r k t in den 1830er J a h r e n w u r d e n d u r c h eine stärkere N a c h f r a g e auf d e m europäischen K o n t i n e n t k o m p e n s i e r t . M i t der Z u n a h m e des Verkehrs stieg auch der Verbrauch v o n Segel- u n d P a c k t ü c h e r n . Die Register der Leggen i m K r . Lübbecke zeigen eine z u n e h m e n d e P r o d u k t i o n nach 1835, allerdings w o h l n u r n o m i n a l verursacht d u r c h den neuen L e g g e z w a n g seit 1842, was j e d o c h ein Indikator f ü r eine z u m i n d e s t gleichbleibende reale P r o d u k t i o n ist. I m Kr. Halle hat sich der Wert des in den H a n d e l gehenden Leinens v o n rd. 160000 R t in der M i t t e der 1820er J a h r e auf rd. 300000 R t in der M i t t e der 1840er J a h r e k n a p p verdoppelt. N o c h in den 1850er u n d 1860er J a h r e n w i r d v o n einem » s c h w u n g h a f t e n Betrieb« des Handels m i t Löwendleinen u n d Segeltuchen berichtet 2 8 . D i e stabilere K o n j u n k t u r dieser L e i n e n p r o d u k t e zeigt auch die Preisentw i c k l u n g . W ä h r e n d der Preis des Feinleinens in der ersten H ä l f t e des 19. J a h r h u n d e r t s etwa u m 2 5 % bis 50% fiel, e r h ö h t e sich der Preis des L ö w e n d l e i n e n s in den 1830er J a h r e n u n d sank in den 1840er J a h r e n u m etwa 2 0 % g e g e n ü b e r d e m Stand der späten 1830er Jahre. N a c h 1850 scheinen die Preise infolge einer Verbesserung der P r o d u k t e sogar wieder angezogen zu haben. E h e r steigende Preise zeigte auch das Segeltuchleinen 2 9 . Diese unterschiedliche E n t w i c k l u n g in den beiden Z w e i g e n der Leinen-

Тай. 9: Leinenwebstühle in M i n d e n - R a v e n s b e r g u n d P a d e r b o r n - C o r v e y , 1800-1846 3 0

absolut Minden Ravensberg Paderborn/Corvey

152

1629 3340 1861

1800 auf 1000 Einw. 23,1 37,1 15,8

absolut 6098 5692 1762

1846 auf 1000 Einw. 54,9 38,8 11,1

Weberei Minden-Ravensbergs spiegelt sich in der weit stärkeren Zunahme der Webstühle in Minden als in Ravensberg, also in der stärkeren Zunahme der Löwendleinenwebstühle (vgl. Tabelle 9, S. 152). Tabelle 9 illustriert einen proto-industriellen Ausbau in den im 18. Jahrhundert ausgebildeten Entwicklungsbahnen. Die Weberei expandierte in denjenigen Gegenden, in denen sie schon um 1800 verbreitet war. Das starke Wachstum im ehemaligen Fürstentum Minden (konzentriert auf den Kr. Lübbecke) zeigt von der gewerblichen Seite den agrarischen Stellenausbau durch Verkauf und Verpachtung von Land an die Heuerlinge. Der gegenüber Ravensberg sogar höheren Webstuhldichte hat aber keine vergleichbare Intensität der Weberei entsprochen. Der agrarische Unterbau, die saisonale Weberei und wahrscheinlich auch die geringeren Preise für das Löwendleinen haben das Weben im Status einer »nebengewerblichen« Tätigkeit gehalten 31 . Eine Traditionalität im Zeichen der Stagnation, ja einer rückläufigen Entwicklung zeigt das Paderborner Land, wo eine ähnliche Zunahme der agrarischen Kleinstellen nicht zu einer Expansion der Textilindustrie führte. Dieselben Faktoren wie im 18. Jahrhundert haben dabei eine Rolle gespielt: Der relative Mangel an Flachs und das Fehlen von kapitalkräftigen Kaufleuten 32 . Auch ein älteres Spezialgewerbe wie die Spitzenklöppelei in der Kleinstadt Lügde (Kr. Höxter) hat sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kaum verändert 33 . Zusammenfassend läßt sich die Entwicklung der Leinenweberei so umreißen: der von den Zeitgenossen und daran anschließend in der Literatur beschriebene Verfall des Leinengewerbes ist deutlich konjunkturell akzentuiert. Die Krise war zunächst ein Verfall der Preise, wenn auch nicht fur alle Sorten Leinwand gleichmäßig, der beschleunigt wurde seit etwa 1840 durch den Rückgang des überseeischen Exports und der verstärkten binnenwirtschaftlichen Konkurrenz, beides unter dem Druck der fabrikindustriellen Baumwollproduktion. Diesem »Niedergang« entsprach jedoch kein Produktionsrückgang. Im Gegenteil zeigen sowohl die Legge-Zahlen wie die Zahl der Webstühle eine Steigerung der Produktion, die sich asymmetrisch zur Konjunktur verhielt. Im Rgbz. Minden und besonders im Kr. Bielefeld entwickelte sich die Zahl der Leinenwebstühle wie folgt (Tabelle 10, S. 154). Die Zunahme der Webstühle folgt deutlich dem Handelsaufschwung seit Mitte der 20er Jahre; in der Krise der 1840er Jahre ist dagegen keine signifikante Veränderung zu beobachten, die statistisch ausgewiesene Zunahme von 1846-1849 ist jedoch unwahrscheinlich34. Im Vergleich mit Gesamtpreußen zeigt der Rgbz. Minden, besonders aber der Kr. Bielefeld, ein überdurchschnittliches Wachstum. Diese Zahlen, die zusammen mit den Produktionsziffern der Leggeregister eine reale Zunahme der Leinenproduktion anzeigen, zumindest bis in die 1840er Jahre, widersprechen der These von der stagnierenden hausindustriellen Leinenweberei in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts 35 . Die Expansion speiste sich aus der Bevölkerungszunahme, den Wirkun153

gen der A g r a r r e f o r m e n u n d , besonders in der S y s t e m k o n k u r r e n z m i t der Fabrikindustrie, aus der familienwirtschaftlichen Askese. D a n e b e n w a r sie auch ein Resultat der ungleichen E n t w i c k l u n g der verschiedenen Stufen der ländlichen Textilindustrie. Die Garnspinnerei nämlich w u r d e v o m Preisverfall f r ü h e r , nachhaltiger u n d stärker getroffen, so daß sich daraus, z u m i n d e s t Tab. 10: Leinenwebstühle i m R g b z . M i n d e n u n d in G e s a m t p r e u ß e n , 1822-1849 3 6 Jahr

Rgbz. Minden absolut Index

1822 1831 1843 1846 1849

8952 11565 13897 13797 16331

100 129 155 154 182

davon Kr. Bielefeld absolut Index 1146 1651 2454 2474 3119

100 144 214 216 272

Preußen absolut Index 219780 252448 310522 323151 322480

100 115 141 147 146

f ü r eine gewisse Zeit, ein relativer Vorteil f ü r die Weberei ergab, der v o n Spinnern m i t etwas Geld auch genutzt w u r d e : »Ganze O r t s c h a f t e n , in denen bisher das Spinnen üblich war, w a r f e n sich m e h r u n d m e h r auf das Weben g r ö b e r e r T ü c h e r . « 3 7 Z u einem Teil w u r d e dies, den sozialpolitischen F o r d e r u n g e n in der R e v o l u t i o n folgend, seit 1848 auch staatlich unterstützt, allerdings n u r f ü r ein paar J a h r e 3 8 . Die A u s d e h n u n g der L ö w e n d l e i n e n w e b e rei zehrte also auch v o m Verfall des Garnexports, o h n e j e d o c h i m m e r über den Bannkreis der A r m u t h i n a u s z u f u h r e n . I m Kr. Lübbecke ging m a n dazu über, das unverkäufliche M o l t g a r n selber zu L e i n w a n d zu v e r w e b e n , »aber auch diese fand n u r zu sehr g e d r ü c k t e m Preise Absatz u n d die Weber erhielten f ü r dasselbe häufig das f ü r das G a r n Ausgelegte nicht wieder« 3 9 . In diesem Licht g e w i n n t die Kontinuität der L ö w e n d l e i n e n p r o d u k t i o n u n d die relative Stabilität der Preise düstere Z ü g e . D e r e n stabiles N i v e a u w ä r e d e m n a c h n u r u m den Preis des Z u s a m m e n b r u c h s der Weberei zu u n t e r b i e ten gewesen, w ä h r e n d die P r o d u k t i o n d u r c h die alternativenlose »Selbstausb e u t u n g « u n d nicht zuletzt d u r c h die Arbeit des bäuerlichen Gesindes aufrecht erhalten w u r d e , die den B a u e r n auch n o c h bei scheinbaren Verlustgeschäften ein E i n k o m m e n ermöglichte.

b) Zusammenbruch

der Garnspinnerei

D i e R e d e v o m »Niedergang« der ländlichen Textilindustrie trifft in v o l l e m Sinne des Worts n u r f ü r die H a n d s p i n n e r e i zu. Sie w a r das » H a u p t g e w e r b e « der M e h r h e i t der unterbäuerlichen Schichten u n d ü b e r w o g die Weberei, was die Z a h l der Beschäftigten betrifft, bei w e i t e m . I m 18. J a h r h u n d e r t w a r das Spinnen überall verbreitet, auch unter der bäuerlichen B e v ö l k e r u n g . Z u mindest i m großbäuerlichen Haushalt ging es aber i m 19. J a h r h u n d e r t mit 154

dem Verfall der Garnpreise immer mehr zurück 40 , während für die nachwachsende Unterschicht das Spinnen eine noch größere Bedeutung für Arbeit und Einkommen erlangen mußte als das schon Ende des 18. Jahrhunderts der Fall war. Ein wachsender Teil der Heuerlingsbevölkerung, der kein oder zuwenig Land fand, mußte sich als Tagelöhner und Spinner verdingen. 1820 berichtete der Herforder Landrat, daß die Heuerlinge dieses Kreises bei der Vielzahl der Kleinbauern, die höchstens zur Ernte Tagelöhner benötigten, »mit wenigen Ausnahmen sich sämtlich nur ausschließlich von der Spinnerei ernähren« 41 . Trotz dieser >Verberuflichung< wurden die Spinner aber erst 1849 in die Berufsstatistik der Handwerkertabelle aufgenommen, zu einem Zeitpunkt also, als die Handspinnerei schon vom tödlichen Verfall gezeichnet war. Der Vergleich mit einer internen Zählung aus dem Jahre 1838 gibt aber doch einen Einblick in den Umfang der Spinnerei und das soziale Ausmaß ihrer Krise (Tabelle 11). Leider sind die Kriterien, die diesen Zählungen zugrunde gelegt wurden, nur ungenau überliefert und offenbar widersprüchlich. 1838 wurden die Spinnerfamilien nach Haupt- und Nebengewerbe differenziert, was implizit auch bei der Gewerbezählung 1849 in der Form geschah, daß nur die hauptgewerblichen Spinner gezählt wurden, die für den lokalen Absatz arbeiteten 42 . Nach diesem Maßstab allerdings entstehen zwischen den beiden Zählungen enorme Diskrepanzen. 3288 Spinnern »von Profession« im Jahr 1838 stehen 8568 im Jahre 1849 gegenüber. Da die entsprechenden Angaben für die einzelnen Kreise extrem schwanken, sind sie kaum aufeinander beziehbar. Daraus läßt sich nur soviel schließen, daß die Angaben von 1838 die vollständigeren sind. Der Rückgang der gezählten Spinnerfamilien von 30274 auf 8568 ist dagegen trotz aller Unsicherheiten ein Hinweis auf den Schwund von Arbeit und EinkomTab. Ii: Spinnerbevölkerung im Rgbz. Minden, 1838-1849 43 Kreis Minden Lübbecke Herford Bielefeld Halle Wiedenbrück Paderborn Summe A В С D

= = = =

А

В

С

D

4200 4832 7586 4116 1860 5480 2272

16800 19328 30344 16464 7740 21920 9088

30 40 50 37 24 59 28

3897 1365 2022 1153 127 94

30274

121684

39

8568

_

Spinnerfamilien im Jahr 1838 Bevölkerung dieser Spinnerfamilien im Jahr 1838 Prozentanteil der Spinnerfamilien an der Gesamtbevölkerung (Bezugsjahr 1839) Spinnerfamilien 1849

155

men infolge des Verfalls der Handspinnerei. Mit aller Vorsicht geschätzt wurde also mindestens die Hälfte der Spinner arbeitslos. Das gesellschaftliche Ausmaß dieser Krise enthüllt sich, wenn man den Anteil der Spinnerbevölkerung an der Gesamtbevölkerung berücksichtigt. Bei einer durchschnittlichen Familiengröße von vier Personen repräsentierten die Spinner in den genannten Kreisen im Jahr 1838 eine Bevölkerung von rund 120000 Menschen, das sind 39% der Gesamtbevölkerung. Zeitgenössische Schätzungen um 1850 liegen noch höher. Die Handelskammer Bielefeld schätzte die Spinnerbevölkerung ihres Bezirks (Kr. Herford, Bielefeld, Halle, Wiedenbrück) auf 100000, d. i. etwa die Hälfte der Gesamtbevölkerung, und Quentin schätzte für den Kr. Lübbecke sogar, daß von den rund 50000 Einwohnern dieses Kreises 33100, also zwei Drittel der Bevölkerung, die Spinnerei als Haupt- oder Nebengewerbe trieben 44 . Berücksichtigt man die Unsicherheit solcher Schätzungen, aber auch den Umstand, daß die »nebengewerbliche« Tätigkeit eine in den Gewerbezählungen nur ungenau erfaßte Grauzone bildete, wird man als groben Anhaltspunkt festhalten dürfen, daß mindestens die Hälfte der Bevölkerung Minden-Ravensbergs und Wiedenbrücks vom Niedergang der Handspinnerei unmittelbar betroffen war. Welche Elemente bestimmten nun die Krise der Handspinnerei? Anders als bei der Leinen Weberei wirkte sie doppelt: durch einen Preisrückgang und einen absoluten Nachfrageschwund infolge der zunehmenden Verwendung von mechanisch gesponnenem Garn. Wie beim Leinen wurde die Krise durch den Verlust von Exportmärkten offengelegt. Betroffen davon war vor allem das Moltgarn, ein grobes Garn aus weniger feinem Flachs, das hauptsächlich für die Herstellung von Zwirn und Bändern verwendet wurde. Der Preis für Moltgarn sank zwischen 1800 und 1850 kontinuierlich um mehr als die Hälfte, wobei der Abschwung schon seit den 1820er Jahren erfolgte 45 . Etwa zwei Drittel aller Spinner waren Spinner von Moltgarn. Dieses wurde vor allem nach Elberfeld, daneben auch nach Frankreich, Holland, Belgien und England exportiert. Diese Absatzgebiete gingen verloren im Maße, wie Baumwollgarn das Flachsgarn in der Herstellung von Bändern verdrängte, was seit den 1820er Jahren in Elberfeld 46 immer mehr üblich wurde, aber auch, wie mit der technischen Entwicklung die Flachsmaschinenspinnerei mehr und billigeres Maschinengarn herstellen konnte. Ende der 40er Jahre war trotz der extrem niedrigen Preise des Handgarns das Maschinengarn immer noch um 30% billiger. Bei den sinkenden Leinenpreisen konnten die Weber nur mehr mit Maschinengarn »etwas wenigstens verdienen, während sie bei Handgespinst fast umsonst arbeiteten« 47 . Infolge der Verwendung des Maschinengarns konnten die Handspinner die Verluste auf den auswärtigen Märkten auch kaum auf dem inneren Markt kompensieren. In Ravensberg wurde seit schon 1837 Maschinengarn für das Bielefelder Leinen verwebt, in immer steigendem Maße dann in den 40er Jahren, so 156

daß gegen 1850 - trotz gegenteiliger Behauptungen Bielefelder Kaufleute möglicherweise schon zwei Drittel der in der Weberei verbrauchten Garnmenge mechanischen Ursprungs war 48 . Über die Produktkonkurrenz hinaus wurde schließlich Anfang der 1840er Jahre der Absatz nach Frankreich und Belgien infolge hoher Schutzzölle fast unmöglich 49 . Allein nach England erfolgte noch ein gewisser Verkauf feiner Garne, deren mechanische Spinnerei noch Probleme machte. Die Preise für Feingarn waren etwa um ein Drittel höher als die Preise für Moltgarn. Der Garnexport zeigt einen deutlich anderen Verlauf als der Leinenexport 50 . Er fiel zunächst in den 1790er Jahren infolge einer rückgehenden Garnverarbeitung im bedeutendsten Absatzgebiet Elberfeld, dem durch die Revolutionskriege der französische Markt verschlossen war. Gleichwohl sanken die Preise nicht so deutlich wie nach 1820, als der Verbrauch von Flachsgarn in Elberfeld durch zunehmende Verarbeitung von Baumwollgarn zurückging. Anders als der Leinenhandel scheint der Garnhandel von der Kontinentalsperre weniger betroffen, zumindest nicht von ihren Nachwirkungen, da gerade nach den Kriegen England viel Garn aufkaufte. Gegen Ende der 20er Jahre ließ der englische Import von grobem Garn jedoch nach, da nun die mechanische Spinnerei von gröberem Garn einsetzte. Hervorgerufen durch schlechte Flachsernten und eine vermehrte Leinenproduktion stieg um die Mitte der 30er Jahre jedoch wieder der Absatz nach Frankreich, Holland und Belgien. Es waren die letzten Jahre, in denen die traditionelle Textilindustrie ein knapp ausreichendes Einkommen lieferte. Nach den schlechten Preisen um 1830 war es freilich nurmehr eine Erholung, der bald der Zusammenbruch in den 1840er Jahren folgte. Er zog das Eingehen von Garnhandlungen in Herford nach sich, während zur gleichen Zeit, wie schon erwähnt, die Zahl der Leinenhandlungen in Bielefeld noch zunahm. Der Schwund der Exportmärkte setzte für Garn und Leinen also etwa gleichzeitig ein, die folgenden Entwicklungen aber waren verschieden. Während das Leinen auch im Inland abgesetzt werden konnte, wurde den Spinnern mit der Einfuhr von Maschinengarn und der zunehmenden Herstellung von Maschinengarn im Zollverein selbst der Absatz auf dem »inneren« Markt verbaut. Die Produktion für die um 1840 entstehenden lokalen Garnmärkte 51 konnte nur weiter den Preis drücken-bis zu jenem Punkt, wo der Flachs gleich oder höher im Preis stand als das Garn. Im Jahre 1844 wares gegen Bargeld überhaupt nicht mehr, sondern nur noch gegen den Tausch von Waren zu verkaufen 52 . Anders als bei den Handwebern kann man bei den vielen Grobspinnern von einer wirklichen Arbeitslosigkeit bzw. einer technologisch bedingten Freisetzung von Arbeitskräften sprechen. Diese Spinner, infolge der gänzlich schwindenden Einkommen eine Kerngruppe des vormärzlichen Pauperismus, wurden nun vollends Opfer der Fabrikindustrialisierung. Nicht alle konnten die Freisetzung durch den Übergang zur Weberei, durch saisonale Wanderarbeit im Straßen- und Eisenbahnbau oder im Baugewerbe mühsam kompensieren; viele wanderten aus. Nur die »aller 157

ärmste Klasse, welche keine andere Beschäftigung ergreifen kann« 53 , setzte die Spinnerei fort. Zu dieser gehörten die Heuerlinge in der Senne im Kr. Bielefeld und Wiedenbrück, die als geübte Feinspinner bekannt waren. Von ihnen nahmen um 1850 belgische Unternehmer mehrere Tausend in Verlag und ließen sie Flachs spinnen, der aus Belgien in die Senne geliefert wurde 54 . In abnehmender Zahl und bei dürftigem Einkommen hielten sich die Handspinner des Feingarns, das zunächst noch nicht mechanisch gesponnen werden konnte, bis in die 1860er Jahre. 1852 bzw. 1855 wurden im Rgbz. Minden 9120 bzw. 9560 Leinengarnspinner »auf eigene Rechnung« (ohne Gehilfen) gezählt, 1858 dann 3474 und 1861 schließlich 1404. Sie konzentrierten sich in den Ravensbergischen Kreisen Herford, Halle und Bielefeld, seit 1858 nur noch im Kr. Bielefeld, wahrscheinlich auch im Zusammenhang mit der hier durch Vereine zäh aufrecht erhaltenen Weberei aus Handgespinst. 1875 zählte man im Rgbz. Minden noch 550 hausindustrielle Spinnereibetriebe, deren »Inhaber« und Beschäftigte bezeichnenderweise fast ausschließlich Frauen in entlegenen Dörfern waren 55 .

c) Industrien neben der

Textilindustrie

Die soziale Krise, der Pauperismus als Folge der Entwicklung des ländlichen Textilgewerbes war auch ein Resultat mangelnder ökonomischer Alternativen. Weder die mühsam fortschreitende Intensivierung der bäuerlichen Landwirtschaft noch andere Industrien boten genügende oder neue Arbeitsund Einkommenschancen für die arbeitslosen Spinner und verarmenden Weber. In der gesamten gewerblichen Struktur im Rgbz. Minden änderte sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wenig. Wie um 1800 dominierte auch um 1850 noch weithin die Textilindustrie, in der die Anfange der »neuen« Zweige wie die Damast- und vor allem die Seidenweberei noch eine geringe Rolle spielten. Von den im Jahre 1849 4069 im »Hauptgewerbe« betriebenen Webstühlen im gesamten Rgbz. Minden entfielen 3630 auf die Leinenweberei und nur 153 auf die Seidenweberei, 193 auf die Weberei von Baumwolle und 93 auf die anderer Stoffe. Auf den 13263 Webstühlen im »Nebengewerbe« wurde fast ausschließlich Leinen hergestellt 56 . Gemessen an der Beschäftigung folgte der Textilindustrie die Nahrungsmittelindustrie, in der die Mühlen, Siedereien, Brennereien und die Zigarrenindustrie zusammengefaßt waren. Diese beiden Industriegruppen umfaßten 1849 (ohne die »nebengewerblichen« Weber und ohne die Spinner!) in MindenRavensberg 92% von 9775, im Kr. Wiedenbrück 69% von 753 und in den Paderborner Kreisen 65% von 1760 »industriell« Beschäftigten 57 . Neben der Textilindustrie war die Tabakindustrie der einzige Industriezweig, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts expandierte, hauptsächlich in Minden-Ravensberg. 1796 wurden hier 82, 1840 schon 400 und im Jahre 1849 1115 Tabakarbeiter gezählt, bei 1316 Tabakarbeitern im ganzen 158

Rgbz. Minden 58 . In diesem Wachstum trat an die Stelle der älteren Tabakspinnerei, bei der der Pfeifentabak auf Rollen >gesponnen< wurde, die Zigarrenwicklerei. Besonders im Raum zwischen Herford und Minden war die Zigarrenindustrie eine Nachfolgeindustrie fur die ländliche Spinnerei, die allerdings Not und Arbeitslosigkeit noch wenig wenden konnte, da ihr breiter Aufschwung erst in den 1860er Jahren einsetzte 59 . Gleichwohl konnte sie um die Mitte des Jahrhunderts Fuß fassen, im Unterschied zu den hilflosen Versuchen mit Ersatzgewerben für die Spinnerei wie der Strohflechterei, die durch Spenden und staatliche Zuschüsse zwar recht und schlecht produzieren konnte, aber kaum einen Absatz für ihre Produkte fand 60 . Im Unterschied zu den anderen Industriezweigen war die Tabakindustrie 1849 eine städtische Industrie, die sich vor allem auf Minden und Herford konzentrierte. Während von der Gesamtheit der 12288 industriell Beschäftigten im Rgbz. Minden (wieder ohne die Weber im Nebengewerbe und die Spinner!) 58% in den Landgemeinden wohnten, lebten von den Tabakarbeitern nur knapp 10% auf dem Lande. Erst mit der starken Expansion in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die Zigarrenwicklerei zu einer überwiegend ländlichen Industrie und erst dabei breitete sich auch die Heimarbeit im Verlagsystem aus. Bis 1850 waren die Tabakarbeiter in relativ großen Fabriken oder besser Manufakturen beschäftigt, da kein Einsatz von Maschinen erfolgte. Im Durchschnitt aller Industriezweige des Rgbz. Minden kamen 1849 (je nach Kreis) nur zwei bis fünf Arbeiter auf einen Betrieb, in der Tabakindustrie hingegen 27 bis 47 Arbeiter. Die Tabakmanufakturen reichten damit an die (wenigen) traditionellen Großbetriebe der Glashütten im Paderborner Land heran, die zwischen 26 und 93 Arbeiter beschäftigten. Der größte industrielle Betrieb war 1849 die Eisenhütte in Holte (Kr. Wiedenbrück) im Besitz des Gutsbesitzers Tenge, in der 120 Arbeiter tätig waren. Hier wurde Roheisen gewonnen, was infolge Rohstoffmangels jedoch bald wieder eingestellt wurde; übrig blieb eine Eisengießerei 61 . Eine Industrialisierung außerhalb des Textilgewerbes erfolgte also bis 1850 nur in Ansätzen. U m so drückender war die Krise des Textilgewerbes. Die Proto-Industrialisierung zog mit ihrer regional-monogewerblichen Struktur sowohl in ihrer Aufschwung- als auch in ihrer Abschwungphase eine ganze Region in ihren Bann.

159

2. Die Krise der proto-industriellen Produktionsverhältnisse a) Die »Landesfabrik«

in der Systemkonkurrenz

mit der

Fabrikindustrie

Die ungleiche Wirkung der Preis- und Absatzkrise auf die Spinnerei und Weberei hat die alte arbeitsteilige »Landesfabrik« aufgelöst, was um so eher möglich war, als die bäuerliche Landwirtschaft mit den Agrarreformen und der Agrarkonjunktur sich strukturell neu orientieren konnte. Mit der Entwicklung der nationalen Volkswirtschaft dissoziierte der regional verfaßte agrarisch-gewerbliche Komplex der Proto-Industrie. Parallel zum Niedergang der Garnpreise verkümmerte der Flachsbau, die agrarische Grundlage der ravensbergischen »Landesfabrik«. Entsprechend der Expansion der Spinnerei im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts hat er noch einmal zugenommen, seit den 1840er Jahren aber löste sich diese agrarisch-industrielle Verflechtung auf, gefördert durch eine »rationelle« Landwirtschaft. Mehrfach beobachtete man eine Einschränkung des Flachsbaus bei den Bauern, für die angesichts steigender Getreidepreise und zunehmender Brennereien der Anbau von Kartoffeln und Getreide vorteilhafter wurde 6 2 . 1849 schätzte die HK Bielefeld, daß die größeren Bauern in Ravensberg nurmehr halb so viel Flachs bauten wie früher, weil sie keine zahlungsfähigen Käufer mehr fänden. Auf der anderen Seite ging auch der Flachsbau der Heuerlinge zurück, da die Pachten stiegen und sie angesichts der Verarmung und einer Verordnung zum Schutz der Pfändung ihrer letzten Habseligkeiten keinen Kredit mehr für den Leinsamen erhielten 63 . Die Einrichtung von lokalen Garn- und Flachsmärkten seit den späten 1830er Jahren und die Versteigerung des Flachses auf Auktionen sind Hinweise auf die Verbreitung einer Gruppe von »reinen« Berufsspinnern und die Auflösung des unmittelbaren Tausches zwischen Heuerling/Spinner und Bauer, den die Landräte der Minden-Ravensberger Kreise noch 1825 schildern 64 . Neben Herford wurden seit 1837 in Neuhaus bei Paderborn, seit 1839 in Minden und Bielefeld halbjährliche Flachs-, Hanf- und Garnmärkte abgehalten; daneben gab es wöchentliche Flachsmärkte, gerade für die armen Spinner, die Flachs nur in kleinen Mengen zu kaufen im Stande waren. Dennoch mußten gerade die Armen den höchsten Preis auf diesen Märkten zahlen. 1845 schilderten die Heuerlinge von Alten-Schildesche und Braake den Kauf des Flachses bei den »größeren Ökonomen oder Verkäufern« so: »Hier erhält er dann für schweres Geld meistenteils das schlechtere Produkt, vorzüglich aus dem Grunde, weil er nur für einen halben, höchstens für einen Taler Flachs dem Verkäufer abnehmen kann.« 65

N u r der kleinere Teil der Spinner war in der Lage, das noch als Kettgarn absatzfähige Feingarn zu spinnen, fur das ein guter und teurer Flachs nötig war. Die Weber verarbeiteten als Schußgarn immer mehr importiertes maschinengesponnenes Garn, so daß die Handspinnerei versiegen mußte.

160

Die überkommenen Produktionsverhältnisse zersetzten sich. Für die Bielefelder HK waren sie 1853 zu einem anachronistischen Gewirr geworden: »Trennung, Mangel an Zusammenhang der einzelnen Bestandteile der Fabrikation, Mangel an Zusammenwirken, an gemeinsamen sich gegenseitig unterstützenden, auf ein und dasselbe Ziel gerichteten Bestrebungen sind die Ursache, daß wir aus unserer Kalamität nicht heraus können. « 6 6

U m dieselbe Zeit war die Alternative, die Garnspinnerei und Feinleinenweberei auf das Verlags- und Fabriksystem umzustellen, unter den Kaufleuten kaum mehr umstritten. Obwohl schon 1801 bis 1818 in Herford eine Baumwoll-Maschinenspinnerei und seit 1839 die mechanische Wergspinnerei Schönfeld & Stallfort in Betrieb waren, setzte der Umbruch zur Fabrikindustrialisierung in Ravensberg erst 1852 ein. Die kleine Spinnerei Schönfeld produzierte nämlich Heedegarn, das in der Segeltuchweberei des Kr. Halle einen gewissen Absatz hatte, aber nicht in der Feinleinenweberei. Nachdem 1852 ein Außenseiter mit der Gründung einer Maschinenspinnerei für Flachs vorangegangen war, folgte 1854 die Gründung der Ravensberger Spinnerei und zehn Jahre später die Gründung der Mechanischen Weberei. Die letzten beiden Fabriken, in ihrer äußeren Gestalt und Größe in dem imponierenden englischen Stil und Ausmaß, waren Gründungen der Bielefelder Kaufleute mit dem im vergangenen Jahrhundert akkumulierten Kapital im Leinenhandel. Dieser Übergang zur Fabrikindustrie kam zwar nicht so »verspätet« wie es manchmal dargestellt wird; auch in anderen Regionen erfolgte die Fabrikindustrialisierung des Leinengewerbes in breitem Maße erst nach 1850 67 . Auffällig bleibt gleichwohl eine merkwürdige Diskrepanz zwischen dem Bewußtsein einer Krise der überkommenen Produktionsverhältnisse und den bis 1850 eingeschlagenen Wegen, die aus der Krise herausfuhren sollten. Spätestens seit 1830 war den meisten Betroffenen bewußt, daß das Garnund Leinengewerbe einer entscheidenden Wendung der Dinge und einer Verschlechterung ausgesetzt war, die sich nicht mehr nach dem Muster der traditionellen »Stockungen« des Handels begreifen ließen. Am frühesten und klarsten sprachen es die Beamten aus. Schon im April 1819 schrieb die Regierung Minden in ihrem Zeitungsbericht: »Es ist nicht zu verkennen, daß diesem wichtigen. . . Industriezweige jetzt durch die im Aus- und Inlande sich immer mehr consolidierende Maschinenspinnerei eine bedeutende Krise bevorsteht. Die Verdienstlosigkeit und Armut der Spinner auf dem platten Lande steigt schon jetzt in beunruhigender Progression neben einer wachsenden Bevölkerung. « 6 S

Angesichts des Notstandes von 1831 erkannte der Oberpräsident Vincke, daß die Not der Spinner auf der Basis der alten Industrie nicht mehr zu bessern und auf die Hilfe der Zeit nicht mehr zu vertrauen sei: »Sie kann das Leinengarn unmöglich wieder auf den früheren Stand, auch nur auf einen 161

besseren zurückfuhren, da der Sieg der Baumwolle entschieden sich behaupten muß« 6 9 . 1828 begriff der Bielefelder Bürgermeister Delius die Flachsmaschinenspinnerei als »Hauptursache unseres stockenden Garnhandels und der niedrigen Garnpreise« 70 . Bielefelder Kaufleute dachten schon 1831 an den Übergang zum Verlagssystem 71 . Auch den Spinnern und Webern war, soweit einzelne Eingaben das erkennen lassen, bewußt, daß Veränderungen nötig waren. U m dem »allgemeinen Derangement und Druck« des Spinnergewerbes zu begegnen, bat der Heuerling Fortmann 1828 Vincke um einen Zuschuß zur Eröffnung einer Spinnschule, und 1834 bat ein Weber aus Heepen bei Bielefeld um eine Unterstützung von 67 Talern zur Anschaffung eines Webstuhls für Baumwolle 7 2 . Diese Haltungen repräsentierten auch die drei Alternativen der Proto-Industrie gegenüber der Herausforderung durch die Fabrikindustrialisierung: 1. Eine Änderung des Produkts, der Übergang von der Flachsgarnspinnerei und Leinenweberei zur Baumwollproduktion, wie dies seit der Kontinentalsperre im Rheinland, in Sachsen und Schlesien geschah, wie es mit großer Beschleunigung in den 1840er Jahren auch im nordwestlichen Teil des Rgbz. Münster erfolgte 73 . Im Rgbz. Minden blieb es dagegen nur bei Ansätzen zur Baumwollindustrie. In Herford stand um 1800 die größte Baumwollspinnerei Nord- und Mitteldeutschlands, die 400 Arbeiter, darunter 100 Häftlinge des Herforder Zuchthauses, beschäftigte. 1818 ging sie jedoch bankrott, bis in den 1830er Jahren ein Leinenhändler aus der benachbarten Grafschaft Lippe die Anlage kaufte und eine mechanische Wergspinnerei einrichtete. Bei der Modernisierung der Flachsspinnerei hat diese Fabrik jedoch keine Rolle gespielt 74 . Wie im Fall der Baumwollspinnerei im Kr. Höxter kam hier der Unternehmer aus dem »Ausland«. In Höxter und Umgebung gründete 1828 der Hannoversche Kaufmann Wahrendorf einen Verlag für Baumwollweber, der in den 1830er Jahren schnell expandierte, in den 40er Jahren aber wieder schrumpfte 75 . Neben der Baumwollspinnerei von Häftlingen des Zuchthauses Herford und einer kleinen Baumwollspinnerei in Bielefeld gab es im Jahre 1849 kleinere fabrikmäßige Baumwollwebereien in Minden und Delbrück (Kr. Paderborn), insgesamt aber nur 193 Baumwollwebstühle im ganzen Rgbz. Minden. Man kann dies, ähnlich wie die Anfänge der Damastweberei in den späten 1830er Jahren, nicht als alternative Entwicklung zur Leinenindustrie sehen. Die Anregungen der höheren Behörden scheiterten am Desinteresse der Kaufleute und der objektiven Unfähigkeit der Kleinproduzenten, von sich aus diese Transformation zu leisten 76 . Das Verhalten der Kaufleute war auch ausschlaggebend für das Ausbleiben der zweiten Alternative, nämlich 2. dem Übergang zum Fabriksystem, angefangen bei der Flachsmaschinenspinnerei. Stets scheuten jedoch die in ihrem Habitus rentnerhaften Handelskapitalisten die hohen Investitionen und Löhne für Facharbeiter. Jedes Risiko suchten sie durch staatliche Beteiligung möglichst zu minimieren. Kaum ein absoluter Kapitalmangel - wie immer wieder gesagt wurde, 162

während in den 50er Jahren beträchtliches Kapital mobilisiert wurde-, sondern die Riskierung der bequemen Gewinne im Leinenhandel scheint der Grund für die Hinauszögerung der Fabrikgründungen 77 . Angesichts der Bereitschaft zu Askese und »Selbstausbeutung« bei den familienwirtschaftlichen Kleinproduzenten war dieser Weg bis in die 40er Jahre noch gangbar. Die Kaufleute konnten so ihren Konservatismus als soziale Verantwortung ausgeben. Wie 1842 - schon angesichts des akuten Elends - Gustav Delius schrieb: »Wer die Verhältnisse in unserer Provinz genau kennt, kann unmöglich wünschen, daß durch Einfuhrung der Spinnmaschinen viele tausend Familien unserer Spinner brodlos gemacht werden sollen . . . die Handspinnerei ist so sehr in das Wesen unserer Landbewohner verflochten, daß noch Jahre vergehen werden, bevor sie gänzlich zugrunde gerichtet sein wird«, denn die Handspinnerei sei noch immer eine echte Konkurrenz gegen die Maschinenspinnerei 7 8 .

Dies war das Hauptargument der Kaufleute, Landräte, Pfarrer und Lehrer als den geistigen Führern der ländlichen Bevölkerung, aber auch mancher Weber, für die dritte Möglichkeit gegenüber der Herausforderung, nämlich 3. der offenen Konkurrenz mit der industriekapitalistischen Produktion durch eine Steigerung der Qualität, vor allem aber durch die »Wohlfeilheit« der Produkte. Wie der Bielefelder Bürgermeister Delius 1828 schrieb: »Je besseres und wohlfeileres Garn für die Leinwandweberei gesponnen wird, desto besser und wohlfeiler wird das Fabrikat sein, desto mehr wird sich unser Absatz ausdehnen.« Eine »mächtige Waffe« erblickte er in den Spinnschulen, in denen die Kinder der Armen das Feinspinnen erlernen sollten, die normalerweise nur gröberes, für die Weberei der feinen Leinwand nicht brauchbares Garn spannen, da ihnen hierfür der gute Flachs fehlte 79 . Auf diese Weise sollte, abgeschirmt durch eine Schutzzollmauer, die absterbende Grobspinnerei übergeführt werden in eine vermehrte Feinspinnerei für die Produktion von feinem Leinen 80 . Damit waren die Lasten der Reform auf die kleinen Produzenten übergewälzt. Vom Fleiß, von der Geschicklichkeit der Spinner und Weber und ihrer erzwungenen Bereitschaft, »mit einem viel geringeren Verdienste (sich) zu begnügen« 81 , erwartete man die Konkurrenzfähigkeit gegenüber der modernen Industrie, die zugleich als pädagogisches Drohmittel diente. 1837 versprachen sich die Bielefelder Kaufleute von einer beschränkten Einführung der Maschinenspinnerei für grobes Garn einen günstigen Effekt auf die Spinner, da diese dadurch »überzeugt« würden, »daß die Zeit trägen und gleichgültigen Dahinlebens vorüber sei« 82 . Im Glauben, daß nur und gerade Handgarnleinen gegenüber den schlechtem Fabrikprodukten konkurrenzfähig sei, nahmen manche Weber eine ähnliche Haltung ein 83 . Für dieses Verhalten, das in der landesgeschichtlichen Literatur oft mit dem konservativen westfälischen Volkscharakter begründet wird, lassen sich mehrere Umstände nicht-psychologischer Natur plausibel anführen. 163

Die vorsichtigen Kaufleute hatten wirkliche Schwierigkeiten der Fabrikengründung vor Augen, wie die Rekrutierung von Facharbeitern, die relativen Mehrkosten gegenüber England und die Beschaffung von Maschinen. D a neben waren sie nicht untätig. Außer technischen Verbesserungen in der Bleicherei und Appretur des Leinens (mit nachdrücklicher staatlicher Unterstützung) 8 4 gelang es den Kaufleuten, die Verluste auf den früheren Exportmärkten in Westeuropa und Übersee zu kompensieren. Die Erschließung neuer Märkte im Inland und der Ausbau des Absatzes nach Rußland waren wesentliche Leistungen der Kaufleute in den 1830er und 1840er Jahren, die man nicht übersehen sollte gegenüber den Vorwürfen der wirtschaftsliberalen, die privatkapitalistische Initiative fordernden preußischen Beamten, daß sie zu träge seien und zu wenig Unternehmungsgeist besitzen würden, u m die Einführung der Maschinenspinnerei zu wagen. Die Option auf »Solidität« und Qualitätssteigerung des Handgarnleinens im Rahmen der gegebenen Produktionsverhältnisse und mit staatlicher Unterstützung lag nicht zuletzt deshalb nahe, weil der Staat in der Vergangenheit wichtige unternehmerische Funktionen in jenen Hinsichten wahrgenommen hatte. Die Einstellung der preußischen Beamten hat sich in diesem Zusammenhang offenbar stärker und schneller gewandelt als die der bürgerlichen Kaufleute. Deren Strategie war konservativ auch insofern, als sie unter dem Banner des guten Rufes von Bielefelder Leinen das Leinengewerbe überhaupt erhalten und nicht auf die Baumwolle umsteigen wollten. Diese Strategie hat nicht nur der spätere Erfolg bestätigt; sie konnte sich auch noch in den 1840er Jahren auf realistische Annahmen stützen und erfolgte in klarer Kenntnis der Umwälzung in der englisch-irischen Leinenindustrie. Das Bielefelder Leinen konnte sich infolge seiner höheren Qualität tatsächlich besser gegen die Baumwolle und in der Konkurrenz mit anderen Leinenproduktionsregionen behaupten als ζ. B. das schlesische oder württembergische Leinen. Symptomatisch fiir diese Einschätzung und Lage ist nicht zuletzt, daß in den 1840er Jahren westfälische Flachsbau- und Spinnlehrer nach Schlesien geholt wurden, u m die dortige Leinenweberei zu verbessern 8 5 . All diese Umstände berücksichtigt, bleibt gleichwohl eine erstaunliche Überschätzung des Entwicklungspotentials der traditionellen Produktionsverhältnisse. Die Mittel für die »innere Vervollkommnung« 8 6 und damit die im Vormärz sich zersetzenden Produktionsverhältnisse hat man falsch eingeschätzt. Die Spinnschulen haben in der Regel ihren Zweck nicht erreicht. Das webfähige Feingarn wurde in ihnen nicht gesponnen. Auch für sie trafen die allgemeinen Umstände des Schulbesuchs zu: gerade die Kinder der Armen besuchten sie, wenn überhaupt, nur unregelmäßig, dann nämlich, wenn die Eltern für sie keine andere Arbeit hatten. Der Effekt war so weniger eine Erziehung von guten Spinnern, sondern eine »sittliche Beaufsichtigung der Jugend«, aufweiche besonders die Pfarrer Wert legten, und von der die Bauern mehr profitierten als die Spinner, da die Schüler der Spinnschulen angeblich ein folgsames Gesinde waren 8 7 . Wahrscheinlich war 164

dies auch ein Moment für die staatliche Unterstützung, welche die Spinnschulen seit ihrer ersten Gründung 1825 genossen. Die Einrichtung vieler solcher Schulen gerade in den 40er Jahren, als es schon zu spät war, legt nahe, daß sie mehr zur sozialen Beruhigung, denn als sinnvolles Mittel ökonomischer Entwicklung gedacht waren. Wie ein Kaufmann 1848 sagte: für die Spinner müsse »irgend etwas geschehen, schon um des moralischen Eindrucks willen«. Mit einer ähnlichen Überzeugung unterstützte der Staat, im Bewußtsein ihrer Nutzlosigkeit, diese Schulen noch bis 1851, um Unruhe unter den Spinnern zu vermeiden 88 . Ein weiterer Umstand machte die Förderung der Feinspinnerei illusorisch: der gegenüber den neuen Anforderungen mangelhafte Flachsbau. Der Flachs wurde nach den Mustern tradierter Erfahrungen gebaut, die den Bodenverhältnissen und Bedürfnissen der Spinner angepaßt waren, von denen die meisten als Spinner von grobem Garn auch mit einem minderen Flachs zurechtkamen. Seit den 40er Jahren diskutierten die landwirtschaftlichen Vereine zwar Verbesserungen des Anbaus von Flachs und seiner Zubereitung. Das Ziel war dabei aber die Herstellung eines für Spinnmaschinen geeigneten Flachses, weniger die Unterstützung der Handspinnerei 89 . Aber selbst, wenn diese Momente sich günstiger gestaltet hätten, lag in der Armut der meisten Spinner und Weber eine strukturelle Barriere für Verbesserungen. Ihr Fleiß allein konnte die Knappheit nicht überwinden, die sie zwang, mit schlechterem Rohmaterial sich zufrieden zu geben. Die Heuerlinge von Altenschildesche schrieben 1845 in einer Petition an den Finanzminister, als sie sich mit der Empfehlung, doch ihr Gewerbe zu vervollkommnen, auseinandersetzten: »Der Heuerling kann nicht fleißiger sein, als er ist - er kann nicht mehr sparen - er kann sein Gewerbe nicht verbessern.« Wie der arme Spinner nur schlechten Flachs, so erhalte der arme Weber nur schlechtes Garn, das gerade deswegen »alle Kräfte und den ganzen Fleiß des Webenden in Anspruch nimmt . . .; tadelloses Material bedingt also einzig und allein den geschickten Weber und Spinner, w o aber die Anschaffung desselben das U n v e r m ö g e n nicht erlaubt, da kann von Auskommen keine Rede sein, und die Geschicklichkeit läßt den Darbenden Hungers sterben«. 9 0

Vollends mußten die Erwartungen, auf der Basis der herkömmlichen Produktionsverhältnisse das Produkt zu verbessern, ins Gegenteil umschlagen bei den sinkenden Preisen. In dieser Situation trat, wie schon früher, das gerade Gegenteil ein: die sinkenden Preise wurden durch Mehrproduktion kompensiert über den Weg der Arbeitszeitverkürzung, die sich als Qualitätsminderung äußern mußte. Statt Vervollkommnung stellte sich das »durch Gewohnheit gewordene System gegenseitigen Betrügens« ein. Alle Produzenten, der Flachsbauer, Spinner und Weber manipulierten ihr Produkt zu einer äußerlich guten Qualität, um bessere Preise zu erzielen. Durch falsche Haspelungen, d. h. das Maß der zu einem Stück Garn erforderlichen Fäden, versuchten die Spinner Zeit zu sparen. Diese Manipulationen wur165

den von unten nach oben weitergegeben, bis zu den Kaufleuten, die dann darüber klagten, daß sie an der schlechten Qualität ganz unschuldig seien. Bitter schien dieses Betrügen »um so auffallender, als die Sittlichkeit der ärmeren Bewohner (der Senne) nicht von der Armut und von dem Elende in erkennbarer Weise untergraben, vielmehr ersichtlich erhalten worden ist, und sich vorteilhaft auszeichnet vor mancher Gegend«, in der noch Wohlhabenheit und Auskömmlichkeit herrsche 91 . Der Warenbetrug gründete also nicht im moralischen Verfall der Produzenten, sondern war eine bewußte Strategie, die gegenseitige Übervorteilung und den Preisdruck der Kaufleute zu kompensieren. Wie wiederholte Verordnungen zeigen, war er keine neue Strategie, sondern ein altbekanntes und in Knappheitssituationen stets wiederkehrendes Mittel 92 . Gegen den daraus entspringenden Qualitätsverfall wurde in den 1840er Jahren noch einmal die öffentliche Kontrolle eingesetzt. 1842 ergingen fur Minden-Ravensberg neue Leggeordnungen, die den Schauzwang ausdehnten und die Qualitätskontrollen verschärften. Ein letztes Mal wurde die Legge als »Schutzanstalt des Kaufmanns gegen den unabhängigen Weber« 93 eingesetzt. Ausgenommen vom Leggezwang waren jedoch die im Verlag und/oder in der Fabrik, also unter der Kontrolle eines Unternehmers hergestellten Leinen 94 . Auch die Kontrolle der Spinner sollte intensiviert werden. Nach der Wiederholung früherer Verordnungen der Regierung Minden, die die gleichmäßige Messung des Garns einschärften, folgte 1843 eine allgemeine Verordnung fur die ganze Provinz Westfalen über die Einfuhrung eines gleichen Haspelmaßes, um die Betrügereien zu unterbinden. In der Kontinuität staatlicher Kontrolle änderten sich nur die Strafen. Die Leggeordnungen und die Haspelverordnung von 1842/43 sahen nur noch Geldstrafen bis zu 5 Rt vor, während die bis dahin gültigen Ordnungen im Wiederholungsfall auch die Prügel- oder Gefängnisstrafe angedroht hatten. Ihren Zweck erreichten sie wie die früheren Verordnungen wohl nur in begrenztem Maße, auch wenn Geldstrafen ausgesprochen wurden. Im Jahre 1853 mußte ausgerechnet der »Unterstützungsverein in Schildesche«, der von den lokalen Honoratioren geleitet wurde und Handgarnleinen verkaufte, 12 Rt Strafe bezahlen, weil er 27 Stück Leinen an der Legge vorbei auf die Bleiche gebracht hatte 95 . Die schnell zunehmende Verarbeitung von Maschinengarn enthüllt aufs deutlichste das Versagen der »wohlfeilen Hände« in der Konkurrenz gegen die moderne Fabrikindustrie. Die proto-industrielle »Volksfabrik«, 30Jahre früher idealisiert zum Mittel einer gleichmäßigen Vermögensverteilung, diente jetzt über das Kaufsystem der Anonymisierung der Massenarmut. Wie die Regierung Minden 1839 schrieb: »Überhaupt verteidigt man in Bielefeld ganz allgemein sehr lebhaft den Grundsatz, daß die Weber selbständig, in dem Zustand der Arbeiter für eigene Rechnung, unter den sich angewöhnten Verhältnissen erhalten werden müssen, weil hierin das einzige

166

Mittel liege, Erwerbsstockungen flir die zahlreiche Bevölkerung weniger fühlbar zu machen.« 96

Die Selbständigkeit der Weber freilich wurde mit ihrer Verarmung infolge der sinkenden Preise, zusätzlich verschärft durch das Trucksystem, mehr und mehr ausgehöhlt. Da sie von ihrem Vermögen, Garn zu kaufen, abhing, konnte sie mit dem Schwund der baren Einnahmen nurmehr über Kreditwirtschaft erhalten werden, die als Dauerzustand natürlich die Selbständigkeit illusorisch machte. Insbesondere mit der Verwendung des Maschinengarns gingen die Weber solche Kreditverhältnisse ein 97 . Das Ausmaß dieses Statuswandels der Weber v o m selbständigen zum »Lohnweber« ist schwer zu bestimmen. Eine Eingabe der Heuerlinge von Theesen im Jahre 1847 behauptete, daß die »meisten Leineweber so heruntergekommen sind, daß sie sich den notwendigen Garnbedarf nicht mehr voraus kaufen können«. Ähnlich stellten sich die Heuerlinge aus Altenschildesche, so weit sie Weber waren, als Lohnweber vor, »meistens auf gemieteten Stühlen, da unter 50 Familienvätern möchten kaum 3 zu finden sein, welche die Ausgabe für das zu einem Stücke Leinen erforderliche Garn zu bestreiten imstande sind« 98 . Die vorhandenen Gewerbezählungen lassen keine Analyse des Status der Weber zu, wie er 1814 aufgenommen wurde. N u r einige isolierte Zahlen erlauben einen Vergleich. Während 1814 im Kr. Bielefeld die selbständigen Weber 78% der Webstühle besaßen, betrug dieser Anteil 1844 nurmehr ca. 60%. Demnach hat sich also die Zahl der unselbständigen Weber vermehrt - bei einer gleichzeitigen Z u n a h m e der Webstühle. Schon 1831 gab der Bielefelder Landrat für dieses Jahr 400 Lohnweber an, während 1814 von dieser Gruppe nur 259 gezählt wurden. In dieselbe Richtung weist der relative Schwund der Weber mit Grundbesitz. Offenbar waren die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts neu entstehenden Weberfamilien weniger zum E r w e r b eines Grundeigentums in der Lage als die Weber des 18. Jahrhunderts. In den Verwaltungsbezirken bzw. Ämtern Schildesche undjöllenbeck (Kr. Bielefeld) nahm zwischen 1814 und 1849 die Zahl der Weber von 529 auf 808 zu; davon hatten im frühen 19. Jahrhundert 36%, in der Mitte desselben nur noch 26% eigenen Grundbesitz 9 9 . Zugleich hatte sich die Unselbständigkeit der Lohnweber vertieft. Während sie u m 1800 w a h r scheinlich noch auf eigenen Stühlen arbeiteten - es gibt keine Hinweise auf das Gegenteil-, webten sie u m 1850 häufig auf gemieteten Stühlen. K a u m erkennbar ist allerdings, wer die Eigentümer dieser Stühle waren, die Kaufleute oder die kleine Gruppe verlegerischer Weber, die u m 1800 festzustellen war. Vereinzelt ist auch in der Mitte des 19. Jahrhunderts noch ein stattlicher Betrieb dieser Weber zu erkennen, wie bei Gottlieb Tödheide in Schildesche. Er verkaufte von den Webstühlen im eigenen Haus und von verlegten Webern 1854 bzw. 1856 Leinen im Wert von 3976 bzw. 5112 Rt. Insgesamt jedoch hat diese Gruppe nach einer Bemerkung der H K Bielefeld abgenommen100. 167

Aus der um 1800 beobachtbaren Hierarchie zwischen den Webern hat sich offenbar keine kapitalistische Differenzierung unter den Webern entwickelt. Vermutlich haben sich mit dem Preisverfall die Vermögensklassen eher nach unten angeglichen. Ebenso blockierte der für die Familien Wirtschaft weithin nur subsidiäre Charakter der Lohnarbeit den Wandel. Wie die »LeineweberOrdnung« erkennen läßt, die 1831 160 Weber der Gemeinde Schildesche vereinbarten, verhielten die gesindehaltenden Weber sich als »Herren« gegenüber ihren Gehilfen, die an ihrem Auskommen stärker interessiert waren als an der Möglichkeit der Konkurrenz durch Lohndifferenzierung. Sie setzten einen Höchstlohn fest, der in schlechten Zeiten unterschritten werden konnte und verpflichteten sich - bei Geldstrafe und Ausschluß aus der »Gesellschaft« -»alle für einen und einer für alle darüber zu wachen«, daß die Vereinbarung eingehalten werde 1 0 1 . Die durchaus marktbewußten Weber verhielten sich also nicht wie kleine Kapitalisten, sondern wie zünftlerische Handwerker. Schließlich mangelte es auch an einer Herausforderung durch den technologischen Wandel der Handweberei als einem möglichen Faktor kapitalistischer Differenzierung. Die technischen Veränderungen beschränkten sich bis ins zweite Drittel des 19. Jahrhunderts auf eher kleine Veränderungen am Handwebstuhl, deren bedeutendste der Schnellschütze war. Durch den Schnellschützen, 1733 erfunden und in England seit 1750 verbreitet, wurde die Bewegung des Schiffchens mechanisiert und beschleunigt, so daß die Produktivität des Webers bis auf das Doppelte gesteigert werden konnte 1 0 2 . Sein Gebrauch setzte sich in Minden-Ravensberg trotz staatlicher Förderung jedoch nur schleppend durch und war um 1850 noch keineswegs allgemein verbreitet. Das besser zu verwebende Maschinengarn erleichterte seine Verwendung, so daß möglicherweise dadurch die Weber die gesteigerte Arbeitsintensität in Kauf nahmen. Erst in den 1870er Jahren, unter den Bedingungen des Verlagssystems, erfolgte ein großer Schub der technischen Verbesserung der Handwebstühle, während 1858 die HK Bielefeld die Einführung neuer Webmethoden wie den Schnellschützen erst noch forderte und beklagte, daß dies »freilich bei der provinziellen Zähigkeit der Landbevölkerung seine besonderen Schwierigkeiten« habe 103 .

b) Durchsetzung

des Verlagssystems

Der Rückgang des Flachsbaus, die Verarmung der Spinner und Weber, die Erosion ihrer Selbständigkeit in einer schleichenden, weitverzweigten Kreditabhängigkeit, die technische Stagnation trotz der Option auf die »innere Vervollkommnung« sind Symptome dafür, daß die Produktionsverhältnisse in der Feinleinenweberei gleichsam verfaulten. U m so merkwürdiger bleibt demgegenüber, daß die Kaufleute nur sehr zögernd den Weg der Transformation des Kaufsystems in das Verlagssystem beschritten, obwohl die Veränderungen in der Nachfrage und die Option auf Solidität die Her-

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Stellung einer qualitätsvollen Standardware unter der Produktionskontrolle des Verlegers erheischten. Diesen Weg schlugen in den 1830er und frühen 1840er Jahren fest entschlossen nur die Handlungshäuser Delius-Versmold und Lueder & Kisker in Bielefeld ein 104 . Die großen alten Leinenhändler modifizierten zunächst nur das traditionelle Mittel der öffentlichen Kontrolle. Seit 1842 drängten sie auf die Gründung von Vereinen, in denen die Weber sich verpflichten sollten, Leinen nur mit handgesponnenem Garn, nicht mit Maschinengarn zu weben. Eine entsprechende Selbstverpflichtung der Weber im Jahre 1844, dokumentiert durch Unterschriftenlisten, war aber offenbar nicht sehr wirkungsvoll 105 . Im November 1847 schritten die Kaufleute zusammen mit Beamten und Pastoren daher zur Gründung einer strafferen Organisation. Ein »Hauptverein für Leinen aus reinem Handgespinst« sollte zusammen mit entsprechenden Lokalvereinen sicherstellen, daß der»gute Ruf unseres alten Fabrikats« erhalten bleibe. Wieder sollten die Weber verpflichtet werden, nur handgesponnenes Garn zu verarbeiten, andernfalls wurden sie mit einer Geldstrafe bzw. einem einjährigen »Hausverbot« belegt, d. h. einen Boykott der Kaufleute. Die Leitung der Lokalvereine sollte bei einem Vorstand aus Amtmann, Pastor, Bauern und »braven Leinewebern« sowie einem Bielefelder Kaufmann liegen. Die Mitglieder wurden offenbar sorgfältig ausgewählt. Der Lokalverein in Schildesche zählte im Februar 1848 22 Weber-Mitglieder, von denen 19 Weber mit Grundeigentum waren 106 . Eine größere Wirksamkeit erreichten diese Vereine jedoch nicht. Sie wurden von der Revolution gleichsam überrollt und zerfielen offenbar in den Auseinandersetzungen zwischen den Webern und Kaufleuten. Die späteren Vereine für Leinen aus Handgespinst waren solche ohne die Bielefelder Kaufleute. Statt eines Übergangs zum Verlag sollte mit diesen Vereinen eine schärfere Kontrolle innerhalb des Kaufsystems erfolgen, und zwar zu Lasten der Weber, die mit den billigeren Maschinengarnen sich durch die Krise schlugen. Wahrscheinlich hat fur das Zögern der Kaufleute noch ein besonderer Faktor eine Rolle gespielt. Zwischen den Verlagsgründungen und Situationen niedriger Einkommen der Weber oder Spinner besteht eine so auffällige Übereinstimmung, daß sich der Eindruck aufdrängt, die Kaufleute hätten nur auf den Zeitpunkt möglichst niedriger Löhne gewartet. Dies war 1831 der Fall, als die Leinenpreise rapide gefallen und die Lohnweber arbeitslos waren. Auf einer Konferenz mit dem Landrat empfahlen die Kaufleute, den Lohnwebern dadurch zu helfen, »indem man sie wirklich zu Lohnwebern macht, d. h. daß man ihnen das Garn gibt, das Fabrikat zurücknimmt und ihnen einen Lohn ausbezahlt, welcher bei angestrengtester Tätigkeit zur Bestreitung der notwendigsten Bedürfnisse hinreicht«. Patemalistische Sozialpolitik, kaufmännisches Interesse und Sicherheit verbanden sich hier noch ganz im Sinne des 18. Jahrhunderts. Der Verlag sollte, bei einer massiven staatlichen Startsubvention von 120000 Talern, von einer quasi-öffentlichen Kommission aus Kaufleuten und »verständigen« Webern unter der 169

Leitung des Landrats gefuhrt werden 107 . Die Verschränkung von paternalistischer Caritas, mit der man staatliche Hilfe fordern konnte, und Strenge gegenüber den Armen kehrte auch nach dem gescheiterten Versuch von 1831 wieder. Wie schon 1828 der Kaufmann Wahrendorff in Höxter einen Teil seiner Arbeitskräfte aus dem Armenhaus rekrutierte, gründete C. W. Delius in Versmold 1837 mit staatlicher Unterstützung einen Verlag von Hanfspinnerinnen und Segeltuchwebern, wobei er als Spinnerinnen Mädchen der ärmsten Familien nahm, um die Armenkasse zu entlasten; darüber hinaus glaubte er in der Tradition absolutistischer Arbeits-Zwangserziehung, »besser auf (diese Mädchen) einwirken zu können, da diese durch ihre Lage mehr gezwungen werden, die gegebenen Vorschriften genau zu befolgen und Ordnung zu halten«. Dabei kam es - in Widerspruch zur liberalen preußischen Wirtschaftspolitik - zu einem Zusammenwirken von örtlicher Polizei und Unternehmer in der Kontrolle der Spinnerinnen 108 . Ebenfalls 1837 unternahm Gustav Delius in Bielefeld einen Versuch verlagsmäßiger Drellweberei mit arbeitslosen Webern aus Rheda. Nach anfänglichem Erfolg - nach einem Jahr waren mehr als 100 Weber im Verlag - stellte Delius diesen wieder ein. Nach seinen Worten hatte er nichts als »unsägliche Sorge, Mühe und Ärger« mit dem Einkauf von Garn und der Kontrolle der Weber, die sich angesichts besserer Preise 1838/39 dem Verleger wieder entzogen und selbständig arbeiteten. Der Weber, mußte Delius feststellen, »(will) für uns nicht so gut arbeiten als für sich selbst! Den Beweis haben wir in Händen, denn sobald die Weber wieder für sich arbeiten dürfen, liefern sie gute Ware« 109 . Offensichtlich war das in der Familienwirtschaft verankerte soziale Leitbild der Selbständigkeit im Zusammenwirken mit der strukturellen Zersetzung der alten Produktionsverhältnisse nur durch eine asketisch nicht mehr zu kompensierende Armut endgültig zu erschüttern, wie sie nach 1845 herrschte, als die Depression des Leinenhandels einerseits und die extrem hohen Lebensmittelpreise andrerseits einen Notstand zeugten, »wie er seit Menschengedenken unerhört war« 1 1 0 . In diesen Jahren, 1846, machte die Firma Delius einen neuen Versuch mit einem Verlag von Seidenwebern. Diesmal erfolgreich, denn ein Seidenweber konnte bei fünfzehnstündiger Arbeit ca. 30% mehr verdienen als ein Leinenweber - und dennoch waren die Löhne 25% niedriger als die Löhne der Seidenweber in der Rheinprovinz. 1847 wurden 63, 1850 schon 120 Verlagsweber von Delius beschäftigt 1 1 1 . Dieser Erfolg regte andere Leinenhändler zu gleichen Unternehmungen an. Nach 1850 expandierte die Seidenweberei sprunghaft, während die H K Bielefeld 1850 eine große Bereitschaft der völlig verarmten älteren Lohnweber feststellte, bei Bielefelder Verlegern Arbeit zu nehmen: Der Andrang sei so groß, »daß bei weitem nicht alle Arbeit finden können« 112 . Dies bezieht sich wohl auf die Seidenweberei, denn die Löhne im Leinenverlag waren wahrscheinlich sogar noch niedriger als die Einkommen der selbständigen Weber in den schlechten 1840er Jahren 113 . 170

Die Überwindung des Kaufsystems zog sich zäh hin. Bis 1850 wurden zwar 12 Leinenhändler aus Bielefeld und einer aus Herford vom Leggezwang befreit, d. h. sie wurden zu Verlegern. Es waren aber mit einer Ausnahme (Johann Daniel Delius) kleinere Kaufleute, die diese Initiative ergriffen. Die großen Bielefelder Leinenhandlungen Wittgenstein, Ε. A. Delius, Laer & Co., F. W. Krönig und Bertelsmann folgten erst (in der Folge der Namen) 1852, 1856,1858,1858 und 1859. Insgesamt wurden vom Leggezwang zwischen 1851 und 1860 23 Leinenhändler (davon 3 aus dem Kr. Herford und 2 aus dem Kr. Lübbecke), und in den Jahren 1861 bis zur Auflösung der Leggen in Herford und Bielefeld im Jahre 1871/72 31 Leinenhändler (davon 9 aus dem Kr. Herford und 1 aus dem Kr. Lübbecke) befreit114. Die meisten Verleger waren in Bielefeld ansässig. Die wenigen Befreiungen von Händlern im Kr. Lübbecke verweisen auf die Kontinuität des Kaufsystems in der Löwendleinen Weberei weit über 1850 hinaus. Die Leggen im Kr. Lübbecke wurden erst 1895, die Osnabrücker Legge erst 1902 aufgehoben115. In der Ravensberger Feinleinenweberei löste sich das Kaufsystem hingegen nach 1865 schnell auf. Um 1850 wurden noch Vt, Ende der 1850er Jahre etwa 3A und in der ersten Hälfte der 1860er Jahre immer noch die Hälfte des Feinleinens in »herkömmlicher Weise« produziert116. Die Leinen-Verlagsgeschäfte in den 1850er Jahren waren im einzelnen offenbar nicht sehr umfangreich, bildeten zuweilen auch nur Teilgeschäfte neben dem traditionellen Betrieb der Handlungshäuser117. Nach der Gründung der Mechanischen Weberei im Jahre 1864 überflügelte die Fabrikweberei jedoch bald die Handweberei von Leinen, während die Handweber sich auf die Herstellung von Seiden-, Damast- und Plüschstoffen spezialisierten118.

c) Die Familienwirtschaft

in der Krise des

Textilgewerbes

Die quälend lange Krise des Textilgewerbes und das zögernde Verhalten der Kaufleute wäre nicht möglich gewesen ohne den familienwirtschaftlichen Kern in den proto-industriellen Produktionsverhältnissen. Deren Krise läßt sich auch als Resultat einer selbstdestruktiven Dialektik begreifen. Einerseits waren die meisten familienwirtschaftlichen Kleinproduzenten überfordert, die technische Anpassung an die Qualitätssteigerung von Garn und Leinen zu vollziehen; andererseits aber rechnete diese Option in der Systemkonkurrenz zwischen Haus- und Fabrikindustrie mit der Disposition zur »Selbstausbeutung« der familialen Arbeitskräfte unter dem Leitmotiv der Selbständigkeit. Die lange Niedergangskrise des proto-industriellen Textilgewerbes zehrte gewissermaßen vom kulturellen Kapital der familienwirtschaftlichen Selbständigkeit. Der »Trieb zur Selbständigkeit« wurde im 19. Jahrhundert auch durch die »Zeichen der Not. . . (nicht) abgeschreckt«119. Trotz der seit 1820 fallenden 171

Preise fur Garn und Leinen hielt die gewerbliche Produktion und das Bevölkerungswachstum bis zum Zusammenbruch der Garnspinnerei in den 1840er Jahren an. Zeitgenossen beobachteten, daß mehr produziert werde, um den Preis verfall auszugleichen. Gewohnheit, die Hoffnung aufbessere Konjunkturen und fehlende Alternativen, aber auch »die überwiegende Neigung, eigenen Herd zu besitzen«, ließen nach den Worten eines Garnhändlers den Spinner »bei einem Geschäft verweilen, welches ihm nur Verarmung bringen kann«. Alle Schätzungen über die Einkommen und Ausgaben der Heuerlinge und Spinner, die 1832 einer Konferenz vorlagen, wiesen Defizite auf, die nach Meinung der Beamten »nur durch das vorhandene Capital und durch besondere Glücksfälle teilweise gedeckt« wurden. Realistischer war wohl der Oberpräsident Vincke, der dazu bemerkte, die rechnerischen Defizite würden »vornehmlich durch die äußerste Entbehrung neben größester Anstrengung auch der Kinder ab flinfjahren wie der Greise« geschlossen 120 . Einige Indikatoren verweisen auf die spezifisch familienwirtschaftliche Reaktion in der Krise. Die hohen, bis in die 1830er Jahre noch steigenden Geburtenziffern 1 2 1 in den Ravensbergischen Kreisen spiegeln gewissermaßen die Mobilisierung der Kinderarbeit. In der Feldmark der Stadt Bielefeld, die mit der Markenteilung seit dem späten 18. Jahrhundert von Kleinbauern, Handwerkern, Webern und Spinnern besiedelt wurde und insofern typisch fur die Entwicklung der Unterschichten ist, stieg die durchschnittliche Familiengröße ebenso wie der Anteil der Kinder an der Gesamtbevölkerung (Tabelle 12). Die Familien wurden größer, das Wohnen jedoch wurde drangvoller und Tab. 12: Anteil der Kinder an der Gesamtbevölkerung, durchschnittliche Familiengröße und Bewohner pro Wohnhaus in der Feldmark von Bielefeld, 1787-1843 122 Jahr 1787 1820 1822 1825 1828 1831 1834 1837 1840 1843 A В С D

= = = =

172

А

В

С

D

403 1803 1123 1238 2154 2294 2479 2674 3036 3205

?

4,97 5,67 5,70 5,70 5,55 5,56 5,57 5,85 6,15 6,15

5,5 7,2 7,5 7,5 8,8 8,8 9,3 8,9 9,2 9,3

38,15 40,15 39,82 41,96 41,89 41,95 40,01 41,20 41,15

Gesamtbevölkerung Anteil der Kinder bis 14 Jahren an der Gesamtbevölkerung Durchschnittliche Familiengröße Bevölkerung pro Wohnhaus

enger; im Vormärz entstand eine ländliche Wohnungsfrage 123 . Gleichzeitig trat der familiale Charakter der hausindustriellen Arbeitseinheiten wohl schärfer hervor, wie die Entwicklung der Gesindezahlen annehmen läßt. Die Gesindehaltung stagnierte, entsprechend einem Bevölkerungswachstum, das vor allem ein Wachstum der unterbäuerlichen Schichten war. Während um 1800 in Ravensberg der Anteil des Gesindes an der Bevölkerung 10% und mehr betrug, belief sich dieser Anteil 1846 nurmehr auf 4,5% im Kr. Herford, 7,5% im Kr. Halle und 6,3% im Kr. Bielefeld124. Wahrscheinlich hat damit auch die Gesindehaltung in den Weberhaushalten abgenommen bzw. ist in den neu entstehenden Weberhaushalten nicht mehr zustandegekommen. Unschwer ließen sich jene wenigen Zahlen mit Bildern des hilflosen Elends aus der Pauperismusliteratur vielfältig illustrieren. Ohne von dem Leidensdruck etwas zu nehmen und ohne die persönlichkeitszerstörende Wirkung äußerster Not zu verharmlosen, ist im hier interessierenden Zusammenhang doch festzuhalten, daß - bis zu einer gewissen Grenze - die Armut auch ein Spiegelbild der Selbstbehauptung der Unterschichten war. Ohne eigentliche wirtschaftliche Alternativen zeigten die Familien eine hohe Askesebereitschaft, um gegenüber der Aussicht auf Rechtlosigkeit und Verachtung ein Minimum an sozialer Selbständigkeit zu wahren. Der »Trieb zur Selbständigkeit« erhielt sich auch deshalb, weil er »aus der Anschauung einer großen Zahl ähnlicher Verhältnisse fortwährend Nahrung erhielt«125, also unter dem Imperativ einer gesellschaftlichen Norm stand, aber auch deren Schutz genoß. Dies scheint die motivationale Grundlage der Genügsamkeit und der Hinnahme von Armut als Schicksal. Die Hinweise auf die »gewohnte Entbehrung der Heuerlinge«, auf die »Leute, die so wenig Bedürfnisse kennen« 126 , sind knapp, rechneten aber auf die Selbstverständlichkeit dieses Umstandes. Als im 19. Jahrhundert die ständische Ideologie der Armut abgelöst wurde durch die Angst vor den gefahrlichen Armen stand im Widerspruch dazu die nun entdeckte hohe Moralität der Armen oder die »verdammte Bedürfnislosigkeit« in den Augen derjenigen, denen die Bedürfnisse der »Stachel (zur) Entwicklung und Kultur« eines Volkes waren 127 . Die Spannung zwischen jener Angst und seltener emstnehmender Beobachtung drängte Gülich 1843 dazu, als regionale Besonderheit zu beschreiben, was ein allgemeineres Phänomen war: »In sehr wenigen, ja wohl in keiner Gegend Deutschlands sind die Landleute im Allgemeinen tätiger, genügsamer - sowohl was Kleidung als Nahrung betrifft - als in Ravensberg und . . . Minden, nirgend sind sie in ihrer alten Tracht so treu geblieben, nirgend sind die Landleute religiöser, werden die Kirchen fleißiger, die Schenken weniger besucht, sind die Menschen den Lehren des Geistlichen zugänglicher, nirgend die Kinder für einen guten Schulunterricht empfänglicher, nirgend ist die Zahl der unehelichen Geburten geringer, nirgend . . . das leidige Getränk, der Branntwein, minder allgemein, nirgend haben andere nervenreizende Getränke sich weniger verbreitet als in den eben gedachten Landesteilen. « 128

173

Selbst in den späten 1840er Jahren, nach dem Zusammenbruch der Grobspinnerei, den Eisenbahnarbeiterunruhen und anderen Symptomen der Politisierung der Armut, wurde den Heuerlingen im Mindenschen Fleiß und sittlicher Lebenswandel bescheinigt, und auch 1848 stellte ein Regierungskommissar in der Umgebung von Bielefeld eine »bemerkenswerte Ergebung (der Heuerlinge) in ihr trauriges Los« fest - allerdings neben einem »Unwillen« gegen den sich abzeichnenden Strukturwandel derprotoindustriellen Produktionsverhältnisse infolge der Verwendung von Maschinengarn 1 2 9 . Jene asketische Moral der familienwirtschaftlichen Produzenten hatte freilich tragische Züge. Die Unabhängigkeit vieler Weber bestand in vielen Fällen infolge der Kreditabhängigkeit »nur dem Scheine nach«, wie der Düsseldorfer Regierungsrat Quentin 1847 diagnostizierte. Die familienwirtschaftliche Selbständigkeit war gewissermaßen, da ohnmächtig gegen die überlegene kapitalistische Konkurrenz, zum Gefangenen ihrer eigenen Prinzipien geworden; je intensiver die asketische Subsistenzwirtschaft, desto sicherer rutschte der Weber in die Abhängigkeit. Aber noch in ihrem Zerfall zeugte sie vom sozialen Leitbild der Selbständigkeit des hausindustriellen Produzenten. In der pietistischen Erweckungsbewegung, die seit der Jahrhundertwende zunehmend Anhänger in den ländlichen Unterschichten fand, artikulierte es sich in einer traditionalistischen religiösen Sozialethik, die mit der Betonung von Fleiß, Berufstreue und Eigentum das Recht auf Subsistenz, auf Unterstützung und Caritas religiös begründete und den Handel nur als »ehrlichen« duldete. Die Erweckungsbewegung gewann damit angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Strukturveränderungen eine Schutzfunktion. Sie spendete nicht nur Trost und verlieh den Armen wieder eine spezifische Würde, die in der malthusianischen und wirtschaftsliberalen Ideologie nicht vorhanden war, sondern stärkte über das religiöse Selbstbewußtsein auch das soziale. Gerade im Zeichen religiössozialer Normen wurde die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse nicht widerspruchslos hingenommen. Als in Bielefeld 1847 die Gründung einer Maschinenspinnerei in ein akutes Stadium zu gelangen schien, protestierten umgehend 73 Heuerlinge und Spinner aus Theesen (Kr. Bielefeld) auch im Namen von nicht-unterzeichnenden »Ravensbergischen Mitbrüdern« (!) beim Oberpräsidenten und baten ihn, »gnädigst verhindern zu wollen, daß jene unheilbringende Maschine, die fürchterliche Geisel der Menschheit, erbaut werde«. Sie fürchteten durch die Fabrik eine Arbeitslosigkeit, die nach der schon jahrelangen Not einen »langsamen Hungertod« von »englischen« (d. i. irischen) Ausmaßen zur Folge haben werde. Anstelle der möglichen Fabrik schlugen sie ein Institut vor, das in der Konzeption schon alt und in früheren Krisenjahren auch dilatorisch erprobt worden war: öffentlich verwaltete Flachs- und Garnmagazine als Alternative zur privatwirtschaftlichen, fabrikindustriellen Überwindung der Krise. Sie sollten den Spinnern und Webern gute und billige Rohstoffe verschaffen und sie von 174

den Kaufleuten unabhängig halten. Zusätzlich sollten prohibitiv hohe Zölle fur das importierte Maschinengarn das Leinen aus Handgarn schützen. Als eine notwendige Bedingung der Durchführung dieser gewissermaßen handwerksmäßig-genossenschaftlichen Reform der proto-industriellen Produktionsverhältnisse erschien ihnen allerdings, daß der »Kaufmann sich gewöhnen (muß), etwas christlicher und genügsamer zu sein« 130 . Dieser Widerstand gegen die Fabrik bestimmte auch die sozialpolitischen Ziele der Spinner und Weber in der Revolution und in einer breiten Petitionsbewegung im Frühjahr 1850 gegen die staatliche Unterstützung der ersten Maschinenspinnerei in Bielefeld. Schon unter Berufung auf erste Erfahrungen mit dem Verlags- und Fabriksystem, der Arbeitslosigkeit j e nach den Dispositionen des Verlegers und der ungewohnten, zeitlich konzentrierten, harten Arbeit im »Kasernement« der Fabrik, wurde die Fabrikindustrialisierung als eine Degradierung angeprangert. In einer D e n k schrift der konservativen Wahlmänner der Gemeinde Jöllenbeck im Kr. Bielefeld, die der Petitionsbewegung die Argumente lieferte, heißt es: »Einige reiche Kaufleute Bielefelds würden die mit der unabhängigen Fabrikation (im Kaufsystem, J. M.) verbundenen Vorteile der übrigen Bevölkerung aus den Händen winden, und die große Zahl unserer tätigen Weber und Spinner würde zu abhängigen Lohnarbeitern, zu Proletariern, zu Heloten des Capitals und der Industrie herabsinken.«131

Die Fabrikarbeit stand für die Autoren noch im Schatten der Vergangenheit der absolutistischen Zwangsarbeitserziehung und der Fabriken-Zuchthäuser 1 3 2 , aber auch schon im Lichte der proletarischen Existenzunsicherheit des Lohnarbeiters: »Denn künftig würde die ganze Familie bloß auf den kärglichen Verdienst des Mannes angewiesen sein, während bis jetzt sämtliche Familienmitglieder . . . durch einen, wenn auch noch so geringen Verdienst, zum gemeinschaftlichen Unterhalte der Familien beitrugen. « 133

O b w o h l sie diesem Bild der hausindustriellen Familienwirtschaft das nicht mehr selbstverständliche »feste Fundament des Ackerbaus« unterlegten 1 3 4 , beschworen sie doch eine N o r m und Erfahrung der Vergangenheit, denen gegenüber die dauernde Fabrikarbeit bei niedrigen und unsicheren Löhnen und frühem Verschleiß noch nicht als realistische Alternative erschien, auch nicht erscheinen konnte, selbst wenn man die brutale Fabrikdisziplin nicht berücksichtigt. Tatsächlich klagte besonders die Ravensberger Spinnerei in den 1850/60er Jahren - im Gegensatz zu der H o f f n u n g der Fabrikengründer auf eine angesichts der A r m u t billige und gefugige Arbeiterschaft - ständig über die Fluktuation und den Mangel geeigneter Arbeitskräfte. Facharbeiter mußten aus Irland und Schlesien geholt werden, w ä h rend in Ravensberg nur die Ärmsten jeweils kurzfristig in die Fabriken gingen, nämlich die Söhne und Töchter des vormärzlichen Einlieger- und 175

Spinner-Proletariats, dessen traditionelle Familienwirtschaft zusammengebrochen war. Die frühere soziale Differenzierung zwischen Heuerlingen mit genügend Land und solchen ohne oder nicht ausreichendem Land setzte sich fort in der Differenzierung zwischen Heim- und Fabrikarbeitern. In Bezug auf den Landkreis Bielefeld heißt es 1863: »Die Heuerlinge auf größeren Besitzungen können 1-2 Kühe halten und treiben als Nebenbeschäftigung meistens die Weberei; bei einigem Fleiße haben sie ein mäßiges Auskommen, bringen es auch nicht selten zu leidlicher Wohlhabenheit; dagegen erhalten die Heuerlinge der Erb- und Zeitpächter nur wenig Land, finden bei den Wirten auch wenig Arbeit und leben häufig in Dürftigkeit. Die beiden Maschinenspinnereien beschäftigen diese Leute und Kinder vielfach.« 135

Die ehemaligen Spinner konnten sich, sofern sie nicht ab- oder auswanderten, den Widerstand gegen die Fabrikarbeit sozusagen nicht lange leisten. Die Weber hingegen konnten durch Spezialisierung die Heimarbeit auch nach der Gründung der Mechanischen Weberei bis zur Jahrhundertwende fortsetzen 136 .

3. Expansion und strukturelle Stagnation im Handwerk Mit dem Ausbleiben oder der nur zögernden Entwicklung der Industrialisierung war auch dem Handwerk - mit Ausnahme des Bauhandwerks - kein echtes quasi sekundäres Wachstum möglich, nämlich über Funktionsleistungen fur die Industrie 137 . Dennoch läßt sich eine das Bevölkerungswachstum überholende Vermehrung der Handwerker beobachten. Der Anteil der Handwerkerbevölkerung im Rgbz. Minden, d. h. die Summe aus den Meistern, ihren Familienangehörigen und den Gesellen stieg von 10,3% im Jahre 1822 auf 11,8% im Jahre 1846 138 . Diese Zahlen scheinen die vormärzliche Klage über die Übersetzung des Handwerks zu bestätigen. Für eine Darstellung der ökonomischen Situation des Handwerks sind aber zunächst noch einige Zahlen zu den Strukturen seines Wachstums notwendig. Ein Kriterium für die »Übersetzung« ist die Handwerkerdichte, die Zahl der Meister und Gesellen pro 1000 Einwohner. Bezogen auf den ganzen Rgbz. Minden erhält man fur die einzelnen Handwerksgruppen das in Tabelle 13 dargestellte Bild. Zunehmende Handwerkerdichte bedeutet einen abnehmenden Markt für den einzelnen Handwerker. Der Markt verengte sich also für alle Handwerker, sofern dies nicht durch eine verstärkte Nachfrage kompensiert wurde. Eindeutig war dies aber nur im Bauhandwerk der Fall, das mit der langsam einsetzenden Industrialisierung seit den 1830er Jahren einen allgemeinen Aufschwung erfuhr und dessen Expansionschancen im Rgbz. Minden deshalb größer waren, weil es, weniger standortge176

bunden, zu einem bedeutenden Teil saisonales Wanderhandwerk war, insbesondere in den Kreisen Warburg und Höxter, die mit 5,62 bzw. 12,36 (im Jahre 1846) auch eine überdurchschnittliche Dichte des Bauhandwerks hatten 139 . In den anderen Handwerken war die Verdichtung merklich geringer, wobei noch zu berücksichtigen ist, daß die Verdichtung des Textil- und Bekleidungshandwerks durch eine Erweiterung der Kategorien, besonders die Aufnahme der Spitzenklöpplerinnen, auch statistisch veranlaßt ist. Konkreter läßt sich die Frage nach der »Übersetzung« am Beispiel der »Handwerke des Grundbedarfs« überprüfen, die so gut wie ausschließlich fur einen lokalen Markt produzierten. Von ihnen seien hier die Bäcker, Schuster, Schneider und Tischler herausgegriffen, die zusammen etwa die Hälfte aller Handwerker ausmachten (Tabellen 14 und 15). Alle diese Handwerke zeigen zwischen 1822 und 1831 eine deutliche Zunahme der Dichte, die, gemessen am Ausgangsjahr 1822, bis 1846 sich abschwächte und nur bei den Tischlern noch stieg. Die Zahlen bestätigen also nicht die Klagen über die Übersetzung des Handwerks. Das Tischlerhandwerk hatte mit seiner abweichenden Wachstumsentwicklung einerseits Teil an der allgemeinen Vermehrung der Bauhandwerke; andererseits war es ein Handwerk des Grundbedarfs, das weniger als das der Schneider, Schuster und Bäcker durch Selbstversorgung oder durch Einschränkungen des Konsums zu ersetzen war. Die wachsende Bevölkerung bedeutete auch einen ständig expandierenden Markt für die Tischler, denn jede Familie Tab. 13: Handwerkerdichte im Rgbz. Minden, 1822-1846 Gewerbegruppe 3

Nahrungsmittel Lederverarbeitung Textilgewerbe b Holzverarbeitung Bauwesen Metallverarbeitung Sonstige

1822

1831

1846

3,16 6,32 6,47 8,82 3,00 4,48 0,21

3,50 7,13 6,13 9,61 2,93 5,43 0,60

3,32 6,95 7,89 10,01 4,72 5,06 0,77

' Ohne Müller. b Ohne Weber.

Tab. 14: Entwicklung der Grundhandwerke im Rgbz. Minden, 1822—1846 1822 Meister Gesellen Bäcker Schuster Schneider Tischler

553 1375 1520 762

188 486 524 366

1831 Meister Gesellen 618 1684 1742 1137

223 591 544 489

Meister 670 1775 1816 1424

1846 Gesellen 294 678 690 525

177

benötigte eine noch so einfache Ausstattung des Haushalts, und nicht zuletzt war für jeden Toten ein Sarg zu zimmern. Die relativ einfachen Verrichtungen und eine stetige Nachfrage boten so eine vergleichsweise günstige Situation für den kleinen Tischlerhandwerker, was sich in einer weiteren Besonderheit zeigt. Während im allgemeinen die Betriebsgrößen der Handwerke nach 1831 wuchsen, nahm bei den Tischlern die Zahl der Meister stärker zu als die der Gesellen 140 . Während bis 1831 das Verhältnis der Meister:Gesellen etwa gleich blieb, nahm danach die Zahl der Gesellen stärker zu als die der Meister. Der Zeitraum stärksten Wachstums, nämlich bis 1831, und der Zeitraum mit dem deutlichsten Strukturwandel fielen - mit Ausnahme der Tischler-nicht zusammen. Das bedeutet, daß trotz der Bevölkerungsvermehrung und der damit gegebenen Marktausweitung nach 1831 die Chance für Gesellen, selbständig zu werden, sank. Die kleine Erweiterung des Marktes nach 1831 kam also eher den etablierten Meistern zugute. Umgekehrt ist bis 1831 trotz der Verengung des Marktes eine stärkere Zunahme der selbständigen Meister zu beobachten. Diese zeitlich verschobenen Entwicklungsschritte machen eine Wirkung der Einführung der Gewerbefreiheit wahrscheinlich, die im Untersuchungsgebiet mit der französischen Okkupation im Jahre 1808 erfolgte. Eine vorsichtige Formulierung empfiehlt sich deshalb, weil es bisher noch nicht gelungen ist, den Wirkungsfaktor der Einfuhrung der Gewerbefreiheit gegenüber anderen exakt zu gewichten und regional vergleichende Untersuchungen fehlen 141 . Die Handwerker selbst freilich führten ihre schwierige Lage immer auf die liberale Gewerbegesetzgebung zurück. Ganz in ihrem Sinne zeichnete der Herforder Stadtdirektor 1818 ein überaus positives Bild der alten Zünfte, welche die Qualität der Arbeit gewährleistet hätten; nun aber würden die ländlichen Handwerker mit ihrer Pfuscharbeit und die jüdischen Kleinhändler mit ihren billigen Waren auf die lokalen Märkte drängen 142 . Zwölf Bielefelder Schumachermeister klagten 1824, daß seit Aufhebung der Zünfte die Zahl der Schuster »sich so sehr angehäuft hat, daß kaum die Hälfte davon imstande sind, sich vom Handwerk ihren Hausstand und Familie aufrecht zu erhalten«. Die Soldaten und Landhandwerker, die nun ihre Arbeit auch in den Städten anböten, nähmen ihnen Geschäfte weg, zumal Tab. 15: Handwerkerdichte und Betriebsgrößen (Zahl der Gesellen pro 100 Meister) der Grundhandwerke im Rgbz. Minden, 1822-1846 Handwerkerdichte 1822 1831 1846 Bäcker Schuster Schneider Tischler

178

2,02 5,21 5,72 3,16

2,15 5,83 5,86 4,17

2,09 5,33 5,44 4,23

1822 34 35 34 48

Betriebsgrößen 1831 1846 36 35 31 43

44 38 38 37

Bielefeld wegen des freien Zugangs zum Handwerk ein Anziehungspunkt sei fur diejenigen aus den Nachbarstaaten Osnabrück, Hannover, Hessen und Lippe mit noch konservativer Gewerbepolitik, »die kein Vermögen haben, allda Meister und Bürger werden zu können« 143 . Ähnlich stellten die Schneider und Schuster der Stadt Minden 1844 ihre Lage dar und verlangten in Erinnerung der angeblich »guten alten Zeiten, in denen der fleißige Handwerksmann seines Auskommens sicher« war, eine Revision der Gewerbefreiheit. Neben der Tätigkeit der Soldatenhandwerker und dem beginnenden Vertrieb von industriell hergestellten Kleidern und Schuhen fühlten sie sich am stärksten durch die billige Arbeit der »Landschneider« und »Bauern-Schuhmacher« gestört, die im Lohnwerk in den städtischen Haushalten arbeiteten 144 . Die nach 1830 überwiegend rückläufige Entwicklung der Handwerkerdichte und die einseitig von den städtischen Handwerkern kommenden Klagen machen wahrscheinlich, daß weniger die »Übersetzung« die an die lokalen Märkte gebundenen Handwerker bedrängte, sondern eher die M o bilisierung der Konkurrenz der ländlichen Handwerker durch die Gewerbefreiheit. Sie hob nämlich auch die Marktgrenzen fur die ländlichen Handwerker auf, deren Arbeitspotential früher durch die Stadt-Land-Trennung in Unterbeschäftigung zurückgedämmt war, das nun aber um die städtische Kundschaft warb; wenn und wo diese Trennung schon vor 1800 durchlöchert war, breitete sich nun die Konkurrenz zumindest ungehinderter aus. Die »Handwerkerfrage« des Vormärz zeigt sich als die Konsequenz einer schon im 18. Jahrhundert latenten Struktur, die durch den Reformakt offengelegt wurde. Die Forderungen der städtischen Handwerker 1848 nach Wiederherstellung der Zünfte waren insofern konsequent, als sie eine Funktion der Zünfte vor 1800, die Abschirmung der billiger arbeitenden Landhandwerker, wiederbeleben wollten. Im Juli 1848 verlangte die Gesamtheit der Schuster und Schneider des Landstädtchens Petershagen (Kr. Minden) ähnlich wie ihre städtischen Gewerksgenossen 50 Jahre früher - ein Verbot des Lohnwerks der ländlichen Konkurrenten und forderte darüber hinaus, daß jeder Schuster und Schneider »sein Gewerbe nur in seiner eigenen Wohnung ausüben dürfe«, da die Arbeit der Landhandwerker in der Stadt das »erheblichste« sei, »was auf unserem Gewerbe störend und beeinträchtigend lastet« 145 . Die Klage über die Konkurrenz der ländlichen Handwerker ist leicht Tab. 16: Handwerksmeister in Stadt und Land im Rgbz. Minden, 1800-1846 146

1800 1846

Stadt

(%)

Land

(%)

Gesamt

(%)

4800 4617

47 39

5350 7257

53 61

10150 11874

100 100

179

einzusehen. Nach einer etwas groben Berechnung (unter Ausschluß der Weber) stagnierte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Zahl der Meister oder sonst »auf eigene Rechnung« arbeitenden Handwerker in den Städten, während sie auf dem Land um 36% stieg (Tabelle 16, S. 179). In Wirklichkeit war die unterschiedliche Entwicklung in Stadt und Land, die der entsprechend unterschiedlichen Entwicklung der Bevölkerung folgte, etwas weniger drastisch, da in der Zwischenzeit einige Kleinstädte ihren Status als Stadt verloren hatten. Dennoch bleibt, daß die Expansion des Handwerks eine ländliche war, komplementär zum Ausbau der kleinbäuerlichen Stellen 1 4 7 . 1846 wohnten im Rgbz. Minden von den 11847 Meistern 61% auf dem Lande. Unter den Tischlern und Schneidern waren die entsprechenden Anteile mit 68% bzw. 71% noch höher. Die ökonomische Lage der Handwerker hat sich, v o m Bauhandwerk abgesehen, im Laufe des Vormärz gegenüber 1800 wohl nur wenig verändert. Ein Indiz dafür ist die geringe Zahl der Gesellen. Auch nachdem nach 1831 die Zahl der Gesellen gegenüber den Meistern gestiegen war, kamen 1846, bezogen auf die Gesamtzahl der Handwerker im Rgbz. Minden, erst ein Geselle auf zwei Meister. In der Stadt war, wie schon u m 1800, das Verhältnis Meister: Geselle günstiger als auf dem Lande. Während hier nur ein Drittel der Meister einen Gesellen hatte, hielten in der Stadt - im statistischen Durchschnitt - zwei Drittel der Meister einen Gesellen. In den Städten hatten damit die Betriebsgrößen zugenommen, da u m 1800 die städtischen Meister deutlich weniger Gesellen hielten. Die Zahl der EinMann-Betriebe war aber auch hier größer, wenn man die Betriebe mit mehr als einem Gesellen berücksichtigt. Einen Hinweis auf die ökonomische Lage bietet noch das Gewerbesteueraufkommen. Die Zahl derjenigen Handwerker, die überhaupt Gewerbesteuer zahlten, d. h. mehr als zwei Gehilfen hielten, war sehr gering. Im Bereich der Handelskammer Bielefeld (Kr. Bielefeld-Halle-Herford-Wiedenbrück) zahlten 1849 39 Bäcker, 17 Fleischer, 6 Brauer und 67 »Handwerker« 702 Rt Grundsteuer, d. s. 19% des gesamten Gewerbesteueraufkommens. In der Stadt Herford zahlten im Jahre 1847 20 Handwerker Gewerbesteuer, d. s. 5% der in der Gewerbetabelle von 1846 in der Stadt ausgewiesenen 369 Handwerker 1 4 8 . Fraglich bleibt, ob in der ländlich-kleinstädtischen Region mit der Ausdehnung des handwerklichen Marktes infolge der Bevölkerungsvermehrung auch die Struktur des Marktes sich so verändert hat, daß dies auf das Einkommen gerade des Grundhandwerks Rückwirkungen hatte. Zwar ist mit der Vermehrung der besitzlosen Unterschichten eine Abnahme der Selbstversorgung und eine Kommerzialisierung der Lebensbedürfnisse zu beobachten; der »innere Markt« hat sich im Vormärz weiter differenziert 1 4 9 . Die gleichzeitig zunehmende Massenarmut hat aber die damit potentiell steigende Nachfrage in engen Grenzen gehalten. Allein der zunehmende vollbäuerliche Wohlstand hat diese bis zu einem gewissen Grade wirklich

180

gesteigert 150 . Die Marktexpansion ist in einem bedeutenden Maße wohl durch die Stellenvermehrung kompensiert worden. Von jener Kommerzialisierung scheinen die Handwerker, insbesondere die ländlichen, weniger gewonnen zu haben als die Bauern und Geldverleiher. Im Gegenteil bedrohte die Intensivierung des Handels gerade auch ihre lokalen Märkte. So forderten die Bäcker in Höxter 1844 das Verbot des Hausierhandels mit Brot, der in »neuerer Zeit« zugenommen habe 151 . Ausbesserungsarbeiten, geringe Umsätze und nur saisonale Beschäftigung waren auch in der Mitte des 19. Jahrhunderts Kennzeichen vieler ländlicher Handwerker. Wie zäh die Unterbeschäftigung, ein Strukturmerkmal des Handwerks im 18. Jahrhundert, sich hinzog, enthüllt die verbreitete Arbeitslosigkeit auch unter städtischen Handwerkern in den 1840er Jahren. In der Stadt Herford waren 1847 knapp die Hälfte aller Handwerker arbeitslos und unterstützungsbedürftig oder auf Tagelohnarbeit angewiesen. Vielfach fanden sich die kleinen Meister wohl in einer ähnlichen Lage wie die Weber und Spinner, wie auch 1863 aus dem Kr. Büren berichtet wird: Die »kleinen Handwerker arbeiten häufig in den Häusern der Arbeitgeber und stehen den Tagelöhnern an Einkommen gleich«. Hauptsächlich aus diesen beiden Gruppen kamen im Kr. Büren die Abwanderer, die sich nach 1860 als Bergarbeiter im Ruhrgebiet niederließen 152 . Das ländliche Handwerk, läßt sich resümieren, erlebte bis 1850 eine Expansion unter dem Vorzeichen der wirtschaftlich-strukturellen Stagnation. Die Gewerbefreiheit war freilich eine einschneidende Zäsur, aber mehr in politischer als in ökonomischer Hinsicht. Sie ließ das Handwerk zwar stärker über die alten städtischen Zunftgrenzen hinaustreten; da dies aber die Steigerung einer Erfahrung schon des 18. Jahrhunderts war, forcierte sie nur die Forderung nach zünftischer Restauration.

181

VI. Struktur und Entwicklung der bäuerlichen Klassengesellschaft bis 1850 Was bedeuteten die in den letzten Kapiteln herausgearbeiteten demographischen und ökonomischen Wandlungsprozesse für die Sozialstruktur der ländlichen Gesellschaft? In der bisherigen Darstellung der Sektoren der ländlichen Wirtschaft, ihrer Zusammenhänge und Entwicklung wurden besonders im Hinblick auf die Form der Entwicklung schon schichtenspezifische Akzente gesetzt. Die Agrarkonjunktur und der agrarische Fortschritt kam vor allem den größeren Bauern zugute, während die Krise der ländlichen Textilindustrie fast ausschließlich die Unterschichten traf Mit der gegenläufigen Konjunktur und Entwicklung der beiden Hauptpfeiler der ländlichen Wirtschaft waren bei ihrem ursprünglich engen Zusammenhang in der regionalen Gesellschaft und im Haushalt der einzelnen Produzenten Folgen für die ländliche Sozialstruktur unausbleiblich. Wie sah diese aus? Welche Wirkungen zeitigten die ökonomischen Prozesse in der sozialen Schichtung? Welche Formen sozialer Mobilität lösten sie aus? Diesen Fragen soll im folgenden nachgegangen werden. Dabei geht es vor allem um das innere Gefüge der ländlichen Gesellschaft, u m die dauerhaft wirksamen Faktoren in der Bildung und Erhaltung der sozialen Ungleichheit sowie u m das Ausmaß des Wandels und seine Wirkungen auf die überkommene Sozialstruktur. Zunächst wird die besitzständische Qualität des Bauernstandes herausgearbeitet, dann die besitzdeterminierte Schichtung und deren Reproduktion innerhalb der Bauernschaft. Anschließend wird der Klassengehalt des bäuerlichen Grundbesitzes näher beleuchtet, d. h. die Folgen der tatsächlichen Verfügung bzw. Nicht-Verfügung über einen Grundbesitz bestimmter Größe für die wirtschaftlichen und sozialen Chancen, unbeschadet der ständisch-rechtlichen Qualität des Besitzes. Der Vergleich zwischen den eigentlichen Bauern, den Vollbauern einerseits und den Kleinbauern und Landlosen andererseits wirft ein Licht auf die Wucht ökonomischer Tatsachen auch innerhalb der grundherrschaftlich eingebundenen ländlichen Gesellschaft. In einem nächsten Schritt wird nach den Wirkungen des liberalen Bodenmarktes gefragt und schließlich nach den Folgen des Anwachsens der besitzlosen Unterschicht für die überkommene Sozialstruktur. Gegenstände und Fragen dieses Kapitels wurden angeregt durch das K o n zept der »peasant society«, das oben in der Einleitung diskutiert wurde. Im Mittelpunkt steht der von der Grundherrschaft immer auch relativ unabhän182

gige Bauer und seine Position gegenüber den ländlichen Unterschichten. Das relativ eigenständige Gewicht der bäuerlichen »Teilgesellschaft«, ihre gewissermaßen interne Struktur und die in ihr mögliche Dynamik treten also in den Vordergrund, während die »mächtigen Außenseiter« Grundherr, Kaufmann und Staat zwar nicht ganz vernachlässigt werden, aber doch in den Hintergrund rücken. Der Adel mag in dieser Perspektive »von unten« schwächer erscheinen, als er tatsächlich war. Aber in der Regel hatten die ländlichen Unterschichten im Alltag es mit den Bauern zu tun und weniger mit dem Seigneur.

1. Die Bauern als Stand und Klasse a) Grundherrschaft,

Staatsbildung

und

Adelsstand

Die bürgerliche Kritik an der rechtlichen Ungleichheit im späten 18. Jahrhundert hat mit ihrer Aufwertung des »Verdienstes« und der Bildung nicht nur zu einer Verschiebung der gesellschaftlichen Prestigeskala beigetragen; mit der Apologie, die sie provozierte, hat sie indirekt auch Zustände gesellschaftlicher Ungleichheit aufgedeckt, die nicht mehr durch die ständische Ordnung bestimmt wurden. Eine Beschreibung der »Qualität der Bewohner« der Grafschaft Tecklenburg schildert zwar noch ausfuhrlich die rechtlichen Verschiedenheiten der Bewohner von Stadt und Land und die herrschaftlichen Pflichten der Bauern; die Verteidigung dieser ständischen Ordnung mündet aber in ein Bild der sozialen Ungleichheit auf dem Land, das nicht mehr von ungleichen Rechten bestimmt ist: »Die Eigenbehörigen und Freien drängen sich zum Leibeigentum und geben viel Geld zu, u m eine eigenbehörige Stätte zu bekommen, daher es denn auch bei den schlechtesten prädiis nie an Liebhabern fehlet. Der Grund davon liegt in dem natürlichen Hang, etwas Eigenes zu besitzen, denn der Eigenbehörige betrachtet sich als Herrn der Stätte, und wenn ein Bauer in öffentlichen Gelagen redet, muß der Heuermann schweigen, fängt ein großer Bauer an zu reden, muß der Kötter schweigen, sie fühlen das Leibeigentum nicht.« 1

Unbeschadet ihrer apologetischen Absicht beschreiben diese Sätze treffend die soziale Schichtung der grundherrlich abhängigen Bauernschaft und der Landbevölkerung. Sie registrieren die Entwicklung der Grundherrschaft von einem herrschaftlich zusammengehaltenen Personenverband durch das Dazwischentreten einer fürstlich-staatlichen Macht zu einem hierarchischen Verband zweier sozialer Stände, die sich (asymmetrisch) die Nutzung von Grund und Boden teilten. Indem der Staat das »Privileg« politischer Herrschaft (Steuern, Gerichtsbarkeit, Militär) sukzessive übernahm, erodierte die politische, soziale und ökonomische Identität des Herrschaftsstandes und 183

teilte sich in einen sozialen und politischen Stand, dessen Einheit nun durch die staatliche Funktion des Standes gestiftet wurde. Der grundherrliche Adel wurde einerseits zu einem Grundbesitzer, andererseits zu einem staatlichen Funktionsträger in Heer und Verwaltung, wodurch er sich auch seine privilegierte herrschaftliche Stellung als Grundbesitzer sicherte. Diese Transformation des herrschaftsständischen Adels war in den westlichen Provinzen im 18. Jahrhundert schon weiter vorangetrieben als in den östlichen Provinzen der preußischen Monarchie. Im geistlichen Staat Paderborn hatte der Adel natürlich eine stärkere Stellung als in der preußischen Provinz Minden-Ravensberg. Aber auch im Paderbornischen besaß er für die ländliche Sozialstruktur nicht die hohe Bedeutung wie der ostelbische Adel, vor allem (bis auf einige Ausnahmen) infolge seiner schwächeren ökonomischen Stellung. Während im Osten mit der Gutsherrschaft noch eine Reihe von lokalen Herrschaftsrechten verknüpft war - niedere Gerichtsbarkeit, Polizeigewalt, Kirchen- und Schulpatronat-, waren diese in Minden-Ravensberg und auch im geistlichen Fürstbistum Paderborn mehr oder weniger v o m Staat absorbiert oder dem Adel als einem politischen Stand übertragen und damit nicht mehr selbstverständlich und unmittelbar mit seiner Qualität als Grundherr verbunden 2 . Stärker als in Paderborn waren die adligen Herrschaftsrechte in MindenRavensberg durch die Bürokratie gleichsam erstickt worden. Neben grundund leibherrlichen Rechten sowie Resten von Patrimonialgerichtsbarkeit, blieb dem Adelsstand nur mehr wenig, mögen seine korporativ-ständischen Rechte auch noch stärker gewesen sein als in den östlichen Provinzen. Mit der Übertragung »östlicher« Verwaltungsprinzipien wurde ihm die lokale Macht weitgehend aus der Hand geschlagen. Seit Einfuhrung der Amtsverfassung 1723 war die Lokalverwaltung und niedere Gerichtsbarkeit in den Händen der bürgerlichen Amtmänner, die zugleich Domänenpächter waren. Eine Kompensation dieses Verlustes durch einen bedeutenden Einfluß auf die Provinzialverwaltung gelang dem Adel nicht; allerdings fand er im Heer sein Unterkommen. Die Einfuhrung der östlichen Kreisverfassung seit 1723, im Osten Unterpfand der ständischen Macht, führte so zu einer ironischen Demonstration der Machtlosigkeit. Die aus dem Ritterstand gewählten Landräte gewannen einen Aufgabenkreis erst durch die Zuweisung von Funktionen der staatlichen Wohlfahrtspolizei und »LandesVerbesserung«, während sie daneben noch an der Eintreibung der Grundsteuer beteiligt waren. Eine polizeiliche und gerichtliche Sanktionsgewalt fehlte ihnen. Der Landrat war ein Diener der Bürokratie, der von den Ständen besoldet wurde 3 . Wie in den geistlichen Staaten überhaupt, war auch im Fürstbistum Paderborn die adelsständische Macht noch wesentlich stärker. Nicht nur war hier die Patrimonialjustiz der Rittergutsbesitzer noch relativ weit verbreitet. Mit der verfassungsmäßig starken Stellung des Domkapitels, welches den bischöflichen Landesherrn zu wählen hatte, hat der Adel sich e i n e - i n Wahlka184

pitulationen stets erneuerte - starke Stellung in der Landesverwaltung und Justiz gesichert und insbesondere das Monopol der Lokalverwaltung behauptet. Die Besetzung der Ämter, die zuständig waren für Polizei und Gerichtsbarkeit, erfolgte zwar durch den Landesherrn ohne Z u s t i m m u n g der Stände; der Kandidat mußte jedoch aus dem einheimischen Adel stammen. An dem archaischen Steuerverwaltungssystem neben der allgemeinen Verwaltung - Pauschalumlagen auf die Gemeinden, die von gemeindlichen Steuerkollektoren eingesammelt und direkt an die Landeskasse in Paderborn abgeliefert wurden - war der Adel nur indirekt beteiligt: die Steuerkollektoren mußten v o m A m t bzw. den städtischen Bürgermeistern bestätigt werden. Offenbar genügte ihm hier sein Steuerbewilligungsrecht und seine Steuerfreiheit 4 . Wie verschieden die politische Macht des Adels in den beiden Territorien auch war, sie war eingespannt in einen übergreifenden staatlichen und rechtlichen Zusammenhang, der seine Herrschaft auch begrenzte. Mit der »Versteinerung« der Grund Herrschaft zu einer ßenien-Grundherrschaft ging einher ihre »Verrechtlichung«; während sie sich wesentlich zu einer privilegierten N u t z u n g von Grund und Boden entwickelte, in welcher der Grundherr Renten und Dienstleistungen der Bauern erwarb, verfestigten sich im Zuge der territorialstaatlichen und Reichsjurisdiktion Form und U m f a n g dieser N u t z u n g gegenüber den Bauern 5 . Ungeachtet der starken Belastung der bäuerlichen Wirtschaft konstituierte und stabilisierte sich ein bäuerliches Recht der Verfugung über Grund und Boden, das so weit gesichert war, daß man von einem Standesrecht sprechen kann. Innerhalb der Rentengrundherrschaft festigte sich mit der Staatsbildung so ein Stand bäuerlicher Grundbesitzer, der, bei aller Abhängigkeit v o m Herrn und trotz des M a n gels einer eigenständigen politischen Vertretung als Stand, über alle sonstigen Unterschiede hinweg ein gleiches und nur ihm zukommendes Recht besaß.

b) Bäuerliches Erbrecht und Besitzdifferenzierung Das wichtigste Element in der grundherrschaftlichen oder »Feudal«-Verfassung war fur die Bauern die Sicherheit ihres Nutzungsrechts (dominium utile) gegenüber dem Obereigentum (dominium directum) des Grundherrn in der Verfugung über Grund und Boden. Eine hohe Form solcher Sicherheit stellte das erbliche Besitzrecht dar, wie es im nordwestdeutschen Meierrecht geregelt und auch in der hier untersuchten Region gültig war. Den ständischen Charakter dieses Rechts zeigt die Angleichung der Besitzrechte über gruppenspezifische Abhängigkeit hinweg, was sich auch terminologisch widerspiegelt. Im 18. Jahrhundert verdrängte in Paderborn eine größenklassifizierende Terminologie v o m Voll-, Halb- bis Sechzehntelmeier die älteren, im Besitzrecht und in der Siedlungsgeschichte wurzelnden 185

Bezeichnungen fur die Bauern 6 . In Minden-Ravensberg umfaßte der Begriff »Colon« alle Grundbesitzer, zwischen denen dann entsprechend der Besitzgröße nach Meiern bzw. Köttern unterschieden wurde. Den Kern dieses Standesrechts bildete das Erb- und Familienrecht, das im 18. Jahrhundert im westfälischen Bereich durch das Anerbenrecht bestimmt war, d. h. ein geburtsständisch determiniertes primäres Erbrecht des ältesten (Majorat) oder jüngsten Sohnes (Minorat) am gesamten Besitz unter der Bedingung einer gleichberechtigten Abfindung der nachfolgenden Kinder und einer Altersversorgung der Eltern 7 . War auch eine Funktion dieses Erbrechts das grundherrliche und staatliche Interesse an der Stabilität und Kontinuität der Bauernhöfe und damit ihrer steuerlichen Leistungskraft, so hatte es doch ebenso die Funktion, den Besitz als Familieneigentum zu erhalten. Diese beiden Funktionen standen gleichberechtigt nebeneinander. Eingriffe in diese Funktion der Erbfolge waren sowohl dem Grundherrn wie dem bäuerlichen Familienoberhaupt entzogen. Dies illustrieren die Bestimmungen über die »Succession der Eigenbehörigen« in der Minden-Ravensbergischen Eigentumsordnung von 1741, wobei zugleich verwandtschaftsstrukturelle Variationen der Erbfolge deutlich werden, die deren familienbestimmten Charakter noch stärker hervortreten lassen. Wenn auch nur von den Eigenbehörigen die Rede ist, gilt das Gesagte doch für alle Bauern: »Wann sich begiebt, daß ein eigenbehöriges Erbe oder Stätte durch den T o d der Colonen, des Mannes oder des Weibes, oder beyder, oder durch Abtretung desselben und Annehmung der Leibzucht, zur neuen Besetzung eröffnet wird, so soll der jüngste Sohn, und wenn deren keine vorhanden, die jüngste Tochter den H o f erben. Wann aber der jüngste Sohn lahm oder gebrechlich, folglich nicht imstande ist, dem H o f gehörig vorzustehen, kann mit Zuziehung derer Eltern oder nach deren Absterben, derer Verwandten, von denen anderen Söhnen einer v o m Gutsherren zum Anerben gemacht werden, wobei aber auf den Penultinum (d. h. denjeweils vorletzten, J . M . ) und so weiter auf dem Nächstfolgenden, wann sonst wider denselben nichts zu erinnern, zu reflektieren. - Sollte der Anerbe sich vor tauglich ausgeben, der Gutsherr ihn aber dafür nicht halten, muß die Obrigkeit davon kognosciren, jedoch, ohne deswegen den geringsten Prozeß zu verstatten, decidiren. « 8

In der Praxis war das Anerbenrecht noch flexibler gestaltet. Die Durchbrechung der männlichen Erbfolge zugunsten der Töchter, die Ausdehnung des Erbrechts auf Seitenverwandte bei kinderlosen Ehen und der durch lokale Gewohnheiten bestimmte Wechsel von Majorat und Minorat machten den Heimfall des Guten an den Herrn durch Aussterben von Erbberechtigten sehr unwahrscheinlich und stellten damit einen wirksamen Bauernschutz dar 9 . Zwar blieb dem Gutsherrn bei allen Entscheidungen über Heirat, Bestimmung des Erben, Abfindung der Kinder und der Alten, da dies alles die Vermögenssubstanz betraf, eine Vetomacht, indem diese Verfugungen nur durch seinen Konsens voll rechtsgültig wurden; gegen den durch Recht und Gewohnheit gestützten Willen der Bauernfamilie konnte er aber nicht entscheiden. Ähnlich war jedoch diese selbst gebunden. Der 186

Geburtsstand bestimmte zunächst den Platz der Erben und nicht der freie Wille des Familienvaters 10 . Neben Alter und Geschlecht war noch die Abstammung ausschlaggebend. Kinder aus der ersten Ehe hatten den Vorzug vor den weiteren, während uneheliche Kinder ganz von der Erbfolge ausgeschlossen waren. Dem Erbprivileg standen jedoch Versorgungspflichten für die Alten (»Leibzucht«) und nicht heiratenden Geschwister gegenüber, die sich diesen Anspruch durch unentgeltliche Arbeit verdienten, ebenso wie die heiratenden Kinder sich durch Mitarbeit einen Anspruch auf eine Mitgift (»Brautschatz«) erwarben. Die legitime Blutsverwandtschaft und Arbeitsgemeinschaft - das ökonomische System der Familienwirtschaft scheint im Recht wieder durch - begründete eine vielfältige Partizipation am Familienbesitz, die nicht selten, um die stets latenten Spannungen zu regeln, in besonderen Familien vertragen oder »Eheberedungen« eigens festgeschrieben wurde 11 . Das besitzsichernde Erb- und Familienrecht war sozusagen eine halbe Emanzipation aus der herrschaftlichen Unterwerfung; selbst die Leibeigenschaft hatte es gleichsam mediatisiert, die eine zusätzliche Belastung war, aber keinen Rechtstitel lieferte, in das bäuerliche Besitzrecht einzugreifen. Es stiftete so einen sozialen Stand von Grundbesitzern, der bei aller herrschaftlichen Einengung der Verfugungsfreiheit und Abschöpfung des Ertrags doch eine gewisse Sicherheit des Einkommens hatte, am hohen Sozialprestige des Grundbesitzes in der vorindustriellen Gesellschaft partizipierte und mit dem Grundbesitz innerhalb der Gemeinde und des Hauses auch noch rudimentäre Herrschaftsrechte besaß. Wie auf die Stellung der Bauern zu dem Grundherrn hatte das System des Anerbenrechts auch Folgen für die ländliche Schichtung insgesamt. Die Angleichung der Besitz- und Erbrechte und damit ihrer herrschaftlichen Stellung bewirkte keineswegs eine soziale Homogenität der Bauern, sondern im Gegenteil: gerade ihre weitgehende rechtliche Gleichheit ließ die Bedeutung des Besitzes und der Besitzunterschiede stärker hervortreten. Innerhalb der ständisch umrissenen Bauernschaft zeigt sich im späten 18. Jahrhundert eine ausgeprägte besitz-determinierte Schichtung 12 . Der Besitz war eine Voraussetzung für die Selbständigkeit, eine grundlegende Determinante gesellschaftlichen Ansehens; Selbständigkeit hieß aber immer auch: sich selbst ernähren zu können, nicht auf fremden Lohn und Almosen in knappen Zeiten angewiesen zu sein. Ausschlaggebend war daher seine Größe und Ertragsfähigkeit. Ein größerer Besitz, mehr Land gewährte nicht nur ein höheres, sondern auch ein stetigeres Einkommen. Angesichts noch stark schwankender Ernteerträge passierte es einem Kleinbauern nur zu schnell, daß bei einer schlechten Ernte sein Ertrag nicht reichte, bis zur nächsten Ernte Familie und Vieh zu ernähren; Zukauf von Lebensmitteln und Verschuldung waren unausbleibliche Folgen. Steuern, Abgaben und Krankheiten, die seine Arbeitskraft lähmten, hinzugenommen, konnte seine Lage sich leicht der Dürftigkeit der Besitzlosen nähern, 187

von denen die Wohlhabenderen sagten, daß sie «all' ihr Gut am Leibe und kein Brot im Schrank« hätten und auf die sie in einer Mischung aus Verachtung und Mitleid herabsahen 13 . Die größeren Bauern dagegen blieben auch bei Krisen unabhängig, wie sie überhaupt weniger krisenanfällig waren. Sie hatten eine relativ geringere Belastung als die kleinen Bauern, d. h. ihnen blieb mehr von ihrem Arbeitsertrag und mußten daher auch relativ weniger Schulden machen. Waren die Vollbauern im Fürstbistum Paderborn infolge der hohen Brautschätze ihrer Kinder zuweilen auch, gemessen an ihrem Vermögen, total verschuldet, ihre relative Schuldenlast war doch wesentlich geringer als die der Kleinbauern 14 . Darüber hinaus genossen sie natürlich mehr Kredit, ihr Risiko der Zahlungsunfähigkeit und der Einziehung der Stätte war geringer. Damit hatten die größeren Bauern auch die besseren ökonomischen Chancen, den Besitz innerhalb der Familie zu erhalten 15 . Diese Besitzkontinuität der größeren Bauern war die Grundlage der Ehre und des Ansehens alteingesessener Familien. Sie hatte die spätere preußische Gesetzgebung im Auge, als sie den Grundbesitz zum Kriterium der politischen Standschaft in den Landtagen und, in einem erweiterten Rahmen, in den Gemeindeversammlungen machte, um das »stabile ländliche Prinzip« 16 zum Ordnungsfaktor in der sozialen Bewegung zu machen. Nur auf sie trafen die Bedingungen zu, die der schlesische Graf Dohna für die Teilhabe an den politischen Ständen »im echt ständischen Sinne« aufstellte: Als solche Stände dürften »nur diejenigen Landeseingeborenen und Landeseingesessenen aus allen Klassen, Gliederungen und Körperschaften der bürgerlichen Gesellschaft dieses Landes (verstanden werden), welche durch Unabhängigkeit, durch erprüftes Benehmen insonderheit in den Zeiten der Not, und durch Sachkenntnis dazu einen inneren Beruf haben können« 1 7 .

Die Tradition und Stabilität des Besitzes, die damit verknüpfte Wertschätzung und die im lokalen Rahmen gar nicht mehr so bescheidene politische Macht stifteten schließlich auch die Legitimität, aber auch die Verpflichtung zu einem persönlichen Konsum nach den Maßstäben ständischer Ehre. Er war bei den Ravensberger Bauern Ende des 18. Jahrhunderts, die aus der Bevölkerungsvermehrung und ländlichen Industrie vielfachen Gewinn zogen, hochentwickelt und bei den Wohlhabendsten schon Indiz dafür, daß sie über die Grenzen des im ganzen verachteten Bauernstandes hinausstrebten. Wie im 19. Jahrhundert das Klavier Symbol für eine herrenmäßige, am gehobenen Bürgertum orientierte Lebenshaltung war, so am Ende des 18. Jahrhunderts der Schreibschrank in Rokoko und Louis-Seize. Verbreiteter waren aber sicherlich die innerbäuerlichen Standards, Reichtum und Ehre zu zeigen: die prächtige Kleidung und, zumal in einer Umwelt weit verbreiteten Mangels, ja Hungers, die Quantität und Qualität des Essens. Der »eigentliche Colonus«, d. h. der Vollbauer mit vier und mehr Pferden, demonstrierte in seinem alltäglichen Konsum drastisch den sozialen Unterschied zum Heuerling, aber auch die Distanz zu den kleineren Bauern; »er 188

will nicht notdürftig, sondern gut leben, keine Caffeeähnliche Jauche, sondern guten starken Caffee mit vielen Zucker trinken, und viel Fleisch essen«. Auch bei den Heuerlingen gab es täglich dünnen Kaffee, Fleisch aber nur bei wenigen und sehr selten. Zu der besseren Qualität kam beim Bauern eine weniger einförmige und reichhaltigere Nahrung. Eine Heuerlingsfamilie aß nur dreimal am Tag und meist das gleiche, »schwarzejauche« und Pumpernickel, bei größerem »Wohlstand« auch Gemüse. Den kulinarischen Tageslauf des Bauern beschreibt Pastor Schwager so: »Sein erstes ist des morgens dieser Kaffee, um 8 U h r ißt er mit seinen Hausgenossen das Imbt oder Frühstück; u m 10 Uhr nimmt er seinen Anbiß Fleisch oder Wurst, oder gebackene Eier und dazu seinen Branntwein. U m 12 Uhr speist er wieder mit seinen Hausgenossen gemeinschaftlich, außer daß er, wenn das Gesinde, das nur dreimal in der Woche Fleisch bekömmt, Fasttag hat, ein Stück Fleisch vorab hat. Gegen 4 Uhr hält er seine Vesperkollation mit oder ohne Caffee, doch mit Fleisch und gebeuteltem Brote, denn der Pumpernickel ist ihm zu gemein, und des abends ißt er mit den Hausgenossen wieder gemeinschaftlich.« Dazu ergänzt noch Schwerz die »Federbissen, welche ihm sein Weib heimlich zusteckt; denn hier setzt jedes Weib eine Ehre in die Mästung ihres Eheherrn und betreibt sie hauptsächlich mit Eiern, Würsten und Pfannkuchen« 1 8 .

Ist die Alltäglichkeit und Verbreitung dieses Konsums auch vorsichtig einzuschätzen, so zeigen die Berichte doch ein wichtiges Merkmal sozialer Distanzierung. Der Konsum als Symbol des sozialen Ranges war dabei um so bedeutender, als es auch den größeren Bauern in der Regel nicht möglich war, zu dem fundamentalen Unterscheidungskriterium zwischen Herr und Knecht in der ständischen Gesellschaft zu gelangen, nämlich die Befreiung von körperlicher Arbeit. Erst im 19. Jahrhundert wird eine solche im vollen Sinne herrenmäßige Lebenshaltung von den größten Bauern berichtet. Aber die Gleichheit der Arbeitenden war auch um 1800 schon durch die Differenzen des Besitzes und der Lebenshaltung gestört. Der Abstand zwischen großen und kleinen Bauern war so groß, daß er auch durch gemeinsame kulturelle Merkmale wie die gleiche Arbeit, die gleiche Sprache und der gemeinsame Unterschied zu Adel und Bürgertum nicht mehr überbrückt werden konnte. Das »Du« galt nur noch, »wenn die äußeren Verhältnisse nicht zu abweichend« waren 19 .

2. Bäuerliche Heiratskreise und ländliche Sozialstruktur Entscheidend für die ländliche Sozialstruktur war, daß die geschilderten Funktionen und Bedeutungen des Besitzes durch die Heiratsgewohnheiten immer wieder reproduziert wurden und vor allem der größere Besitz dadurch an Dauer gewann. Das Heiratsverhalten, die Wahl des Ehepartners, ist 189

ein aufschlußreicher Schlüssel für die Sozialstruktur, die Bewertung der sozialen Positionen, der Homogenität sozialer Gruppen, der Distanz und Mobilität zwischen ihnen, vor allem in einer Gesellschaft, in welcher der Besitzerwerb vorwiegend durch Erbschaften vermittelt wurde und welche die Konformität der einzelnen sozialen Gruppen und die Distanz zwischen ihnen hoch bewertete. Es läßt eine hohe soziale Endogamie erwarten, wie sie für die ständischen Oberschichten, den Adel und das Großbürgertum, sogar rechtlich sanktioniert wurde. Am unteren Ende der sozialen Pyramide ist das Bild aber weniger deutlich und Untersuchungen darüber gibt es erst wenige 20 . Im folgenden soll die ländliche Schichtung an zwei Beispielen näher betrachtet werden: an der Funktion und Bedeutung der Brautschätze und am Heirats verhaken in einem Kirchspiel in Minden-Ravensberg.

a) Funktion

und Bedeutung

der

Brautschätze

»Die Stätte ist gewöhnlich die Braut, um welche getanzet wird« - so resümiert eine zeitgenössische Beschreibung des Landes Tecklenburg die bäuerliche Heiratspolitik, deren sachlicher, individuelle Zuneigung und Gefühle hintanstellender Charakter in den Formen der Brautwerbung und Hochzeit durch die Volkskunde oft beschrieben wurde und die offen die Bestimmung des individuellen Lebens durch objektive Daseinsformen zeigen 2 1 . Die Besitzsicherung als zentraler Faktor der Heiratsentscheidung zieht aber notwendig einen sozial gleichen Heiratskreis nach sich. Die »standesgleiche« Heirat erforderte, da das Vermögen des Heiratspartners wichtige Funktionen für den Familienbesitz erfüllen mußte, eine annähernde ökonomische Gleichheit der Ehepartner. Die Brautschatzverordnungen der staatlichen Verwaltung vom Ende des 18. Jahrhunderts zeigen so eine stark ausgeprägte innere Schichtung des Bauernstandes mit großen Distanzen. Der Brautschatz 22 war die Natural- und Geldabfindung der weichenden Erben, also der Nebenerben neben dem Haupt- bzw. Anerben, den diese in den Besitz derjenigen Familie einbrachten, in welche sie einheirateten. Hier diente er der Bezahlung des Weinkaufs, der Besitzwechselabgabe an den Grundherrn, so daß auch dieser auf eine sozial gleiche Heirat achtete, ja sie sogar erzwang 23 . Darüber hinaus war der Brautschatz des Ehepartners für den Anerben bzw. die Anerbin ein Fonds, woraus die Abfindung der Geschwister geleistet wurde, er diente also der Erhaltung der Vermögenssubstanz, welche durch weichende Erben sonst in Gefahr geriet. Seine Höhe richtete sich nach der Wirtschaftskraft bzw. Größe der Höfe, der Zahl der Kinder und darüber hinaus besonders nach den Heiratsgelegenheiten. Bei der Unteilbarkeit der Höfe war die Konkurrenz groß; sie wurde noch verstärkt durch das Bestreben der Bauern, ihre Kinder »wo es möglich, lieber höher und über seinem Rang, als darunter« zu verheiraten. Aber auch sonst galt: 190

»Ein Anerbe mit einem guten Colonate läßt sich sehr bitten, ehe er eine der um ihn werbenden und freyenden Schönen den Vorzug giebt, und die Ursache des Vorzugs ist nicht Schönheit, nicht Tugend, sondern weil sie in Absicht des Brautschatzes alle Mitbewerberinnen überbothen hat. « 2 4

Der Inhalt der Brautschätze war noch ganz auf die bäuerliche Wirtschaft zugeschnitten: der größere Teil bestand im 18. Jahrhundert aus Gegenständen des Haushalts, landwirtschaftlichem Gerät, Getreide und vor allem aus Pferden und Rindern. Selbst die Kinder der kleinsten Bauern sollten noch den Reichtum der armen Leute, eine Kuh, erben. Bargeld trat demgegenüber relativ zurück bzw. war schon wieder ein besonderes Kennzeichen der Wohlhabenderen. Erst im 19. Jahrhundert, als mit dem bäuerlichen Wohlstand auch die Brautschätze stiegen, mit der stärkeren Marktorientierung und mit betrieblichen Investitionen die Bedeutung des Geldes im bäuerlichen Betrieb zunahm, verdrängte der Geldanteil die naturalen Elemente der Mitgift 2 5 . Die Brautschatzordnungen des 18. Jahrhunderts nun waren polizeiliche Maßnahmen gegen zu hohe Brautschätze, geben also jeweils untere Grenzen der tatsächlichen Abfindungen an; grosso modo spiegeln sie wahrscheinlich, so weit man es bisher überprüfen kann, die wirklich ausgegebenen Abfindungen und die schichtenspezifische Stufung wider 26 . Welches Bild sozialer Endogamie und damit sozialer Differenzierung unter den besitzenden Bauern geht aus ihnen hervor? Für die Paderbornischen Ämter Boke und Neuhaus wurden 1724 neben Naturalien folgende Geldabfindungen bestimmt. Für das Kind eines Vollbauern 150 Taler Halbbauern 80 Taler Bardenhauers/älteren Zulägerers 40-50 Taler kleinen Zulägerers 5 Taler. »Von einer ganz geringen Stätte (sollen) aber die Kinder nur von und zu dem Herrn geschafft«, d.h. der möglicherweise notwendige Freikauf aus der Leibeigenschaft, der Weinkauf und das Einzugsgeld für die Gemeinde bezahlt werden 27 . Eine ähnliche Abstufung zeigen Brautschatzverordnungen aus der Grafschaft Rietberg (1774/1784), denen zufolge der »Brautwagen« mit Naturalien vom vollen Meierhof abwärts ein Verhältnis von zwölf:sechs:vier:zwei und bei einem vollen Meierhof einen Wert von 92 Talern haben sollte. Etwas mehr war für den vollbäuerlichen Brautwagen im Mindenschen Kirchspiel Eisbergen üblich (1783), nämlich 118 Taler; ein »landüblicher« Brautwagen, in dem der repräsentative Schrank, vor allem das Vieh und Getreide geringer war, war 38 Taler, ein »halber« Brautwagen nur 22 Taler wert. Bei letzteren wurde an einzelnen Möbelstücken und deren Qualität gespart, ebenso an der Güte des »Ehrenkleides«, d. h. des Hochzeits- und Sterbegewandes; es wurde für die drei Klassen bezeichnenderweise mit 10, 5 bzw. 2Vi Talern taxiert. 191

Die Ausstattung des »landüblichen« und »halben« Brautwagens, die ungefähr für die Mehrzahl von mittleren und kleineren Bauern, aber ohne die Brinksitzer und Häusler, die nur ein Haus und ein paar Mg besaßen, repräsentativ war, unterschied sich dagegen in der Mitgift von Getreide und Vieh kaum mehr. Das jeweils für den Betrieb Notwendige hatte überall das Übergewicht, was mit abnehmendem Wohlstand noch zunahm. Dieser aber dokumentierte sich zunächst in einem Mehr an dem, was alle hatten: an Getreide und Vieh, dann in der besseren Qualität und wurde in der bäuerlichen Oberschicht, für die der »volle« Brautwagen bestimmt war, gekrönt durch einen repräsentativen Kleiderschrank im Werte von 8 Talern, während in den beiden anderen Gruppen diesen eine Kiste oder Lade ersetzen mußte 2 8 . Regionale Unterschiede, begründet in verschiedenen Betriebsgrößen, der Fruchtbarkeit des Bodens und den Gewinnen aus der ländlichen Industrie, zeigt das Beispiel eines Ravensberger Brautwagens. Dieser hatte hier bei einem Vollmeier mit vier Pferden einen Wert von 400 Talern und mehr, während die Braut außerdem noch »wenigstens« 600 Taler Bargeld mitbekam. Eine solche Ausstattung stellte ein beträchtliches Vermögen dar, war aber doch keine seltene Ausnahme in dieser Bauerngruppe, wie der Kontext der Kritik bäuerlichen Luxus vermuten läßt 29 . Selbst ein solcher Brautschatz machte es jedoch noch schwer, in die bäuerliche »Aristokratie« der Meier mit sechs und mehr Pferden einzuheiraten, die einen »wahren Ahnenstolz« hatten und ihre Kinder ungern auf kleinere Höfe verheirateten, wie sie auch sonst »jede Gelegenheit« (ergriffen), ihr Übergewicht andere fühlen zu lassen« 30 . Mit der gebotenen Vorsicht wird man aus diesen Indikatoren bäuerlicher Heiratspolitik im groben eine dreifach abgestufte innere Schichtung der grundbesitzenden Bauern annehmen dürfen, wobei der Abstand zwischen ihnen noch regional unterschiedlich war. Wo sehr große Höfe fehlten, war die Pyramide gleichsam niedriger. Am ausgeprägtesten war die herausragende Stellung einer kleinen großbäuerlichen Oberschicht von Vollbauern mit einem überdurchschnittlich großen Grundbesitz, an deren Spitze eine äußerst exklusive Bauernaristokratie stand - in Ravensberg »Sattelmeyer« geheißen - , die zu Verwandten zu haben sich angeblich die städtischen Bürger »zur Ehre« rechneten. Schon im 17. Jahrhundert war ihnen eine Kleidung wie den »ehrbaren Bürgern« konzediert 31 . Eine breitere Mittelschicht bildeten die übrigen Vollbauern, die zu den im 18. Jahrhundert schon die größere Gruppe bildenden Kleinbauern einen deutlichen Abstand wahrten. Die jeweils großen sozialen Distanzen, die durch die Agrarverfassung eingeschränkte Mobilität von Grund und Boden und die schichtenspezifischen Möglichkeiten, Marktgewinne zu realisieren, haben jene Schichten gewissermaßen zu drei sozialen Blöcken sich stabilisieren lassen, die in der Regel auch den Rahmen der Heiratskreise darstellten. Die soziale Endoga192

mie und Homogenität wurde über das Anerbenrecht hinaus noch durch die Technik der Abfindungen verstärkt. Der Brautschatz wurde nämlich nicht auf einmal ausbezahlt, was vor allem bei mehreren Heiraten zu einem Ruin der Höfe geführt hätte. Vielmehr erfolgte die Auszahlung sukzessive aus dem jährlichen Ertrag, nach dem sogenannten Umgang, so daß die Brautschatzforderungen, da sie vererbt werden konnten, sich oft über Generationen streckten. Dies war eine Quelle von Prozessen über noch ausstehende Erbstücke, aber auch ein System der wechselseitigen ökonomischen Balance der Betriebe innerhalb verwandter Familien, denn der einmal versprochene Brautschatz blieb immer das Eigentum der Stätte. Wie Holsche dieses in die Verwandtschaft eingebaute mutualistische System beschrieb: »Ein jeder Bauer hat daher seine ausstehenden Brautschätze, und wenn er von den abgegangenen Kindern besprochen wird, bespricht er wieder andere, die ihm Brautschatz schuldig sind (d. h. er beruft sich auf die >EheberedungenHofgesessenenHintersasse< des Bauern, daß er mit Konsens seines »Grundherrn« sogar das Anerbenrecht nachahmte 16 . Allerdings sind gegenüber dieser Bestimmung des Heuerlingsverhältnisses als Quasifeudalismus zwei Einschränkungen zu machen. Diese Beschreibung paßt nur für die vollbäuerlichen Heuerlinge, nicht mehr für die kleinbäuerlichen, die von ihren »Herren« wenig oder kein Land hatten und ebensowenig einer Arbeitsverpflichtung unterlagen. Sie waren »bloße« Mieter einerseits und womöglich freie Zeitpächter andrerseits und also aus 250

einer direkten bäuerlichen Abhängigkeit entlassen. Sie stellten am reinsten den scheinbar paradoxen T y p des besitzlosen und dennoch selbständigen Produzenten dar, der aber möglicherweise stärker als der quasifeudale Heuerling in der Kreditabhängigkeit der Kaufleute stand. Die zweite Einschränkung betrifft das quasifeudale Verhältnis selbst. Im Heuerlingsverhältnis sind zwar noch Formen »patrimonialer« Herrschaftsbeziehungen zu erkennen. Alles, was die »Sklaverei« der ungemessenen Arbeitspflicht dem Heuerling »versüßen kann«, schrieb Schwager, »ist die Vertraulichkeit, womit er den Bauer und der Bauer ihn behandelt, und der Kredit, den ihm der Bauer gibt« 1 7 . Das Heuerlingsverhältnis war also auch eine personenorientierte, auf die Bedürfnisse des Herrn zugeschnittene, durch Gewohnheiten und den Anspruch auf gegenseitige Hilfe bestimmte Beziehung zwischen ökonomisch und sozial Ungleichen. Diese Elemente hatten aber ein unterschiedliches Gewicht und formierten sich nicht zu einem zwar asymmetrischen, aber stabilen Komplex eines patrimonialen Herrschaftsverhältnisses, in dem die Reziprozität der Leistungen im Interesse des Herrn selbst liegt 1 8 . Das doppelte Interesse der selber vielfach belasteten Bauern an den Pachtgeldern und den Arbeitsleistungen einerseits, die starke Nachfrage nach Wohnung und Pachtland andrerseits hat fur die Bauern die Notwendigkeit zur Rücksichtnahme stark verringert. Die Zunahme der Heuerlingsbevölkerung war ein dynamischer Faktor, der zwar nicht die Struktur des Heuerlingsverhältnisses, wohl aber die einzelnen Elemente in ihm so veränderte, daß der Vorteil bei den Bauern lag. Dadurch bildete sich kaum ein traditional gesicherter Schutz für den Heuerling. Das einzige »traditionale«, sich gleichbleibende Element war das niedrige Arbeitsentgelt von 2 /2 Silbergroschen plus Kost pro Arbeitstag, während die Pachtpreise der Nachfrage entsprechend stiegen - ein Mißverhältnis, das lange Zeit mit dem gewerblichen Einkommen der Heuerlinge kompensiert werden konnte, das aber im Vormärz, als dieses stark zurückging, ein zentrales Problem des Heuerlingsverhältnisses wurde. Einzelne Hinweise zeigen es jedoch schon im 18. Jahrhundert wirksam. Im schaumburg-lippischen D o r f Lindhorst erhöhten sich die Pachten für einen M g Ackerland zwischen 1700 und 1739 von einem auf drei bis vier Taler. Ein ähnliches Steigen in Ravensberg macht eine Verfugung der K D K Minden v o m Jahre 1726 wahrscheinlich, welche die Amtmänner angesichts »übermäßig hoher« Pachtgelder beauftragte, zum Schutz des »Linnenkommerziums« auf »Billigkeit« zwischen Bauer und Heuerling zu achten 1 9 . Die Korrektur einer solchen »unbilligen« Entwicklung durch eine Reduzierung der Arbeitszeit war aber durch die konstitutive Verknüpfung von ungemessener Arbeitspflicht und Landpacht ausgeschlossen, so daß sich auch bei gleichbleibender Pacht, aber umfangreicheren Arbeitsleistungen - wie seit dem späten 18. Jahrhundert - die Situation des Heuerlings verschlechterte 2 0 . Seine B e sitzlosigkeit, die ihn zwang, »sich alles gefallen zu lassen, wenn er nur eine Wohnung b e k ö m m t « 2 1 , verwies ihn auf seinen Fleiß, seine »Selbstausbeu251

tung« und die Stärke seiner Arbeitskraft, um seine Heuerlingsstelle zu behalten. Gerade der Schutz des Schwachen, der Alten war in diesem von ökonomischer Macht und Konkurrenz durchsetzten patrimonialen System als »Recht und Gewohnheit« nicht mehr gewährleistet, sondern hing von Umständen ab, über die der Bauer verfugen konnte 22 . Eine entscheidende Schwäche des quasifeudalen Heuerlingsverhältnisses war für den Heuerling das Fehlen jeden rechtlichen Schutzes. Der Vertrag mit dem Bauern war mündlich 23 , so daß jener neben einer genaueren Festlegung seiner Pflichten und seines Lohnes auch hinsichtlich der Dauer der Pacht vom Interesse und Wohlwollen seines Herrn abhängig war. Der Druck sozialer Konformität, den die interpretationsfähige Tradition und Erinnerung ermöglicht, traf den Heuerling wie das Gesinde in einer ähnlich rechtlosen Lage schutzlos. Überlegungen von Beamten, für die Heuerlinge eine »staatliche Vormundschaft« zu übernehmen, sie durch eine Normierung von Mieten, Diensten und Tagelöhnen aus der, wie sie betonten, »vollständigen Abhängigkeit« von den Bauern zu lösen, kamen über das Stadium von Überlegungen nicht hinaus 24 . Das unter- und außerständische Heuerlingsverhältnis wäre nur durch ein allgemeines, nicht mehr ständisch qualifiziertes Recht zu regeln gewesen, das mit Bestimmungen über die Landpacht die grundherrlichen Rechte tangiert und so den Widerspruch zwischen ständischem und allgemeinen Recht provoziert hätte; darüber hinaus hätte es die mindestens ebenso schwierige Aufgabe bedeutet, allgemeine Prinzipien für das bei den verschiedenen bäuerlichen Wirten höchst variable Heuerlingsverhältnis zu formulieren, die nach 1807 sich mit den wirtschaftsliberalen Prinzipien gestritten hätten. Die Problematik dieses Zustandes enthüllen erbitterte Auseinandersetzungen zwischen Bauern und Heuerlingen bei den Gemeinheitsteilungen in Ravensberg. Als die Heuerlinge sich um den ihnen konzedierten »Heuerlingsteil« betrogen sahen, sandten sie einerseits Petitionen und Deputationen nach Hofe. Nach einem bemerkenswert ausführlichen Pressebericht reflektierten die so protestierenden »Untertanen« jedoch andrerseits auch ihre Lage: Welcher Heuerling konnte was bei einer gerichtlichen Untersuchung erreichen? Wie konnte ein Heuerling, der seinen Wirt wechselte, seinen Teil bekommen, da doch die Bauern »ihren« Heuerlingen die entsprechenden Teile zuweisen sollten? Dabei »fiel es ihnen erst ein, daß sie (bei einem Prozeß, J . M.) gewinnen, aber auch desto mehr verlieren würden, denn kein Mensch konnte den Mietsherren zwingen, ihnen den Kotten aufs Neue zu vermieten«. In dieser Situation, angesichts der abgeneigten oder achselzuckenden Bauern, heißt es in dem Bericht weiter, »klagten (die Heuerlinge, J. M.) also darauf: daß ihre Mietsherren angehalten werden möchten, ihnen ihren Miets-Contract ad dies vitae zu verlängern, und

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zwar wie er bisher gewesen, aber diese ungerechte Forderung mußte abgeschlagen werden. Seitdem ward der Köttergeist immer mehr esprit de corps, und w o sie es nur konnten, machten sie die Sansculotten, und die Bauern repräsentierten die Aristokraten.« 25

Die gewissermaßen proletarische Rechtslage - der persönlichen Freiheit, aber auch der Freiheit von Besitz - provozierte hier eine bemerkenswerte Radikalisierung. Die Forderung nach einer lebenslänglichen Nutzung, defacto nach einer Erbpacht, war nichts Geringeres als eine konservativrevolutionäre Wendung. Eine unter- oder außerständische Schicht forderte ein staatlich garantiertes ständisches Recht, während der Staat gleichzeitig mit den Gemeinheitsteilungen den Weg des Wirtschaftsliberalismus beschritt, unter dessen Bedingungen das Heuerlingsverhältnis endgültig ein »Privatverhältnis« wurde, worüber die Bauern höchstens unter dem Druck der Märzereignisse im Jahre 1848 mit sich reden ließen. Um 1800 blieben die Behörden passiv; eine »moderne Analogie zum Bauernschutz« kam nicht zustande. Der Konflikt zwischen den Bauern und Heuerlingen hingegen entlud sich im Holzdiebstahl, genauer: in der zielbewußten Rache und Zerstörung der bäuerlichen Aufforstungen in den alten Gemeinheitsländereien. Der Protest wurde aber durch militärische Einquartierungen und eine brutale bäuerliche Selbstjustiz gegen die »Diebe« unterdrückt 26 . Während der Staat des 18. Jahrhunderts die Heuerlingsbevölkerung aus wirtschaftlichen und fiskalischen Gründen duldete, sie aber zu öffentlichen Diensten, Steuern und nicht zuletzt zum Militärdienst heranzog, war der staatliche Schutz für diese Bevölkerung also gering. Ein von der Französischen Revolution aufgewühlter westfälischer Küster nannte sie daher auch die Leute, »denen man ein Vaterland aufdrängt, wo für sie keins ist«27. Nur am Endpunkt des Elends, der hilflosen Armut, gerieten sie unter einen gewissen Schutz der staatlichen und kommunalen Armenpolitik. In der Errichtung von Armen- und Waisenhäusern in den Städten und in der Verpflichtung der ländlichen Gemeinde zur Armenfursorge neben der privaten und kirchlichen Caritas, die in Preußen schon in der Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzte, waren die Heuerlinge freilich weiterhin der Gnade ihrer Herren ausgesetzt und andererseits selber Subjekt ihrer zukünftigen Armenunterstützung. Da die Gemeinden ihren Armenfonds nur durch U m lagen decken konnten, wurden auch die Heuerlinge dazu herangezogen 28 . Der fehlende Rechtsschutz und die faktische Ohnmacht gegenüber den Bauern hat im quasifeudalen Heuerlingsverhältnis jene »Stereotypisierung patrimonialer Beziehungen durch die Tradition« 29 verhindert, wie sie im grundherrschaftlichen Verhältnis der Bauern festzustellen war. Dies könnte, zumal bei der scheinbar großen Willkür, die den Bauern möglich war, daran zweifeln lassen, ob die Bezeichnung »quasifeudal« bzw. »patrimonial« angemessen ist, wenn damit mehr bezeichnet werden soll als eine sozialpsychische Disposition der Bauern. Tatsächlich war dieser Quasifeudalismus mehr 253

- und auch keine bloße Verlängerung der feudalen Grundherrschaft, sondern eine Form der Beziehung zweier Klassen, deren Bedeutung und Funktion in diesem Zusammenhang sich als durchaus eigenständig erweisen, wie auch das Heuerlingsverhältnis die Grundherrschaft um mehr als ein Jahrhundert überdauert hat. Drei Momente begründeten die eigentümliche Form dieses Pacht- und Arbeitsverhältnisses: Die Konkurrenz zwischen der bäuerlichen Landwirtschaft und Proto-Industrie um die ländliche Arbeitskraft, der saisonale Charakter der landwirtschaftlichen Arbeit sowie das Einkommensgefälle zwischen dem landwirtschaftlichen Arbeiter und dem gewerblichen Produzenten oder auch Kleinbauern. Angesichts der gewerblichen Arbeits- und Einkommenschancen mußten die Bauern ihre Arbeitskräfte durch besondere Konditionen an sich binden: »Die Gelegenheit, welche jeder geringe angesessene Untertan hat, sich durch Spinnen oder Weben seinen Unterhalt zu verschaffen, ist die Ursache, daß derselbe bei dem Ackersmann nicht auf Tagelohn geht. Wer dergleichen Hülfe zum Ackerbau oder zu seiner Linnenfabrik gebraucht, muß eigene Häuser erbauen, solche mit etwas Land versehen und sie an die eingesessenen Untertanen gewöhnlich von 4 zu 4 Jahren vermieten. « 30

Von den großen bäuerlichen Gütern abgesehen, gab es für die Heuerlinge jedoch nur in Zeiten der Feldbestellung und der Ernte regelmäßig Arbeit, die darüber hinaus wetterabhängig war. Die potentielle Unterbeschäftigung eines ganzjährigen Landarbeiters wurde durch Pacht und Hausindustrie ausgeglichen. Dadurch entstand für den Heuerling jedoch ein Widerspruch zwischen seiner bäuerlichen Arbeitsverpflichtung und seiner eigenen Wirtschaft, denn diese waren zeitlich nicht immer zu harmonisieren, vor allem aber waren die verschiedenen Einkommen stark asymmetrisch. Den größten Teil des Einkommens zog die Heuerlingsfamilie aus ihrer eigenen Landwirtschaft und gewerblichen Arbeit, so daß der Heuerling bestrebt sein mußte, jenen Widerspruch zugunsten seiner Selbständigkeit zu lösen. Diese lag in einer vermehrten gewerblichen Produktion und/oder im Erwerb eines eigenen Grundbesitzes und dessen Erweiterung zu einem kleinbäuerlichen Betrieb. Der »Landhunger« der Heuerlinge, wie er sich in der Ansiedlung als Neubauern oder in der Nachfrage nach Pachtland spiegelt, ist so auch als ein Mittel zu lesen, den inneren Widerspruch ihres Status und die drückende Abhängigkeit aufzuheben. Als ein allgemeiner Lösungsversuch kollidierte dies aber ebenso wie die Umwandlung der Heuerlingspacht in eine freie und Erbpacht ohne Arbeitsverpflichtung mit den unabdingbaren Interessen der Bauern an jederzeit verfügbaren landwirtschaftlichen Arbeitern. Die quasifeudale Form des Heuerlingsverhältnisses hatte so die Funktion, die Lösung jenes Widerspruchs und die Risiken und Kosten einer freien Arbeiterschaft zu verhindern, während gleichzeitig noch an Gesindearbeitskräften gespart werden konnte. Insofern war die Willkür des Bauern im Heuerlingsverhält254

nis nicht Ausfluß einer individuellen Disposition, sondern strukturell angelegt, und es hat sicherlich in seinem Interesse gelegen, um sich einen guten Arbeiter zu sichern, die individuelle Willkür dabei einzuschränken. Allzu schwierig freilich war dies bis ins 19. Jahrhundert angesichts einer wachsenden Heuerlingsbevölkerung mit einer großen Nachfrage nach Pachtland und meist kümmerlichen gewerblichen Einkommen jedoch nicht.

2. Bauernfamilie und Heuerling Ein weiterer Aspekt des quasifeudalen Heuerlingssystems war die Bindung des Heuerlings an Haus und Familie des Bauern. Sie ist angesichts einer schillernden Überlieferung und Literatur allerdings nur unscharf zu erkennen, da in dieser die bäuerliche Abstammung eines Teils der Heuerlinge vermischt wird mit davon unabhängigen Formen der Integration in die Familie des Bauern. Im Glauben, daß dem Heuerlingssystem »häufig Blutsverwandtschaft, immer eine feste Wirtschafts- und Interessengemeinschaft« zugrunde liege, daß es ein »Zweig am Stamm« der »monarchisch organisierten (erblichen Gemeinschaft)« der Hofbauemfamilie sei, hat man besonders im späten 19. Jahrhundert diese ländliche Arbeitsverfassung idealisiert und den ostelbischen, kapitalistischen Landarbeiterverhältnissen entgegengestellt31. Die große Zahl der Heuerlinge, von denen die Mehrzahl Abkömmlinge von Heuerlingen waren, verbietet es jedoch, für die Zeit des 18. und frühen 19. Jahrhunderts die Verwandtschaft als Gestaltungsmoment des patriarchalischen Heuerlingssystems in den Mittelpunkt zu rücken, auch wenn diese bei einem nicht unbeträchtlichen Teil der Heuerlinge eine gewisse, noch nicht genügend geklärte Rolle spielte32. Die neben und unabhängig von der Verwandtschaft bestehende, gleichsam gelockerte Bindung des Heuerlings an das bäuerliche »Haus« ist nur schwer und am besten zunächst durch einen Vergleich des Heuerlings- mit dem Gesindestatus auszumachen.

a) Begrenzte

Emanzipation:

Heuerling

und

Gesinde

Der Status des Gesindes, der nicht saisonal, sondern für einen begrenzten Zeitraum dauernd beschäftigten Knechte und Mägde auf den Guts- und Bauernhöfen, läßt sich an den Gesindeordnungen ablesen. Dieses Gesinde war, mehr noch als der Heuerling, eine personal abhängige Arbeitskraft, die »sich allen häuslichen Verrichtungen nach dem Willen der Herrschaft unterziehen« mußte 33 . Es war eine »innerständische Unterschicht« 34 insofern, als es über diese herrschaftliche Dienstpflicht hinaus einer umfassenden, auf den ganzen Lebenswandel sich erstreckenden, erzieherisch motivierten hausherrlichen Gewalt einschließlich der Körperstrafe unterworfen war, gegen 255

die es nur einen geringen Rechtsschutz hatte. Dagegen war dem bäuerlichen Gesinde eine elementare Versorgung sicher; Wohnung und Verpflegung über die ganze Dienstzeit hinweg war ein Teil des Lohnes. Im Unterschied dazu ist der rechtsgeschichtliche Befund über die Stellung des Heuerlings im bäuerlichen Haus nicht eindeutig. Die Ablehnung aller Anträge auf Ausdehnung des Gesinderechts auf die Einlieger und Insten durch die preußische Verwaltung des Vormärz 35 läßt sich nicht nur als Eindämmung ständischer Gewalten verstehen, sondern auch so, daß eine identische Rechtslage für Gesinde und Heuerlinge bis dahin nicht bestanden hat, mögen Elemente des Gesinderechts für die letzteren auch analog gegolten haben. Besonders in der Regelung der Schadensersatzpflicht wird dies deutlich: Wie beim Gesinde haftete der Wirt auch für den von Mietsleuten angerichteten Feuerschaden, falls der Urheber nicht ersatzfähig war 3 6 . Eine ähnliche hausrechtliche Mediatisierung der Rechtsstellung der Heuerlinge zeigt die Regelung ihrer Nutzungsrechte. Sie führten zwar einen eigenen Haushalt, ihre Teilnahme an den kommunalen Holz- und Weiderechten war jedoch sekundär, indem sie an den Rechten ihrer bäuerlichen Wirte partizipierten. Die Probleme bei der Gemeinheitsteilung um 1800 lassen allerdings erkennen, daß die faktischen Gewohnheiten eine solche ständische Legalität nicht mehr deckten. In Anerkennung ihrer legitimen Interessen wurden den Heuerlingen besondere Heuerlingsteile konzediert, die freilich die Bauern nicht immer respektierten. Auch sie vernachlässigten also ein quasi-ständisches Recht zugunsten ihres wirtschaftlichen Interesses. Entsprechend unentschieden und zwiespältig, weniger am strengen Recht, sondern an machtbestimmten Gewohnheiten orientiert, blieb 1845 auch der westfälische Landtag. Angesichts der Unsicherheit über die Abgrenzung der Einlieger bzw. Heuerlinge vom Gesinde sprach sich der Freiherr von Bodelschwingh aus Gründen der sozialen Kontrolle gegen eine genaue Abgrenzung, aber für die »analoge« polizeiliche Stellung von Gesinde und Heuerlingen aus: »Die hier gemeinten Mietsleute würden mit Recht dem Gesinde analog gestellt, wenn nicht die Ackerwirte in die übelste Lage versetzt werden sollten; diese Leute ständen zum Hauswesen in der engsten Beziehung und träfe die Exmittierung den Einlieger - das allein dem Grundbesitzer jetzt zustehende Hülfsmittel - bei weitem stärker, als die hier vorgeschlagene Zurechtweisung.« 3 7

Es bleibt also ein zwielichtiges Bild der rechtlichen Lage einer außerständischen Gruppe, die aus funktionalen Gründen gleichsam an der Grenze der ständischen Gesellschaft gehalten wurde 3 8 . Tatsächlich war die Stellung des Bauern gegenüber dem Gesinde in einigen Momenten weniger »herrschaftlich« als die des Gutsherrn (den die Gesindeordnungen vor allem im Auge haben), da jener die gleiche Arbeit verrichtete und insgesamt in geringerer sozialer Distanz zum Gesinde lebte 39 . Gleichwohl bezeugen die »Rechtsschutzsagen« ein großes Potential 256

latenter Spannungen, die wohl öfter, als es historisch bezeugt ist, in offene Konflikte übergingen 40 . Die Integration in die Familie provozierte geradezu eine ständige Demonstration des sozialen Unterschiedes. Durch schlechte Kost- und Wohnverhältnisse sparte der Bauer am Lohn und die Entschädigungspflicht für irgendwelchen vom Gesinde angerichteten Schaden bot immer wieder Gelegenheit zur Lohnkürzung. Die so leicht veranlaßte »Widerspenstigkeit« des Gesindes - Unterschleif, Betrug und Hausdiebstahl - stiftete dann ein Klima des Verdachts, das wiederum eine scharfe soziale Kontrolle nach sich zog. Diese richtete sich darüber hinaus und besonders auf das Sexualleben. Sexuelle Beziehungen waren, um uneheliche Geburten zu verhindern, dem Gesinde (wenn auch erfolglos) faktisch verboten 41 . Der Status des »gemeinen Gesindes« war wahrlich eine Konzentration von Abhängigkeit und subjektiver Inferiorität, die selbst durch eine »gerechte« Behandlung 42 nur wenig gemildert und hauptsächlich wohl durch die spezifische Altersstufe des Gesindes sozialkulturell akzeptiert wurde. Das vornehmlich junge Gesinde konnte und mußte die Herrschaft des Dienstherrn noch als eine Verlängerung der väterlichen Autorität begreifen, die zu ertragen jedoch auf eine gleichsam natürliche Grenze stieß. Wie Rehbein seine Gesindezeit und die Emanzipation daraus beschreibt: »Es ist, als ob man stets in einer unsichtbaren Zwangsjacke stecke, die nur je nach dem Charakter der Dienstherrschaft bald straff, bald locker angezogen wird. Hat man daher erst das Mündigkeitsalter überschritten und die Kommißjahre hinter sich, dann bekommt man das »Dienen« nach und nach satt und zieht die Tagelöhnerarbeit dem Gesindedienst vor. « 43

Was für Rehbein die freie Tagelöhnerarbeit, war im östlichen Westfalen das Heuerlings Verhältnis. Gegenüber der umfassenden und starken Abhängigkeit des Gesindes stellte es ein Stück Emanzipation dar, deren äußeres Zeichen die räumliche Trennung von der bäuerlichen Familie war. Die Heuerlinge wohnten nicht mehr wie das Gesinde unter dem Dach des bäuerlichen Hauses, sondern in der Regel in einem davon getrennten Kotten, der anfangs noch in Rufweite um das bäuerliche Haupthaus, später, besonders nach der Gemeinheits teilung, auch auf weiter entfernt gelegenen Parzellen erbaut wurde. Damit hatte sich der Heuerling faktisch auch der hausherrlich-bäuerlichen alltäglichen Disziplinargewalt entzogen, wenngleich er weiterhin einer besonderen Arbeitsverpflichtung unterlag, die ihn vom freien Tagelöhner unterschied, der nur ein zeitlich kurz befristetes und sachlich bestimmtes Arbeitsverhältnis einging. Diese Emanzipation schloß vor allem die Möglichkeit der Heirat ein, daneben aber auch die freie Verfugung über die Produkte und Einkommen aus der hausindustriellen Arbeit. Die Heuerlinge waren in der Regel offenbar nicht verpflichtet, für den bäuerlichen Wirt zu spinnen oder zu weben, im Unterschied zum Gesinde, das ein bestimmtes Quantum vor allem an Spinnerei leisten muß257

te und erst über den Überschuß frei verfugen konnte. Dem freieren persönlichen Status korrespondierte also eine größere ökonomische Freiheit. Hinweise auf und Klagen über einen Gesindemangel gerade in protoindustriellen Regionen lassen annehmen, daß die Lösung aus dem Gesindeverhältnis auch subjektiv angestrebt wurde. Dem Gesindemangel sollte in Minden-Ravensberg die Gesindeordnung von 1753 entgegentreten. Sie postulierte mit gewissen Ausnahmen eine Gesindedienstpflicht der unverheirateten Untertanen, die durch Gesindescheine kontrolliert werden und die Voraussetzung zur Heirat, zur Annahme einer Heuerlingsstelle oder sonstigen selbständigen Niederlassung sein sollte. Diese nicht-feudale Gesindedienstpflicht war - wie sollte es im 18. Jahrhundert anders sein auch erzieherisch motiviert: »Zu ihrem eigenen wahren Besten« sollten die jungen Leute nicht bei »ihren Eltern liegen, von selbigen verzärtelt, und dadurch zu einer für das ganze Leben hindurch ihnen anklebenden Faul- und Trägheit angewöhnt«; sondern vielmehr zu fleißiger Arbeit angehalten werden, »zumal in fremden Diensten, da sie Gelegenheit finden, viel nützliche Haushaltungsvorteile zu sehen und zu erlernen« 44 . In merkwürdiger interessengeleiteter Verkennung der Familienwirtschaft der Unterschichten und der mit dieser verbundenen Kinderarbeit 45 reagierten diese Gesindeordnungen gleichwohl auf reale Probleme des Gesindearbeitsmarktes. Das durch die ländliche Industrie oder sonstige alternative Einkommenschancen getragene Bevölkerungswachstum hat nur scheinbar paradoxerweise das Angebot an Gesinde verknappt und damit die Löhne gesteigert. Die unverheirateten Kinder wurden in der Hausindustrie gebraucht und von den Eltern zurückgehalten. Ebenso ermöglichte das Gewerbe eine frühere Heirat, so daß die Knechte und Mägde das bäuerliche Haus eher verließen. Die Alternative zum abhängigen Gesindedienst wirkte auf diesen selbst zurück, sofern jene Chance die Lohnansprüche steigerte und die Gehorsamsbereitschaft verminderte. Die Klagen über Verwegenheit, Bosheit, Mutwillen, Frechheit, generell über den »Verderb der Domestiken« sind daher Legion und bildeten eine zusätzliche Motivation für die Gesindeordnung 46 . Den Dienstherren der Mittel- und Oberschicht war das Verlangen nach mehr Selbständigkeit und Freiheit, das ihre Klagen indirekt spiegeln, kaum verständlich; dennoch bezeugen sie es, und manchmal werden, wenn auch in der Sprache der Empörung, Zusammenhänge einsichtig: Neben schlechter Erziehung und Bildung führte ein Autor den Gesindemangel auch darauf zurück, daß sich »das Gesinde, insonderheit die Mägde, auf ihre eigene Hand in Kammern oder Stuben bei anderen Leuten setzt, und sich mit Spinnen, Nähen, Waschen u. dgl. zu ernähren gedenkt. Dieses tun sie gemeiniglich bei wohlfeilen Zeiten. Sie geben aber dadurch nichts anderes als eine Flucht vor der harten Arbeit und einen Hang zur Gemächlichkeit zu erkennen; sie nehmen lieber mit einem kleinen Gewinne furlieb, nur, damit sie ihre eigenen Herren sein, und hinter dem Ofen sitzen blei-

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ben mögen; ja sie suchen wohl gar dadurch Gelegenheit zu erlangen, ihren liederlichen Ausschweifungen desto besser und bequemer nachhängen zu können. « 47

Das gleiche schildert Bitter für den Bielefelder Raum um die Jahrhundertwende. Er deutet eine bäuerliche Gesindeknappheit an, vor allem aber die zeitgenössische Überzeugung von der auch selbstproduzierten Armut der Unterschichten durch ihre Emanzipation von den Bauern: »Man kann aber ermessen, wie dankbar damals der Broterwerb der Spinnerei als ländliche Nebenarbeit war, wenn man weiß, daß es in jener Zeit auf dem Lande schwer hielt, Dienstboten zu bekommen. Alte und junge Mädchen spannen selbständig und für eigene Rechnung. Sie mieteten sich bei den anderen ein, zahlten für Kost und Logis 2Ά Sgr., und erübrigten genug, um sich eine kleine Summe zur Begründung eines Hauswesens zu sammeln. Wer ein Spinnrad bezahlen konnte, was etwa 1 Rt kostet, glaubte sich nicht nur gut ernähren zu können, sondern wollte auch heiraten. Eine gute Spinnerin zu sein, galt in jener Gegend als die beste Empfehlung und gab eine sichere Anwartschaft auf eine gute Verbindung. Leider war dieser leichte und gute Erwerb die traurige Veranlassung zu so vielen frühen Heiraten junger und ganz unbemittelter Leute, die später eine Hauptursache der nachfolgenden Verarmung geworden ist. « 48

Obwohl viele Klagen im späten 18. Jahrhundert sich vornehmlich auf den Mangel eines geeigneten Gesindes in bürgerlichen Haushalten beziehen, wurde es also auch auf dem Lande »schwer . . ., Dienstboten zu bekommen«. Darauf verweist auch die Beschäftigung von Paderborner Frauen als Mägde in Ravensberg 49 und die Entwicklung der Gesindelöhne. Diese lagen um 1800 deutlich über dem Lohnmaximum der Gesindeordnung von 1753. Ein mindestens 24jähriger Groß- bzw. Pferdeknecht sollte danach neben der Kost 10 bis 13 Rt inklusive Kleidungs- und Schuhgeld erhalten. Im Mindenschen wurden jedoch einem solchen Knecht 20 Taler exklusive Kleidung und Schuhe, und im Paderbornischen 17,5 Taler Bargeld bezahlt. Wahrscheinlich waren auch in der Mitte des 18. Jahrhunderts die Löhne schon höher, so daß die Diskrepanz keine reale Lohnsteigerung jenes Ausmaßes bedeutet. Eine gewisse Erhöhung des Gesindelohnes auf dem Land ist jedoch wahrscheinlich, wenn auch mehr auf den großen Gütern als den bäuerlichen Höfen, auf denen das Gesinde in einer kaum zu taxierenden naturalen Form entlohnt wurde, mit der Bereitstellung einer Ackerparzelle für den Flachs- oder Kartoffelanbau 50 . Wie es scheint, löste sich die bäuerliche Gesindefrage im 18. und frühen 19. Jahrhundert noch im Rahmen des Heuerlingsverhältnisses. Der Heuerling leistete nicht nur einen Teil der Arbeit, die sonst Gesinde nötig gemacht hätte; die Heuerlingsfamilie selbst stellte ihre Kinder auch als Gesinde. In den Definitionen des Heuerlings taucht dies zwar nicht auf, war aber doch, wohl vorwiegend bei den größeren Bauern, die noch zusätzlich ständige Arbeitskräfte benötigten, eine Regel. Der Rentmeister Fischer rechnete in seinem Budget mit einer typischen Heuerlingsfamilie, »die sich vom Spinnen näh259

ren m u ß u n d vier K i n d e r g r o ß b r i n g t , d a v o n zwei dienen u n d zwei bei ihren Eltern sind«. In einem Bericht aus der M i t t e des 19. J a h r h u n d e r t s über den Kr. H e r f o r d heißt es: »Dienstleute u n d Feldgesinde kennen w i r hier nicht. Die H e u e r l i n g e dienen meist in ihrer J u g e n d als Knechte, ihre Frauen als M ä g d e bei den B a u e r n . « 5 1 O b u n d in welcher F o r m dies ein konstitutiver Bestandteil des Heuerlingsvertrags war, ist schwer zu sagen. Ein H i n w e i s läßt j e d o c h v e r m u t e n , daß die R e k r u t i e r u n g des Gesindes aus der H e u e r lingsfamilie auch ein besonderes, f ü r den Bauern billiges Gesindeverhältnis nach sich zog. Bitter rechnete zu den Heuerlingsleistungen auch die Stellung der M ä g d e , »welche nicht L o h n erhalten, sondern f ü r die Kost außer den sonstigen A r b e i t e n in der Woche d u r c h Spinnen 15 Sgr. verdienen und abgeben müssen (was die M a g d über 15 Sgr. wöchentlich verdient, w i r d als ihr L o h n betrachtet. Dies w i r d d u r c h g ä n g i g als stillschweigende Ü b e r e i n k u n f t angesehen).« 5 2 Diese S p i n n f o r d e r u n g w a r hoch; mindestens die H ä l f t e der Spinnzeit m u ß t e die M a g d dabei f ü r den Bauern arbeiten 5 3 , so daß n u r ein erbärmlicher L o h n übrigbleiben k o n n t e . Ähnlich w i r d aus d e m Kr. H e r f o r d berichtet, daß der L o h n dieses Gesindes nicht ausreiche, »große S u m m e n zurückzulegen« u n d daher schon a r m u n d »früh u n d leichtsinnig in den E h e u n d Heuerlingsstand« getreten w e r d e 5 4 . Viel hat die z u k ü n f t i g e n H e u e r l i n ge i m bäuerlichen H a u s also nicht d a v o n abhalten k ö n n e n , die »erste Gelegenheit, eine H e u e r l i n g s w o h n u n g zu mieten«, zu ergreifen 5 5 , in der sie bei einer ähnlichen A r m u t wenigstens nicht i m m e r u n d in allen D i n g e n der Herrschaft unterworfen waren.

b) Formen patriarchalischer

Integration

E t w a s deutlicher als die rechtliche Stellung des Heuerlings z u m bäuerlichen H a u s , aber n o c h lange nicht eindeutig, sind b e s t i m m t e patriarchalische Versorgungsleistungen zwischen Bauer u n d Heuerling festzustellen. Innerhalb der Grenzen des Eigennutzes, u m einen »guten K n e c h t u n d Arbeiter« zu halten, schrieb selbst der das Heuerlingssystem sehr kritisch betrachtende Kriegs- u n d D o m ä n e n r a t H o f f b a u e r , w ü r d e n »viele B a u e r n ihre H e u e r l i n g e ( g u t m ü t i g ) behandeln (und oft) als Teil ihrer Familie ansehen« 5 6 . D e r B e z u g oder Z u k a u f v o n Lebensmitteln direkt v o m Bauern, die U n t e r s t ü t z u n g in akuter N o t , die T e i l n a h m e an den k o m m u n a l e n B e r e c h t i g u n g e n des Hofes, die Integration in die Feste der bäuerlichen Familie s o w i e endlich die gem e i n s a m e Arbeit in der »Spinnstube« sind E l e m e n t e der Ü b e r l i e f e r u n g , daß der H e u e r l i n g nicht n u r in der wirtschaftlichen, sondern auch in der sozialen Einheit des bäuerlichen »Hauses« aufgegangen sei 5 7 . Die E v i d e n z d a f ü r s t a m m t j e d o c h v o r n e h m l i c h aus der n o c h dazu idealisierten E r f a h r u n g in der Zeit u m 1900; f ü r das späte 18. J a h r h u n d e r t u n d n o c h m e h r f ü r den V o r m ä r z ist sie spärlich u n d widersprüchlich. Z u n ä c h s t f o l g e n zwei Beschreibungen in den J a h r e n u m 1800 n o c h d e m

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Bild patriarchalischen Tausches, der »sittlichen Ökonomie«, deren Elemente: direkte, marktferne Beziehungen zwischen Käufer und Verkäufer und »gerechte« Preise als Teil der engen Bindung an den Bauern erscheinen: »Der Kötter eines großen Bauern genießt Credit bei seinem Wirte, erhält das Holz wohlfeil, die Streuung (für die Kuh, J. M.) umsonst, und manches Extra, das von beiden nicht nach seinem Werte berechnet ist. « 58

Ein Bericht über die alten Verhältnisse in Schildesche stellt die Getreideversorgung des Heuerlings in einen Rahmen bedarfsorientierter und kommunal kontrollierter Beziehungen: »Jeder Colonus ist mit dem Bedürfnis seiner Heuerlinge bekannt, und bis jetzt noch ist es ihm schimpflich geblieben, wenn er nicht in dem guten Stande war, daß er sie mit dem Nötigen aus seiner eigenen Ernte versehen konnte. Er gibt also einem jeden Heuerling, was er bedarf, und nur selten wird über den Preis gleich beim Empfange etwas verabredet.« Ein bestimmter Bauer gebe gewöhnlich einen nicht zu hohen Preis an, und wenn dies geschehen sei, »so richten sich alle übrigen nach ihm, sie mögen es gerne tun oder nicht, weil sonst ihr guter Ruf hierunter bei den Heuerlingen leiden würde«.

Möglicherweise wurde hier schon die Vergangenheit teilweise verklärt, weil die Schilderung der alten Verhältnisse einen Kontrast bieten sollte gegen die neu eingerissenen hohen Preise, die die Bauern den Heuerlingen berechneten, seitdem sie aus der Zeitung die städtischen Getreidepreise erfahren konnten 5 9 . Zudem widersprechen andere Autoren diesen Schilderungen. Was in jenem ersten Zitat schon auf den großbäuerlichen Heuerling eingeschränkt ist, erwähnte Schwager - 25 Jahre früher - überhaupt nicht, sondern betonte im Gegenteil, daß der Heuerling Getreide und Stroh »nicht wohlfeiler als . . . jeder andere Mensch kauft«. Auch der Rentmeister Fischer erwähnt keine Vorzugsbedingungen des Heuerlings, und seine Budgetrechnung weist jene Zukäufe als den größten Posten aus, der 36% der gesamten Ausgaben einer Heuerlingsfamilie umfaßt 6 0 . In der Senne schließlich war Mitte des 19. Jahrhunderts der patrimoniale Tausch teilweise zu einer Art bäuerlichem Bannrecht verhärtet, sofern die Heuerlinge den Bauern ein bestimmtes Quantum an Brennmaterial abkaufen mußten. Es istnicht festzustellen, ob dieses ein Traditionsrelikt oder Ergebnis einer besonderen Ausbeutung der Heuerlinge durch die selber armen Bauern der Senne war, die angesichts eines dürren Sandbodens zur größtmöglichen Ausnutzung der relativ umfangreichen Holzungen gezwungen waren 61 . Jenes Bannrecht war sonst ungewöhnlich, da Holz im 19. Jahrhundert ein knappes Gut war, das auf Auktionen versteigert wurde. Diese Form der kommerziell-öffentlichen Tauschbeziehungen, die im Vormärz sich auch auf andere Produkte erstreckte, ist im 18. Jahrhundert noch nicht festzustellen oder hat wenigstens nicht die große Aufmerksamkeit wie später gefunden. Daraus scheint der Schluß möglich, daß im 18. Jahrhundert, insbesondere 261

in der Zeit vor der starken Bevölkerungszunahme, der noch nicht marktmäßig regulierte Austausch zwischen Bauer und Heuerling üblich war. N u r bei wenigen, vornehmlich wohl bei den Großbauern, war es auch ein Tausch innerhalb einer Haus- bzw. Hofgemeinschaft, der sich möglicherweise auch hier nicht auf alle Produkte erstreckte. Die ausgeprägtere Integration des Heuerlings in die Versorgungsfunktion der bäuerlichen Familie war bei den Großbauern auch eine Folge von deren ökonomischer Potenz. Die Möglichkeit und Bereitschaft der mittleren und kleinen Bauern, mit ihren eigenen knappen Ressourcen den Heuerlingen familiale Vorzugsbedingungen zu gewähren, ist skeptisch einzuschätzen. Besonders gilt dies im Hinblick auf die Versorgung in Notfällen, denn sobald die Anlässe dazu individuelle Gegebenheiten überstiegen, Teuerungen und Handelskrisen die »Dürftigkeit« der Heuerlinge zu Armut und Hunger verschärften, waren jene Wirte davon selbst betroffen. Aber auch in weniger schweren Fällen, bei Krankheiten, war die Hilfe durch die eigene Familie und Verwandtschaft für den Heuerling die primäre und möglicherweise einzige. Die harte Gleichung: Brot nur gegen Arbeit, Reflex des allgemein niedrigen Niveaus des materiellen Lebens, das nur zu erhalten noch große Anstrengungen erforderte, hat gegenüber Krankheiten und dem Kranken eine Unempfindlichkeit gestiftet, die den Heuerling genauso traf wie das Gesinde, dessen Versorgung im Krankheitsfall überhaupt nicht oder nur unzureichend geregelt war 6 2 . Eine nur schwache Eingliederung in die Versorgungsfunktion der bäuerlichen Familie schloß eine in Bräuchen institutionalisierte Sozialintegration nicht aus, die den Heuerling am sozialen Prestige der bäuerlichen Familie partizipieren ließ und ihn andererseits der sozialen Kontrolle des Hausherrn unterwarf. Seine Rolle bei Familienfesten - Taufe, Hochzeit, Tod - , mit denen die Familie sich symbolisch repräsentierte, scheint dafür ein zuverlässiger Indikator. Wenn dabei bestimmte Handlungen - das Tragen des Taufkindes, die Herstellung des Hochzeitsmahles, das Waschen der Leiche - von den »Nachbarn« vollzogen wurden, so offenbar, weil diese Handlungen sowohl Pflicht wie Ehre darstellten, welche nur etwa ranggleiche Personen erfüllen durften, die die »Nachbarn« als Mitglieder der besitzenden Klasse waren. Heuerlinge wurden dazu nicht zugelassen, sondern allein zu den gleichsam niederen Funktionen als Hochzeitsbitter und Leichenboten oder auch als Totengräber für eine Kinderleiche. Aber immerhin spielten sie so eine feste, wenn auch untergeordnete Rolle, die ihnen die Teilnahme an den Festen sicherte und so die Zugehörigkeit zur Familie dokumentierte, was durch Geschenke noch unterstrichen wurde. Bei den großbäuerlichen Sattelmeyern erhielten, wenn ein Mitglied der bäuerlichen Familie verstorben war, die Heuerlinge wie das Gesinde ein »Trauergeschenk«, nämlich Kleider bzw. Hosen 6 3 . Die dienende Funktion und der Ausschluß aus der »Nachbarschaft« markierten aber auch die Distanz zum Bauern. Umgekehrt kamen die Heuerlinge jedoch in den Genuß der nachbarlichen Ehrenleistungen Die Pflicht 262

dieser Nachbarn, die Leiche zu waschen, erstreckte sich auch auf die Heuerlinge des betreffenden Bauern 64 . Darin läßt sich die Ordnung stiftende Funktion des bäuerlichen Hauses in der Gemeinde erkennen, welche die in ihm lebenden und sonst zugeordneten Individuen zu einer sozialen Einheit integrierte, selbst wenn die volle Einheit des Hauses, wie im Verhältnis Bauer-Heuerling, nicht mehr gegeben war. Deutlich zeigt dies auch ein für dieses Verhältnis selbst folgenloser Umstand. So wie bei den Bauern der Haus- oder Hofname den Familiennamen dominierte, so trugen die Heuerlinge bis ins 19. Jahrhundert hinein keinen eigenen Familiennamen. »Bekanntlich herrscht seit undenklichen Zeiten unter den Heuerlingen und Bewohnern aller Art des platten Landes der Gebrauch, keinen festen eigenen Familiennamen zu tragen, sondern sich bloß mit dem Vornamen und dann mit Einschaltung des Wörtleins »bei« nach dem Familiennamen des Colonen zu benennen, auf dessen Stätte sie jedesmal zufällig zur Heuer wohnen. «6S

Gleichermaßen war diese Übung jedoch auch ein Reflex der Klassenlage der Heuerlinge, sofern in Gesellschaften ohne allgemeine Staatsbürgerschaft, die den Familiennamen aller erzwang, die Besitzlosen stets nur einen Vornamen hatten, wogegen der Familienname und vornehmlich der Titel Selbständigkeit, Besitz und ständische Reputation dokumentierten 66 . Es bleibt noch eine für das proto-industrielle Minden-Ravensberg bedeutsame Frage nach der Integration in das bäuerliche Haus, die gemeinsame Arbeit während der langen Winterabende in der Spinnstube, wenigstens solange, als das Spinnen eine intensiv betriebene »Füllarbeit« in der bäuerlichen Wirtschaft war. An (oft voneinander abgeschriebenen) idyllischen Bildern der fleißigen Hausgemeinschaft, der »gemütlichen Spinnstube«, in der die bäuerliche Familie mit Gesinde und Heuerlingen am Spinnrad saß, ist kein Mangel. »In der Wohnstube ist ein Fenster angebracht, wo der ganze Dielenraum übersehen werden kann, und hier sitzen der Hausvater und die Hausmutter mit ihren Spinnrädern, und übersehen die spinnenden Hausgenossen sowohl, als auch Küche und Diele. Die Kötter, die zu Hause Holz und Licht sparen wollen, vermehren die häusliche Gesellschaft, und so sieht man oft eine Anzahl von 20 Spinnern in einer Stube, denen ihre Arbeit durch wechselseitige Vertraulichkeit, Scherz und Lachen zum angenehmsten Zeitvertreibe wird. Man söhnt sich mit den Plackereien dieser Erde wieder aus, wenn man eine solche Anzahl herzlich vergnügter Menschen sieht, und wie oft wünschte ich mir unseren Vater Friedrich in so eine Stube; es müßte seinem Herzen wohl tun!« 67

Schwer abzuschätzen ist die Bedeutung und Regelhaftigkeit jener Überlieferung, daß die Heuerlinge freiwillig und um Kosten zu sparen, diese Arbeitsgemeinschaft vermehrten. Eine Beschreibung bestätigt, daß dies »oft« vorkomme, während andere die Spinnstube als Kreis der bäuerlichen Familie allein mit ihrem Gesinde und dem Brautpaar beschreiben. In 263

einer schon durch ihre Form das Typische heraushebende, die Ravensberger Industrie in erhabenen Versen feiernden Idylle heißt es: »Hier sitzt in trautem Kreise, und jeder tritt sein Rädchen, der Bräutigam, die Braut, die Herrschaft, Knecht und Mädchen, der Greis, der sonst nichts kann, die Mutter, nah' ihr Kinde, nur erst drei Jahre alt, das schon wie Härchen spinnt. die Groß- und kleine Magd, der Herr, die Frau, der Knecht, hat jedes Zahl und Platz und Spinnerrecht. « 68

Eine gleiche soziale Zusammensetzung der Spinnstube schildern Quellen, die mit dem Lob der »guten alten Zeit« auch eine Funktion der Spinnstube besonders hervorheben, die Erziehung des Gesindes zum »Vergnügen, welches Ordnung und Arbeit gewähren« (Moser). Gewöhnlich bedeutete diese Erziehung harte Arbeit, u m die »Pflichtzahl« an Bind Garn für den Bauern zu spinnen, die so hoch gesetzt war, daß »Zahlspinnen« für das Gesinde ein Synonym für »tüchtig arbeiten« oder auch »viel arbeiten und wenig zu essen bekommen« wurde 6 9 . Es ist schwer vorstellbar, daß sich unter dem Druck dieser Arbeit und der Aufsicht des Bauern jene Spinnstubenkultur entwickelte, die seit der Mitte des 18. Jahrhunderts Gegenstand staatlicher Repression und geistlicher E m pörung waren: »Da auch an verschiedenen Orten üblich, daß die jungen und ledigen Leute unterm Vorwand der Spinnerei ausgehen, und bis Mitternacht und noch länger zusammenbleiben, dabei aber allerhand Mutwillen, Bosheit und wohl gar Diebereien ausgeübt zu werden pflegen«, wurde das »Spinnengehen« bei Geldstrafe verboten 70 .

Wahrscheinlich bezieht sich dieses Verbot vor allem auf ein Fest der Spinner, die »lange Nacht« vom 21. auf den 22. Dezember, in der eine größere Menge junger Leute bei einem Bauern feierte, wobei das Spinnen zum Anlaß für ein langes Fest bis in den frühen Morgen war, das insbesondere der ersten öffentlichen Bekundung fester Heiratsabsichten diente. Es ist gut möglich, daß nach Alkohol und Tanz sexuelle Rivalitäten dabei sich in den legendären Schlägereien entluden 71 . Von diesem Fest zu unterscheiden sind die gewöhnlichen Spinnabende, entweder der Jugendlichen alleine oder im Verein mit Erwachsenen, die ebenfalls und aus ähnlichen Gründen Gegenstand der Unterdrückung waren, freilich nicht um den sonst immer wieder eingeschärften »Fleiß«, sondern die Sexualkultur der Unterschichten zu regulieren. Diese Spinnstuben waren als Brutstätten alkoholischer Exzesse und der »Unsittlichkeit« verschrieen, für die Heuerlingsbevölkerung aber waren sie die für die vorindustrielle Arbeitswelt typische Verbindung von Arbeit und Geselligkeit. »In ihren (der Heuerlinge, J. M.) Häusern wird unaufhörlich gesponnen und der Zeitvertreib bestehet darin, daß die Jungens nach den Spinnstuben gehen. Hier wird

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nicht allein Garn, sondern auch Liebesintrigen gesponnen, nicht auf eine feine Art, denn sie sind der Natur getreu, verachten das Gekünstelte, und die meiste Zeit ist die eheliche Verbindung zweier Personen, die nichts haben als was sie am Leibe tragen, der Erfolg dieser Zusammenkünfte. « 72

Hinweise, daß bei diesen Spinnabenden Bauern und Heuerlinge vereint waren, fehlen. Die Beschwerde eines Lehrers im Kr. Minden über die allgemeine »Unsittlichkeit« in den Spinnstuben, wo die Erwachsenen durch ihre Reden die Kinder verderben würden, verweist im Gegenteil auf einen Umstand, der eine vollständige Trennung dieser arbeitenden Geselligkeit vom bäuerlichen Haushalt wahrscheinlich macht: die Spinner säßen nicht nur abends, sondern auch tagsüber zusammen. Möglicherweise sind hier nur die Berufsspinner gemeint, also diejenigen Heuerlinge, die kaum mehr zur Arbeit beim Bauern verpflichtet waren, was zusätzlich die besondere Ausprägung des Heuerlingsverhältnisses im Mindenschen nahelegt73. Allerdings deutet jene Form der Spinnstube einen vom agrarisch-bäuerlichen stark unterschiedenen Arbeitsrhythmus der Spinner an, der nicht mehr durch die noch von der Natur mitbestimmten Arbeitsabläufe der Land- und Viehwirtschaft geregelt war. »Die Handwerker und Fabrikanten«, heißt es in einer »Charakteristik« der Lippischen, Rietbergischen und Paderborner Bauern aus demjahre 1784, »arbeiten abends beim Lichte, und leben wie der Städter«, während der Bauer seine Zeit nach dem Lauf der Sonne messe74. So entstand, selbst wenn man die Winterszeit berücksichtigt, in der die bäuerliche Wirtschaft nur an die Naturzeit des Viehfütterns gebunden war, eine Inkongruenz der Arbeitszeiten zwischen Landwirtschaft und ProtoIndustrie, die eine Eingliederung der gewerblichen Arbeit der Heuerlinge in den Produktionsrhythmus des bäuerlichen Hauses und damit in das soziale Leben der Bauernfamilie zwar nicht ausschloß, aber doch behinderte. Es ist vorläufig nicht möglich, ein klareres und einheitlicheres Bild über das Verhältnis der Heuerlinge zum bäuerlichen Haus zu gewinnen, das in der bäuerlichen Welt die grundlegende Einheit der Sozialverfassung war. Im Unterschied zu anderen proto-industriellen Regionen gelang es den Heuerlingen nicht, sich ganz aus ihm zu lösen. Im Vergleich zum Gesinde jedoch war ihre Stellung gewissermaßen eine gebremste Emanzipation, da immer noch gebunden an die lange Leine einer quasifeudalen Abhängigkeit. Häufig mag die Erfahrung dieser Abhängigkeit gemildert worden sein durch patriarchalische Formen der Beziehung zum Bauern. Es gilt aber auch, daß gerade im Hinblick auf eine sehr wichtige, wenn nicht die hauptsächliche Einkommensquelle für die Heuerlingsfamilie diese Abhängigkeit für ihre selbständige gewerbliche Arbeit beengend und drückend war. Der schon mehrfach zitierte Beamte Hoffbauer hatte diese Spannung vor Augen, als er die Lage der Heuerlinge mit scharfen Worten geißelte und deren Reform forderte, um die ländliche Industrie zu verbessern:

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»Diese Leute sind unglaublich schlimmer daran, als die freien Einlieger anderer Provinzen, die Veränderung der Miete verändert ihre ganze häusliche Einrichtung, sie dependieren von dem Winke ihres Mietsherren, sind von ihm verachtet, und ihr Loos ist Elend, das Loos der Knechts-Knechte. «75 Diese Charakterisierung w u r d e i m V o r m ä r z sozusagen n o c h z u t r e f f e n der, als sich das G e w e r b e in eine ganz andere R i c h t u n g als diejenige, die sich die merkantilistischen R e f o r m e r vorstellten, entwickelte.

3. Krisen u n d S p a n n u n g e n i m Heuerlingssystem w ä h r e n d des V o r m ä r z M i t der B e v ö l k e r u n g s v e r m e h r u n g n a h m nicht n u r die Z a h l der Einlieger o h n e L a n d n u t z u n g zu. D i e Differenzierung der besitzlosen B e v ö l k e r u n g auf d e m Land hatte auch R ü c k w i r k u n g e n auf das Heuerlingssystem, die die B e d i n g u n g e n der Heuerlingspacht verschlechterten u n d so die soziale Lage der H e u e r l i n g e u n d Einlieger bis zu einem gewissen G r a d e einander anglichen. D i e V e r ä n d e r u n g e n in den f ü r das quasifeudale H e u e r lingssystem entscheidenden E l e m e n t e n , der Landpacht u n d Arbeitsverpflichtung, w a r e n u m so gravierender, als m i t der Krise der ländlichen Textilindustrie ein Grundpfeiler der Heuerlingswirtschaft einstürzte. Das K e r n p r o b l e m des zugleich agrarisch u n d gewerblich konstituierten H e u erlingssystems i m V o r m ä r z charakterisierte ein Zeitgenosse i m Anschluß an die Gegenüberstellung des Heuerlings alten T y p s u n d des Einliegers so: »Es liegt darin ein Beweis, daß das Abhängigkeitsverhältnis der Einlieger von den Colonen nur dann drückend werden kann, wenn die sonstigen Erwerbsquellen für jene versiegen und das Angebot der Arbeit in der Landwirtschaft größer wird, als das Bedürfnis es erfordert.«76 D i e institutionelle A u f l ö s u n g dieser K l e m m e w ä r e die U m w a n d l u n g des H e u e r l i n g s - in das Instenverhältnis gewesen, d . h . die V e r w a n d l u n g des agrarisch und gewerblich tätigen Heuerlings in einen »reinen« L a n d arbeiter, der d u r c h Pachtland u n d D e p u t a t e (naturale Anteile a m E r n teertrag) e n t l o h n t w u r d e . Soweit erkennbar, griff ein solcher Wandel in O s t w e s t f a l e n höchstens auf w e n i g e n g r o ß e n G ü t e r n Platz. A u f den B a u e r n h ö f e n aber litt der H e u e r l i n g unter der K o n k u r r e n z der d u r c h die proto-industrielle Krise freigesetzten Arbeitskräfte, o h n e seinerseits die K o n k u r r e n z als freier Tagelöhner nutzen zu k ö n n e n . Das quasifeudale H e u e r l i n g s s y s t e m ist in dieser Situation gleichsam verwildert, w o f ü r allein die H e u e r l i n g e die K o s t e n zu tragen hatten. D i e integrativen paternalistischen M o m e n t e des alten Systems s c h w a n d e n oder w u r d e n s c h w ä cher. Statt d u r c h die spezielle B i n d u n g an den B a u e r n den Klassenunterschied abzuschwächen, hat das verwilderte Heuerlingssystem diesen g e -

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rade dann verstärkt, wenn die Bauern trotz der gewandelten Umstände an der paternalistischen Kontrolle festhalten wollten.

a) Wandel der Pacht- und

Arbeitsverfassung

Es ist leicht einsehbar, daß die starke Nachfrage nach Wohnung und Land durch die besitzlose Klasse nicht nur an eine absolute Grenze stieß, so daß ein Teil kein Pachtland mehr erhalten konnte, sondern daß sich damit der Umfang und die Art der Pachten selbst änderten. Neben dem Schwund der gewerblichen Einkommen und der Kommerzialisierung der lokalen Märkte - wie 1848 einer der von der Regierung eingesetzten Kommissare zur Untersuchung der Lage der Heuerlinge diagnostizierte - sei ein Grund für »Armut und Unzufriedenheit« der Heuerlinge, daß sie »in der Regel(!) zuwenig und meistens das schlechteste Land des Hofes besitzen. Jene günstigen Verhältnisse (der Garnspinnerei um 1800, J. M.) unserer Heuerlinge wahrnehmend, bauten unsere Colone, teils aus Ehrgeiz, recht viele Kötter am Hofe zu haben, teils von Gewinnsucht getrieben, Kotten über Kotten. Überall w o so ein Stückchen Land lag, das sie wenig oder gar nicht benutzen konnten, wurde ein Zimmerchen hingepflanzt, welches eine Wohnung für 2 - 3 Familien ausmachte. Daher allein das ungleiche Verhältnis der Heuerlinge zu den Grundbesitzern, und es ist gar nicht zu verwundern, wenn wir Höfe besitzen, zu welchen 12-14 Heuerlingsfamilien gehören, natürlich ohne hinlängliches Land.« 7 7

Dieses Land reichte nach dem Verfasser nicht mehr zum Füttern einer Kuh. Gülich zufolge hat sich in Minden-Ravensberg die durchschnittliche Größe einer Heuerlingspacht fast um die Hälfte vermindert: U m 1800 bewirtschafteten die Heuerlinge »wohl 3 - 5 Morgen«, in den 1840er Jahren dagegen die »meisten« nicht mehr als 1 - 2 Morgen 7 8 . Damit einher ging eine Steigerung der Pachtpreise für Wohnung und Land. Am stärksten schnellten begreiflicherweise die Wohnungsmieten in die Höhe, da ein Dach über dem Kopf noch notwendiger war als ein Stück Land: von 2 - 3 Talern Miete für einen Kotten um 1800 bis auf das Vierfache 79 . Die freilich spärlichen Angaben werden durch die subjektive Einschätzung der Heuerlinge bestätigt. In einer Eingabe von Heuerlingen aus Schildesche rechnete der Verfasser den »schweren unerschwinglichen Mietzins« zur niederdrückenden Armut des Heuerlings, für den dieser, »wenn er sich beim Eintritt desselben nicht auch obdachlos sehen will, . . . nun alle seine Zeit, seine Kraft ohne Unterbrechung aufwenden muß« 8 0 . Weniger stark sind wohl die Preise für die Landpachten gestiegen. Die spärlichen und sehr groben Zahlen 81 zeigen zunächst ein — j e nach der Qualität des Landes - bedeutendes Schwanken der Preise. Signifikant sind auch die lokalen Unterschiede: in den nördlichen und besonders den Paderborner Kreisen waren die Pachtpreise niedriger. In den Ravensberger Kreisen Herford, Bielefeld und Halle waren sie am

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höchsten, wobei sie sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Tendenz von ursprünglich 4 Rt pro Mg auf 8 Rt verdoppelten. Die regionale Streuung der Preise kongruiert mit der regional unterschiedlichen Bevölkerungsdichte, eine Relation, welche die zeitgenössische Beobachtung bestätigt, daß die Pachtpreise mit der Bevölkerungsvermehrung und Konkurrenz der Pächter stiegen. Die konkurrierende Nachfrage wurde noch durch die relative Verknappung des Angebots an Pachtland angeheizt. Mit den seit den 30er Jahren steigenden Agrarpreisen wurde nämlich die eigene Bewirtschaftung des Bodens fur die Bauern rentabler. Ihre Neigung dazu wuchs auch in dem Maße, wie die Heuerlinge mit der gewerblichen Krise in die Zone der Zahlungsunfähigkeit abrutschten, wogegen die Bauern sich nur fur eine begrenzte Zeit durch die Pfändung des Vermögens der Heuerlinge sichern konnten. Öffnete sich dann einmal die relative Landsperre, dann jagte die Konkurrenz die Preise weiter hoch. Bei der meistbietenden Verpachtung anläßlich der Subhastation von bäuerlichen Gütern, wird aus dem Kr. Herford berichtet, »drängen die armen, brotlosen Heuerlinge sich hinzu, treiben die Preise zu unerschwinglicher Höhe und reißen sich förmlich darum, zugrunde zu gehen« 82 . Die Wirkungen der Konkurrenz um das Pachtland waren umso gravierender, als diese nicht nur durch die Agrarkonjunktur, sondern auch durch die Reform der Agrarstruktur angefacht wurde. Die Markenteilung hat zwar noch einmal ein Reservoir an Pachtland mobilisiert, aber von relativ schlechter Qualität; dagegen stellte der Verlust der kollektiven Weide, soweit sie nicht durch Residualformen erhalten blieb, ein schwer lösbares Problem der Umstellung der Heuerlingswirtschaft auf die Stallfütterung dar. Dafür war entweder ein gewisser Umfang von Ackerland für den Anbau von Futtermitteln oder die teure Pacht von Wiesen eine Voraussetzung 83 . Die Unterschreitung einer gewissen Größe des Pachtlandes bedeutete also einen folgenreichen Eingriff in die agrarische Heuerlingswirtschaft, in welcher die Kuh eine bedeutende Rolle gespielt hatte. Andererseits war die Pacht von ehemaligem Markenland zumindest ein sehr ambivalenter Ausweg. Nicht nur war dieses Land oft noch kultivierungsbedürftig; schlimmer war, daß die Pachtbedingungen die Heuerlinge um ihre Meliorationsarbeiten prellen konnten. Am Ende kassierte der Bauer den Gewinn. Es wird jedenfalls als eine Erfahrung der Heuerlinge im Paderborner Kreis berichtet, daß sie »nach der viel zu kurzen« Pachtzeit von 1-4Jahren »verjagt werden, wenn sie die Grundstücke instand gesetzt haben« 84 . Damit wurde erneut das schon u m 1800 auftauchende Problem der Verbesserung des Pachtstatus der Heuerlinge durch eine rechtliche Fixierung virulent. Wieder empörten sich Beamte über die »unseligen Pachtverhältnisse«, die den Heuerling in eine schlechtere Lage versetzen würden als den ehemaligen Leibeigenen. Vorschläge, den Pachtstatus der Erbpacht anzugleichen oder die Pachtfrist zu verlängern, scheiterten schon im Ansatz an der Resignation der Verwaltung und am Widerstand der Bauern 85 . Dieser 268

war offenbar so tiefsitzend, daß die Heuerlinge selbst schon vorgängig resignierten; in ihren Eingaben brachten sie den Pachtstatus auffälligerweise kaum zur Sprache. Statt entgegenzukommen, wichen die Bauern, wenn nötig, sogar auf andere Pachtformen aus, um die möglichen Aspirationen der Heuerlinge nach einer besseren Pacht zu dämpfen. Der Bielefelder Landrat wies 1837 einmal auf eine sonst nirgends erwähnte Änderung hin: »In neuerer Zeit, seit nämlich die Parzellenveräußerung der mit Abgaben belasteten Höfe erschwert wäre, sei es üblich geworden, daß man Parzellen auf 20-25 Jahre verpachte. Der Pächter baut sich darauf an, auf die Gefahr, daß er nach Ablauf der Pachtzeit, wenn er sich mit dem Verpächter nicht anders vereinigt, die Gebäude abbrechen muß. Diese Art und Weise der Parzellierung habe in neuerer Zeit große Ausbreitung gewonnen, und unabhängige Grundbesitzer haben sie ebenfalls angenommen, weil sie durch diese Abhängigkeit der Ansiedler die Mittel in die Hände bekommen, ihre Heuerleute in Ordnung zu halten. « 86

Ebenso wie die Heuerlingspacht sich innerhalb der überkommenen Struktur zum schlechteren veränderte, unterlag die mit der Pacht verbundene Arbeitsverpflichtung dem Druck einer absolut und mit der Krise der Proto-Industrie auch relativ anwachsenden Arbeiterbevölkerung. Spiegelbildlich zur Nachfrage nach Pachtland entwickelte sich das Angebot auf dem agrarischen Arbeitsmarkt. »Gegenwärtig«, berichtete 1843 die Mindener Regierung, »hat die Concurrenz die Arbeitsgelegenheit bei dem Colon geschmälert und den Tagelohn obendrein herabgedrückt« 87 . Dies erfolgte entweder in der drastischen Kürzung des Geldlohnes für gleiche Arbeit oder mittels einer versteckteren Lohnreduzierung durch den Übergang zur Halbbzw. Vierteltagsarbeit, bei der zwar ein anteilsmäßiger Geldlohn gezahlt, aber die traditionellerweise zum Lohn gehörende Kost eingespart wurde. Gegenüber dem traditionellen Geldlohn von 2 Sgr. 6 Pf. plus Kost für einen vollen Arbeitstag haben besonders im Kr. Halle die »meisten« Heuerlinge für ein »wahres Hundegeld« von 1 Sgr. 8 Pf. den »ganzen Tag die schwersten Arbeiten verrichten« müssen 88 . Wahrscheinlich war diese Lohnkürzung weniger verbreitet als die indirekte durch Einsparung der Mahlzeiten. Sie wird nur einmal berichtet, während gerade für den genau kalkulierenden Bauern die teilweise Naturalentlohnung zu teuer wurde. Die rationellen »Oeconomen« auf den größeren nichtbäuerlichen Gütern gingen ihnen darin voran, indem sie nicht nur die Naturalentlohnung ganz abschafften, sondern auch behaupteten: »genau berechnet kommt aber diese Beköstigung den Bauern für jeden einzelnen Heuerling reichlich so hoch wie das ganze Tagelohn auf den Gütern.«In ihren Augen war ein wichtiges Element der paternalistischen Beziehungen zwischen Bauer und Heuerling unzweckmäßig: »Offenbar zeigt sich hier eine sehr unzweckmäßige Einrichtung, in deren Folgejeder Bauer gezwungen ist, seine Heuerlinge so wenig wie möglich in Tagelohn zu nehmen, weil sonst seine Vorräte an Fleisch, Butter etc. schwerlich ausreichen

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würden. Denn wenn derselbe mit seinem Gesinde allein ißt, so wird viel sparsamer gelebt und wöchentlich außer sonntags, nur zweimal Fleisch gegeben. Es kommt daher bei den Tagelöhnern nicht allein das, was dieselben verzehren, in Anschlag, sondern auch noch dieses, daß die ganze Familie nebst Gesinde genötigt ist, soviel besser zu leben. « 89

Was lag näher, als die Heuerlinge zwar nicht weniger, sondern anders, in Teilzeitarbeit, zu beschäftigen? Die Bauern dachten freilich, als sie zur Haibund Vierteltagsbeschäftigung übergingen, weniger an eine Einschränkung ihres Konsums, sondern an die günstiger werdenden Verkaufschancen für jene Lebensmittel; wegen der »teueren Preise aller Produkte« haben sie an den Mahlzeiten gespart. Von den Heuerlingen wurde dies auch deswegen als »moralische Härte« erfahren 90 , weil damit die Tischgemeinschaft zwischen Herr und Knecht - ein Symbol patriarchalischer Beziehungen - verschwand. Mehrere Momente drückten also verändernd auf die Arbeitsverfassung im Heuerlingssystem: die agrarische Intensivierung, das große Angebot von Arbeitskräften und schließlich eine charakteristische Nachfragestruktur. Die agrarische Intensivierung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts implizierte noch keine Umstellung der Produktionsverfahren, sondern erfolgte im wesentlichen durch eine arbeitsaufwendige Verbesserung der herkömmlichen Methoden. Die sorgfältigere Bodenbearbeitung und der vermehrte Hackfruchtbau erforderten daher keine Änderung der Arbeitsverfassung auf den bäuerlichen Betrieben, etwa durch die Einstellung von mehr Gesinde. Die dabei anfallenden Arbeiten: Düngerwerfen, Erdefahren, das Pflanzen der Hackfrüchte, die Reinigung der Felder von Unkraut, die Ernte usw. waren entweder ausgesprochen saisonal spezifische oder - im Gegenteil - zeitlich freier disponierbare Arbeitsvorgänge, die sämtlich den Aufwand von Handarbeit beträchtlich steigerten, aber auch die Teilung des Arbeitsquantums auf verschiedene »Hände« und Zeiten erlaubten. Anders als etwa bei der Getreideernte war auch der Druck zur Arbeitskooperation und für ein Mindestmaß von Qualifikation nicht so groß. Besonders der Kartoffelbau beschäftigte auch viele Frauen und Kinder in einem früher unbekannten Ausmaß in der Feldarbeit. So ist es nicht verwunderlich, daß in Minden-Ravensberg der steigende Arbeitsaufwand »fast durchgängig . . . nur durch Heuerlinge« erledigt wurde 9 1 . Die Entwicklung der Gesindezahlen unterstreicht dies nachdrücklich. Trotz der Zunahme von Betrieben und der Vermehrung der Arbeit stagnierte das Gesinde oder entwickelte sich sogar rückläufig, ohne daß Klagen über eine »Leutenot« vernehmbar wären. In Minden-Ravensberg sank die Zahl des landwirtschaftlichen Gesindes von 11463 im Jahre 1797 auf 10879 im Jahre 1846. Gleichzeitig wurden damit auch die Löhne gedrückt. Die Heuerlingsarbeit war im Vergleich zum Gesinde nicht nur billiger; sie bewirkte auch einen niedrigeren Lohn für das Gesinde und die freien Tagelöhner als in den anderen Teilen der Provinz 270

Westfalen, wo entweder, wie im Münsterland, die Heuerlingsbevölkerung nicht so umfangreich war, oder wie im Arnsbergischen, die Industrie schon eine Lohnkonkurrenz gegenüber dem Agrarsektor darstellte 92 . Die Nachfragestruktur nach landwirtschaftlichen Arbeitern änderte sich also nicht oder nur sehr geringfügig. Von den vier Gruppen landwirtschaftlicher Arbeiter im 19. Jahrhundert: Gesinde, Heuerlinge, Insten und freie Tagelöhner waren in Minden-Ravensberg die Heuerlinge noch die bei weitem bedeutendste. Allein auf den großen nicht-bäuerlichen Gütern und vielleicht auch auf großbäuerlichen Betrieben mit mehreren hundert Morgen setzte sich wie auf den adeligen Gütern und Domänen im Paderbornischen ein Teil der Landarbeiterschaft aus Insten oder »Gutsheuerlingen« und freien Tagelöhnern zusammen 93 . Nur diese Betriebe waren groß genug, um einen »reinen« Landarbeiter das ganze Jahr hindurch zu beschäftigen. Die Mehrheit der Bauern dagegen war dazu weder fähig noch willens. Das überkommene Heuerlingssystem bot ihnen nämlich die Gelegenheit, den Heuerling wie einen Tagelöhner zu behandeln, ohne die Risiken des freien Arbeitsmarktes teilen zu müssen. Wie früher blieb der Heuerling verpflichtet, wie ein herrschaftlich Abhängiger auf den »Wink« des Bauern zur Arbeit zu erscheinen. Sein Status näherte sich so demjenigen eines Proletariers, aber eines persönlich unfreien Proletariers. Es war die Ausbeutung eines quasifeudalen Arbeitsverhältnisses, die gleichzeitig zu seiner Verwilderung führte. Alle einzelnen Elemente des Verhältnisses waren der Veränderung der kommerziellen Bauernwirtschaft ausgeliefert, während ihre spezifische Verknüpfung auf Kosten des Heuerlings erhalten blieb. Der Bauer hatte so immer genug Arbeiter, aber der Heuerling nie genug Arbeit. Er war in einer ausweglosen Klemme: Die Emanzipation aus der bäuerlichen Abhängigkeit, im 18. Jahrhundert noch ein Ausweg, war nun mit der tödlichen Krise der Proto-Industrie verbaut, während die (Fabrik)-Industrialisierung für alternative Arbeitsmöglichkeiten noch nicht weit genug entwickelt war. So wuchs die Bedeutung seiner agrarischen Subsistenz als Kleinpächter und Landarbeiter, während die Konkurrenz die Bedingungen dieser Subsistenz verschlechterte. Die Situation führte in eine »Krise ohne Alternative« (Chr. Meier), in der der Heuerling gewissermaßen neben dem quasifeudalen »Leibeigenen« des Bauern auch zum »Leibeigenen« des Marktsystems und der Konjunkturen wurde 94 . Alle Elemente der sozialökonomischen Entwicklung im Vormärz: das Bevölkerungswachstum, die Agrarreformen sowie die agrarische und gewerbliche Konjunktur agglomerierten für die Heuerlinge zu einem »allerdings unerträglichen socialen Druck« 9 5 , dem sie fast wehrlos ausgeliefert waren. Noch die objektive Hilflosigkeit der Rebellionen im März 1848 bezeugt, daß an der Schilderung ihrer »schrecklichen Lage« durch einen der wenigen Zeitgenossen, die ihnen einen politischen Weg weisen wollten, kaum ein Wort übertrieben ist:

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»Bei ihrem Wirt finden sie nicht hinreichend Arbeit; der Bauer kann jeden Augenblick einen anderen Heuerling bekommen; der arme Mann darf sich also nichts herausnehmen, und spricht er einmal ein freies Wort, oder tut er etwas, was dem Bauer unangenehm ist, gleich wird ihm gekündigt. So muß der Heuerling an vielen Orten nicht bloß Hunger leiden und sich auf das Kümmerlichste durchhelfen, sondern er darfauch nicht einmal frei reden. « 96

b) Erosion der patriarchalischen

Beziehungen

Von dieser Verwilderung der Struktur des Heuerlingssystems wurden noch weitere Elemente des alten patriarchalischen Verhältnisses zwischen Bauer und Heuerling angesteckt. Waren Formen der sozialen Integration in die bäuerliche Familie und nicht-kommerzieller Tauschbeziehungen schon im späten 18. Jahrhundert nur undeutlich zu rekonstruieren, so ist es nicht verwunderlich, daß diese sozialintegrativen Faktoren im 19. Jahrhundert schwächer wurden. Dieselben Faktoren, die das Pacht- und Arbeitsverhältnis unter Druck setzten, wirkten auch als eine zerstörende Kraft auf jene Beziehungen, die für den Heuerling eine nicht unwesentliche schützende Hülle waren. Insofern die Verflechtung der Agrarkonjunktur und der Agrarreformen mit dem Wandel der lokalen Märkte alle lebensnotwendigen Ressourcen für die besitzlosen Unterschichten betraf, ging diese Wirkung noch über das Heuerlingsverhältnis hinaus und beeinflußte die Beziehungen zwischen der besitzenden und der besitzlosen Klasse überhaupt. Gibt es auch wenig direkte Hinweise auf den Schwund der Eingliederung in die bäuerliche Nachbarschaft und die Teilhabe an Familienfesten, so scheint es doch plausibel, anzunehmen, daß diese Integration zumindest in dem Maße starken Belastungsproben ausgesetzt war, wie das Band zwischen Bauer und Heuerling »in ein gewöhnliches Tagelöhnerverhältnis« 97 ausartete. Denn die damit einhergehenden Spannungen erschwerten zweifellos solche Interaktionen, die ja immer auch auf Vertrauens- und Respektzumutungen basierten, welche aber gerade durch die Entwicklung des Heuerlingsverhältnisses erschüttert wurden. Einerseits wurde nämlich mit dem wachsenden Prestige und Selbstbewußtsein der Bauern die psychisch erlebte Distanz größer. Heuerlinge wurden von den Bauern geduzt, während diese mit »Ihr« angesprochen wurden; Heuerlinge muß ten die Holzschuhe ausziehen, wenn sie die Stube des Bauern betraten, und manch einer mochte diesen nicht nur als »Herrn« erleben, sondern - wie es aus dem späten 19. Jahrhundert erinnert wird - sogar als »Herrgott«, demgegenüber man vor Angst erbebte 98 . Andererseits aber erschien der Heuerling dem Bauern oft genug nur als ein potentieller Dieb. Symptomatisch für diese gespannte Situation und ein Hinweis auf die Distanzierung des Heuerlings von der bäuerlichen Familie sind bestimmte Erinnerungen des Ravensbergers H. Vedder, dessen Familiengeschichte in 272

manchem typisch ist. 1877 als Sohn eines Neubauern und Seidenwebers geboren, wurde er ein pietistischer Missionar, wozu die Großeltern, die Anhänger der Erweckungsbewegung waren, das Fundament gelegt hatten. Der Großvater war Heuerling auf einem Meierhof und »mit der Zeit Förster geworden«, um den bäuerlichen Wald gegen die Holzdiebe zu schützen, wobei er übrigens nur mit Erbsen geschossen haben soll. Gleichwohl: Auch seine Familie litt an Brennholzmangel, so daß die fromme Großmutter eines Nachts ihren Mann bedrängte: »Konrad, das 7. Gebot in allen Ehren: Stehlen soll man nicht. Aber du bist kein Fremder hier auf dem Hofe, sondern sozusagen ein Hausgenosse; denn du bist der Förster, und da hast du auf deinen nächtlichen Gängen den Bauern schon so viele Buchen gerettet, daß wir fünf Jahre davon brennen könnten. Weißt du nicht, daß geschrieben steht: Wer seine Hausgenossen nicht versorgt, der ist ärger als ein Heide? Stehe auf, sei nicht ärger als ein Heide, und bewahre den Bauern auch davor, es zu sein. Tu das, was er freiwillig längst hätte tun sollen.«"

Natürlich ist der unmittelbare Wahrheitsgehalt dieser Erinnerung fraglich. Ihre gewissermaßen indizienhafte Repräsentativität und Wahrscheinlichkeit gewinnt sie jedoch aus dem pietistischen Familienzusammenhang, in dem die Geschichte auch tradiert wurde. Denn die konservative pietistische Erweckungsbewegung des Vormärz war mit ihrer patriarchalischen Sozialethik auch eine Kritik an den »hartherzigen« und »armen reichen Kornbauern«, die mit der religiösen Aufwertung der Armut die soziale Würde der Armen zu schützen suchte 100 . Sie klagte eine »Hausgenossenschaft« ein, die auch bei Großbauern im Schwinden begriffen war, wie noch der Ausgang jener Anekdote erkennen läßt. Vedder erzählte sie natürlich als pietistisches Exemplum für Ehrlichkeit, Gebet und Gottvertrauen. Der fromme Großvater brachte es nicht über sich, Brennholz zu stehlen, sondern machte lieber seine Spazierstöcke zu Kleinholz. Kurz danach aber belohnte das ökonomische Kalkül des Bauern das Gottvertrauen: Eine alte Buche auf dem Hofgelände stand einem Scheunenneubau im Wege, und großzügig bot er dem Heuerling an, den Baum zu fällen und als Lohn das Holz zu nehmen, da er kein Bargeld habe, um Arbeiter bezahlen zu können. Mit der Verbreitung des Marktbewußtseins bei den Bauern, scheint es, erodierte die inhaltliche Auffüllung des Patriarchalismus auch dort, wo seine äußere Form noch bestehen blieb. Den Heuerling auch wirklich als Hausgenossen zu behandeln wurde eher zum individuellen Merkmal des »guten Bauern« 101 - im Unterschied zur alten patriarchalischen Norm, die ihrerseits individuelles Verhalten bestimmte. Nicht nur für die Aushöhlung, sondern für den Schwund patriarchalischer Elemente im Heuerlingssystem spricht ein im Vormärz nicht gänzlich neues, nun aber sich weiter verbreitendes Phänomen auf den lokalen Märkten, das Auktionswesen für Lebensmittel102. Beim Holzverkauf hat es sich angesichts der Holzknappheit - wahrscheinlich zuerst durchgesetzt. Schon 273

1801 brachte der Ravensberger »Holzbauer« sein Holz nicht mehr in die Stadt Bielefeld, sondern versteigerte es auf seinem Hof und erzielte dabei angeblich dreifach höhere Preise als vordem. Vollständig war die Kommerzialisierung jedoch noch nicht ausgebildet: »Die C o n s u m e n t e n auf d e m platten Lande erhielten ihren Bedarf noch etwas w o h l feiler; aber es waren viele neue C o n s u m e n t e n h i n z u g e k o m m e n , mit denen der Holzbauer in keiner Verbindung stand, denen er keine Billigkeit schuldig zu sein glaubte.« 1 0 3

Offensichtlich erhielt damals der Heuerling alten Typs das Holz noch zu den gewissermaßen patriarchalisch niedrigeren Preisen, aber nicht mehr die schon zunehmende Gruppe der Einlieger. 30Jahre später war diese Differenz eingeebnet und die Auktion die übliche Form des Holzverkaufs geworden. In der Gemeindechronik von Heepen wurde im November 1835 festgehalten: »Die meisten C o l o n e n verkaufen jetzt ihr Holz auf Auctionen, deren in den letzten Wochen m e h r e r e abgehalten w o r d e n sind u n d w o b e i sich hohe Preise herausgestellt haben. D a m a n hiernach an die geringen Leute kein Holz in kleinen Quantitäten m e h r überlassen zu wollen scheint, und diese ganze H a u f e n nicht bezahlen können, so w i r d ein v e r m e h r t e Zahl v o n Holzdiebstählen die Folge sein. « 1 0 4

Neben der Verallgemeinerung der Holzauktionen griff etwa gleichzeitig das Auktionswesen auch auf andere Lebensmittel wie Flachs, Getreide und Kartoffeln über. In der Gemeindechronik von Schildesche bei Bielefeld wird 1824 zum ersten Mal eine Kornauktion erwähnt 105 . Das Auktionswesen war eine Extremform der Kommerzialisierung der bäuerlichen Landwirtschaft und der konsequenten Ausnutzung der Marktmechanismen durch die Bauern. Die Preistreiberei auf den Auktionen funktionierte deshalb immer, weil Holz, Flachs usw. knappe Güter waren. Um so schwerer wiegt der Bruch mit der »sittlichen Ökonomie« traditioneller Tauschbeziehungen. Denn der darin verankerte »gerechte Preis«, vorzüglich in Notsituationen, wurde durch die Auktionen ins gerade Gegenteil des höchstmöglichen Preises über den Marktpreis hinaus verkehrt. Angeblich wurden durch heimliche Aufbieter die Preise bis um die Hälfte des üblichen hinaus gesteigert. Diese Erfahrung bewog einen Zeitgenossen, der zum Umkreis der »wahren Sozialisten« gehörte, das Auktionswesen als eine »Despotie des Grundbesitzes (über) die arbeitende Klasse« zu bezeichnen, die drückender sei als die »unheilvolle Konkurrenz der Maschinen« für die Spinner und Weber106. Das Auktionswesen ist aber nicht nur ein Indikator fur die Durchsetzung von Marktstrukturen, sondern repräsentiert auch eine bestimmte Form von deren Durchsetzung: Die Entwicklung der Marktgesellschaft unter den Bedingungen des Geldmangels und des Pauperismus. Zu den Versteigerungen gehörte immer auch der Kredit für die besitzlose Unterschicht, die nicht 274

auf regelmäßige Geldeinkommen rechnen konnte. In Schildesche wurde 1824 begonnen, Korn »auf öffentlichen Auktionen und auf einen langen Borg zu verkaufen« weil auf anderem Wege infolge eines »großen Geldmangels« das Getreide keinen Absatz fand 1 0 7 . Die Versteigerungen wurden so ein Element der weit verzweigten Kreditwirtschaft auf dem Lande. So sehr der Kredit aber dem akuten Bedürfnis entgegenkam, so sehr wurde er auch eine Quelle neuer Ausbeutung bzw. des Profits fur den Auktionator oder sonstigen Kreditgeber und ein Glied in der Kette langfristiger Verschuldung, an deren Ende oft die Pfändung stand. Diese Ambivalenz und ihre »verderblichen Folgen« galt Zeitgenossen als das Hauptübel des »Auktionsunwesens« 1 0 8 . Denn Not und Bedürftigkeit einerseits und Wucher andererseits schaukelten sich gegenseitig hoch, wie ein Weber und Kleinbauer, der 1854 das Verbot dieses Kredits forderte, schilderte: ». . . der vierteljährige B o r g verfuhrt die Käufer, indem die N o t dieselben veranlaßt zu kaufen, und der Zahlungstermin dünkt ihnen noch sehr weit, dadurch wird die Ware zu teuer, und werden somit dann oft rein ausgeplündert. « 1 0 9

Es erstaunt, daß gegen diese Zustände erst in den 1840er Jahren wenigstens versuchsweise durch Hilfsvereine, Holz- und Kohlenmagazine u. ä. angegangen wurde, als die massenhafte akute Not schon zu groß war, während der ruinöse und demoralisierende Mechanismus früh durchschaut wurde. Da die Besitzlosen aus Geldmangel nicht bezahlen könnten, prognostizierte der Verfasser der Gemeindechronik von Heepen 1835 eine »vermehrte Zahl von Holzdiebstählen«. Zwei Jahre später sah er sich in seiner Befürchtung bestätigt: »Die ärmere Klasse kann jetzt das Holz nicht anders bekommen, als auf Auktionen, und wer zum Stehlen noch zu ehrlich ist, muß mitbieten. Die N o t kennt kein Gebot und die lange Kreditzeit läßt augenblicklich nicht an die Folgen des unsinnigen Aufbietens denken; diese kommen aber hart und fürchterlich in der Form der Exekutionsgebühren und Gerichtskosten. Wer diese scheut, oder wer sie dem Vermögen nach nicht ertragen kann, stiehlt aus Not! - Der Wohlstand und die Moralität der gezwungenen Käufer wird durch die Auktionen untergraben, und die durch die letzteren veranlaßten Diebstähle ruinieren Familien, deren Häupter oder Glieder streng genommen unschuldig verbüßen müssen, was die Auktionen verschulden.« 1 1 0

Wie andere Berichte aus dieser Gemeinde bestätigen, ist dies keineswegs übertrieben. Im Amt Heepen formierte sich 1840 ein bäuerlicher Verein zur sozialen Kontrolle der Heuerlingsbevölkerung, während gleichzeitig die Einrichtung eines (immer noch unzureichenden) Steinkohlenmagazins im Winter 1840/41 die Zahl der Holzdiebstähle angeblich drastisch zurückgehen ließ 111 . Offenbar war also der Holzdiebstahl, aber auch der Mundraub von Lebensmitteln und der Versuch des Kreditbetrugs eine wichtige Form des Widerstandes der ländlichen Unterschichten gegen die extreme Kommer275

zialisierung auf den lokalen Märkten. Die offene Revolte in Form von Preisfestsetzungen war eine Protestform vornehmlich städtischer Unterschichten, die man sich auf dem Lande kaum leisten konnte, da der Bauer ständig präsent und zu mächtig war 1 1 2 . Es liegt aber auf der Hand, daß jene kleine Kriminalität das Verhältnis zwischen Bauern und Unterschichten auf das stärkste zerrütten mußte, vom gegenseitigen Mißtrauen über die versteckte Gewalt bis hin zur Selbstjustiz der Bauern.

c) Konflikte

und soziale

Kontrolle

Die durch die Verwilderung des Heuerlingssystems und die Kommerzialisierung der lokalen Märkte sich ausbildende »Spaltung« oder »Opposition« zwischen den Bauern und Heuerlingen, wie Zeitgenossen eher beiläufig den mit der Erosion des Paternalismus sich enthüllenden Klassengegensatz nannten 113 , konnte sich um so ungehemmter entfalten, je mehr ein weiteres Medium der sozialen Integration, die ländliche Gemeinde, einem Wandel ihrer Verfassung unterlag 114 . Kann man auch für das späte 18. Jahrhundert von der Gemeinde nicht als einer klassenübergreifenden Gemeinschaft sprechen, so hat sich im Vormärz doch die spezifische kommunale Vergesellschaftungsform, die durch die Teilhabe an kommunalen Rechten und Besitztümern sowie die Arbeitskooperationen gestiftet wurde, gelockert. Die Markenteilungen, der Übergang der Bauern zum »agrarischen Individualismus«, die Entwicklung der »Kuhbauern«, die sich von der Gespannhilfe unabhängig machten sowie die neuen Parzellenbauern, die ihr Land mit dem Spaten kultivierten einerseits, die Zunahme der besitzlosen Klasse andererseits, die mehr Arbeit anzubieten hatte, als die Bauern benötigten: diese Verschiebungen haben den strukturellen Zusammenhalt der verschiedenen Schichten des Dorfes ausgehöhlt. Im kommunalen Zusammenhang mündete diese Dekomposition der überkommenen Gemeindeverfassung in dem Maße in eine soziale und politische Polarisierung, wie die funktionale Überlastung der Gemeinden das alte Problem von Rechten und Pflichten der Gemeindemitglieder verschärfte. Den Gemeinden wurden in der »inneren Staatsbildung« (Hintze) verstärkt Aufgaben im Bereich der öffentlichen Infrastruktur zugewiesen, zu denen alle Gemeindemitglieder herangezogen wurden. Die kommunalen Pflichten auch der Unterschichten nahmen zu, während sie weiterhin ohne politische Rechte in den Gemeinden blieben. Dieser Widerspruch spitzte sich insbesondere in der Armenversorgung zu. Der mit dem Pauperismus entstehende absurde Zustand, daß die »Armen für die Armen« in die kommunalen Armenfonds zahlten, provozierte Forderungen nach Steuergerechtigkeit und Mitsprache bei der Armenverwaltung l l s . Dies lehnten die Bauern natürlich ab, die mit der Massenarmut ebenfalls höhere Armenabgaben entrichten mußten, so daß die Armut der Besitzlosen ihren Schatten auch auf 276

die Besitzenden warf. Deren Klagen wurden umso lauter, je weniger kommunalpolitische Mittel wie Heiratsbeschränkungen und Zuzugskontrollen im in dieser Hinsicht liberalen Preußen sie hatten, um die Unterstützungsberechtigung zu verhindern 116 . Die in dieser Situation wachsenden sozialen Spannungen läßt auch eine bäuerliche Vereinsgründung erkennen, mit der die Bauern das, was ihnen kommunalpolitisch fehlte, durch die überlokale Organisation als Klasse zu erreichen suchten. Im Amt Heepen im Kr. Bielefeld vereinigten sich 1841 die »sämtlichen Meier, Colonen und Erbpächter« zu einem »Verein fur Rechtschaffenheit und Sittlichkeit«, der sich eine durchgreifende Kontrolle der Heuerlingsbevölkerung zum Ziel setzte und davon zeugt, wie weit sich die Bauern aus dem alten patriarchalischen Heuerlingssystem gelöst haben 117 . Den Anlaß dafür bildete die Empörung der Bauern, daß trotz der Einrichtung eines freilich unzureichenden Kohlenmagazins Holzdiebstähle »noch immer« vorkamen, während die »vermögenderen Einwohner . . . (glaubten), um so mehr alles getan zu haben, was die ärmere Klasse(!) verlangen kann, als in manchen anderen vermögenderen Bezirken und selbst in reichen Städten ein solches nicht geschehen« sei. Hier markierte die besitzende Klasse also eine Grenze ihrer Hilfsbereitschaft, jenseits derer sie nur noch repressiv vorgehen wollte. Auch in Reaktion auf die mangelnde polizeiliche Verfolgung der Diebstähle - im Amt Heepen mit fast 9000 Einwohnern befand sich nur ein Polizeibeamter - hielt sie »zum Schutze des Eigentums und zur Entwöhnung der ärmeren Klasse von Faulheit und verbotenem Erwerb das Zusammentreten aller rechtschaffenen Männer erforderlich«. Der Verein nahm für sich in Anspruch, eine »durchgreifende Stütze der Gesetze und der sittlichen Ordnung« zu sein und wollte dem Verbrechen aus Not vorbeugen, wenn es sich aber finden sollte, es auch »verfolgen«. Dieser Verein war insofern eine Klassenorganisation der Bauern, als diese ihre ganze soziale und ökonomische Macht aufboten, die Heuerlinge unter Kontrolle zu halten und das Vorgehen der besitzenden Klasse zu vereinheitlichen. Ohne Zweifel waren es die »vermögenderen Einwohner«, also die größeren Bauern, welche die Initiative ergriffen hatten. Entgegen der Präambel der Statuten, daß sich »sämtliche« Grundbesitzer verabredet hätten, stand zum Zeitpunkt der Drucklegung der Statuten nur gut die Hälfte der Grundbesitzer im Amt Heepen hinter dem Verein: Die Statuten hatten 250 Unterschriften, während im Amt Heepen 441 Besitzer ansässig waren. Offensichtlich hatte ein Teil der Kleinbauern noch nicht unterschrieben 118 . Die politische Einheit der Besitzenden, die der Verein fingierte, war tatsächlich eine von den vermögenden Bauern erzwungene. Diese haben die Zwangsmitgliedschaft postuliert und an die Adresse der »Erbpächter oder irgendeinen Einwohner, welcher Heuerlinge hält« den Nichtbeitritt satzungsgemäß als Begünstigung des Verbrechens erklärt - »nimmt der Verein an, daß ein solcher der guten Sache abhold sei«. Für einen solchen Fall 277

drohten die Bauern mit der Verweigerung jeglicher Kooperation und Hilfe, die ihr ganzes Arsenal ökonomischer Macht offenlegt. Mit den Abweichlern sollte kein Handel getrieben werden; ihnen sollten keine Fuhren geleistet, kein Geld geliehen und kein Land verkauft oder verpachtet, keine Arbeit gegeben und vorhandene Schulden gekündigt und schließlich sollte auch jeder gesellschaftliche Verkehr mit ihnen gemieden werden. Für die Heuerlinge war in der Regel offenbar keine Mitgliedschaft vorgesehen, obwohl sie bei ihrer Verheiratung in die vom Verein generöserweise eingerichtete Witwen- und Waisenkasse einzahlen sollten. Merkwürdigerweise wurde nur solchen Heuerlingen eine Mitgliedschaft ausdrücklich angeboten, die vorbestraft waren und ihre Strafe abgebüßt hatten, dies aber erst dann, wenn der Verein eine »vollständig erlangte Überzeugung von aufrichtiger Verbesserung« gewonnen habe. Gegenüber diesem herablassenden Gedanken einer autoritär kontrollierten Resozialisierung war der Gedanke einer sozialen Kontrolle durch eine gewissermaßen demokratische Integration der nicht vorbestraften Heuerlinge in den Verein offenbar undenkbar. So ist diese Vereinsgründung ein Symptom der unüberbrückbaren Kluft zwischen den Bauern und Heuerlingen, die sich mit der Erosion des quasifeudalen Verhältnisses auf die gesamte besitzlose Unterschicht erstreckte. Denn jene soziale Kontrolle, die die Bauernschaft mit dem Verein anstrebte, hätte bei einem funktionierenden quasifeudalen Heuerlingssystem noch der einzelne Bauer ausgeübt. Zu welchem Zweck und mit welchen Mitteln sollten die Heuerlinge in Schach gehalten werden? Die Bauern wollten Ursachen und Folgen der Verarmung, wie sie sich in ihren Augen darstellten, Einhalt gebieten, nämlich dem »meistens unsittlichen Leben der jungen Leute beiderlei Geschlechts« und dem nachfolgenden »zügel- und schrankenlosen Verheiraten ganz unbemittelter Heuerlinge« und darüber hinaus der notbedingten kleinen Kriminalität. Der Zusammenhang zwischen »sorglosem« Heiraten und Verarmung wurde zwar nicht ausgesprochen, war aber selbstverständlich. Bezeichnenderweise erwähnen die Statuten andere Ursachen und Anlässe der Verarmung, die Krise der Textilindustrie und des Heuerlingssystems ebenso wenig, wie sie positive Maßnahmen zur Reduzierung der Armut, etwa die Beschaffung von Arbeit wie die späteren Hilfsvereine, ins Auge fassen; »Rechtschaffenheit und Sittlichkeit« wurde nur malthusianisch begriffen und sollte durch entsprechende Repressalien wiederhergestellt werden. Das Hauptmittel war die Verweigerung von Wohn- und Pachtland. Alle Grundbesitzer wurden verpflichtet, jeden Heuerling abzulehnen bzw. von der Stelle zu jagen, der eines Diebstahls überfuhrt worden war; nur solche Heuerlinge und Zeitpächter, die einen schriftlichen Vertrag hatten - was selten genug war - , sollten so lange ihr Quartier behalten, »als sie von den Gerichten bei solchen Contracten geschützt werden können«. Dasselbe sollte bei Diebstählen von Kindern erfolgen, sofern der Verein mehrheitlich 278

überzeugt war, daß die Eltern oder Pflegeherrn die Erziehung vernachläßigten und bei mehrfachem bloßem Verdacht des Diebstahls. Bei letzterem haben die Bauern offen und gegen das Gesetz ihr Mißtrauen und Interesse zur Norm erhoben: Nur zweimal sollte ein Freispruch von der Anklage des Diebstahls schützen, ein dritter Freispruch war für sie nicht mehr glaubwürdig; nur eine einstimmige(I) Unbescholtenheitserklärung durch den Verein sollte einen solchen Verdächtigen auf seiner Stelle schützen. Damit deuten die Statuten die Kritik an der Gesetzeslage und Rechtsprechung an, die der Westfälische Landtag schon 1832 erhoben hatte: daß die »meisten Holzdiebstähle unbestraft bleiben« würden, weil die Gerichte zu strenge Tatnachweise verlangten 119 . Ein Handeln auf eigene Faust nach dem Scheitern entsprechender Initiativen des Landtags, die aber sicherlich das Legitimitätsbewußtsein der Bauern gestützt haben, stellt auch die indirekte Kontrolle der Heiraten dar. Bemerkenswerterweise verzichteten sie auf die sonst übliche Forderung nach einem Vermögensnachweis bei der Eheschließung, vielleicht infolge der schlechten Erfahrungen im benachbarten Lippe, wo ein solcher Vermögensnachweis entweder »umgangen oder . . häufig schon aus Rücksicht der Moralität nicht strenggenommen« wurde 120 . Wahrscheinlich wären die Mittel des Vereins sogar wirksamer gewesen. Denn kein Heuerling oder Zeitpächter sollte Wohnung und Land bekommen, der nicht vor seiner Eheschließung 10 Taler in die Witwen- und Waisenkasse bezahlt hatte - 10 Taler werden oft genug der ganze Brautschatz eines Heuerlings gewesen sein - und/oder welcher jünger als 25 Jahre war »und vorher mit der Braut einen unsittlichen Lebenswandel gefuhrt und namentlich diese . . . unehelich geschwängert hat«. Zusätzlich sollten sich die Heuerlinge noch verpflichten, unehelich gezeugte Kinder »zeitlebens« selber zu versorgen, d. h. auf deren potentiellen Anspruch auf die kommunale Armenunterstützung zu verzichten. Dieser vulgär-malthusianische Knüppel wäre eine schwere Demütigung der besitzlosen Klasse gewesen. Das einzige, worin die Heuerlinge noch nicht von den Bauern abhängig waren, ihre Sexualität und Freiheit der Familiengründung, sollte nun auch noch von den Bauern beeinflußt werden können. Das zeigt wieder, in wie starkem Maße diese sich als »Herren« über die besitzlose Klasse fühlten. Selbst der Unterschlupf beim Kleinbauern, worin noch ein gewisser Ausweg vor den Zumutungen der größeren Bauern hätte bestehen können, wäre durch die Zwangsmitgliedschaft aller Grundbesitzer verbaut gewesen. Angesichts der Wohnungsnot auf dem Lande war dies durchaus eine scharfe Waffe. Sie wurde wahrscheinlich jedoch nie recht wirksam. Zwar bemerkte der im Vorstand des Vereins wortführende Kantonbeamte Müller im März 1841, als er der Mindener Regierung von der Konstituierung des Vereins berichtete, daß, gestützt auf die Statuten, schon Heiratskonsense verlangt worden seien; rechtswirksam wurde dies jedoch nie, da die Behörden die 279

notwendige Genehmigung der Statuten versagten. Das Tauziehen darüber ist freilich aufschlußreich für divergierende Haltungen in der preußischen Verwaltung gegenüber den Problemen der Armut. Während die Bauern im Namen von Rechtschaffenheit und Sittlichkeit die Legalität überschritten, war der sozialkonservative O P Vincke bereit, der »löblichen Absichten und Bestrebungen« wegen »manche zur Bestätigung von seiten der Behörde nicht ganz geeignete Bestimmungen« in Kauf zu nehmen. Mit seiner »beifälligen Anerkenntnis« erwirkte der Verein immerhin die Druckerlaubnis für die Statuten, die bis dahin der Bielefelder Magistrat abgelehnt hatte. Mit einem unverkennbar triumphierenden Akzent und zugleich die Popularität des O P als Legitimationsschild benutzend, wurde dieses Schreiben Vinckes als Anhang zu den Statuten mitgedruckt. Dennoch weigerte sich die liberale Mindener Regierung nach einem Jahr endgültig, die »in mehreren Hinsichten den allgemeinen gesetzlichen Bestimmungen« widersprechenden Statuten zu bestätigen 121 . Was blieb, war eine bäuerliche Machtdemonstration, die die Heuerlinge nicht wenig eingeschüchtert haben dürfte.

280

VIII. Proto-Industrialisierung und ländliche Klassengesellschaft im Vormärz Bisher wurde die soziale Schichtung der ländlichen Gesellschaft vorwiegend unter agrarischen Gesichtspunkten dargestellt. Die dabei betonte bäuerliche Struktur dieser Gesellschaft - die von den Bauern bestimmte Verteilung von Macht, Ansehen und sozialen Chancen - könnte eine bedeutende Modifikation erfahren, wenn man das proto-industrielle Gewerbe und seine sozialen Auswirkungen auf die ländliche Gesellschaft schärfer ins Auge faßt. Denn anders als das ländliche Handwerk mit seinem kleinen lokal-regionalen Absatzmarkt ermöglichte die proto-industrielle Massenproduktion fur einen überregionalen Absatzmarkt auch Kapitalakkumulation. Die vertikale, funktionale Arbeitsteilung zwischen Flachsbauern, Spinnern und Webern einerseits und der Garn- und Leinenhandel andererseits stifteten auch innerhalb des Kaufsystems zwischen selbständigen Produzenten und Händlern regelmäßige Situationen ungleichen Tausches. Zumal beim großen Umfang des proto-industriellen Gewerbes in Minden-Ravensberg ist eine Auflösung der agrarisch bestimmten Sozialstrukturen zu vermuten. Der proto-industrielle Handel vermehrte die Geldzirkulation in der ländlichen Gesellschaft und veränderte dadurch, wenn man Marx folgt, auch die Produktionsbedingungen: Der Handel » wird die Produktion mehr und mehr dem Tauschwert unterwerfen, indem er Genüsse und Subsistenz mehr abhängig macht v o m Verkauf als v o m unmittelbaren Gebrauch des Produkts . . . Er ergreift nicht mehr bloß den Ü b e r schuß der Produktion, sondern frißt diese nach und nach selbst an und macht ganze Produktionszweige von sich abhängig. Indes hängt diese auflösende Wirkung sehr ab von der Natur des produzierenden Gemeinwesens, β 1

Die hier angedeutete Entwicklung kam in Minden-Ravensberg aufgrund der besonderen »Natur des produzierenden Gemeinwesens«, der agrarischgewerblichen Verflechtung, nicht sehr weit. Wie schon dargestellt, änderten sich die agrarisch-gewerblichen Produktionsverhältnisse nur sehr langsam; erst in den 1850/60er Jahren erfolgte in der Bielefelder Feinleinenweberei der Übergang vom Kaufsystem in das Verlagssystem und in die Fabrikindustrie, während in der Löwendleinenweberei solche kapitalistischen Produktionsverhältnisse mit der Ausnahme von zwei Segeltuchwebereien sich nicht durchsetzten. Damit ist aber die Frage nach den Auswirkungen der ProtoIndustrialisierung auf die ländliche Gesellschaft noch nicht erschöpft. Auch 281

innerhalb des Kaufsystems waren Entwicklungen möglich mit einer Änderung des sozialen Status der Spinner und Weber als selbständige Produzenten. Nach ihnen soll - anknüpfend an die Ausführungen über die Gewerbestruktur und -entwicklung in den Kapiteln II und V - im folgenden gefragt werden. Welche Chancen bestanden für die Entstehung eines bäuerlichen Verlagssystems durch die verlegerische Ausbeutung des Heuerlingssystems? Welche Möglichkeiten des sozialen Auf- oder Abstiegs zogen die gewerblichen Konjunkturen nach sich? Wie wirkte der kaufmännische Kredit in der ländlichen Gesellschaft? Neben diesen eher direkten Veränderungspotentialen sollen auch die indirekteren beobachtet werden. Gerade weil durch das Heuerlingssystem die Proto-Industrialisierung stark in die bäuerliche Gesellschaft eingebunden blieb, ist nach den Rückwirkungen des Gewerbes auf die Lage der Heuerlinge in ihren Beziehungen zu den Bauern zu fragen.

1. Formen proto-industriellen Handels und die Blockierung eines bäuerlichen Verlagssystems Die Bauern mit ihrer großen sozialökonomischen Macht über die unterbäuerliche Klasse waren auf den ersten Blick in einer günstigen Ausgangsposition, diese Macht auch auf die gewerbliche Produktion der Kleinbauern und Heuerlinge auszudehnen. Lag es nicht nahe, die quasifeudale Abhängigkeit des Heuerlings dahin auszunutzen, daß dieser fur den Bauern auch spinnen oder weben mußte? Daß die Pacht für das Flachsland in Garn abbezahlt wurde? Daß der Bauer zumindest den Verkauf oder Handel von Garn und Leinen seiner Heuerlinge in die Hand nahm? Daß er sich in gleicher Weise durch Darlehen die Verfugung über die gewerblichen Produkte der Kleinbauern sicherte? Gegenüber diesen Möglichkeiten bleibt es auffallend, daß in Minden-Ravensberg sich kein bäuerlicher Handels- und Verlagskapitalismus entwickelte, wie es, in freilich unterschiedlichem Ausmaße, in anderen westfälischen Regionen der Fall war. Im Tecklenburger Land webten Heuerlinge auf Webstühlen, die Eigentum ihrer Bauern waren, die auch das Leinen verkauften und aus deren Hausierhandel im Laufe der Zeit bedeutende Handelsgeschäfte entstanden. Auch im westlichen Münsterland waren Bauern zugleich Leinenhändler und ebenso zeigten sie im Gebiet der märkischen Eisenindustrie eine »Liebhaberei für Nebenverdienste« im Produktenhandel und Fuhrwerk. Sicherlich war letzteres für die spannfähigen Bauern auch in Minden-Ravensberg nicht unbedeutend. 1807 kamen die Bauern im Amt Vlotho beim Steuertermin in »äußerste Verlegenheit«, weil mit den Handelsstörungen ihr Fuhrlohn ausgefallen war; normalerweise, berichtete der Amtmann, würden sie durch Fuhrleistungen für die Kaufleute soviel verdienen, daß sie davon die landesherrlichen Steuern bestreiten könnten 2 . 282

Sie verrichteten also eine Dienstleistung für die Kaufleute, waren jedoch keine eigenständigen Händler. Darüber hinaus gibt es nur wenige und unsichere Hinweise auf eine händlerische und verlegerische Aktivität von Bauern. Einmal wurde 1788 in Bezug auf Brackwede bei Bielefeld berichtet: »Wenn der Bauersmann ein Werk Löwendlinnen machen will, so stellt er eine Art von Spinnerei an, bittet dazu seine Heuerlinge, Nachbarn und Verwandten, und diese spinnen ihm dann einen großen Teil des erforderlichen Garns zur Hilfe, wozu er weiter nichts als den Hanf hergibt und so den Spinnlohn spart. «3

An dieser vereinzelt stehenden Nachricht - die freilich auch ein Hinweis auf die stumme Alltäglichkeit sein kann - sind zwei Umstände bemerkenswert, die den Schluß erlauben, daß keine regelmäßige gewerbliche Arbeitsverpflichtung beschrieben wird. Die Herstellung von Löwendleinen war in der Umgebung von Bielefeld nur wenig verbreitet, so daß wahrscheinlich die Produktion des »Hausleinens« für den Eigenverbrauch gemeint ist. Wichtiger aber scheint, daß zu dieser »Spinnerei« nicht nur die Heuerlinge, sondern auch die »Nachbarn« und Verwandten hinzugezogen wurden. Das deutet daraufhin, daß in jenem Bericht nicht der Ansatz eines bäuerlichen Verlagswesens geschildert wird, sondern die »Bittarbeit«, eine Form kommunaler Arbeitskooperation bei einem außergewöhnlichen Arbeitsbedarf, in der die Bewirtung und Erwartung, ein andermal in gleicher Weise unterstützt zu werden, den Lohn darstellte4. Ebenso isoliert steht ein weiterer Beleg in der sonstigen Überlieferung über den proto-industriellen Handel. Aus dem Amt Heepen wurde 1784 von »Bauern« berichtet, die »sehr unternehmend« seien; sie würden in einer Art Handelsgenossenschaft feine Leinwand aufkaufen und zum Verkauf nach Italien reisen. Damit könnten auch die relativ wohlhabenden Weber mit Grundbesitz gemeint sein, die kleine Verleger für andere Weber waren und als »Vorkäufer« den Bielefelder Kaufleuten viel Ärger bereiteten. Es ist durchaus wahrscheinlich, daß Bauern wie Weber in Zeiten guter Konjunktur der Aussicht auf Gewinn nachjagten 5 . Die Struktur des proto-industriellen Handels war jedoch so beschaffen, daß keiner dauerhaften Erfolg hatte und damit die bestehenden Produktionsverhältnisse erschüttert hätte. Wenn man nicht ein paar Ausnahmen in den Mittelpunkt rücken möchte, dann ist es angemessener, von einer bäuerlichen Passivität gegenüber den handelskapitalistischen Möglichkeiten zu sprechen. Dies hatte mehrere Gründe. Sicherlich der wichtigste war die Organisation des Handels. Im Leinenhandel hat das Leggewesen eine Konzentration des Handels in die Städte bewirkt. Seit der Ravensbergischen Leggeordnung von 1678 war den Landbewohnern, den »Meyern, Köhtern und Hüßten« (Heuerlingen) der Leinenhandel verboten. 1719 wurde es wiederholt und durch eine Strafandrohung von 100 Gulden verschärft. Massive Interventionen waren also nötig, den bäuerlichen Handel oder Eigenhandel der Weber zu unterdrük283

ken, was im ganzen auch gelang. Die städtischen Kaufleute wahrten eifersüchtig ihr Handelsmonopol und wurden dabei aus fiskalischen Gründen von der staatlichen Verwaltung unterstützt. Auch eine bäuerliche Vorkauferei, also ein Zwischenhandel zwischen Weber und städtischem Kaufmann, war verboten, wie 1791 noch besonders präzisiert wurde. Aus pädagogischen Gründen sollte jeder Weber selber verkaufen: »Der Weber ist schuldig, mit dem Linnen selbst zur Legge zu kommen, oder doch seine Frau oder denjenigen von seinen Hausgenossen, welche er zum Weben braucht, zur Legge zu schicken, damit ihm die Fehler, welche beim Weben begangen sein möchten, gezeigt werden können.« Die Leggeordnungen haben auch dort, w o - anders als in Bielefeld - keine kapitalkräftigen Kaufleute vorhanden waren, die Entwicklung einer kräftigen bäuerlich-ländlichen Händlerklasse verhindert. Die Ravensberger Leggen fur Löwendleinen waren von wesentlich geringerer Bedeutung als die Bielefelder Legge, gerade weil ihre O r d n u n g den Handel auf die kümmerlichen Kleinstädte konzentrierte, so daß die Weber trotz aller Verbote weiterhin an »ausländische« Händler verkauften s a . Bei einer solchen Behinderung konnte sich kaum ein bäuerliches Kapital entwickeln, das stark genug gewesen wäre, diese Schranken zu durchbrechen. Daneben und zusätzlich waren dabei freilich noch andere Faktoren wirksam. Die grundherrliche Verfassung hat den für einen möglichen H a n del notwendigen Kredit stark behindert. Z u d e m hätte der strebsame und zähe bäuerliche Kleinhändler sich bald in den Strukturen des proto-industriellen Großhandels verfangen. Der überseeische Leinenhandel war im 18. Jahrhundert auch für die Bielefelder Leinenkaufleute ein Kommissionsgeschäft; nur innerhalb des Reiches regelten sie ihren Absatz selbständig. Der ostwestfälische Löwendleinenhandel hingegen wurde vollständig von den Handelshäusern in den Hansestädten und holländischen Seestädten gelenkt. Die Tecklenburger Kaufleute, die ihrerseits auch in Minden-Ravensberg einkauften, wurden von ihren Abnehmern in Bremen sehr kurz gehalten 6 . Wahrscheinlich gründet darin auch die bescheidenere Vermögensakkumulation der Leinenkaufleute außerhalb Bielefelds, die nie den Rang der Bielefelder erreichten. O h n e solide Beziehungen und Kenntnisse des H a n dels stolperten die homines novi mit knappem Kapital wohl nicht selten, wie Schwerz über die bäuerlichen Händler im Münsterland bemerkte: »Der gutmütige Bauer borgt, wird betrogen, und u m aus dem Schaden zu k o m men, betrügt er wieder.« 7 Freilich bedarf diese Beobachtung noch näherer Untersuchungen über die Herkunft und die Fluktuation der Kaufleute. Das Beispiel der Bielefelder macht sie allerdings wahrscheinlich. Die großen Handelsfamilien blieben hier zwischen 1794 und 1832 die gleichen, während von denjenigen Kaufleuten, die nur kleinere Einkäufe auf der Legge mit jährlich weniger als 10000 Talern tätigten, 1832 nurmehr 6 von ursprünglich 18 vorhanden waren 8 . 284

In besonderem Maße wirkten die genannten Verhältnisse im Garnhandel. Dieser war im 18. Jahrhundert zwar ebenfalls auf die akzisepflichtigen Städte beschränkt, er lief aber daneben noch über die ländlichen »Garnsammler«, die einerseits selbständige Kleinhändler innerhalb Minden-Ravensbergs und andrerseits eine Art Unter-Kommissionäre der städtischen Garnkaufleute waren. Angesichts der großen Garnmenge, die nicht zur einheimischen Leinenweberei verbraucht und so außer Landes verkauft wurde, wäre es nicht verwunderlich, wenn sich hier eine Gruppe von bäuerlichen Unterhändlern oder sogar Garnverlegern gebildet hätte, da die Bauern weitreichende Kontrollmöglichkeiten über den Flachsbau hatten. Tatsächlich waren jene hausierenden Garnsammler jedoch zum einen Kümmerexistenzen aus der unterbäuerlichen Klasse, ehemalige Soldaten, Tagelöhner und Heuerlinge, »allerhand schlechte Leute, auch wohl gar Ausländer«, wiedieKDK Minden einmal schrieb; zum andern aber waren sie häufig zugleich Bäcker und Krämer, die mit den Spinnern einen Naturaltauschhandel trieben9. Es war ein saures Geschäft, das gerade deswegen mit vielfachen Praktiken des Betrugs durchsetzt und daher auch fast immer mehr oder weniger vom Verbot bedroht war. Seine Entwicklungsfähigkeit war beschränkt durch die Akziseverfassung und vor allem durch die Abhängigkeit der städtischen Garnhändler von den Großabnehmern des Garns in Elberfeld und Holland. Seit dem 17. Jahrhundert war der ostwestfälische Garnhandel nämlich in einem Kommissionssystem unter der Direktion besonders des Elberfelder Handelskapitals organisiert. Wenn der »gewöhnliche Kaufmann . . . nicht entrepenant genug« 10 war, so gründete das nicht nur in der Risikoscheu der traditionalen Kaufmannsmentalität; mindestens ebenso sehr hat die Prellerei im Kommissionshandel die ökonomische Initiative blockiert und so auch dazu beigetragen, daß in Minden-Ravensberg ein beträchtliches Akkumulationspotential fur einheimische Kaufleute brach liegen blieb. Aus dem Jahre 1791 stammt folgende Schilderung des Garnhandels: »Der Handel mit Rohgarn wird auf eine seltsame Art gefuhrt: Die Garnhändler senden den Elberfeldern und Holländern das hier eingekaufte Garn erst unverkauft zu, und diese behalten solche solange auf ihren Niederlagen, bis sie entweder nach der allgemeinen oder ihrer eigenen Handelskonjunktur den Preis bestimmen und zum Verkauf schreiten können. Die hiesigen Garnhändler sind oft in der nachteiligsten Abhängigkeit von den ausländischen Käufern, sind ihrer Handelsschikane ausgesetzt und werden von ihnen durch willkürliche Bestimmung und Herabsetzung der Preise nicht selten wie die Schwämme ausgedrückt.« 11

Wie im Kaufsystem zwischen den Produzenten und Kaufleuten, so war auch in dem mit formellen und informellen Monopolen durchsetzten Handelssystem selbst ein Mechanismus eingebaut, der die ökonomisch Starken über die Schwachen immer wieder obsiegen ließ. Angesichts der schlechten Chancen im Handel erübrigte sich auch eine verlegerische Organisation des Flachsbaus, da die Bauern keine großen Realisierungschancen für das Verkaufsprodukt Garn hatten. Die Heuerlinge blieben so in ihrer gewerblichen Produktion frei und selbständig, wofür sie 285

freilich teuer bezahlten. Es ist deshalb wahrscheinlich, daß die Bauern die Schranken im proto-industriellen Handel gar nicht so sehr fühlten. Mag die grundherrliche Verfassung auch schwer auf ihnen gelastet haben, mit der damit verbundenen Immobilität des Bodens hatten sie gegenüber den Besitzlosen doch eine monopolartige Macht infolge der Verfügung über Lebensmittel, Pacht- und Flachsland. Die Zahlungen der Heuerlinge haben ihre Steuern- und Abgabenlast erleichtert und die wachsende Nachfrage nachjenen Ressourcen war das stabile Fundament für die Intensivierung der Landwirtschaft und den Wohlstand der Bauern. Die Krise des Leinengewerbes hat sie daher nur indirekt berührt, vor allem durch die wachsenden kommunalen Armenlasten. Bezeichnenderweise waren sie gegenüber den von den landwirtschaftlichen Vereinen propagierten Innovationen im Flachsbau zurückhaltend und träge, schränkten vielmehr den Flachsbau ein 12 . Andrerseits aber unterstützten sie die konservative Option in der Krise, die Forderungen und Maßnahmen zur Erhaltung des alten Leinengewerbes. Großbauern bei Bünde propagierten zu diesem Zweck eine Beschränkung des Baumwollverbrauchs, und bäuerliche Gemeindevorsteher beteiligten sich an der Verwaltung der Leggen im Kr. Lübbecke sowie an den Mitte der 1840er Jahre entstehenden Ravensberger »Vereinen für Leinen aus reinem Handgespinst«. Manche bäuerliche Hilfe für Heuerlinge erfolgte freilich erst unter dem Druck einflußreicher Pastoren, manche diente auch nur der Beschwichtigung, insbesondere 1848. Im Amt Schildesche ζ. B. konstituierte sich ein Hilfsverein zur Arbeitsbeschaffung für land- und arbeitslose Spinner und Weber, mit dem diesen Flachs und Garn vorgeschossen werden sollte. Er fand, schrieb rückblickend der Amtmann, »für den Augenblick allseits große Zustimmung, namentlich bei den größeren Grundbesitzern, . . . die von den Bettlern am meisten belästiget wurden«. Als die Bettelei nachließ, erlosch das Interesse jedoch wieder und die Vorschußzahlungen der Bauern hörten auf 13 . Allerdings war bei diesen Unterstützungen neben einem naheliegendem Interesse an der sozialen Beruhigung offenbar auch eine Einstellung gegen die moderne Fabrikindustrie wirksam, welche die Bauern mit den Unterschichten teilten. Auffallenderweise war unter dem Gründungskapital der Ravensberger Spinnerei kein Taler eines Bauern; dagegen stammte das gut 100000 Rt umfassende Aktienkapital des 1852 gegründeten »Herforder Vereins für Leinen aus reinem Handgespinst« zu 60 Prozent von 274 »Grundbesitzern« des Kr. Herford 1 4 . In diesem Verein, einem genossenschaftlichen Verlagssystem, das bis 1867 existierte, spielte die Bielefelder Kaufmannschaft keine Rolle mehr, wohl aber stand er unter der Protektion der pietistischen Pastoren und dem Wohlwollen des Königs. Die heterogene Koalition der Tradition aus Spinnern, Webern, Bauern und Pastoren verweist auf den Kontinuitätsbruch durch die Fabrik. Daß die Bauern auf der Seite der Vergangenheit standen ist nicht verwunderlich, verdankten sie ihr doch einen guten Teil ihres Wohlstands und Ansehens. 286

2. Städtisches Handelskapital und ländliche Gesellschaft a) Konservierung von Kauf system und

Leggezwang

Die genannten Strukturen und Formen des proto-industriellen Handels gehörten im weiteren auch zu den Faktoren, die die Ausbildung eines von den städtischen Kaufleuten ausgehenden Verlagskapitalismus behinderten oder erübrigten. Sie konservierten das Kaufsystem und setzten auch der Akkumulation von Kaufmannskapital Grenzen. Die traditionelle Verteilung von kaufmännischer Macht auf die alten Städte änderte sich in der Zeit der Gewerbefreiheit nicht. In den Städten Minden, Herford, Gütersloh und insbesondere Bielefeld konzentrierte sich um 1850 genauso wie im 18. Jahrhundert die proto-industrielle Kaufmannschaft. 1846 waren 66 der insgesamt 81 »Großhändler, welche eigene oder Kommissionsgeschäfte mit Waren ohne offene Läden treiben« - zum größten Teil Leinen- und Garnhändler - in den genannten Städten ansässig. Allein 46 davon wohnten in Bielefeld und je 10 in Minden bzw. Gütersloh. Der Rest verteilte sich auf die kleineren Städte Minden-Ravensbergs und des Kr. Wiedenbrück, während in allen vier Paderborner Kreisen zusammen nur ein einziger dieser Großhändler (in der Stadt Brakel) ansässig war. Wie schon im 18. Jahrhundert erfolgte im Paderborner Land der Handel fast ausschließlich durch die kleinen »Ausschnitthändler in Seiden-, Baumwollen-, Leinen- und Wollwaren« mit offenem Laden. Von diesen Händlern waren 1846 in den Paderborner Kreisen 100 ansässig, in Minden-Ravensberg 111 und im Kr. Wiedenbrück 26, die Mehrzahl davon wiederum in den Städten (nämlich 57 in den Paderborner Kreisen, 76 in Minden-Ravensberg und 19 im Kr. Wiedenbrück). Im ganzen war die Zahl dieser kleinen Händler also fast dreimal so groß wie diejenige der Großkaufleute (237 bzw. 81) und nur im Kr. Bielefeld waren die letzteren mit 47 gegenüber 18 kleineren Händlern in der Mehrheit 15 . Das verdeutlicht wieder die herausragende Stellung der Bielefelder Kaufmannschaft im ostwestfälischen Bereich. Nur das hier in den Händen einiger führender Familien konzentrierte Kapital wäre aufgrund seiner Größe zu Veränderungen fähig gewesen, während wohl mancher kleinere Händler ebenso bedrückt seine Chancen kalkulierte wie der Garnhändler Schotter in Gohfeld (Kr. Herford), der 1818, nach abermaligen Verlusten im Kommissionsgeschäft mit den Elberfeldern, sagte, »gern auf die ganze Garnhandlung verzichten« zu wollen, wenn ihn die Mindener Regierung beim Landerwerb unterstützen würde 16 . Dennoch hielten - wie schon dargestellt - gerade die großen Leinenhändler nicht nur am traditionellen, von der Baumwolle bedrohten Leinenprodukt fest, sondern lange auch am Kaufsystem und an der Leggeverfassung bzw. am Leggezwang. Hartnäckig und zäh konservierten die Bielefelder Kaufleute die Legge als kollektiven Ersatz für Unternehmerfunktionen gegen die von Berliner Beamten ausgehende Zumutung der Gewerbefreiheit 287

auch im Verkehr zwischen Weber und Kaufmann. 1831 verteidigten sie den Leggezwang als notwendig »zur Sicherung unserer Fabrikation«, da die amtliche Qualitätskontrolle den einzelnen Kaufleuten eine eigene Meßanstalt erspare, die zudem »mehr Zwistigkeiten zwischen Verkäufern und Käufern bringen« würde 1 7 . N u r zu einer Senkung der Leggegebühren fanden sich die Händler bereit, während sie einen anderen Reformvorschlag im Sinne der Gewerbefreiheit, die Einfuhrung des Meistgebots beim Verkauf des Leggeleinens, einhellig ablehnten. Damit wäre manche stille Preiskontrolle zerbrochen oder wenigstens schwieriger gemacht worden. Aber nur fur die Löwendleinenleggen des Kr. Lübbecke, nicht aber fur die Bielefelder und anderen Leggen in Ravensberg, wurde mit der neuen Leggeordnung von 1842 das öffentliche Meistgebot verbindlich gemacht, das für den Weber »möglichst solide Preise schaffen, den Haus verkauf, das Vorschuß nehmen und -geben sowie die Bezahlung in den Webern entbehrlichen Waren« verhindern sollte 18 . Es muß allerdings offenbleiben, wie wirksam das Meistgebot war bzw. gewesen wäre angesichts der sonstigen stark ungleichen Tauschbeziehungen in der »Zwangfabrik« des Kaufsystems 19 . Mit der Erhaltung des Leggezwangs und der damit verbundenen Pflicht des Einzelverkaufs für den Weber wurde auch ein Nadelöhr des sozialen Aufstiegs verstopft. Zwar konnte die »Vorkauferei«, die um 1800 zu deutlich erkennbaren Spannungen zwischen Webern und Kaufleuten geführt hatte, nie gänzlich unterdrückt werden; im Unterschied zu anderen Regionen stieg aber - soweit erkennbar - keiner dieser Vorkäufer und »Hopster« zu einem bedeutenden Händler auf, der dem etablierten Handelspatriziat hätte Konkurrenz machen können 2 0 . Wie schwer die Leggeverfassung als »Schutzanstalt des Kaufmanns gegen den unabhängigen Weber« (Quentin) zu durchbrechen war, zeigte zuletzt noch die Handhabung der Befreiung vom Leggezwang. Diese war seit 1842 dann möglich, wenn Leinen im Verlagssystem hergestellt wurde. Charakteristischerweise kamen Anträge auf eine Befreiung zunächst mehr von kleinen Kaufleuten, auch von einem Weber, der zwei Lohnweber beschäftigte, als von den großen Händlern. Die Behörden lehnten diese Gesuche zunächst jedoch ab, da nach Meinung der Mindener Regierung die Ausnahmen vom Leggezwang sich »nur auf die bedeutenderen Bielefelder Leinenhändler« beziehen sollten. Erst nach einer Intervention der Oberbehörden in Berlin und Münster mit dem Hinweis, daß ein solch »billiges Ermessen« zu Gunsten der etablierten Firmen gesetzlich unzulässig sei, wurden auch die Anträge der kleinen genehmigt 21 .

b) Konjunkturen

und soziale

Mobilität

Ein sozialer Aufstieg über den Handel war infolge des Leggewesens und der Fallstricke des Kommissionshandels also schwierig. Dennoch bildeten auch innerhalb des Kaufsystems Phasen des konjunkturellen Aufschwungs im288

mer wieder einen Anreiz fur Neulinge, ihr Glück im Handel zu versuchen, wie ein Reisebericht aus Herford und Bielefeld im Jahre 1801 erkennen läßt: »Jeder Schuster und Schneider, der ein kleines Kapital erspart hat, vertauscht entweder selbst mit seinem Leisten und seiner Ahle den Merkuriusstab oder er macht damit seinen Kindern ein Geschenk, und daher k o m m t es, daß man jetzt Städte und Dörfer mit Kaufleuten überschwemmt sieht. « 2 2

In Bielefeld provozierte der Andrang neuer Händler sogar eine erregte Pressefehde über »ehrlichen Gewinn« und »reelle« Konkurrenz, wobei diese offenbar vor allem die eingesessenen Handelsfamilien fürchteten. Aber selbst wenn sich die homines novi beim Leinenhandel angeblich besser standen als bei ihrem früheren Handwerk - viel war das nicht, angesichts der dürftigen Lage der Handwerker, und mancher verlor bald wieder seinen »Merkuriusstab« 23 . Keinem der Neulinge gelang in Bielefeld ein spektakulärer Aufstieg, wie ein Fall aus dem Lippischen überliefert ist, der vielleicht auch übertrieben wurde, weil der Erfolg dieses Händlers als ein Zeichen der Hoffnung angesehen wurde, die oft beklagte Abhängigkeit der lippischen Leinenindustrie von den Bielefelder Kaufleuten zu überwinden, was freilich nicht gelang 24 . Allerdings sind stille und unscheinbare Karrieren nicht auszuschließen, die mit Umsicht, Zähigkeit und dem Bewußtsein der Grenzen immerhin ein kleines Vermögen erwerben und erhalten ließen. Sie gab es sicherlich öfter als sich belegen läßt, aber im ganzen stellten sie doch eher Ausnahmen dar, die freilich insofern von Bedeutung waren, als sie anders als die Glücksritter den Schein oder den Traum sozialer Alternativen wachhielten. Exemplarisch für dieses gerade mit einem bescheidenen Erfolg Selbstbewußtsein gewinnende ländliche »Kleinbürgertum« ist vielleicht der alte Weber Bauschulze in Altenhagen (Kr. Bielefeld), der darauf auch seinen ökonomischen Konservatismus gründete. Wie die meisten seiner Landsleute sah er in der Mitte des 19. Jahrhunderts im soliden Handleinen und in einem Verzicht auf »zu große Prozente«, wie sie die Bielefelder Kaufleute nähmen, immer noch eine Chance für die alte Leinenweberei. Nicht ohne Stolz erklärte er in einer seiner Eingaben an die Mindener Regierung sein »mittelmäßig Auskommen«, das sich auf einen kleinen Ackerbau und Weben stützte, so: »Ich kann mein verfertigtes Linnen selbst im In- und Auslande verkaufen, weil ich von J u g e n d auf von meinem Vater, welcher ein tätiger Handelsmann war, dazu angehalten wurde, unser Leinen zu billigen Preisen zu verkaufen, und wurde auch dazu angehalten, niemals zu starke Prozente zu nehmen. « 2 S

Weniger konservativ war der Weber Heinrich Kobusch, der ein Beispiel ist für den, allerdings über zwei Generationen gestreckten, seltenen Aufstieg zum Unternehmer aus der Unterschicht. Sein Vater, ein Webergeselle, hatte sich 1816 mit staatlicher Unterstützung als Damastweber selbständig gemacht und bis in die 1840er Jahre ein paar weitere Webstühle erworben; 1845 289

wurde der Sohn Hausbesitzer in Bielefeld und bald darauf Unternehmer einer kleinen Damastweberei, in der drei Familien(!) mit je drei Webstühlen arbeiteten; 1847 dirigierte er zusätzlich einen kleinen Verlag mit bis zu 45 Webstühlen. Das war der Beginn der Tischzeug- und Handtuchweberei der Firma Gebr. Kobusch in Bielefeld, die als Familienunternehmen noch in den 1920er Jahren bestand. Heinrich Kobusch war bald so erfolgsbewußt, daß er im Jahre 1862 als einziger neuer Unternehmer neben den alteingesessenen Kaufmannsfamilien zu den Gründungsmitgliedern der Bielefelder Mechanischen Weberei A.G. gehörte. Im übrigen aber wurde die kapitalistische Industrialisierung der Bielefelder Textilindustrie vom alten Handelsbürgertum getragen 26 . Ähnlich stammten die Gründer der Herforder Konfektionsund Wäscheindustrie nach 1850 überwiegend aus Ravensberger Kaufmannsfamilien. Auch die kleineren Unternehmer anderer Branchen in der Herforder Industrie rekrutierten sich, wie in Bielefeld, hauptsächlich aus dem Bürgertum; nur wenige kamen vom Land, und dann nur aus Bauernfamilien, fast keiner - soweit erkennbar - aus der besitzlosen Unterschicht 27 . Charakteristischer für die gewerbliche Entwicklung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war der soziale Abstieg der Spinner und Weber. Dieser machte sich nicht, oder erst am Ende, als Statuswechsel von der Selbständigkeit zur Unselbständigkeit bemerkbar. Für die meisten von ihnen bestand er lange Zeit in der Verschlechterung der Bedingungen ihrer Selbständigkeit. Wesentlich für diese war im Kaufsystem ein gewisser Geldfonds, der einerseits erlaubte, Flachs oder Garn in größeren Quantitäten und besserer Qualität zu kaufen und andrerseits, den Verkauf des Produkts nach dem günstigsten Zeitpunkt zu richten. Es liegt auf der Hand, daß die konjunkturelle und strukturelle Entwicklung diesen Geldfonds aufzehren mußte. Die Einkommen sanken mit den Preisen für Garn und Leinen kontinuierlich, während zum Teil die Rohstoffpreise, in jedem Fall aber die Lebenshaltungskosten stiegen. Insbesondere die Spinner rutschten mit dem Rückgang des Flachsanbaus und damit auch einer Verteuerung des Flachses leicht in eine Lage, in welcher der Flachs so teuer wie das Garn billig war. Bei den früher und wahrscheinlich stärker sinkenden Garnpreisen hatten die Weber noch einen gewissen, mit der Zeit jedoch schrumpfenden Differenzgewinn. Das Einliegerproletariat ohne agrarische Eigenversorgung mußte diese Entwicklung natürlich am stärksten treffen. Der langfristige Trend wurde noch verstärkt durch die kurzfristigen Handels- und Teuerungskrisen. Sie ließen den Geldfonds dahinschmelzen und die notwendige Verschuldung in ihrem Gefolge belastete seinen Wiederaufbau. Langsam aber fast unaufhaltsam sanken die meisten Spinner und viele Weber aufjene Stufe der ökonomischen Reproduktion herunter, die schon im 18. Jahrhundert als Element dauerhafter Armut galt. Der »ärmere Teil« der Spinner und Weber - das war die große Mehrheit - zeichne sich dadurch aus, schrieb die Bielefelder Handelskammer, daß sie »ohne Vermögen und daher gezwungen sind, ihre Arbeit zu verkaufen, sobald sie fertig ist, ohne 290

damit eine günstige Periode abwarten zu können« 28 . Am Ende dieser Aufzehrung der Selbständigkeit stand dann die Unterwerfung unter den Verlagskapitalismus oder, wie bei den Spinnern überwiegend, die Arbeitslosigkeit. Auch Weber wurden in diesem Zustand periodisch von der Arbeitslosigkeit heimgesucht. Schon in einer kurzfristigen Absatzkrise wie 1831 zerriß die Kette ihrer Reproduktion, wie die Mindener Regierung berichtete: »Die Kaufleute häufen ihre Lager zum künftigen Verbleichen, während die Einkaufspreise immer gedrückter werden. Ärmere Weber, welche weder Betriebskapital noch Kredit zum Ankauf des nötigen Garns besitzen, mithin ihr Fabrikat gleich versilbern müssen, sind in bedeutender Zahl gezwungen, ihr Gewerbe gänzlich ruhen zu lassen. « 2 9

In Zeiten günstiger Garnpreise hatten sie im 18. Jahrhundert solche Einbrüche noch durch Spinnen überbrücken können 30 ; im 19. Jahrhundert war dieser Ausweg illusorisch. Wahrscheinlich hat diese Entwicklung auch die Gruppenhierarchie unter den Webern in der Umgebung Bielefelds, wie sie für die Zeit um 1800 zu beobachten war, eingeebnet. Damals setzten sich die Weber aus mehreren Gruppen zusammen: Verlegerische Weber mit drei oder mehr Webstühlen im Haus und »Lohnwebern« außer Haus, selbständige Weber mit einer unterschiedlichen Zahl von Stühlen und einem eigenen Geldfonds und schließlich »Lohnweber«, die von anderen Webern verlegt wurden. Diese Differenzierung war wesentlich durch den verfugbaren Geldfonds bewirkt worden. Die Hierarchie dieser Vermögensklassen hatte - zumindest in ihrer dreifachen Abstufung nach »reichen« verlegerischen, selbständigen und Lohnwebern - durchaus Elemente struktureller Reproduktion. Da die verlegerischen Weber mit dem größten Geldfonds die besten Garne kaufen und sortieren konnten, produzierten sie auch die besten Leinen und konnten mit den höheren Einkommen ihre Geldfonds auch immer wieder auffüllen, die daneben ein Polster in Krisenzeiten darstellten. Andrerseits wäre mit der Zunahme von armen Webern, die keinen oder einen zu geringen Geldfonds zum Ankauf von Garn hatten, ein Anwachsen der Lohnweber zu erwarten, also eine Polarisierung unter den Webern mit der Möglichkeit von größeren Verlagen unter der Direktion von Webern, nicht von Kaufleuten. Es gibt jedoch keine Hinweise auf eine solche kapitalistische Differenzierung unter den Webern. Zwar hat sich die Gruppe der verlegerischen Weber erhalten, nicht zuletzt durch die Ausbeutung ihrer Lohnweber wie ein Kleinbauer aus Schildesche nahelegt. In einer längeren Eingabe an den OP Vincke im Jahre 1840, in welcher er über die Stimmung der »strenge arbeitenden Klasse« berichtete, nahm er nur die größeren Bauern vom Druck, der auf dieser Klasse liege, aus, »oder wohl auch einige bemittelte Leinenweber, dehren Gewinn hauptsächlich darin besteht, daß die armen Leinweber fur sie weben für einen geringen Lohn« 3 1 . Die Zahl dieser »bemittelten Weber«, die schon 291

um 1800 eine Minderheit waren, scheint bis 1850 aber noch kleiner geworden zu sein: »Es gibt derer, die außer zwei oder drei Stühlen, die sie im Hause beschäftigen, auch noch einige Stühle außer ihrem Hause unterhalten, und die somit kleine Fabrikanten sind. Ihre Zahl ist aber gering und nimmt immermehr ab, auch findet dies nur bei den feineren Leinengattungen statt. «32

Mit dem Hinweis, daß die verlegerischen Weber nur »einige Stühle« außer Haus mit Lohnwebern betrieben, läßt sich nicht annehmen, daß die Verlage von einzelnen dieser Weber umfangreicher geworden seien. Offenbar hat der Preisverfall für Leinen auch diese Weber relativ verarmen lassen und so der Möglichkeit unternehmerischer Entwicklung beraubt. Als ein Zeichen der Armut galt der HK Bielefeld um 1850, daß die »große Mehrzahl« ihr Gewerbe nur mit ein oder zwei Stühlen treibe und ohne Grundbesitz sei; 1814 hatten dagegen gut 40% der Weber mehr als zwei Stühle und mehr als ein Drittel einen, wenn auch mit Schulden belasteten Grundbesitz 33 . Die Krise erfaßte die Weber zwar weniger stark als die Spinner, aber auch sie mußten einen hohen Preis in der Konkurrenz mit der Fabrik bezahlen. Resümiert man die Wirkungen der proto-industriellen Konjunktur auf die soziale Schichtung, dann kann man sich durchaus der für die Großstadt Berlin formulierten These einer »chronischen und mächtigen Abstiegsdynamik im Vormärz« 34 anschließen, vor allem dann, wenn man in den Abstieg nicht nur den Platzwechsel in der Schichtungshierarchie, sondern auch die Verarmung mit einbezieht, die Verschlechterung der Reproduktionsbedingungen bei einem äußerlich gleichen Status. N u r mit Vorsicht ist daraus jedoch der Schluß zu ziehen, daß die Krise des proto-industriellen Gewerbes »alle die Landbewohner gleich(machte), die nicht genug Land besaßen, um ohne Nebenerwerb davon leben zu können« 35 . Das Kriterium des genügend großen Landbesitzes war sicherlich die wichtigste Scheidelinie zwischen den sozialen Klassen und insofern hatte die Krise zweifellos sozial polarisierende Wirkungen. Die aus der Verarmung resultierende Homogenisierung hatte jedoch Grenzen. Einmal gewannen bei chronischer und weitverbreiteter Dürftigkeit selbst kleine Unterschiede eine große Bedeutung. Ein Haus, ein kleiner Grundbesitz, eine Kuh oder auch eine »gute« Heuerlingsstelle stellten nicht nur einen gewissen Puffer gegen das Elend dar, sondern bewirkten immer noch eine andere Erfahrung und Verarbeitung der Armut als die von ständigem Mangel, aussichtsloser Unsicherheit und stoßweisem Hunger geprägten Lebensumstände der Einlieger. Die Bedeutung jener Elemente des plebejischen »Wohlstands« bei mühseligster Arbeit schilderte Hermann Lüning aus dem Kreis der westfälischen »wahren Sozialisten« in seinem so kenntnisreichen wie engagierten Essay über die Lage der Spinner und Weber um 1845 in Ravensberg:

292

»Manche haben allerdings ein kleines Vermögen. Sie sind durch Erbschaft oder Heirat im Besitz einer Hütte, eines kleinen Grundstücks, einer Kuh, so daß sie, auch wohl durch Bewirtschaftung eines gemieteten Grundstückes, ein kleines Nebeneinkommen haben; das sind einzelne Ausnahmen. Solche nennt man auch wohlhabend und sagt: Oh! Die können ganz prächtig fertig werden. Dieser Wohlstand besteht darin, daß sie durch eine Krankheit, wenn sie nicht zu lange dauert, nicht sofort an den Bettelstab geraten, daß sie bisweilen ein anderes Gericht essen als Kartoffeln oder trockenes Brot, und daß sie wenigstens sonntags nicht in zerlumpten Kleidern gehen.« 36

Eine wichtigere Grenze hatte die Homogenisierung jedoch in den Prozessen der sozialen Heterogenisierung, ja Atomisierung einerseits und denjenigen der sozialstrukturellen Differenzierung andererseits. Durch die Verarmung hindurch und gerade wegen ihr verschärfte sich die im Kaufsystem angelegte Konkurrenz zwischen Spinnern und Webern. Der Warenbetrug wurde zu einem Element der Überlebensstrategie. Die Konkurrenz um Wohnungen und Pachtland kam hinzu. Über diese Wirkungsmechanismen hinaus behinderte die Ausdifferenzierung einer neuen Gruppe, der Einlieger, die soziale Homogenität der Unterschichten. Sie waren die Ärmsten der Armen und daher von jener Konkurrenz am stärksten betroffen und eine Gruppe der unterbäuerlichen Klasse, die durch überregionale Wanderarbeit sich zunehmend aus dem funktionalen arbeitsteiligen Zusammenhang der bäuerlichen Gesellschaft löste37. Die folgenreichsten Wirkungen der ProtoIndustrialisierung zeigten sich somit im Agrarsektor. Die sozialen Implikationen der gewerblichen Entwicklung waren agrarische, und dementsprechend überlagerte in der Revolution von 1848 der Konflikt zwischen Bauern und Heuerlingen den Konflikt zwischen den proto-industriellen Produzenten und Kaufleuten. Die Krise des alten Gewerbes wurde gewissermaßen in den Agrarsektor verschoben. Diese zunächst scheinbar paradoxen Umstände waren ein Ergebnis der engen funktionalen und sozialen Verknüpfung der ländlichen Textilindustrie mit der Landwirtschaft. Die letzten Nutznießer, selbst noch im Zerfall dieser Verflechtung, waren, ohne ihr Zutun, die mächtigen städtischen Kaufleute.

c) Städtischer und ländlicher Kredit

Die bisherige Argumentation über die Konservierung des Kaufsystems und die dadurch bedingten sozialen Wirkungen setzte immer die Selbständigkeit der Produzenten voraus. Diese Annahme ist nun zu prüfen, da insbesondere der Kredit Verpflichtungen nach sich ziehen konnte, die die Selbständigkeit zur Illusion machten. Die schuldrechtliche Privilegierung des kaufmännischen Kredits schränkte die freie Verfugung des Spinners und Webers über sein Produkt weitgehend ein. Nach der Leggeordnung für das Amt Ravensberg von 1791 hatte der Gläubiger für das Leinen seines Schuldners das 293

alleinige Kaufrecht; bei Verstößen dagegen drohte eine Geldstrafe von 10 Rt oder eine »verhältnismäßige Gefängnisstrafe«. Auch die Pflicht des Webers, selbst auf der Legge zu verkaufen, diente der Sicherung des Kredits 38 . Diese ausdrückliche Regelung läßt vermuten, daß der kaufmännische Kredit keine ungewöhnliche Erscheinung war, zumal er den Kaufmann in eine günstige Lage brachte; während der Weber an ihn verkaufen mußte, konnte er den Preis nach seinem Gutdünken festsetzen. Allerdings verweist jene Regelung auch darauf, daß die Schuldner ihre Gläubiger zu übergehen suchten. Die Folgen des handelskapitalistischen Kredits - die auch die schon erwähnte Forderung des öffentlichen Verkaufs durch Meistgebot motivierten - scheinen nahezulegen, die Selbständigkeit im Produktionsverhältnis des Kaufsystems skeptisch einzuschätzen, zumal auch sonst der kleine Produzent und der Kaufmann kaum gleichwertige Tauschpartner waren. Die untergründige Transformation des Kaufsystems in ein Verlagssystem mit Zügen eines kapitalistischen Produktionsverhältnisses wird daher oft als selbstverständlich angenommen 3 9 . Die Selbständigkeit der Produzenten, ließe sich sagen, war nurmehr ein Schein, eine äußere Form, für ein im Kern schon proletarisches Lohnverhältnis, wodurch der Spinner und Weber sich auch aus dem sozialen Zusammenhang der ländlich-bäuerlichen Gesellschaft löste. In einer solchen Perspektive der »Proletarisierung« wurden die proto-industriellen Produzenten auch ein »industrielles Vorproletariat« genannt 4 0 . Abgesehen von seinen substanzlogischen, einer unilinearen Entwicklungstheorie und Geschichtsphilosophie verhafteten Implikationen bleibt dieser Perspektivbegriff aber vage gegenüber den konkreten Produktionsverhältnissen einer langen »Ubergangszeit«. Solange die Durchdringung und schrittweise Aufhebung des Kaufsystems durch den Kredit noch nicht empirisch aufgehellt ist, empfiehlt es sich, das Produktions- und Tauschverhältnis in diesem System auseinanderzuhalten. Der Produzent verkaufte nicht seine Arbeitskraft, sondern sein Produkt. Wieweit die selbständige Verfugung über die (Familien-)Arbeitskraft durch die handelskapitalistische Organisation des ungleichen Tausches, des Kredits und seiner Folgen eingeschränkt wurde, wäre durch das Ausmaß der Verschuldung und ihrer sozialen Form zu klären: Wie hoch waren die einzelnen Verschuldungen, wer waren die Gläubiger? Wie nützten diese die Verschuldung aus? N u r bei einer andauernden und hohen Verschuldung an ein- und dieselben Kaufleute wäre der Schluß auf eine Proletarisierung berechtigt, d. h. der ausschließlichen Arbeit für einen Kaufmann, in welcher der Produzent, weil ihm die Verfugung über sein Produkt genommen war, auch über seine Arbeitskraft in dem Maße insofern immer weniger verfügen konnte, als er unter einem Produktionszwang stand. Eine unaufhaltsame Proletarisierung durch Verschuldung kann dabei generell nicht unterstellt werden; Schulden konnten auch wieder abgetragen werden 41 , selbst wenn das Ensemble der Bedingungen dafür nicht immer günstig war. Für eine 294

solchermaßen nötige komplexe Untersuchung des Schuldenwesens fehlen fast alle Voraussetzungen. Vorläufig sind nur einige Hinweise möglich. Einen gewissen Einblick in das Ausmaß der Verschuldung von Webern zur Zeit einer Handelskrise gewährt die Liste der Weber in der Umgebung Bielefelds aus dem Jahre 1814. Sie wurde erstellt, um den Zustand des Leinengewerbes am Ende der Kontinentalsperre im Vergleich zu 1806 zu erfassen, wobei die Beamten insbesondere auch nach dem »ungefähren« Schuldenbetrag fragten 42 . Von den 1017 Webern waren fast zwei Drittel (63,5%) verschuldet. 43% der verschuldeten Weber standen mit weniger als 100 Rt in der Kreide, 41% mit Beträgen zwischen 100 und 500 Rt und 16% mit mehr als 500 Rt. Diese Verschuldung war hoch, da ein ganzer Jahresumsatz pro Webstuhl wohl oft nicht mehr als 200 Rt betrug 43 . Verschuldung und Armut deckten sich allerdings nicht vollständig. Relativ viele Weber wurden als »arm«, d.h. unfähig zum Garneinkauf bezeichnet, ohne verschuldet zu sein. Sie waren offenbar überhaupt nicht mehr oder zumindest weniger kreditwürdig als die Weber mit mehreren Stühlen sowie mit Hausund Grundbesitz. Diese waren häufiger und höher verschuldet als die Weber ohne Grundeigentum und mit nur einem Webstuhl, nicht zuletzt infolge des kreditfinanzierten Landerwerbs, so daß ihre Schulden auch hypothekarisch gedeckt waren. Wie dieser Umstand deutet auch das lokal sehr unterschiedliche Ausmaß der Verschuldung - in Schildesche z.B. waren 93% der Weber verschuldet, in Jöllenbeck 72%, in Heepen aber nur 37% - auf einen vielfaltig gebrochenen Ursachenmechanismus hin, während alle Weber von der Handelskrise betroffen waren. Bei rund 80% aller 646 verschuldeten Weber wurde denn auch die »Stockung des Handels« als Ursache angegeben; immerhin aber 123 Weber nahmen auch aus anderen Gründen Kredit, ζ. B. infolge persönlicher oder familiärer Notlagen wie Krankheiten, Todesfälle, Brand- und Viehschäden (47 Fälle), der Abfindung erbender Kinder (13 Fälle) oder infolge eines Hausbaus bzw. Landerwerbs (56 Fälle). Dieses Beispiel zeigt einerseits den krisenerzeugten Druck zur Verschuldung, andererseits aber auch die Grenzen des handelskapitalistischen Kredits gerade in einer Krise, in der ja auch die Kreditwürdigkeit zu bedenken war. Leider ist aus der herangezogenen Quelle nicht zu ersehen, wer die Gläubiger der Weber waren. Allein bei einer Anzahl von Schildescher Webern ist sicher, daß sie an Kaufleute verschuldet waren, wie implizit vorausgesetzt wird bei der Annahme einer untergründigen Veränderung des Kaufsystems durch den Kredit. Jene Weber erwarben bei der Säkularisation des Stiftes Schildesche Land mit Vorschüssen von Bielefelder Kaufleuten 44 . Im ganzen ist es aber nicht wahrscheinlich, daß alle Kredite oder auch der größte Teil von diesen stammten. Soweit die Finanzgeschichte der Handelsfirma Delius es erkennen läßt, haben die Kaufleute den größeren Teil ihres verfugbaren Geldes untereinander ausgeliehen4s. Andererseits aber war die Nachfrage nach Geld groß, da - nach einer Bemerkung des Rentmeisters Fischer aus Schildesche - schon bei der Haushaltsgründung der Kredit gesucht werden 295

mußte: »Gewöhnlich werden die Betten, der Ofen und mehrere Sachen von den Juden und Kaufleuten erborgt. « 4б Fischer sagte nichts über den sozialen Charakter der Gläubiger, so daß offenbleiben muß, ob mit den »Kaufleuten« nur die Bielefelder Leinenhändler gemeint sind. Die Erwähnung der Juden, d. h. Kleinhändler und Krämer, von denen eine bedeutende Zahl auf dem Lande ansässig war, weist darauf hin, daß das Kreditwesen auch noch von anderen als handelskapitalistischen Abhängigkeiten geprägt war. Obwohl es unmöglich ist, etwas zum Gesamtverhältnis zwischen dem handelskapitalistischen Kredit und anderen sozialen Gruppen von Gläubigern zu sagen, legen Einzelbeispiele nahe, die letzteren nicht zu unterschätzen. Oben wurde schon erwähnt, welch essentielle Bedeutung der Kredit der jüdischen Kleinhändler für die bäuerliche Bevölkerung im Paderbornischen, aber nicht nur hier, hatte. Daneben war die Kirche ein Kreditgeber. 1834 waren 32 Bauern des Kirchspiels Quernheim mit insgesamt 1515 R t a n die Pfarrkirche verschuldet, weitere 16 mit 385 Rt an die kirchlich verwaltete Armenkasse 47 . An den Prediger war auch der mittelgroße Bauer Sundermann in Elverdissen (Kr. Herford) im Jahre 1820 verschuldet, daneben noch an einen Offizier, einen Beamten, eine »Witwe«, zwei Kaufleute und, mit dem höchsten Einzelbetrag, an einen eigens erwähnten jüdischen Kaufmann. Immerhin stand er nur mit der Hälfte seiner Gesamtschulden von 1750 Rt bei Kaufleuten in der Kreide 48 . Einen viel geringeren Anteil von Schulden bei dieser Gruppe zeigt dagegen die Zusammensetzung der Schulden der Erbpächterswitwe Niederschlachtsiek in Elverdissen aus dem Jahre 1828. Das Bild ihrer Verschuldung sei ausfuhrlich vorgestellt, weil es wahrscheinlich fur die unterbäuerliche Klasse typische Züge enthält (Tabelle 23). Die Witwe, deren Mann ein Jahr zuvor gestorben war, besaß eine zwei Jahre alte Erbpachtstelle mit 7 Mg Ackerland. Die große Familie - mit der Mutter lebten 6 Kinder im Alter zwischen 11 und 26Jahren, ein erwachsener Sohn hatte das Haus verlassen - benötigte daneben noch Spinnen und Weben zu ihrem Unterhalt; drei Webstühle standen im Haus. Trotz der günstigen familienzyklischen Arbeits-Konsum-Balance, da alle Kinder im arbeitsfähigen Alter waren, war die Familie bis zum Hals verschuldet. Ihre Schulden machten laut Inventar 80% des Gesamtwertes ihres Vermögens aus, das 682 Rt betrug und von dem das Wohnhaus allein 465 Rt (68%) repräsentierte. Vermutlich resultierte die hohe Verschuldung, insbesondere an den Großbauern Escher 49 aus dem nur kurz zurückliegenden Hausbau. Die Familie ist damit ein Beispiel für den »Trieb zur Selbständigkeit« (Bitter) der proto-industriellen Produzenten, selbst um den Preis einer lebenslangen Kreditwirtschaft und einer fast ausweglosen Vertiefung der Verschuldung bei schlechten Konjunkturen 5 0 . Die vielen kleineren Darlehen in dem Beispiel deuten an, daß sie in der Mehrzahl wohl Konsumtivkredite waren, obwohl das auf der Seite der Gläubiger nicht direkt aufscheint. Aber was konnten Bauern viel anderes verkaufen als Lebensmittel und Flachs? Wenn man die große Schuld an den Colon Escher nicht berücksichtigt, bleibt, daß 296

v o n den Restschulden zu 64% bäuerliche Besitzer die Gläubiger stellten, die in den meisten Fällen auch noch ortsansässig waren. Aber nicht nur die bäuerliche Oberschicht war beteiligt. Immerhin stammten 20% der Darlehen ( i n bezug aufjene Restschulden) aus der Unterschicht, soweit diese als Erbpächter und Heuerlinge eindeutig zu identifizieren ist. So gut wie alle ländlichen Schichten waren also am Kreditwesen beteiligt, das gleichzeitig auch stark i m lokalen Rahmen verankert war. Z u einem gewissen Teil wares nur ein anderer Ausdruck für die Arbeits-Produkten-Tauschwirtschaft, da die Unterschichten die Schulden oft wieder in Arbeit abgegolten haben s l . Tab. 23: Schulden und Gläubiger eines Erbpächters, 1828 s 2 Gläubiger

Schulden Rt.Sgr.

in%

A) 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11.

Bauern Colon Escher, Elverdissen (Nr. 3) Colon Rieger, Elverdissen Colon Beek, Elverdissen (Nr. 1) Colon Heidecker, Elverdissen Colon Escher, Elverdissen Colon Grommert, Elverdissen (Erbpachtgeld!) Colon Meyer zu Büxten (Lippe) für Roggen Erbpächter Kuntemeyer, Elverdissen Erbpächter Heidbreder, Elverdissen Erbpächter Gödecke, Elverdissen Leibzüchter Hellemann, Elverdissen

256.7 20.66.6,7.— 28.10 25.15.10.7.5,-

B) 1. 2. 3.

Heuerlinge Heuerling Schumacher, Elverdissen Heuerling Ortmann, Elverdissen Heuerling Bensiek, Elverdissen

445-17 13.6.5,-

80,8

C) Handwerker 1. Schuhmacher Dreseler, Herford

24. 4.10

4,3 0,9

D) 1. 2. 3. 4.

Kaufleute Kaufmann Munter, Herford Kaufmann Wesing, Herford Kaufmann Stohlmann, Herford Commerziant Bohner, Ströhen (Kr. Lübbecke)

10.15 15.4.20.-

E) 1. 2. 3.

Sonstige Bockschmied Jobst Heinrich Berger »für gekauften Leinsamen«

49.15 20.4.4.28.-

Summe

551.12

8,9

5,1 100

297

Der hohe Anteil von bäuerlichen Gläubigern im obigen Beispiel ist zwar noch nicht zu verallgemeinern, eine gewisse Plausibilität erhält er aber insofern, als er die enge Verflechtung von Landwirtschaft und Proto-Industrie in Minden-Ravensberg und die vielseitigen Beziehungen zwischen Bauern und unterbäuerlichen Schichten widerspiegelt. Solange die einheimische Rohstoffbasis für das Textilgewerbe noch gegeben war, war nicht nur ein möglicher Weg der Entwicklung des Verlagskapitalismus behindert, sondern auch die Verbreitung des handelskapitalistischen Kredits auf dem Lande. Die Proto-Industrialisierung förderte nämlich indirekt auch die bäuerliche Kapitalbildung, die zumindest teilweise die Nachfrage nach Geld befriedigen konnte. Auch in dieser Hinsicht blieb also die »auflösende Wirkung des Handels auf das produzierende Gemeinwesen« (Marx) begrenzt.

3. Unterschichtenkultur und Klassengegensätze Das bisher herausgearbeitete Bild ist allerdings noch unvollständig. Obwohl die ländliche Sozialstruktur durch Abhängigkeitsverhältnisse gewerblichkapitalistischer Natur nicht wesentlich verändert wurde - auch nicht durch die Ausbreitung eines nennenswert großen bürgerlichen Grundbesitzes 53 hatte die Proto-Industrialisierung indirekte Effekte, die ein zentrales Element der ländlichen Sozialstruktur, das Heuerlingssystem und die Beziehungen zwischen Bauern und Unterschichten nachhaltig beeinflußten. Ein solch wesentlicher, weitreichender indirekter Impuls war das Bevölkerungswachstum, das durch das proto-industrielle Gewerbe ermöglicht wurde. Die hausindustrielle Familienwirtschaft war ein Träger der demographischen Selbstrekrutierung der landlosen Unterschicht und damit einer sozialen Klasse, die mit ihrem Wachstum immer schwieriger als Heuerlinge in das bäuerliche Sozialsystem zu integrieren war. Die Differenzierung in Heuerlinge und Einlieger schuf eine Gruppe ohne Landnutzung bzw. eine »gute« und »schlechte Miete«, gemessen an der Größe des Pachtlandes und damit der agrarischen Eigenversorgung. Dieser Unterschied konnte durch gewerbliche Einkommen kompensiert werden. Schlechte Konjunkturen, vor allem aber die anhaltende Krise der Proto-Industrie enthüllten die Einlieger jedoch als ein »Proletariat«, das in der bäuerlichen Gesellschaft funktionslos und »überflüssig« war. Neben diesen schon dargestellten Tendenzen beeinflußte die Proto-Industrialisierung oder der »Kartoffelbau, der auf dem Webstuhl getrieben« wurde 54 die ländliche Sozialstruktur auch in ihrer gewissermaßen >normalen< Verfassung.

298

α) »Sittenlosigkeit«,

»Luxus« und

Emanzipation

Die Familienwirtschaft als Arbeitseinheit hat den Besitzlosen eine Selbständigkeit ermöglicht, die in der bäuerlichen Gesellschaft, da Selbständigkeit eben einen Grundbesitz voraussetzte, immer ein latenter Skandal war. Von den Bauern wurde sie mit offenem Argwohn betrachtet, wenn sie mit der Armut konfrontiert waren. Die Mißachtung der bäuerlichen Sicherheitsregel, daß Heirat einen Besitz voraussetze, wurde von ihnen solange geduldet, als die Heuerlinge sich der bäuerlichen Wirtschaft unterordneten und damit auch ein gewisses sicheres Einkommen hatten. Strebten diese aber darüber hinaus, dann war die leicht sich einstellende Armut für die Bauern nicht nur eine individuelle Schuld, sondern auch eine Strafe für die Sünde wider die traditionelle Hierarchie. Diesen kalten klassenspezifischen Blick auf die Armut, welcher der Härte des bäuerlichen Lebens selbst entsprang, verrät der bäuerliche Gemeindevorsteher in Hüllhorst (Kr. Lübbecke), als er 1831 dem Amtmann über die Notlage der Heuerlinge berichten mußte - freiwillig hätte er es wohl nicht getan, wie sein Schreiben zeigt. Aufgefordert, die Lage der Heuerlinge in seinem Dorf und die Ursachen ihrer Verarmung zu schildern, ging er nur wenig auf die konkreten Umstände ein, die ihm »zu relativ«, offenbar auch selbstverständlich erschienen, wohl aber auf die unspezifisch-allgemeinen: frühe Heirat, leichtsinnige Schulden, Luxus und Faulheit, und reproduzierte so das allgemeine bäuerliche Wahrnehmungsmuster gegenüber den Unterschichten. Schließlich schrieb er: »Auch hat wohl mal ein junges Heuerlingspaar eine gute Miete verlassen müssen, weil es entweder nicht Lust hatte, nach dem Willen seines Wirtes zu arbeiten, oder diesen durch Ärgernis bewog, die Miete nicht weiter zuzusichern, und sind, wie ich glaube, aus diesem Grunde nicht wenige der Neubauern und Erbpächter entstanden, die dann so auch - falls sie sich im Stande der Dürftigkeit finden - wohl damit gestraft wurden, womit sie gesündigt haben. «5S

Man kann sich unschwer vorstellen, welches Potential an Spannungen zwischen den Bauern und Heuerlingen durch das Selbständigkeitsstreben der letzteren produziert wurde, zumal bei der Asymmetrie zwischen agrarischen und gewerblichen Einkommen, die den Heuerling zwang, eine vom »Willen seines Wirtes« möglichst ungehinderte Verfugung über seine Arbeitskraft zu erlangen, während Auswege aus diesen Spannungen durch die unverzichtbare Notwendigkeit von Pachtland begrenzt blieben. Die ProtoIndustrie hat so gerade auch bei guten Konjunkturen das quasifeudale Heuerlingsverhältnis belastet und damit den Klassengegensatz zwischen den Bauern und Heuerlingen aufgereizt und vertieft. Es scheint bezeichnend, daß in den 1780er Jahren, mitten in dem anhaltenden Aufschwung der Garnund Leinenproduktion, zwei aufmerksame Beobachter wie der Pastor Schwager und der Kammerassessor Hoffbauer das Heuerlingswesen mit den im späten 18. Jahrhundert härtesten Ausdrücken aus dem Repertoire der 299

sozialen Sprache charakterisierten, nämlich als eine »Sklaverei«, in welcher der Heuerling »gewissermaßen der Leibeigene des Bauern« oder der »Knechtes-Knecht« sei 56 . Diese Vertiefung des Klassengegensatzes oder zumindest die Verhärtung der sozialen Distanz war um so gravierender, als aus der Struktur der familienwirtschaftlichen Produktionsweise auch kulturelle Verhaltensweisen der Heuerlinge möglich wurden, die sie in Gegensatz zu den Bauern brachten. Vor allem zwei Verhaltensweisen sind hier von Bedeutung, welche durch die Möglichkeit der familienwirtschaftlichen Selbständigkeit in einer für die Bauern widersprüchlich-selbstdestruktiven Weise aktualisiert wurden: Die »Sittenlosigkeit« und die teils frühe Heirat sowie der »Luxuskonsum«, die allemal als die gewöhnlichen Ursachen der Armut galten. Obwohl frühe Heiraten der Heuerlinge - gemessen am Vergleich der schichtenspezifischen Heiratsalter-nicht so häufig waren, wie die empörten Beschreibungen suggerieren, war offenbar schon die Tatsache der Eheschließung auffällig genug. Die besitzlose Heuerlingsfamilie war nicht umschlungen von der bäuerlichen »Kette zwischen Reproduktion und Erbschaft« (Tilly) und entsprechend legten Besitzrücksichten der Partnersuche und Moral kaum Zügel an. Den Heuerlingsfamilien fehlte »der Kunstgriffin der bäuerischen Erziehung, dem heranwachsenden Mädchen den Ehrgeiz als einen Riegel wider ihre Lüste beizubringen« 57 . Das Ziel der Bauerntochter, auf einen »guten Hof« zu kommen, erheischte ihre standesspezifische Ehrbarkeit und unterwarf sie, wenn sie nicht gerade selbst Anerbin war, auch dem männlich bestimmten Rollen verhalten bei der Partner wähl. Bei den Heuerlingen war dies zumindest in seiner harten ökonomischen Logik außer Kraft gesetzt, was als »schamlose Unbefangenheit« erschien. Voller Empörung und mit erhobenem Zeigefinger schrieb Schwager über die Eheanbahnung der Kötter, d. h. der Heuerlinge: »Die Tochter des Kötters hingegen kennt (im Unterschied zur Bauerntochter, J. M.) kein größeres Glück, als das, einen Mann zu haben, und unter dieser Klasse von Menschen ist das männliche Geschlecht das spröde, und das weibliche geht auf die Freyte. Unsere Köttersöhne sind zu arm, eine Geschwächte mit Gelde abzufinden, aus Mangel nehmen sie sie, und wie eine solche Ehe ausfallen müßte, läßt sich leicht erraten, ohne Ödipus zu sein. U n d dies eben ist es, warum sich das gemeine Mädchen so gern preisgibt und so gern verfuhrt. Es versteht die Kunst zu kokettieren in seiner Art vollkommen so gut, als die Dame, entblößt ebenso unverschämt den Busen, und gewisse andere Reize so halb und halb, weil es mehr hilft als ganz. Bleibt der Jüngling noch spröde: so hilft es seinen Sinnen durch Branntwein nach und erscheint der Jüngling auf seine Einladung nicht in seinem Bette, so besucht es ihn in dem seinigen. Dies ist gewöhnlich der ganze Roman, von hinten gespielt; der darauf folgende Ehestand und der ihn begleitende Mangel löscht jeden Funken von Zärtlichkeit, wenn er noch da ist, aus, das Wochenbett verursacht die ersten bedrückenden Ausgaben in der Ehe, wechselseitige Achtung war nie da, und so wird eine solche Ehe eine Ehe der Wilden, die bloße Notwendigkeit und tierische Triebe noch zusammenhalten. « 5 8

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Es empfiehlt sich, solche Auslassungen auch als pädagogisch motivierte Übertreibungen des Pastors und bürgerlichen Sittenreformers zu lesen. Dennoch sind sie darauf wohl kaum zu reduzieren, wie analoge Berichte aus anderen proto-industriellen Regionen und eine Bemerkung Schwagers annehmen lassen: »Selbst ehrbar scheinenwollende Leute« würden die »schamlose Unbefangenheit« teilen 59 . Die größere erotische Artikulationsfreiheit ist auch noch in anderen Formen überliefert. Die»Wockenbriefe« auf den Spinnrädern, d. h. die Pappstreifen zur Befestigung des Flachses waren wie anderswo Devotionalien oder die Bilder von Kaiser Wilhelm und August Bebel Teil der symbolischen Repräsentanz von Haltungen, Wünschen und Phantasien. Diese buntgeschmückten Wockenbriefe waren mit religiösen und glückwünschenden, aber auch mit sentimental-erotischen Sprüchen versehen, die durchweg die romantische Liebe feierten 60 . Die »Sittenlosigkeit«, scheint es, war weniger ein Mangel an Moral, sondern der Versuch, auch unter dürftigen Bedingungen ein wenigstens teilweise selbstbestimmtes Leben zu fuhren. Zweifellos war dabei die Frau der besitzlosen Klasse, da sie kein Mittel der Transaktion von materiellem und symbolischem Kapital war, »freier« in der Suche nach einem Ehepartner als die künftige Bäuerin. Zudem wertete das Fehlen von Grundbesitz ihre Stellung gegenüber dem Heuerlingsmann auf, da die Frau wichtige Voraussetzungen für die Familienwirtschaft wie Arbeitserfahrung und Ersparnisse mitbringen konnte. Der Umstand, daß bei Heuerlingsehen die Frau häufig älter als der Mann war, läßt darauf schließen, daß auf diese Voraussetzungen auch geachtet wurde 61 . So gesehen zeichnete sich das Heiratsverhalten der Unterschichten eher durch eine besondere Sorgsamkeit als durch Leichtsinn aus, neben der eine »Unbefangenheit« im Verhältnis der Geschlechter durchaus bestehen konnte. Die »Sittenlosigkeit« läßt sich in diesem Licht als eine schichtenspezifische Wahrnehmung kultureller Freiheitschancen lesen, die den Unterschichten zuzugestehen den Bauern und Gebildeten offenbar große Mühen bereitete. Ein Gleiches läßt sich, mag dies zunächst auch paradox erscheinen, von der Disposition zum »Luxuskonsum« sagen. Galt und gilt doch dieser Konsum weithin als Zeichen der »vollendeten Irrationalität« der Lebenshaltung der proto-industriellen Unterschichten 62 . Ausgerechnet diejenigen, die zumeist im Zustand der »Dürftigkeit« lebten, in dem man »nur die allerhöchste Notdurft aus der Hand ins Maul sehr spärlich mit seiner Arbeit verdienen kann«, konsumierten Tee, Kaffee und Weißbrot, rauchten mit kostbaren Pfeifen, waren unmäßige Trinker und Esser und putzten sich mit bunten Baumwollkleidern, Bernsteinkorallen und Taschenuhren heraus, wenn man den zeitgenössischen Schriftstellern glaubt. Zwar wurden auch die Bauern des Luxuskonsums bezichtigt, »vorzüglich« aber sei er in den »Volksfabrikgegenden« verbreitet. Im Jahre 1805 klagte der Pastor Gieseler in Werther (Kr. Bielefeld):

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»Statt daß diese Menschenklasse (die Spinner und Weber, J. M.) vormals in günstigen Jahren, wo das Gewerbe gutging, etwas zusammensparte, um in schlechten Jahren durchzukommen: so wird nun jeder Groschen sogleich der Eitelkeit geopfert.« 63

Sicherlich war der Konsum jener Güter keine alltägliche Angelegenheit, und oft waren besonders Kaffee und Branntwein unentbehrliche Mittel der physischen Reproduktion und dazu von einer Qualität, welche die Rede vom Luxusgut absurd erscheinen läßt. Der »Bauernkoffee« wurde von einem Ravensbergischen Arzt als nichts anderes »als ein kaum gefärbtes kraft- und geschmackloses, elendes Getränke« beschrieben, der neben Wasser und Branntwein das einzig mögliche Getränk war. Branntwein schließlich hatte als prophylaktisches und therapeutisches Mittel in der Volksmedizin einen hohen Stellenwert. Mehr als er den »Hunger vergessen« ließ, hat er wohl bei harter Arbeit die letzten Kraftreserven mobilisiert und gleichzeitig die Anstrengung durch leichte Betäubung etwas erträglicher gemacht 64 . Dennoch wäre es falsch, diesen Konsum nur zu rationalisieren. Er war wie der ganze »Luxus« auch an spezifische Gelegenheiten gebunden und Teil einer Strategie der sozialen Sicherung und Reputation. Neben der Spinnstube werden besonders zwei Gelegenheiten als Anlässe fur den sozial expressiven Konsum überliefert: der sonntägliche Kirchgang bzw. Wirtshausbesuch und Familienfeste. Sie waren exponierte Momente in der dörflichen Öffentlichkeit, insbesondere die Kirche. Sie war, schrieb ein Pastor, »der einzige Ort, wo das Landvolk zahlreich zusammenkommt, wo die Individuen Gelegenheit haben, sich zu zeigen und Zeit, einander zu mustern« 65 . Damit verbunden war der Besuch der Wirtshäuser, in denen auch der Handel mit Garn abgewickelt wurde. Die Pfarrer bemerkten diese Ende des 18. Jahrhunderts sich offenbar intensivierende dörfliche Kultur mit hellem Entsetzen und klagten, »daß sehr viele der Eingepfarrten in den Wirts- und Commerziantenhäusern fast während des ganzen Gottesdienstes sitzen bleiben, lärmen, saufen und wohl gar in der Mitte oder am Ende des Gottesdienstes betrunken zur Kirche kommen« 66 .

Ebenfalls öffentlich war die »Verschwendung« bei den großen Familienfeiern, den Hochzeiten, Kindstaufen und Hausbauten, zu denen eine große Zahl von Verwandten und Bekannten geladen wurde. Sie hießen auch »Gebehochzeiten« oder »Gelddöhnten«, da die Gäste nach unausgesprochenen, aber festen Regeln zu Geschenken verpflichtet waren, für die der Gastgeber sich später in genauer Entsprechung revanchieren mußte 6 7 . Die Geschenke bildeten oft den Grundstock für den Haushalt, was natürlich mit einem festlichen Mahl zu entgelten war. Dies erleichterte den Armen auch die Heirat bzw. die Gründung eines eigenen Haushalts: »Freilich wird ihre erste häusliche Einrichtung, die noch dazu höchst einfach ist, und wovon etwa ein Tisch, zwei Stühle, Schrank oder Koffer, Ofen, Betten, Koch- und Kaffeetopf nebst Kaffeepferd (Ziege) so ziemlich die Hauptbestandteile ausmachen,

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welche zusammen sie >ihre Werke« nennen, durch eine Hochzeit aufgebracht, wobei gewöhnlich nach Abzug der Kosten, zwanzig bis dreißig, auch wohl wenn es eine »gute Hochzeit« ist, fünfzig bis sechzig Taler herauskommen. Es sind dies aber keine eigentlichen Geschenke der Gäste, sondern sie werden hinter den Namen derselben bei Heller und Pfennig verzeichnet, welches Papier sie dann unter dem Namen >Hochzeitsbrief< als ihr wichtigstes Dokument aufbewahren, und den Gebern oder deren Kindern, wenn diese wieder Hochzeit haben, redlich zurückerstatten. « 68

Hier war der »Luxus« offenbar gerade keine Verschwendung, sondern in der weit verzweigten Gegenseitigkeit des Schenkens eine Form sozialen Sparens. Diese Verankerung in sozialen Ritualen läßt den »Luxus« als kulturelles Muster der sozialen Anerkennung erscheinen. Durch Kleidung, Schmuck, Uhren und relativ aufwendiges Essen und Trinken wurde der soziale Status repräsentiert. Daher ist es unangemessen, jenen Aufwand nur mit der Kategorie des physischen Bedürfnisses zu messen. Nicht nur, weil ihr Verhältnis kaum zu bestimmen ist, sondern vor allem, weil der »Luxus«, wie ein Zeitgenosse erkannte, »nicht etwa ein Übel (ist), dem bloß einzelne sich ergeben, sondern innig mit den Fortschritten der Zivilisation zusammenhängt, und regelmäßig in der allgemeinen Meinung (wurzelt)«69. Diese »allgemeine Meinung« war die Aufweichung ständisch bestimmter Lebenshaltungsstandards durch die Gleichheitsaspirationen der unteren Gruppen gegenüber den jeweils höheren Gruppen in der Ständehierarchie. Das »neue Bedürfnis«, das der die »Standesgrenzen auflösende Luxus« anmeldete70, war wesentlich ein Bedürfnis nach sozialer Gleichheit. Diese Bewegung, allgemein im städtischen Patriziat einsetzend, hatte im 17. Jahrhundert dazu geführt, daß die großbäuerlichen Sattelmeyer in Ravensberg in ihrer Kleidung »gleich ehrbaren Bürgern, jedoch ohne Übermaße und expresser Ausnahme von Gold, Samet« usw. auftreten konnten, und hat im 18. Jahrhundert die anderen bäuerlichen Gruppen und sehr bald auch die unterbäuerliche Klasse erreicht. Wie die Bauern die Lebenshaltung der städtischen Bürger oder des Landadels nachahmten, so die Heuerlinge diejenige der Bauern. Die Gegenstände und Anlässe ihres Luxuskonsums waren, natürlich bei Gradunterschieden, fast identisch. Mochte der Bauer auch » starken Kaffee mit viel Zucker «trinken und der Heuerling nur Zichorie mit »einigen wirklichen Kaffeebohnen« - beiden war es um die »Ehre des Namens« zu tun 71 . Oder wie der Pfarrer von Mennighüffen (Kr. Herford) 1831 schrieb: »Hier aber tut der Bauern gern, als wenn er ein Edelmann wäre, und die Geringeren sind nicht abgeneigt, es nachzuahmen.« Gerade die Empörung über die Dissonanz zwischen der besonders 1831 verbreiteten Armut und den »zu großen Bedürfnissen« hat ihn auf deren soziale Funktion gestoßen: »Man sehe 15/16jährige Knaben, man sieht sie selten ohne Tabak kauen oder rauchen, und wie leicht gehen damit jährlich 3, 4, 5 Reichstaler durch. Hat das Knäbchen

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dann ein, zwei oder drei Jahre gekauet und geraucht, so hat es sich zum Manne geraucht, und einem Manne gehört eine Frau. Einem Brodherrn zu gehorchen, an Ordnung und Tätigkeit gewöhnt zu werden, den Eltern untertänig zu sein, nein, denn das schmeckt nicht; selbst Herr sein, das ist besser. « 72

Das war der eigentliche Skandal des »Luxus« der unterbäuerlichen Schichten. Mochte nämlich der demonstrative Konsum die Standesgrenzen auch aufweichen, eine Hierarchie von sozial zugeschriebenen Lebenshaltungsniveaus blieb trotzdem bestehen, um so mehr, als der Konsum ein Mittel wurde, den neu errungenen »Stand« zu dokumentieren. N u r wer etwas hatte, durfte dies auch zeigen, während die Besitzlosen auf ihrem Platz inferiorer Bescheidenheit bleiben oder sich auf den langen und unter den gegebenen Bedingungen meist illusorischen Weg der Sparsamkeit machen sollten - eine Erwartung, die trügerisch blieb. Denn gerade dann, wenn — wie ein märkischer Pfarrer sagte - der Reichtum zum »Maßstab des Menschenwerts« wurde, stellten Taschenuhr, Bernsteinkorallen, bunte Kleider, Kaffeebohnen usw. Mittel dar, »um sich aus der Verachtung zu reißen« 73 . Darum war der Luxus auch nicht nur eine Erscheinung guter Konjunkturen und noch weniger Indiz eines allgemein relativ guten Lebensstandards. Manchmal wurde an den Kindern gespart, denen das Brot fehlte, »weil sich ihre Eltern den Tobak nicht wollen fehlen lassen«, und noch öfter wurde wohl die Woche über gedarbt, um dann in der Prestigemusterung der sonntäglichen Öffentlichkeit zu bestehen 74 . So gesehen war der sozial imitative und die Erniedrigung kompensierende Luxus geradezu ein Effekt der Armut und gehörte zu ihren sozialen Kosten. Eine strukturelle Voraussetzung für dieses spezifische Konsumverhalten war die Familienwirtschaft. Sie ermöglichte als eine bestimmte Organisation der Arbeit die Selbständigkeit und gleichzeitig mit ihrer besonderen Funktionslogik jene soziale Repräsentation der Selbständigkeit durch »Luxus«. Ihre bedürfnis- und konsumdeterminierten Produktionsziele erlaubten die Wahrnehmung bestimmter Konsumchancen als »positive Kehrseite derjenigen Logik von Konsum und Produktion, die bei knappen Erträgen zur >Selbstausbeutung< der ländlichen Gewerbetreibenden durch Steigerung des Arbeitsaufwands führte« 75 ; aber der Luxus war nicht nur gewissermaßen ein familienwirtschaftlicher Surpluseffekt guter Konjunkturen und eines günstigen familienzyklischen Verhältnisses zwischen Arbeit und Konsum. Sofern er den Status der Selbständigkeit und wenigstens einen Schein der Gleichheit repräsentierte, war er auch Teil der Selbstausbeutung der familialen Arbeitskraft, die dann die Ausbeutung einzelner Familienmitglieder, besonders der Kinder nach sich ziehen konnte. Die Verbreitung des Konsums jener »Luxusgüter« hatte natürlich die Verflechtung der Region mit dem internationalen Handel und eine Ausweitung des Geldverkehrs auf dem Lande zur Voraussetzung. Beides wurde durch das Exportgewerbe wesentlich befördert 76 . Erleichtert wurde er dar304

über hinaus durch den Hausierhandel und die vielfältig verzweigte Kreditwirtschaft. Für Pfarrer Wehde war der »viele Credithandel« ein »Beförderungsmittel des verderblichen Luxus«: »Müßte allemal bare Bezahlung erfolgen, so würde man die Füße nach der Decke strecken.« 77 Die ProtoIndustrialisierung hat nämlich, scheint es, den Unterschichten zwar einen Zugang zu Geld, aber keine regelmäßigen, berechenbaren Einkommen verschafft. Fluktuationen des Handels einerseits und die mindestens partielle Notwendigkeit, die Rohstoffe einzukaufen andrerseits unterwarfen die hausindustrielle Familienwirtschaft einem Streß der Geldknappheit, die auch in dieser Hinsicht oftmals eine »Ökonomie des Notbehelfs« (Hufton) war 78 . Aber nicht nur ein relativ leichter Zugang zu Geld hat zu einem in bäuerlichen und bürgerlichen Augen leichtsinnig finanzierten Konsum gefuhrt. Möglicherweise geschah dies auch deshalb, weil Geld zwar schon ein allgemeines Tauschmittel war, aber auch noch eine kostbare »klingende Münze«, die in der traditionellen Gesellschaft vorzugsweise gegen andere Kostbarkeiten des Prestigekonsums eingetauscht wurde 79 . Insbesondere wurde die Hemmschwelle für eine vielleicht riskante Ausgabenwirtschaft auch reduziert durch die schichtenspezifische Kanalisierung der Geldzirkulation. Die alltägliche Borgwirtschaft war »von unten« gesehen überwiegend eine Interaktion zweier Klassen, nämlich zwischen denjenigen, die etwas hatten und den Habenichtsen oder zwischen diesen und gesellschaftlichen Außenseitern wie den Juden. In der antimonetaristischen Tradition, der Polemik gegen den Geldreichtum auf der normativen Basis einer bedürfnisorientierten Wirtschaft, die in der Geldakkumulation des proto-industriellen Handelskapitals immer wieder neue Nahrung fand, wurde daher diese Borgwirtschaft oft als »Wucher« empfunden. Hinzu kam die harte Praxis gerade des »kleinen Geld Verkehrs«, hohe Zinsen, ungünstige Kündigungsfristen und Verpfändungen der Erträge zukünftiger Arbeit 80 . Da der Kredit aber unentbehrlich und - außer der Kirche - andere als private Kreditquellen nicht vorhanden waren, suchten die Schuldner diese notwendig erbarmungslose Praxis, die das fast einzige Mittel der Kreditsicherung war, gegen die Gläubiger selbst auszunutzen. Was lag näher, als sich auf indirekte Weise schadlos zu halten? Oder leichtfertig einen Kredit zu nehmen mit dem Hintergedanken, den Gläubiger zu übertölpeln? Nach der Auskunft der Minden-Ravensbergischen Gerichte waren dies etwa die Kalkulationen der Heuerlinge in ihren verdeckten und zähen Auseinandersetzungen mit den Gläubigern: »Die tägliche Erfahrung« bezeuge, schrieb 1823 das LSG Halle, »daß die meisten Schuldner, selbst diejenigen, die zur Zahlung imstande sind, ihren Creditoren auf alle mögliche Art, selbst hinterlistige Art hinzuhalten suchen und ihnen mit Undank lohnen«. Die Heuerlinge würden die unvermeidliche Pfändung dadurch unterlaufen, daß sie die Eigentumsrechte an ihrem Vermögen Dritten übertragen. Am liebsten aber würden sie Geschäfte mit einem Juden machen, »in der Meinung, daß, weil

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diese nach ihrem Dafürhalten gerne betrügen, ihnen das Wiedervergeltungsrecht zustehe und sie ihn zu überlisten hoffen«.

Das Gericht plädierte daher für eine Beibehaltung des geltenden Pfandungsrechts, denn nur die Gefahr der ruinösen Auspfändung auch noch der letzten Habe und die Furcht der Heuerlinge davor erhalte ihre Kreditwürdigkeit 81 . Es ist kaum verwunderlich, daß manche Kaufleute vor diesem verdeckten »primitiven« Klassenkampf zurückschreckten, der mit Hilfe des Gerichtsexekutors ausgetragen wurde und in Krisenzeiten mit der anschwellenden Zahl von Schuldklagen seine Höhepunkte erreichte. Eine gewisse Indolenz von Bauern und Bürgern gegenüber der Verarmung der Heuerlinge hatte offenbar auch hier seine Wurzeln. Er wüßte nicht, schrieb 1846 ein Kaufmann, wie »ohne große Opfer und Verluste für Private oder dem Staate« den arbeitslosen Spinnern und Webern geholfen werden könne; denn Geld zur Anschaffung von Flachs und Garn könne man ihnen nicht anvertrauen, »weil vorauszusehen ist, häufig um das Ganze betrogen zu werden, was leider bei dergleichen Menschen zur Gewohnheit geworden ist« 82 .

Die Proto-Industrialisierung hat also, auch ohne direkt die Sozialstruktur der ländlichen Gesellschaft zu verändern, die Beziehungen zwischen den Klassen und Schichten nachhaltig beeinflußt und insbesondere den Gegensatz zwischen den Bauern und der besitzlosen Unterschicht vertieft. Die im erotischen und Konsumverhalten sich äußernden Aspirationen der Heuerlinge nach Selbständigkeit und Gleichheit bzw. sozialer Anerkennung waren jedoch offenbar nicht geleitet von gegenkulturellen Normen, sondern teilten wohl bäuerliche Vorstellungen über legitime Sexualität vor und in der Ehe und der Symbole sozialer Anerkennung. Der Heuerling wollte sich gewissermaßen nach bäuerlichen Maßstäben vom Bauern emanzipieren. Allerdings stieß er dabei hart auf die Grenzen, die ihm seine Abhängigkeit setzte, zu der notwendig die Inferiorität gegenüber dem »herrenmäßigen« Bauern gehörte. »Sittenlosigkeit« und »Luxus« waren nur eine begrenzte Emanzipation, neben der auch die Anpassung stand. Die beschriebenen Verhaltensweisen repräsentierten zwar überindividuelle Merkmale der Lebensweise der ländlichen Unterschichten; ihre spezifisch lebensgeschichtlichen Dimensionen aber enthüllen Grenzen der Verallgemeinerungsfähigkeit ihrer Bedeutungen. Es fällt auf, daß sexuelle Freizügigkeit und Luxuskonsum in den herangezogenen Zitaten und auch sonst weit überwiegend als Verhaltensmerkmale von Jugendlichen beschrieben werden, insbesondere im Stadium der Adoleszenz. Sie lassen sich somit als besondere Ausprägung der durch die ProtoIndustrie ermöglichten jugendlichen Unabhängigkeit verstehen. Anders als in der bäuerlichen Klasse, in der die Heranwachsenden eine altersmäßig 306

hierarchisch geordnete, in der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung verankerte Sozialisationsphase-vom Gänsehirten, Pferdejungen, Kleinknecht bis zum Großknecht bzw. zur Großmagd, welche Stellvertreter des Hausherrn bzw. der Hausfrau waren - durchliefen und in der weiteren Perspektive auf ein Erbe zusteuerten, war diese Sozialisationsphase der Kinder der protoindustriellen Unterschicht kürzer, die Schwelle der sozialen Reife fur Heirat, Selbständigkeit und auch einen spezifischen Konsum schneller erreicht 83 . Der frühe Abschluß der handwerklichen Fertigkeiten, zumal beim Spinnen, und der Schwund von Besitzrücksichten hat den elterlichen Einfluß reduziert und der Jugend Freizügigkeitschancen eröffnet, die in der bäuerlichen Kultur unbekannt oder einer strengen Kontrolle unterworfen waren. Die kurze Lehrzeit mache »schon den Knaben fertig und mündig«, wird von den schlesischen Baumwollwebern berichtet, was für einen möglichen Sozialisationsverlauf proto-industrieller Unterschichten auch allgemein plausibel scheint. Weiter heißt es, daß der Knabe, »wenn ihm die fortgesetzte Zucht und Vermahnung seiner Eltern lästig zu werden beginnt, ohne U m s t ä n d e d e m Vaterhause den Rücken zuwendet und auf eigene Gefahr in die Fremde, d. h. bis z u m nächsten Nachbarn läuft, welcher, im A u g e n blicke eines Arbeiters bedürftig, den Entronnenen mit offenen A r m e n aufn i m m t . . . D i e Selbständigkeit, mit welcher daher unsere J ü n g l i n g e und Dirnen auftreten, begreift keinen Gehorsam, keine Achtung vor menschlichen und göttlichen Gesetzen, keine Scham und Sittsamkeit mehr in sich, sondern ist in zügellose Frechheit, die sich keinen Widerstand bieten läßt, ausgeartet.« 8 4

Zweifellos ist dies eine verzeichnende Darstellung insofern, als sie die Gefahren der Sozialisation stärker betont als die Wirkung der »Zucht und Vermahnung« der Eltern. Aber es waren doch wahrscheinlich typischc Gefahren, wie der Heuerling und Weber Siekmann aus dem Kr. Bielefeld nahelegt. Er war wegen eines Hausbaus mit der Gemeinde in Konflikt gekommen und stellte in einem Gesuch an die Regierung Minden seine Reputation so heraus: » D e r Unterzeichnete . . . ist Vater v o n sechs Kindern und muß das B r o t fur mich und meine kränkliche Frau und Kinder sauer verdienen. Von Profession das Leinenweberhandwerk treibend, habe ich mir stets angelegen sein lassen, meine Familienmitglieder zur Arbeit anzuhalten, meine A b g a b e n p r o m p t bezahlt, so daß mich dieserwegen nie der geringste V o r w u r f getroffen hat. « 8 S

Es liegt auf der Hand, daß die Familie gerade an der vollwertigen Arbeitskraft der heranwachsenden Kinder interessiert war und entsprechende erzieherische Maßnahmen daher begünstigte. Andererseits konnte unter diesen Bedingungen die frühe Selbständigkeit, die frühe Heirat usw. auch ein Protest gegen die Ausbeutung in der Familie sein. Bei einer solchen Spannung zwischen den Generationen waren die Freiheit und Gleichheit reklamierenden Verhaltensweisen destruktiv für die ältere Generation. Man darf daher annehmen, daß die Eltern sie möglichst in Grenzen zu halten bzw. in 307

einer harten Erziehung zum Arbeitsfleiß, zur Sparsamkeit und Einschränkung der Bedürfnisse zu unterdrücken suchten. Solche Grundsätze der Erziehung scheinen auf in den schon zitierten Eingaben des Heuerlings und Webers Siekmann wie des Kleinbauern und Webers Bauschulze und waren trotz allen Spannungen - begründet in der lebensnotwendigen Versorgungsfunktion des familialen Generationenverbandes 86 . »Sittenlosigkeit« und »Luxus« waren wohl auch aus diesen Gründen nicht so allgemein verbreitet und selbstverständlich wie die beschreibenden Quellen den Anschein erwecken.

b) Soziale Lage und konservatives Klassenbewußtsein

der

Heuerlinge

Die Einschränkungen der Ansprüche auf familiale Selbständigkeit und soziale Anerkennung verweisen auf strukturelle Barrieren auch der kulturellen Emanzipation der Heuerlinge, gegen die sie in vielen individuellen Rebellionen anrennen, die sie aber kaum überwinden konnten. Langfristig haben sie den sozialen Gegensatz zu den Bauern vertieft, die - wie die Überlieferung zeigt - auch weniger verbreitete Phänomene gern verallgemeinerten, um mit dem Hinweis auf »Leichtsinn«, »Sittenlosigkeit« und »Luxus« die angeblich selbstverschuldete Armut zu brandmarken und sich so von den Folgen des Pauperismus psychisch zu entlasten 87 . Die Bauern haben also wie nicht zuletzt der »Verein für Rechtschaffenheit und Sittlichkeit« in Heepen zeigt — durchaus klassenbewußt auf den »Luxus« der Unterschicht reagiert. War dieser auf der anderen Seite ein Symptom oder ein Teil der kollektiven Identität der Heuerlinge? Gab es eine solche überhaupt? Gab es gar ein Klassenbewußtsein der Heuerlinge? Eine Antwort auf diese Frage ist angesichts der Quellenarmut und vielfältigen Verständnismöglichkeiten des Begriffs »Klassenbewußtsein« schwierig. Sie soll dennoch versucht werden, weil das Selbstbewußtsein von der sozialen Lage ein wesentlicher Bestandteil der Geschichte der sozialen Klassen und ihres politischen Verhaltens ist und ohne eine Vorstellung davon insbesondere das Verhalten der Unterschichten in der Revolution von 1848 unverständlich bleibt. Als Klassenbewußtsein soll dabei in Anlehnung an Max Weber verstanden werden: a) Ein kollektives, von vielen geteiltes Wissen über die Bedingtheit und Wirkung ihrer Klassenlage; b) ein Wissen über die Gegensätzlichkeit der Lage und Interessen, mit dem der »Kontrast der Lebenschancen (nicht) als etwas . . . schlechthin Gegebenes und Hinzunehmendes, sondern entweder . . . aus der gegebenen Besitzverteilung oder . . . aus der Struktur der konkreten Wirtschaftsordnung Resultierendes empfunden« wird, so daß c) auf die Klassenlage bzw. und deren Veränderung »in Form rationaler Vergesellschaftung« reagiert werden kann, v. a. durch organisiertes Handeln der Klassen-

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mitglieder, im Unterschied zu »Akten eines intermittierenden und irrationalen Protestes« 88 .

Diese im Hinblick auf kapitalistisch verfaßte Arbeits- und Gütermärkte und das Klassenbewußtsein der Lohnarbeiterschaft formulierte Definition eignet sich auch dazu, Unterschiede und gewissermaßen Abstände zwischen dem Kollektivbewußtsein der ländlichen Unterschichten und dem der modernen Arbeiterschaft anzugeben, die sonst eher in schillernden Formulierungen des »noch nicht« oder des »unklaren Klassenbewußtseins« gehalten werden 89 . Die im »Luxus« sich meldenden Ansprüche auf Emanzipation lassen sich bei all deren Grenzen doch als Hinweis darauf lesen, daß die Unterschichten ihre Lage nicht mehr als etwas unveränderbar Gegebenes sahen. Sie gerieten dadurch auch in einen Gegensatz zu den Bauern, ohne daß angesichts der Ähnlichkeit der normativen Ziele erkennbar ist, wie weit dieser Gegensatz den Heuerlingen bewußt war. Weiterfuhrende Einblicke in ihr Selbstbewußtsein ermöglichen jedoch Petitionen an die Behörden. Sie gehören zu den wenigen authentischen Quellen und erlauben vor allem dann einen Schluß auf Denkweisen der Unterschicht, wenn sie von einem Angehörigen dieser Schicht verfaßt und durch viele Unterschriften unterstützt sind, da man in diesem Fall annehmen darf, daß der Inhalt der Petitionen auf der Absprache und Zustimmung eines größeren Kreises beruhte. Einschränkend muß jedoch hinzugefugt werden, daß solche Petitionen selten waren. Häufiger führte bei ihnen eine »fremde« Hand - der Pfarrer, Lehrer, kleine Beamte oder auch der »Winkelschriftsteller« - die Feder, da gerade in den Unterschichten der Analphabetismus im 19. Jahrhundert noch nicht wirklich überwunden war, auch wenn die Signierfähigkeit und wohl auch eine rudimentäre Lesefähigkeit (Bibellektüre!) die Regel darstellte. Daneben aber gab es Autodidakten der Unterschicht, die in Eingaben und sogar in Zeitungszuschriften mehr oder weniger mühsam ihre Gedanken vom Dialekt in die alltagsfremde Hochsprache transponierten 90 . Einer dieser Autodidakten war offenbar der Heuerling G. F. Redeker, der zwischen 1845 und 1847 insgesamt sechs, meist ungewöhnlich lange Eingaben an alle Instanzen, vom Landrat bis zum Finanzministerium, für die Heuerlinge der Bauerschaften Altenschildesche und Braake (Kr. Bielefeld) formulierte, die mit Dutzenden von Unterschriften hinter ihm standen 91 . Diese Petitionen, die um das Problem der Steuergerechtigkeit kreisten, sollen im folgenden auf das Klassenbewußtsein der Heuerlinge hin untersucht werden. Wie charakterisierten sie ihre Lage und ihr Verhältnis zu den Bauern und Kaufleuten? Welche Mittel und Wege zur Änderung dieser Lage schwebten ihnen vor? Dabei sollen nicht nur die Aussagen als solche, sondern auch ihr Entstehungszusammenhang berücksichtigt werden. Da diese Bittschriften im Hinblick auf ihre Autorschaft und selbstbe309

wußte Hartnäckigkeit eher eine Ausnahme darstellen, empfiehlt es sich, auch andere Eingaben vergleichend heranzuziehen. Für den Geist vieler Petitionen nicht untypisch ist die Immediateingabe von 105 Spinnern aus dem Verwaltungsbezirk Enger vom September 1843, die möglicherweise von einem unteren Beamten verfaßt wurde, wie der unterwürfig-glatte Stil vermuten läßt. Sie verwies nur summarisch auf den »Notstand« der Spinner infolge der rapide sinkenden Garnpreise und erbat eine königliche Hilfe. Möglicherweise aus Angst, zu unbescheiden zu wirken, wurden gar keine konkreten Forderungen gestellt, gemeint waren wohl handelspolitische Maßnahmen zugunsten des Garnexports nach Frankreich. Dennoch läßt auch die devote Begründung dafür, daß man sich überhaupt zur Petition »erdreistet« habe, ein elementares Selbstbewußtsein erkennen. Die Petition schloß mit den Worten: »Zwar ist unser Stand der geringste im Volke, wir müssen aber doch leben, und auch die niedrigste Volksklasse werden Euer königliche Majestät nicht gänzlich verderben lassen, vielmehr in allerhöchsten Gnaden sachgemäße Maßregeln treffen, wodurch ein solches Unglück, wenn nicht gänzlich gehoben, doch gemildert wird. « 9 2

Typisch fur diese Petition ist die (durch die vielfachen Unterschriften trotz anderer Autorschaft beglaubigte) Selbstbezeichnung der Spinner bzw. Heuerlinge als »geringer Stand«, der ein Recht auf Unterstützung beanspruchte und der einen entsprechenden Appell nicht an seine unmittelbare Umgebung, sondern an den Staat und insbesondere an den König richtete. Hier artikulierte sich zwar ein kollektives Wissen über die unmittelbar evidente Not, aber kaum eine Einsicht in die einzelnen Bedingungsfaktoren der Lage der besitzlosen Unterschichten. Daß dies ein begründetes Schweigen war, legt die Reihe der Petitionen aus Altenschildesche und Braake nahe 93 . Die Heuerlinge dieser Bauerschaften zeigen zunächst eine Reihe von Gemeinsamkeiten mit den Spinnern aus Enger. Auch sie stellten gegenüber der Regierung Minden ihr »kindliches Vertrauen« in die Obrigkeit heraus, unterschrieben als »arme Heuerlinge . . ., welche König, Vaterland und Gerechtigkeit lieben« und bezeichneten sich selbst als den »niedrigen Stand«, den das »Unglück allgemeiner Verarmung mit allen Schrecknissen« überfalle. Ebenso betonten sie zunächst nur den Kontrast zwischen ihrer unmittelbaren Not - die sie allerdings viel kräftiger darstellten - und der »drückenden Last« der Beiträge zu den Kommunalsteuern und -diensten, deren Stundung sie forderten. Die Disposition zu einer demütigen Bescheidenheit der »niedrigsten Volksklasse« war in diesem Fall, wo es um das Verhältnis zwischen Heuerlingen und Bauern in der Gemeinde ging, aber nur scheinbar. Ein ablehnender Bescheid des Landrats und die Pfändung der Kommunalsteuer provozierten nicht nur weitere Beschwerden, sondern auch eine offene Kritik an den unteren Behörden. Gegenüber der Regierung Minden warfen sie dem Amtmann eine willkürliche und untreue Verwaltung vor und gegenüber dem Finanzminister kritisierten sie den Landrat, 310

daß er ahnungslos und beschönigend über die Not der Heuerlinge rede: Er »kennt die Größe der Not nicht«, wenn er den Heuerlingen empfehle, nur fleißig und sparsam zu sein und ihr Gewerbe als Spinner oder Weber zu verbessern 94 . Darüber hinaus warfen sie - wiederum in der Petition an den Finanzminister - der Regierung vor, wider besseres Wissen gegen die »von vorsorgenden, Zeit und Weltereignisse beobachtenden Menschenfreunden« vorausgesagte Not keine »kräftigere und zeitigere Abwehr« ergriffen zu haben, die »mit Zuversicht zu erwarten war«. Bemerkenswert an dieser Entwicklung der Beschwerden ist nicht nur, daß die immer wieder versicherte Loyalität zur Obrigkeit die Kritik, ja das offene Mißtrauen gegen die unteren Behörden nicht ausschloß; auffallend ist auch, daß erst nach der Ablehnung von zwei Bittschriften durch Landrat und Regierung in der Petition an den Finanzminister das Verhältnis zu den Bauern ausdrücklich zur Sprache kam. Offensichtlich haben den Heuerlingen erst der erneute Begründungszwang und die Enttäuschungen über die Ablehnung ihrer Gesuche die Zunge gelöst, denn von Eingabe zu Eingabe wurde die Sprache heftiger und der Gegensatz zu den Bauern - stets die »Begüterten« genannt - klarer gezeichnet. Zunächst bezweifelten sie - in der Petition an den Finanzminister - die Legitimität ihrer kommunalen Steuerpflichtigkeit: Sie seien »wohl schwerlich« selbständige Einwohner einer Gemeinde zu nennen, wenn der Bauer sie nach Ablauf der Pachtzeit »wie der Brotherr seinen Domestiken« entlassen könne. Wenn sie aber schon Pflichten hätten, dann stünden ihnen auch Rechte zu, nämlich ein Vertreter in der Gemeinde, da »die Begüterten, welche allein die Gemeinde vertreten, mit dem wahren, drückenden Zustande der Heuerlinge völlig unbekannt« seien und auch nichts wissen wollten, um nach dem Grundsatz: »der Unwissende sündigt nicht« scheinbar rechtmäßig von den Heuerlingen »eine übermäßige Miete« fordern zu können. Ein weiterer ergebnisloser und hinhaltender Bescheid des Finanzministeriums bzw. Oberpräsidiums - daß ein geringerer Kommunalsteuerbeitrag der Heuerlinge »in Erwägung gezogen« werden solle - führte zu einer Radikalisierung jenes Standpunkts. In der Eingabe an den OP vom März 1846 bezweifelte Redeker überhaupt die Steuerpflicht des Heuerlings, wenn man dessen Abhängigkeit und die Gerechtigkeit einer verhältnismäßigen Steuer berücksichtige. Dabei wurde das Heuerlingssystem kaum verhüllt als Ausbeutung beschrieben: »Was der Begüterte an den Staat zahlt, hilft und muß der Heuerling verdienen helfen, und hierbei seine ganze Körperkraft entrichten, wenn er nicht fortgewiesen werden und verhungern will. Dabei steigert aber fortgesetzt von Zeit zu Zeit der Begüterte seine Ansprüche an die Kräfte der Heuerlinge . . . Der Heuerling steuert also schon mit allen und dem einzigen, was er hat/: seiner Körperkraft:/ mittelbar dem Staate, weil er diese dem Vermögen des Begüterten darbringen und opfern muß, falls er sein Leben fristen will.«

311

Die Besitzunterschiede wurden hier nicht mehr als einfach gegeben hingenommen, sondern auch als Resultat einer ungleichen Verteilung von Lebenschancen, die die Heuerlinge zwang, dem Bauern zu »opfern«, und zwar auch dann, wie Redeker ausdrücklich betonte, wenn er keine Dienste verrichtete, sondern anderer Arbeit nachging, um den »unerschwinglichen Mietzins . . . sich zu verschaffen«; der Heuerling könne zwar den Platz, aber »nicht den Herrn der Arbeit« ändern. Ein Zusammenhang dieser Lage mit der geltenden liberalen Wirtschaftsordnung und der damit fehlenden Schutzgesetzgebung fur die Kleinpächter und Landarbeiter wurde jedoch nicht hergestellt. Der Staat blieb vielmehr - bei aller Kritik an den unteren Behörden - die Instanz, die den »Armen ihre hohe Protektion angedeihen zu lassen« habe. Diese erwarteten die Heuerlinge freilich nicht mehr so demütig wie die Spinner in Enger, sondern klagten sie ein als Untertanen, die »so gut wie jeder andere bei eintretender Gefahr Leben und Gesundheit dem Staate widmen müssen, und wie die Geschichte beweiset willig und mit eiserner Treue gewidmet haben«.

Trotz dieses in der Militärpflicht wohlbegründeten Appells, als Staatsbürger ernstgenommen zu werden, behandelten die Behörden die Heuerlinge ausschließlich als Objekt der Verwaltung. Über deren Köpfe hinweg verhandelten sie monatelang mit den bäuerlichen Gemeindevertretern von Schildesche über eine Reduzierung der Kommunalsteuer der Heuerlinge oder deren teilweise Freistellung davon. Diese gleichsam konspirativen Verhandlungen - die Eingaben der Heuerlinge zeigen bis zuletzt keine Kenntnis dieser Vorgänge - waren jedoch erfolglos. Die Bauern hielten hartnäckig daran fest, Erleichterungen erst dann zuzugestehen, wenn der Staat die Heuerlinge von der Klassensteuer befreie, wohl aus dem Kalkül heraus, daß die so steuerlich entlasteten Heuerlinge dann weniger aus der kommunalen Armenkasse fordern könnten 95 . Als der OP den - im Krisenjahr 1846! - so lange hingehaltenen Heuerlingen mit dem Bescheid im November 1846 die »UnWillfährigkeit der Gemeindeversammlung« eröffnete, steigerte sich deren Enttäuschung zur scharf formulierten Wut, die einen sonst nicht artikulierten Haß auf die Bauern erkennen läßt. In der Petition vom Januar 1847 an den OP - die sechste Eingabe in dieser Angelegenheit und allein schon wegen dieser Hartnäckigkeit ein politisches Dokument - geißelte Redeker die »Eigenliebe«, »Herzlosigkeit«, »feindseligste« bzw. »himmelschreiende Härte« der Bauern und schreckte nicht davor zurück, diese zum ersten Mal direkt anzugreifen, nicht nur über sie zu klagen. Dem OP schlug er ein Mittel vor, wodurch »die Begüterten . . . zu dem eigenen Bekenntnisse ihrer Herzlosigkeit gefuhrt werden müssen«, nämlich ihre eidliche Vernehmung darüber, wie sie die neuen Grundsteuern und steigenden Kommunalsteuern durch Mieterhöhungen auf die Heuerlinge abgewälzt hätten. Mit dieser Anklage und der wiederholten Bitte um ein »Einschreiten« der 312

Behörden zur »Linderung« der Lage der Heuerlinge endete diese Auseinandersetzung. In ihr erreichte eine größere Gruppe von Heuerlingen wahrscheinlich ein Maximum an Artikulationsfähigkeit. Überdeutlich zeichneten sie den kaum mehr versöhnbaren Gegensatz zu den Bauern und erwarteten von diesen offenbar auch keine individuelle Hilfe mehr. Insofern dokumentieren diese Eingaben den Zerfall des patriarchalischen Heuerlingssystems. Die Forderung nach einer eigenen Gemeindevertretung war in diesem Zusammenhang folgerichtig, im zeitgenössischen Kontext freilich »utopisch«. Dennoch haben sich die Heuerlinge nicht von dem patriarchalischen Gedanken gelöst, sondern diesen verstärkt auf den Staat projiziert. Je heftiger die Bauern angegriffen wurden, desto »flehentlicher« wurde die Obrigkeit um Schutz und Fürsorge angerufen, wie in der Petition vom 1. März an den OP: »Der barmherzige grundgütige Gott erleuchte doch unsere Vorgesetzten, und lasse sie den Weg zu unserem Heile in der kürzesten Zeit finden, damit wir nicht alle jämmerlich zugrunde gehen, und die Stunde, welche uns geboren werden ließ, verwünschen müssen. Seine Euer Exzellenz, unsere Zuflucht, unser Vater, strecken Sie, wir bitten ehrfurchtsvoll und flehentlich, Ihre schützende Hand über uns aus und lassen Sie Billigkeit und Recht bei dieser unserer Lebensfrage zu Ihrem milden Herzen sprechen.«

Diese Passage zeigt auch, aus welchen Quellen sich das Selbstbewußtsein und die Fixierung auf den patriarchalischen Staat speiste: einmal aus den biblischen Vorstellungen über Gerechtigkeit, daß der Heller des Armen mehr gelte als das Gold des Reichen, und der Verantwortung der Obrigkeit vor Gott. Wie mehrere Verweise auf Bibelstellen zeigen, formulierte der Heuerling Redeker seine Eingaben gleichsam neben der aufgeschlagenen Schrift. Mit keinem Wort deutet er eine Bekanntschaft mit der Sprache der vormärzlichen Demokratie und des Sozialismus an, während gerade sein Pathos die biblische Schulung verrät. Das verweist auf die zweite Quelle: die pietistische Erweckungsbewegung in Minden-Ravensberg, in der die Unterschichten die Bibel lesen und in den Kategorien einer religiösen Sozialethik ihre Umwelt thematisieren lernten. Auf diesem spezifischen Weg des mühsamen Aufbruchs aus der Inferiorität schirmten sie sich -natürlich unter tatkräftiger Nachhilfe der Pastoren - auch ab von den bürgerlichen Demokraten und Sozialisten, die gerade in der Mitte der 1840er Jahre im Bielefelder Raum großes, aber vergebliches Aufsehen erregten 96 . Es mag auffallen, daß in der bisherigen Interpretation der Eingaben der Heuerlinge noch nicht die Rede war von der Selbstdarstellung ihres Verhältnisses zu den Kaufleuten. Aber: Obwohl sie auch ihre gedrückte Lage als Spinner und Weber darstellten und sogar erwähnten, daß die Spinner »nicht mehr bestehen« könnten, weil »meistenteils nur Maschinengarn« verwebt werde 97 , fiel kein Wort über die Kaufleute und deren Einfluß auf die ländliche Gesellschaft, der gerade in der Durchsetzung des Maschinengarns einen 313

tiefen und folgenreichen Bruch mit der gewerblichen Tradition bewirkte. Vielleicht war dies nur ein Versehen, da es ja um die Verteilung der Kommunalsteuern und das Verhältnis zwischen Heuerlingen und Bauern ging. Es läßt sich jedoch annehmen, daß dies ein systematisches Versehen war, begründet in der doppelt konstituierten Lage der Heuerlinge als agrarische und gewerbliche Produzenten. Hält man nämlich neben die bisher dargestellten Petitionen der Heuerlinge aus den Bauerschaften Altenschildesche und Braake eine etwa gleichzeitige Eingabe der Heuerlinge aus der benachbarten Bauerschaft Theesen, die wie jene zur politischen Gemeinde Schildesche gehörte, dann stellt man verblüfft fest: Während alle diese Heuerlinge wohl die gleiche Lage teilten, enthielt die Petition aus Theesen überhaupt keine Angriffe auf die Bauern, wohl aber eine Polemik gegen die Kaufleute. Zunächst gründet das sicherlich im unterschiedlichen Anlaß. Die Petition aus Theesen vom März 1847 - flüssig und regelmäßig geschrieben, so daß der Schreiber wohl nicht aus der Unterschicht stammte, aber versehen mit 73 Unterschriften - richtete an den OP die »gnädigste Bitte«, den Bau einer Maschinenspinnerei in Bielefeld zu verhindern 98 . Zwar verwiesen auch die Heuerlinge aus Theesen auf die Land- und Wohnungsnot, die steigenden Pachten, Mieten und Brennholzpreise bei stagnierenden Heuerlingslöhnen; im Vordergrund stand aber die Befürchtung ihrer »Vernichtung« als Handspinner durch die geplante Maschinenspinnerei. Entsprechend wiesen sie Argumente der Kaufleute für eine solche Fabrik als »bodenlose Behauptungen« zurück. Es gäbe weder einen echten Garnmangel noch eine Preis- und Absatzkrise, die die Fabrikproduktion nötig machen würden. Diese im Rückblick allerdings zweifelhaften bzw. falschen ökonomischen Argumente waren für die Heuerlinge freilich aus sozialen Gründen einsichtig genug, weil sie beobachten konnten, daß die Kaufleute unter der Krise des protoindustriellen Gewerbes erst spät und viel weniger litten. Ihr Leitbild eines »christlichen und genügsamen« Kaufmanns - auch diese Petition atmet eine religiöse Bildung - wurde zusätzlich irritiert durch den großen und angeblich schnellen Reichtum von Kaufleuten. Werde das Testament eines Kaufmanns eröffnet, dann höre man: »Dieser ist achtzigtausend, jener hunderttausend und darüber reich gewesen, der doch meistens nur mit einem kleinen Kapitale angefangen; ja dann wird man gewahr, wo unsere saueren Schweißtropfen gesammelt und aufgespeichert sind.«

Das Bewußtsein der Ausbeutung durch Kaufleute trieb nun die Heuerlinge zurück ausgerechnet in die Arme der Bauern. Sie forderten den gewissermaßen konservativen Ausweg aus der Krise, die Einrichtung von Flachsund Garnmagazinen zur handwerksmäßigen Verbesserung des alten Gewerbes und für die Unabhängigkeit der Spinner und Weber. Treuherzig beriefen sie sich dabei auf die Bauern:

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»Zur Aufbewahrung jenes Flachses würden sich, glauben wir, gewiß unsere(!) Colonatsbesitzer aus dem Grunde leicht verstehen, weil sie bei der Sache interessiert sind, und es gern sehen, wenn sich unser Wohlstand hebt, nur muß dies nicht aufihre Rechnung geschehen(ü) und auf diese Weise brauchten keine kostbaren Vorratshäuser gebaut zu werden.«

Neben den Petitionen aus Altenschildesche und Braake erscheint diese Auslassung aus Theesen zunächst als pure Hilflosigkeit, wobei sich die Beteuerung, daß die Lage der Heuerlinge nicht auf Rechnung der Bauern verbessert werden dürfe, wie ein demütiges Echo auf die Auseinandersetzung in jenen Gemeinden liest. Sie spiegelt aber die gewissermaßen objektiv aporetisch gewordene Doppelexistenz des Heuerlings wider. Wie einer, der zu schnell durch eine Drehtür will, landete er bei allen Anstrengungen wieder am Ausgangspunkt. Die Bauern verwiesen ihn an den Kaufmann und dieser verwies auf die Landnot und den Verfall des traditionellen Gewerbes. In dieser ausweglosen Lage gewannen die Hauptmerkmale des Klassenbewußtseins der ländlichen Unterschicht durchaus eine situationsspezifische Rationalität: Die konservative Abwehr von Lasten und risikoreichen Neuerungen im Bündnis mit einem patriarchalischen Staat, weil man sich zu Bürgern und Bauern, den Trägern des Fortschritts, in tiefen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Gegensätzen wußte. Diese Erwartungshaltung gegenüber dem Staat gründete einerseits in der Tradition, der Tatsache und Legende patrimonialer Sozialpolitik der preußischen Monarchen; sie knüpfte andererseits aber auch an die konservativen Elemente in einer Staatsverwaltung an, die zwar wirtschaftsliberale Reformen in Gang gesetzt hatte, aber soziale und politische Folgen dieser Reformen durch eine antiliberale Politik zu zügeln suchte. Dazu gehörte die Repression ebenso wie eine freilich unzureichend bleibende staatliche Unterstützung in den »Notständen« 9 9 . Insbesondere aber war für die Unterschichten im Glauben an den »gerechten« König auch die Idee einer Gesellschaft aufgehoben, in der ein auskömmliches Leben der Kleinbauern, Heuerlinge usw. wirtschafts- und sozialpolitisch gesichert war. Diese Mentalität wurde nicht zuletzt durch die Vorstellung eines »christlichen Königs« bzw. »christlichen Staates« religiös überhöht und durch die pietistischen Bewegungen in den Unterschichten, daneben auch in der protestantischen Staatskirche, im Adel und bei Hofe politisch wirksam gemacht 100 . Durch einzelne Taten fand der Königsglaube stets neue Gewißheit und strahlte auf die Loyalität zur höheren Beamtenschaft aus, die anders als die niedere dem unmittelbaren Gesichtskreis entrückt war. Staat und Unterschichten standen so in einer scheinbar paradoxen Verbindung: Die antirevolutionäre Gesinnung, die jener erwartete, war diesen ein Unterpfand für ihre sozialkonservativen Forderungen. Diese schon vor 1848 ausgebildete Konstellation war in der Revolution wahrscheinlich ein Rettungsanker des alten Staates. 315

Die Emanzipation der ländlichen Unterschichten, scheint es, hatte einen weniger »unbewußten, flucht- und aufbruchartigen« Charakter 101 als das ein Vergleich mit der Emanzipation der Arbeiterschaft durch die organisierte Arbeiterbewegung oder gar mit idealtypischen Konstrukten eines revolutionären Klassenbewußtseins zunächst nahelegt. Zweifellos fehlte den ländlichen Unterschichten eine selbstorganisierte »Bewegung«. Die Möglichkeit der Organisation wurde durch die Vereinzelung in der Familienwirtschaft und die vielfältig parzellierten Abhängigkeiten, die gerade in Krisenzeiten durch Neid und Konkurrenz auch solidaritätszerstörende Haltungen entbanden, ungemein erschwert und zudem schien das Vertrauen auf den Staat sie obsolet zu machen. Darin unterschied sich das defensive und konservative Klassenbewußtsein der besitzlosen Klasse auf dem Land sicherlich am stärksten vom Arbeiterbewußtsein, viel weniger aber im Bewußtsein des Gegensatzes zu den besitzenden Klassen und in einem Grundmotiv der Arbeiterbewegung seit 1848: dem Verlangen nach »Gerechtigkeit« bzw. nach sozialer Anerkennung der Ansprüche auch der »niedersten Volksclasse« 102 .

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IX. Pauperismus und Armutserfahrungen im 18. Jahrhundert und im Vormärz In dieser Untersuchung wurde öfters, aber relativ pauschal auf die Armut und Verarmung bestimmter sozialer Gruppen, insbesondere der Unterschichten, hingewiesen. »Armut« meinte dabei und meint auch im folgenden die materielle Notdurft, nicht nur die relative, spezifisch ständische Armut infolge der Unterschreitung einer »angemessenen« Lebenshaltung. Nur flir die größeren Bauern war dies noch der entscheidende Einbruch. So beschwerten sich 1831 die bäuerlichen Besitzer mit mehr als drei (!) Pferden in der Gemeinde Exter (Kr. Herford) über die Bezahlung von Landwehrpferden, da ihre eigenen Pferde als untauglich ausgemustert worden waren. Sie fühlten sich mit den verschiedenen Steuern und nach den Mißernten um 1830, in der sie nur soviel Getreide geerntet hatten, »als die eigene Consumption erfordert«, so überlastet, »daß wir kaum noch soviel erwerben können, um unser Leben zu fristen«. Der Notschrei um »Schutz und Hilfe« durch den Oberpräsidenten entsprang in Wahrheit freilich der Befürchtung sozialer Depossedierung. Den Schutz glaubten sie um so eher fordern zu können, als sie Vincke wissen ließen, es könne angesichts all ihrer Steuerleistungen nicht die »Absicht eines Hohen Gouvernements« sein, »daß wir unsere Pferde abschaffen, unsere Äcker durch Kühe bestellen, und aus der Reihe des Mittel-Bauernstandes ausscheiden sollen«1. Für die Kleinbauern, die zu wenig Land besaßen, um selbst bei normalen Ernten daraus den Unterhalt der Familien zu gewinnen, und erst recht für die besitzlosen Unterschichten dagegen war Armut zwar auch ein sozialer Abstieg, da sie das Eingeständnis von Hilfsbedürftigkeit, also Unselbständigkeit, bedeutete; zugleich aber bedeutete sie unmittelbare Not, jene Grauzone »zwischen Mangel und Entbehrung hier und annähernder Unter- oder Überschreitung des physischen Existenzminimums dort« 2 . Dieser Pauperismus, die dauernde Armut von vielen, wurde im Horizont der Aufklärung und des ökonomischen Liberalismus zu einem gesellschaftlichen Skandal. Die besonders seit den 1830er Jahren sich intensivierende literarische Debatte über die Massenarmut zeugt nicht nur von einer erhöhten Sensibilität gegenüber der Armut, weil mit den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Reformen die Hoffnung auf deren Überwindung verknüpft war, sondern enthält auch schon Zweifel und Kritik an dieser Hoffnung. Insbesondere die Frage nach den Ursachen der Armut zog die Auseinandersetzung über die politische Legitimität des ökonomischen Liberalis317

mus nach sich 3 . Obwohl die literarische Debatte hauptsächlich zwischen den politischen Gruppen der bürgerlichen Öffentlichkeit ausgetragen wurde, blieben die Unterschichten, die Betroffenen, nicht stumm. Sie intervenierten durch die Tat, den gewalttätigen Protest wie 1844 in Schlesien und lösten dadurch eine Revolutionsangst aus, die zunehmend die Diskussion über den Pauperismus und die »soziale Frage« grundierte 4 . Häufiger noch und direkter griffen sie jenseits der Öffentlichkeit die Probleme der Armut auf, nämlich in Petitionen und Forderungen an die staatliche Verwaltung. Die im Stil sehr »untertänigen« Eingaben lassen - wie das Beispiel der Heuerlinge aus Ravensberg im letzten Kapitel zeigte - dennoch ein Lagebewußtsein erkennen, das die Armut nicht schicksalhaft hinnahm, auch wenn das defensiv-konservative Klassenbewußtsein von einem politisch revolutionären Willen weit entfernt war. Haben sich darin neben den Veränderungen in den Beziehungen zwischen den sozialen Klassen, die in den letzten beiden Kapiteln dargestellt wurden, auch spezifische Erfahrungen des Armseins niedergeschlagen? Was bedeutete die physische Notdurft im 18. und 19. Jahrhundert für die verschiedenen Gruppen der Unterschichten? Diese Fragen folgen aus der Überlegung, daß Armut nicht nur ein quantitativer Mangel, sondern immer auch eine »qualitative« Erfahrung des Mangels ist. Antworten darauf sollen im folgenden versucht werden, indem nach dem Einfluß der Proto-Industrialisierung auf den Pauperismus und nach Unterschieden zwischen der Armut in Minden-Ravensberg und im Paderborner Land gefragt wird. Zuvor empfiehlt sich jedoch ein Blick auf die Schwierigkeiten, die Armut festzustellen.

1. Armut und methodische Probleme mit der Armut Das elementarste Lebensproblem der Unterschichten verweist nicht selten den Historiker in seine Grenzen. Die oben zitierte Definition der Not in der Grauzone des Existenzminimums bedeutet das Eingeständnis schieren Nichtwissens, wovon und wie die Menschen nun eigentlich lebten und überlebten, wenn man sich an Budgetkalkulationen hält, die meist ein Defizit anzeigen. Dies räumte auch ein Zeitgenosse ein, der für sich eine hinreichende Beobachtung und Kompetenz beanspruchen kann. Der Rentmeister Fischer fügte 1809 seinem Versuch, Einkommen und Ausgaben einer Heuerlingsfamilie zu bilanzieren das Geständnis hinzu, »daß ich, obgleich ich über 30 Jahre das savoir faire der Heuerlinge studiert habe, doch mit Gewißheit nicht berechnen kann, wie sie durchs Leben kommen« 5 . Der Historiker kann hier ex post kaum klüger sein. So sehr die Statistik ein unerläßliches Erkenntnisinstrument für die Geschichte sozialer Gruppen ist, so sehr versagt sie im Bereich der Lebenshaltungsforschung vorindustrieller Unterschichten, selbst wenn mehr und bessere Daten überliefert wären, als 318

dies fur das Untersuchungsgebiet zutrifft. Gerade die geringen Unterschiede im Niveau des materiellen Lebens der Unterschichten werfen nicht nur unlösbare Probleme der Meßgenauigkeit auf; der graduelle Unterschied eines Index kann auch qualitative Brüche verwischen. Der Schritt von der Dürftigkeit des Lebens von der Hand in den Mund zur Armut bezeichnet nicht nur ein Mehr oder Weniger. Er zog Folgen nach sich wie Krankheiten und soziale Scham, die nicht meßbar sind, aber wesentliche Elemente des Lebens der Armen waren; oder er vollzog sich in einem veränderten gesellschaftlichen Rahmen, so daß die Differenz nicht einen Unterschied im Standard, sondern in der Lebensweise ausmacht 6 . Die hier gewählte Konzentration auf qualitative Dimensionen der Armut ist auch eine methodisch notgedrungene Beschränkung. Die wichtigsten Angaben, die zur Konstruktion eines »Warenkorbes« und zur Berechnung eines Index der Lebenshaltung nötig wären, fehlen nämlich. Die Roggenpreise als Bedarfsindikator sind unzulänglich, da Gemüse und Kartoffeln ein gruppenspezifisch in unbekanntem Maße variierender Bestandteil des Speisezettels waren. Selbst wenn es gelänge, das Nahrungstableau und die Preise der Lebensmittel zu eruieren, bliebe der Umstand noch ungeklärt, in welchem Ausmaß die Nahrung entweder auf einer eigenen Parzelle oder auf Pachtland gewonnen wurde. Deren Umfang und Kosten als entscheidendes Kriterium der Lebenshaltung ist aber nicht mit der notwendigen Genauigkeit festzustellen. Vollends unmöglich ist eine Rekonstruktion der Einkommen neben der (möglichen) agrarischen Selbstversorgung. Nicht einmal Schätzungen der Einkommen aus handwerklicher Arbeit, aus dem Spinnen und Weben sind in einer Weise möglich, die ein realistisches Ergebnis ergeben würden. Die Preise für Garn und Leinen selbst und die Herstellungskosten für Flachs bzw. Garn sind entweder unbekannt oder zu grob. Auch punktuelle zeitgenössische Berechnungen dieser Faktoren müssen noch mit Annahmen hantieren7. Aber selbst diese ungewöhnlich genauen Kalkulationen erlauben noch kein Bild der Einkommensentwicklung, da zeitlich vergleichbare Berechnungen fehlen. Dagegen fuhren freihändig ausgeführte Schätzungen, wie Hermann v. Laer's Konstruktion eines Index des Realeinkommens der Spinner in Minden-Ravensberg 8 , leicht zu unwahrscheinlichen Ergebnissen. Der so verdienstvolle wie kühne Versuch, mit Hilfe der Roggenpreise, der unsicheren Daten für Flachs und Garn, die nur einen Trend klar widerspiegeln, und mit den typischen zeitgenössischen Berichten über »ungünstige« und »günstige« Preise, über »Stockungen« und »Erholungen« im Handel (über das unterschiedliche Preisniveau der verschiedenen Garnsorten hinweg) die Entwicklung des realen Einkommens der Spinner zu bestimmen, führte zu dem Ergebnis, daß in den 1840er Jahren das Einkommen nurmehr halb so groß war wie um 1800. Die Plausibilität, welche die Bewegung des Index suggeriert - durchgehend niedrigere Einkommen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegenüber den Jahren um 1800, relativ günstige Phasen in 319

der Mitte der 1820er und 1830er Jahre, in denen der Index 80 bis 90 gegenüber 100 um 1800 erreicht - , ist jedoch täuschend. Denn wenn selbst in den Jahren günstiger Konjunktur »die Weber selten, die Spinner aber fast niemals etwas erübrigten, sondern immer im Drucke sich befanden« oder bestenfalls »gerade ihr Unterhalt gesichert« war 9 , dann wäre ein Rückgang der Einkommen um die Hälfte letal gewesen. Das war jedoch, ungeachtet einer leicht erhöhten Sterblichkeit in Teuerungsjahren, nicht der Fall. Die tödliche Unterkonsumtion wurde - sicherlich auf einem äußerst kümmerlichen Niveau - durch nicht meßbare Einkommen verhindert: durch Gelegenheitsarbeit, Wanderarbeit, Almosen aus der Armenunterstützung und Bettelei und nicht zuletzt durch Diebstahl. Die Armut, die gerade noch das Leben gewährte, wurde dadurch nicht geringer. Denn dieses Leben war ständig beherrscht von Hunger und Unsicherheit. Angesichts eines solchen Zustandes scheitert das historische Wissen, das von denjenigen überliefert ist, die selbst nicht hungerten. Es bedeutet schon einiges, diese Grenze sich bewußt zu halten. Oder wie Bitter schrieb: »Fragt man, wodurch diese elende Bevölkerung ihr kümmerliches Dasein fristet, wovon sie sich ernährt, so lautet die Antwort: >Durch das Spinnrad.* Fragt man jedoch weiter, was eine solche Familie auf diese Weise verdient, so bleibt die Antwort freilich aus. Indes die Tatsache steht fest, die Bevölkerung lebt, sie verhungert nicht; sie hungert zwar, aber sie lebt, und wenngleich schlechte Ernährung, Krankheiten, Mangel, eine große Zahl aus ihrer Mitte unvermerkt hinwegfuhren in die stille Ruhe des Grabes, im großen und ganzen ist aber eine Hungersnot mit ihren weiteren traurigen Gefolgen nicht vorhanden. « 1 0

Gleichwohl: Wenn auch das Ausmaß und der Grad der Verarmung als Prozeß quantitativ nicht genau bestimmbar ist, so bleibt doch die Annahme gerechtfertigt, daß die strukturelle und konjunkturelle Entwicklung im agrarischen und gewerblichen Bereich zu einer schleichenden, in den 1840er Jahren sich zuspitzenden und unabhängig von Mißernten und Teuerungen anhaltenden sozialen Verbreiterung der Armut und, auf der Basis der allmählichen Aufzehrung der Einkommensgrundlagen und beschleunigt durch die Teuerungen, zu einer Verschärfung des Grades der Armut gefuhrt hat. Das spiegelt selbst ein so knapper Indikator wie die Zahl der armutshalber von der Klassensteuer befreiten Personen wider. Sie waren nur die Ärmsten der Armen, die aus öffentlichen Armenmitteln unterstützten und gleichsam offiziös anerkannten Armen. Die Zahl dieser Personen samt ihrer Angehörigen ist in Tabelle 24 (S. 321) dokumentiert. Im Rgbz. Minden hat sich die Zahl dieser Armen in den beiden Jahrzehnten zwischen 1830 und 1850 jeweils knapp verdoppelt, während sie in den anderen Teilen Westfalens weniger stark stieg oder sogar rückläufig war. Das bestätigt die besondere Rolle der Krise der ländlichen Textilindustrie im vormärzlichen Pauperismus, wie sie die Berichte der Verwaltung und die Pauperismusliteratur betonen. Zum erstenmal, veranlaßt durch die Teuerung des Getreides infol320

ge einer durch Dürre bewirkten schlechten Ernte berichtete die Mindener Regierung im Dezember 1842 über »Verarmung und augenblickliche Not« der Heuerlinge in Minden-Ravensberg, dem sich nicht aufhörende VariatioTab. 24: Zahl der von der Klassensteuer befreiten Personen und ihrer Angehörigen in der Provinz Westfalen, 1830-185011 Jahr

Rgbz. Minden

Rgbz. Münster

Rgbz. Arnsberg

1830 1840 1846 1847 1848 1850

7407 13548 19339 23768 25414 25248

18418 12791

11740 14518

7

?

?

?

?

? 19096

10167

nen über die »steigende Not«, die »Erwerbslosigkeit« und nicht ausreichende Hilfsmaßnahmen in den Zeitungsberichten der ganzen 1840er Jahre anschlossen12.

2. Pauperismus und Proto-Industrialisierung Die Zuspitzung der Armut in den 1840er Jahren als ein Produkt der Konjunktur ergibt jedoch ein unvollständiges Bild, wenn man nach dem historischen Ort des vormärzlichen Pauperismus, nach seinen strukturellen Ursachen und den damit verknüpften historischen Erfahrungen der Massenarmut fragt. Die literarisch sich artikulierenden Zeitgenossen haben sie überwiegend als ein neuartiges Phänomen erfahren - als kollektive, chronische Armut trotz angestrengtester Arbeit im Gegensatz zur individuellen, temporären Not infolge natürlicher Übel - , das primär in der »Übervölkerung« und sekundär in den Agrarreformen und der Krise der ländlichen Industrie wurzele. Im Kern folgen dieser Deutung auch noch neuere Untersuchungen zum Pauperismus. In Negation der älteren sozialistischen und der im orthodoxen Marxismus noch fortlebenden Deutung der Massenarmut als einer Erscheinung der Proletarisierung im frühen Industriekapitalismus und somit als einer Vorform der »Arbeiterfrage« nach 1850 wird ihr Übergangscharakter betont, sei es als eine eher mental begründete »Emanzipationskrise«, sei es als malthusianisches Dilemma, da das Bevölkerungswachstum dem ökonomischen Wachstum vorausgelaufen sei13. Trotz wichtiger Einsichten bleibt eine Einseitigkeit dieser Interpretationen, daß sie das Ausmaß und Gewicht der Armut vor 1800 eher unterschätzen, den institutionellen Reformakten - besonders im Hinblick auf die Bevölkerungsvermehrung eine zu hohe Bedeutung beimessen und die soziale Integration des »unterständischen Pöbels« in die ständische Gesellschaft wohl überschätzen14. Mit 321

jenen Akzentuierungen in den Ursachen des Pauperismus stehen sie ungewollt noch dem romantischen Bild der vorindustriellen sozialen Balance und »behaglichen Existenz« eines »rechtschaffenen und geruhigen Lebens in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit« nahe, das Engels zeichnete15, um den ökonomischen Liberalismus zu entlegitimieren, wobei dessen Kontrast zwischen Einst und Jetzt wohl auch die politische Erfahrung und Wahrnehmung derjenigen bürgerlichen Gruppen spiegelt, die nicht zum vormärzlichen Sozialismus gehörten. Dagegen enthält Wilhelm Abels Verortung des Pauperismus als >Auswuchs< der seit dem späten Mittelalter anwachsenden »Spannung zwischen Bevölkerung und Nahrungsspielraum«, die sich infolge eines geringen ökonomischen Wachstums und institutionellen Hindernissen fur ein solches, in fast periodisch wiederkehrenden Teuerungen und Hungersnöten entlud, sicherlich ein realistischeres Bild der vorindustriellen Lebensweise. Seine monumentale Synopse über »Massenarmut und Hungerkrisen« dokumentiert die historische Erfahrung des »einfachen Volkes«, dessen Geschichte »aufweite Strecken hin eine Geschichte der Armut und des Hungers war«. Das Wirkungsgeflecht der »Krisen des alten Typs«: die durch Mißernten induzierte Verknappung und Verteuerung der Lebensmittel, die infolge der inelastischen Nachfrage nach diesen bewirkte schwindende Nachfrage nach gewerblichen Gütern und damit auch einem Rückgang gewerblicher Einkommen, sowie die Folgen dieser Krisen, Krankheiten und erhöhte Sterblichkeit, trafen alle sozialen Schichten und Gruppen, die kein genügend großes Vermögen bzw. Besitztum hatten, also Kleinbauern ebenso wie Landlose, Handwerker in Stadt und Land und auch die kleinen Beamten und Angestellten. Statt ein Phänomen des Übergangs ist danach der Pauperismus das Endprodukt einer kumulativ wachsenden Systemkrise der Agrargesellschaft16. Es scheint jedoch, daß mit einer solchen säkularen Bestimmung wichtige differenzierende Elemente der Armut eher verdeckt werden, die wahrscheinlich seit dem 18. Jahrhundert den Pauperismus als chronische Massenarmut erst auf Dauer gestellt haben. Auch wenn die agrarischen Faktoren, die Landarmut und der Erntezyklus nichts von ihrer Wirksamkeit verloren haben, hat die proto-industrielle Entwicklung die Armut in ihrem Charakter, ihrem gruppenspezifischen Ausmaß und in ihren Ursachen in wichtigen Hinsichten modifiziert. In einem großen Aufriß der Probleme der Armut und der Armenpolitik im Rahmen der »Polizei-Wissenschaft« von 1760 stieß Justi, von Süßmilch angeregt, auf die »Pest der Manufakturen und Fabriken«, welche die herkömmliche Armenversorgung in Hospitälern, Stiftungen usw. durch die plötzliche und massenhafte Vermehrung der Armen überfordere: »Allein es ereignen sich nicht selten außerordentlich betrübte Zeitläufte, in welchen sich die Anzahl der Armen auf einmal auf eine unglaubliche Art vermehret. Eine

322

große Menge Menschen im Staate leben lediglich aus der Hand in den Mund, ohne daß sie imstande sind, auf künftige N o t - oder Unglücksfälle etwas zurückzulegen, oder sie unterlassen solches aus Mangel guter Wirtschaft. Dieses ereignet sich in Sonderheit bei den Manufaktur- und Fabriken-Arbeitern, deren Lohn gemeiniglich sehr genau zugeschnitten ist. Wenn nun eine starke Teuerung einreißet; wenn der Krieg die Commercien und dem Absatz der Manufactur- und Fabriken-Waren hemmet, folglich eine Menge Arbeiter außer Arbeit gesetzet werden; wenn sich epidemische Krankheiten ereignen, welche diese Leute eine Zeitlang außerstande setzen, zu arbeiten; so entstehen auf einmal eine große Menge elender und mitleidenswürdiger Armer, die sich in den allerbetrübtesten Umständen befinden.« 1 7

Obschon Justi hier an die städtischen Manufakturarbeiter dachte, können seine Ausführungen auch auf die Verhältnisse in der ländlichen Industrie übertragen werden. Die Proto-Industrialisierung hat mit ihren spezifischen demoökonomischen Wachstumsmechanismen soziale Gruppen entstehen und anwachsen lassen, die in einer anderen Art und aus anderen Anlässen der Armut ausgesetzt waren als die landarmen Kleinbauern und Handwerker. Die mit der Ausweitung der überregionalen Warenmärkte wachsende Nachfrage nach gewerblicher Arbeitskraft hat einerseits die in der bäuerlichen Gesellschaft mit der Koppelung von Besitz und Erbschaft eingebauten sozialen Wachstumskontrollen der Bevölkerungsentwicklung ausgehöhlt; andrerseits aber hat die familienwirtschaftliche Verwertung der Arbeitskraft unter marginalen Subsistenzbedingungen (d.h. die Vermehrung der Arbeitskräfte zur Steigerung des familialen Gesamteinkommens, nicht zur Steigerung des Einkommens je Arbeitskraft) ein »demographisches Treibhaus« (R. Schofield) geschaffen, das, solange das ökonomische Wachstum vorwiegend ein arbeitsextensives war, »die marginalen Subsistenzbedingungen der Produzenten bei gegebener Nachfrage nach Arbeitskraft konservierte und eine dauerhafte Ausweitung des Nahrungsspielraumes ebenso ausschloß wie ein Ansteigen der Reallöhne«18. Damit entstand eine besitzlose Gruppe, die selbst unter Bedingungen einer halb agrarischen, halb gewerblichen Basis ihrer Subsistenz - wie die Heuerlinge in Minden-Ravensberg - nur von der Verwertung ihrer Arbeitskraft lebte. Allein die bloße Zunahme dieser besitzlosen Bevölkerung begründete schon den Pauperismus, wie ein sächsischer Fabrikant schrieb: «Das numerische Übergewicht der Mittellosen über die Besitzenden tritt immer augenfälliger hervor und verleitet dadurch zu der Verwechslung, welche so häufig zwischen Massenarmut und Massenverarmung gemacht zu werden pflegt. Die Massenarmut ist allerdings vorhanden, aber sie ist nicht die Folge der Verarmung, sondern die Folge des wachsenden Nationalreichtums, welcher die Ernährung und Erhaltung der Millionen neu Hinzugekommener möglich macht.« 1 9

Der »wachsende Nationalreichtum« bestand jedoch unter den gegebenen Produktionsverhältnissen nur in der abstrakten Bilanz und dem Reichtum einiger Kaufleute. »Von unten« gesehen, hatte der »Nationalreichtum« die 323

»Nationalarmut« zur Voraussetzung, wie der preußische Statistiker Leopold Krug 1805 bemerkte: »Wenn aber auch die Freiheit der Concurrenz bei denen, die Arbeiter, und bei denen, die Arbeit suchen, nur ein solches Lohn bewirken kann, daß diese Menschen, so lange sie gesund und kraftvoll sind, genau vor dem Hungertode gesichert sind, so ist dies das sicherste Zeichen der Nationalarmut, deren Dasein durch einige reiche Privatpersonen nicht widerlegt oder zweifelhaft gemacht werden kann. « 20

Die Gruppen der proto-industriellen Produzenten waren also von einer strukturell andauernden Armut geschlagen, die sie bei klassischen agrarischen Teuerungskrisen besonders gefährdete. Andrerseits jedoch hat die Proto-Industrialisierung die »Krisen >alten Typs< gewissermaßen mediatisiert«: Der Fernabsatz war gegen die regionalen Wirkungszusammenhänge der agrarischen Krisen immun, so daß die gewerblichen Einkommen gerade in Zeiten des Ernteausfalls die demographischen Krisenfolgen abschwächte 21 . Die positive Modifikation der vorkapitalistischen Krisen war aber wohl nicht die historisch signifikante Wirkung der Proto-Industrialisierung auf die soziale Lage der Unterschichten. Mächtiger wirkten die »neuen Risiken«, die die internationalen Märkte stifteten: Die Konkurrenz der verschiedenen Produktionsregionen um diese Märkte, politische Veränderungen, Kriege und die Zollpolitiken, die den Absatz Schwankungen unterwarfen und die Preise herunterdrückten, wobei auch schon »endogene«, aus der profitorientierten Kaufpolitik des Handelskapitals entspringende Faktoren (spekulative Käufe, riskante Kreditmanöver) wirksam wurden 2 2 . Alle diese »Übelstände im ewigen Wechsel« haben nach einem scharfen Kritiker der Hausindustrie mit den daraus folgenden »Schwankungen des Verdienstes«, unterstützt durch den »Leichtsinn und die Ungebundenheit« der Produzenten, nur bewirkt, »daß in einem günstigen Jahre ohne alle Sorge um die Zukunft drauf losgelebt, gebaut und geheiratet wird und bei erster Geschäftsstockung und Kartoffelteuerung wieder der greulichste Notruf durch das Land erschallt«. Nur wenig übertrieben ist daher auch das Fazit, das mit fast ununterbrochenen, beinahe schon habituellen Klagen auch aus anderen Regionen seitenfullend illustriert werden könnte: »Wie also auch die Zeiten sein mögen, fur die meisten Zweige der gebirgischen Hausindustrie (in Sachsen, J. M.) sind sie allemal schlecht. « 23 Proto-Industrialisierung machte infolge der Marktabhängigkeit das Leben »künstlicher«, wie es ein Zeitgenosse bezeichnete, da es »vielleicht wohlfeiler« sei, das »Brotkorn auf einem Acker (zu ziehen), der tausend Meilen weg jenseits des Meeres liegt,. . . aber nicht so sicher, als wenn man solches auf einem Acker zieht, welcher einem vor der Haustüre liegt« 24 . Der Grad der Krisenanfälligkeit und Unsicherheit wurde durch spezifische natürlich bedingte Krisen noch gesteigert. Im Leinengewerbe schmälerten schlechte Flachsernten die Arbeitseinkommen beträchtlich. Vor allem aber lösten Ausfälle bei Kartoffelernten in dem Maße schwere Subsistenzkrisen 324

aus, wie diese Pflanze zu einem der wichtigsten Nahrungsmittel wurde. Der Kartoffelstandard, selbst schon ein Zeichen der Armut, war um so gefährdeter, als die Kartoffel gegenüber Krankheiten, insbesondere der Kartoffelfäule, anfällig war und unter den schlechten Lagerbedingungen im Winter leichter verdarb als Getreide. Zwar konnte die Kartoffel auch Getreidemißernten kompensieren, wie es zumindest lokal bis zu einem gewissen Grade 1805/6 und 1817 der Fall war; öfters jedoch erfaßten Miß wuchs und schlechte Witterung Getreide und Kartoffel gleichzeitig oder Krankheiten die Kartoffel besonders 25 . Die durchschlagende Wirkung der Teuerungskrisen in den 1840er Jahren gründete besonders im Ausfall des Kartoffelnotankers neben und vor Getreidemißernten. 1843 verdarb anhaltender Regen die Kartoffeln, 1845 reduzierte die gesamteuropäisch verbreitete Kartoffelfaule, die in Irland eine apokalyptische Hungersnot ausbrechen ließ, im Rgbz. Minden den Ertrag auf die Hälfte einer mittelmäßigen Ernte, 1846 gerieten Roggen und Kartoffeln wieder schlecht und erst 1847 unterbrachen ausreichende Ernten den »Notstand, wie er seit Menschengedenken unerhört war«, der im Winter 1846/47 die Preise für Roggen und Kartoffeln auf das Zwei- bis Dreifache des normalen Niveaus ansteigen ließ und die Armen im Frühjahr 1847, vor der Ernte, zwang, die »hervorsproßenden Gräser« als Gemüse zu essen26. Auch wenn natürliche und agrarische Krisenfaktoren noch nicht außer Kraft gesetzt, ja noch spezifisch verschärft wurden, lassen die Modifikationen an der malthusianischen Erklärung des Pauperismus eine Akzentverschiebung über den historischen Ort der Massenarmut im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert zu. Die ziemlich dauerhafte Armut spezifisch gewerblicher, immer zahlreicher werdender Gruppen und die Provokation akuten Elends durch Handelskrisen im Kontext interregionaler und -nationaler Konkurrenz verflüssigen Abels strenge Negation eines Zusammenhangs zwischen Pauperismus und frühkapitalistischer Entwicklung oder legen zumindest Differenzierungen nahe, vor allem für den vormärzlichen Pauperismus. Nicht überall, aber doch in den vielen hausindustriellen Regionen war dieser nicht mehr nur ein Phänomen des zu Ende gehenden Agrarzeitalters, aber auch keine bloße Erscheinung des »Übergangs«. Seine historisch konkrete Gestalt gewann er in der Systemkonkurrenz und Systemkrise der Proto-Industrie infolge der zunehmenden internationalen Konkurrenz mit der frühen fabrikindustriellen Produktion und den Wirkungen der Agrarstrukturreformen, deren sozialökonomisches Substrat das gleiche wie das der Fabrikindustrialisierung war: die wirtschaftsliberale bzw. kapitalistische Entwicklung. In der Perspektive a quo sah dies so aus: »Das beschleunigte demographische Wachstum und der Umbau der Agrarstrukturen trafen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf ein sozioökonomisches Gesamtsystem, das an der Grenze seiner Aufnahmefähigkeit angelangt war und das die Subsistenz der es tragenden Bevölkerung nicht mehr gewährleisten konnte. Mit der Proto-Industrie fiel dasjenige Teilstück 325

des Produktionsapparats in Agonie, das bisher den größten Teil des ländlichen Bevölkerungsüberschusses aufgenommen hatte.« In der Perspektive ad quem war die hausindustrielle Familienwirtschaft in der Systemkonkurrenz trotz zäher Askese und Billigproduktion der »Gewalt des ungeheueren Reallokationsprozesses«, den die kapitalistische Fabrikindustrialisierung darstellte, unterlegen, die sie schließlich in verändertem Zusammenhang noch ihren Verwertungsinteressen unterordnete. »Das Industriesystem forderte seinen ersten Tribut. «27

3. Armut in Minden-Ravensberg und im Paderborner Land Die bisher nur recht allgemein skizzierten sozialökonomischen Differenzierungen im malthusianischen Konzept des Pauperismus wären forschungsstrategisch im Rahmen regional und schichtenspezifisch vergleichender Untersuchungen über Ursachen, Anlässe, Erscheinungsweisen und Dauer der Armut zu konkretisieren und zu überprüfen. Das kann hier nur näherungsweise erfolgen durch einen Vergleich der Armut in Minden-Ravensberg und dem Paderborner Gebiet, der schwerpunktmäßig auch ein solcher zwischen den Besitzlosen und Kleinbauern ist. Die dabei zugrundegelegten Indikatoren der Armut sind qualitativer Art: Die Anlässe akuter Not, das Niveau der Lebenshaltung, die zeitliche Entwicklung des Pauperismus und die dabei wirksamen sozialen Mechanismen sowie schließlich die politische Dimension der Verarmung, d. h. die in ihre Erfahrung eingehenden gesellschaftlichen Probleme und Spannungen. Die Unterschiede in der Armut zwischen den beiden ökonomisch verschieden verfaßten Regionen treten nicht ohne weiteres ins Blickfeld. Die strukturelle agrarische Disposition für akute Armut bei Mißernten, die überwiegend kleinbäuerliche Besitzstruktur, war sowohl in Minden-Ravensberg wie in Paderborn schon im 18. Jahrhundert gegeben. Entgegen der politisch motivierten zeitgenössischen Kritik des »armen« geistlichen Staates gegenüber der »reichen« preußischen Provinz waren beide gleich anfällig für die agrarischen Teuerungskrisen in den Jahren um 1800. In Paderborn mußten deswegen in den 1790er Jahren die Steuern nachgelassen werden und in den noch schärferen Mißernten im ersten Jahrfünft des neuen Jahrhunderts mußte aus den grundherrlichen »Heuerböden«, d.h. den naturalen Abgaben der Bauern, Getreide verkauft werden, um eine »Hungersnot« zu verhindern. 1816 konnte eine Getreidezufuhr im Amt Boke (Kr. Büren) Hunger nicht verhindern 28 . 1829/31 und in den Mißernten der 1840er Jahre war es kaum anders, wenngleich in diesem Jahrzehnt die Not in Minden-Ravensberg alles überschattete. In Minden-Ravensberg wurden trotz einer im ganzen günstigen Konjunktur für Garn und Leinen um 1800 Hungersnöte nur durch Zufuhr von Getreide verhindert. Die Not war 326

wahrscheinlich größer, als die KDK Minden eingestand. Die drängenden Zeitungsberichte der Amtmänner stimmen skeptisch gegen die optimistische Einschätzung des Kammerpräsidenten v. Stein, daß der hohe Standard der Landwirtschaft selbst in schlechten Jahren einen nur geringen Unterschied zwischen »Bedarf und Gewinn« zur Folge habe. Die Kammer hat neben den Umständen, daß noch Getreide vorhanden war und die Preise nicht ganz so hoch wie in anderen Regionen standen, die Zahlungsunfähigkeit der Unterschichten übersehen. So hat der Magistrat von Lübbecke gegenüber der Zurechtweisung der KDK, sich nicht aufzuregen, im Mai 1795 seine Befürchtung einer Hungersnot damit begründet, »daß Not und Mangel entstehen wird unter gemeinen Heuerleuten und Tagelöhnern, auch vielen Professionisten, wenngleich Korn für Geld zu haben ist, indem das Garn nicht abgeht und diese Menschenklasse unmöglich soviel verdienen kann, daß sie ihr Brotkorn mit drei Rt oder auch nur mit zwei Rt zwölf g. Gr. für den Berliner Scheffel bezahlen kann«29.

Am größten war die Not wahrscheinlich 1806/07, als infolge eines nassen Winters die Kartoffeln verdarben und so der letzte Schutz gegen den absoluten Mangel ausfiel, während gleichzeitig der Garn- und Leinenhandel wieder darnieder lag und die Flachspreise so hoch waren, daß die Spinner sie nicht bezahlen konnten. Im Amt Schildesche fehlte den Heuerlingen schon um die Jahres wende 1805/06 und nicht wie sonst erst in den letzten Monaten vor der neuen Ernte Brotgetreide und Geld. Von 823 Heuerlingen der Gemeinde Schildesche mußten 122 durch eine unentgeltliche Verteilung von Holz wenigstens vor der Kälte geschützt werden. Im Amt Ravensberg (späterer Kr. Halle) hat nur ein »unbeschreiblicher Geldmangel« ein weiteres Steigen der Kornpreise verhindert, während der Handel in einer für den Amtmann undurchschaubaren Weise fluktuierte: »Nur das läßt sich mit Zuverlässigkeit behaupten, daß der Spinner und Weber sein Brot auf keine Weise verdienen könne. «30 Es war ein Stück Verklärung der >guten alten Zeit< und Zeugnis für ein ungenaues und kurzes Gedächtnis, wenn 1832 ein Gerichtsbeamter im Protokoll einer Konferenz über die Lage der Heuerlinge notierte, daß wegen der höheren Garn- und Leinenpreise die Teuerung des Getreides im Jahre 1805 »spurlos vorübergegangen« sei, während nun infolge der gesunkenen Preise besonders für Garn schon eine geringfügige Steigerung der Lebensmittelpreise die höchste Not hervortreibe 31 . Zweifellos hat die Scherenbewegung zwischen diesen Preisen, zusätzlich jedoch die Serie schlechter Ernten seit 1828 und insbesondere der Ausfall im Jahre 1830 - als im ganzen Rgbz. Minden nur die Hälfte des Roggenbedarfs geerntet wurde, auch die Kartoffelernte nur mittelmäßig war, so daß bis dahin offenbar unerhörte Unterstützungsaktionen nötig waren 32 - das materielle Leben der Unterschichten bis zur völligen Mittel- und Hilflosigkeit verschärft. Das zeigt eine Gegenüberstellung der in »gewöhnlichen« und den Teuerungsjahren 1830/31 aus 327

Armenmitteln unterstützten Heuerlings- und Neubauernfamilien mit weniger als drei Mg Grundbesitz in dem gewerbedichten Teil des Rgbz. Minden. Etwas Vergleichbares aus dem kleinbäuerlich-handwerklich strukturierten Paderborner Gebiet ist leider nicht überliefert, da die Aufmerksamkeit der Verwaltung sich zunehmend und fast ausschließlich auf den Pauperismus in den Spinner- und Webergegenden konzentrierte (vgl. Tabelle 25). Obgleich die Zahlen immer noch nicht das tatsächliche Ausmaß der Armut abbilden, da nicht alle Bedürftigen unterstützt werden konnten - was manche lokale Differenzen zum Teil erklärt - , so verdeutlichen sie doch die verheerende Wirkung einer Teuerungskrise auf das »unnatürliche (!) ländliche Proletariat« der Spinner, das, wie Bitter schrieb, spätestens »seit dem Jahre 1820 in der großen Mehrzahl sich eben nur in Sorgen und Not bewegt hat, da es kaum imstande gewesen, selbst bei guten Garnpreisen durch angestrengten Fleiß soviel zu erübrigen, als der augenblickliche Lebensbedarf erforderte« 33 . Der Zusammenbruch der »normalen« Reproduktionsfähigkeit von fast der Hälfte derjenigen Unterschichtenbevölkerung, die sich wie in Minden, Bünde, Herford und Wiedenbrück vorwiegend vom Spinnen des groben Garns »nährte« konnte nur so groß sein, weil schon die Normalität von dauerhafter Armut gekennzeichnet war. Damit waren die Spinner, aber auch viele Weber unabhängig von agrarischen Teuerungskrisen durch Handelskrisen gefährdet. Selbst über die Weber, von denen in den Berichten anläßlich akuter Notstände im allgemeinen überliefert wird, daß ihre Lage noch relativ günstiger als die der Spinner sei, schrieb 1850 die HK Bielefeld: »Bei der hier üblichen Fabrikations weise erhält der Fabrikant den Arbeitslohn im Verkaufspreis seiner Ware ersetzt. O b er mehr erhält, wie den kostenden Preis, hängt lediglich von der Konjunktur ab. Jedoch ist man zu der Annahme berechtigt, daß bei

Tab. 25: Zahl der Heuerlings- und Neubauernfamilien in Minden-Ravensberg 1830 und Anteil der in »gewöhnlichen« und den Teuerungsjahren 1830/31 aus Armenmittel unterstützten Familien 34 Kreis bzw. Gerichtsbezirk

Zahl der Familien abs. %

Minden Lübbecke Bünde Herford Bielefeld Halle Wiedenbrück Delbrück

3679 3282 5834 2653 4540 3767 3586 1431

328

100 100 100 100 100 100 100 100

Davon wurden unterstützt: In »gewöhnli1830/31 chenjahren« abs. % abs. % 550 374 781 189 333 335 705 196

15 11 13 7 14 9 20 14

1977 689 2525 1080 1223 996 1710 635

54 21 43 41 27 26 48 44

groben Leinen der Weber nur bei sehr günstiger Konjunktur mehr wie einfachen Arbeitslohn, in gewöhnlichen Zeiten nur diesen und bei wohlfeilen Preisen denselben kaum ersetzt erhält. Das muß man wenigstens daraus schließen, daß der größte Teil derer, die grobe Leinen weben, arm sind.« N u r bei den - wenigen - Webern feiner Sorten sei es anders 3 5 .

Das spiegelt sich in den Chroniken der Industriedörfer Schildesche und Heepen. Fast Jahr fur Jahr berichten sie von Klagen der Leineweber über schlechte Preise oder über den so schlechten Gang des Leinenhandels, »daß die Leinenweber nicht dabei bestehen können«, auch und besonders in den 1820er Jahren, in denen die niedrigen Getreidepreise einerseits und die Erholung des Leinenhandels von dem Rückgang seit der Kontinentalsperre andrerseits eine günstigere Situation hätten erwarten lassen 36 . Neben den Produktpreisen haben schlechte Flachsernten mit ihren Folgen für die Preise von Flachs und Garn und deren Qualität die Einkommen gedrückt, wobei das Kaufsystem zwischen Spinnern und Webern Disproportionen zwischen Angebot und Nachfrage noch verschärfte 37 . Das Zusammentreffen niedriger Garnpreise mit einer schlechten Flachsernte hat auch in Jahren, in denen keine große Teuerung erfolgte, die Spinner in Notlagen gestürzt, welche die Beamten alarmierten. So hat 1789 der Ausbruch der Französischen Revolution den Garnexport unterbrochen, was einen Preisfall von 14—16 Stück/Rt auf22-24 Stück/Rt Moltgarn nach sich zog. Da gleichzeitig der Leinenhandel kurzfristig stockte, verhandelten der Bielefelder Magistrat und die Kaufmannschaft mit der K D K Minden über kompensierende staatliche Aufkäufe. Dabei schilderte der Magistrat die Lage der Spinner so: »Wenn nun hierbei noch erwogen wird, daß die Spinner den Flachs in diesem Jahr bekanntlich mehr teuer als wohlfeil kaufen und das daraus gesponnene Garn in dem niedrigsten Preise wieder verkaufen müssen, so ist die Lage der Spinner - bei der Teuerung des Brotkorns - anjetzt unstreitig bejammerungswürdig. « 3 8

Die 1789 nicht einmal starke Teuerung des Getreides hat die Krise offenbar verstärkt, ähnlich wie um 1820, als die niedrigen Garnpreise als Anlaß des »nur zu sehr begründeten« Notstands der Heuerlinge 39 in Ravensberg Landräte, Pfarrer und Kaufleute zu einer Konferenz zusammenführte. Aber über die aktuellen Anlässe der A r m u t - welche die gleichen waren wie 1789— hinaus, wurden ausfuhrlich die strukturellen und dauerhaften Ursachen verhandelt: Die Abhängigkeit vom Spinnen als »einzigsten Erwerb« der kleinbäuerlichen Heuerlinge, die Ausbeutung der Heuerlinge durch die Bauern, die Kommerzialisierung der lokalen Märkte und der vom Trucksystem durchsetzte Handel. Sie mußten feststellen, daß infolge des großen Ausmaßes der Armut traditionelle Hilfsmaßnahmen wie die Verteilung von Geld, Lebensmitteln und Flachs nicht mehr ausreichten, daß sie aber für eine »wirkliche Verbesserung« nutzlos verpuffen würden, andrerseits Rettungsmaßnahmen wie in Hungerszeiten noch nicht nötig seien 40 . Damit war das politische Problem des Pauperismus angeschlagen: Die Wirkungslosigkeit 329

der traditionellen Unterstützungspolitik, die gleichwohl und in immer größerem Umfang von den Armen erwartet und gefordert, aber auch angewendet wurde, um die politische Loyalität nicht zu gefährden 41 . 1820 begnügte sich die Verwaltung noch mit dem Vertrauen auf den privaten und kommunalen Mutualismus: »Not haben Tausende und werden sie behalten«, schrieb der Herforder Landrat, »aber auch ohne besondere Aufforderung gibt doch jeder Bemitteltere dem Ärmeren.« Symptomatisch für die Haltung der Beamten scheint zu dieser Zeit eine Mischung aus ungläubigem Staunen über die von ihnen festgestellte dauerhafte, durch die sozialökonomischen Strukturen immer wieder reproduzierte Armut, abwartender Distanz und hilfloser Erwartung einer noch schrecklicheren Zukunft. Der Landrat des Kr. Halle, dem »Stillstand, Lähmung, Tod (in allem Verkehr) beinahe unerklärlich« war, hoffte dennoch auf eine Aufhellung des »mit dicken Wolken getrübten Himmels . . ., oder die Geschichte selbst müßte zur Lüge werden. - Nur das wie? - Wann? Steht in tiefem Dunkel gehüllt«42. Andere wollten sich nicht so leicht auf die Wiederkehr der biblischen sieben fetten Jahre nach den mageren verlassen. Die Teilnehmer der Konferenz schlugen der Mindener Regierung eine genaue statistische Aufnahme der Lebensverhältnisse der Heuerlinge vor, die offensichtlich nicht einmal im Ansatz weiter verfolgt wurde, während sie gleichzeitig übereinstimmend bei einem Fortdauern der schlechten Konjunktur den »gänzlichen Ruin des hier (in Ravensberg, J. M.) bei weitem den größten Teil der Eingesessenen bildenden Heuerlingsstandes für gewiß und unvermeidlich« hielten43. Es wirft ein düsteres Licht auf das Ausmaß und den Grad der konjunkturell beeinflußten Armut, wenn man berücksichtigt, daß der starke und anhaltende Preisverfall für Garn erst nach 1820 einsetzte. Worin bestand nun die Armut der pauperisierten Unterschicht und worin unterschied sie sich von derjenigen der Kleinbauern? Es ist riskant, einen solchen Unterschied zu betonen angesichts der generellen Dürftigkeit der Lebensumstände, die sich in kleinen und schlechten Wohnungen mit nur dem notwendigsten Mobiliar und der »Pflanzennahrung« dokumentiert, einem Niveau der Lebenshaltung, das im 18. Jahrhundert nur die größeren Bauern, begünstigt durch die agrarische Konjunktur und die indirekten Einkommenseffekte aus der Proto-Industrialisierung hinter sich gelassen haben 44 . Besonders die Ernährung, zweifellos das wichtigste Element des materiellen Lebens, war auf den ersten Blick zwischen den verschiedenen Schichten kaum unterschieden. Der säkulare Trend seit dem späten Mittelalter, die Abnahme des Fleischkonsums zugunsten der Ernährung mit Getreideprodukten und Gemüse hat auch weite Teile der bäuerlichen Bevölkerung erfaßt. Übereinstimmend werden als »Hauptnahrungsmittel des Landmanns« »Mehlspeisen . . ., Eierkuchen, Pumpernickel, Kartoffeln, Rüben, Möhren, große Bohnen, Erbsen und Kohl« beschrieben45. Unterschiede in diesem Speisezettel entstanden erst in der Zubereitung und Menge dieser Speisen, die unter den gegebenen Umständen das Kriterium für eine gute 330

oder schlechte Ernährung waren. Fast alles Gemüse werde mit Speck gekocht, berichtet ein Ravensberger Arzt, »und wenn es die Umstände erlauben, so fett wie möglich; denn dies ist für (den Landmann) die größte Delikatesse. Frisches Fleisch genießt er fast gar nicht, außer bei gewissen Feierlichkeiten«. Geschmack war dabei »ein ganz überflüssiges Ding . . . er ist zufrieden, wenn er nur fühlt, daß sein Magen voll ist« 46 . Über die Umstände, die eine fettreiche N a h r u n g erlaubten, entschied aber die Viehhaltung. Der Besitz einer Milchkuh war jedoch bei den Heuerlingen nicht mehr so verbreitet wie bei den Kleinbauern, besonders dann, wenn diese umfangreiche Gemeinheiten nutzen konnten. Allenfalls saisonal, wenn nämlich im Winter wegen Futtermangels die Milchleistung der Kühe versiegte, traf die letzteren, was für viele Besitzlose schon im 18. Jahrhundert ein Dauerzustand war: »Hat (der Kleinbauer) keine Butter, so ißt er Speck zu seinen Kartoffeln, und ist auch der aufgezehrt, so würgt er sie mit trockenem Brode. « 47 Bezeichnenderweise haben die Paderborner Bauern einen anhaltenden Verlust jenes Fett-Standards in der Krise der 1820/30er Jahre, als sie infolge des Geldmangels entweder das Vieh verkaufen bzw. nicht neu anschaffen konnten oder - wie es die Heuerlinge in Minden-Ravensberg üblicherweise taten - Milch und Butter verkaufen 4 8 und sich mit der typischen Armenspeise begnügen mußten, als soziale Degradierung erfahren, wie ihr Vertreter auf dem Landtag in einer Polemik gegen die Städter erkennen läßt: »In den Städten der große Reichtum, auf dem Lande Armut. Der Reiche kitzelt seinen Gaumen mit allerlei, besonders mit Fleisch. Der Nichtreiche speiset statt dessen vom Brotbaum das angenehme Manna, welches die Erdäpfel vulgo Kartoffeln sind: Kartoffeln des Morgens, Kartoffeln des Mittags, Kartoffeln des Abends, und trinkt dabei ein Surrogat, das ist Korn- und Zichorienkaffee, wobei er gesund ist, wenn er nur vergnügt sein könnte. Er muß Wasser trinken, weil er die Gerste zur Heuer liefern muß - Bier, ja Bier, danach kann er nur seufzen. « 49

Damit wird auch einsehbar, daß bei gleichen Elementen der N a h r u n g durch deren schlechtere Zubereitung und zunehmende Eintönigkeit mit dem wachsenden Anteil der Kartoffeln am Speisezettel sich doch schichtenspezifische Akzente des Lebensniveaus selbst innerhalb einer weitverbreiteten Dürftigkeit - gemessen am bäuerlichen und bürgerlichen Standard herausbildeten. U m 1800 färbten sie noch auf die verschiedenen Gruppen der Heuerlinge ab: »Wenn sie Brot und Kartoffeln haben, sind sie reich Milch und Butter k o m m t nur an die Reichen und Beneideten - am beneidenswürdigsten ist diejenige Familie, die ein halbfettes Ferkel einschlachtet.« 5 0 Aber die Kartoffeln, die, wenn möglich, gerieben und mit Mehl, Butter und Schmalz zu einem »häßlichen Gefräß« verarbeitet wurden, n ä m lich zum westfälischen Pickert (womit die Heuerlinge die westfälische K ü che bereicherten) 51 , wurden in immer ausschließlicherer und schlechterer Form das Hauptelement der Ernährung der besitzlosen Unterschichten. Diese »Armen- und Notkost«, ergänzt durch Kaffee-Ersatz und Branntwein 331

war die ernährungsphysiologische Signatur des Pauperismus, die bezeichnenderweise am deutlichsten in den ländlichen Gebieten mit einem hohen Anteil von Besitzlosen, seien es hausindustrielle oder landwirtschaftliche Arbeiter, hervortritt 52 . Die schwindenden Einkommen aus gewerblicher Arbeit, die steigenden Preise für Brotkorn und Pachtland, die schwindende Viehhaltung nach den Markenteilungen haben in Minden-Ravensberg den Ernährungsstandard der Heuerlinge gegenüber dem 18. Jahrhundert auf ungefettetes Gemüse, für viele auf bloße Kartoffeln und Salz gesenkt, und selbst dieses Niveau mußte nicht selten durch Hungern unterboten werden 5 3 . In der Tendenz ähnlich, aber schwächer ausgeprägt, schwankte die Nahrung der Landarbeiter im Paderbornischen um diesen Standard, da ihre Einkommen aus der Landarbeit kaum oder nur wenig von der Konjunktur beeinflußt waren, während die Lage der Kleinbauern seit den späten 1830er Jahren nach der Reform der Ablösungsgesetzgebung sich langsam besserte, wobei schlechte Ernten wie 1842 sie doch wieder auf den Kartoffelstandard drückten. Aber während die Landarbeiter in solchen Jahren selbst an Kartoffeln Mangel litten, hatten die Bauern noch solche, so daß nur auffällig war, »daß selbst Bauern meist nur Kartoffeln genossen« 54 . Sonst war es also offenbar nicht selbstverständlich. In den Teilen Minden-Ravensbergs dagegen, wo die Heuerlinge sich durch Grobspinnerei »ernähren« mußten, waren sie nach einem Bericht von 1840 durch die dauernde Kartoffelnahrung so geschwächt, daß sie »kaum zwei Tage starke Arbeit mit den gewöhnlichen Tagelöhnern (auf den großen Gütern, deren Lage noch besser war, J. M.) auszuhalten vermögen« 55 . Die Differenzen zwischen der kleinbäuerlichen Armut und dem Pauperismus der besitzlosen Klasse werden vielleicht noch deutlicher, wenn man über das Niveau des materiellen Lebens hinaus, das sich bei Teuerungskrisen bis zur UnUnterscheidbarkeit angleichen konnte, die prozessualen Mechanismen der Verarmung und deren sozialen Kontext betrachtet. Es mag auch in der unzureichenden Quellenbasis und der mangelnden Aufmerksamkeit der staatlichen Verwaltung gründen, daß, von den Jahren der Teuerung abgesehen, in den überlieferten Berichten zwei verschiedene zeitliche Schwerpunkte in der regionalspezifischen Verbreitung und Intensität der Armut hervortreten: Grob gesprochen steht das Jahrzehnt zwischen 1825 und 1835 im Zeichen der Armut der Kleinbauern im Paderbornischen, dem sich dann den Quellen zufolge seit etwa 1840 die Ära des Elends der Heuerlinge, Spinner und Weber im proto-industriell durchsetzten Ravensberg und im Kr. Wiedenbrück anschließt. Dieser Befund entspricht, wenn man ihn als Spiegelbild der konjunkturellen Verarmung liest, durchaus der phasenverschobenen und gegenläufigen Entwicklung des agrarischen und gewerblichen Sektors. Seit den späten 1830er Jahren stiegen die Getreidepreise, während bei den Garn- und Leinenpreisen ein starker Rückgang einsetzte. Wichtiger und für den jeweiligen Charakter der Armut bedeutender scheint 332

jedoch, daß den jeweiligen Konjunkturen strukturelle politische und soziale Prozesse unterlagen, die gleichsam den Resonanzboden der konjunkturellen Verarmung darstellten und so die Armut zur Krise verschärften. Typisch für die Notlage im Paderbornischen sind Berichte wie der folgende des Amtmanns von Brakel im April 1830: Die prompte Steuerzahlung falle den Menschen schwer; »ihre spärliche und schlecht gewonnene Ernte reichte im allgemeinen nicht für ihre eigenen Bedürfnisse hin, und doch war durch Entbehrung behufs Bestreitung der drängendsten Abgaben die empfindlichste Anstrengung nötig, wodurch jetzt alle Hilfsquellen erschöpft worden sind. Keine Kornvorräte, kein Gemüse, ohne Fourage, alles dies setzt die armen Leute wirklich in eine Art von Verzweiflung. Die Meisten konnten schon seit ein paar Jahren den Forderungen nicht mehr genügen, allein jetzt ist es noch viel schlimmer, denn selbst die größeren Ackerleute sind in Verlegenheit und müssen Exekutionen gegen sich vollstrecken lassen.« Für die geliehenen Gelder könnten sie kaum die Zinsen aufbringen 56 .

Die Schlüsselbegriffe dieser Berichte sind immer wieder: Steuern, Abgaben, Geldmangel, Schulden, Exekutionen einerseits und zu geringe Erträge aus dem Ackerbau andererseits. Die Prozesse gegen die Gutsherren und der Bauern untereinander haben die Lage noch zusätzlich verschlimmert. Der Justizapparat arbeitete empörend langsam, schwerfällig und verschlang dem Warburger Landrat zufolge mehr Gebühren, »als sonst . . . bei günstigeren Zeiten (d. h. vor der Säkularisation, J. M.) der Inbegriff aller Staatsabgaben betrug«; im Gerichtsbezirk Warburg würden im Durchschnitt jährlich 19000 Taler Gerichtskosten und Stempelgebühren fällig, die oft Pfändungen nötig machten. Bei ca. 22000 Einwohnern erfolgten ungefähr 5000 bloß gerichtliche Exekutionen 57 . Es liegt auf der Hand, daß sich in diesen Phänomenen der Verarmung die politisch verschärfte Krise der kleinbäuerlichen Wirtschaft spiegelt. Bei einer dürftigen Ertragslage und hohen grundherrlichen Abgaben wurde diese seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts durch die steigenden Steuern, Kriegslasten, die Folgekosten aus den Auseinandersetzungen um die Ablösung und die niedrigen Getreidepreise in einer Weise überlastet, daß der preußische Staat zu einer wesentlichen Modifikation der Ablösungsgesetzgebung gezwungen war. Dies und einzelne Beihilfen für die Bauern, finanzielle Erleichterungen in der Justizpflege 58 und die seit den 1830er Jahren steigenden Getreidepreise haben den Bauern aber eine leichte Erholung ermöglicht, die freilich noch stark der Ruhe nach dem Sturm glich. »Der Wohlstand nimmt gerade nicht ab«, schilderte der Direktor des LSG Warburg 1846 die Lage; allein die »günstigen Konjunkturen der Kornpreise« bewahrten vor dem Absturz in die Armut, von der man angesichts der vielfältigen Belastungen fürchtete, daß sie »größer werden müsse, als sie je gewesen«, wenn die Kornpreise fallen sollten59. Die betonte Sicherungsfunktion der Getreidepreise in einer kleinbäuerlichen Gegend ist allerdings auffällig, denn Kleinbauern hatten wenig zu verkaufen. Vermutlich nutzten 333

sie aber - ähnlich wie die Heuerlinge mit dem Verkauf von Butter und Eiern - auch mit dem Wenigen die Marktchancen, um ihre Wirtschaften zu konsolidieren. Noch der Ausweg aus dem Pauperismus stand notgedrungen im Zeichen einer harten Askese. Im proto-industriellen Minden-Ravensberg und im Kr. Wiedenbrück waren hingegen gerade die 1840er Jahre eine Zeit stetig abnehmenden »Wohlstandes«. Anders als in Paderborn machte sich hier auch erst in diesen Jahren die Verschuldungskrise der kleinbäuerlichen Wirtschaften bemerkbar. Die schwindenden gewerblichen Einkommen der Kleinbauern, noch mehr wahrscheinlich der Verfall der Heuerlingswirtschaften hat die Kleinbauern in den Strudel der Krise gezogen. Das »Zug- und Lastpferd«, das der Heuerling mit seinen Zahlungen für den Kleinbauern darstellte, brach mit der Krise der ländlichen Industrie zusammen. Diesen Zusammenhang, der besonders in der Senne wirksam war, hat schon Bitter aufgezeigt; er bleibt auch dann gültig, wenn man die Möglichkeiten der Kleinbauern zu agrarischen Verbesserungen gerade in dieser mit schlechtesten Böden ausgestatteten Gegend nicht überschätzt, wie Bitter es tut 60 . Sehr wahrscheinlich steckten die Kleinbauern, insbesondere diejenigen, die nur ein paar Mg besaßen, und nach ihrer Beschäftigung als Tagelöhner, Handwerker, Spinner und Weber eingestuft wurden, in den 1840er Jahren in einer ähnlich katastrophalen Lage wie die Paderborner Kleinbauern in den 1830er Jahren, was das Ausmaß der Verschuldung, den Geldmangel und die strukturelle Unfähigkeit zu ökonomischen Reformen betrifft. Viele von ihnen waren nach der Kartoffelmißernte von 1845 im Frühjahr des folgenden Jahres ohne Geld und Kredit zum Kauf von Saatkartoffeln, so daß die Mindener Regierung sich gezwungen sah, dafür Mittel bereitzustellen 61 . Die Kleinbauern vergrößerten in Minden-Ravensberg wie die Handwerker 62 , über deren Lage sich freilich wenig sagen läßt, in den 1840er Jahren das Heer der Armen und Unterstützungsbedürftigen. Das Ausmaß und die Ohnmacht gegenüber der Massenarmut in dieser Region veranschaulicht die Lage in dem Ackerstädtchen Werther (Kr. Halle). Hier konstituierte sich im Oktober 1848 ein »Verein zur Linderung der N o t der Spinner« mittels Verkauf von Flachs und Aufkauf des Garns. Bald mußte er jedoch den O P u m einen Zuschuß bitten, da durch Spenden nur 525 Rt aufgebracht werden konnten, während der Verein das Zehnfache dessen für nötig hielt. Die Forderung nach einem Zuschuß begründete er damit, daß Werther insgesamt 1972 Einwohner zähle, darunter 1022 »völlig verarmte« Feinspinner mit ihren Angehörigen, während andererseits nur 10 Familien ansässig seien, »welche schuldenfreie Besitzungen und einige Gelder haben« 63 . Das Ausmaß und die Hilflosigkeit gegenüber dieser Armut waren in Minden-Ravensberg durch die Teuerungskrise nur auf die Spitze getrieben worden. Beide waren Resultate eines langsameren, aber anhaltenden Prozesses der Verarmung, der gleich einer Spirale immer weitere Gruppen und Schichten erfaßte und gleichsam zwei Seiten hatte, eine exogene und endo334

gene, die sich wechselseitig verstärkten. Exogen wirkten die Strukturveränderungen und Konjunkturen: Das Wachstum der besitzlosen Unterschichten, insbesondere des Einliegerproletariats, dessen nachlassende Integration in das Funktionsgefuge der bäuerlichen Landwirtschaft, der Schwund der Viehwirtschaft infolge der Marktenteilungen einerseits, die strukturelle Verteuerung der gesamten Lebenshaltung bei abnehmender Selbstversorgung andrerseits, die bei den steigenden Preisen für Wohnung, Pachtland, Lebensmitteln ständig zunahm, während die gewerblichen Einkommen sanken, ohne daß die saisonale Wanderarbeit, die Arbeit bei der Eisenbahn oder in der Landwirtschaft ausreichenden Ersatz geschaffen hätte. Das Wirkungsgeflecht dieser Prozesse schuf immer wieder die Bedingungen für die endogenen Momente der Verarmung, deren Prozedur ein Zeitgenosse schon 1809 auf die Formel brachte: »Je mehrere Veranlassung zum Verarmen entstehen, desto größer muß die Armut werden.« 6 4 Diese Momente, vor allem Krankheiten, Schulden, Pfändungen des wenigen Vermögens haben bei einer Verbesserung von konjunkturellen Lagen sozusagen antizyklisch gewirkt und damit die Armut stabilisiert. Zugleich bildeten sie neben dem endemischen Mangel das Substrat spezifischer, auch sozial geprägter Erfahrungen der Armen. Mitten im konjunkturellen Aufschwung der Textilindustrie im späten 18. Jahrhundert schrieb der Pastor Schwager: »Gerät nun dem (Heuerling) der Flachs, bleibt er mit Krankheiten verschont, und sind seine Kinder fünf bis sechs Jahre alt, daß sie ihm spinnen helfen können, so kann er leben und selbst etwas erübrigen; stirbt ihm aber seine Kuh, seiner größter Reichtum, oder ist sein Weib zu fruchtbar, und liegt eins der Seinigen einige Zeit krank, so ist er ruiniert und er kann sich schwerlich wieder erholen. « 6 S

Die Heimsuchung durch Krankheiten erfolgte unter den üblichen Lebensbedingungen jedoch schnell. »Es war . . . kein Wunder«, schilderte der Arzt Consbruch die Wirkung des außergewöhnlich kalten Winters 1788/89, »daß sich vorzüglich unter den Armen die Krankheiten so sehr ausbreiteten«; die Ernährung durch erfrorene Kartoffeln und Rüben schwächte diese und die Kälte lähmte die Spinnerhände, so daß auch der gewerbliche Verdienst entfiel 66 . Die Anfälligkeit für Krankheiten ist im 19. Jahrhundert wohl kaum zurückgegangen. Die Verschlechterung der Nahrung und »feuchte, dumpfige Stuben, in denen die Menschen zusammengedrängt wie die Schafe vom frühen Morgen bis zum späten Abend rastlos arbeiten«, haben die Entstehung und Verbreitung von Krankheiten sicherlich erleichtert. Zeitgenössische Autoren haben, um das soziale Gewissen ihres Publikums zu rühren, grauenvolle Bilder des Siechtums aus Armut, Krankheit und Tod gezeichnet 67 . Statt ihrer sei eine längere Passage aus Hermann Lünings Darstellung der Spinner und Weber in Ravensberg von 1845 zitiert, die dieser ausdrücklich gegen Übertreibungen in Schutz nahm, welche aber vor allem die sozialen Sackgassen der 335

Krankheit und gewissermaßen die Karriere der Betroffenen anschaulich macht: »Kommt noch Krankheit hinzu - und das Nervenfieber, die herrschende Seuche unserer Gegend, ist vorzüglich in diesen dumpfen Hütten heimisch - dann treten Hilflosigkeit und Hunger in ihrer grausenhaften Gestalt auf, da jetzt auch der letzte geringe frühere Erwerb aufhört. U n d das Schlimmste ist, daß die rüstigeren, arbeitsfähigen Personen meistens zuerst vom Nervenfieber ergriffen werden; oft liegen auch ganze Familien auf einmal darnieder. Selten haben sie einen Notpfennig für solche Fälle erübrigen können, da sie, . . . nur mit genauer N o t und durch Überarbeiten von der Hand in den Mund leben. Die Nachbarn können ihnen gewöhnlich, auch mit dem besten Willen, nur wenig beistehen; auf Gemeindekosten wird ihnen freilich, wenn sie einmal in die Listen der Armen eingetragen sind, ärztliche Behandlung zuteil, aber welcher Arzt kann ein Rezept gegen Hunger verschreiben? - Dies wird ihnen besonders fühlbar, wenn sie in der Besserung begriffen sind; da dauert es denn lange Zeit, ehe sie wieder Kräfte zur Arbeit gewinnen. So geschieht es denn, daß selbst Familien, die früher in einigem Wohlstand lebten, d. h. die einige Betten und etwas Hausgerät besaßen, durch Krankheit gänzlich verarmen; sie müssen, um nicht zu verhungern, ihre geringe Habe verkaufen; wenn sie's selbst nicht tun, so tut's der Exekutor - und geraten so in eine Not, aus der sie sich bei ihrem geringen Verdienst nie wieder herausarbeiten können, bis sie dann zuletzt alt und schwach, kränklich oder verkrüppelt, ihren dürftigen Angehörigen zur Last fallen und deren N o t vermehren, oder von dem ihnen aus der Armenkasse gereichten Gnadenpfennig - leben, hätte ich fast gesagt - ihr kümmerliches Dasein bis zum frühen Grabe hinschleppen.« 68

Sicherlich sind solche Berichte durch sozialmedizinische und demographische Untersuchungen noch zu kontrollieren. In deren sozusagen härterer Optik mag sich ergeben, daß sich im 19. Jahrhundert der Zusammenhang von Wirtschafts- und Mortalitätskrisen gelockert hat oder nicht mehr vorhanden war, und ein medizinisch aufgeklärterer Blick wird allzu direkte und pauschale Verbindungslinien zwischen Armut, Krankheit und Tod berichtigen 69 . Der niederdrückende Zusammenhang zwischen Armut und Krankheit noch vor der Schwelle des Todes, der Verlust der Arbeitsfähigkeit, die Kosten für Medizin usw., wird damit jedoch nicht entkräftet. Er war auch ein Element in der Verstrickung in die endemische Verschuldung, die mit den sinkenden Einkommen proportional wuchs. Eine entsprechende Scherenbewegung hat der Direktor des LSG Bünde dokumentiert. Zwischen 1818und 1830 sanken in diesem Gerichtsbezirk die Preise für Moltgarn um knapp die Hälfte, während die Summe der hypothekarisch und gerichtlich angemeldeten Schulden sich mehr als verdoppelte. Damit hatte dieser Gerichtsbezirk mit einem hohen Anteil von Heuerlingen 1830 eine weit höhere Pro-Kopf-Verschuldung als der kleinbäuerliche Gerichtsbezirk Büren, in dem sich im gleichen Zeitraum die Summe der Schulden ebenfalls verdoppelte: 54,5 Taler gegenüber 19,6 Taler 70 . Darunter waren freilich auch bäuerliche Schulden, aber die exakt umgekehrt proportionale 336

Bewegung zwischen Garnpreisen und Schulden sowie das größere Ausmaß der Verschuldung als in dem kleinbäuerlichen Bezirk machen doch einen wesentlichen Anteil der besitzlosen Klasse an der steigenden Verschuldung wahrscheinlich. O b und wie die Heuerlinge aus diesen Schulden wieder herauskamen, ist dunkel. Es liegt zwar auch an der Art der Quellenüberlieferung, daß sich ein negatives Urteil aufdrängt, da die Rückzahlung meist stillschweigend erfolgte, während die Aufnahme der Schulden dokumentiert wurde. Es ist aber tatsächlich nicht leicht einzusehen, wie sie aus dem Zirkel von Armut und Verschuldung hätten ausbrechen sollen, wenn man die überlieferten Mittel der Geldbeschaffung und Schuldentilgung betrachtet. Diejenigen, die noch Vieh hatten, verkauften davon gewonnene Lebensmittel oder das Vieh selbst. Andere schlossen merkwürdige »Kaufverträge«, wie sie in der Rechtssprache hießen, mit ihren Bauern. Sie verkauften einen mehr oder weniger großen Teil ihres Mobiliars, ihre Werkzeuge, ja selbst Kleider und Lebensmittel an den Bauern, der ihnen gegen eine Miete ihre ehemalige Habe weiterhin zur Nutzung überließ. Dafür einige Beispiele aus den Gerichtsbezirken Herford und Bielefeld 71 : 1828 verkaufte der Heuerling Eickmeyer dem Colon Meise (Bauerschaft Radewig Nr. 22) für 26 Taler rückständige Pacht Möbel, Werkzeuge und zwei Ziegen. Die nächsten beiden Jahre sollte er noch das Nutzungsrecht für diese Gegenstände haben und der Bauer solange nicht über sie verfügen. Ebenfalls 1828 verkaufte der Heuerling Husemann dem Colon Siderdissen (Loccum Nr. 14), dem er 63 Taler für rückständige Mieten und Naturalien schuldete, Möbel, Werkzeuge und einen »Mannsrock« im Wert von vier Talern, also offenbar seinen Sonntagsanzug. Der Bauer dagegen hat ihm diese Gegenstände wieder »geliehen«, und zwar »aufunbestimmte, von dem Willen des Käufers abhängige Zeit«. Selbst zwischen Verwandten wurden solche Verträge geschlossen. 1844 verkaufte der Heuerling Christian Adolf Wesselmann an seinen Bruder, den Colon Franz Ludwig W. (Ebbesloh Nr. 3), bei dem er wohnte, schuldenhalber Hausrat und eine Kuh im Gesamtwert von 80 Talern. Gegen eine jährliche Miete von 4 Talern sollteer noch drei Jahre nutzungsberechtigt bleiben, falls er in diesem Zeitraum zugleich seine Schulden abtrage.

Es ist noch kein genügend abgesichertes Urteil über die Verbreitung und mögliche Zunahme solcher Verträge möglich, die in nicht unbedeutender Zahl in den vielbändigen »Akten der Freiwilligen Gerichtsbarkeit« versteckt liegen. Untypische Ausnahmen sind sie jedoch nicht. Nach Gülich traten um 1840 infolge der Unfähigkeit, die Mieten zu bezahlen, »immer häufiger« Pfändungen ein, die meist dahin führten, »daß dem Schuldner der notdürftige Hausbedarf verkauft« wurde. Aber auch schon 1820 führt der Bündener Landrat den Verkauf von Möbeln als ein übliches Mittel der Schuldentilgung an 72 . Jene Verträge stellten aber nichts anderes dar als ein Vorspiel zu den Pfändungen, denn es war wohl nur schwer möglich, jene Beträge zwischen 26 und 80 Talern zum Rückkauf des Vermögens zu verdienen, wenn nach 337

Schätzungen das Jahreseinkommen einer Heuerlingsfamilie in Minden-Ravensberg im Durchschnitt 54 Taler, ihr Bedarf aber 71 Taler betrug 73 . Vielleicht stellten diese Verträge, die gewöhnlich ein genaues Verzeichnis der verkauften Gegenstände und ihren jeweiligen Wert enthalten, sogar einen gewissen Schutz gegen willkürliche Pfändungen dar, da sie die Gegenstände definierten, die in den Besitz des Bauern übergehen sollten. Damit konnte immerhin verhindert werden, daß dieser eine Kuh pfändete, wenn der verschuldete Heuerling lieber seine Möbel weggegeben hätte. Ein solcher Konflikt scheint hinter der Beschwerde einer Heuerlingstochter zu stehen, daß ihr Bauer wegen rückständiger Mieten eigenmächtig ihre Kuh gepfändet habe. Dem Amtmann zufolge hat dieser jedoch den »Kauf« der Kuh nachweisen können, ohne freilich deutlich zu machen, worin dieser Beweis bestand 74 . Wie auch immer: Jene »Kaufverträge« dokumentieren eine tiefe Stufe des Abstiegs des ehemals selbständigen Heuerlings mit eigener Wirtschaft. Jetzt war er nicht mehr nur eine gebundene Arbeitskraft, sondern auch ein Arbeiter, dessen persönliches Eigentum in mehr oder weniger großem Ausmaß solange seinem »Herrn« gehörte, bis er es nach fast aussichtslosen Anstrengungen vielleicht wieder zurückkaufen konnte. Möglicherweise haben die Heuerlinge von Altenschildesche und Braake (Kr. Bielefeld) auch daran gedacht, als sie in einer Petition im März 1846 den Einwand zurückwiesen, der Heuerling brauche nicht ständig bei seinem Bauern zu arbeiten: »Mag dem aber auch so sein, der Heuerling arbeitet, opfert und muß opfern ohn Unterlüß, ohne jezeitige Ruhe seine ganze Kraft dem Begüterten. Wenn er nicht im Hause des Letzteren beschäftigt wird, und in seiner ihm überlassenen Hütte bleibt, so ändert er bloß den Platz, nicht den Herrn seiner Arbeit. « 7S

Der spannungsgeladene Hintergrund der »Kaufverträge« wird noch aus einem anderen Umstand deutlich. Möglicherweise verbreiteter, sicherlich jedoch konfliktreicher als diese waren die Schuldprozesse zwischen Bauern und Heuerlingen, die gerade in Krisenjahren zunahmen. Zwischen 1840 und 1848 vermehrten sich vor dem Bielefelder LSG die Schuldklagen von 2284 auf9272. Offenbar eskalierten in solchen Jahren der Grad der Verschuldung und die Unfähigkeit, Schulden zu tilgen, in der Weise, daß zur Abzahlung alter Schulden neue aufgenommen wurden, nun aber mit höheren Zinsen. Teuerungsjahre waren hohe Zeiten für den Geldhandel und Wucher, die jedoch - wie im Hinblick auf verschuldete Kleinbauern in der Herforder Gegend berichtet wird - , das »Übel nur greller als gewöhnlich hervortreten« ließen. An der zunehmenden Zahl der Schuldklagen waren auch die Bauern beteiligt, die »rücksichtslos« ihre Pacht- und Mietgelder einklagten 76 . Bemerkenswerte Unterschiede in der Prozeßhäufigkeit zeigt ein Vergleich der Zivilprozesse in den Gerichtsbezirken Bünde und Büren zwischen 1818 und 1830 (vgl. Tabelle 26, S. 339). Mehr als 80% dieser Zivilprozesse waren Schuldklagen über meist relativ 338

geringe Beträge unter 20 Rt, wenn man einer entsprechenden Aufschlüsselung für den ganzen Rgbz. folgt 77 . Anders, als man nach den Reden über die »Prozeßwut« der Paderborner Kleinbauern erwartet, war im Gerichtsbezirk Büren die Prozeßintensität deutlich geringer als im proto-industriellen Bezirk Bünde. Umgerechnet auf Pro-Kopf der Bevölkerung wurden 1830 in Bünde 0,35, in Büren dagegen nur 0,11 Prozesse gefuhrt. Ebenso gab es in letzterem Bezirk keine so deutliche Zunahme der Prozesse; ihre Zahl ist gegen 1830 nur leicht gestiegen, aber nur auf ein Niveau, das schon 1823 erreicht war. In Bünde dagegen nahmen die Prozesse fast kontinuierlich zu, bei einem leichten Rückgang 1825/26. Diese Jahre waren auffallenderweise auch die Jahre mit den besten Garnpreisen in den 1820er Jahren. Vor allem aber drängten sich mit der 1828 einsetzenden Krise (schlechte Ernten, fallende Garnpreise) die Kläger vor Gericht. Wahrscheinlich hing die zeitgenössische Überzeugung einer überdurchschnittlichen Prozeßhäufigkeit im Paderborner Land 78 auch mit dem vorherrschenden Bewußtsein über soziale Spannungen zusammen. Konflikte zwischen Gutsherren und Bauern waren unter dem Druck der Ablösungsproblematik geläufig, diejenigen zwischen Bauern und ländlichen Unterschichten dagegen weniger. Eine besondere Dimension der Verschuldung und der nachfolgenden Prozesse war die mit der Kommerzialisierung der lokalen Märkte einhergehende steigende Bedeutung der Geldwirtschaft. Die Armut wurde so auch zu einer Erscheinungsweise des Klassengegensatzes in der bäuerlichen Gesellschaft, der mit der Kommerzialisierung offener und tiefer wurde. 1865

Tab. 26: Verarmung, Verschuldung und Zivilprozesse in den Gerichtsbezirken Bünde und Büren, 1818-1830 79 Jahr

Garnpreise

1818 1819 1820 1821 1822 1823 1824 1825 1826 1827 1828 1829 1830

17 19 21 21 22 24 25 18 20 26 28-29 29 30

Bünde Verschuldung 610307

1363411

Prozesse 4787 4383 4663 5133 6002 6656 6349 5671 5422 6199 8066 8259 8769

Büren Verschuldung 166793

315931

Prozesse 1598 1518 1215 1209 1383 1707 1563 1556 1426 1291 1423 1313 1718

Garnpreise: Stück Moltgarn pro Rt Verschuldung: Hypothekarisch und gerichtlich angemeldete Schulden in Rt

339

schrieb der Herforder Landrat im Rückblick auf die »langdauernde Krisis« der proto-industriellen Spinnerei: »Diese Krisis, welche noch durch den vielfach ausgeübten Druck des sich bei den hohen Preisen u n d geringen Löhnen m e h r befestigenden Bauemstandes vermehrt wurde, hat schließlich zu einer vermehrten A u s w a n d e r u n g eines Teils der arbeitenden Klasse« geführt 8 0 .

Der Landrat schilderte nicht die Formen des bäuerlichen Drucks; gleichwohl bleibt sein Hinweis bemerkenswert. Daß noch rückblickend in einer offiziösen und dürren »statistischen Darstellung« von einem Beamten soziale Spannungen auf dem Lande erinnert werden, die abseits der >wichtigen< politischen Fronten lagen, ist auch ein impliziter Hinweis auf deren Ausmaß und Intensität. Sie äußerten sich vor 1848 infolge der starken sozialen Kontrolle kaum »offen«, etwa in Revolten zur Festsetzung von Preisen, sondern »verdeckt«, im Diebstahl von Holz und Lebensmitteln, im Versuch, den Gläubiger um sein Geld und den Kaufmann mit geschönten Produkten zu betrügen, aber auch in einer Frömmigkeit, die Recht und Würde des Armen einklagte. Armut bedeutete im Vormärz häufig ein Leben an der Grenze der Legalität. So gesehen war der Pauperismus nicht nur die ökonomische Existenzkrise einer »Übergangszeit«, sondern auch eine soziale Krise: eine Krise der Beziehungen zwischen den Klassen und selbst zwischen den Familien in der Gemeinde, da Täter und Opfer nicht immer eindeutig verschiedenen Klassen zugehörten. Nicht zuletzt war er eine Krise der sozialen Leitund Selbstbilder. Vielleicht mehr noch als in Dauer, Art und Ausmaß der Armut unterschied sich der Pauperismus der Kleinbauern und landlosen proto-industriellen Unterschichten in den sozialen und politischen Gegensätzen, in die die Armut involviert war und die sie ihrerseits prägten und verschärften. Grob gesprochen aktualisierte die Überlastungskrise der Paderborner Kleinbauern deren Gegensatz zu den Grundherren und der staatlichen Verwaltung, während die lange Strukturkrise der ländlichen Industrie in MindenRavensberg den Gegensatz zwischen Bauern und Heuerlingen zum hauptsächlichen Konflikt des Vormärz und der Revolution werden ließ. Für die proto-industriellen Unterschichten war der Pauperismus weit mehr als für die Kleinbauern eine »Identitätskrise von bisher nicht gekanntem Ausmaß« 81 . Für die Kleinbauern bedeutete er die Erfahrung von Verlusten und Einschränkungen und stellte »nur« insofern auch eine Herausforderung zu Neuem dar, als mit den Gemeinheitsteilungen das Gefuge ihrer Betriebswirtschaft verändert wurde. Diese Umstellung zog sichjedoch häufig durch Übergangsregelungen über einen längeren Zeitraum hin und konnte dadurch in ihrer Schärfe abgemildert werden 8 2 . Für die zunehmend weniger und problematischer in die bäuerliche Gesellschaft integrierten proto-industriellen Unterschichten verdichtete sich dagegen die Massenarmut zu einer Gefährdung und Zerstörung des ganzen traditionellen Lebenszusammen340

hangs, einschließlich der in der (relativen) Selbständigkeit begründeten sozialen Ehre. Die agrarische Einbindung der proto-industriellen Familienwirtschaft schrumpfte oder konnte in einer sich kommerzialisierenden bäuerlichen Landwirtschaft nur mühsam erhalten werden, während gleichzeitig alle Askese und »Selbstausbeutung« der kapitalistischen Fabrikproduktion unterlag. Gegen Ende der »langdauernden Krisis« wurden die Ravensberger Spinner unmittelbar mit dem Symbol der neuen Produktionsweise, der Maschine, konfrontiert, gegen die sie mehrmals, zuletzt 1850 in einer breiten Petitionsbewegung einen heftigen, aber erfolglosen Widerstand leisteten. Viele entschlossen sich in dieser Identitätskrise zu einem sozialen Bruch. Die Auswanderung, die Lösung aus den heimatlichen Bindungen, war in Minden-Ravensberg viel weiter verbreitet als im Paderborner Land. In Amerika gelang nicht wenigen der auswandernden Heuerlinge - freilich unter unsäglichen Anstrengungen - , was ihnen in der Heimat nicht möglich war: Die Umgehung der proletarischen Fabrikarbeit und der Aufstieg aus der erniedrigenden Abhängigkeit zum bescheidenen, aber respektablen kleinbäuerlichen Grundbesitz 83 .

341

X. Konservative Unterschichten und Revolution: Rückblick und Ausblick Welche gesellschaftlichen Erfahrungen der sozialen Klassen auf dem Lande gingen in die Revolution 1848/49 ein und wie bestimmten sie das politische Verhalten besonders der Unterschichten? Unter dieser Perspektive und in Anlehnung an die in der Einleitung formulierten Leitfragen soll hier die Darstellung zusammengefaßt und stärker als das bisher in einzelnen Ausblicken erfolgte, in einen historisch-politischen Zusammenhang gerückt werden. Dabei werden die Momente, Phasen und Grenzen des sozialen Wandels der ländlichen Gesellschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts betont. U m die Unterschiedlichkeit dieses Wandels vielleicht prägnanter als bisher hervortreten zu lassen, wird die Entwicklung der wirtschaftlichen und sozialen Strukturen für Minden-Ravensberg und Paderborn getrennt resümiert. Minden-Ravensberg und Paderborn waren beides Regionen, in denen schon im späten 18. Jahrhundert die ländlichen Unterschichten, d.h. die unter(voll-)bäuerlichen Schichten die Mehrheit der Landbevölkerung bildeten. Ausschließlich agrarisch subsistenzfähiger Vollbauer war um 1800 in Minden-Ravensberg nur noch jeder fünfte und im Paderborner Land etwa jeder sechste ländliche »Hauswirt«. Die stärkste Gruppe der unterbäuerlichen Schichten bildeten in der ersten Region die landbesitzlosen Heuerlinge, in der letzteren hingegen die Klein- und Parzellenbauern. Beide Typen ländlicher Unterschichtenexistenz waren jedoch auf »außeragrarische« Einkommen angewiesen, sei es in »proto-industrieller« und handwerklicher Arbeit, sei es in landwirtschaftlicher und gewerblicher (saisonaler) Lohnarbeit. Das regionale Gewicht und die je spezifische Verflechtung der Gewerbe mit der Landwirtschaft, insbesondere die verschiedenen Rückkoppelungseffekte der verdichteten, exportorientierten textilen Proto-Industrie einerseits und des vorwiegend lokalen Handwerks andererseits auf die regionale Wirtschafts- und Sozialstruktur wurden als die entscheidenden Faktoren herausgearbeitet für die schon zeitgenössische Polarität zwischen der »industriösen« preußischen Provinz Minden-Ravensberg und dem »rückständigen«, armen, ehemals geistlichen Staat Paderborn. Andere bedeutende Unterschiede im 18. Jahrhundert - die protestantische bzw. katholische Konfession, der bürokratisch-absolutistische bzw. geistliche Staat und das unterschiedliche Gewicht der adeligen Grundherrschaften - traten dagegen zurück bzw. wurden in jenem Kontext analysiert. Die konkrete, dynamische 342

Verflechtung von Landwirtschaft und Gewerbe war jedoch das zentrale Element der »bäuerlichen Gesellschaft« und ihrer um den bäuerlichen Grundbesitz herum aufgebauten sozialen Schichtung, die auch die beide Regionen erfassenden grundlegenden wirtschaftlichen und sozialen Prozesse - Bevölkerungsvermehrung, agrarische bzw. gewerbliche Konjunkturen und Agrarreformen - prägte bzw. regional modifizierte.

1. Evolution und Involution in der bäuerlichen Gesellschaft von Minden-Ravensberg Die starke Bevölkerungsvermehrung in Minden-Ravensberg seit dem späten 18. Jahrhundert bewirkte ein absolutes und relatives Wachstum der unterbäuerlichen Klasse, wobei zwar auch die Kleinbesitzer zunahmen, mehr aber noch die Landlosen. U m 1800 kamen in Minden auf je 100 Vollbauern 149 Heuerlingsfamilien, im Jahre 1846 dagegen 310; in der Teilregion Ravensberg, wo dieser Prozeß infolge einer besonders hohen Verdichtung des proto-industriellen Textilgewerbes noch schärfer ausgeprägt war, stieg die entsprechende Zahl von 372 auf805 Heuerlingsfamilien pro 100 Vollbauern. In diesen Verschiebungen sind alle wirtschaftlichen und sozialen Probleme und schichtenspezifisch unterschiedlich verteilten Chancen in der Region enthalten. Für die Vollbauern bedeutete der demographische Prozeß eine grundlegende Ausweitung und Intensivierung des innerregionalen Marktes für Pachtland, Lebensmittel und den wichtigen gewerblichen Rohstoff Flachs. Eine schon im späten 18. Jahrhundert relativ hoch entwickelte, ertragreiche Landwirtschaft, deren Symptom ein auffallender bäuerlicher Wohlstand war, wurde dadurch weiter gefördert und warf bei steigenden Getreide- und Bodenpreisen besonders seit den 1830er Jahren auch vermehrt Gewinn ab. Die liberalen Agrarreformen lösten durch die Gemeinheitsteilungen und die Herstellung des freien Eigentums an Grund und Boden in Minden-Ravensberg die letzten grundherrschaftlich-genossenschaftlichen Fesseln für eine kommerzielle, an den Chancen des Marktes orientierte bäuerliche Landwirtschaft. Die Ablösungszahlungen an die Grundherren bildeten zwar eine bedeutende Last, die aber - wie schon die grundherrlichen Abgaben und Steuern im 18. Jahrhundert - durch die Gewinne aus dem »inneren Markt« und die Vorteile aus jenen anderen Dimensionen der Agrarreformen relativ gemildert wurden. Dabei war der U m stand wichtig, daß die Gemeinheitsteilungen und damit die Entwicklung eines (bis zur Ablösung allerdings noch begrenzten) Bodenmarktes um 1800 besonders in Ravensberg schon weit fortgeschritten waren, so daß der für die Vollbauern im ganzen einen konsolidierenden Effekt ausübende freie Bodenmarkt früher einsetzte als die meisten Ablösungszahlungen. Der U m fang des Bodenverkehrs - in Form des Verkaufs ganzer Höfe, mehr noch 343

von Parzellen und insbesondere in Form der Verpachtung an Heuerlinge war beträchtlich und diente, bei steigenden Bodenpreisen, der Arrondierung, manchmal auch schon der Vergrößerung der Betriebsflächen, der Entschuldung und der Versorgung von nichterbenden Bauernkindern mit Land. Entgegen zeitgenössischen Befürchtungen über eine »Atomisierung« des Bauernstandes wurde der Kern des im Anerbenrecht marktfern tradierten bäuerlichen Familienbesitzes durch den freien Bodenmarkt nicht angegriffen. Der Boden wurde potentiell zu einer Ware, aber die Bauern behandelten ihn nur soweit als eine solche, wie dies ihren Familien nützte. Die Agrarreformen und das regionale sozialökonomische Ensemble setzten in Minden-Ravensberg einen spezifisch bäuerlichen Agrarkapitalismus frei, der in der Ausnutzung der Marktchancen keine Hemmungen kannte, aber gleichwohl nicht zu einem »bourgeoisen« Kapitalismus wurde, da er von »ständischen« Normen bäuerlicher Lebensführung und Selbsteinschätzung bestimmt blieb, die ζ. B. ausschlossen, daß bäuerliches Geld in die nach 1850 entstehenden Fabriken investiert wurde. Dieses positive Bild einer Evolution hatte jedoch eine dunkle Kehrseite, die Involution, den lange Zeit richtungslosen Verfall der proto-industriellen Produktionsverhältnisse, der den größeren Teil der Landbevölkerung und insbesondere die Heuerlinge in eine »Krise ohne Alternative« (Chr. Meier) gleiten ließ. Die Produktionsverhältnisse des auf einem einheimischen Flachsbau gründenden, exportorientierten Garn- und Leinengewerbes waren einerseits eng mit der bäuerlichen Landwirtschaft verbunden und andererseits mit dem städtischen Handelskapital, an das die Spinner und Weber ihre Produkte verkauften; drittens waren sie bestimmt durch staatlichöffentliche Institutionen wie die Schauanstalten (Leggen) und Vorschriften für die Qualität der Produkte, wodurch die Kaufleute von der unternehmerischen Funktion der Produktionskontrolle entlastet wurden. Dieses »Kaufsystem« zwischen Händlern und selbständigen familienwirtschaftlichen Produzenten, von denen sehr viele als Heuerlinge, d. h. als Kleinpächter und Landarbeiter zugleich an die Bauern gebunden waren, enthielt v. a. in Ravensberg eine weitgehende funktionale Arbeitsteilung innerhalb der Region. Anders als bei der Löwendleinenweberei im alten Fürstentum Minden und einem kleineren Teil von Ravensberg, wo Flachsbau, Spinnen und Weben noch im selben Haushalt vereinigt waren, waren dort Flachsbau und Garnspinnerei nur noch ζ. T. verbunden, das Spinnen und das (einträglichere) Weben des »Feinleinens« aberi.d.R. auf verschiedene Haushalte verteilt. Das Kaufsystem war sehr flexibel für die Kaufleute und Bauern, aber auf Kosten der Spinner und Weber; jenen erlaubte es die Abwälzung von konjunkturellen Rückschlägen auf die Produzenten, für diese bildete es einen Teil »ihres« inneren Marktes. Die Spinner mußten bäuerlichen Flachs zukaufen oder Flachsland pachten und waren im übrigen - da sie als ausschließlich Gewerbetreibende infolge geringer Einkommen nicht leben konnten wie viele Weber auf (meist bäuerliches) Pachtland für Lebensmittel angewie-

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sen, dessen Kosten sie durch Dienste abarbeiteten. Der typische protoindustrielle Produzent in Minden-Ravensberg war eine agrarisch-gewerbliche >Doppelexistenztraditionalistisch< gegen eine drohende Veränderung stellte, dabei aber Traditionsbestände wie das Königtum und die Religion politisierte17. Der soziale Konservatismus »von unten« und die in ihm enthaltenen Hoffnungen schlugen sich nieder in einer Vielzahl von Petitionen an die staatlichen Behörden, die Abgeordneten und parlamentarischen Versammlungen, wobei in Minden-Ravensberg Berlin viel näher als Frankfurt war; der antiliberale Konservatismus war auch betont preußisch. Die Petitionen umfaßten einerseits den ganzen möglichen Katalog von Beschwerden und Forderungen nach naheliegenden Erleichterungen und weitergehenden Reformen, artikulierten andrerseits aber auch den religiösen Protest gegen die Trennung von Kirche und Schule. Unter den Eingaben an die Berliner Nationalversammlung aus Minden-Ravensberg waren die Petitionen gegen die liberale Schulpolitik fast ebenso häufig wie diejenigen, die eine Verbesserung der Lage der Unterschichten forderten; im Paderborner Land, wo ein antiborussischer Katholizismus als wesentlicher politischer Filter wirkte, stellte das Problem von Staat und Kirche alle anderen Themen in den Schatten 18 . Die sozialen und kirchenpolitischen Themenbereiche mögen manchmal zwar nebeneinander gelegen haben; der umfassende Einfluß des Klerus und insbesondere der pietistischen Pastoren in Minden-Ravensberg auf alle politischen Regungen weist jedoch darauf hin, daß der soziale Konservatismus der Unterschichten noch wesentlich eingebunden war in eine von beiden Kirchen repräsentierte politische Religiosität. Im Zentrum der sozialen Themen standen die schwierigsten Probleme der bäuerlichen Gesellschaft, die Lage und das Verhältnis der Heuerlinge zu den Bauern sowie die Krise des proto-industriellen Gewerbes. Vor allem im Hinblick auf diese Probleme wurde wie anderswo auf eine »soziale« Revolution gehofft, die keine »sozialistische« war, sondern unter der Erwartung stand: »Die Armut muß aufhören.« 19 Die die parlamentarischen Debatten und die politische Öffentlichkeit bewegende Verfassungsfrage berührte die Landbevölkerung und vor allem die Unterschichten wenig. In MindenRavensberg knüpfte sich an die Berliner Nationalversammlung vor allem die Hoffnung, daß sie König und Ministerium zu einer großen Hilfe von 100000 Talern für die Spinner und Weber bewegen würde. Im Blick auf das Parlament war die Revolution sozusagen eine 100000-Taler-Frage. Im einzelnen waren mit dieser Forderung freilich weitere verknüpft, die auf eine strukturelle Reform der Lage der Unterschichten hinausliefen und die bloße Erwartung einer Hilfe von oben und von Almosen hinter sich ließen. Die Heuerlinge forderten neben Steuererleichterungen und politischen 359

Rechten in der Gemeinde vor allem mehr Pachtland und eine Normierung des Heuerlingssystems. Ein »Antrag der Heuerlinge im Amt Heepen« läßt erkennen, wie auf die Zerrüttung des Heuerlingssystems in Form einer umfassenden traditionalen Restitution reagiert wurde, die aber gerade dadurch über die Tradition hinauswies. Ein detaillierter Zehn-Punkte-Katalog verlangte zusammengefaßt folgendes: Eine Mindestgröße der Landpacht, um eine Kuh durchfuttern zu können; einen Pachtpreis, der den Reinertrag des Ackers nicht übersteigt; eine Festsetzung der Wohnungsmiete; einen um 50% erhöhten und für die Zukunft garantierten Tagelohn; eine Bemessung der Dienst-Tage und eine zwölfstündige tägliche Arbeitszeit mit festgelegten Pausen; die Garantie einer fünfjährigen Miet- und Pachtperiode; die Verpflichtung des Bauern, »für seinen Heuerling« einen Scheffelsaat Flachs anzubauen; ein Kreditverbot bei Auktionen und schließlich wurde noch gefordert, den Heuerling »in seinen alten Tagen nicht v o m H o f zu verstoßen« 20 .

Dies war gewissermaßen der Entwurf eines Tarifvertrages für das Heuerlingssystem, mit dem die quasifeudale, im Vormärz zur Willkür verwilderte Abhängigkeit überwunden und die selbständige agrarisch-gewerbliche Familienwirtschaft auf eine ausreichende Grundlage gestellt werden sollte. Der darin zum Ausdruck kommende reflektierte Traditionalismus ist umso bemerkenswerter, als er ein Gegenstück in den Zielen der Spinner und Weber, die häufig ja auch Heuerlinge waren, hatte. Die von der ökonomischen Entwicklung noch nicht ganz aus dem Feld geschlagenen Feinspinner und besonders die Weber forderten eine vielseitige, staatlich unterstützte und abgesicherte Reform des alten proto-industriellen Gewerbes. Dessen »innere Vervollkommnung« und Konkurrenzfähigkeit gegen die Fabrikindustrie sollte regional durch Spinn- und Webschulen, die Einrichtung eines Flachs- und Garnmagazins, einer Leihbank und Darlehenskasse gefordert werden. Weiter wurden ergänzende, allgemeine wirtschaftspolitische Maßnahmen wie ein Schutzzoll zur Fernhaltung des Maschinengarns und eine Besteuerung oder ein Verbot von Spinnmaschinen verlangt. Teilforderungen wie der Schutzzoll oder die allgemeine Intention, die Handweberei aufrechtzuerhalten, lagen dabei durchaus auf der traditionellen Linie auch der Kaufleute. Die Spinner und Weber beabsichtigten jedoch in der Gesamtheit ihrer Forderungen eine Reform des Kaufsystems und solide Unabhängigkeit von den Kaufleuten, wie insbesondere ihr Verlangen nach einer Mitwirkung bei der Verwaltung der staatlichen Hilfsgelder und des »Gnadenfonds« (der bislang eine Art von genossenschaftlicher Kreditanstalt allein für die Kaufleute war) zeigt. Noch weiter ging ein demokratischer Verein »Mit Gott für das Wohl des Volkes«, der trotz seiner politisch radikalen Haltung ökonomisch konservativ war und eine Handelsgenossenschaft der Weber forderte, u m diese von der »Ausbeutung der Kaufleute« zu befreien. In ähnlicher Weise suchten sich Damastweber durch eine »Assoziation« gegen das entstehende Verlagssystem zu wehren 21 . In der breiten und erreg360

ten Petitionsbewegung gegen die erste Maschinenspinnerei in Bielefeld i m Frühjahr 1850, die noch einmal alle A r g u m e n t e und Konzepte für die gewissermaßen handwerksmäßig-genossenschaftliche R e f o r m der p r o t o - i n d u striellen Produktionsverhältnisse versammelte, w u r d e endgültig klar, daß damit die kapitalistische Fabrikindustrialisierung blockiert werden sollte; gleichzeitig trat die eminente politische Bewußtheit des sozialen und ö k o n o mischen Konservatismus hervor. In keiner der Petitionen an den König fehlte der Hinweis auf die politische Loyalität, die »religiöse Treue« w ä h rend der Revolution, für die man nun eine Gegenleistung verlangte. In die antikapitalistische Polemik gegen die Kaufleute mischte sich der denunziatorische Hinweis auf deren nicht ganz so unerschütterliche, liberale u n d k o n stitutionelle Haltung in den 1840er Jahren. Als »naturgemäß« w u r d e hingegen e m p f u n d e n , »daß der ächt preußische, patriotische Sinn die Maschine bekämpft«. Aber selbst nach den Prinzipien des Konstitutionalismus sah man sich im Recht. D e n n ihm zufolge k o m m e es auf die Majorität an, schrieb der Pastor Huchzermeyer - 1848 Abgeordneter in Berlin und 1850 einer der Wortführer der Petitionsbewegung - an den O P , »gleichviel ob sie d u m m oder aufgeklärt ist« 22 . Die H o f f n u n g e n und Forderungen der Heuerlinge bzw. Spinner u n d Weber haben sich nur z u m Teil erfüllt. Von den erwarteten 100000 Talern w u r d e n n u r 35000 bewilligt, aber nicht die Beteiligung an deren Verwaltung; verwendet w u r d e das Geld, mit d e m die angestrebte R e f o r m nicht zu finanzieren war, zu Almosen für die Spinner, für die U m s c h u l u n g von Spinnern zu Webern und für die Einrichtung einer Leihbank für die Weber, auf der sie Leinen verpfänden konnten. Diese Leihbank, das einzige wirksam werdende Element aus den Forderungen fur die Unabhängigkeit der Weber w u r d e aber nur von einer Minderheit genutzt 2 3 . Auch mit den Vereinen für Handleinen k o n n t e m a n der Fabrikindustrialisierung nicht mehr ernsthaft widerstehen. Fast leer gingen die Heuerlinge aus. Einige »Erleichterungen« i m Stile patrimonialer Fürsorge, hauptsächlich in Form staatlicher Darlehen z u m Kauf von Saatgut, Vieh u. ä. besserten kurzfristig ihre Lage, ohne an der Struktur ihrer Abhängigkeit etwas zu ändern. Diese galt als ein privates Vertragsverhältnis, in das kein Gesetz eingreifen sollte, wenigstens kein Gesetz z u m Schutz der Landarbeiter, während man in Preußen Gesetze z u m Schutz des Agrarkapitalismus vor den Landarbeitern bekanntlich nicht scheute. Z u einem gewissen Teil resultierte die Erfolglosigkeit der Spinner und Weber — abgesehen von der Machtkonstellation — auch aus ihren Illusionen über die sich in einem rapiden Auflösungsprozeß befindlichen p r o t o - i n d u striellen Produktionsverhältnisse. »Schwierigkeiten« und Unterschiede zwischen »armen« Spinnern und Webern einerseits und noch relativ w o h l habenden andererseits tauchten verdächtig oft in den Debatten auf. Spurenhaft wird darin etwas von der Differenzierung und Distanzierung innerhalb der Unterschichten erkennbar, die sich in den strukturellen sozialökonomi-

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sehen Prozessen und im Pauperismus herausgebildet hatten. Den Ärmsten der Armen, dem Einliegerproletariat wäre durch die skizzierten Forderungen wahrscheinlich wenig geholfen gewesen. Man muß deshalb auch eine lokal-regionale Vielfalt der Unterschichtenbewegungen in der Revolution einschließlich der Passivität - in Rechnung stellen, gerade weil es immer u m lokal unmittelbare Probleme ging, die u. U. Spannungen zwischen den verschiedenen Gemeinden zur Folge hatten. Gegenüber einer Reservearmee von pauperisierten, Arbeit und Brot suchenden Unterschichten hatten manche lokalen Forderungen auch Züge von kommunalem Egoismus. Das Heimatrecht konnte dabei zu einem Mittel der Auseinandersetzungen innerhalb der Unterschichten werden. Die zitierten Beispiele sind daher nicht vorschnell zu verallgemeinem. Gleichwohl besitzen sie eine Art historischer Repräsentativität. Die Forderungen nach einer Entfeudalisierung des Heuerlingssystems und nach U n abhängigkeit vom Kaufmann systematisierten gewissermaßen die in den alten agrarisch-gewerblichen Produktionsverhältnissen ansatzweise mögliche Emanzipation des Heuerlings vom Bauern, ohne zum »Heloten des Capitals« 24 zu werden. Die Revolution sollte die unter den alten Bedingungen immer und zunehmend schärfer gebremste Emanzipation des Heuerlings gleichsam beschleunigen, die selbständige Familienwirtschaft sichern und so dem drohenden Schicksal der Lohnarbeit vorbauen. Die Bewegungen der ländlichen Unterschichten waren wesentlich ein Aufbäumen gegen den liberalkapitalistischen Fortschritt in Landwirtschaft und Gewerbe. Die Revolution war für sie eine Rebellion gegen die »bürgerliche Gesellschaft«, deren Motive und Ziele aus der »bäuerlichen Gesellschaft« stammten. Die Ereignisse von 1848/49 standen auch im Zeichen der Fremdheit bzw. der Konfrontation zwischen dem bäuerlich-ländlichen und dem bürgerlichstädtischen »Segment« der Gesellschaft. Die dadurch mitbedingte Niederlage der bürgerlichen Revolution wurde allerdings erst besiegelt durch eine entscheidende Öffnung der bäuerlichen »Teilgesellschaft« zu einer Allianz mit den konservativen Mächten Kirche und Staat. Die Distanz zwischen den städtischen Liberalen, Demokraten und K o m munisten einerseits und den verschiedenen ländlichen Bewegungen andererseits war 1848 ein allgemeines Phänomen. Sie wurde regional - in Baden, Schlesien, in schwächerem Maße und unter der Hegemonie des politischen Katholizismus auch im Paderborner Land - zwar durch ein »Augenblicksbündnis« zur Abschüttelung der feudalen Lasten überbrückt; eine dauerhafte Koalition entstand daraus jedoch nicht 25 . Bemerkenswerter Weise bot selbst eine scharf ausgeprägte ländliche Klassengesellschaft wie Minden-Ravensberg dem politischen Radikalismus aus der Stadt nur wenige Anknüpfungsmöglichkeiten. Die »wahren Sozialisten« und Demokraten in den Städten Minden-Ravensbergs machten zwar seit 1844 in ihrer Publizistik Armut und Ausbeutung der Unterschichten öffentlich; der Kreis aus jungen Kaufleuten, Ärzten, Juristen und Schriftstellern fand jedoch unter denjenigen, in deren 362

Namen sie in Opposition waren, nur einen geringen Rückhalt. Entgegen ihren Hoffnungen waren sie mit den gemäßigt Konstitutionellen die großen Verlierer der Wahlen im Mai 1848. Die bedeutendste Figur der Demokraten, der Bielefelder Kaufmann Rempel, der 1848 die »sozialen« Forderungen der Unterschichten in das Programm der Republik einzubinden suchte, gewann außer in den Städten nur einen im wesentlichen auf die nähere Umgebung von Bielefeld beschränkten Einfluß auf die »kleinen Professionisten, Gesellen und gedrückteren Teile der ländlichen Bevölkerung« 26 . Eine unüberwindliche Barriere für die Demokraten war die politische Religiosität auf dem Lande, die gerade mit ihren sozialen Erwartungen das Charisma des Königs neu stärkte und so notwendig mit dem Rücken auch zur »sozialen Demokratie« stand. Daneben waren in den Augen der Unterschichten die Demokraten in ihrem bürgerlichen sozialen Habitus wohl den Kaufleuten, gegen die sonst beide Seiten ihren Protest richteten, gesellschaftlich zu nahe. Die Bauern hingegen zeigten eine deutliche Distanz zur städtischen Industrie. Auf der anderen Seite gab es 1848 in den Monaten des Drucks und der gesteigerten Erwartungen eine gewisse Wiederbelebung des bäuerlichen Patriarchalismus, ein teilweises Eingehen auf die Forderungen der Heuerlinge - nicht zuletzt infolge der »dringenden Vorstellungen«27 von Beamten. Das löste zwar noch nicht die Konflikte, konnte aber die Hoffnungen, daß sie innerhalb der bäuerlichen Gesellschaft lösbar seien, bestärken. Am Rande entwickelte sich im »agrarischen« Vereinswesen schon die spätere landbündische Ideologie der Klassenharmonie. Der Aufruf zu einem »Verein der Grundbesitzer« im Kr. Bielefeld schmeichelte dem Heuerling als dem »Gehülfen« des Bauern, dem am besten geholfen werde durch Erleichterung der »Lasten des Grundbesitzes«28. Das reichte sicher nicht, die Gegensätze in der ländlichen Klassengesellschaft gegenüber der bürgerlich-städtischen Politik zu neutralisieren. Diese Gegensätze fanden ihren Ausdruck in zwei verschiedenen sozialen Konservatismen, die jedoch politisch überbrückt werden konnten. Einerseits gab es einen bäuerlichen, agrarkapitalistischen Konservatismus zum Schutz des Eigentums, der zuweilen schon die Nähe des Adels suchte 29 ; andrerseits einen Konservatismus der Unterschichten, der auf die Sicherung oder Wiederherstellung traditioneller Existenzformen und eine »sittliche Ökonomie« (Ε. P. Thompson) drängte, durch die der Wirtschaftsliberalismus und die Funktionsweise des Marktes eingeschränkt und politisch kontrolliert werden sollten. Freilich ist der Widerspruch zwischen diesen beiden Konservatismen evident, wendete sich der letztere doch auch gegen das, was die Grundlage des ersteren war. Die »sittliche Ökonomie« konnte deshalb nicht mehr in den vorpolitischen Verkehrsformen einer kleinräumigen Lokalgesellschaft, sondern mußte staatlich begründet werden. Die Unterschichten zielten auf ein »soziales Königtum« (L. v. Stein), das als Königtum politisch konservativ sein mußte, um gegen die wirtschaftsliberale bürgerliche Gesellschaft schützen zu können. Mit dieser politischen Qualität des sozialen 363

Konservatismus konnten die Bauern leben, weil damit gleichzeitig ihre anderen Interessen gehütet waren. Die Klassen der ländlichen Gesellschaft suchten jede für sich Zuflucht im konservativen Staat, weil ihre Gegensätze in der bäuerlichen Gesellschaft unlösbar geworden waren und die »bürgerliche Gesellschaft« als eine gemeinsame Bedrohung erschien 30 . Bekanntlich wurden die ländlichen Unterschichten damit zu Gefangenen der massiven Macht- und Wirtschaftsinteressen der preußischen Herrschaftselite, derem politischem Konservatismus der Agrarkapitalismus zugrundelag. Hier geht es jedoch nicht um eine solche Perspektive ad quem, sondern um die Perspektive a quo, um die Herkunft eines staatsnahen Konservatismus der Unterschichten. Dabei spielten in Preußen (und besonders in Minden-Ravensberg) die Tatsache wie Legende der patrimonialen Sozialpolitik des Monarchen und der »Geist der Freiheit« von 1813 eine Rolle. In gewisser Weise setzte sich auch in der Revolution die Tradition der patrimonialen Herrschaft fort. Für die Unterschichten waren die staatlichen höheren Behörden und selbst die Abgeordneten weiterhin eine Obrigkeit, deren Autorität kaum in Frage gestellt oder im Sinne einer demokratischen Souveränität kontrolliert wurde. In den Petitionen äußerten sich immer noch die »Untertanen«, kaum anders als jene Bauern, die sich im Dezember 1848 als »gute und getreue Untertanen, oder wie man jetzt auch sagt, als achtbare Staatsbürger« über die Schwäche von Polizei und Gericht beschwerten und Maßnahmen zum »Schutz ihres Eigentums« forderten 31 . Die teilweisen Erfolge, das Nachgeben gegen manche unmittelbaren Forderungen hat die Legitimität des alten Staates sogar neu gestärkt. Anknüpfend an ähnliche Hilfsmaßnahmen besonders in den Teuerungsjahren 1845/47 wurden 1848 die Notstandsarbeiten zur Beschäftigung von Arbeitslosen bewußt stark erweitert und unter Beteiligung von Beamten Unterstützungsvereine gegründet. Das mischte sich ζ. T. mit den Initiativen zur »Organisation der Arbeit«, dem vagen sozialpolitischen Schlagwort der Revolution. Nur selten weiteten sich die lokalen Proteste gegen die unteren Beamten auf die höheren Behörden aus, mit einer bezeichnenden Ausnahme. Im Kr. Minden beschimpfte und bedrohte eine Menge auch den Landrat mit den Worten: »Sind Sie auch ein Landrat, haben Sie für uns gesorgt? Sie haben (bei der Verteilung der staatlichen Getreidezufuhren, 1847, J. M.) mit dem Roggen gewuchert.« 3 2 Zweifellos »(appellierten) die handarbeitenden Klassen an den sozialen Beruf des Staates« 33 1848/49 in einer zuvor unbekannten Intensität. Diesen Appell bloß als historisches Relikt oder Ausdruck politischer Ohnmacht zu begreifen, würde in die falsche Richtung weisen. In ihm kam vielmehr die erhöhte gesellschaftliche Bedeutung des Staates zum Ausdruck, die ein Resultat der sozialökonomischen Veränderungen war. Im Wandel von Wirtschaft und Gesellschaft war der Staat immer ein wichtiger Akteur, als reglementierende »Policey« im 18. Jahrhundert und mehr noch als Reformstaat im 19. Jahrhundert. Denn gerade das Ziel der liberalen Reformen, die 364

Freisetzung einer sich selbst regulierenden Marktwirtschaft und einer Gesellschaft der Staatsbürger machte »mehr (Staat) als je zuvor« 3 4 nötig. Mit der Aushöhlung der subsistenzorientierten Familienwirtschaft und der wachsenden Marktabhängigkeit der Einkommen entstand und erweiterte sich die politische Betroffenheit wie umgekehrt eine lebensnotwendige Angewiesenheit auf Politik. Der Staat wurde ein Faktor der Fundamentalpolitisierung. Der relative Erfolg der Reformen, die Entwicklung einer wirtschaftsliberalen Gesellschaft, zog ihn in die soziale Polarisierung und Krise hinein. Der noch »überständisch« handlungsfähige Reformstaat konnte nicht mehr »überparteilich« sein, sondern mußte »sozialpolitisch Partei ergreifen« 35 . Die Unterschichten drängten ihn 1848 zu einer antibürgerlichen Parteinahme. In einer Zuschrift aus Ravensberg an »Die Verbrüderung«, das Organ der Arbeiterbewegung 1848/49, klagte der Autor die schnelle Erfüllung der erwähnten Staatshilfen ein, da sonst die Spinner und Weber »dem sicheren Hungertode entgegengehen« würden. Dem setzte er hinzu: »Wenn nur diese Unterstützungen nicht, wie es so häufig geschehen, den Fabrikanten zugute kommen, statt den armen Webern, für welche die Regierung es doch eigentlich gibt. « 36

Dies schrieb wahrscheinlich ein Anhänger der Demokraten. Aber ihm hätte, aus der gleichen Erfahrung der Not heraus, ein Konservativer wohl zugestimmt, wie jener Pastor Huchzermeyer, der in erster Linie in »ächt preußischer« Gesinnung, zusätzlich aber auch mit dem Anspruch der demokratischen Legitimation durch die Majorität die Maschine bzw. Fabrikindustrialisierung bekämpfte. Dies enthält noch einen letzten Hinweis. Die »sozialen«, in gewisserWeise auf einen »Sozialstaat« (wenn auch anderer Art als den bekannten) zielenden Forderungen waren politisch polyvalent, konnten demokratisch wie konservativ-monarchisch legitimiert werden. Im Lichte dieser politischen Mehrdeutigkeit erscheint der Konservatismus der Unterschichten genauso »modern« wie Demokratie und Sozialismus. Ihr 1848 noch weithin gemeinsamer sozialer Konservatismus war ein reflektierter Traditionalismus, der sich an den Defiziten der entstehenden »bürgerlichen Gesellschaft« abarbeitete. Er war insofern ein Konservatismus der Erfahrung, kein vorbewußtmentales, traditionales, gar >archaisches< Relikt. Das gilt selbst noch für die dem heutigen »säkularisierten« Beobachter so befremdliche politische Religiosität, die den sozialen zum politischen Konservatismus machte. Die Popularität der politischen Religiosität und der konfessionell gebundenen Politik gründete im Pauperismus, in den Jahrzehnten eines qualvollen sozialen Wandels, in der die Armut zu einer Erscheinung des Klassengegensatzes und vielfach malthusianisch verachtet und diskriminiert wurde. Die Kirchen — die katholische im allgemeinen mehr als die protestantische - , die im Prozeß der Säkularisierung selber ihren Platz in der »modernen Welt« neu 365

bestimmen mußten, waren massenwirksame und lange Zeit fast konkurrenzlose Institutionen, die in einer Mischung aus Tradition und neuer Sensibilität die Armen verteidigten. Caritas und kirchliches Vereinswesen boten bedeutende Hilfen und im religiösen Bewußtsein konnte auch der Arme Selbstachtung und Würde finden. Die Kirchen hatten, scheint es, im 19. Jahrhundert eine wichtige Schutzfunktion für die von einem widerspruchsvollen Fortschritt mitgerissenen und herumgestoßenen »kleinen Leute«. Diese Perspektive auf den Konservatismus im Horizont der Emanzipationsgeschichte der Unterschichten scheint paradox, j a auf eine Entlegitimierung von Liberalismus, Demokratie und Sozialismus als den Trägern der Emanzipationsbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts hinauszulaufen. Es dürfte jedoch deutlich geworden sein, daß der Konservatismus der U n terschichten sich nicht der geläufigen Vorstellung von »Konservatismus« fügte; er ging nicht in der Erhaltung des Bestehenden auf, sondern drängte gleichzeitig auf Reformen mit teilweise »utopischen« Zielen wie etwa der unternehmerfreien Handelsgenossenschaft als Alternative zur privatkapitalistischen Unternehmung. Insofern suchten die konservativen Unterschichten wie die - freilich Außenseiter bleibenden - Theoretiker einer konservativen Sozialreform (ζ. В. V. A. Huber, H. Wagener, F. J . Ritter von Büß oder W. E. von Ketteier) zukunftsgerichtete Lösungen für die Probleme des wirtschaftlichen und sozialen Wandels; das war ihre »Modernität«. Bei der »richtigen Lenkung der Bewegung« 3 7 griffen allerdings sehr unterschiedliche Hände ins Steuer und insofern blieb die konservative Reform immer hoffnungslos verstrickt mit den platten Machtinteressen an der Erhaltung des Bestehenden. Diese Mischung ist jedoch für die Sozialgeschichte der Politik bedeutsam und eine Herausforderung für die Selbstaufklärung der »linken« Tradition. Sie war eine Bedingung für die Überlebensfähigkeit der »Mächte der Beharrung«, durch die wiederum das Handlungsfeld für die »Mächte der Bewegung« (W. H. Riehl) folgenreich verändert wurde. Die nicht zuletzt an Erfahrungen im Jahre 1848 anknüpfende Einfuhrung des allgemeinen Wahlrechts und der Sozialversicherung durch Bismarck war sicherlich eine Instrumentalisierung der Unterschichten; über diese Intention ging aber ihre Wirkung hinaus, die auch ein Stück Anerkennung der Ansprüche der Unterschichten enthielt, wohingegen ihre Genese vom Erfindungsreichtum der preußischen Herrschaftselite gegenüber dem Druck von unten zeugt. Die sozialistische Arbeiterbewegung hat auf die in der Geschichte der patriarchalischen Obrigkeit verwurzelte Initiative des konservativen Staates nur hilflos reagiert und mußte eine wesentliche Veränderung ihrer Zielsetzung hinnehmen; die moderne staatliche Sozialpolitik - im Unterschied zur Selbsthilfe der Gesellschaft - wurde ihr hinter ihrem Rükken gleichsam aufgedrängt 38 . Der »Bonapartismus«, in dem sich die politische und soziale Demokratisierung in antiliberaler Weise verschränkte, war kein Übergangsphänomen, gebunden an das pauperisierte, niedergehende

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Parzelleneigentum, wie Marx 1852 diagnostizierte. »Sich von der Wucht der Tradition zu befreien« war für ihn die Aufgabe der Revolution: »Die soziale Revolution des neunzehnten Jahrhunderts kann ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft. «39 Marx hat nur eine Seite des Bewegungscharakters der modernen Geschichte betont, die Selbstbewegung der Gesellschaft in den Strukturen und Konjunkturen der Marktwirtschaft und Fabrikindustrie - über ihre »Wucht« haben die Konservativen freilich oft Illusionen gehegt - , deren sozial und politisch strukturierende Kraft aber überschätzt. Das Scheitern der Revolutionserwartung und -prognose gründete daher wohl auch in der Unterschätzung bzw. Verkennung der Tradition, deren kulturelle Gehalte gerade für das Überleben im allerdings traditionslosen Geldnexus der Marktwirtschaft notwendig waren. Der schon erfahrungsgesättigte Konservatismus der Kleinbauern und Heuerlinge, aber auch anderer Gruppen des »Volkes«, lähmte im 19. Jahrhundert die politische Revolution im Zeichen von Demokratie und Sozialismus, forderte aber auch zur Sozialreform heraus. Daneben enthielt er Züge passiver Resistenz, wie vermutlich bei jenen »agrarisch« vorgeprägten, geduldigen und scheinbar gefügigen Industriearbeitern, von denen am Eingang dieser Studie die Rede war. Sie waren geprägt von der Enge der ländlichen Klassengesellschaft, der Existenzverunsicherung durch die lange Krise des proto-industriellen Kapitalismus und schließlich durch die Niederlage in einer Revolution, zu deren Scheitern sie beigetragen hatten, ohne daraus einen Gewinn zu ziehen. Bis zu einem gewissen Grade war die relative Bescheidenheit der industriellen Arbeiterklasse, die B. Moore unterstrichen hat 40 , ein Ergebnis der ländlichen Sozialisation der Unterschichten; indirekt hatten so die Bauern Teil an der Disziplinierung der Fabrikarbeiterschaft. Der Aufschwung des neuen, vorwiegend städtischen industriellen Kapitalismus bot vor diesem Hintergrund neue Chancen und Auswege aus der alternativenarmen bäuerlichen Gesellschaft. Sie galt es jedoch vorsichtig zu nutzen, da die Welt der industriellen Lohnarbeit voller Risiken war 41 . Die Hinnahmebereitschaft des konservativen Arbeiters vom Land war so gesehen möglicherweise auch eine stumme Distanznahme, seine angebliche Anspruchslosigkeit vielleicht ein Sichentziehen gegenüber den Zumutungen von Geschichte und Politik, die man - wie vielfach zu erfahren gewesen war - sich nur schwer leisten konnte.

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Anmerkungen

Vorbemerkung zu Zitierweise und Anmerkungen Die verwendete Literatur wird, wenn sie mehr als einmal zitiert wird, in den Anmerkungen nur mit dem Autorennamen bzw. Autor, erstes Titelstichwort bei mehreren Beiträgen ein und desselben Autors, angegeben. Der vollständige Titel ist im Quellen- bzw. Literaturverzeichnis zu finden. Die Anmerkungen sind kapitelweise numeriert. Bei Querverweisen wird, wenn es sich um eine Anmerkung aus einem anderen Kapitel handelt, die Kapitelnummer nachgestellt. Die Angaben »Anhang 1« usw. beziehen sich auf den tabellarischen Anhang.

I.

Einleitung

1 Thompson, Working class, S. 13. Zum historiographischen Wandel vgl. G. G. Iggers, Neue Geschichtswissenschaft. Vom Historismus zur Historischen Sozialwissenschaft, München 1 9 7 8 , J . Kocka, Sozialgeschichte. Begriff-Entwicklung-Probleme, Göttingen 1977. Eine aspektreiche und nachdenkliche Einführung in die Forschung über Unterschichten: H. Mommsen, Einleitung, in: ders. u. W. Schulze (Hg.), Vom Elend der Handarbeit, Stuttgart 1981, S. 1026. 2 K. Kautsky, Die Agrarfrage. Eine Übersicht über die Tendenzen in der modernen Landwirtschaft u. die Agrarpolitik der Sozialdemokratie, Stuttgart 1899, S. 4. 3 H. Zwahr, Zur Konstituierungsgeschichte der deutschen Arbeiterklasse. Stand u. Aufgaben der Forschung, in: ders. (Hg.), Die Konstituierung der deutschen Arbeiterklasse von den dreißiger bis zu den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts, Berlin/DDR 1981, S. 5-80, hier S. 48. Vgl. zu diesem fur die marxistische Sozialgeschichte der Arbeiterschaft repräsentativen Band als Parallele der sog. »bürgerlichen« Sozialgeschichte den Aufriß von Kocka, Lohnarbeit, S. 123 mit einer allerdings ähnlichen Charakterisierung des agrarisch gebundenen Industriearbeiters (»viel Geduld und wenig Ansprüche . . . wenig Bildung« usw.). Zu den Landarbeitern vgl. J. Flemming, Die Landarbeit in der Zeit der Industrialisierung: Der »preußische Weg«, in: H. Schneider (Hg.), Geschichte der Arbeit. Vom alten Ägypten bis zur Gegenwart, Köln 1980, S. 243-302. 4 Zur neueren Kulturgeschichte vgl. R. Berdahlu.a., Klassen u. Kultur. Sozialanthropologische Perspektiven in der Geschichtsschreibung, Frankfurt 1982; R. van Dülmen (Hg.), Kultur der einfachen Leute. Bayerisches Volksleben vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, München 1983; ders. u. N. Schindler (Hg.), Volkskultur. Zur Wiederentdeckung des vergessenen Alltags (16,20. Jahrhundert), Frankfurt 1984; alle mit weiteren Hinweisen auf grundlegende bzw. repräsentative Werke. Die warnenden Bemerkungen hatten, da einige thematische Parallelen zu dieser Untersuchung vorliegen, eine streckenweise feuilletonistische Studie vor Augen: U. Jeggle, Kiebingen - Eine Heimatgeschichte. Zum Prozeß der Zivilisation in einem schwäbischen Dorf, Tübingen 1977; weiterführend jetzt: Kaschuba u. Lipp, Dörfliches Überleben. Zur kontroversen Diskussion des erweiterten Kulturbegriffs vgl. D . Peuckert, Arbeiteralltag Mode oder Methode?, in: H. Haumann (Hg.), Arbeiteralltag in Stadt u. Land. Neue Wege der Geschichtsschreibung, Berlin 1982, S. 8-39; J. Kocka, Klassen oder Kultur? Durchbrüche u. Sackgassen in der Arbeitergeschichte, in: Merkur, Jg. 36, 1982, S. 955-65.

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Anmerkungen

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5 Vgl. zu dieser deskriptiven Definition: H. Linde, Z u r sozialökonomischen Struktur u. soziologischen Situation des deutschen D o r f e s , in: Das D o r f . Gestalt u. A u f g a b e ländlichen Z u s a m m e n l e b e n s , H a n n o v e r 1954, S. 5 - 2 4 , hier S. 10ff.; Mitterauer, L e b e n s f o r m e n , S. 316ff.; Saalfeld, Ständische Gliederung, bes. S. 464, 474fF.; 480; zur A r m u t vgl. ζ. B. Fischer, A r m u t , S. 49fF. Die Literatur zu diesen Unterschichten ist weit verstreut in regionalen U n t e r s u c h u n g e n zur A g r a r - u n d Sozialstruktur. Ü b e r b l i c k e u n d Einstiege bieten: Conze, »Pöbel«; Franz, Bauernstand, S. 214ff.; Fischer, Wirtschaft, S. 242ff.; Schissler, S. 97ff; Kriedte u. a., Industrialisierung, S. 66ff.; dies., Proto-Industrialisierung, S. 96f. Vgl. ferner die unten in A n m . 47/1 angegebene Literatur z u m n o r d w e s t d e u t s c h e n R a u m . 6 Marx u. Engels, Die deutsche Ideologie, M E W , Bd. 3, S. 176ff. M a n kann n u r unterstreichen, was Schissler, S. 43 f. schreibt: »Bei der Problematik der sozialen Schichtung v o n v o r i n dustriellen, agrarischen Gesellschaften macht sich die Tendenz zur D i c h o t o m i s i e r u n g in den M o d e r n i s i e r u n g s t h e o r i e n u n d ihre residuale B e h a n d l u n g v o n Traditionalität besonders n a c h teilig b e m e r k b a r . « 7 Z u dieser an M a r x u n d Weber angelehnten Begrifflichkeit vgl. (mit Literaturnachweisen): J. Коска, Stand-Klasse-Organisation. Strukturen sozialer Ungleichheit in Deutschland v o m späten 18. bis z u m f r ü h e n 20. J a h r h u n d e r t i m Aufriß, in: H.-U. Wehler (Hg.), Klassen in der europäischen Sozialgeschichte, G ö t t i n g e n 1979, S. 137-65, hier S. 138fF.; Reif, Adel, S. 24ff.; Schissler, S. 44ff. Z u m M a r k t p r i n z i p g r u n d l e g e n d : K. Polanyi, T h e Great T r a n s f o r m a t i o n . Politische u. ö k o n o m i s c h e U r s p r ü n g e v o n Gesellschaften u. Wirtschaftssystemen (1944), F r a n k f u r t 1977. 8 A L R , Buch II, Titel 7, § 1 (künftig zit. A L R II, 7, § . . . ). Wie fließend das Verständnis des »Bauernstandes« u m 1800 g e w o r d e n war, zeigt der Begriff »Landarbeiter« i m ursprünglichen Titel des O k t o b e r e d i k t s , der dann geändert w u r d e in »Landbewohner«, w ä h r e n d j e n e r T e r m i nus in der Präambel des Edikts beibehalten w u r d e . Vgl. Scheel (Hg.), R e f o r m m i n i s t e r i u m , Bd. 1, S. 11 f.; Goltz, Landwirtschaft, Bd. 2, S. 193. 9 A L R II, 7, § 113-121, 1 8 2 f f ; vgl. dazu Koselleck, Preussen, S. 1 3 2 f f , Zitate e b d . , S. 133, 134; Fischer, Wirtschaft, S. 243. N i c h t überzeugend ist Saalfelds B e s t i m m u n g der Besitzlosen als innerständische Unterschicht im Bauernstand; vgl. ders., Ständische Gliederung, S. 4 7 4 f f ; ähnlich Franz, B a u e m s t a n d , S. 229. Ü b e r w i e g e n d wird die soziale Differenzierung n u r d e skriptiv registriert. O h n e theoretische Schlußfolgerungen bleibt auch: W. A. Boelcke, W a n d lungen der dörflichen Sozialstruktur w ä h r e n d Mittelalter u. Neuzeit, in: Ders. и. H. Haushofer (Hg.), Wege u. F o r s c h u n g e n der Agrargeschichte. Festschrift f u r G. Franz, F r a n k f u r t 1976, S. 80-104. 10 Im folgenden stütze ich m i c h besonders auf Shanin (Hg.), Peasants; ders., A w k w a r d class; ders., T h e n a t u r e and Logic o f t h e peasant e c o n o m y , in:JPS, Bd. 1,1973/74, S. 6 3 - 8 0 , 1 8 6 - 2 0 6 . Z u weiterer Literatur u n d Diskussion vgl. Kriedte u.a., Industrialisierung, S. 90ff.; Dipper, B a u e r n b e f r e i u n g , S. 36. 11 Medick, in: Kriedte u.a., Industrialisierung, S. 92. 12 Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848-1850, M E W , Bd. 7, S. 44. Dies w a r freilich n u r eine Seite in M a r x ' D e n k e n ü b e r die Bauern, das i m m e r ambivalent war; vgl. M. Dugget, M a r x o n Peasants, in:JPS, Bd. 2, 1975, S. 159-82. 13 Shanin, Introduction, in: ders. (Hg.), Peasants, S. 15 f. 14 Vgl. auch die Kritik v o n S. W. Mintz, A note o n the definition on peasantries, in: JPS, Bd. 1, 1973/74, S. 91-106. 15 Weber, Wirtschaft u. Gesellschaft, S. 632. 16 Allgemein anregend dazu: G . Dalton, Peasant Markets, in: J P S , Bd. 1, 1973/74, S. 2 4 0 43. 17 Vgl. insbesondere die Arbeiten v o n Berthold, Harnisch u n d Plaul (s. Literaturverzeichnis); ferner: H.-J. Räch и. B. Weissei (Hg.), Landwirtschaft u n d Kapitalismus. Z u r E n t w i c k l u n g der ö k o n o m i s c h e n u. sozialen Verhältnisse in der M a g d e b u r g e r B ö r d e v o m A u s g a n g des 18. J a h r -

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Anmerkungen

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h u n d e r t s bis z u m E n d e des ersten Weltkrieges, 2 Halbbde., B e r l i n / D D R 1978; dies. (Hg.), Bauer u n d Landarbeiter i m Kapitalismus in der M a g d e b u r g e r Börde. Z u r Geschichte des dörflichen Alltags v o m A u s g a n g des 18. J a h r h u n d e r t s bis z u m Beginn des 20. J a h r h u n d e r t s , B e r l i n / D D R 1982. Pionierarbeit leistete W.Jacobeit; vgl. ders., Bauern u n d dörfliche B e v ö l k e r u n g in der E p o c h e des Ü b e r g a n g s v o m Feudalismus z u m Kapitalismus in Deutschland (1750er bis 1830er Jahre), in: M. Agulhon u. a., Ethnologie et Histoire. Forces productives et problemes de transition, Paris 1975, S. 397-443. 18 G . Heitz, Die Differenzierung der A g r a r s t r u k t u r a m Vorabend der bürgerlichen A g r a r r e f o r m e n , in: Z f G , Bd. 25, 1977 S. 910-27, bes. S. 911, 922, 926. Allerdings ist die » Ü b e r g a n g s problematik« ein P u n k t k o n t r o v e r s e r Diskussion; vgl. ζ. B. Kuczynski, Alltag, Bd. 1, S. 3 0 f f . , 303ff.; ebd., Bd. 2, S. 134ff. 19 Z u Schlesien u n d z u m »preußischen Weg« vgl. neben der o b e n in A n m . 17 genannten Literatur: H. Bleiber, Z w i s c h e n R e f o r m u n d Revolution. Lage u n d K ä m p f e der schlesischen B a u e r n u n d Landarbeiter im V o r m ä r z 1840-1847, B e r l i n / D D R 1966; ferner die H i n w e i s e auf die »Varianten« des »preussischen Weges« u n d deren kritische Diskussion bei Dipper, B a u e r n befreiung, S. 24ff.; ebd., S. 143ff. über bäuerliche U n r u h e n i m K o n t e x t der R e f o r m e n . G r u n d l e g e n d f u r ein neues Verständis des »preußischen Weges« u n d diesen Begriff eigentlich überflüssig m a c h e n d : Harnisch, B e d e u t u n g der kapitalistischen A g r a r r e f o r m . 20 B. Kerblay, Bauern, in: S o w j e t s y s t e m u n d demokratische Gesellschaft, Freiburg 1966, Bd. 1, Sp. 583-600, h i e r S p . 588. 21 Z u r Definition: Tilly и. Tilly, Agenda, S. 186; Kriedte u. a., Industrialisierung, S. 26. D e r Begriff w u r d e ursprünglich geprägt von Mendels, Proto-industrialization. Die folgenden B e m e r k u n g e n schließen sich j e d o c h der erweiterten »Agenda« des Begriffs an, die die G ö t t i n g e r F o r s c h e r g r u p p e Kriedte, Medick u. Schlumbohm vorgelegt hat. 22 Kriedte u.a., Industrialisierung, S. 87. 23 Z u r Kritik u n d z u m Diskussionsstand vgl. die in der » A n t w o r t « verzeichnete Literatur: Kriedte u.a., Proto-Industrialisierung; eine a m M o d e l l der >Göttinger< orientierte gute e m p i r i sche Studie: Tanner. Die Kritik bezieht sich zentral auf das Gewicht einzelner Faktoren der ländlichen Hausindustrie gegenüber anderen i m Hinblick auf den v o n den Göttinger A u t o r e n e n t w o r f e n e n epochalen E n t w i c k l u n g s c h a r a k t e r der Proto-Industrialisierung. D a v o n k a n n in dieser Studie abgesehen w e r d e n , da hier P r o t o - I n d u s t r i e n u r als regionales P h ä n o m e n in einem zeitlich begrenzten R a h m e n interessiert. 24 Z u diesem B e g r i f f s . E. Schremmer, Standortausweitung der W a r e n p r o d u k t i o n i m langfristigen W i r t s c h a f t s w a c h s t u m . Z u r Stadt-Land-Arbeitsteilung i m G e w e r b e des 18. J a h r h u n derts, in: V S W G , Bd. 59, 1972, S. 1—40; ders., Ü b e r l e g u n g e n zur B e s t i m m u n g des g e w e r b l i chen u. agrarischen Elements in einer Region: in: Kellenbenz (Hg.), N e b e n g e w e r b e , S. 1-29; ders., Die Wirtschaft Bayerns. V o m h o h e n Mittelalter bis z u m Beginn der Industrialisierung, M ü n c h e n 1970, S. X I , 345 f. u n d S. IX, 379 zu der Forderung b z w . Folgerung, die T r e n n u n g zwischen A g r a r - u n d Gewerbegeschichte aufzuheben. 25 Dieses Bild nach Kriedte u.a., Proto-Industrialisierung, S. 98. 26 Vgl. Mendels, Proto-industrialization, S. 244ff., noch im Anschluß an: E. L. Jones, Agricultural O r i g i n s of Industry, in: Past & Present, H e f t 40, 1968, S. 58-72; ders., L a n d w i r t schaft u. bäuerliches G e w e r b e in Flandern i m 18. J a h r h u n d e r t , in: Kriedte u.a., Industrialisier u n g , S. 325-49; ders., Seasons and Regions in Agriculture and Industry D u r i n g the Process of Industrialization, in: S. Pollard (Hg.), Region u. Industrialisierung, Göttingen 1980, S. 177-95. H i n w e i s e auf die gewerblich-agrarische R ü c k k o p p e l u n g bei Fischer, Wirtschaft, S. 469f.; A. Hojjmann, Z u r P r o b l e m a t i k der agrarischen N e b e n g e w e r b e u n d der Reagrarisierung, in: Kellenbenz (Hg.), S. 30. 27 Diese R ü c k w i r k u n g e n auf die Bauernschaft übersieht m e r k w ü r d i g e r w e i s e Linde in seiner Interpretation des H a n n o v e r s c h e n Beispiels proto-industrieller Garnspinnerei, das er gleichw o h l als »typisch« bezeichnet. Lindes häufig scharfsinnige E i n w ä n d e bleiben in sozialge-

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Anmerkungen zu Seite 30—35

schichtlicher Hinsicht einem statischen Bild verhaftet, das insbesondere die bäuerlichen Reaktionen auf eine proto-industrielle Entwicklung ausblendet; H. Linde, Proto-Industrialisierung: Z u r Justierung eines neuen Leitbegriffs der sozialgeschichtlichen Forschung, in: GG, Jg. 6, 1980, S. 103-24, hier S. 117ff.; vgl. auch Kriedte u.a., Proto-Industrialisierung, S. 92ff. Im übrigen bezeichnet den gesellschaftlich vielfältigen Wirkungszusammenhang (ähnlich wie der Begriff »Industrialisierung«) das Kunstwort »Proto-Industrialisierung« besser als die alten Termini »Haus-« bzw. »Verlagsindustrie« oder der Ausdruck »Exportgewerbe«. 28 Vgl. dazu immer noch: H. Rosenberg, Deutsche Agrargeschichte in alter und neuer Sicht (erstmals 1969), in: ders., Machteliten u. Wirtschaftskonjunkturen. Studien zur neueren deutschen Sozial- u. Wirtschaftsgeschichte, Göttingen 1978, S. 118-149. 29 Weil jene Einheit nicht reflektiert wird, sondern Zuflucht gesucht wird in willkürlichen Unterscheidungen zwischen Haupt- und Nebengewerbe, bleibt der Sammelband von Ketlenbenz (Hg.), Nebengewerbe, konzeptionell enttäuschend. 30 Vgl. W. Wittich, Die Grundherrschaft in Nordwestdeutschland, Leipzig 1896; Lütge, Agrarverfassung, S. 190f. 31 Ein literarisches Denkmal fand dieser T y p von Großbauer in den »Idyllen« von Goltz und insbesondere in Karl Immermanns Erzählung »Der Oberhof« im Rahmen des Romans »Münchhausen« (1838/39), die die »gesunde bäuerliche Welt« der Dekadenz entgegenstellt. Das genealogische Bewußtsein prägt vielfach die Lokal- und Heimatgeschichte. Die Überlieferung der Sachkultur ist zu besichtigen im Westfälischen Freilichtmuseum bäuerlicher Kulturdenkmäler bei Detmold. 32 Gülich, Ackerbau, S. 140. 33 Koselleck, Preußen, S. 528. 34 So der Amsberger Regierungspräsident Keßler 1836, zit. nach Richter, Übergang, Teil I, S. 171. 35 Zur älteren politischen Geschichte der genannten Territorien vgl. zusammenfassend: G. Benecke, Society and Politics in Germany 1500-1750, London 1964, S. 64ff.; zur neueren: G. Engel, Die politische Geschichte Westfalens, 3. Aufl. Köln 1970; zum Paderborner Land vgl. insbesondere Richter, Übergang. 36 Zur Verwaltungsgeschichte vgl. Sandow; Rempe; D. Wegmann, Die leitenden staatlichen Verwaltungsbeamten der Provinz Westfalen 1815-1918, Münster 1969; Flächenangabe nach Meitzen, Bd. 1, S. 66; zur Bevölkerung vgl. Anhang 1. 37 Seemann, S. 4ff.; J. G. Hofmann, Die Bevölkerung des preußischen Staates, Berlin 1839, S. 272f.; Flohrschütz, S. 57. 38 Zit. nach E. Schoneweg, Der minden-ravensbergische Volkscharakter, in: ders. (Hg.), Minden-Ravensberg. Ein Heimatbuch, Bielefeld 1929, S. 220-42, hier S. 222. 39 Beide Zitate nach Reekers, Paderborn, S. 85 f. 40 Z u r Entwicklung der Parteien und des Wahl Verhaltens nach 1850 vgl. R. Vierhaus, Wahlen und Wählerverhalten in Ostwestfalen u. Lippe, untersucht an den Reichstags- u. Landtagswahlen von 1867 bis 1912/13, in: Westfälische Forschungen, Jg. 21,1968, S. 54-68; H . Hüffinann, Z u r Geschichte der politischen Parteien im Kreise Herford im 19. Jahrhundert, in: 100 Jahre Landkreis Herford, Herford 1966, S. 58-73; K. F. Watermann, Politischer Konservatismus u. Antisemitismus in Minden-Ravensberg 1879-1914, in: Mitteilungen des Mindener Geschichtsvereins, Jg. 52, 1980, S. 11-64; Diu, S. 147 f f , 232ff. 41 Vgl. dazu auch Mooser, Rebellion, S. 57 fF. 42 Sonst wird eher die Trennung von Landwirtschaft und Proto-Industrie akzentuiert; vgl. Kriedte u.a., Industrialisierung, S. 68ff. und die oben Anm. 26 angegebene Literatur: anders und im hier gemeinten Sinne dagegen auch: Mager, Protoindustrialisierung. Die Klassenanalyse der Proto-Industrialisierung ist im allgemeinen nicht zuletzt deshalb schwierig, weil man es, wenn man den regionalen Rahmen verläßt, mit einer großen Vielfalt unterschiedlicher sozialer Trägergruppen zu tun hat; natürlich folgt daraus auch, daß der vorliegende Beitrag zu diesem

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Anmerkungen

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P r o b l e m n u r ein begrenzter sein kann. Die Diskussion v o n Kriedte u. a. bleibt noch a b strakt u n d b e w e g t sich letztlich unentschieden zwischen a) der D u r c h s e t z u n g der kapitalistischen P r o d u k t i o n s w e i s e u n d b) der »symbiotischen Beziehung« zwischen Familienwirtschaft u n d Handelskapital als »Produktionsweise des Ü b e r g a n g s « ; vgl. Kriedte u.a., I n d u strialisierung, bes. S. 112ff. b z w . 202ff. Eine schärfere Explikation dieser in d e m g e n a n n ten Buch eher impliziten K o n t r o v e r s e leistet Boch. 43 R. Koselleck, Ereignis u. Struktur, in: ders. u. W.-D. Stempel (Hg.), Geschichte - E r e i g n i s - E r z ä h l u n g , M ü n c h e n 1973, S. 560-70, h i e r S . 565. 44 Koseileck, P r e u ß e n , S. 631. 45 Von den älteren U n t e r s u c h u n g e n sind i m m e r noch g r u n d l e g e n d die Arbeiten v o n Engel; Potthoff; Reekers; Schmidt; Schönfeld; zu den j ü n g e r e n U n t e r s u c h u n g e n , die noch eingearbeitet w u r d e n , vgl. die Arbeiten von Angermann; Ditt; Kamphoefher; Mager; Schlumbohm; Wadle. Die Diss, v o n Klocke basiert hauptsächlich auf d e m damals noch unveröffenltichten Bericht Bitters u n d bleibt in m a n c h e m hinter der älteren landesgeschichtlichen Literatur zurück. Im weiteren habe ich für die Ü b e r a r b e i t u n g noch v o n fruchtbaren Diskussionen m i t W . M a g e r u n d seinen Projektmitarbeitern g e w o n n e n . 46 Vgl. v. a. die Arbeiten v o n Henning; ferner Heggen; Pfeiffer, Wirtschaftsstruktur; Reekers, P a d e r b o r n . Nützliche lokale U n t e r s u c h u n g e n : Emst; Rothert; Tönsmeyer. Die neueste Darstellung v o n Henning, Vorindustrielles G e w e r b e , konzentriert sich auf die Zeit u m 1800, enthält hingegen zur E n t w i c k l u n g i m 19. J a h r h u n d e r t , gestützt auf die Gewerbestatistik v o n 1907, n u r w e n i g e kursorische B e m e r k u n g e n . - Weitere themenspezifische B e m e r k u n g e n z u m Forschungsstand finden sich am B e g i n n der einzelnen Kapitel. 47 Von j e n e n g r u n d l e g e n d e n Werken seien hier h e r v o r g e h o b e n : Abel, M a s s e n a r m u t ; Braun, Industrialisierung; Koselleck, Preußen; Thompson, W o r k i n g class; ders., Kultur. Vgl. jetzt auch den systematischen A u f r i ß von Kocka, Lohnarbeit, sowie die breiten sozialgeschichtlichen Ü b e r b l i c k e bei Nipperdey. Z u den regionalen Forschungen vgl. insbesondere die Arbeiten b z w . Quelleneditionen v o n Husung; Reif; Sauermann; Schildt; Steinbach. Ferner: E. W. Buchholz, Ländliche B e v ö l k e r u n g an der Schwelle des Industriezeitalters. D e r R a u m B r a u n s c h w e i g als Beispiel, Stuttgart 1966; H. Linde, Das Königreich H a n n o v e r an der Schwelle des Industriezeitalters, in: N e u e s Archiv f. Niedersachsen, Bd. 24, 1951, S. 413-45; K. Mittelhäuser, Häuslinge im südlichen Niedersachsen, in: Bl. f. deutsche Landesgeschichte, B d . 116, 1980, S. 235-78; G . Ritter, Die Nachsiedlerschichten i m n o r d w e s t deutschen R a u m u. ihre B e d e u t u n g fur die Kulturlandschaftsentwicklung u n t e r besonderer Berücksichtigung der Köter i m niederbergischen Land, in: Berichte zur deutschen Landesk u n d e , Bd. 41, 1968, S. 85-128; D . Saalfeld, Stellung u n d Differenzierung der ländlichen B e v ö l k e r u n g N o r d w e s t d e u t s c h l a n d s in der Ständegesellschaft des 18. Jahrhunderts, in: E. Hinrichs u. G. Wiegelmann (Hg.), Sozialer u. kultureller Wandel in der ländlichen Welt des 18. J a h r h u n d e r t s , Wolfenbüttel 1982, S. 229-251; К. H. Schneider, Die landwirtschaftlichen Verhältnisse u. die A g r a r r e f o r m e n in S c h a u m b u r g - L i p p e im 18. u. 19. J a h r h u n d e r t , Rinteln 1983. 48 Vgl. den E x k u r s bei Koselleck, Preußen, S. 667 ff. 49 R. Reichardt, B e v ö l k e r u n g u. Gesellschaft Frankreichs i m 18. J a h r h u n d e r t . N e u e Wege u. Ergebnisse der sozialhistorischen Forschung 1950-1976, in: Zs. f. Historische F o r schung, J g . 4, 1977, S. 154-221, h i e r S . 155. 50 P. Vilar, Marxistische Geschichte, eine Geschichte i m Entstehen. Versuch eines D i a logs mit Althusser, in: M. Bloch u . a . , Schrift u. Materie der Geschichte. Vorschläge zur systematischen A n e i g n u n g historischer Prozesse, hg. von C . Honegger, F r a n k f u r t 1977, S. 108-71, h i e r S . 128. 51 Diese Literatur ist n u n gut zu erschließen d u r c h W. Sachse, Bibliographie zur p r e u ß i schen Gewerbestatistik 1750-1850, Göttingen 1981. 52 Zit. nach D. Narr, Wilhelm M e r c y (1753-1824). Ein C h a r a k t e r k o p f in der E p o c h e

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Anmerkungen zu Seite 39—42 der Spätaufklärung, in: Volkskultur u. Geschichte, Festschrift fur Josef Dünninger, Berlin 1970, S. 58.

II. Soziale und wirtschaftliche Strukturen in Minden-Ravensberg und Paderborn 1 Gruner, Wallfahrt, Bd. 2, S. 486; vgl. Keinemann, Ansichten, S. 408 ff. 2 Von dem Fabrikenzustand in der Grafschaft Ravensberg, in: WM, Bd. 1, 1784, H. 2, S. 98. Für die gebildeten Zeitgenossen war Westfalen nicht das Land der »Industrie«, sondern ein unwirtliches Land ohne Aufklärung, voll von Schinken, Pumpernickel und sturen Bauern. Vgl. P. Probst, Westfalen in der Kritik des 18. Jahrhunderts, Diss. Münster 1912; Keinemann, Ansichten. 3 Vgl. Reekers, Minden-Ravensberg, S. 121. 4 Zit. nach Bodelschwingh, Leben Vinckes, S. 256 f. 5 (Anonym), Von den beträchtlichsten Mängeln, S. 537. In der Diskussion über die geistlichen Staaten am Ende des 18. Jahrhunderts finden sich Anfänge der Diskussion über den Zusammenhang zwischen Protestantismus und Kapitalismus. Vgl. Heggen, S. 13 ff. 6 Jene Zahlen nach Reekers, Minden-Ravensberg, S. 122, 125; dies., Paderborn, S. 157, 159. Vergleichszahlen bei Schultz, Landhandwerk, S. 36 ff. 7 Nach Reekers, Minden-Ravensberg, S. 82, 125; dies., Paderborn, S. 159. Da die Angaben auf dem problematischen Kriterium der »Hauptbeschäftigung« beruhen, also hauptberuflich Gewerbetreibende mit Landbesitz ausschließen, liegt ihnen nicht die Gesamtzahl der Betriebe zugrunde. Sie geben nicht mehr als eine grobe proportionale Verteilung. Als Kleinbauern wurden klassifiziert die Kötter, Bardenhauer und Brinksitzer. Eine »volle Ackernahrung« war natürlich auch abhängig von der Bodenqualität und der Abgabenlast. Bei mittlerem Boden betrug sie 5 ha, bei schlechterem 8 ha Nutzfläche (Henning, Dienste, S. 116, 130f.). Für das Paderbornische errechnete Henning (Bauernwirtschaft, S. 224) 8 ha als das Minimum für eine »volle Ackernahrung«. 8 Zahlennach Geiger, Elite, S. 263; Reekers, Minden-Ravensberg, S. 122;ebd. detailliertere Angaben und weitere Literatur. Für das Paderborner Land gibt es fur die Zeit vor 1800 keine aggregierten Bevölkerungsdaten. Ein Hinweis auf die Bevölkerungs Vermehrung bei Henning, Herrschaft, S. 256. 9 Vgl. zusammenfassend Franz, Bauernstand, S. 210ff. 10 Z u m Folgenden vgl. vor allem Riepenhausen, S. 101 ff.; Wrasmann, Heuerlingswesen, I, bes. S. 72 ff. 11 Ausfuhrlicher zum Heuerlingssystem unten S. 246 ff. 12 Wigand, Minden-Ravensberg, Bd. 2, S. 128 f.; Riepenhausen, S. 106, spricht von einem Rückgang der Viehwirtschaft der Bauern durch die Besiedlung der Marken. Wahrscheinlicher scheint jedoch ein dadurch veranlaßter früherer Übergang zu einer Intensivierung der Viehwirtschaft; vgl. unten S. 57 f. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang die frühe Teilung der Gemeinheiten in den dicht bevölkerten Gegenden; vgl. unten S. 124. 13 Empirisch-systematische Studien zur Entwicklung der bäuerlichen Belastung in der frühen Neuzeit fehlen noch. Die landesgeschichtliche Literatur (v. a. Schotte, Entwicklung, S. 25ff.) stützt sich vor allem auf das Ravensberger Urbar von 1550 (vgl. Schreiber, Urbar) sowie auf die von Wigand gesammelten Rechtsquellen. Vgl. bes. Wigand, Minden-Ravensberg, Bd. 2, S. 117ff. Die obige Behauptung wird auch im Vergleich mit den strukturähnlichen Verhältnissen im Fürstentum Osnabrück plausibel. Vgl. K. Winkler, Landwirtschaft und Agrarverfassung im Fürstentum Osnabrück nach dem Dreißigjährigen Kriege, Stuttgart 1959. Zur Verschuldung der Bauern an Heuerlinge Beispiele ebd., S. 82, 90f.; Henning, Verschuldung westfälischer Bauernhöfe, S. 21;Homoetu.a., Sterbfallinventare, S. 168. 14 Die genannten Zahlen nach Schreiber, Urbar, S. 48ff.; Geiger, Elite, S. 264; Potthoff,

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42-46

Bevölkerung, S. 18, vgl. Anhang 21. Bevölkerungsdichte nach Reekers, Minden-Ravensberg, S. 122. 15 Vgl. die verstreuten Angaben bei Henning, Herrschaft, S. 255ff., 260, 263. Für die Erforschung der frühneuzeitlichen Agrargeschichte des Paderborner Landes gilt ähnliches wie fur Minden-Ravensberg. Hennings Arbeiten beziehen sich auf die Struktur im 18. Jhdt., weniger auf die Entwicklung bis zum 18. Jh. Einen Überblick über die Entwicklung seit dem späten Mittelalter bietet Haxthausen, Agrarverfassung, S. 159ff.; Wigand, Paderborn/Corvey Bd. 2, S. 279ff. Ein wichtiger Neuansatz zur Paderborner Agrargeschichte der frühen Neuzeit: Lienen. 16 Solche Teilungsverbote erfolgten in den Jahren 1655, 1662, 1711, 1720, 1726, 1747 und schließlich 1765 in der Meyer-Ordnung (Wigand, Paderborn/Corvey Bd. 2, S. 340ff.; vgl. auch Schwerz, S. 304f.). Diese Teilungsverbote sind Hinweise auf Auseinandersetzungen zwischen Adel und Bauern um die Dispositionsfreiheit über das grundherrlich gebundene Land (auch aus Minden-Ravensberg wird darüber berichtet, ohne daß schon ein deutlicheres Bild zu erkennen wäre; vgl. Wigand, Minden-Ravensberg Bd. 1, S. 154). Sie bezogen sich insbesondere auf die Verpfändung und Nutzungsübertragung von Parzellen, die sog. Elocationen, durch die die Bauern ihre Schulden abzugelten pflegten. 17 Haxthausen, Agrarverfassung, S. 39f.; vgl. auch Schwerz, S. 304f., 332f.; Henning, Herrschaft, S. 270, 296. 18 Henning, Bauernwirtschaft, S. 30; Reekers, Paderborn, S. 159. 19 Schwerz, S. 305. 20 Vgl. unten S. 247, S. 433, Anm. 2/VII. 21 Schwerz, S. 6. 22 Alle genannten Zahlen nach Reekers, Minden-Ravensberg, S. 124f.; dies., Paderborn, S. 159, 161. 23 Schwager, Halle, S. 108. Vgl. Meise, Halle, S. 66, 175ff.; Pohl, S. 45f.; H. Nordsiek, Lübbecke im 18. Jahrhundert. Eine historisch-topographische Stadtbeschreibung, bearbeitet von H. Nordsiek, in: Mitteilungen des Mindener Geschichts- und Museumsvereins, Jg. 40, 1968, S. 135-45; Henning, Wirtschaftsstruktur, S. 150, 154ff. 24 Meise, Halle, S. 77 ff, ZitatS. 79 f.; vgl. zur Lage der städtischen Handwerker auch ebd., S. 175ff.; Steinkamp, S. 101 f f ; Kaußold, Gewerbe, S. 327ff. Das Verhältnis der Kleinstädte zum proto-industriell-agrarischen Umland verdiente eine nähere Untersuchung. Anregend dazu: Penners, Abwanderung; ders., Land-Stadt-Wanderung. Im Anschluß an Penners: G. Heitz, Z u r Rolle der kleinen mecklenburgischen Landstädte in der Periode des Ubergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus, in: G. Heitz и. M. Unger (Hg.), Hansische Studien, Heinrich Sproemberg zum 70. Geburtstag, Berlin 1961, S. 103-22. Allgemein, aber ohne besondere Berücksichtigung der Kleinstädte: P. Kriedte, Die Stadt im Prozeß der europäischen ProtoIndustrialisierung, in: Die alte Stadt. Zs. f. Stadtgeschichte, Stadtsoziologie und Denkmalpflege, Bd. 8, 1981, S. 19-51. 25 Potthoff, Handel u. Gewerbe, S. 233. Ziffern nach Reekers, Minden-Ravensberg, S. 126f. Zur Quellenproblematik vgl. ebd., S. 76ff.; Kaußold, Gewerbe, S. 472ff. Z u m vieldeutigen »Fabrik«-Begriffvgl. D. Hilger, Fabrik, in: Brunner u.a. (Hg.), Grundbegriffe, Bd. 2, S. 22952, bes. S. 233 ff. Z u den Unterschieden innerhalb von Minden-Ravensberg vgl. unten S. 48 f. 26 Vgl. Reekers, Tecklenburg-Lingen, S. 51 ff.; für 1819: Bielenberg, Vielfalt, S. 13ff. 27 Zit. Reekers, Paderborn, S. 95; zum ganzen ebd., S. 94f., 103ff. Uberblick mit weiterer Literatur: Heggen. 28 Pfeifer, Wirtschaftsstruktur, S. 72, Anm. 19; Reekers, Minden-Ravensberg, S. 126f. 29 Reglement für die Grafschaft Ravensberg 1719, zit. nach Reekers, Minden-Ravensberg, S. 85. Die Bielefelder Schuhmachermeister beschwerten sich charakteristischerweise 1824 über die Konkurrenz der Landschuster infolge der Gewerbefreiheit: »Vor Aufhebung der Zünfte hatte das Schuhmacher Amt hiesiger Stadt das Privilegio von unserem allergnädigsten König,

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Anmerkungen zu Seite 47—49

daß auf dem Lande und umliegenden Dörfern sich kein Meister, der neue Arbeit verfertigte, niederlassen dürfe, sondern es wurde nur eine beschränkte Zahl Altflicker zugelassen.« Beschwerde v o m 6. 7. 1824 an den Magistrat der Stadt Bielefeld, in: STAB Rep. 1С, Nr. 1. Z u r Rivalität zwischen städtisch-zünftischem und ländlichem Handwerk vgl. auch Steinkamp, S. 11 ff. Für Minden-Ravensberg und Paderborn ist dieser Aspekt noch nicht erforscht; vgl. Pohl. 30 So die These von Schultz, Landhandwerk. Vgl. auch Henning, Wirtschaftsstruktur, S. 144f. 31 Zur Nachfrage nach Handwerksprodukten in Heuerlingshaushalten vgl. Anhang 28. Der bäuerliche Wohlstand führte weniger zu einer Nachfrage beim ländlichen, sondern mehr beim städtischen Handwerk. Vgl. ζ. В. K. Roth, Ländliches Wohninventar im Münsterland um 1800, in: AfS Bd. 19, 1979, S. 389-424. Vgl. aber die gegensätzlichen Aussagen bei Schultz, Landhandwerk, S. 20ff.; Hämisch, Produktivkräfte . . . in der Börde, S. 124ff. 32 Genauere Daten zum Landbesitz bzw. der Landnutzung von Handwerkern im Untersuchungsgebiet fehlen noch. Hinweise bei Henning, Herrschaft, S. 282; Wigand, Paderborn/ Corvey, Bd. 2, S. 415. In der an das Mindensche angrenzenden Grafschaft Schaumburg-Lippe hatte im 18. Jh. fast jeder Landhandwerker Haus- und Grundbesitz, über die Hälfte allerdings weniger als zwei Morgen (Steinkamp, S. 41, 4 4 f f , 124). Für andere Regionen vgl. O. Nübel, Das Landhandwerk des Münsterlandes um die Wende des 19. Jahrhunderts, Diss. Münster 1913, S. 53ff.; Schultz, Landhandwerk, S. 38, 40; Harnisch, Produktivkräfte. . . in der Börde, S. 124 ff. Generell zum Problem der Unterbeschäftigung: Henning, Wirtschaftsstruktur, S. 1 3 9 f f , 167. 33 Vgl. P. Wrede, Ein dörflicher Handwerksbetrieb um 1800, in: Rav. Bll., Jg. 52, 1952, S. 8. 34 Zur Bautätigkeit der Klöster: Schwerz, S. 394. Z u m Festungsbau s. ζ. В. P. Lautzas, Die Festung Mainz im Zeitalter des Ancien Regime, der Französischen Revolution und des Empire (1736-1814), Wiesbaden 1973, S. 108 Anm. 37, S. 110 ff. Auf der Festung Minden waren 1831 1000 Arbeiter beschäftigt (Zeitungsbericht der Rg. Minden, S T A M O P 3 5 1 , Bd. 4, Bl. 124f.). 35 J. Hagemann, Dahlhausen, das Dorf der Korbmacher, in: Die Warte Jg. 26, 1965, H. 4, S. 61; Gülich, Ackerbau, S. 112; Meurer, S. 5; Reekers, Paderborn, S. 101; Pfeiffer, Wirtschaftsstruktur, S. 69. 36 Steinkamp, S. 93; Schwerz, S. 316; Schoneweg, Flachsbau, S. 14; F. Mahlmann, Erinnerungen eines lippischen Zieglers, in: Lippische Mitteilungen aus Geschichte und Landeskunde, Bd. 42, 1973, S. 31-57, hierS. 35. 37 Vgl. zur ähnlichen Struktur des Landhandwerks noch am Ende des 19. Jh.: M. Kriele, Z u r Lage des ländlichen Handwerks in Niederschlesien, in: Untersuchungen zur Lage des Handwerks in Deutschland, Bd. 9, S. 481-523 (= Schriften des Vereins für Socialpolitik, Bd. 70, Leipzig 1897); N. Nipp, Nebenerwerb - Hemmfaktor der Gewerbeentwicklung: Kapitalstruktur des ländlichen Kleingewerbes in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Südbayern, in: VSWG, Bd. 67, 1980, S. 153-76. 38 Hufion, S. 15, passim. Diese Ökonomie scheint auf in der Beschreibung eines kleinen Hofes im Amt Boke: Der sechs M g große, hochverschuldete Hof wurde bewirtschaftet von der Frau mit zwei Kindern; die zwei ältesten Kinder waren im Gesindedienst auf anderen Höfen, der fünfzigjährige Mann befand sich »im Ausland, Holland, um Geld zu verdienen«. Protokoll vom 6. 6. 1802, in: S T A M Fürstl.-Paderbornische Hofkammer VIII, N r . 328. 39 Vgl. Geiger, Elite, S. 37ff.; Potthoff, Leinengewerbe, passim, bes. S. 64, 75. Der Aufschwung zeigt sich auch in der vermehrten Einfuhr von Leinsaat fur den Flachsbau. Vgl. Harder-Gersdorff, bes. S. 174. 40 Weddigen, Ravensberg, Bd. 1, S. 103. 41 Für das Folgende vgl. die grundlegende Literatur zur Gewerbegeschichte Minden-Ravensbergs: Reekers, Minden-Ravensberg; Potthoff, Leinengewerbe; ders., Leinenleggen;

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Anmerkungen

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Schmidt, Leinen; ders., Delius - Versmold; Schönfeld; Mager, Protoindustrialisierung; Ditt. Z u r innerregionalen Differenzierung vgl. auch A n h a n g 21. 42 Vgl. A n h a n g 28; Weddigen, Ravensberg, Bd. 1, S. 101 f.; Schwager, Bauer, S. 54. Schoneweg, Flachsbau, S. 13f. A u f d e m H o f Blackemeyer in Vilsendorf, anno 1816 406 M g groß, w a r e n 1775 drei Spinnräder flir feines u n d vier Spinnräder fur grobes G a r n v o r h a n d e n ( J B H V R , J g . 46, 1932, S. 99, 108). 43 Bericht der K D K M i n d e n , zit. nach Schönfeld, S. 45. 44 Vgl. Reekers, P a d e r b o r n , S. 95ff.; Pfeiffer, Wirtschaftsstruktur, S. 69f. 45 Haxthausen, Agrarverfassung, S. 11. 46 Z i f f e r n nach Reekers, P a d e r b o r n , S. 164, 159, unter Einschluß der seit der K o n t i n e n talsperre eingestellten Webstühle, da dieses K r i s e n p h ä n o m e n f ü r die Strukturaussage nicht ausschlaggebend ist. 47 1802 w u r d e n in den Städten des Fürstbistums P a d e r b o r n 77 Ellenhändler gezählt (Paderb o r n im J a h r e 1802, S. 17). Vgl. Reekers, P a d e r b o r n , S. 96, 98; Pfeiffer, Wirtschaftsstruktur, S. 70. 48 Für R a v e n s b e r g vgl. Potthoff, Leinenleggen; Mager, Rolle des Staates; fur P a d e r b o r n : Reekers, P a d e r b o r n , S. 98ff.; Heggen, S. 101 ff. Z u r H a l t u n g des katholischen Adels i m w e s t fälischen M ü n s t e r l a n d , die angesichts der regionalen Verflechtung dieses Adels in g r o ß e n Z ü g e n auch f ü r das P a d e r b o r n e r Land zutrifft vgl. Reif, Adel, S. 41 ff., 166ff., 198f. 49 Anders, allerdings nicht überzeugend: Heggen, passim. Henning, Vorindustrielles G e w e r b e , a r g u m e n t i e r t gegen das traditionelle, zuletzt v o n H e g g e n vertretene Stereotyp des »rückständigen« P a d e r b o r n e r Landes u n d betont wie hier die strategische B e d e u t u n g des » E x p o r t g e w e r b e s « f ü r die E n t w i c k l u n g der regionalen Wirtschaft. H e n n i n g s Überblick über die »zahlreichen Ansätze« dazu m ü n d e t aber doch in die Feststellung, daß sie in Qualität u n d Q u a n t i t ä t nicht ausreichten, u m f ü r die Region »prägend« zu w e r d e n (S. 24). Einen Vergleich m i t M i n d e n - R a v e n s b e r g n i m m t H e n n i n g nicht v o r . 50 Vgl. den interessanten H i n w e i s bei Potthoff, Leinenleggen, S. 68, A n m . 4: 1779 erklärte die K a u f m a n n s c h a f t v o n Versmold, m a n verkaufe das m i n d e r w e r t i g e Leinen aus d e m b e n a c h barten M ü n s t e r s c h e n , Rhedaischen u n d Paderbornischen o h n e Verdienst, n u r u m eine Verbesserung der dortigen Weberei zu verhindern, weil drei Viertel des in Versmold gebrauchten Garns v o n d o r t her bezogen w ü r d e . 51 H o c h s t i f t s Paderbornische G e s i n d e - O r d n u n g v o m 19. M ä r z 1800, gedr. P a d e r b o r n 1800 (in: S T A M F ü r s t e n t u m P a d e r b o r n , Geheimer Rat IV, N r . 37), §§ 1 - 4 . H i n w e i s e auf H o l l a n d g ä n g e r o b e n A n m . 38; Henning, Bauernwirtschaft, S. 144; Schwerz, S. 336; vgl. auch A n h a n g 32. Allgemein zu den H o l l a n d g ä n g e r n : Tack. 52 W A 1815, Sp. 201. 53 Vgl. A n h a n g 21. Im A m t Schildesche stellten sich »jährlich viele E i n w o h n e r aus d e m B i s t u m P a d e r b o r n « als Dienstboten ein (Weddigen, Ravensberg, Bd. 2, S. 75). 54 W . , D e r Ravensberger Spinner, in: M i n d e n s c h e Anzeigen, 15. 8. 1796 ( N r . 33), Sp. 523 ff. 55 D i e wichtigste Quelle über den Z u s t a n d der Landwirtschaft u m 1800 ist ihre Beschreib u n g v o n Schwerz. J o h a n n N e p o m u k Schwerz (1759-1844) w a r neben T h a e r einer der g r o ß e n Agrarschriftsteller des 19. J h . Er besuchte 1816 im A u f t r a g der preußischen V e r w a l t u n g die westlichen Provinzen u n d veröffentlichte seinen Bericht zuerst in den Möglinschen Annalen 1819. Weitere wichtige Quellen: Schwager, Bauer; (Anonym), Betrachtungen über den inneren R e i c h t u m ; Tiemann; Rump. Z u r Sekundärliteratur s. v o r allem: Henning; Schultz, E n t w i c k lung der Landwirtschaft; allgemein zur agrarischen Intensivierung u n d insbes. z u m bäuerlichen Anteil dabei: Berthold, Entwicklungsstand; Harnisch, P r o d u k t i v k r ä f t e . . . in der Börde; Saalfeld, P r o d u k t i o n ; U. Bentzien, Fortschritte u n d Fortschrittsträger der deutschen L a n d wirtschaft i m Spätfeudalismus, in: J b . f. Volkskunde u n d Kulturgeschichte, J g . 1978, S. 140 ff.

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Anmerkungen zu Seite 53—57

56 Schwerz, S. 46, 85, 319; Haxthausen, Agrarverfassung, S. 8. J.P.R., Paderborn, in: WA 1802, Sp. 1430. 57 Meitzen, Bd. 1, S. 276f.; Wilms, S. 3f.; Henning, Bauernwirtschaft, S. 45ff.; ausführliche Beschreibungen ferner bei Haselhoffu. Breme, Entwicklung der Landeskultur, passim. 58 Den Schätzungen liegt die Summierung des steuerbaren und steuerfreien Bodens zugrunde: (Anonym), Betrachtungen über den inneren Reichtum, passim; Henning, Bauernwirtschaft, S. 16. 59 Allgemein: Saalfeld, Produktion, S. 143; für Paderborn: Henning, Bauernwirtschaft, S. 36ff.; fur Minden-Ravensberg: Meitzen, Bd. 3, S. 382ff. 60 Vgl. unten S. 57. 61 Henning, Bauernwirtschaft, S. 49f.; Berthold, Entwicklungsstand, S. 104; (Anonym), Betrachtungen über den inneren Reichtum, passim; Zitat: Riepenhausen, S. 121. 62 Vgl. Abel, Landwirtschaft, S. 200. Z u r betriebsgrößenspezifischen Nutzung des Brachlandes: Riepenhausen, S. 121; Berthold, Entwicklungsstand, S. 101 f. 63 Abel, Landwirtschaft, S. 200f.; Schwerz, S. 97. 64 Schwerz, S. 63f., 369ff.; vgl. Henning, Bauernwirtschaft, S. 48ff. 65 Schwager, Bauer, S. 52f.; ähnlich Weddigen, Ravensberg, Bd. 1, S. 43f. 66 Allgemein: Abel, Landwirtschaft, S. 288ff.; Moser, zitiert nach Kuske, S. 27; Schwager, Bauer, S. 53; Henning, Bauernwirtschaft, S. 57, 66, 87, 157. Vgl. auch die enorme Steigerung der Erntemenge an Kartoffeln in Sachsen, die sich zwischen 1755 und 1772 verfünffachte (Gross, Agrarreform, S. 54). Auf einen weniger starken Anbau der Kartoffeln in Paderborn als in Minden-Ravensberg deutet das Verhalten der preußischen Verwaltung hin, die in der alten Provinz den Anbau von Futtermitteln, in der neuerworbenen hingegen den Kartoffelanbau zu fördern suchte (Dösseler, Quellen, S. 237). Eine noch schwer zu gewichtende Ernteangabe aus dem Jahre 1810 weist auf eine enorme Ausdehnung des Kartoffelbaus im Paderbornischen hin. Danach betrug die Erntemenge an Kartoffeln im Distrikt Paderborn 97%, im Distrikt Höxter 49% der Getreidemenge (Pfeiffer, Wirtschaftsstruktur, S. 66 Anm. 8). In Sachsen betrug die entsprechende Relation im Jahre 181039% (Gross, Agrarreform, S. 54). Z u m Pauperismus vgl. unten S. 326 ff. 67 Zur Bedeutung des Flachsbaus vgl. allgemein: Abel, Landwirtschaft, S. 118, 152 f., 209; Berthold, Entwicklungsstand, S. 1 0 4 f f ; W. Achilles, Die Bedeutung des Flachsanbaues im südlichen Niedersachsen fur Bauern und Angehörige der unterbäuerlichen Schicht im 18. und 19. Jahrhundert, in: Kellenbenz (Hg.), Nebengewerbe, S. 109-24; Schwerz, S. 73ff. (bzgl. Minden), S. 104ff. (bzgl. Ravensberg), S. 128ff. (Hanfbau); Schoneweg, Flachsbau, passim; ebd., S. 17 Zitat. 68 Diese Angaben zum U m f a n g des Flachsbaus stützen sich auf: Saalfeld, Produktion, S. 144; Krug, Bd. 1, S. 51, 89; Potthoff, Leinengewerbe, S. 28f.; Schönfeld, S. 22. Urbare Fläche nach: (Anonym), Betrachtungen über den inneren Reichtum, S. 3. Vgl. Anhang 21. 69 Errechnet nach Krug, Bd. 1, S. 51, 53. Weitere detaillierte Angaben: (Anonym), Paderborn im Jahr 1802, S. 23, 29, 33, 39; Reekers, Paderborn, S. 95 ff. 70 Nach Weddigen, Ravensberg, Bd. 1, S. 41; Pfeiffer, Wirtschaftsstruktur, S. 66; Mager, Haushalt - Spenge, S. 177, Anm. 23. Weitere Angaben zu Ernteerträgen im Paderbornischen in: ST A M Zivilgouvernement 342. 71 Allgemein vgl. Hämisch, Produktivkräfte . . . in der Börde, S. 9 0 f f ; weitere Angaben bzgl. Paderborn: Henning, Bauernwirtschaft, S. 52ff.; Kraayvanger, S. 8; Pfeiffer, Wirtschaftsstruktur, S. 66. 72 Pfeiffer, Wirtschaftsstruktur, S. 71 f.; I.P.R. Paderborn, in: WA 1802, Sp. 1432; Henning, Bauernwirtschaft, S. 65f., 214. 73 Vgl. (Anonym), Betrachtungen über den inneren Reichtum, passim; Weddigen, Ravensberg, Bd. 1, S. 41 f.; Mager, Protoindustrialisierung, S. 437, Anm. 5. Schon im 17. Jh. ist eine zumindest zeitweise Korneinfuhr nach Ravensberg belegt (Geiger, Elite, S. 25). Eine Übersicht

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Anmerkungen zu Seite 57—62 über die Einfuhren nach Ravensberg 1787/88 weist jedoch einen nur geringen Anteil des Getreides auf; es machte nur 6% des Gesamtwerts des Imports (290000 Rt) aus (Weddigen, Statistische Ubersicht, S. 26). Z u m Kartoffelstandard vgl. unten S. 330ff. 74 Vgl. oben S. 30. 75 Dazu allgemein: H.-H. Müller, Einige Aspekte der Viehhaltung im ausgehenden 18. Jahrhundert. Eine Analyse aufgrund von Preisschriften der Preußischen Akademie der Wissenschaften über die Einführung der Stallfütterung aus dem Jahre 1788, in: JbW, 1972/III, S. 77105. Diese Preisschriften dokumentieren in ihrer Mehrzahl auch die physiokratische Überzeugung, daß der agrarische Fortschritt eine Bedingung des Fortschritts überhaupt sei. Wie ein Autor den Fortschritt vom Misthaufen ausgehen läßt: »Die Miststätte, dieses Magazin der Lebensnahrung, aus welcher die Kraft der Natur, nach der Willkür des Landwirtes, neue organische, erst vegetabilische, dann animalische Gebilde formen wird, die dann wieder zur Erhaltung und Fortpflanzung des Menschengeschlechts dienen, somit das intellektuelle Leben selbst vermehren, durch ihren Überfluß die Wohlfahrt der bürgerlichen Gesellschaft, die Stärke des Staates und die Erhaltung der Freiheit und Zivilisation befördern, ja notwendige Bedingungen derselben werden.« (Zit. ebd. S. 79.) Vgl. auch ders., Akademie. Erfahrungsgrundlage jener Rhetorik war die englische Landwirtschaft; s. Goltz, Landwirtschaft, Bd. 1, S. 447 ff. 76 Schwager, Bauer, S. 52; Schulz, Entwicklung der Landwirtschaft, S. 164; Riepenhausen, S. 121; Schwerz, S. 89, 302f.; (Anonym), Von den beträchtlichen Mängeln, S. 532f.; Weddigen, Ravensberg, Bd. 1, S. 66; Henning, Bauernwirtschaft, S. 38, 43, 50, 57, 70, 77, 84f., 87. 77 Henning, Bauernwirtschaft, S. 16, 71 f.; STAM KDK Minden I, 92; Krug, Bd. 1, S. 144; Schwerz, S. 319 f. 78 Henning, Bauernwirtschaft, S. 74ff., 167ff.; s. auch ders., Dienste, S. 151 f. 79 Schwager, Bauer, S. 60; s. auch Schwerz, S. 320. 80 Zitiert bei Schwerz, S. 4 8 f . ; e b d . , S . 343 ein ähnlicher Bericht aus dem Paderbornischen. 81 Vgl. Schwager, Bauer, S. 61; Schwerz, S. 317, 322, 332, 354. 82 Schwerz, S. 361 ff.; Pfeiffer, Wirtschaftsstruktur, S. 72. 82 Errechnet nach: Krug, Bd. 1, S. 111 ff. Die Bevölkerungszahlen zugrundegelegt nach Reekers, Minden-Ravensberg, S. 123; dies., Paderborn, S. 160. 84 Schwager, Bauer, S. 60 f. Allgemeine Angaben über den Ziegenbestand sind mir aus dieser Zeit nicht bekannt. 85 Culemann, Stift Schildesche, S. 117, 126. Allerdings hat sich in den Zahlen für Ravensberg die hier bis 1800 schon bedeutend fortgeschrittene Gemeinheitsteilung niedergeschlagen, die die Weidemöglichkeiten für die Heuerlinge einschränkte. Angaben aus dem Jahre 1783 ergeben jedoch ähnliche Dichteziffern wie 1802 (vgl. Weddigen, Ravensberg, Bd. 1, S. 66ff.). Das verweist darauf, die Bedeutung der Gemeinheiten für die Unterschichten nicht zu überschätzen. Die Durchffitterung einer Kuh über den Winter erforderte nach einer späteren Angabe 4-5 Mg (Pacht-)Land, was in den bevölkerungsdichten Zonen nicht mehr selbstverständlich war (Funke, Einlieger, S. 1112). 86 Vgl. die in Anm. 55 genannte Literatur. 87 Vgl. unten S. 95 ff. 88 Beide Zitate: Schwerz, S. 86f., 116f. 89 Soweit möglich benutzten die Kleinbauern die Kuh als Zugvieh. »Doch ist letzteres nicht allgemein genug; denn sonst würde ich nicht drei Männer auf dem Felde bei Jöllenbeck gefunden haben, die sich bei einer Egge außer Atem zogen« (Schwerz, S. 89). 90 Schwager, Grafschaft Ravensberg. Über den Mangel an Obst in dieser Provinz, in: WA 1802, Sp. 321-26, Zitat Sp. 322. 91 Vgl. unten S . 9 9 f f . , 1 1 8 f f . 92 Kriedteu.a., Industrialisierung, S. 69f. 93 Vgl. auch Mager, Protoindustrialisierung. 94 Dieser Begriff des Kapitalismus folgt Weber, Wirtschaftsgeschichte, S. 238 ff.

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Anmerkungen zu Seile 62—64

95 W. Sombart, Die Hausindustrie in Deutschland, in: Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik, Bd. 4, 1891, S. 103-56, hier S. 117. Sombarts Erläuterung, »daß deijenige >Produktionsfakton, in dessen ausschließlichem Besitze sich der kapitalistische Unternehmer befindet, bei der Hausindustrie nicht sowohl die Gesamtheit der materiellen Produktionsmittel, als vielmehr der Markt, der Absatz ist« (ebd.), fordert nicht die theoretische Klarheit. Einen Markt kann man kaum besitzen, es sei denn bei einem vollständigen Monopol des An- und Verkaufs, das jedoch historisch kaum zu finden ist. Vgl. auch Art. »Hausindustrie« von R. Meerwarth u. W. Sombart in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 4. Aufl., Jena 1923, Bd. 5, S. 179ff.; Kriedteu.a., Industrialisierung, S. 210ff. 95a Diese Frage spielt in der begrifflichen Diskussion im späten 19. Jh. gleichwohl eine Rolle und enthielt politisch-normative Annahmen über die sozialpolitische Entwicklung des Industriekapitalismus. Sombart wandte sich gegen das rosige Bild der Hausindustrie als N e benerwerb; damit habe man diese gegen die »Kinderkrankheiten des Kapitalismus« abgesetzt, während Sombart auf eine Reform desselben hoffte, die durch die Hausindustrie gerade behindert werde. Sombart, Hausindustrie, S. 153 f. Solche politischen Aspekte in der Diskussion über die Betriebssysteme verdienten eine nähere Untersuchung. 96 Weddigen, Ravensberg, Bd. 1, S. 103; Schwerz, S. 79. J. H. Jung, Die Grundlehre der Staatswirtschaft, ein Elementarbuch für Regentensöhne und alle, die sich dem Dienst des Staats und der Gelehrsamkeit widmen wollen, Marburg 1792, S. 786f. Für den Hinweis auf Jung-Stilling, der als Verfasser einer empfindsamen Autobiographie bekannter ist denn als Staatswirtschaftler, danke ich H. Dreitzel. 97 Auch dieser Begriff ist ein zeitgenössischer. Ihn verwendete der Düsseldorfer Regierungsrat Quentin in seinem Bericht über die Ravensberger Leinenindustrie vom Jahre 1847 als Gegenbegriff zum »Fabriksystem«, womit er die moderne Unternehmerfabrik meinte (STAM O P 1042, Bd. 1, Bl. 444). Er wird neuerdings auch in der Literatur verwendet, vgl. Kriedte u.a., Industrialisierung, S. 202 ff. Mehr oder weniger nahe an den Begriff des Verlagssystems schieben ihn heran: Weber, Wirtschaftsgeschichte, S. 145f.; Blumberg, S. 115f.; Schultz, Handwerk, S. 205. 98 Bericht des KDK-Beamten Hoffbauer, 21. 9. 1787, in: STAM KDK Minden III, 431, Bl. 129. Ausführlich zu den saisonalen Schwankungen: Schlumbohm, Rhythmus. Die hier geschilderten Verhältnisse für das Osnabrücker Löwendleinengebiet gelten wohl auch fur die Löwendleinenproduktion in Minden-Ravensberg. 99 Zitat: STAB Gut Hüffe, Nr. 261, Bl. 229 ff; vgl. unten S. 98. 100 Z u m Flachszehnt: Grossmann, Valdorf, S. 97; Potthoff, Leinenleggen, S. 31; STAB Gut Hüffe, N r . 224 u. 226, Bl. 43 bzw. 36. Die Zehntordnung für Minden-Ravensberg von 1791 bestimmte, daß alle Feld- und Gartenfrüchte, also auch Flachs, zehntpflichtig seien, sofern sie auf Zehntland angebaut wurden. Anlaß dafür waren Streitigkeiten und Prozesse, also ein Zustand abseits jener N o r m . Vgl. Zehntordnung für das Fürstentum Minden und die Grafschaft Ravensberg, De dato Berlin, den 24. Dec. 1791, gedr. Minden 1792, Einleitung und § 14 (vorh. STAB R 80/15). Über Flachsdienste und adeligen Handel in früherer Zeit: Geiger, Elite, S. 23, 42, 170, Anm. 23. Zu (minimalen) Garnabgaben im Paderbornischen: Haxthausen, Agrarverfassung, S. 33; Henning, Bauernwirtschaft, S. 215. Geringe Webstuhlabgaben gab es im benachbarten Lippe, aber nicht in Minden-Ravensberg. Vgl. Reekers, Lippe, S. 42 ff. Weit stärker griff hingegen bekanntlich die Gutsherrschaft in das schlesische Leinengewerbe ein. 101 Schwager, Bauer, S. 55. 102 Vgl. dazu das Budget in Anhang 28. 103 Schwager, Bauer, S. 59. 104 Vgl. oben S. 49. 105 Z u m folgenden vgl. HK Bielefeld 1849/50, S. 5 f f ; Schmidt, Leinen, S. 2 2 f f ; Schönfeld, S. 27 ff.; Potthoff, Leinengewerbe, passim. Für die anderen Verhältnisse in der Löwendleinen-

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Anmerkungen

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weberei: Schmidt, Delius-Versmold, S. 12f.; Brepohl, Spinnen; f ü r die ähnlichen Verhältnisse in O s n a b r ü c k : Schlumbohm, R h y t h m u s , S. 282 ff. 106 Schoneweg, Leinengewerbe, S. 103; Busse, S. 31; Harder-Gersdorff, S. 181 ff.; Reekers, Lippe, S. 59; vgl. auch die h o h e n Ausgaben f ü r Flachssamen i m Heuerlingsbudget, A n h a n g 28. 107 H K Bielefeld 1849/50, S. 5. 108 Potthoff, Leinenleggen, S. 34; Weddigen, Ravensberg, Bd. 1, S. 113. 109 Schlumbohm, Besitzklassen, S. 325 ff. 110 Schwerz, S. 109. 111 Schwerz, S. 1 0 9 f . ; v g l . Wilbrand, Veröffentlichungen, S. 48. 112 Wie der LR K r . Bielefeld 1831 schrieb: »Diese ärmeren Weber, gewöhnlich, j e d o c h uneigentlich - da sie ihr Fabrikat f u r eigene R e c h n u n g verkaufen - L o h n w e b e r genannt« ( S T A M O P 370, Bl. 39). A u c h in der von Schlumbohm, Besitzklassen, ausgewerteten E r h e b u n g v o n 1814 ( S T A M R e g i e r u n g s k o m m i s s i o n Bielefeld 230) w u r d e L o h n w e b e r e i u n d U n f ä h i g k e i t z u m selbständigen Garneinkauf gleichgesetzt. Vgl. auch H K Bielefeld 1849/50, S. 10. 113 Wilbrand, Veröffentlichungen, S. 48. Kreditbeziehungen deutet auch der Vorschlag des Bielefelder LR v o m 26. 2. 1820 an, nach der schlechten Flachsernte den Webern zinslose Vorschüsse z u m A n k a u f v o n Flachs zu geben, den diese dann »an ihre Spinner« verteilen sollten ( S T A D M l IS 3, Bl. 19). Vgl. auch H K Bielefeld 1849/50, S. 5. U m g e k e h r t haben a r m e Weber auch bei Spinnern Kredit gesucht, vgl. Mager, Protoindustrialisierung, S. 455 A n m . 40. 114 N a c h Schlumbohm, Besitzklassen, S. 327 ff. 115 Wie der Bielefelder Stadtdirektor C o n s b r u c h schrieb: »Der geringe (d. i. im Gegensatz z u m »reichem Weber, J. M . ) u n d größere Teil der Weber . . .« (zitiert nach Wilbrand, Veröffentlichungen, S. 48). 116 8 8 , 6 % der 264 L o h n w e b e r w a r e n o h n e Grundbesitz (Schlumbohm, Besitzklassen, S. 328). 117 Zitiert nach Mager, Protoindustrialisierung, S. 455 A n m . 41. 118 Schlumbohm, R h y t h m u s , S. 282ff.; Gladen, Tecklenburg, S. 57; Lengerke, S. 250f., 255; Schmidt, Delius-Versmold, S. 12f. 119 Weberfamilien nach: S T A M O P 1042, Bd. 1, Bl. 161 ff., ergänzt durch die ebd. nicht enthaltene Z a h l v o n ca. 1000 H a n d w e b e r n i m Kr. Halle; vgl. die Schätzung v o n Mager, Protoindustrialisierung, S. 465, A n m . 58. Webstühle f ü r das J a h r 1838: S T A D M 2 M i n d e n A 15a; S T A D M 2 Bielefeld 657 (fur 1837); für die anderen Kreise sind die Gewerbetabellen v o n 1838 nicht erhalten. Webstühle f ü r 1849: Tabellen und amtliche Nachrichten . . . fir das Jahr 1849, Bd. 6, S. 678ff. Hierbei sind allerdings D o p p e l z ä h l u n g e n v o n Verlagswebern v o r g e k o m m e n ; vgl. Adelmann, Bielefeld, S. 886. 120 Vgl. Blumberg, S. 65f.; Schmoller, S. 498ff. D e m Postulat nach w a r die Differenz z w i schen H a u p t - u n d N e b e n g e w e r b e die Voll- b z w . M e h r f a c h b e s c h ä f t i g u n g der Weber. Aber gerade diese w a r f ü r viele Weber auf d e m Land charakteristisch. K a u m v e r w u n d e r l i c h ist daher, daß j e n e U n t e r s c h e i d u n g oft s c h w a n k e n d getroffen w u r d e . Im Kr. Bielefeld ζ. B. w u r d e n die Leinenwebstühle nach H a u p t - / N e b e n g e w e r b e so taxiert: 1816 = 1345/61; 1822 = 80/1066; 1825 = 124/1490; 1828 = 128/1377; 1831 = 118/1533; 1837 = 294/1841; 1841 = 433/1873; 1843 = 469/1984; 1846 = 2283/191; vgl. die Gewerbetabellen der entspr. Jahre in: S T A D M 2 Bielefeld 655, 656, 657, 406. 121 Vgl. Schmidt, Leinen, S. 8 f f ; Potthoff, Leinengewerbe, S. 66 ff.; Reekers, Lippe, S. 52ff. Gleichzeitig lösten sich damit offenbar die Bielefelder Kaufleute aus den Fesseln des K o m m i s sionshandels m i t niederländischen u n d B r e m e r Handelshäusern (vgl. Potthoff, Leinenleggen, S. 35). Z u B e s c h w e r d e n der Weber über E x p e r i m e n t e bei den neuen Bleichmethoden s. ( A n o n y m ) , Fabriksachen. Bielefeld, in: W A 1801, Sp. 369-76 u. ebd., Beilage zu N r . 38 (unpag.). 122 G r u n d l e g e n d dazu Potthoff, Leinenleggen; vgl. auch Spannagel, M i n d e n - R a v e n s b e r g , S. 224ff.

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Anmerkungen

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123 Vgl. die L e g g e o r d n u n g f u r die Grafschaft Ravensberg v o n 1678, in: Potthoff, Leinenleggen, S. 45ff. N o c h detailliertere Vorschriften enthält die (Löwendleinen-)Leggeordnung f u r das A m t R a v e n s b e r g v o n 1791, in: N e u e s Westfälisches Magazin, Bd. 3, 1792, H . 9, S. 52-57; auch g e d r u c k t in: Krünitz, Bd. 67, S. 789-95. 124 Vgl. Schönfeld, S. 72ff.; Potthoff, Leinenleggen, S. 55f., 64f., 70ff.; Reese, S. 73ff. 125 (Anonym), Fabriksachen. Bielefeld, in: W A 1801, Sp. 373; Zeitungsbericht des A m t m a n n s v o n Schildesche v o m 1. 6. 1789: Die Klagen der Weber w ü r d e n in Z u k u n f t vielleicht a u f h ö r e n , »da die reichsten Leinenfabrikanten angefangen, ihr Leinen selbst bleichen zu lassen u n d damit die Messen zu beziehen u n d so den Profit, welchen sonst die Leinwandhändler erhielten, selbst zu acquierieren«. In: S T A M K D K M i n d e n II, 3, Bd. 18, Bl. 119. Vgl. auch Potthoff, Leinengewerbe, S. 63. 126 I m m e d i a t e i n g a b e v o m 21. 7. 1791, K o p i e in: S T A M K D K M i n d e n V, 40, Bl. 143 ff. 127 Vgl. den undatierten Schriftsatz (ca. 1791): » G r ü n d e der L e i n e n w e b e r - B e m e r k u n g e n « der Kaufleute, in: ebd., Bl. 190-99. Eine andere Quelle schildert die Vorkauferei als eine A r t v o n genossenschaftlichem Preiskampf: Die Kaufleute w ü r d e n Leinen aus Schildesche u n d Jöllenbeck auch bei annähernd gleicher G ü t e sehr unterschiedlich bezahlen. Im G e g e n z u g w ü r d e n Jöllenbecker Weber sich dazu hergeben, »die Schildescher Leinwand fur Prozente, als hätten sie sie selbst fabriziert, zu verkaufen, besonders an u n g e ü b t e Kaufleute« (Schwager, B e m e r k u n g e n , S. 392). Z u m V o r w u r f v o n Absprachen, die in Schlesien öfter bezeugt sind (Schneer, S. 61 ff; Blumberg, S. 115), vgl. auch H. Schmidt, Die E n t w i c k l u n g der Bielefelder F i r m e n Ε. A. Delius, Ε . A. Delius & Söhne u n d C . A. Delius & Söhne u n d die Betätigung ihrer Inhaber i m R a h m e n des Ravensbergischen Wirtschaftslebens 1787-1925, Diss. Göttingen 1925, gedr. L e m g o 1926, S. 23: »Bei zu h o h e n F o r d e r u n g e n der Weber k a m es gelegentlich zu einer Solidarität der Kaufleute insoweit, als sie d u r c h geheime Z e i c h e n a n b r i n g u n g an den Waren einen A n k a u f derselben auch b e i m K o n k u r r e n t e n vermeiden u n d eine allgemeine Preissenkung h e r v o r r u f e n wollten.« (In die Festschrift »Vom Leinen zur Seide«, die weithin identisch ist mit der Diss., hat Schmidt diese Passage nicht ü b e r n o m m e n . ) Vgl. zu solchen Auseinandersetzungen auch Medick, »Freihandel«. 128 Harder-Gersdorff, S. 187; R. Vogelsang, Bielefelds Sozialstruktur im Jahre 1718, in: J B H V R , J g . 70, 1975/76, S. 1 5 3 f f , hier S. 167 (mehr als die Hälfte der Ratsfamilien, die meisten d a v o n auch Kaufleute, w a r e n miteinander verwandt). S p a n n u n g e n zwischen h o m i n e s n o v i u n d alteingesessenen Familien in Bielefeld läßt eine Pressefehde über den »reellen« b z w . »unreellen« Handel erkennen; vgl. unten S. 289. 129 Vgl. die Listen v o n H a n d e l s f i r m e n u n d ihren E i n k a u f s s u m m e n bei J. Wilbrand, Z u r Geschichte Bielefelder Firmen, in: Rav. ВН., J g . 5, 1905, S. 50f. (für 1794) u n d in: S T A D M l Pr. 21 (für 1832). 130 ( A n o n y m ) , Fabriksachen. Bielefeld, in: W A 1801, Sp. 374. 131 Zit. nach Wilbrand, Veröffentlichungen, S. 57. 132 Vgl. H K Bielefeld 1849/50, S. 19; Reekers, Lippe, S. 71 ff; Schönfeld, S. 3 0 f f , bes. S. 32f. zu den Strafen. 1779/80 kassierte die K D K M i n d e n 194 Rt aus Verstößen gegen die H a s p e l v e r o r d n u n g e n . Eine scharfe V e r o r d n u n g gegen das »Aufputzen« der Leinwand erfolgte 1801: D i e Strafe w a r eine Konfiskation der manipulierten Ware u n d ein sonntägliches P r a n g e r stehen m i t Halseisen v o r der Kirche, i m Wiederholungsfalle zwei bis zwölf M o n a t e Z u c h t h a u s . Vgl. ( A n o n y m ) , Fabriksachen. Bielefeld, in: W A 1801, Sp. 369 ff. Z u m Warenbetrug vgl. unten S. 165 f. 133 Vgl. dazu für M i n d e n - R a v e n s b e r g : Potthoff, Handel u n d G e w e r b e , S. 191 ff; Mager, Rolle des Staates. 134 Vgl. Weber, Protestantische Ethik, S. 55 f., der dabei wahrscheinlich Bielefelder Verhältnisse v o r A u g e n hatte. Weber s t a m m t e aus einer alten Bielefelder Leinenhändlerfamilie. 135 Mager, Rolle des Staates, S. 68; Schmidt, Leinen, S. 1 2 f f , 51 ff, Zitat v o n Delius ebd. S. 57. Die Fabrik k o n n t e nicht verkauft w e r d e n u n d w u r d e schließlich liquidiert. Z u m »Gna-

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Anmerkungen

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denfonds«, aus d e m Verbesserungen innerhalb der h e r k ö m m l i c h e n Produktionsverhältnisse gefördert w u r d e n , vgl. Blotenberg, G n a d e n f o n d s . 136 Z u m Garnhandel: Schönfeld, S. 41 f., passim; Reekers, Lippe, S. 68ff.; dies., M i n d e n Ravensberg, S. 101 ff. Zitat: Weber, Protestantische Ethik, S. 55. Z u m Löwendleinenhandel: Potthoff, Leinenleggen, S. 74ff.; LR K r . B ü n d e , 22. 2. 1820, in: S T A D M l IS 3, Bl. 12f. 137 Vgl. Kriedte u.a., Industrialisierung, S. 90ff.; Medick, Funktion; A. Tschajanow (engl. Transkription: C h a y a n o v ) , Die Lehre v o n der bäuerlichen Wirtschaft, Berlin 1923; ders., Z u r Frage einer T h e o r i e der nichtkapitalistischen Wirtschaftssysteme, in: Archiv f. Sozialwissenschaft u n d Sozialpolitik, Bd. 51, 1923/24, S. 577-613, eine Thesenfassung des genannten Buches. N e u e r d i n g s spielt T s c h a j a n o w s Theorie, ähnlich den Auseinandersetzungen u m den Weg der Industrialisierung in der f r ü h e n S o w j e t u n i o n , wieder eine bedeutende Rolle in der Diskussion über die E n t w i c k l u n g der heutigen »Bauerngesellschaften« in der Dritten Welt. Vgl. A. W. Tschajanow, Reise meines Bruders Alexej ins Land der bäuerlichen U t o p i e , hg. v o n K. Mänicke-Gyöngyösi, F r a n k f u r t 1971; Shanin (Hg.), Peasants, bes. S. 150ff. Eine f r ü h e Rezeption T s c h a j a n o w s findet sich schon bei O . Brunner, Das »Ganze Haus« in der alteuropäischen Ö k o n o m i k , in: ders., N e u e Wege der Verfassungs- u n d Sozialgeschichte, G ö t t i n g e n 2 1968, S. 103-27, hier S. 107 A n m . 11. 138 Tschajanow, Lehre, S. 32; vgl. ebd., S. 2 5 f f . 139 Kriedte u.a., Industrialisierung, S. 114. 140 T s c h a j a n o w , Lehre, S. 40. 141 Bücher, Volkswirtschaft, Bd. 2, S. 175. 142 So die Kritik v o n M. Harrison, C h a y a n o v and the economics of the Russian peasantry, in: JPS, Bd. 2, 1975, S. 389-417; eine differenziertere Kritik bei Shanin, A w k w a r d class, bes. S. 106 ff. Z u s a m m e n f a s s e n d auch M. Hildermeier, Mobilität u n d B e h a r r u n g in der russischen Bauernschaft, in: N e u e Politische Literatur, Bd. 18, 1973, S. 116-21. 143 Vgl. Rosenbaum, F o r m e n der Familie, S. 219. 144 Vgl. Hufton, bes. S. 11 ff.; Kriedte u.a., Industrialisierung, S. 133: »Die restriktiven B e d i n g u n g e n , u n t e r denen das Überleben der Familienwirtschaft im ländlichen G e w e r b e stand, nötigten zu e i n e m >Höchstmaß an . . . familialer Kooperationinneren Markt« fur Getreide, wie er in den proto-industriellen Regionen schon bestand. 189 Zitat nach Kuczynski, Studien, S. 35; Zeitungsbericht Rg. Minden, 11. 12. 1820, in: S T A M O P 351, Bd. 1, Bl. 217. 190 Zeitungsbericht Rg. Minden, 8. 2. 1844, in: STAM O P 3 5 1 , Bd. 7, Bl. 172. 191 Ein Beamter der KDK Minden sprach sich 1797 in einem Gutachten gegen die Naturalabgaben aus, »da wahrscheinlich die Hälfte der Eigenbehörigen auch in den gesegnetsten Jahren keinen Scheffel Korn verkaufen kann, und die meisten ihren eigenen Bedarf jährlich noch zukaufen müssen«. Zit. nach Wigand, Minden-Ravensberg, Bd. 2, S. 256.

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Anmerkungen

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133—135

192 Vgl. Trende, S. 191 ff.; (Anonym), Westfälische Zustände, S. 121 ff. U m 1800 befanden sich i m R g b z . M i n d e n höchstens 2000 Kaufleute u n d Kleinhändler, 1831 dann 3193 u n d 1846 schließlich 3724; 1831 b z w . 1846 w a r e n d a v o n 82% b z w . 7 4 % Kleinhändler (für 1800: Reekers, M i n d e n - R a v e n s b e r g , S. 124f.; dies., Paderborn, S. 159ff.; f ü r 1831: Seemann, S. 27; f ü r 1846: Gewerbetabelle in: S T A D M l IG 63). A m 14. 3. 1841 klagten Bielefelder Kaufleute über die K o n k u r r e n z der Hausierhändler, die ihre A n g e b o t e über das gesetzlich Erlaubte hinaus ausd e h n t e n u n d f o r d e r t e n eine neuerliche gesetzliche E i n s c h r ä n k u n g des Hausierhandels ( S T A M O P 2442, B d . 1, Bl. 281 f.). Sehr neu sind solche Klagen nicht. Die Kritik an den H a u s i e r h ä n d lern, i h r e m »unehrlichen« Geschäftsgebaren u n d der Verbreitung des »Luxus« u n t e r der L a n d b e v ö l k e r u n g d u r c h sie hatte Tradition u n t e r den »ehrlichen« Kaufleuten (Sombart, Kapitalism u s , Bd. 2/1, S. 448f.). D i e preußischen Gesetzgeber haben aus dieser Tradition heraus die Hausierer m i t einer unverhältnismäßig h o h e n Gewerbesteuer belastet, u m den »rechtlichen Handel« zu schützen ( H o f f m a n n , Steuerlehre, S. 205f.). 193 Blotevogel, Zentrale O r t e , S. 78; allgemein: Sombart, Kapitalismus, Bd. 2/1, S. 470; dagegen Potthoff, G e w e r b e , S. 231 f., 253: N a c h M a r k t o r d n u n g e n hatte M i n d e n - R a v e n s b e r g im 18. J h . ein reges städtisches M a r k t w e s e n , das i m 19. J h . mit der E n t w i c k l u n g der Verkehrsmittel u n d des stehenden Handels einging; die Zeit zwischen 1800 u n d 1850 behandelt P o t t h o f f nicht. 194 Zitat: Bielefelder Kämmereiassistent Schröder 1796, hier nach Culemann, M a r k e n t e i lung, S. 172; vgl. Wilbrand, Veröffentlichungen, S. 38. Z u m W o c h e n m a r k t seit 1826: S T A B R e p . I С N r . 11. 195 Vgl. Trende, S. 1 8 f f ; Fremdling u. Hohorst, S. 62ff.; К. H. Reinhardt, D e r deutsche B i n n e n g ü t e r v e r k e h r 1820-1850, Diss. B o n n 1969. Das Straßennetz in der P r o v i n z Westfalen w u c h s zwischen 1816 u n d 1844 v o n 90 Meilen auf 270 Meilen (Salter, S. 53). Gleiche W i r k u n gen der Handelserleichterungen d u r c h Straßen u n d Eisenbahnen h o b e n die Landräte der minden-ravensbergischen Kreise 1858 in ihren Berichten zur W i r k u n g der Eisenbahn auf die wirtschaftliche E n t w i c k l u n g der Region h e r v o r . Vgl. S T A D M l III Ε 223. 196 Weddigen, Übersicht, S. 28 n e n n t f ü r 1787/88 n u r eine A u s f u h r von A g r a r p r o d u k t e n (ohne Flachs) im Wert v o n 7391 Rt. D a g e g e n exportierte u m 1850 allein der Kr. Halle i m Text genannte P r o d u k t e i m Wert v o n 237000 Rt ( H K Bielefeld 1849/50, S. 30f.). Vgl. unten S. 142. 197 Vgl. u n t e n S. 160. 198 Eingabe v o m 5. 8. 1845, in: S T A M O P 370, Bl. 148. 199 Lengerke, S. 287. L. (1802-1853) w a r Generalsekretär des 1842 gegründeten »Landesö k o n o m i e k o l l e g i u m s « , d e m Vorläufer des Landwirtschaftsministeriums. 200 Vgl. allgemein: J. G. Gagliardo, F r o m Pariah to Patriot. T h e C h a n g i n g I m a g e of the G e r m a n Peasant 1770-1840, Lexington 1969; R. Wittmann, D e r lesende L a n d m a n n . Z u r Rezeption aufklärerischer B e m ü h u n g e n d u r c h die bäuerliche Bevölkerung i m 18. J a h r h u n d e r t , in: G. Berindei u. a. (Hg.), D e r Bauer Mittel- u n d O s t e u r o p a s i m sozialökonomischen Wandel des 18. u n d 19. J a h r h u n d e r t s , Köln 1973, S. 142-96. Beispiele f ü r j e n e bauernpädagogische Literatur aus d e m Westfälischen: Rump; Tiemann. 201 Bericht v o m 13. 9. 1837, S T A D M l Pr. 477, Bl. 123; m i t dieser M e i n u n g stand der konservative Landrat nicht allein. D a ß die »Polizei« gegen den »ungebildeten Haufen« o h n e Rücksicht auf W i d e r s p r u c h »durchgreifen« müsse, w a r auch Schwerz gewiß (Schwerz, S. 331). Bei den Gemeinheitsteilungen w a r diese H a l t u n g z u m Gesetz g e w o r d e n . 202 Bönninghausen, S. 13 f. beschreibt, wie ein Bauer, der seinen »abergläubischen« Aussaatregeln folgte, u m Getreidekrankheiten zu vermeiden, erfolgreich blieb, w ä h r e n d einem r a t i o nellem L a n d w i r t , der diese Regeln als »fabelhaft« verschmähte, die E r n t e verdarb. Z u r Kritik an den u n g e n ü g e n d gesicherten landwirtschaftlichen Innovationen vgl. J. Conrad, Agrarstatistische U n t e r s u c h u n g e n , i n : J N S , Bd. 17, 1871, S. 263f.: »Man beachtete nicht g e n ü g e n d , daß die landwirtschaftliche P r o d u k t i o n eine u n g e m e i n komplizierte ist, bei welcher stets eine U n z a h l Faktoren zugleich w i r k e n , welche bei d e m E x p e r i m e n t i m Kleinen m e h r oder w e n i g e r getrennt

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Anmerkungen zu Seite 135—137 auftreten und dabei häufig andere Resultate liefern, als in der Vereinigung und daß eine große Zahl von Potenzen noch unerforscht und unberücksichtigt bleiben.« U m diesen Mängeln abzuhelfen, wurden in den 1850er Jahren landwirtschaftliche Versuchsanstalten geschaffen. 203 Mitteilungen des Minden-Ravensbergischen Landwirtschaftlichen Hauptvereins, Heft 1, 1844, S. 30: »kann man in hiesiger Gegend (Kr. Bielefeld, J. M.) nicht die ganze Aussaat des Flachses frühzeitig machen, weil es bei der allgemein eingeführten Stallfütterung und dem daraus folgenden Mangel an Grasplätzen zur Ausbreitung des Flachses vor der Ernte fehlt«. Bezeichnend auch Lengerke, S. 287, der einen zu geringen Futtermittelbau kritisiert, ohne die Stallfutterung noch zu erwähnen. Ähnlich verfährt: (Anonym), Landwirtschaft im Kr. Minden, S. 29, 36, 40, 58. 204 Ein Indikator dafür ist die zeitliche Verschiebung der Tätigkeitsschwerpunkte in den Landwirtschaftlichen Vereinen. Deren Aktivität ging von der Propagierung einer Differenzierung der Fruchtfolgen in den 1820er Jahren über in eine solche des Wiesen- und Futtermittelbaus in den 1840er Jahren und schließlich der Drainage in den 1850er Jahren: vgl. Haselhoff u. Breme, S. 130f. 205 Wie das durchgehend in der Darstellung von Laer der Fall ist, der aber auch vom selbstvergessenen Fortschritt weiß: »Die gegenwärtige Generation hat keine Ahnung davon, durch welche Leiden ihre Väter gegangen sind.« Laer, Entwicklung, S. 164ff., zit. S. 177. 206 Lengerke, S. 313; auf einem großen Gut wurden dagegen schon moderne Werkzeuge verwendet (ebd., S. 290). Vgl. H. Siuts, Bäuerliche und handwerkliche Arbeitsgeräte in Westfalen. Die alten Geräte der Landwirtschaft und des Landhandwerks 1890-1930, Münster 1982. 207 Gülich, Handel, Bd. 2, S. 397. Ein anonymer Autor setzte diese Intensivierung schon früher an: »Seit den letzten 15 Jahren, in welchen das Getreide so sehr im Preise gestiegen ist, folglich der Landwirt reichen Gewinn für seine Arbeit fand, hat auch in Westfalen der Ackerbau große Fortschritte gemacht. Man beeifert sich fast überall, jedes Fleckchen urbar zu machen, man raffiniert auf Verbesserungen, lieset über Oeconomie, macht Versuche, selbst unter den Bauern, denen man sonst, und mit Recht, den Vorwurf machte, daß sie nicht über das Geleise ihrer Urväter hinausgingen« (WA 1806, Sp. 586; Hervorhebung von mir, J. M.). 208 Ausgezählt nach: Mitteilungen des Minden-Ravensbergischen Landwirtschaftlichen Hauptvereins, Heft 1, 1844, S. 57 ff. Die beiden westlichen Provinzen waren im landwirtschaftlichen Vereinswesen Preußens führend; vgl. Meitzen, Bd. 3, S. 473; vgl. auch Reif, Adel und landwirtschaftliches Vereinswesen. 209 Eingabe von Bruhne u. a., 26. 2. 1831, in: STAM O P 550, Bd. 1; Marcard, S. 791. 1845 war die Domänenverwaltung auf der Suche nach Bauern, die mit staatlicher Unterstützung Musterwirtschaften fuhren sollten. Die Domänenrentmeister konnten zwar für die Mehrheit der Bauern nur deren Schwierigkeiten bei landwirtschaftlichen Innovationen berichten, einige mittlere Bauern bekundeten jedoch ihr Interesse. Eine Liste von 10 solcher Bauern enthält Besitzer von Höfen folgender Größe: 57/ 180/ 75/ 105/ 52/ 78/ 77/ 29/ 85 und 61 Morgen: Bericht des Domänenrentmeisters Schaunburg, Herford, 10. 4. 1846, in: STAM M l III С 144. 210 Eingabe vom 12. 10. 1847, unterschrieben von den beiden Gemeindevorstehern und zwei weiteren Gemeindeverordneten, in: ST AD M l IU 537, Bl. 36 ff. Der Bescheid aus Berlin war kurz angebunden: Der Gnadenfonds sei nur für die Industrie da, für den Ackerbau aber die Landwirtschaftlichen Vereine (ebd., Bl. 34). 211 W. Thöne, Geschichte der Familie Thöne, Warburger Stammes 1282-1938, Bad Soden im Taunus (Selbstverlag) 1938, S. 149. Diese politisierende Hausinschrift ist ganz ungewöhnlich. Die Hausinschriften haben sonst einen vom 17. bis zum Ende des 19. Jh. unveränderten topologischen Charakter u. enthalten religiöse Dank- und Bittformeln, das Haus und dessen Bewohner zu schützen. Vgl. die Beispiele bei Tönsmeyer, S. 500f. und G. Angermann, Engel an Ravensberger Bauernhäusern. Ein Beitrag zum Wandel des Dekors vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Münster 1974; vgl Schulte, S. 586.

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Anmerkungen

zu Seite 137—141

212 Vgl. z u m folgenden auch Teuteberg, Einfluß, mit in der Tendenz gleichen B e f u n d e n . Teuteberg, der allein g e d r u c k t e Quellen benutzt, differenziert allerdings nicht zwischen der sehr heterogenen gesamtwestfälischen Region (was gedruckte Quellen oft nicht zulassen) u n d ebenso w e n i g zwischen den verschiedenen Grundbesitzerklassen. Ferner unterschätzt b z w . vernachlässigt er die agrarisch-gewerbliche Symbiose, die auch fur die Landwirtschaft i m engeren Sinne v o n g r o ß e r B e d e u t u n g w a r . 213 Vgl. zur Z u s a m m e n s e t z u n g der L N u n d zur Bodenqualität Meitzen, Bd. 4, S. 84; ebd., Bd. 1, S. 277. Z u den Meliorationen der G r o ß g r u n d b e s i t z e r vgl. Westphalen, S. 121, 123f., 126. In g r o ß e m M a ß s t a b u n d mit allgemein bedeutenden Ergebnissen setzten die Meliorationen erst in den 1880er J a h r e n ein. Im Kr. Wiedenbrück ζ. B. w u r d e n zwischen 1875 u n d 1905 5000 ha, d. s. 2 0 % der Gesamtfläche, neu kultiviert; vgl. Eickhoff, Wiedenbrück, S. 75ff.; P. Fr. Koch, Das öffentliche Meliorationswesen in Westfalen, Leipzig 1910; zu den f r ü h e r e n Meliorationen s. auch Schulz, E n t w i c k l u n g , S. 173 f.; Tönsmeyer, S. 188 ff. 214 W. Müller-Wille, D e r Feldbau in Westfalen im 19. J a h r h u n d e r t , in: Westfälische F o r schungen, J g . 1, 1938, S. 302-25; vgl. H. Ditt, Struktur und Wandel westfälischer A g r a r l a n d schaften, M ü n s t e r 1965, S. 4 ff. 215 Zeitungsbericht der Rg. M i n d e n v o m 8. 11. 1838, S T A M O P 351, Bd. 7, Bl. 101; v o m 7. 10. 1839: Lebhaftere Teilnahme an Landwirtschaftlichen Vereinen (ebd., Bl. 210f.); v o m 7. 4. 1840: Steigende Grundstückspreise mit den agrarischen Verbesserungen (ebd., Bl. 268). 216 Jene Z i f f e r n nach Teuteberg, Einfluß, S. 233f.; Meitzen, Bd. 4, S. 80fF.; vgl. Lengerke, S. 286 u n d A n h a n g 7 zur Bodenqualität (Bonitätsziffer). 217 (Anonym), Landwirtschaftliche Verhältnisse i m Kr. M i n d e n , S. 3, 25, 30; Keimer, S. 124. 218 So Bethe in seiner »Denkschrift, betreffend die Resultate der in Westfalen u n d der R h e i n p r o v i n z v o r g e k o m m e n e n Parzellierungen«, 15. 3. 1837, beigelegt in: S T A D M l P r . 477, Bl. 22. B e t h e stützt sich auf einen Bericht des Bielefelder LR, vgl. ebd., Bl. 137. 219 Bethe, ebd.; Pfeffer v. Salomon, S. 370. 220 Errechnet nach: Die Viehhaltung im Preußischen Staate in der Zeit v o n 1816 bis mit 1858, in: Zs. d. Königl. Preußischen Statistischen Bureaus, Berlin 1861, S. 213-31, hier S. 221; in der »Rindvieheinheit« sind sämtliche Vieharten auf Stück Rindvieh u m g e r e c h n e t ; z u m R e c h n u n g s m o d u s vgl. ebd., S. 215. 221 A n f a n g der 1820er J a h r e w a r der Viehbestand »zahlreicher als seit M e n s c h e n g e d e n ken«, da das Vieh unverkäuflich w a r u n d Viehkrankheiten ausblieben; Zeitungsbericht Rg. M i n d e n , 11. 3. 1824, in: S T A M O P 351, Bd. 2, Bl. 121 f. 222 Quelle: wie A n m . 220, S. 220f. 223 LR Kr. H e r f o r d , 5. 9. 1837, in: S T A D M l Pr. 477, Bl. 48; allgemein: Riemann, A c k e r bau, S. 57, 106f., 187. 224 Vgl. Goltz, Landwirtschaft, Bd. 2, S. 269f.; zu den g r o ß e n G ü t e r n im P a d e r b o r n e r Land: Gülich, Ackerbau, S. 20ff.; die Schafhaltung der Bauern w a r n u r v o n »geringer B e d e u tung«. 225 In den M i n d e n - R a v e n s b e r g e r Kreisen k a m e n ähnlich wie in den Kreisen Wiedenbrück, P a d e r b o r n u n d B ü r e n im Jahre 1837 n u r 5 - 8 Ziegen auf 100 E i n w o h n e r , aber 16 b z w . 15 in den Kreisen W a r b u r g b z w . H ö x t e r (vgl. Viehstandstabelle für 1837 in: S T A D O P 672); vgl. o b e n S . 58 f. 226 Vgl. Riemann, Ackerbau, S. 46ff. 227 Z u s a m m e n g e s t e l l t nach: Lengerke, S. 289, 292 (C), S. 314f. (A), S. 328f. (B). 228 Z u den g e n a n n t e n Zahlen vgl. Helling, S. 238; Finckenstein, S. 219; Schwerz, S. 114. Z u m Vergleich m i t Ravensberger Schätzungen f ü r 1800 vgl. o b e n S. 56; zur U m r e c h n u n g des Vielfachen der Aussaat auf das m o d e r n e M a ß dz/ha w u r d e die Faustformel: 1 K o r n e r t r a g = 2 d z / h a benutzt, also ζ. B. K o r n e r t r a g 1 : 4 = 8 dz/ha (nach F. Lom, Die Arbeitsproduktivität

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Anmerkungen zu Seite 141 — 144 in der Geschichte der tschechoslowakischen Landwirtschaft, in: ZAA, Jg. 19, 1971, S. 1-25, hier S. 2). 229 Vgl. Anhang 7. Zu den methodischen Problemen der Erntestatistik vgl. Finckenstein, S. 205 ff. 230 Lengerke, S. 295; vgl. Mager, Haushalt-Spenge, S. 163. 231 H K Bielefeld 1849/50, S. 31; WD, Jg. 1, 1845, S. 500; vgl. oben S. 134. 232 Im 19. Jh. galt sie deshalb als ein Symbol des Fortschritts: »Die Akklimatisierung der Kartoffel in Europa ist mithin im wahrsten Sinne des Wortes ein Ereignis von außerordentlicher Tragweite. Unsere ganze eminente industrielle Entwicklung, welche eine zahlreiche Bevölkerung eben so sehr zur Bedingung als zur Folge hat, wäre ohne die Kartoffel nimmermehr möglich gewesen. U n d die Kartoffel ist darum auf dem Gebiete der Nahrung das Glied, mit welchem auf dem Gebiete der Kleidung die Baumwolle, auf dem Gebiete der physischen Arbeit der D a m p f u n d die Maschinen etc. als andere Glieder zu einer Kette eben so großer socialer als culturhistorischer Bedeutung unauflöslich verbunden sind« (Engel, Getreidepreise, S. 269). 233 Mitteilungen des Landwirtschaftlichen Hauptvereins von Minden-Ravensberg, Heft 2, 1844, S. 39f.; zur kleinbäuerlichen Bedeutung der Kartoffel vgl. den stark unterschiedlich verbreiteten Kartoffelanbau in den Kleinbauerngebieten Frankens und den Vollbauerngebieten Oberbayerns, wie Η. H. Müller zeigt. Ders., Die Entwicklung des Ackerbaus und der Aufschwung der landwirtschaftlichen Nebenindustrie von 1800 bis 1870. Die Bedeutung des Kartoffel- und Zuckerrübenanbaus, in: K. Lärmer (Hg.), Studien zur Geschichte der Produktivkräfte. Deutschland zur Zeit der Industriellen Revolution, Berlin/DDR 1979, S. 215-45, hier S. 224ff. Zahlen über die Entwicklung des Kartoffelanbaus in Rgbz. Minden waren nicht aufzufinden. Engel, Getreidepreise, S. 263 nennt fur Gesamtpreußen die entsprechende Anbaufläche »immer noch eine mäßige«. In den 1860er Jahren wurden in Preußen 10% des Ackerlandes für Kartoffel, dagegen 60% für Getreide verwendet (Viebahn, Statistik, Bd. 2, S. 863, 884). 234 Gülich, Ackerbau, S. 126. 235 Gewerbetabelle 1849, in: ST AD M l IG 63; vgl. Anhang 10, 14, 15, 16. 236 ST A D M l Pr. 26. Eine rückständige Landwirtschaft schildern auch die Berichte der Landräte der Paderborner Kreise im Jahr 1837, in: STAD M l Pr. 477. 237 Die Frage nach dem »dringendsten Bedürfnis« der Landwirtschaft in Minden-Ravensberg beantwortete der Gutsbesitzer Cäsar im Landwirtschaftlichen Verein so: »Wir müssen zunächst bemerken, daß ein großer Teil der Mängel in der hiesigen Landwirtschaft seinen Grund in dem beschränkten Betriebscapitale der Landleute hat, die ihr nächstes Augenmerk nur darauf zu richten haben, wie sie die laufenden Ausgaben des Jahres erschwingen können, und sich also auf Verbesserungen, welche erst in einigen Jahren höhere Einnahmen versprechen, nicht>einlassen können. N u r in von Natur begünstigten Gemeinden sind in den letzten Jahren (hohe Getreidepreise!, J. M.) Schulden abgetragen, in den meisten andern nimmt die Verschuldung zu . . . « Cäsar vernachlässigt dann in seinen Vorschlägen zur Verbesserung der Landwirtschaft, die das ganze Arsenal >rationeller< Landwirtschaft umfassen, doch wieder die Kapitalfrage (Mitteilungen des Minden-Ravensbergischen Landwirtschaftlichen Hauptvereins, Heft 2, 1844, S. 18f.). 238 Bedarf: Nach einer Zusammenstellung des Paderborner LR, 7. 6. 1835, in: STAD M l Pr. 506, Bl. 44; Hilfe: Nach Zeitungsbericht der Rg. Minden, 8. 2. 1841, S T A M O P 351, Bd. 6, Bl. 376. Diese Kredite wurden von der Tilgungskasse verliehen (s. К О v o m 22. 3.1838) und das Reglement dazu in: A B M 1838, S. 189ff. 239 Neben Beihilfen für die Landwirtschaftlichen Vereine wurden auch durch die Provinzialhilfskasse landwirtschaftliche Meliorationen gefördert, allerdings unter Konditionen, die für die Kleinbauern wenig günstig waren: die Darlehen mußten mindestens 250 und durften höchstens 5000 Taler betragen. Der notwendige Kleinkredit war so nicht möglich. Ferner waren die Zinssätze hoch: 6% bei einer Laufzeit von 32, 9,5% bei 15 Jahren. - Die Provinzialhilfskasse wurde hauptsächlich von den Kommunen zur Tilgung ihrer Schulden benutzt. Vgl.

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Anmerkungen

zu Seite 144—147

Trende, S. 274fF.; z u m unzureichenden bäuerlichen Kredit, i m Gegensatz z u m Kredit f ü r die J u n k e r , s. auch Koselleck, Preußen, S. 501, 508 ff. 240 Ζ . B. Bitter, S. 47, 49, w o er selbst f ü r den Sandboden der Senne auf die brachliegende »Productionskraft der N a t u r « verweist: »Aber der M e n s c h regt sich nicht.« 241 Zit. R. Brenner, Agrarian class structure and economic development in preindustrial europe, in: Past & Present N r . 70, 1976, S. 65. 242 So ein Vorschlag in: Mitteilungen des Minden-Ravensbergischen Landwirtschaftlichen Hauptvereins, H e f t 3 , 1845, S. 8. 243 Schreiben der D o m ä n e n r e n t e i in M i n d e n , 8 . 8 . 1 8 4 5 , hier nach einer Abschrift in: S T A D M 2 M i n d e n 4, A m t H a r t u m 13. In V e r k e n n u n g der strukturellen Möglichkeiten der Kleinbetriebe u n d als E n t l a s t u n g s a r g u m e n t f ü r die Steuerforderung schlug die D o m ä n e n v e r w a l t u n g eine rationellere Betriebswirtschaft vor, w o f ü r M u s t e r w i r t s c h a f t e n errichtet w e r d e n sollten; vgl. dazu auch o b e n A n m . 209. 244 Vgl. oben S. 73 f. 245 Bitter, S. 23f., 25, 36f.; vgl. Laer, Bericht, S. 97.

V. Entwicklungen

im gewerblichen

Sektor

1 LR K r . Bielefeld, 18. 6. 1837, in: S T A D M l Pr. 477, Bl. 138. 2 Beispiele f ü r die genannten Positionen: Schuhe, S. 124ff.; Busse, S. 64ff.; Schmidt, Leinen, S. 121 ff. 3 Adelmann, Krisen, S. 114f. 4 Z u m hier v e r w e n d e t e n Krisenbegriff vgl. J. Habermas, Legitimationsprobleme i m Spätkapitalismus, F r a n k f u r t 1973, S. 11 ff. 5 I m folgenden geht es u m den Versuch, die Struktur einer Krise zu b e s t i m m e n , deren einzelne ö k o n o m i s c h e Elemente, die Preis- u n d Mengenrelationen f ü r Flachs, G a r n u n d verschiedene Leinensorten a u f g r u n d eines unvollständigen, u n g e n a u e n u n d in seinen Aussagedim e n s i o n e n heterogenen Materials nicht mit der w ü n s c h e n s w e r t e n Exaktheit darzustellen sind. Die Möglichkeiten einer empirisch-quantitativen Kontrolle des Verlaufs der Krise sind jenseits des Leinenhandels beschränkt. D e r U m f a n g des G a r n e x p o r t s u n d die Preise für die verschiedenen P r o d u k t e sind n u r näherungsweise zu b e s t i m m e n . Präzisere ö k o n o m i s c h e D a t e n k ö n n t e n j e d o c h die f ü r die einzelnen Teile der »Landesfabrik« unterschiedliche E n t w i c k l u n g u n d d a m i t auch die verschiedenen sozialen E r f a h r u n g e n der Krise sowie das Verhalten der Betroffenen besser b e g r ü n d e n . Es ist frustrierend für den Historiker u n d erstaunlich zugleich, in w e l c h e m M a ß e die preußische Verwaltung an politischer K o m p e t e n z einbüßte, i n d e m sie - trotz eines beträchtlichen Schreibaufwands! - zu keinem Z e i t p u n k t den g r ö ß t e n sozialen Krisenherd des Vormärz, die ländliche Industrie, angemessen erkannte (vgl. auch Lüdtke, S. 106ff.). - G r u n d legende Literatur f u r das Folgende: Schmidt, Leinen; Schönfeld; Engel, Spinnerei; ders., Webereien; neuere Ü b e r b l i c k e bei: Ditt, S. 9 f f . ; Vogelsang, Bielefeld, S. 224ff.; Mager, Protoindustrialisierung, S. 463ff.; zu regional übergreifenden Z u s a m m e n h ä n g e n vgl. Schmoller; Blumberg; Ansätze zu einer m i t Blick auf O s t w e s t f a l e n n o c h zu leistenden regional vergleichenden Forschung: Schlumbohm; Schüren; S. Pollard, Region u n d Industrialisierung im Vergleich M i n d e n - R a v e n s b e r g u n d die englischen Industriegebiete, in: Vortragsreihe der Gesellschaft f ü r westfälische Wirtschaftsgeschichte, H e f t 25, D o r t m u n d 1982, S. 43-61. 6 Vgl. A n h a n g 24. Die Z a h l e n der Bielefelder Legge sind trotz Mängel der a m besten d o k u m e n t i e r t e Indikator für die E n t w i c k l u n g der Leinenproduktion. Sie erfaßten die i m Ravensberger R a u m u n d in angrenzenden lippischen G e m e i n d e n g e w e b t e feine oder »Bielefelder« Leinwand, sofern sie auf den Bleichen f u r den E x p o r t weiter verarbeitet w u r d e . Seit d e m verschärften L e g g e z w a n g v o n 1842 w u r d e auch das ungebleicht versandte Leinen registriert, so daß die Steigerung der Zahlen ab 1843 v o r allem n o m i n a l ist. D a g e g e n w a r seit diesem J a h r das

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Anmerkungen zu Seite 147—150 bis 1850 nicht sehr bedeutende Leinen, das im Verlagssystem hergestellt wurde, vom Leggezwang ausgenommen. Quentin schätzte 1847, daß etwa 20000 Stück Leinen aus Ravensberg (inclusive der nicht leggepflichtigen Hanf-, Damast- und Dreileinen) nicht über die Legge gingen (Bericht v. 8. 8. 1847, in: STAM O P 1042, Bd. 1, Bl. 441). 7 Den Klagen entspricht umgekehrt die für die frühkapitalistische Kaufmannschaft charakteristische Verheimlichung des Geschäfts. Schwager, Bemerkungen, S. 384 schilderte die Bielefelder Händler als »geheimnisvoll, argwöhnisch, verschlossen«. Vgl. Sombart, Kapitalismus, Bd. 2/1, S. 60f. 8 Vgl. die Zeitungsberichte in: STAM KDK Minden II, 3; F. Crouzet, Wars, Blockade and Economic Change in Europe, 1791-1815, in: Journal of Economic History, Bd. 24, 1964, S. 567-90. Bielefeld war damit eingebettet in den allgemeinen Aufschwung des deutschen Exports seit dem späten 18. Jh. Vgl. M. Kutz, Deutschlands Außenhandel von der Französischen Revolution bis zur Gründung des Zollvereins. Eine statistische Strukturuntersuchung zur vorindustriellen Zeit, Wiesbaden 1974. 9 S T A M K D K Minden II, 3, Bd. 18, Bl. 119; vgl. oben S. 68 f. 10 Vgl. Schmidt, Minden-Ravensberg, S. 50ff.; A. Meister, Die Wirkung des wirtschaftlichen Kampfes zwischen Frankreich und England von 1791 bis 1813 auf Westfalen, in: WZ, Bd. 71,1913, S. 219-89; Gülich, Handel, Bd. 2, S. 350f. 11 1806 wurden 2034, 1814 nur noch 1539 Webstühle betrieben; vgl. S T A M Regierungskommission Bielefeld 230. 12 Schubart, Bielefeld, S. 139: »In den Jahren 1822, 23 und 24 ging der Handel mit gebleichter Leinwand schlecht, dagegen wurde viele graue Leinwand nach Frankreich versandt, welcher Weg jedoch 1825 durch Erhöhung des Einfuhrzolls gesperrt wurde.« 13 Zeitungsbericht Rg. Minden, April 1818, in: STAM O P 351 Bd. 1, Bl. 37f.; ähnliche Zeitungsberichte zit. bei W. Treue, Wirtschaftszustände und Wirtschaftspolitik in Preußen 1815-1825, Stuttgart 1937, S. 110, 234f. 14 Gülich, Ackerbau, S. 45; ders., Handel, Bd. 2, S. 458. Der Absatz nach Amerika gewann eine solche Bedeutung, daß schlesische Kaufleute und der O P Vincke Berlin zu einer diplomatischen Anerkennung der revolutionär entstandenen neuen Staaten drängten, um die Handelsbeziehungen zu verbessern. Die preußische Außenpolitik, die unter dem Gebot der »Heiligen Allianz« stand, lavierte auf dem Weg einer Koexistenzpolitik nach dem Motto: »Verhandlungen ohne Störungen der politischen Verhältnisse.« 1826 schrieb der Außenminister Bernstorff: »Erst seit Anknüpfung unmittelbarer Handelsverbindungen mit Südamerika und vorzugsweise mit Mexiko hat sich unsere Leinwandfabrikation in allen Teilen des Reichs gehoben und ist zu einem noch nicht gekannten Flore (!) gestiegen.« M. Kossok, Im Schatten der Heiligen Allianz. Deutschland und Lateinamerika 1815-1830, Berlin/DDR 1964, S. 164ff., ZitatS. 168. 15 Vgl. A. Zimmermann, Blüthe und Verfall des Leinengewerbes in Schlesien, Breslau 1885. Der schlesische Weberaufstand von 1844 war kein Aufstand von Leinen-, sondern von Baumwollwebern, die besonders gegen zwei schnell reich gewordene Verleger rebellierten. 16 ST A D M l Pr. 31. 17 HK Bielefeld 1849/50, S. 20. 18 Weber, Protestantische Ethik, S. 56. 19 Zit. nach Schmidt, Leinen, S. 142. Vgl. allgemein G.Jacobs, Die deutschen Textilzölle im 19. Jahrhundert, Diss. Erlangen 1907, gedr. Braunschweig 1907. 20 Diese Angaben nach: Gülich, Ackerbau, S. 48, 63f.; Schmidt, Leinen, S. 125ff.; ö f f . Anz. Rav., 1846, S. 155; H K Bielefeld 1849/50, S. 9; Bitter, S. 38f.; allgemein vgl. L. Klemens, Z u r Entwicklung der Preise von Textilien in Deutschland von 1825-1813, in: JbW, 1962/II, S. 191-95. 21 So der Bielefelder Stadtsekretär und Leggeinspektor Junkermann 1841 an O P , zit. nach Schmidt, Leinen, S. 141. Zu Delius' Gewinnen vgl. ebd., S. 143, 304, 310. Z u den »gewinn-

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Anmerkungen zu Seite 151 — 152 reichen Geschäften« der Bielefelder Leinenhändler vgl. auch Gülich, Handel, Bd. 4, S. 438 f.: »in fast keiner Stadt (hat sich) der Wohlstand verhältnismäßig mehr gehoben.« 22 Schmidt, Leinen, S. 141. 23 Eingabe v. 17. 3. 1847, in: S T A M OP 1042, Bd. 1, Bl. 386. 24 Vgl. Blumberg, S. 96; Gülich, Ackerbau, S. 58ff.; Busse, S. 68f.; Anhang 24. Der Sprung zwischen 1842/43 ist eine Folge des verschärften Leggezwangs (vgl. unten S. 166). Die alten und neuen Ausnahmen vom Leggezwang heben sich kaum einander auf, wie die HK Bielefeld 1849/50, S. 17 schrieb. Wägt man die Angaben ebd., S. 16 und bei Gülich, Ackerbau, S. 150 gegeneinander ab, dann ist die reale Zunahme um maximal 5000 Stück geringer als die nominale. 25 Noback, S. 27; Viebahn, Leinen, S. 17f.; H K Bielefeld 1849/50, S. 20. 26 Vgl. Biller, S. 53; Schmoller, S. 474, 517ff. 27 Zum Import von Leinwand bzw. Leinengarn in den Zollverein vgl. Hermes, S. 140; Noback, S. 24; Gülich, Handel, Bd. 4, S. 443 f. Den größten Teil dieser Garneinfuhr stellte rohes, ungebleichtes Maschinengarn dar. Die Einfuhr englischen Maschinengarns war nach der Meinung schlesischer Kaufleute um 10% billiger als die eigene industrielle Produktion, da in England die Investitionskosten (Technik, Rohstoffe, Energie, Kapitalzins) niedriger waren als in Deutschland (Noback, S. 31, 33). Gleichwohl schätzte Noback (S. 27), daß die eingeführte Garnmenge nur 5 % der im Zollverein verbrauchten Menge ausmachte. In Bielefeld war der entsprechende Anteil allerdings wesentlich höher (s. unten S. 156 f.). Es ist nicht möglich, den Umfang des eingeführten Garns gegenüber dem im Zollverein industriell hergestellten zu schätzen. Es läßt sich aber doch feststellen, daß die Produktion der Flachsmaschinenspinnereien in Preußen nicht unbeträchtlicht war. 1849 gab es in Preußen 14 solcher Fabriken mit 46074 Spindeln, das ist knapp die doppelte Produktionskapazität, die als notwendig erachtet wurde, falls das gesamte Bielefelder Leinen mit Maschinengarn gewebt werden sollte. (Übersicht der gewerblichen und Fabrikenverhältnisse des Preußischen Staates am Ende der Jahre 1846 und 1849, in: Mitteilungen des Statistischen Bureaus, Bd. 5, 1852, S. 229; Schätzung des Bielefelder Bedarfs auf rd. 25000 Spindeln, in: HK Bielefeld 1849/50, S. 16f.) 1865 hatten die drei Flachsmaschinenspinnereien in Bielefeld und Herford zusammen 38716 Spindeln (Viebahn, Statistik, Bd. 3, S. 892). Das verdeutlicht übrigens auch wieder den Zusammenbruch der Handspinnerei mit der Industrialisierung. 28 Vgl. Gülich, Handel, Bd. 4, S. 493f.; Schmidt, Delius-Versmold, S. 15ff„ 24ff., 52, 57; Leggezahlen in Anhang 23. 1836 wurde im Kr. Lübbecke der Leggezwang aufgehoben, 1842 wieder eingeführt. Für 1838 bzw. 1841 wurde geschätzt, daß das Leggeleinen im Kr. Lübbecke etwa 8 0 % bzw. 5 0 % der Gesamtproduktion ausmachte (Jahresverwaltungsberichte der Rg. Minden, in: S T A D Μ 1 Pr. 26, 27, 29). Zum Einzugsbereich der Leggen im Kr. Lübbecke gehörte auch die Löwendleinenweberei im Kr. Herford (HK Bielefeld 1849/50, S. 28f.). Positive Stimmen über den Löwendleinenhandel: HK Bielefeld 1854, S. 4; Preußische Statistik, Bd. 9, S. 203. 29 Vgl. die Preisangaben für die Tecklenburger Legge bei Biller, S. 90; für die Lübbecker Leggen vgl. Anhang 23. Die ebd. errechneten Durchschnittspreise sind allerdings mit Vorsicht zu behandeln, da ihnen Schätzungen für verschiedene Sorten zugrundeliegen, starke Preiseinbrüche für bestimmte Sorten also möglich sind. Vermutlich auf Höchstpreise im späten 18. Jahrhundert bezogen ist eine Bemerkung des LR Kr. Lübbecke von 1846, daß für Löwendleinen nur noch ein Drittel des früheren Preises bezahlt werde (11. 9. 1846, in: S T A D M l IS 3, Bl. 119). Dagegen wurde zu den Preisen von 1864 bemerkt, daß sie »eine nie gekannte Höhe« erreicht hätten (Preußische Statistik, Bd. 9, S. 203). Zu Preisen für das Segeltuchleinen vgl. Schmidt, Delius-Versmold, S. 14, 26, 28, 57. 30 Für 1800: Reekers, Minden-Ravensberg, S. 126; dies., Paderborn, S. 164 (einschließlich der seit 1806 eingestellten Webstühle); für 1846: Gewerbetabelle für 1846, in: S T A D M l IG 63. Für die älteren Territorien Minden sind die Kr. Minden und Lübbecke, für Ravensberg die Kr.

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Anmerkungen zu Seite

153-155

Herford, Halle und Bielefeld zugrundegelegt, die mit den Grenzen der alten Territorien weitgehend übereinstimmen. Die Ziffern enthalten die haupt- und nebengewerblichen Webstühle. 31 Vgl. oben S. 66f. 32 Bericht des Vorsitzenden des landwirtschaftlichen Vereins des Kr. Höxter vom 20. 6. 1843, in: S T A D M l IU 554; Bericht des Höxteraner LR, 18. 9. 1845, in: STAD M l I St 626. Im übrigen erfahrt man auch aus den Akten des 19. Jh. nur wenig über das ländliche Gewerbe im Paderbornischen. Die Gewerbetabelle für 1846 weist keine »Großhändler« fiir Leinen in den Paderborner Städten und Kreisen nach; der Handel lag ganz in den Händen kleiner Kaufleute (STAD M l IG 63, Bl. 9f.). Gülich, Ackerbau, S. 57 f. weist auf eine umfangreiche Bleicherei von Leinen im Kr. Höxter hin, das allerdings zu einem bedeutenden Teil aus den benachbarten Hannoverschen und Braunschweigischen Landen stammte. Meyer, Schuldenzustand, S. 6, spricht noch 1836 von einer notwendigen Förderung des Flachsbaus und der Spinnerei im Paderborner Land. 33 Während um 1800 in Lügde 500 Personen in der Spitzenklöppelei beschäftigt waren, waren es nach der Gewerbetabelle 1846 401 Personen (Reekers, Paderborn, S. 94; STAD M l IG 63, Bl. 8). Nach 1850 erlebte dieses Gewerbe, in dem hauptsächlich Frauen arbeiteten, einen Aufschwung als Folge des Niedergangs der Handspinnerei für Leinengarn; offenbar wurde das Handgarn nun stärker für Spezialprodukte wie Spitzen verarbeitet. Viebahn, Statistik, Bd. 3, S. 909, nennt für die 1860er Jahre »gegen tausend Beschäftigte« in der Spitzenklöppelei Lügdes, die Bielefelder und schlesische Garne klöppelten. 34 Die Zunahme ist durch Doppelzählungen von Verlagswebern entstanden (Adelmann, Bielefeld, S. 886). 35 Adelmann, Krisen, S. 117. A. zieht für seine These zwei unvergleichbare Zahlen heran. Für 1796 die Zahl der »Arbeiter« auf Webstühlen, für 1849 die Zahl der selbständigen Weber im Hauptgewerbe einschließlich ihrer Gehilfen. Sie zeigen für Minden-Ravensberg tatsächlich eine Stagnation (5379 bzw. 5493). Die Zahlen wurden aber nach zu verschiedenen Kriterien erhoben: 1796 in der merkantilistischen Absicht, die Gesamtzahl der Beschäftigten, 1849 aber, um Differenzierungen in der Beschäftigtenstruktur festzustellen, wobei die Unterscheidung zwischen Haupt- und Nebenbeschäftigung mit großen Unsicherheitsfaktoren belastet ist. - In gleicher Weise wie Adelmann operiert auch Köllmann, Bevölkerung, S. 77, mit jenen Zahlen. - Auf einer breiteren Ebene bestätigt die hier vertretene These von einer Expansion der ländlichen Textilindustrie bis etwa um 1840, der eine Stagnation in den 40er Jahren folgte: F. W. Henning, Industrialisierung und dörfliche Einkommensmöglichkeiten, in: Kellenbenz (Hg.), Nebengewerbe, S. 155-173, bes. S. 159. 36 Quellen: Rgbz. Minden 1822, 1843: Laer, Protoindustrialisierung, Tab. XIV; 1831: С. IV. Ferber, Neue Beiträge zur Kenntnis des gewerblichen und commerciellen Zustandes der Preußischen Monarchie, Berlin 1832, S. 160; 1849: Tabellen und amtliche Nachrichten über den Preußischen Staat fir das Jahr 1849, Bd. 6, S. 678ff. Haupt- und nebengewerbliche Webstühle sind zusammengezählt. Für Kr. Bielefeld: Gewerbetabellen der entsprechenden Jahre: STAD M2 Bielefeld 655, 656, 657, 406. Für Preußen: Schmoller, S. 505f., 549; vgl. auch Blumberg, S. 73. 37 Schmidt, Delius-Versmold, S. 23; vgl. HK Bielefeld 1851, S. 31. 38 Vgl. Blotenberg, Gnadenfonds, S. 59 ff. 39 Gülich, Ackerbau, S. 66; vgl. HK Minden 1867, S. 106. 40 Gülich, Ackerbau, S. 110. Die in der Ravensberger Heimatliteratur gern verbreiteten Bilder bäuerlicher Spinnstuben sind Arrangements aus dem späten 19. Jahrhundert. Penetrant idyllisierend (Spinner im Sonntagsstaat und in einer wohl ausgestatteten, aufgeräumten Stube), zeugen sie von einer Instrumentalisierung der sozialgeschichtlichen Tradition zugunsten des politischen Konservatismus und gegen die moderne städtische Industrie. 41 LR Kr. Herford, 6. 2. 1820, in: STAD M l IS 3, Bl. 1; vgl. unten S. 232ff.

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Anmerkungen

zu Seite 155—157

42 Was ex defmitione aus d e m O r t ihrer Z ä h l u n g h e r v o r g e h t . Die Handwerkertabelle, in der sie a u f g e f ü h r t sind, erfaßte die G e w e r b e »vorherrschend fur den örtlichen Bedarf«, w ä h r e n d die Fabrikentabelle die G e w e r b e »vorherrschend f u r den Großhandel« erfaßte (Adelmann, Bielefeld, S. 884). D i e Webstühle u n d Weber w e r d e n seit E i n f u h r u n g dieser U n t e r s c h e i d u n g in der Fabrikentabelle a u f g e f ü h r t . Dies erklärt auch die unterschiedlichen Zahlen f ü r den Kr. W i e d e n brück. H i e r arbeiteten u m 1850 »mehrere tausend Menschen« i m Verlag eines belgischen Spinnereiunternehmens. D i e L ö h n e w a r e n so niedrig, daß selbst nach den Kosten f ü r den T r a n s p o r t belgischen Flachses nach W i e d e n b r ü c k n o c h ein G e w i n n verblieb: Bitter, S. 35. In der Fabrikentabelle tauchen diese Spinner nicht auf! 43 Für 1838: Z u s a m m e n s t e l l u n g der Rg. M i n d e n , 6. 10. 1838, in: S T A M O P 1042, Bd. 1, Bl. 162f.; f ü r 1849: Gewerbetabelle in: S T A D M l IG 63. Die Quelle f ü r 1838 enthält nicht die H a n f s p i n n e r , wahrscheinlich aber diejenige f ü r 1849. Bei der B e r e c h n u n g der Spinnerbevölker u n g ist eine durchschnittliche Familiengröße v o n 4 Personen zugrundegelegt, die sich aus einer Aufstellung der Landräte v o n 1846 ergibt (vgl. S T A D M l ISt516). Beide Quellen nennen keine Spinner f ü r die übrigen Kreise i m Rbgz. M i n d e n . 44 H K Bielefeld 1849/50, S. 11; R g . - R a t Q u e n t i n , 8. 12. 1847, S T A M O P 1042, Bd. 1, Bl. 442. Bitter, S. 26, schätzt dagegen die Spinnerbevölkerung niedriger ein. A u s g e h e n d v o n der Senne, in der angeblich ein Viertel sämtlicher Spinner im R g b z . M i n d e n w o h n t e , k o m m t er auf eine S p i n n e r b e v ö l k e r u n g v o n etwa 57000 M e n s c h e n i m ganzen Rgbz. M i n d e n . Diese Schätzung liegt gerade dann viel zu niedrig, w e n n m a n , wie Bitter es für die Senne tut, alle Kleinbauern, E r b p ä c h t e r u n d Heuerlinge zur Spinnerbevölkerung rechnet. 45 Vgl. A n h a n g 22. 46 Vgl. W. Hoth, Die Industrialisierung einer rheinischen Gewerbestadt, dargestellt am Beispiel Wuppertal, K ö l n 1975, bes. S. 227: In Wuppertal w u r d e Leinengarn gebleicht in Z e n t n e r : 1792 = 40000, 1815 = 26000, 1834 = 12000. 47 D i e Weber sparten m i t M a s c h i n e n g a r n 2 0 % ihrer Garnkosten u n d ein Drittel der Arbeitszeit, da dieses sich w e g e n seiner Gleichmäßigkeit schneller w e b e n ließ (Hildebrandt, S. 241 f. Zitat ebd.). 48 1837 e r w ä h n t e die Rg. M i n d e n Maschinengarn z u m ersten Mal; 1841 b e m e r k t e sie schon, daß dieses »mit j e d e m J a h r m e h r Absatz« finde (Jahres verwaltungsbericht 1837, in: S T A D M l Pr. 26; Zeitungsbericht Mai 1841, in: S T A M O P 351, Bd. 6, Bl. 402). Z w i s c h e n 1846 u n d 1850 stieg die E i n f u h r v o n Maschinengarn nach Ravensberg angeblich v o n 2500 auf 11000 Z e n t n e r (Schmidt, Leinen, S. 243; Hildebrandt, S. 241). N a c h einer Schätzung der H K Bielefeld w a r e n zur Herstellung des »Bielefelder Leinens« 7875 Z e n t n e r nötig ( H K Bielefeld 1849/50, S. 16). O b w o h l M a s c h i n e n g a r n auch von D a m a s t w e b e r n v e r w e n d e t w u r d e , lassen die E i n fuhrzahlen (die allerdings i m Vergleich m i t j e n e r Schätzung des Bedarfs etwas unrealistisch h o c h scheinen!) die Prätention Bielefelder Händler, n u r Leinen aus h a n d g e s p o n n e n e m G a r n aufzukaufen, z u m i n d e s t seit den späten 1840er Jahren in einem schiefen Licht erscheinen. Vgl. die kritischen B e m e r k u n g e n zu deren »Mangel an Realität« bei Bitter, S. 32; Q u e n t i n , 8. 8. 1847, in: S T A M O P 1042, Bd. 1, Bl. 445 ff. D a g e g e n betont Schmidt, Leinen, S. 201 ff. die G l a u b w ü r d i g k e i t der Kaufleute, o h n e sich zu fragen, was mit d e m v o n i h m selbst festgestellten e i n g e f ü h r t e n M a s c h i n e n g a r n geschah. 49 Schmidt, Leinen, S. 137ff.; Gülich, Ackerbau, S. 64ff. 50 Z u m Folgenden vgl. Schönfeld, S. 51 ff., passim; zu Einzelaspekten auch Schmidt, Leinen, S. 45, 68, 97f. 51 Seit den späten 1830er J a h r e n w u r d e n in N o r d w e s t d e u t s c h l a n d m e h r e r e W o c h e n g a r n m ä r k t e g e g r ü n d e t , die neben b z w . an die Stelle der alten Handelsbeziehungen zwischen K a u f m a n n u n d Spinner traten (vgl. u n t e n S. 160ff.). D e r sonntägliche H e r f o r d e r G a r n m a r k t stellte die Kaufleute bald in den Schatten; 1844 setzten zwei H e r f o r d e r Garnhändler n u r 10% dessen u m , was auf d e m W o c h e n m a r k t verkauft w u r d e , auf d e m auch »ausländische« K ä u f e r auftraten (Schönfeld, S. 112).

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Anmerkungen zu Seite 157—160 52 Vgl. diejahresverwaltungsberichte der Rg. Minden für 1842/43 und 1844, in: STAD M l Pr. 31, 32. 53 H K Bielefeld 1851, S. 12. 54 Bitter, S. 35; dieses Verlagssystem dauerte, bei einem offenbar abnehmenden Umfang, bis etwa 1860; vgl. HK Bielefeld 1851, S. 12; ebd. 1856, S. 10; ebd. 1857, S. 6; ebd. 1858, S. 2. 55 Die Zahlen für 1852-1861 nach den Gewerbetabellen in: STAD M l IG 63-65; für 1875: Preußische Statistik, Bd. 40, S. 210f.; Sogemeier, S. 67. 56 Vgl. die nach Kreisen differenzierten Angaben in: Tabellen u. amtliche Nachrichten . . .fiir 1849, Bd. 6, S. 678 fr. 57 Reekers, Paderborn, S. 154f. 58 Dies., Minden-Ravensberg, S. 126f.; Gülich, Ackerbau, S. 79; Tabellen u. amtliche Nachrichten . . .fir 1849, Bd. 6, S. 678ff. 59 Eine angemessene Darstellung der Zigarrenindustrie und ihrer Entwicklung im Kontext der Krise der Textilindustrie fehlt. Ein Uberblick über die Zigarrenindustrie im 19. Jahrhundert: W. H. Schröder, Arbeitergeschichte und Arbeiterbewegung. Industriearbeit und Organisationsverhalten im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Frankfurt 1978, S. 120ff. Für Westfalen vgl. die Hinweise bei Kuske, S. 148ff.; Sogemeier, S. 79fF.; K. Machens, Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte des Osnabrücker Landes im 17. und 18. Jahrhundert, I. Tabakhandel und Tabakindustrie, in: Osnabrücker Mitteilungen, Bd. 70, 1961, S. 86-97; IV. Dobelmann, Von Tabakspinnern und Tabaktrinkern, in: Westfälischer Heimatkalender, 1972, S. 42—46; K. Paetow (Hg.), Bünde im Widukindsland, Bünde 1953, S. 135ff. 60 Vgl. M. Vahle, Die Strohflechterei, ein Glied in der Wirtschaftsgeschichte der Stadt Bünde. Ein Versuch zur Behebung der Arbeitslosigkeit in Bünde und Umgebung in der Mitte des vorigen Jahrhunderts, in: Rav. ВН., Jg. 36,1936, S. 99f.; ebd., Jg. 37, 1937, S. 14-16; vgl. U. Troitzsch, Staatliche Bemühungen um die Einführung der Strohflechterei in Kurhessen in der Mitte des 19. Jahrhunderts - ein Beispiel verfehlter Nebenerwerbsförderung, in: Kellenbenz (Hg.), Nebengewerbe, S. 141-54. 61 Die Zahlen über die Stadt-Land-Verteilung und zu den Betriebsgrößen nach: Tabellen u. amtliche Nachrichten . . . fir das Jahr 1849, Bd. 6, S. 678 ff.; zur Holter Eisenhütte vgl. Reekers, Tecklenburg-Lingen, S. 62. 62 Gülich, Ackerbau, S. 67f.; Lengerke, S. 287, 300f. Zu gleichen Vorgängen der Verdrängung des Flachsbaus im Rahmen der »rationellen« Landwirtschaft in anderen Regionen N o r d westdeutschlands vgl. Funke, Heuerleute, S. 21; Achilles, Flachsbau, S. 121; Homung, S. 18,28; (Anonym), Gewerbeausstellung, Bd. 1, S. 366 f. Die genannten Gründe und die hohe Arbeitsintensität des Flachsbaus haben auch später, als mit den Maschinenspinnereien die Nachfrage wieder stieg, einen neuen Aufschwung des Flachsbaus verhindert. Der Flachsbau in den ravensbergischen Kreisen Herford, Halle und Bielefeld ist nach 1850 dramatisch zurückgegangen, von ca. 3300 ha im Jahre 1850 auf 1906 ha im Jahre 1859 und ist bis 1900 kontinuierlich fast bis zur Bedeutungslosigkeit gesunken, nämlich auf 88 ha im Jahre 1900 (HK Bielefeld 1849/50, S. 20f.; ebd. 1860, S. 5; Preußische Statistik, Bd. 168, S. 97ff.). 1864 stammte nach Aussage des Landwirtschaftlichen Vereins des Kr. Bielefeld - trotz aller Ermunterung und Förderung nur 1/10 des von den Maschinenspinnereien in Ravensberg verbrauchten Flachses aus der Region (.Engel, Webereien, S. 200). Zunächst wurde belgischer, dann immer mehr russischer Flachs verarbeitet. Rußland war im späten 19. Jahrhundert der Hauptproduzent für Flachs auf dem Weltmarkt; 85% bis 90% des in deutschen Spinnereien verarbeiteten Flachses kamen aus Rußland. Vgl. Homung, S. 23; H. Potthoff, Die Leinenindustrie, in: Die Störungen im deutschen Wirtschaftsleben während der Jahre 1900 ff. (Schriften des Vereins fiir Sozialpolitik, Bd. 60), Leipzig 1903, S. 31 ff. 63 Gutachten der HK vom 20. 10. 1849, in: STAD M l I U 496, Bl. 88; ähnlich Hildebrandt, S. 241, seinen Bielefelder Gewährsmann zitierend: »Die Erzeugung (des Flachses, J. M.) hat sehr, besonders die der großen Oekonomen, abgenommen. Letztere bauen ihn nicht, weil seine

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Anmerkungen

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Bearbeitung v o r u n d nach seiner Reife zu viel H ä n d e kostet, sie ihn aber n u r in kleinen Q u a n t i t ä t e n an den a r m e n Spinner verkaufen u n d teilweise v e r b o r g e n k ö n n e n , u n d auch bei den häufigen M i ß e r n t e n der Verdienst unsicher ist.« Vgl. auch Bericht der H K Bielefeld 1849/ 50, S. 20; W D , J g . 1, 1845, S. 98. 64 Vgl. die Berichte in: ST A D M l I U 475. 65 S T A M O P 370, Bl. 141 f. Z u den lokalen Flachs- u n d G a r n m ä r k t e n vgl. Gülich, A c k e r bau, S. 50; A B M 1837, S. 42; ebd. 1839, S. 341, 382; Haarland, Ü b e r den Verfall der Leinenfabrikation i m Weserlande, in: Westfälische Provinzialblätter, Bd. 3, 1843, H e f t 2, S. 124. Skeptisch über den Bielefelder Flachsmarkt äußerte sich 1855 die H K Bielefeld (Gutachten, 5. 6. 1855, in: S T A D M l 1U 229). 1857 ist d i e s e r j e d o c h noch e r w ä h n t m i t einem U m s a t z v o n 4 6 1 5 4 P f u n d Flachs ( H K Bielefeld 1857, S. 10). 66 H K Bielefeld 1853, S. 10. 67 Z u r Geschichte der Bielefelder Industrialisierung grundlegend u n d m i t weiterer Literatur: Ditt; m i t der Frage nach Kontinuität b z w . Diskontinuität zwischen P r o t o - I n d u s t r i e u n d Fabrikindustrie: Mooser, Weg, S. 76ff. Z u r These der »Verspätung« vgl. Fischer, Wirtschaft, S. 471 ff.; vgl. hingegen Blumberg, S. 77f. - Im folgenden w e r d e n nicht alle Aspekte des »Übergangs« zur Fabrikindustrie dargestellt, s o n d e r n n u r diejenigen, die f u r die Lage der U n t e r s c h i c h t e n bis 1848 wichtig sind. 68 S T A M O P 351, Bd. 1, Bl. 108; vgl. Koselleck, Preußen, S. 321, A n m . 102. 69 S T A M O P 370, Bl. 1, Marginalie zu einem Bericht der Rg. M i n d e n . 70 Delius, Ü b e r Flachs-Spinnmaschinen u n d Spinnschulen, in: Westfälische Provinzialblätter, Bd. 1, 1828, H e f t 3, S. 131-141, h i e r S . 131. 71 Bericht des Bielefelder LR, 18. 9. 1831, in: S T A M O P 370, Bl. 40ff. 72 Eingabe F o r t m a n n , 29. 11. 1828, in: S T A M O P 1042, Bd. 1, Bl. 16; A n s c h a f f u n g eines B a u m w o l l w e b s t u h l s nach LR K r . Bielefeld, 9. 1. 1834, in: S T A M O P 370, Bl. 98. D e r A n t r a g w u r d e w e g e n Geldmangels u n d mit d e m H i n w e i s abgelehnt, sich u m ein Darlehen der Provinzialhilfskasse zu b e m ü h e n . F o r t m a n n b e k a m eine Prämie v o n f ü n f Rt für seine guten Absichten, natürlich zu w e n i g f u r eine Spinnschule. 73 Vgl. Schüren, Vergleich; ders., Industrialisierung, U r b a n i s i e r u n g u n d sozialer Wandel im deutsch-niederländischen Grenzgebiet. Z w e i Weberdörfer i m 19. J a h r h u n d e r t , Diss. Bielefeld 1982 (MS) gedr. D o r t m u n d 1984. 74 Schmidt, M i n d e n - R a v e n s b e r g , S. 60; Reekers, M a n u f a k t u r e n , S. 52ff.; Schönfeld, S. 106f., 126ff. Werg w a r ein A b f a l l p r o d u k t bei der Flachszubereitung, das n u r das sehr g r o b e H e e d e g a r n ergab, welches in der Segeltuchweberei v e r w e n d e t w u r d e ; vgl. Schmidt, DeliusVersmold, S. 73. In den 1860er J a h r e n w a r die H e r f o r d e r Spinnerei die kleinste der drei Ravensberger Maschinenspinnereien. 75 In d e m Verlag arbeiteten 1828 60 Webstühle, 1835 dann 400, 1845 aber n u r n o c h 150, 1848 w u r d e K o n k u r s g e m a c h t . Vgl. Trende, S. 153; Gülich, Ackerbau, S. 70; LR Kr. H ö x t e r , 18. 9. 1845, in: S T A D M l ISt 626; weitere Einzelheiten in: S T A D M l IG 414. 76 1832 regte das Innenministerium den Ü b e r g a n g zur B a u m Wollindustrie an; vgl. G u t a c h ten des Bielefelder Landrats, 17. 1. 1833, in: S T A M O P 370, Bl. 80ff.: Er schilderte bezeichnenderweise die U n f ä h i g k e i t der Spinner, die neue Industrie einzuführen (Unkenntnis, A r m u t , zu kleine W o h n u n g e n , u m in diesen einen Webstuhl aufstellen zu können), sagte aber nichts über die Fähigkeit u n d den Willen zur Innovation bei den Kaufleuten. Die a n g e f ü h r t e n G r ü n d e weisen auch d a r a u f h i n , daß an eine Ä n d e r u n g der Produktionsverhältnisse ernsthaft n o c h nicht gedacht w u r d e ; selbst die B a u m Wollindustrie wollte m a n noch auf die Basis des K a u f s y s t e m s m i t kleinen P r o d u z e n t e n stellen. - 1831 scheiterte die Initiative des Wiedenbrücker LR u n d der Rg. M i n d e n zur E r r i c h t u n g einer B a u m w o l l s p i n n e r e i in W i e d e n b r ü c k am m a n g e l n d e n »Gemeinsinn« der B ü r g e r , n a c h d e m m a n schon einen U n t e r n e h m e r aus Bocholt (nicht aus Bielefeld!) g e f u n d e n hatte ( S T A D M l I U 439, vgl. Blotenberg, Vielfalt, S. 30ff). 1847 stritten die Rg. M i n d e n u n d die Landräte n o c h u m die E i n f u h r u n g b z w . F ö r d e r u n g der Baumwollindustrie,

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Anmerkungen

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was den O P Flottwell veranlaßte, den Düsseldorfer R g . - R a t Q u e n t i n mit einem Gutachten zu beauftragen. A u c h dieser sprach sich gegen die B a u m w o l l e aus u n d regte an, den einheimischen Flachsbau zu verbessern u n d ihn als R o h s t o f f g r u n d l a g e f ü r die industriellen Flachsspinnerei zu benutzen ( S T A M O P 1042 Bd. 1, Bl. 391 f f ) . 77 Vgl. Delius, Flachs-Spinnmaschinen, S. 134: Die Risikoscheu kritisierten die B e a m t e n in den 1840er J a h r e n mehrfach; vgl. die Gutachten u n d Berichte in: S T A D M l 1U 496 u n d die Urteile v o n R o t h e r u n d Beuth, zit. bei Schuhmacher, Leinenindustrie, S. 133ff.; Ditt, S. 16. 78 D e n k s c h r i f t v o m 1 . 1 1 . 1842, S T A D M l IG 294, Bl. 25. 79 Delius, Flachs-Spinnmaschinen, S. 136, 138. 80 So schon 1828 Delius, ebd., S. 138; zu den sich h ä u f e n d e n F o r d e r u n g e n nach Schutzzöllen in den 1840er Jahren s. S T A M O P 1042, B d . 1, Bl. 212fT. 1845 beantragte auch der Westfälische Landtag Schutzzölle: Verhandlungen des 8. Landtages, S. 141 f.; vgl. Schulte, S. 505 A n m . 20. 81 v. Reden, Ü b e r die G a r n - u n d Leinenverfertigung u n d den G a r n - u n d Leinenhandel des Königreichs H a n n o v e r , H a n n o v e r 1833, S. 49. Reden analysiert in dieser Broschüre die s t r u k turellen Veränderungen des proto-industriellen Textilgewerbes i m K o n t e x t der englischen Industrialisierung u n d ihren Folgen für die deutsche Leinenindustrie b e m e r k e n s w e r t klarsichtig. T r o t z der v o n i h m zugestandenen Vorteile der fabrikindustriellen P r o d u k t i o n diskutiert er nicht die Möglichkeit einer nachholenden Industrialisierung, sondern allein die Verbesserung der alten »Landesfabrik« m i t M a ß n a h m e n , wie sie auch in Ravensberg versucht w u r d e n . Die Industrialisierung b z w . K o n k u r r e n z sollte gleichsam u n t e r h u n g e r t werden: »Die Spinner w e r den jedenfalls m i t der Maschinenspinnerei Preis halten k ö n n e n , weil sie keines Anlagekapitals bedürfen«, u n d ebenso die Weber, »weil sie m i t viel geringerem Verdienste sich begnügen«, da sie angeblich auch B a u e r n sind (ebd., S. 48f.). 82 S T A M O P 1042, Bd. 1, Bl. 138: Petition Bielefelder Kaufleute v o m 15. 2. 1837 an den Landtag b z w . O P . Ähnlich taktierte auch die Firma Delius, die 1840 das erste Maschinengarn v e r w e b e n ließ, »um eine erste P r o b e damit zu machen u n d die Weber v o n der Gefährlichkeit ihrer Lage zu überzeugen«, wie Gustav Delius schrieb (Schmidt, Leinen, S. 242). 83 Ansichten seines Leinewebers ü b e r den Z u s t a n d unserer Spinnerei . . ., in: O f f . Anz. R a v . , 1844, S. 86 ff., gezeichnet von d e m Jöllenbecker Weber A. Böckstigel. Bielefelder Leinen aus H a n d g e s p i n n s t , die H a u p t e r w e r b s q u e l l e unseres Kreises (Bielefeld) . . ., in: Ö f f . Anz. R a v . , 1847, S. 394ff., gezeichnet v o n d e m Weber Bauschulze in Altenhagen. Z u letzterem vgl. u n t e n S. 289. 84 Vgl. dazu F. Bosch, A n f ä n g e der Mechanisierung des Leinengewerbes i m R a u m Bielefeld, i n : J B H V R , J g . 71, 1977/78, S. 104-58. In den Bleichereibetrieben, die v o n der Genossenschaft der Kaufleute getragen w u r d e n , hat sich der Großbetrieb zuerst durchgesetzt. 1794 g a b es in der Stadt Bielefeld 17 Bleichen m i t 366 Beschäftigten; 1849 gab es in der Stadt Bielefeld n u r m e h r zwei Bleichen m i t 170 Arbeitern, i m Landkreis Bielefeld 13 Bleichereien mit 216 Arbeitern; vgl. Vogelsang, Bielefeld, S. 177, 234f.; Tabellen u. amtliche Nachrichten . . .fir das Jahr 1849, B d . 6, S. 678ff. 85 1845 stellte »einer der angesehensten Industriellen Süddeutschlands« fest, daß v o n den deutschen Leinen aus H a n d g a r n n u r dasjenige aus Bielefeld - »wo mit l o b e n s w e r t e m Eifer auf innere V e r v o l l k o m m n u n g hingearbeitet wird« - den Vergleich mit englischen u n d belgischen Leinen aus M a s c h i n e n g a r n aushalte. Zit. nach: D e u t s c h e G e w e r b e z e i t u n g u n d Sächsisches G e w e r b e - B l a t t , Leipzig u. C h e m n i t z 1845, N r . 36, 6. 5. 1845, S. 209. Dieses schutzzöllnerische Industriellenblatt gibt viele Einblicke in die P r o b l e m e der deutschen Leinenindustrie in den 1840er J a h r e n . Z u r Kenntnis der englischen Verhältnisse bei den Bielefelder Kaufleuten vgl. M . Schuhmacher, Auslandsreisen deutscher U n t e r n e h m e r 1750-1851, unter besonderer B e r ü c k sichtigung v o n Rheinland u n d Westfalen, K ö l n 1968, S. 21 ff., 4 4 f . Z u m Vorbild f u r Schlesien s. Minutoli, S. 17, 27. 86 S. das Zitat in A n m . 85.

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Anmerkungen zu Seite 164—167 87 »Die in den Spinnschulen ausgebildeten ärmeren Kinder werden von guten Landleuten gern in den Gesindedienst genommen, ja schon vor der Confirmation gesucht, dadurch von ihren armen Familien getrennt und zu ehrliebenden, sich des Betteins schämenden Menschen erzogen, während in Gegenden, wo es keine Spinnschulen gibt, man Arme und Bettler wieder Arme und Bettler erziehen sieht.« So der Vorstand der Spinnschule auf der Stadtheide bei Bielefeld in einer undatierten (ca. 1835) Übersicht über die genannte Spinnschule, beigelegt in: S T A D M 2 Minden 4. Amt Hartum Nr. 11. Die Spinnschule auf der Stadtheide bestand seit 1828 und war eine der ersten überhaupt. 88 Die Zahl der Spinnschulen entwickelte sich wie folgt: 1834 = 12, 1839 = 30, 1842 = 40, 1846 = 50, 1850 = 22. Die allermeisten davon wurden in Minden-Ravensberg und im Kr. Wiedenbrück eingerichtet. Zahlen nach Bielenberg, Gnadenfonds, S. 51 f.; Schulberichte der Rg. Minden, in: S T A M O P 2161, Bd. 3,4. Ihre Ausstattung und Ziele wurden oft beschrieben: vgl. Domeyer, S. 21 ff.; Blotenberg, Gnadenfonds, S. 51 ff.; ders., Vielfalt, S. 23ff.; Busse, S. 50 ff. 89 Vgl. Schmidt, Leinen, S. 128f.; Domeyer, S. 62ff.; Blotenberg, Gnadenfonds, S. 41 ff. Seit den 1820er, verstärkt in den 1840er Jahren sind auch staatliche Aktivitäten zur Förderung eines verbesserten Flachsbaus zu beobachten, wobei Flandern als Vorbild galt. Vgl. S T A D M l I U 475, 476; G. v. Viebahn, Über Flachsbau und Leinenmanufaktur in Westfalen im Vergleich zu denselben Industriezweigen in Belgien, in: Zs. des Vereins f. deutsche Statistik, Bd. 2, 1848, S. 654-62. 90 Eingabe v. 29. 9. 1845, in: S T A M O P 370, Bl. 141 f.; vgl. unten S. 310f. 91 Bitter, S. 29fF.; vgl. Schmidt, Leinen, S. 129ff.; Schoneweg, Leinengewerbe, S. 104, 161 f. Die durch Handarbeit sehr schwer herzustellende Gleichmäßigkeit des Garnfadens bzw. Leinens wurde durch nachträgliches Glätten wenigstens >für das Auge< oberflächlich aufgebessert. Mit dem gleichmäßig gesponnenen Maschinengarn entfiel dieses Problem. 92 Vgl. Schönfeld, S. 30 ff. Warenbetrug und Veruntreuungen von Rohmaterialien waren auch anderswo ein alltäglicher Bestandteil des Kauf- bzw. Verlagssystems; vgl. Kuczynski, Alltag, Bd. 3, S. 163ff.; Landes, S. 65. 93 Quentin, Bericht v. 8. 8. 1847, in: S T A M O P 1042, Bd. 1, Bl. 444. 94 Vgl. die Leggeordnungen für die Kr. Herford, Halle, Bielefeld einerseits und den Kr. Lübbecke andererseits, beide v. 31. 3. 1842, abgedruckt in: A B M 1842, S. 163ff.; erneute Vorschriften für die Qualitätskontrolle erfolgten 1854, vgl. A B M 1854, S. 3ff., 22ff., 31. Zur Motivierung vgl. Verhandlungen des 6. westfälischen Landtages, S. 35 ff. Vgl. Potthoff, Leinenleggen, S. 117 Ff.; Busse, S. 71 ff. 95 A B M 1817, S. 274f.; A B M 1818, S. 120; A B M 1836, S. 136. Ein Publikandum im Amt Halle am 24. 2. 1843 erneuerte das Gebot gleichen Haspelmaßes von 1817, da »die Betrügereien der Spinner durch falsches Haspelmaß dem ganzen Leinengeschäft um so gefährlicher werden, j e mehr die Concurrenz des Maschinengarns, welches den großen Vorzug durchaus gleichmäßiger Abmessung und Fadenstärke für sich hat, auf das Handgarn eindringt« ( S T A D M 2 Halle 102, Bl. 20). Zur V O v. 14. 7. 1843 fur ganz Westfalen vgl. GS 1843, S. 303f.; Verhandlungen des 7. Westfälischen Landtages, S. 17, 25 f. Zur Bestrafung des Schildescher Unterstützungsvereins vgl. S T A B Amt Schildesche, Nr. 523 b. 96 Jahresverwaltungsbericht Rg. Minden fur 1839, in: S T A D M l Pr. 28; ähnlich H K Bielefeld 1849/50, S. 12. 97 Quentin, 8. 8. 1847, in: S T A M O P 1042, Bd. 1, Bl. 445 f.; Junkermann, 14. 9. 1848, in: S T A D M l IS 3, Bl. 183; Schmidt, Leinen, S. 244. 98 Eingabe aus Theesen, 13. 3. 1847, in: S T A M O P 1042, Bd. 1, Bl. 386; Eingabe aus Altenschildesche, 29. 9. 1845, in: S T A M O P 370, Bl. 140f. 99 Die genannten Zahklen nach: LR Kr. Bielefeld, 18. 9. 1831, in: S T A M O P 370, Bl. 39; Zusammenstellung über die Weber im Kr. Bielefeld, 20. 7. 1844, in: S T A D M 2 Bielefeld 406 (652 selbständig arbeitende Weber hatten 1451 Stühle, während 1843 im Kr. Bielefeld insgesamt

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Anmerkungen zu Seite

167-171

2454 Webstühle gezählt wurden). Für 1849 vgl. eine Zusammenstellung des Amtmannes von Schildesche, in: STAB Amt Schildesche, Nr. 521 b; vgl. unten S. 237, Tabelle 22; für 1814 vgl. oben S. 65. 100 Vgl. Culemann, Schildesche, S. 131. 1814 sind in Schildesche zwei Weber namens Todheide verzeichnet, die zwar drei Webstühle im Haus, aber keine außer Haus betrieben (STAM Regierungskommission Bielefeld 230, laufende Nr. 179, 183 der Weberliste). HK Bielefeld 1849/50, S. 5. Weitere Beispiele für verlegerische Weber um 1850: Wadle, Markenwesen, S. 194; Angermann, S. 171. 101 »Leinenweber-Ordnung in Betreff des Weinkaufs und des Lohns, welches die Herrschaft bei künftiger Mietung ihres Gesindes den Mietsverträgen zu Grunde zu legen hat«, 4. 4. 1831, in: STAB Amt Schildesche, Nr. 521 b, Bl. 20ff. 102 Vgl. Schmoller, S. 494ff.; Kriedte u.a., Industrialisierung, S. 232ff.; Schlumbohm, Arbeitsteilung. 103 1817 machte die Rg. Minden in einem Publikandum auf den Schnellschützen aufmerksam (ABM 1817, S. 373f.). 1821 hoffte sie auf seinen »verfielfältigten Gebrauch«, offenbar vergeblich (Zeitungsbericht, 17. 4. 1821, in: STAM O P 351, Bd. 1, Bl. 230). In den 1830er Jahren wurde im Kr. Halle mit ihm experimentiert, 1837 erregte ein Schildescher Weber mit dem Schnellschützen Aufsehen, da dieser noch »wenig Eingang« gefunden hatte (Amtmann von Schildesche, 22. 9. 1837, in: STAB Amt Schildesche, Nr. 521 b, Bl. 34f.; Schmidt, DeliusVersmold, S. 24, 36). Für die Zeit nach 1850 vgl. Schmidt, Leinen, S. 243; Blotenherg, Gnadenfonds, S. 66f.; H K Bielefeld 1858, S. 2. Hinweis auf die größere Anstrengung mit dem Schnellschützen bei Brepohl, Spinnen, S. 101. In Schlesien ließen die Weber womöglich deswegen ausgeliehene Schnellschützen ungenutzt liegen (Minutoli, S. 14). Aus dem gleichen Grund versandeten auch Versuche mit einem zweispuligen Spinnrad, da das Spinnen mit beiden Händen eine »Anstrengung (bildete), die die Leute schwerlich lange aushalten« (Schwerz, S. 181, 237f.; W D , Jg. 1, 1845, S. 426). 104 Vgl. Schmidt, Leinen, S. 101; ders., Delius-Versmold, S. 3 0 f f ; Ditt, S. 19. 105 Vgl. STAB Amt Heepen, Fach 32, Nr. 1. Eine irrtümliche Zuordnung dieser Unterschriftenliste zu den Vereinen von 1847 erfolgt bei Schoneweg, Leinengewerbe, S. 228; vgl. auch Ditt, S. 20. 106 Vgl. STAB Amt Heepen, Fach 32, Nr. 4, darin bes. das Protokoll einer Konferenz von Amtmännern, Pastoren und Kaufleuten, 29. 11. 1847. Mitgliederliste des Schildescher Vereins vom 12. 2. 48 in: STAB Amt Schildesche, N r . 523 a. 107 LR Kr. Bielefeld, 18. 9. 1831, in: STAM O P 370, Bl. 38ff. 108 Trende, S. 153; Schmidt, Delius-Versmold, S. 37; vgl. Koselleck, Preußen, S. 67. 109 Vgl. Schmidt, Leinen, S. 103 ff, Zitate S. 107, 108. Aus den gleichen Gründen ging 1836 eine Maschinenweberei im schlesischen Marklissa wieder ein (Blumberg, S. 125 f.). 110 Zeitungsbericht Rg. Minden, 7. 4. 1847, in: STAM O P 351, Bd. 7, Bl. 395. 111 Vgl. Schmidt, Leinen, S. 185 ff.; Delius wurde vom Staat durch Werkzeug-und Maschinengeschenke unterstützt. 112 H K Bielefeld 1849/50, S. 10f.;zur Diversifikation und Expansion der neuen Zweige der Textilindustrie vgl. Ditt, S. 68 ff. 113 Der durchschnittliche Tageslohn eines Webers im Verlag betrug 5-6 Sgr, der Tagesverdienst eines selbständigen Webers in den Jahren 1845/50 hingegen 6-7 Sgr (Schmidt, Leinen, S. 246, 188). Allerdings ist besonders die letzte Angabe nicht sehr sicher. 1856 sprach die H K Bielefeld von einem »Mangel an Lohnwebern, trotz erhöhter Löhne«, was die Ausdehnung der Lemenverlage behindere (HK Bielefeld 1856, S. 6). 114 Die Befreiungen v o m Leggezwang waren aufgrund der Leggeordnungen von 1842 publikationspflichtig und wurden im A B M angezeigt. Die Angaben im Text stützen sich auf eine Auszählung dieser Anzeigen in: ABM 1843-1871; Änderungen der Firmennamen bzw. der Teilhaber wurden dabei nicht berücksichtigt. Die Befreiung bedeutete das Recht, ungeleggtes

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Anmerkungen

zu Seite 171—173

Leinen zu e r w e r b e n u n d m i t einem Firmenstempel zu versehen. Vgl. zu diesem K o m p l e x die gründlichen Arbeiten v o n Wadle, Gemeinschaftsmarken; ders., M a r k e n w e s e n . Z u r A u f h e b u n g der Leggen in H e r f o r d u n d Bielefeld vgl. A B M 1872, S. 35; H K Bielefeld 1871, S. 91: die Legge sei »endlich zur Freude unserer Industrie aufgehoben«. 115 Potthoff, Leinenleggen, S. 124; H. Wiemann, Die O s n a b r ü c k e r Stadtlegge, in: O s n a b r ü c k e r Mitteilungen, J g . 35, 1910, S. 1 - 7 6 , h i e r S . 73 ff. 116 Vgl. H K Bielefeld 1849/50, S. 5; sonst: A n h a n g 25. Bei der Kalkulation ist das Leinen auf den Bleichen als Indikator der G e s a m t p r o d u k t i o n a n g e n o m m e n . Das ist nicht ganz genau, da nicht alles in Ravensberg produzierte Leinen gebleicht, andererseits auf den R a vensberger Leggen auch auswärtiges Leinen gebleicht w u r d e ; angeblich glich sich das aber aus ( H K Bielefeld 1865, S. 6). Das Leggeleinen war, wie die H K Bielefeld bekräftigte, »einzig u n d allein (das) Fabrikat selbständiger Weber« i m Kaufsystem (HK Bielefeld 1859, S. 9). 117 Schmidt, Leinen, S. 245; vgl. die Liste größerer Verleger u n d Fabriken f u r 1852 u n d 1858 in: Tabellen und amtliche Nachrichten . . . Jür das Jahr 1849, Bd. 6/2, S. 1167; Tabellen und amtliche Nachrichten über den preußischen Staat jür das Jahr 1858, Berlin 1860, S. 564 ff. (wenige g r o ß e Lcinertverlage i m Unterschied zu den Seide«Verlagen). 118 1869 w u r d e n in der Mechanischen Weberei Bielefeld auf 330 mechanischen W e b s t ü h len 45345 Stück Leinen produziert {Engel, Webereien, S. 58, 66, 70, 88, 93; Blumberg, S. 123). 119 Bitter, S. 23. 120 Vgl. Bericht über die Konferenz, 26. 3. 1832, in: S T A M O P 370, Bl. 57ff.; M a r g i n a lie Vinckes dazu, ebd., Bl. 63; Schreiben des Garnhändlers H ö p k e r , ebd., Bl. 50. 121 Vgl. A n h a n g 3. 122 Z u s a m m e n g e s t e l l t u n d errechnet nach: S T A B Rep. III Y 23, N r . 1; f ü r 1787: Pohl, S. 44. 123 Spalte D in Tabelle 12 zeigt, daß die D o p p e l b e l e g u n g der kleinen Häuser, die Bildung »erweiterter Haushalte« (Medick, Funktion, S. 275f.) zumindest i m V o r m ä r z fast die Regel w a r . Aber auch schon u m 1800 w u r d e sie als eine »alte Gewohnheit« der Heuerlinge b e schrieben, w o b e i in Zeiten besonderer N o t zur M i n i m i e r u n g der Miete - sofern der Vermieter nicht einschritt (vgl. A n h a n g 29, 30: Verbot der U n t e r v e r m i e t u n g ! ) - n o c h weitere Familien ins H a u s g e n o m m e n w u r d e n (WA 1804, Sp. 346). Ähnliche Verhältnisse sind auch für das südöstliche P a d e r b o r n e r Land überliefert (vgl. Vincke, Zerstückelung, S. 42; L R - K o m missar, K r . W a r b u r g , 2. 2. 1846, in: ST A D M l ISt 516), w o n a c h sich die »Handarbeiter«, da sie keine M i e t e zahlen k o n n t e n , sich ihre selbstgebauten H ü t t e n mit zwei Familien teilten. D e r A m t m a n n v o n H e e p e n i m Kr. Bielefeld berichtete am 31. 12. 1847, daß »Heuerlingsw o h n u n g e n fast alle bis zu einem j e d e polizeiliche u n d j e d e Gesundheitsrücksicht beiseite setzendem M a ß e m i t Menschen angefüllt sind« ( S T A D M 2 Bielefeld 417). Z u der d r a n g v o l len E n g e k a m der nicht seltene W o h n u n g s w e c h s e l (vgl. u n t e n S. 201 ff.) b z w . die K ü n d i g u n g . A m 1. 12. 1847 berichtete der LR Kr. Bielefeld, daß gerade die »kleineren Vermieter« m i t «äußerster Strenge« gegen zahlungsunfähige Heuerlinge vorgingen, so daß allein i m A m t H e e p e n i m W i n t e r (!) 50 Familien obdachlos g e w o r d e n seien ( S T A D M 2 Bielefeld 418). N a c h 1850 w u r d e diese Situation d u r c h die A b - u n d A u s w a n d e r u n g sowie einen g e wissen W o h n u n g s b a u etwas entspannt. Gleichwohl w a r e n die üblen ländlichen W o h n v e r hältnisse der Unterschichten ein »Erbe« fur das städtische »Proletariat«, dessen W o h n v e r h a l ten, das die bürgerlichen Beobachter so schockierte, auch i m Lichte der Tradition u n d d a m a ligen G e g e n w a r t auf d e m Lande gesehen w e r d e n m u ß . Vgl. auch Gläntzer. 124 Vgl. A n h a n g 21 u n d Gewerbetabelle f ü r 1846, in: S T A D M l IG 63. Gesindezahlen f ü r den gesamten Rgbz. M i n d e n f ü r die Zeit 1816-1861 in: J b . f. die amtliche Statistik des preußischen Staates, Bd. 2, 1867, S. 234f., 236f., 252f. 254f. Die Stagnation des Gesindes w a r ein allgemeines P h ä n o m e n , vgl. Koselleck, A u f l ö s u n g des Hauses, S. 116f. 125 Bitter, S. 23.

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Anmerkungen zu Seite 173—179 126 Zeitungsbericht der Rg. Minden, in: STAM O P 351, Bd. 7, Bl. 125; vgl. Schwager, Bauer, S. 61. 127 So Lassalle 1863, zit. nach: F. Lassalle, Arbeiterlesebuch und andere Studientexte, hg. von W. Schäfer, Reinbek, 1972, S. 84. 128 Gülich, Ackerbau, S. 134ff. 129 Lengerke, S. 255; Regierungskommissar Ascher, 8. 5. 1848, in: ST AD M l IS 3, Bl. 155. 130 Eingabe v. 17. 3. 1847, in: STAM O P 1042, Bd. 1, Bl. 385ff.; vgl. Mooser, Religion. 131 Denkschriften der Wahlmänner, S. 9f.; zum »Kasernement« vgl. ebd., S. 8, 12. 132 Wahrscheinlich hatten sie auch die ehemalige Baumwollspinnerei im Zuchthaus Herford vor Augen, w o um 1800 schlecht ernährte Arbeitskräfte mit Prügel zur Arbeit angetrieben wurden. Vgl. die Zuschriften in: WA 1805, Sp. 632-39, 680-86, 765-68 und Berichte aus den Jahren 1810 bzw. 1813 in: STAM Königreich Westfalen A 10, Nr. 102; STAM Zivilgouvernement 423; vgl. Reekers, Manufakturen, S. 52 ff. 133 Denkschriften der Wahlmänner. S. 12. 134 Ebd., S. 13. 135 Kreisbeschreibung für Bielefeld 1863, zit. nach Jb. fur die amtliche Statistik des preußischen Staates, Bd. 2, 1867, S. 316. Vgl. zu den Problemen in den frühen Fabriken: Ditt, S. 49ff.; U. Frevert, Arbeiterkrankheit und Arbeiterkrankenkassen im Industrialisierungsprozeß Preußens 1840-1870, in: W. Conzeu. U. Engelhardt (Hg.), Arbeiterexistenz im 19. Jahrhundert. Lebensstandard und Lebensgestaltung deutscher Arbeiter und Handwerker, Stuttgart 1981, S. 293-319, hier S. 301 ff. mit Bezug auf Bielefeld. 136 Ein autobiographisches Beispiel: Vedder; V. war vor seinem Berufswechsel zum Missionar ein hausindustrieller Seidenweber. 137 Vgl. Fischer, Wirtschaft, S. 332 ff. 138 Z u m Indikator der »Handwerkerbevölkerung« s. Schmoller, S. 64f. Den genannten und allen weiteren Zahlenangaben über das Handwerk in den Tabellen 13—16 liegen folgende Quellen zugrunde: Gewerbetabelle der Preußischen Monarchie für das Jahr 1822, als M S gedruckt, beigelegt in: ST AD M2 Bielefeld 656; Seemann, Rgbz. Minden, S. 24 ff. (für 1831); Gewerbetabelle für 1846, in: STAD M l IG 63. 139 Z u m Bauhandwerk vgl. Schmoller, S. 377 ff.; Kaujhold, Preußisches Handwerk, S. 171 ff.; Gülich, Ackerbau, S. 112. 140 Zu den Tischlern vgl. Kaujhold, Preußisches Handwerk, S. 179f., 183; Trende, S. 190; Heizmann, S. 44ff. 141 Vgl. Fischer, Wirtschaft, S. 321 ff; F.-W. Henning, Die Einführung der Gewerbefreiheit und ihre Auswirkungen auf das Handwerk in Deutschland, in: Abel (Hg.), handwerksgeschichte, S. 142-72; eine »explosionsartige Ausweitung des handwerklichen Sektors« stellt dagegen Kallmann, Bevölkerung, S. 79ff. fest. 142 Bericht v o m 19. 12. 1818, in: Kreisarchiv Herford Nr. 1283. 143 Eingabe vom 6. 7. 1824 an den Bielefelder Stadtdirektor mit der Forderung, dem »Andringen der Neulinge etwas Schranken zu setzen«, in: STAB Rep. I С Nr. 1. 144 Eingabe von 37 Schuhmachern vom 10. 2. 1844 an die Rg. Minden; Eingabe von 16 Schneidern v o m 10. 3. 1844, in: STAD M l I St 615. Hier beschwerte sich nur der kleinere Teil der in Minden ansässigen Schuster und Schneider, wahrscheinlich der kleinbürgerlich-honorable, alt-eingesessene und ehemals zünftlerische Teil. Die Gewerbetabelle von 1846 gibt für die Stadt Minden an: 108 Schuhmachermeister bzw. Selbständige und 75 Schneidermeister bzw. Selbständige. 145 Eingabe vom 27. 7.1848 an die Rg. Minden, in: STAD M l I St 615. Ähnlich wurde auf dem Allgemeinen Handwerker- und Gewerbekongreß 1848 in Frankfurt eine Kontrolle des Landhandwerks gefordert (Valentin, Bd. 2, S. 102). 146 Die Zahlen für 1800 nach Reekers, Minden-Ravensberg, S. 124f.; dies., Paderborn, S. 159,161; die Zahlen fur den späteren Kr. Wiedenbrück geschätzt nach Angaben aus demjahre

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Anmerkungen zu Seite 1 80-186 1811 bei Reekers, Tecklenburg-Lingen, S. 77; die Zahlen für Corvey ebenso nach: dies., Paderborn, S. 162. Die städtischen Meister sind den ländlichen »Hauswirten« gleichgesetzt, die Weber nicht berücksichtigt. 147 Vgl. allgemein Gülich, Handel, Bd. 4, S. 664ff. G. konstatiert bes. für die 1830er Jahre eine stärkere Zunahme der ländlichen als der städtischen Handwerker. 148 H K Bielefeld 1849/50, S. 3 ; W D , J g . 3, 1847, S. 540. 149 Vgl. unten S. 273 ff. und oben S. 132ff. 150 Vgl. die Beobachtung für Mecklenburg, in: Jantke u. Hilger, S. 81 f. 151 Eingabe an Rg. Minden, 5. 3. 1844, in: STAD M l ISt 616. 152 W D , Jg. 3, 1847, S. 540; Kreisbeschreibung Büren 1863, zit. nach: Jb. für die amtliche Statistik des preußischen Staates, Bd. 2, 1867, S. 317; Rothert, Herkunft, S. 111; weniger Abwanderer aus Handwerkerfamilien fanden sich hingegen im Kr. Lübbecke (ebd., S. 97).

VI. Struktur und Entwicklung der bäuerlichen Klassengesellschaft 1 Holsche, S. 1 8 6 f f , Zitat S. 195. 2 Vgl. dazu oben S. 9 5 f f ; allgemein vgl. Koselleck, Preußen, S. 7 0 f f ; für Westfalen: Reif, Adel; das hier gezeichnete Bild von Grundherrschaft und ständischer Verfassung k o m m t wohl den Paderborner Verhältnissen, aber viel weniger den in Minden-Ravensberg mit einer starken bürokratisch-zentralistischen Verwaltung nahe. 3 Überblick über die Verfassungsgeschichte westfälischer Regionen: Wallthor, Selbstverwaltung, bes. S. 8 f f , 43ff.; vgl. ferner: Mayer v. Halfem, Verwaltung; Meyer zum Gottesberge, S. 2 7 f f ; R. Vierhaus, Die Landstände in Nordwestdeutschland im späten 18. Jahrhundert, in: Gerhard (Hg.), Ständische Vertretungen, S. 72-93. Ein Beispiel für die Indolenz des MindenRavensbergischen Adels gegenüber dem alten Landratsamt bei Bodelschwingh, Leben Vinckes, S. 109 ff. 4 Vgl. R. Freiin von Oer, Landständische Verfassungen in den geistlichen Fürstentümern Nordwestdeutschlands, in: Gerhard (Hg.), Ständische Vertretungen, S. 94—119; Kraayvanger, bes. S. 3 9 f f , 51 ff; Brand, bes. S. 62ff. Verstreute Details zur Verfassungsgeschichte auch bei Tönsmeyer, passim. 5 Zur stabilisierenden Funktion der Rechtsprechung vgl. Anm. 39/IV. 6 Vgl. Henning, Herrschaft, S. 253; Tönsmeyer, S. 133. 7 Die wichtigsten Quellen zum bäuerlichen Erb- und Familienrecht finden sich bei Wigand, Minden-Ravensberg, Bd. 1; ders., Paderborn-Corvey, Bd. 1, jeweils mit Beispielen aus der Rechtsprechung. Wigand überzeichnete möglicherweise in rechtsdogmatischer Absicht die Einheitlichkeit des Familienrechts, da es ihm darum ging, die historische Legitimität und provinzialrechtliche Positivität des Anerbenrechts gegen das freie Erbrecht zu verteidigen, das in Westfalen zuerst mit den Agrarreformen in der französisch-westfälischen Zeit auftrat und woraus manche Juristen schlossen, daß mit der Auflösung der grundherrlichen Bindung von Bauerngütern das Anerbenrecht ebenfalls aufgehoben sei. Vgl. Wigands Polemik in: ders., Minden-Ravensberg, Bd. 1, S. 198ff. Paul Wigand (1786-1866) war von 1807 bis 1833 zuerst als Friedensrichter, dann als Gerichtsassessor in Höxter tätig. Daneben war er führend in der westfälischen Landesgeschichte aktiv, intellektuell geprägt durch die Romantik und die historische Rechtsschule. Vgl. W. Richter, Paul Wigand: Ein Juristen-, Publizisten-, Poeten- und Historiker-Leben, in: WZ, Bd. 72, 1914, S. 90-146; W. Steffins, Paul Wigand und die Anfänge planmäßiger landesgeschichtlicher Forschung in Westfalen, in: WZ, Bd. 94, 1938, S. 143-237. - Das bäuerliche Familien- und Erbrecht ist oft in rechtshistorischer und -systematischer Hinsicht beschrieben, aber noch kaum im Kontext der wirtschaftlich-sozialen Praxis der Familien, also sozialgeschichtlich, untersucht worden. Nur die Gesetze des 19. Jahrhunderts referiert Riehl, Bauernrecht. Neuere Darstellungen: Henning, Herrschaft, S. 304 ff; P. Possei·

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Anmerkungen zu Seite 186—188 Dülken, Das westfälische eheliche Güterrecht im 19. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Geschichte der preußischen Provinzialrechtsgesetzgebung, Münster 1978. Die Praxis des Erbrechts war wahrscheinlich weit komplexer und variabler als aus den Rechtsquellen hervorgeht. Offene bzw. untersuchenswerte Fragen sind ζ. B.: die betriebsgrößenspezifische Reichweite des jeweils geltenden Anerbenrechts (vgl. Henning, Herrschaft, S. 304: Realteilung bei Kleinstbauern im Paderborner Land) und der Verlauf der Vereinheitlichung des Erbrechts bzw. die sozialen Erfahrungen hinter seinem Wandel. Die Fürstenberger Bauern im Kr. Büren ζ. B. einigten sich 1796 mit ihrem Grundherrn auf die Einführung des Anerbenrechts, weil die bis dahin geübte Realteilung die Folge gehabt habe, »daß ein guter Haushalt nicht lange bestanden (hat), sondern die Hausbesitzer gewöhnlich in dürftige Umstände geraten« sind (Abschrift des Vergleichs in: STAD M 8 N r . 729). Vgl. dazu die praktische Handhabung des scheinbar individualistischen Realerbteilungsrechts innerhalb eines ausgleichenden familial-dörflichen Systems in: H . Weyand, Stückelteilung und Bannrenovation im Oberamt Schaumburg. Ein Beitrag zur Untersuchung grundherrlicher Bauerndörfer des 17./18. Jahrhunderts, in: ZAA, Bd. 20, 1972, S. 161 ff. 8 Minden-Ravensbergische Eigentumsordnung von 1741, XI/1, zit. Wigand, Minden-Ravensberg, Bd. 2, S. 343. Z u m Verwandten-Erbrecht, das nicht unumstritten war, vgl. ferner: ders., Paderborn-Corvey, Bd. 1, S. 126f.; Holsche, S. 359; Vincke u. Haarland, S. 144f. Ein Beispiel aus der Praxis: Mooser, Familie, S. 153, 394, Anm. 63. 9 Vgl. zu dieser Flexibilität Wigand, Minden-Ravensberg, Bd. 2, S. 420ff.; d m . , PaderbornCorvey, Bd. 1, S. 106ff.; Henning, Herrschaft, S. 308f. Die Flexibilität zwischen Söhnen und Töchtern war angesichts der hohen Kindersterblichkeit wichtig. Erst seit dem 19. Jahrhundert wurde das Anerbenrecht zunehmend strenger mit dem Mannesvorzug verbunden, unter falscher Berufung auf die Rechtsgeschichte. Nach einer langen Auseinandersetzung wurde 1963 der Mannesvorzug durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, da dem Gleichheitsgrundsatz der Verfassung widersprechend, aufgehoben. Vgl. K. Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 2, Reinbek 1973, S. 145. 10 Die Brautschatzverschreibungen in der Bauerschaft Bischofshagen (Kr. Herford) zwischen 1760 und 1808 zeigen in sieben Fällen ein »Übergehen« des legitimen Anerben, zumeist wegen des noch kindlichen Alters desselben. Das Geburtsrecht wurde jedoch durch Abstandszahlungen entschädigt. Vgl. Eickmeyeru. Steffen, S. 109f., 125,129, 134, 136, 138. 11 Vgl. Sauermann, Hofidee; ders., Brautschätze. Die Spannungen entstanden um die Höhe der Brautschätze und bes. um die Alten versorgung, die klassische Quelle des Generationenkonflikts in den bäuerlichen Familien. 12 Auch in den gutsherrschaftlichen Gebieten war wahrscheinlich trotz der viel stärkeren Bedeutung der ständischen Herrschaft über die besitzende ländliche Bevölkerung die Tendenz zu einer ökonomischen Klassenbildung innerhalb dieser und über die ständische Gliederung hinweg stark. Vgl. Garve, S. 66 ff. 13 So Annette von Droste-Hülshoffin ihrer das Leben in dem Corveyschen Dorf Bellersen um die Mitte des 18. Jahrhunderts so exakt wie einfühlsam darstellenden Erzählung »DieJudenbuche«. Vgl. dies., Werke, S. 269. Vgl. ferner Cobb, Police, S. 246ff. über den Stolz, der sich an die ökonomische Unabhängigkeit, den vollen Brotschrank knüpfte, »for food was the most apparent sign of >une honnete suffisancei«. 14 Vgl. Henning, Verschuldung westfälischer Bauernhöfe, S. 13ff.; zur unterschiedlichen Belastung vgl. oben S. 100. 15 Vgl. die Liste der Bauern der Gemeinde Klosterbauerschaft, in: Engel, Klosterbauerschaft, S. 196ff. Die Kontinuität bzw. Diskontinuität der Besitzernamen ist betriebsgrößenspezifisch sehr ungleich verteilt. Vom 17. bis ins 20. Jahrhundert wahrten 5 von 7 Vollbauern, aber nur 5 von 18 Köttem die familiale Kontinuität. A m häufigsten war der Namens Wechsel auf den Kleinststellen der Brinksitzer und Häuslinge. Da der Namenswechsel nur ein »weicher« Indikator ist, kann dies freilich nur ein Hinweis sein. 419

Anmerkungen

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16 Haxthausen, G r u n d l a g e n unserer Verfassung, S. 177. 17 Zitiert nach Koselleck, P r e u ß e n , S. 317. 18 Schwager, Bauer, S. 59ff.; Schwerz, S. 86f.; ferner: Spannagel, L a n d e s o r d n u n g , S. 137; Borchers, Volkskunst, bes. S. 68. Allgemein zu ständisch b e s t i m m t e n K o n s u m n i v e a u s : Engelsing, Sozialgeschichte, S. 7ff.; W. Mager, Diskussionsbeitrag, i n : J . Коска (Hg.), T h e o r i e n in der Praxis des Historikers, G ö t t i n g e n 1977, S. 49f. 19 Weddigen, Nationalkalender 1800, S. 69f. N o c h deutlicher schildert der »Märkische Moser«, Johann Friedrich Möller, Pfarrer v o n Elsey, die soziale Exklusivität der Bauern in der Grafschaft M a r k , die ebenfalls indirekte G e w i n n e aus d e m G e w e r b e zogen: »Bei uns in der E b e n e pflegen sich die Vettern in den Ackerstädten, D ö r f e r n u. s. f. bei feierlichen Z u s a m m e n k ü n f t e n in eine dicht geschlossene Gesellschaft zu vereinigen, w o r i n kein Kötter, Brinksitzer, B ü r g e r o h n e E r b l a n d u n d Einlieger so leicht Z u t r i t t erhält; w o , u m a u f g e n o m m e n zu w e r d e n , z w a r keine A h n e n p r o b e , aber w o h l die U n t e r s u c h u n g vorher zu gehen pflegt: wieviel Pferde m a n hält? Wieviel Malterse oder M o r g e n Land m a n pflügt? Wieviel m a n einfährt? (d. h. erntet, J. M . ) Wie o f t m a n zu M a r k t e zieht?« Vgl. ders., Ü b e r den Maßstab des M e n s c h e n w e r t h s , in: (Johann Friedrich Möller), D e r Pfarrer v o n Elsey, hg. v o n A. Mallinckrodt, 2 Bde., 1810, hier Bd. 1, S. 9 f. Z u Möller vgl. den Artikel v o n H. Rothert, in: Westfälische Lebensbilder, hg. v o n A. Böhmer и. a., Bd. 3, M ü n s t e r 1934, S. 380-94. 20 Ältere genealogische Arbeiten sind verzeichnet b e i J . H. Mitgau, Deutsches S c h r i f t t u m zu einer Soziologie der Klassen u n d Stände auf genealogischer Grundlage, in: Familiengeschichtliche Blätter, J g . 30. 1932, Sp. 227—40, bes. Sp. 239f. An neueren, methodisch anders basierten, quantitativ-statistischen Studien ü b e r G e m e i n d e n vgl. R. Schüren, Familie u n d soziale Plazier u n g in einer d u r c h Landwirtschaft, H e i m g e w e r b e u n d Industrialisierung geprägten G e m e i n d e a m Beispiel des Kirchspiels B o r g h o r s t i m 19. J a h r h u n d e r t , in: Kocka u.a., Familie, S. 214—89; W. von Hippel, Industrieller Wandel im ländlichen R a u m . U n t e r s u c h u n g e n i m Gebiet des mittleren N e c k a r 1850-1914, in: A ß , Bd. 19, 1979, S. 43-123; P. Borscheid, Lebensstandard u n d Familie. P a r t n e r w a h l u n d Ehezyklus in einer w ü r t t e m b e r g i s c h e n Industriestadt i m 19. J a h r h u n d e r t , in: AfS, Bd. 22, 1982, S. 227-63; Kaschuba u. Lipp, S. 449ff. 21 Zitat: Holsche, S. 358; vgl. Schwager, Bauer, S. 65ff. Volkskundliche Darstellungen f u r O s t w e s t f a l e n : Meyer, Niedersächsisches D o r f , S. 39ff., 139 f f . ; Hagemann, S. 86ff.; Tönsmeyer, S. 506 ff. 22 Z u r Rechtsgeschichte: Wigand, M i n d e n - R a v e n s b e r g , Bd. 1, S. 237ff.; ders., P a d e r b o r n C o r v e y , Bd. 1, S. 127ff. Beispiele tatsächlicher Brautschätze u n d deren Analyse: Sauermann, Brautschätze; ders., Brautschatzverschreibungen; Eickmeyer u. Steffen. 23 Vgl. das Beispiel bei Tönsmeyer, S. 119: Die A m t s v e r w a l t u n g verweigerte den Konsens zur Heirat zwischen einem H a l b m e i e r - A n e r b e n u n d einer Brinksitzer-Tochter, die keinen Brautschatz hatte, u n t e r B e r u f u n g auf die subsidiär geltende O s n a b r ü c k e r E i g e n t u m s o r d n u n g , in der es hieß: »Es ist n u r eine solche Person zur E h e zu wählen, die das E r b e mit einem proportionierlichen Stück Geldes u n d sonsten verbessern kann.« 24 Schwager, Bauer, S. 65. N o c h größer w u r d e die K o n k u r r e n z u m eine Anerbin. Sie w u r d e »ärger v o n Freiern belagert als Penelope«, w o b e i freilich nicht die Treue ü b e r w u n d e n w e r d e n m u ß t e : »alle K ü n s t e w e r d e n a n g e w a n d t , sie zu g e w i n n e n , m a n bietet über das V e r m ö g e n , weil m a n ' s nachher in seiner M a c h t hat, Wort zu halten oder nicht, u n d w e r sich in ihr Bette schleichen kann, hat g e w o n n e n « (ebd., S. 67). Vgl. auch Wigand, M i n d e n - R a v e n s b e r g , B d . 2, S. 421 ff.; Henning, Herrschaft, S. 318ff. 25 Vgl. Sauermann, Brautschätze, S. 117ff. 26 Wigand, M i n d e n - R a v e n s b e r g , Bd. 2, S. 479; Sauermann, Brautschätze, S. l l O f f . Innerhalb der N o r m e n liegen zumeist auch die Beispiele f ü r Brautschätze bei Eickmeyer и. Steffen. 27 Zitat: Wigand, P a d e r b o r n - C o r v e y , Bd. 3, S. 29 f. Vgl. aber H i n w e i s e auf geringere G e l d a b f i n d u n g e n : e b d . , S. 65, 96; Haxthausen, Agrarverfassung, S. 225. 28 Beispiele bei Wigand, M i n d e n - R a v e n s b e r g , Bd. 2, S. 4 7 5 f f , 490 f., 443 ff.

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Anmerkungen zu Seite 192—195 29 Schwager, Bauer, S. 67 f. Beispiele für ähnlich hohe Brautschätze bei Angermann, S. 104, 245; Henning, Herrschaft, S. 318; Eickmeyer u. Steffen, S. 103. 30 Weddigen, Nationalkalender 1800, S. 56f., 87. 31 Zitat: ebd., S. 87. Vgl. Spannagel, Polizeiordnung, S. 132. In Lippe hießen diese Bauernaristokraten »Amtsmeyer«, im übrigen Westfalen »Schulten«. Vornehmlich auf diese sehr kleine Gruppe konzentrieren sich die genealogischen Arbeiten zur bäuerlichen H o f - und Familiengeschichte, die neben einem Konnubium mit gleichrangigen Bauern ein solches mit Kaufleuten, Beamten und selbst mit dem Adel zeigen. Vgl. Pfeiffer, Bauernfamilie, S. 188ff. Als eine sehr anschauliche Darstellung dieses »Bauernadels« vgl. Richter, Geschichte des Meyerhofes zu Langert in Blankenhagen bei Gütersloh, in: JBHVR, Bd. 44, 1930, S. 109-68. 32 Holsche, S. 205ff., ZitatS. 207; vgl. Wigand, Paderborn-Corvey, Bd. 3, S. 29f. 33 v. Cölln, Charakteristik, S. 113; aber selbst bei Ehebruch werde »ihres gemeinschaftlichen Interesses wegen« die Ehe nicht geschieden (ebd., S. 114). 34 Schwager, Bauer, S. 70. 35 Ebd., S. 58; ähnlich Marcard, S. 765. 36 W. Heienbrok, Zeugen und Zeugnisse aus Minden-Ravensberg, 2 Bde., Bethel bei Bielefeld 1931, hier Bd. 1,S. 99. 37 Vgl. Anhang 26; zur Sozialstruktur Quernheims und weiteren Befunden vgl. Mooser, Familie. Hier werden nur die beiden größten Gruppen, die Bauern und Heuerlinge berücksichtigt. 38 Die oben im Text S. 193 zitierten Aussagen, einzelne bäuerliche Familiengeschichten und eine annähernd vergleichbare Untersuchung über ein bayerischen Dorf mit Anerbenrecht machen wahrscheinlich, daß die Heiratskreise des 18. Jahrhunderts sich nicht wesentlich von denen des 19. Jahrhunderts unterschieden. In der bayerischen Pfarrgemeinde Mittemhofheirateten zwischen 1675 und 1800 88% der größeren Bauern und Wirte Frauen aus ebendieser Gruppe, 3% ihrer Frauen kamen aus der Gruppe der Söldner und 9% aus der Gruppe der besser gestellten ländlichen Handwerker. Aus der Unterschicht der armen Handwerker und Tagelöhner, Hirten, Inwohner usw. nahm keiner dieser Bauern eine Frau und auch nur 5% der kleinbäuerlichen Söldner. Vgl. G. Hanke, Z u r Sozialstruktur ländlicher Siedlungen Altbayerns im 17. und 18. Jahrhundert, in: Gesellschaft und Herrschaft. Forschungen zu sozial- und landesgeschichtlichen Problemen vornehmlich in Bayern. Eine Festgabe für K. Bosl zum 60. Geburtstag, München 1969, S. 219-79. Zu Familiengeschichten aus Minden-Ravensberg vgl. die beiden Darstellungen von Stohlmann; F. Heim, Eheschließungen unter benachbarten Ravensberger Bauernfamilien im 18. und 19. Jahrhundert, in: Rav. Bll.,Jg. 75, 1975, S. 217-19. 39 Vgl. die Beispiele aus dem späten 19. Jahrhundert bei Sauermann, Knechte, S. 12, 50, 61, 95. 40 Vgl. etwa Haxthausen, Agrarverfassung, S. 225f.; Steffens, Arndt und Vincke, passim. Vgl. auch unten S. 209 f. 41 Haxthausen, Agrarverfassung, S. 232. F. W. D. v. Geißler, Über den Adel als einen zur Vermittlung zwischen Monarchie und Demokratie notwendigen Volksbestandteil, Minden 1837, S. 87. Geißler verweist auf Strukturanalogien zwischen adeligem Fideikommiß und bäuerlichem Anerbenrecht, die ähnliche Disziplinierungs- und familienplanerische Bedürfnisse in beiden Gruppen vermuten lassen. Z u m Adel vgl. Reif, Adel, S. 78ff., 240ff.; ders., Adelsfamilie und soziale Plazierung im Münsterland 1770-1914, in: Kockau.a., Familie, S. 67-126. Für die Bauern ist das noch kaum erforscht, insbes. nicht der Zusammenhang zwischen Familienplanung und Mobilität der Nebenerben. Erhebungen zum Schicksal der Nebenerben im späten 19. Jahrhundert in: M. Sering (Hg.), Die Vererbung des ländlichen Grundbesitzes im Königreich Preußen, 3 Bde. in vier Teilen, Berlin 1899-1910. 42 Vgl. Gladen, »Wibbelt: Drüke-Möhne«, bes. S. 45f. 43 Den Prozentzahlen liegen 58 Zweitehen von Bauern (sämtlicher Besitzgrößengruppen) mit Frauen zugrunde, die zum erstenmal heirateten. Im übrigen haben auch Heuerlinge ähnlich

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Anmerkungen zu Seite 195—197 häufig wie Bauern eine zweite Ehe geschlossen, wobei sich auch bei ihnen die Heiratskreise gegenüber der Erstehe kaum veränderten. 44 Das legt ein Vergleich der Häufigkeit von Zweit- und Drittehen in Quernheim nahe. Solche Ehen schlossen 1801-1870 Männer 183mal, Frauen nur 114mal. Da im Heiratsregister des Kirchenbuches von Quernheim die Berufs- bzw. Gruppenzugehörigkeit der wiederheiratenden Witwen i.d.R. nicht angegeben ist, konnte nicht festgestellt werden, welche Witwen welche Männer heirateten. Vgl. Weddigen, Ravensberg, Bd. 1, S. 52: »Selten« treffe man eine Witwe auf dem Altenteil. »Denn auch die ältesten finden Männer, welche sich durch Heirat in den Besitz eines Hofes zu setzen wissen.« 45 Vgl. Engel, Klosterbauerschaft, S. 222, 226. 46 Vgl. H. G. Herrlitz, Studium als Standesprivileg. Die Entstehung des Maturitätsproblems im 18. Jahrhundert, Frankfurt 1973, S. 56fF. Der münsterländische Adel wollte den Bauernsöhnen, da die Kosten das Gut gefährden würden, ein Studium »platterdings« verbieten (Kommentar zur Eigentumsordnung 1769/70, in: ST AM Münstersche Ritterschaft, Protokolle Nr. 146/6, Bl. 197 f. Für diesen Hinweis danke ich H. Reif). Beispiele vor allem aus der Gruppe der größeren Bauern: Henning, Verschuldung westfälischer Bauernhöfe, S. 24; ders., Herrschaft, S. 286; Mooser, Familie, S. 148. Vgl. auch Moser, Werke, Bd. 5, S. 216, der vermerkt, daß unter den Gelehrten »die von dem geringsten Herkommen in ihrer Jugend den mehrsten Fleiß, als Männer die wahre Dauer zur Arbeit und am seltensten den Fehler der Hypochondrie haben«. 47 Vgl. z.B. H. Kaelble, Sozialer Aufstieg in Deutschland 1850-1914, in: K.-H. Jarausch (Hg.), Quantifizierung in der Geschichtswissenschaft. Probleme und Möglichkeiten, Düsseldorf 1976, S. 279-304, hier S. 291 ff.; Mooser, Familie, S. 359f.; Meyer, Niedersächsisches Dorf, S. 141. Das Gymnasium des 19. Jahrhunderts war »nach unten« hin offener als man bis vor kurzem glaubte, insbes. reichte es in der Herkunft seiner Schüler in bedeutendem Maße ins städtische Kleinbürgertum hinein. Der (relativ geringe) Anteil von Bauernsöhnen hat sich im Zeitverlauf jedoch wahrscheinlich erhöht. Vgl. M. Kraul, Gymnasium und Gesellschaft im Vormärz. Neuhumanistische Einheitsschule, städtische Gesellschaft und soziale Herkunft der Schüler, Göttingen 1980; P. Koppenhöfer, Bildung und Auslese. Untersuchungen zur sozialen Herkunft der höheren Schüler Badens 1834/36-1890, Weinheim 1980. 48 Vgl. Penners, Land-Stadt-Wanderung, S. 114; Mooser, Familie, S. 359. 49 Vgl. Engel, Klosterbauerschaft, S. 174f. (Namensvergleich ebd. S. 196ff.!). Ähnlich Rothe, S. 195 ff., w o auch deutlich wird, daß nicht hinter jeder Desertion ein Verweigerungsakt, sondern u. U. auch die Suche nach besserem Sold stand. Eine gleichsam familienwirtschaftliche Bedeutung des Militärdienstes zeigt die Beschwerde eines lippischen Einliegers im Jahre 1796 über die gewaltsame Rekrutierung seines Sohnes, der als Heuerling in Ravensberg lebte. Die Vorfahren hätten immer in Lippe gewohnt, »mein verstorbener Vater aber sowohl als ich haben Größehalber durch vieles Handgeld dazu bewogen, dem Bielefelder Regiment lange Jahre freiwillig gedient«. STAD Lippische Regierung L77 A, Fach 212, Nr. 7, Bl. 2. 50 Vgl. Kamphoefiier, S. 57ff.; Stohlmann, Familie Stohlmann, passim: In der Familie Heinrich H. Stohlmann (1770-1845) überlebten von 13 Kindern aus zwei Ehen sechs, von denen drei auswanderten. In der nächsten Generation, in der Familie Kaspar H. Stohlmann überlebten alle zehn Kinder (aus einer Ehe), von denen ebenfalls drei auswanderten. 51 Z u m folgenden vgl. Anhang 26 u. 27; ausfuhrlicher: Mooser, Familie, S. 143ff., 163ff. 52 Diesen Anteil von Bauernkindern, die auf Heuerlingsstellen abstiegen, eruierten mit anderen Quellen (Brautschatzverschreibungen) für die Zeit von 1760-1808 in der Bauerschaft Bischofshagen (Kr. Herford) auch Eickmeyer u. Steffen, S. 101. 53 Zu diesen Funktionen der Verwandtschaft vgl. die Brautschatzbeschreibungen bei Eickmeyer u. Steffen, passim. Weitere Belege bei Mooser, Familie, S. 153, 166. Die Bedeutung der weitverzweigten Verwandtschaften wird in der älteren Literatur (vermutlich aufgrund ihrer Selbstverständlichkeit) mehr behauptet als analysiert. Vgl. für Minden-Ravensberg: Hagemann,

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Anmerkungen zu Seite 198—202 S. 79, 82, 86,121; Meyer, Niedersächsisches Dorf, S. 29, 39f. Vgl. die neueren Ansätze beiJ.-L. Flandrin, Familien. Soziologie - Ökonomie - Sexualität, Berlin 1978, S. 48ff. H. Medick u. D. Sabean, Family and kinship: Material interest and emotion, in: Peasant Studies, Bd. 8, 1979, S. 139-60; Kaschuba u. Lipp, 137ff., passim. 54 Diese Unterscheidung folgt der seit Lenin (Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland, Werke, Bd. 3, Berlin/DDR 1975, bes. S. 167 ff.) in der marxistischen Geschichtsschreibung üblichen, ohne daß deren prozeßlogische Implikationen geteilt werden. Wie wenig die »Landarmut« ein Problem der kapitalistischen Differenzierung der Bauernschaft (Lenin) ist, zeigt ihr frühes Auftreten vor dem Eindringen des Kapitalismus in die Landwirtschaft. Infolgedessen vermeide ich auch die Rede von der »Proletarisierung« der Bauernschaft, die wesentlich eine politische Kategorie zur Begründung der leninistischen Bündnispolitik zwischen Arbeitern und Bauern ist, welche die Analyse der ländlichen Sozialstrukturen aber mehr verstellt als erhellt. 55 Vgl. Henning, Dienste, S. 140ff. Diese Differenzierung zwischen den besitzenden Bauerngruppen folgt im groben der schon sehr alten, im 19. Jahrhundert auch in statistischen Erhebungen benutzten Unterscheidung zwischen spannfähigen und spannlosen Grundbesitzern. Die Bedeutung dieser Unterscheidung zeigt sich ferner in der Deklaration zum Regulierungsedikt von 1816, das die spannlosen Kleinbauern von der Ablösung ausschied. Vgl. weiter eine Bemerkung Vinckes i m j a h r e 1808: Nicht ein Maximum, sondern ein Minimum der Größe ländlicher Besitzungen sei agrarpolitisch anzustreben. Dieses Minimum sollte wenigstens so viel Land umfassen, für das »in jeder Gegend wenigstens zwei Stallpferde erforderlich sind, denn auf allen bäuerlichen Nahrungen unter diesem Maß sind die Besitzer weder Fisch noch Fleisch, sich selbst zur Last, für den Staat von geringem Wert, immer im Zustande der Kümmerlichkeit . . .« N u r für die Tagelöhnerfamilien hielt Vincke einen kleineren Besitz für sinnvoll (vgl. Scheel [Hg.], Reformministerium Stein, Bd. 3, S. 710). 56 Vgl. dazu oben S. 2 6 f . , 6 1 f f . 57 Nach Reekers, Minden-Ravensberg, S. 85, 125; dies., Paderborn, S. 159. 58 Vgl. oben S. 100, unten S. 267f. u. Anhang 20. 59 Vgl. oben S. 73f., unten S. 255ff. 60 Die Sammlung und Auswertung solcher Listen bleibt für den Untersuchungsraum noch ein Desiderat. Einige Lokalforscher sind zwar auf die horizontale Mobilität gestoßen, geben aber keine weiteren Hinweise. So spricht Grossmann, Valdorf, S. 18 davon, »daß die Heuerlinge nicht immer so eng mit dem Hof verbunden (waren), wie oft angenommen wird. Manche wechselten sehr häufig ihre Arbeitgeber«. Ein ähnlich summarischer Hinweis auf einen »häufigen Wechsel« von Wohnung und Wohnort bei Tönsmeyer, S. 284. 61 Vgl. oben S. 51 f. die Zuwanderung von Gesinde aus dem Paderborner Land. Auch eine Fern-Zuwanderung ist vereinzelt belegt (Potthoff, Bevölkerung, S. 12). In einem gewissen Sinne scheint die kleinräumige Wanderung in der Volkszählung von 1871 im Anteil derjenigen Wohnbevölkerung auf, die nicht mehr in ihrer Geburtsgemeinde lebte. In dieser nicht mehr, aber in einer Gemeinde desjenigen Kreises, zu dem auch die Geburtsgemeinde gehörte, lebten im Rgbz. Minden 1871 j e nach Kreis zwischen 11% und 25% der Bevölkerung. 54% (Kr. Bielefeld) bis 79% (Kr. Büren) lebten in der Geburtsgemeinde, die restlichen Anteile stammten meist aus dem weiteren westfälischen Umkreis. In der Zeit bis 1871, also vor dem Einsetzen der Zuwanderung aus dem Osten, waren die Kreise Minden, Herford, Halle, Bielefeld und Paderborn diejenigen mit den höchsten Anteilen einer kleinräumig mobilen Bevölkerung. Vgl. Reekers, Westfalens Bevölkerung, S. 258 ff. 62 So treffend Blaschke, S. 158 f. 63 Moser, Werke, Bd. 5, S. 13 f. Z u r restriktiven Osnabrücker Ansiedlungs-und Armen Verordnung von 1774, die Moser entworfen hat, vgl. Wrasmann, Heuerlingswesen, I, S. 136f. Vergleichbares fehlte in Minden-Ravensberg; vgl. Mooser, Gleichheit, S. 239 f. 64 Gutachten des Cantonbeamten v. Delbrück, 2. 10. 1831; Bericht des Geometers Böck-

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Anmerkungen zu Seite 202—206 mann, 29. 12. 1835; Bericht des Paderborner LR, 2. 2. 1836, alle in: S T A M O P 370, Bl. 19ff., 106ff., llOff. Ahnlich arbiträr ist eine Eintragung im Katasterbuch des Grundsteuerverbandes Bielefeld vom 15. 6. 1827: Die Heuerlingspachten würden von Jahr zu Jahr vergeben, manchmal auch alle drei Jahre, ohne daß es i.d.R. einen Wechsel des Pächters bedeute, denn die Pachten »gehen gewöhnlich wie Erbpachtungen gleichsam auf die Kinder über« ( S T A D M 5 C51). Für überwiegend lange Pachtzeiten spricht der Befund in Spenge (Mager, HaushaltSpenge, S. 153, 179). Vgl. auch Wrasmann, Heuerlingswesen, I, S. 103. 65 »Antrag der Heuerlinge im Amt Heepen«, ca. März 1848, in: S T A B Amt Heepen, Fach 32, Nr. 6. 66 Für Sachsen vgl. Blaschke, S. 188; für Österreich vgl. Mitterauer, Familiengröße, S. 235. In einem ostpreußischen D o r f wurden 1738 bis 1786 alle besitzlosen Familien ausgetauscht (Linde, Landesausbau, S. 38). In vierzehn Dörfern im Braunschweigischen wechselten 1739/40 bis 1750 8 0 % der Einlieger ihren Wohnsitz (Penners, Land-Stadt-Wanderung, S. 107). Vgl. auch Schaer, S. 61. Zu den Pachtbedingungen im Vormärz vgl. unten S. 266 ff. 67 Bericht des Rentmeisters Fischer, 16. 10. 1809, in: S T A M Regierungskommission Bielefeld 25, Bl. 14; Zitat Schwager in: WA 1802, Sp. 323. 68 (Anonym), Grafschaft Ravensberg. Über Übervölkerung, in: WA 1804, Sp. 345 f. 69 Vgl. oben S. 52. Zur Gesindemobilität vgl. Kramer, Gesinde, S. 24ff.; Mitterauer, Familiengröße, S. 236. 70 Bericht der Rg. Minden, 30. 9. 1824, in: S T A D M l IA 100. Nachweis der Auswanderungsziele in einer 1828 erstellten unvollständigen Übersicht über seit 1816 ausgeteilte Auswanderungskonsense in: S T A D M l IA 104. Zum Kontext vgl. Funke, Einlieger, S. 1110; Steinbach, Lippe, S. 170, 174. 71 Liste vom 16. 3. 1813 und Bericht des Cantonmaires vom 22. 3. 1813 in: S T A M Königreich Westpfahlen Gruppe B , Fach 1, Nr. 176. 72 Vgl. unten S. 299. 73 Soweit erkennbar, stammte von den oben geschilderten Zuwanderern in den katholischen Canton Ringboke keiner aus den protestantischen Teilen Westfalens. 74 Bericht vom 16. 10. 1809, in: S T A M Regierungskommission Bielefeld 25, Bl. 14. Das gleiche schildert später ein Bericht aus dem benachbarten Lippe: »Wird der Kötter aber alt und krank und hat keine erwachsenen Kinder, welche statt seiner für den Grundherrn (d. i. Bauer, J . M.) arbeiten, so muß er (es gibt freilich Ausnahmen) sich eine andere Wohnung suchen.« Nach einer Zuschrift in: M. Heß (Hg.), Gesellschaftsspiegel, Jg. 1, 1845, S. 46. 75 Zitate: Sander, Lehrerleben, S. 391; Zeitungsbericht in: WA 1804, Sp. 346. Zu den Pachtverträgen vgl. Anhang 29 u. 30. Weddigen betonte einmal eine gewisse Reserve mancher Bauern gegen den Bau neuer Heuerlingskotten; weil deren Bewohner »von den Bauern leben müssen, so werden sie (die Bauern, J . M.) von den Überflüssigen (!) nur belästiget, auch wohl bestohlen« (Weddigen, Nationalkalender 1800, S. 88). Eine ähnliche Haltung läßt der Bericht des Amtsschreibers des Lippischen Amtes Detmold vom 7. 12. 1797 erkennen, in: S T A D L92 Α Titel 61, Nr. 31, Bl. 44ff.; vgl. Anm. 123/V. 76 Vgl. oben S. 203; weitere Belege bei Mooser, Familie, S. 158. 77 Schwerz, S. 337. A u f den großen Gütern im Paderbornischen wurden die Landarbeiter rechtzeitig gefeuert, »damit nicht alte, lebende Inventarien dem Hause zur Last fallen«. Vgl. (Anonym), Berichtigungen eines Westphalen, S. 670. Ähnliches wird 1839 aus Ostpreußen überliefert, insbes. die Absicht der Kommunen und Grundbesitzer, zu verhindern, daß die Tagelöhner infolge des Wohnsitzes ein Unterstützungsrecht erlangten: »Dieses Wechseln des Wohnsitzes ist der gerade Strom zur Verarmung; wer in seinen Strudel gerät (und dieser Strom ist breit), der mag in Hingebung sein Alter als die Wanderjahre am Bettelstabe im voraus betrachten« (zitiert nach Neumann, Zur Lehre von den Lohngesetzen, in: J N S , Bd. 60, 1893, S. 617-69, hier S. 649, Anm. 1). Die Altersproblematik des industriellen Lohnarbeiters hatte also eine verwandte Vorgeschichte; vgl. H. Reif, Soziale Lage und Erfahrungen des alternden

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Anmerkungen zu Seite 206—214 Fabrikarbeiters in der Schwerindustrie des westlichen Ruhrgebiets während der Hochindustrialisierung, in: A ß , Bd. 2 2 , 1 9 8 2 , S. 1-95. 78 »Antrag der Heuerlinge im Amt Heepen«, in: S T A B Amt Heepen, Fach 32, Nr. 6. Ähnlich forderten 1848 Osnabrücker Heuerlinge eine Versorgungsanstalt für arme, alte, invalide Heuerlinge (Kamphoeßier, S. 79). 79 Eingabe an die Rg. Minden, 19. 2. 1850, in: S T A D M l IS 209. Die Erlaubnis für eine Kollekte wurde aus allgemeinen Gründen abgelehnt. 80 Rothe, S. 179; Bericht des Cantonbeamten von Delbrück, 2. 10. 1837, in: S T A M O P 370, Bl. 22. 81 Vgl. zum folgenden ausführlicher und mit Belegen: Mooser, Gleichheit. 82 Zitate: Weddigen, Nationalkalender 1800, S. 91; Haxthausen, Agrarverfassung, S. 10. 83 Sowohl die Statistik der Betriebe als auch der Bodenbewegung lassen viele Fragen offen. Die groben Kategorien und die für unterschiedliche Zeiträume verschieden aggregierten Zahlen werfen gleichsam nur einen Schattenriß der Realität und liefern Resultate von Prozessen, deren Verlauf häufig dunkel bleibt. Lokale und individuelle Beispiele sollen daher exemplarisch herangezogen werden, auch wenn ihre Repräsentativität nur als plausibel unterstellt werden kann. 84 Vgl. A. Schneer, in: Archiv der politischen Ökonomie und Polizeiwissenschaft, hg. von К. H. Rau u. G. Hansen, N . F . , Bd. 3, Heidelberg 1845, S. 1-57 (mit Literatur). Dieses »Archiv« enthält fast in jedem Band Beiträge zu dem Thema. Einen interessanten zeitgenössischen Überblick bietet ferner der liberale A. Lette, ein profunder Kenner und Kritiker der preußischen Agrarverhältnisse; vgl. ders., Verteilung. Eine wissenschaftliche Monographie fehlt m . W . noch. Vgl. aber Harnisch, Agrarpolitik; Vopelius, S. 62 ff. 85 (Denkschrift), Veränderungen, welche die spannfähigen bäuerlichen Nahrungen . . ., S. 7. 86 Zitiert nach Lappe, S. 105; vgl. auch Schulte, S. 497f.; Vincke, Bericht. Diese Schrift von 1824 ist eine programmatische Warnung vor den vermuteten sozialen Gefahren des ökonomischen Liberalismus auf dem Lande. 87 Vgl. den Überblick über die Entwicklung der Zahl der Betriebe in Anhang 10. 88 Gülich, Ackerbau, S. 33f.; Fehrenbach, S. 198, Anm. 164; Laer, Wirtschaftswesen, S. 198f.; Wolff-Metternich, Höxter, Bd. 2, S. 168, 170. 89 Meyer, Schuldenzustand, S. 10, 12. 90 Beide Zitate: Schwerz, S. 333. Vgl. auch den ansteigenden Flächenumsatz im Bodenverkehr während der Krise 1846/47 (Anhang 12a). 91 Vgl. Anhang 12b. Angabe der LN 1866 nach Meitzen, Bd. 4, S. 82. 92 Berthold, Differenzierungsprozeß, S. 22, 25. Für Vergleiche s. Henning, Grundstücksverkehr. 93 Vgl. Anhang 18. Zahl der Zeitpächter in den ebd. genannten Katasterbüchern; sie sind jedoch nicht für alle genannten Gemeinden angegeben. 94 Vgl. Anhang 13. Die Getreidepreissteigerung nach der Rechnung des Steuerbeamten Vorländer in der in Anhang 13 genannten Quelle. 95 Ein gleiches Verhältnis beobachtete H. Winkel, Zur Preisentwicklung landwirtschaftlicher Grundstücke in Niederbayern 1830-1870, in: I. Bog u.a. (Hg.), Wirtschaftliche und soziale Strukturen im säkularen Wandel. Fs. fur W. Abel zum 70. Geburtstag, Bd. 3, Hannover 1974, S. 565-77. 96 So der Herforder LR, 5. 9. 1837, in: S T A D N1 Pr. 477, Bl. 53. Zu den genannten Kalkulationen vgl. Anhang 14, 18, 20. Das Klassensteueraufkommen der Minden-Ravensbergischen Kreise betrug 1848 130680 Rt ( S T A D M l St 58, Bl. 105). 97 Vgl. Anhang 14. Zahlen der Gesamt-LN bei Meitzen, Bd. 4, S. 82. Dieses Verhältnis in der Verfügung über das Land hat sich auch in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht geändert, sondern eher noch stärker polarisiert. Vgl. die Betriebszählungen von 1882 und 1895

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Anmerkungen zu Seite 214—216 (mit besseren Kategorien und vollständigerer Erfassung) in: Preußische Statistik, Bd. 76/111, S. 182ff.; ebd., Bd. 142/II, S. 323fF. 98 LR Kr. Bielefeld, zitiert bei Bethe, Denkschrift betr. die Resultate der in Westfalen und der Rheinprovinz vorgekommenen Parzellierungen (15. 3. 1837), in: STAD M l Pr. 477, Bl. 25. In diesem Aktenband finden sich auch die anderen LR-Berichte, der zusammenfassende Bericht sowie die Stellungnahme der Regierung Minden zum Gesetzesvorschlag. 99 Vgl. Anhang 11 u. oben S. 119f. Vgl. ferner Westphalen, Leben, S. 114ff. Im Kr. Warburg wuchs die L N von 18 Rittergütern zwischen 1818 und 1861 um durchschnittlich 15% von 5811 ha auf 6705 ha. Der Großgrundbesitz (Betriebe mit mehr als 75 ha) hatte 1858 in diesem Kreis einen Flächenanteil von 45% (Emst, S. 76f.). Vgl. Reif, Adel, S. 478. 100 Zusammenstellung der Ritter- und anderer Großgüter für die Kr. Büren und Warburg in: STAD Pr. 477, Bl. 76, 257ff. Zur Besitzpolitik des Adels vgl. Reif, Adel, S. 223ff., 477. 101 Vgl. oben S. 119; Reif, Adel, S. 227f.; Verhandlungen des 6. Westfälischen Provinziallandtages (1841), S. 55ff. Die Strategie der Immobilisierung des Marktes für Parzellen hinter den Bestrebungen zur Einschränkung der bäuerlichen Dispositionsfreiheit stellte Lette, Verteilung, S. 40, 146ff., 148ff. so dar: Mit der Einschränkung verschlechtere sich der Kredit des Bauern, während sein Risiko, verschuldete Höfe verkaufen zu müssen, steige. Vgl. dazu auch Harnisch, Agrarpolitik. 102 Das Gesetz wurde daher schon 1841 suspendiert und 1848 aufgehoben. Die anhaltende und weitläufige Diskussion und gesetzliche Regulierung des bäuerlichen Erbverhaltens im 19. Jahrhundert verdiente eine nähere Untersuchung nicht nur in rechtshistorischer, sondern auch in sozialer und politischer Hinsicht. Vgl. Trende, 83ff.; Schulte, S. 114ff.; Riehl, Bauernrecht; Reinicke, Die Entwicklung des bäuerlichen Erbrechts, in: Kerckerinck zur Borg (Hg.), S. 113ff. Allgemein vgl. A. v. Miaskowski, Das Erbrecht und die Grundeigentumsverteilung im deutschen Reiche, 2 Bde. (Schriften des Vereins fur Socialpolitik Bd. 20, 25), Leipzig 18821884. Häufig wurde darüber geklagt, daß das Verlangen nach einer Gleichbehandlung der Erben in der »Zivilteilung« Gefahren für den Bestand der Güter nach sich ziehe, so daß ein gesetzlicher Schutz des Anerbensystems nötig sei (vgl. Wigand, Minden-Ravensberg, Bd. 1, S. 194ff.; Trende, S. 362f.; Bericht des Höxteraner LR, 13. 9. 1837, in: STAD M l Pr. 477, Bl. 121). Tatsächlich war die Zahl solcher Familienprozesse nicht gering: 1826-28 wurden im Bereich des O L G Paderborn 1536 Prozesse dieser Art geführt, demgegenüber aber auch 2995 Prozesse u m Servitute, Grenzen u. ä. und 2600 Prozesse um grundherrliche Abgaben (Zusammenstellung in: S T A M O P 370, Bl. 30). Hier scheinen Spannungen zwischen bürgerlichem Recht und bäuerlicher Praxis auf, wie sie Goy exemplarisch untersucht hat. Vgl. J. Goy, Heiratsstrategien und Erbfolge angesichts der revolutionären Gesetzgebung des Code Civil in der bäuerlichen Gesellschaft Südfrankreichs (1789-1804), in: Bulst u.a. (Hg.), S. 125-37. 103 Königliche V O vom 11. 7. 1845, in: A B M 1845, S. 246ff. bzw. GS 1845, S. 496ff. Ein ähnlich restriktives Ansiedlungsgesetz fur alle ostelbischen Provinzen wurde am 3. 1. 1845 erlassen (GS 1845, S. 25 ff.). Vgl. dagegen für Westfalen die wesentlich weniger kontrollsüchtige V O des O P v o m 31. 5. 1835, in: A B M 1835, S. 201 f. 104 Vgl. Anhang 14. 105 Bitter, S. 42. 106 Zitat: Gülich, Ackerbau, S. 34. Berichte über die Form der Bewirtschaftung der Güter in: STAD M l Pr. 477, Bl. 76, 147ff„ 257ff. 107 Beschreibung der Güter von Cäsar und v. Laer bei Lengerke, S. 218ff., 288ff. Ebd., S. 296 auch eine Bemerkung über die mangelnde »landwirtschaftliche Aufklärung«, da nur wenige der Gutsherren ihre Betriebe selbst bewirtschaften würden. Z u Tenge vgl. Conrad. 108 Vgl. als Quelle: Marcard, bes. S. 772f. Z u m Problem der Paderborner Juden vgl. oben S. 118; Herzig, S. 37ff. 109 A m t m a n n von Schlüsselburg, 25. 5. 1853; Amtmann von Rehme, 31. 5.1853, beide in: STAD M2 Minden A 25; zum Kr. Bielefeld vgl. Schulte, S. 498; zum Kr. Lübbecke: STAD M l

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Anmerkungen zu Seite 217—223 Pr. 477, Bl. 29; zum Kr. Halle: Lengerke, S. 324 (nur ein vager Hinweis auf »früher« häufige Subhastationen und Dismembrationen. Auch sonst streift Lengerke die Frage der Besitzveränderungen nur sehr flüchtig). 110 Vgl. Meitzen, Bd. 4, S. 242f., 426ff. 111 ST A D M2 Bielefeld 655; ST AD M2 Büren 952 (für 1816); Meitzen, Bd. 4, S. 242 f. (für 1861). Vgl. Reif, Adel, S. 227ff. 112 Vgl. Anhang 13. 113 Die übliche Quelle, die Denkschrift des Landwirtschaftsministeriums von 1865 über die » Veränderungen, welche die spannfähigen bäuerlichen Nahrungen . . . von 1816 bis Ende 1859 . . . erlitten haben« erfaßt nicht die gesamte Bodenbewegung, insbes. nicht die Veränderungen der spannlosen Kleinstellen und offensichtlich auch nicht den Besitzwechsel bei spannfähigen Gütern ohne Verlust des Status. Daß diese letztere Differenz wahrscheinlich nicht unbedeutend war, lassen die Zahlen bei Wilms, S. 23 annehmen; danach wurden in Minden-Ravensberg 1880-1911 560 Vollbauerngüter verkauft, aber nur 272 verloren dabei ihre Spannfähigkeit. Vgl. zur Quellenkritik der »Denkschrift« auch Berthold, Veränderungen, S. 59ff. Berücksichtigt man diese Defizienzen, dann war die Stabilität des altbäuerlichen Besitzes also weniger stark als im folgenden angeführt wird. Die Gesamtaussage wird davon aber wohl nicht berührt. 114 Vgl. Anhang 14; zu den Vergleichszahlen vgl. die ebd. genannte Quelle. Überdurchschnittlich häufig gingen spannfähige Bauern in den Provinzen Pommern (17,8%), Preußen (16,4%) und Sachsen (18,7%) ein. 115 Wilms, S. 23 schildert einen entsprechenden Unterschied fur das späte 19. Jahrhundert zwischen den landwirtschaftlichen und industriell durchsetzten Zonen innerhalb MindenRavensbergs. 116 Vgl. die Zitate oben S. 211. 117 Vgl. dazu mit weiteren Hinweisen: Mooser, Familie, bes. S. 175f. 118 Vgl. Anhang 14. 119 Quelle: Die Bewegung des Grundeigentums innerhalb der spannfähigen bäuerlichen Nahrungen und kleinen ländlichen Besitzungen in den sechs östlichen Provinzen der preußischen Monarchie und in der Provinz Westfalen während des Zeitraums v o m 1. Januar 1865 bis Ende 1867. Denkschrift, bearbeitet im Ministerium für die landwirtschaftlichen Angelegenheiten, in: Zs. des kgl. Preußischen Statistischen Bureaus, Jg. II, 1871, S. 121-42, hier S. 138 f. 120 Vgl. oben S. 139. 121 Vgl. Anhang 15. Die Kalkulation der Beteiligten bezieht sich auf die Besitzerzahl von 1851, schließt also die neu entstandenen Kleinbauern ein. Daß mit den Zukaufen der Vollbauern die durchschnittliche Besitzgröße nicht stieg, hängt mit sonstigen, in der Quelle nicht erfaßten Veränderungen ihrer Fläche zusammen. 122 Vgl. Anhang 15. 123 Z u den genannten Ziffern für Klosterbauerschaft vgl. Anhang 16; Stohlmann, Familie Schreiber, S. 95, 42; ders., Familie Stohlmann, S. 102, 107f.; vgl. auch unten S. 230. 124 Vgl. Rothert, Herkunft, S. 107. 125 Berthold, Differenzierungsprozeß, bes. S. 18f., 29f. Ähnlich, aber etwas vorsichtiger formuliert, ders., Zur Herausbildung der kapitalistischen Klassenschichtung des Dorfes in Preußen, in: ZfG, Bd. 25, 1977, S. 556-74. Natürlich steht die marxistische Agrargeschichtsforschung ganz im Bann der ostelbischen Verhältnisse, die sich von den westfälischen vielfach unterschieden. Da jene jedoch auch im Zentrum der Literatur stehen, wurden sie hier als Folie herangezogen. In der intensiven Forschung der Agrarhistoriker der D D R zeichnen sich jedoch bedeutende Modifikationen des alten Bildes ab, die der hier in den Mittelpunkt gestellten Rolle der Bauern entgegenkommen. Vgl. insbes. den wichtigen Aufsatz von Hämisch, Kapitalistische Agrarreformen. 126 Berthold, Differenzierungsprozeß, S. 30. 127 Sombart, Volkswirtschaft, S. 325, 322.

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Anmerkungen

zu Seite 223—227

128 Vgl. zu diesen E n t w i c k l u n g e n die Arbeiten v o n R. G. Moeller; F. W. Henning, D e r B e g i n n der m o d e r n e n Welt i m agrarischen Bereich, in: R. Koselleck (Hg.), Studien z u m Beginn der m o d e r n e n Welt, Stuttgart 1977, S. 97-115. 129 F. Reuter, Das Leben auf d e m Lande ( U t m i n e Stromtid), zuerst 1864, hier nach der Ausgabe M ü n c h e n 1977, S. 12; v. Laer, Materialien, S. 62; Schücking, S. 20. A n den l a n d w i r t schaftlichen Industrien der ersten H ä l f t e des 19. Jahrhunderts, der kommerziellen S c h a f w i r t schaft u n d den Brennereien, w a r e n in Ostwestfalen keine Bauern, sondern allein die g r o ß e n Pächter u n d adeligen Gutsbesitzer beteiligt (Gülich, Ackerbau, S. 2 3 f . , 72ff.). 130 Vgl. dazu auch Schissler, S. 146 f. 131 W D , J g . 1, 1845, S. 97; zu weiteren Berichten über diese Auseinandersetzungen vgl. e b d . , S. 9 7 f f . , 289, 331, 344ff., 385ff. 132 Vgl. oben S. 160 u. u n t e n S. 273 ff. 133 (Anonym), Z u s t a n d unserer Einlieger, Sp. 780, 787, passim. 134 Vgl. u n t e n S. 267ff. 135 Dies ist der Deutlichkeit halber eine gewisse idealtypisierende Ü b e r t r e i b u n g , da sich die gewerblichen U n t e r n e h m e r des 19. J a h r h u n d e r t s auch v o n ständischen u n d familialen Zielen leiten ließen (vgl. Kocka, U n t e r n e h m e r , S. 54ff.; ders., Familie, U n t e r n e h m e r u n d Kapitalism u s . A n Beispielen aus der f r ü h e n deutschen Industrialisierung, in: Zs. f. U n t e r n e h m e n s g e schichte, Bd. 24, 1979, S. 99-135). Unterschiede i m Verhalten resultierten wahrscheinlich aus d e m M a r k t a n p a s s u n g s d r u c k , d e m der gewerbliche U n t e r n e h m e r stärker ausgesetzt w a r als der Bauer. 136 (Anonym), Z u s t a n d unserer Einlieger, Sp. 788. 137 Z u r E r h ö h u n g der Brautschätze vgl. Sauermann, Brautschätze, S. 125ff.; zur Plazierung vgl. Mooser, Familie, bes. S. 143ff., 179ff. 138 W. Conze, W i r k u n g e n der liberalen A g r a r r e f o r m e n in Mitteleuropa im 19. J a h r h u n d e r t , in: V S W G , Bd. 38, 1949, S. 2-43, hier S. 13. 139 D i e Z i t a t e bei: Schücking, S. 20; Gülich, Ackerbau, S. 48; Marcard, S. 791, 793. Ähnliche Aussagen bei: Funke, Einlieger, S. 1115; Lengerke, S. 283, 294, 324. 140 Die bürgerliche O r i e n t i e r u n g b e t o n t im Hinblick auf die D i f f u s i o n bürgerlicher K o n sumstile u n d F a m i l i e n f o r m e n : Sauermann, Bauernfamilie, bes. S. 35ff. Die adelige O r i e n t i e r u n g w i r d hingegen deutlich bei: A. Breilmann, Die sozialen A u s w i r k u n g e n der Industrialisier u n g auf die landwirtschaftliche B e v ö l k e r u n g i m E m s c h e r Gebiet, in: Vestisches J a h r b u c h . Zs. des Vereins f ü r O r t s - u. H e i m a t k u n d e i m Vest Recklinghausen, J g . 51, 1949, S. 5-44. Z u m ständischen Wahlrecht u n d seiner sozialen Reichweite vgl. Köllmann, H a r k o r t , S. 190 ff. D a nach zählten (mit Angehörigen) i m gesamten Rgbz. M i n d e n 1825 zu der passiv u n d aktiv wahlberechtigten G r u p p e der G r o ß b a u e r n b z w . landsässigen B ü r g e r 3 , 8 % u n d zu der n u r aktiv wahlberechtigten »mittelbäuerlichen« G r u p p e 12,0% der Bevölkerung. K n a p p 8 0 % der B e v ö l k e r u n g (Kleinbauern, Landlose, städtische Unterschichten) w a r e n nicht wahlberechtigt. 141 I m m e r h i n w a r e n unter den höchstbesteuerten Personen des Rgbz. M i n d e n i m J a h r e 1852 nicht w e n i g e »Colonen«. Vgl. S T A D M l IL 31. 142 Funke, Heuerleute, S. 35. 143 H. Rosenberg, Die P s e u d o d e m o k r a t i s i e r u n g der Rittergutsbesitzerklasse, in: ders., Machteliten u n d W i r t s c h a f t s k o n j u n k t u r e n . Studien zur neueren deutschen Sozial- u n d W i r t schaftsgeschichte, G ö t t i n g e n 1978, S. 83-102, hier S. 87. Von einer »Verbürgerlichung« sprechen einerseits Sauermann (vgl. oben A n m . 140), andrerseits, entsprechend d e m M o d e l l der kapitalistischen sozialen Differenzierung, die Marxisten (»dörfliche Bourgeoisie«). 144 So die R g . M i n d e n in i h r e m Zeitungsbericht v o m 15. 9.1824, in: S T A M O P 3 5 1 , Bd. 2, Bl. 164. 145 R g . M i n d e n , 30. 8. 1824, in: S T A M O P 667, Bl. 67. Die U m k e h r u n g j e n e r H a l t u n g lassen erkennen: Berichte i m S T A D M l III Ε 187 u. 188; Bitter, S. 42f. D e r U m s c h w u n g h ä n g t sehr wahrscheinlich m i t der Krise u m 1830 z u s a m m e n . In diesen J a h r e n festigte sich in der

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Anmerkungen zu Seite 227—232 Verwaltung der Eindruck, daß die Preiskrisen fur Garn und Leinen eine tödliche Strukturkrise widerspiegelten. Das Berliner Innenministerium schlug daher 1832 Vincke die verstärkte Ansiedlung von Heuerlingen als Neubauern auf Markenland vor. Der Bielefelder LR bezeichnete dies als illusionär, da kaum mehr Markenland vorhanden sei; die Neubauern gehörten zudem »mit wenigen Ausnahmen zu der dürftigsten Klasse der Einwohner der Provinz und stehen teilweise noch unter den Heuerlingen«. Beide Schreiben in: STAM O P 370, Bl. 78ff. 146 Rg. Minden: wie Anm. 145; LR Kr. Lübbecke, 21. 5. 1838, in: ST AD M l III Ε 187; LR Kr. Höxter, 13. 9. 1837, in: ST AD M l Pr. 477, Bl. 104. 147 LR Kr. Büren, 13. 9. 1837, in: STAD M l Pr. 477, Bl. 70f. 148 Zeitungsbericht des Paderborner LR vom April 1828, in: STAD M l III Ε 187. Zu den Verhältnissen im Kr. Warburg vgl. Anm. 123/V. Zu den Kosten des Hausbaues vgl. S. 296. 149 LR Kr. Bielefeld, 18. 6. 1837, in: STAD M l Pr. 477, Bl. 136. Vgl. Anhang 10. 150 Erklärung des Heuerlings Nigg, 29. 10. 1832, in: STAD M9 Herford 46, Bl. 176. 151 Aufstellung des Cantonbeamten, 19. 6. 1824, in: STAD M2 Minden IV, Amt Hartum 1, Bl. 193ίΤ.; behördliche Genehmigungen zur Ansiedlung 1844-1847 in: STAD M 2 Minden IV, Amt Hartum 4. Nach Angaben des Cantonbeamten lebten 1816 im Amt Hartum 331 Tagelöhner! 152 Marcard, S. 771. 153 v. Laer, Bericht S. 97. 154 Vgl. Anhang 17 (Nr. 2, 3 der Käuferliste). 155 Vgl. Stohlmann, Familie Schreiber, S. 91 ff. 156 Heiratsregister des Kirchspiels Quernheim, 1801-1870. Vgl. Anhang 27. Die Neubauem/Erbpächter sind hier unter die Kleinbauern subsummiert. 157 Namens vergleich zwischen den Katasterbüchern fur die Gemeinden Klosterbauerschaft 1828 (STAD M 5 С 3676) und 1866 (ebd. M 5 С 3693), Remerloh 1828 (ebd. M 5 С 3676), Spradow 1828 (ebd. M 5 С 3760), Quernheim 1866 (ebd. M 5 С 3710) und Oberbauerschaft 1828 (ebd. M5 С 1087). 158 Der Pfarrer von Mennighüffen (Kr. Herford) rechnete das 1831 zu der die Armut nach sich ziehenden sozialen Trägheit: »Kinder der Colonen, die doch meist Heuerlinge, Erbpächter oder Neubauern werden, dürfen nicht dienen; nein, das wäre eine Schande, wenn der Vater Colon seine Kinder nicht groß futtern könnte. Also rege und unverdrossene Tätigkeit sich anzueignen, und als Knecht oder Magd einige Taler sich zu erwerben und fur künftige Zeiten aufzubewahren, daran ist kein Gedanke.« Bericht an den Amtmann, 10. 9. 1831, in: Amtsarchiv Löhne Nr. 23. 159 Kommentar des LR Kr. Halle zu dem Protokoll einer Konferenz von Landräten, Pastoren, Kaufleuten und Gutsbesitzern über die Lage der Heuerlinge im Februar 1820, beides in: STAD M l IS 3, Bl. 20-40, 44-50, Zitate Bl. 46, 48. Rede vom »Abfluß« bei Marcard, S. 797. 160 Vgl. Mooser, Gleichheit, S. 260f. 161 Die Angaben in Tabelle 19 sind zusammengestellt aus folgenden Quellen: MindenRavensberg 1798: Reekers, Minden-Ravensberg, S. 125. Paderborn 1802: dies., Paderborn, S. 159. Kr. Wiedenbrück 1803 (nur ländliche Kirchspiele des Amtes Reckenberg): dies., Tecklenburg-Lingen, S. 76. Minden-Ravensberg 1816/1830: STAM O P 370, Bl. 76f.; in diesen beiden Stichjahren wurden die Neubauern mit weniger als 3 M g zu den Heuerlingen gezählt, sie können also mit den anderen Stichjahren nicht verglichen werden. Minden-Ravensberg 1837: STAD M l Pr. 477. Paderborn 1814 (Distrikte Paderborn und Höxter, die das Paderborner Land, aber auch den größeren Teil des späteren Kr. Wiedenbrück umfaßten): STAM Zivilgouvernement 324. 1846 fur alle Gebietsteile: STAD M l ISt 516; vgl. zu dieser letzteren Quelle auch die nächste Anm. 162 Das betonten die Landräte der Kr. Paderborn und Warburg, ähnlich wie der Bielefelder LR hervorhob, daß sich unter den Besitzenden »eine ansehliche Menge« von kleinen Erbpäch-

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Anmerkungen zu Seite 232—237 tern und Neubauern befinde, »die häufig in ebenso gedrückter Lage wie die Heuerlinge selbst« lebten (in: S T A D M l ISt 516). Laut Aufforderung der Rg. Minden wurde 1846 das Kriterium des Haus- und Grundbesitzes also streng angewendet. Die Rg. beabsichtigte mit dem Nachweis der »vielen besitzlosen Personen« auf dem Land, das im Vergleich zu anderen Regionen im Rgbz. Minden geringere Klassensteueraufkommen zu begründen (Schreiben der Rg. Minden an die Landräte, 28. 2. 1846, in: ebd.). 163 Errechnet aus den absoluten Ziffern in: S T A D M l ISt 516. 164 Vgl. Bericht des Rentmeisters Fischer, 16. 10. 1809, in: S T A M Regierungskommission Bielefeld 25; Protokoll der oben (Anm. 159) erwähnten Konferenz, in: S T A D M l IS 3, Bl. 31 (Zitat). 165 Wilms, S. 57. 166 Zusammengestellt nach folgenden Quellen: Minden und Ravensberg: Anhang 21. Paderborn 1802: Reekers, Paderborn, S. 159. 1846 für alle Gebietsteile: Zahl der Heuerlingsfamilien in: S T A D M l ISt 516; Zahl der Vollbauern nach dem Stichjahr 1859, vgl. Anhang 14. Die Zahlen enthalten einige Unschärfen, so daß sie nur eine Tendenz wiedergeben. Einerseits ist die jeweilige Eingruppierung der Vollbauern von zweifelhafter Vergleichbarkeit, andrerseits stimmen die territorialen Grenzen der Gebietsteile zwischen 1800 und 1846 nicht ganz überein. 167 Schwager, Bauer, S. 59; vgl. o b e n S . 64. 168 v. Laer, Bericht, S. 94; ders., Auswanderung, S. 6f. Die Zeitgenossen haben diese soziale Differenzierung begrifflich nicht registriert. Bezeichnend ist daher die Frage eines Landdrostes in Osnabrück im Zusammenhang damit, wie die Verhältnisse der Heuerlinge gegenüber den Bauern rechtlich zu regeln seien: »Wer ist der eigentliche Heuermann? Der eigentliche Colon< läßt sich eher ermitteln; es haben jedoch auch geringere Grundbesitzer als der Colon Heuerleute. Der Begriff des eigentlichen Heuermanns< findet sich aber wohl nirgends zweifellos dargestellt. Und doch kommt darauf alles an.« (Lütcken, Einige Worte die Verhältnisse der Heuerleute betreffend, in: Osnabrücker Volksblatt, 14. 5. 1848, Beilage in: S T A M O P 370, Bl. 255ff.) Die Frage ist auch ein Symptom dafür, wie unvorbereitet die staatliche Verwaltung durch die Revolution mit alten sozialen Problemen konfrontiert wurde. Zur Terminologie vgl. auch Engel, Vorbemerkung zu: Bitter, S. 6f.: Die Unterscheidung von »Kötter« = Heuerling alten Typs (die im 18. Jh. vereinzelt gebräuchlich und im Münsterland üblich war) und »Heuerling« = Einlieger, ist zwar sachlich richtig, erweckt jedoch den unzutreffenden Eindruck, als sei dies auch eine zeitgenössische Differenzierung gewesen. 169 Eingabe der Heuerlinge von Altenschildesche, 29. 9. 1845, S T A M O P 370, Bl. 141. 170 So LR Kr. Herford, schon am 6. 2. 1820, S T A D M l I S 3, Bl. 1. 171 Die Heuerlingspachten nach Anhang 19; die Heuerlingsfamilien nach S T A D M l Pr. 477, Bl. 151 ff. Da nicht ganz klar ist, ob die Gemeindegrenzen in beiden Aufnahmen identisch sind, wurde für 1837 so weit möglich neben die Zahl der Heuerlingsfamilien in der politischen Gemeinde in Klammern noch die entsprechende Zahl der Ortsgemeinde (Bauerschaft) gesetzt. 172 Nach Lüning, S. 505 f. gab es in einigen Gegenden der Kreise Herford und Lübbecke Konzentrationen von »Armen, die bloß spinnen, um ihren Flachs verwerten zu können«. Eine dieser, infolge der Siedlung von armen Einliegern berüchtigten Gegenden war die Spenger Heide, von der im März 1848 die größte Rebellion im Ravensberger Land ausging. In Spenge waren 1846, obwohl drei Rittergüter viel Land verpachteten, 4 4 % der insgesamt 1132 Heuerlingsfamilien Mieter bei Kleinbauern. Vgl. Mager, Haushalt-Spenge, S. 165, Tab. 5a. 173 LR Kr. Bielefeld an Magistrat, 3. 4. 1838; Nachweisung des Magistrats, 25. 4. 1838, beides in: S T A B Rep. II, H, Nr. 26. Verhandlungen des 7. Westfälischen Provinziallandtages, S. 158. 174 Vgl. oben Tabelle 21 u. Anhang 19. Eine weitere Kalkulation mag die Knappheit des Pachtlandes plausibel machen. Wenn man annimmt, daß jede Heuerlingsfamilie 4 M g Land pachtete, dann hätte dieses Pachtland folgende Anteile am gesamten Acker- und Gartenland der

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Anmerkungen zu Seite 237—241 Ravensbergischen Kreise in den Jahren 1837 bzw. 1846 ausgemacht: im Kr. Bielefeld 36% bzw. 46%; im Kr. Halle 23% bzw. 26% und im Kr. Herford 21% bzw. 28%. Diese Kalkulation gründet auf den Zahlen der Heuerlingsfamilien in den entsprechenden Kreisen in: STAD M l Pr. 477 u. STAD M l ISt 516 und der LN im Jahre 1836, angegeben bei Lengerke, S. 286. Z u m faktisch verpachteten bäuerlichen Land vgl. S. 212 und Anhang 18,19. 175 Quelle: Zusammenstellung des Amtmanns, in: STAB Amt Schildesche, Nr. 521b, Bl. 86f. Die »Bauern« werden in dieser Quelle als »Grundbesitzer, die vom Ackerbau leben« bezeichnet. 176 Bericht des Brackweder Hilfsvereins, 2. 12. 1851; Bericht des Brackweder Pastors, 25. 11. 1851, beides in: S T A M O P 387, Bl. 4, 32ff.; HK Bielefeld 1849/50, S. 4 (Unterstreichung von mir, J. M.). Nach dem Land- und Viehbesitz differenzierte auch Lüning die Lage der Spinner; ihm zufolge war »die größte Mehrzahl« ohne einen solchen (Lüning, S. 506). 177 Vgl. unten S. 359 f. 178 LR Kr. Herford, 5. 9. 1837, in: STAD M l Pr. 477, Bl. 50fF.; Lengerke, S. 252f. 179 Gülich, Ackerbau, S. 31 f. Für die Arbeiterverhältnisse am Beispiel der Domäne Dahlheim vgl. STAD M l III С 4027. 180 Beschreibungen (in der Reihenfolge der Zitate): LR-Kommissar Kr. Warburg, 2. 6. 1846, in: S T A D M l ISt 516; Borchardt, S. 18ff.; (Anonym), Berichtigungen, S. 670, 680. Der letztere anonyme Autor war ein katholischer Pfarrer mit einer sehr distanzierten Einstellung zum Adel. 181 Funke, Einlieger, S. 1117. 182 Vgl. Bitter, passim; Bitter weist auch daraufhin, daß belgische Verleger in der Senne so lange importierten Flachs verspinnen ließen, wie die Preise für Handgarn »so außerordentlich gering« waren, »daß der Spinner davon nicht leben kann. So wie diese Preise steigen, hört jenes Arbeitsquantum auf« (ebd., S. 35). Vgl. dazu oben S. 157f. 183 Über die Zahl der Urwähler im Preußischen Staate und deren Verteilung nach Geschäften und Erwerbszweigen, in: C. F. W. Dieterici (Hg.), Mitteilungen des Statistischen Bureaus in Berlin, Jg. 1, 1849, S. 17fT., hier S. 27. 184 Gewerbetabelle von 1846, Rubrik 184/185, in: STAD M l IG 63, Bl. 34. 185 Vgl. W. Conze, Arbeiter, in: Brunner u.a. (Hg.), Grundbegriffe, Bd. 1, S. 216f.; Koselleck, Preußen, S. 129. 186 Eine zusammenfassende Untersuchung dieser Arbeitergruppe fehlt noch. Vgl. aber: Becker, Nichtagrarische Wanderungen; Obermann, Arbeitermigrationen; weiterführend am Beispiel der lippischen Ziegler: Steinbach, Lippe, S. 124ff. Eine gute Darstellung der Handarbeiter enthält ferner Zwahr, Konstituierung, S. 70ff., 161. Zwahr zeigt auch, daß die Handarbeiter zu den regional mobilsten Arbeitergruppen Leipzigs gehörten und daß sie sehr häufig aus Dörfern stammten. 187 Vgl. Anhang 31. 188 Selbst wenn man Doppelzählungen annimmt, bleiben erklärungsbedürftige Diskrepanzen. 1846 war im ganzen Rgbz. Minden das Verhältnis von weiblichem Gesinde zu Handarbeiterinnen in den Städten 4754:3028, auf dem Lande 10612:16664 (Quellen: wie Anhang 31). 189 Für den Kr. Bielefeld läßt sich eine komplizierte Situation rekonstruieren. Einmal wurden für 1846 und 1849 4905 bzw. 5138 Handarbeiter angegeben, davon 2132 bzw. 2206 weibliche (vgl. Anhang 31). Andererseits gaben die Amtmänner fur die Jahre 1846 bis 1850 jeweils über 9000 Handspinner (ohne Differenzierung nach Geschlechtern) an, also weit mehr Spinner als Handarbeiter (in: STAD M2 Bielefeld 407). Z u m dritten wurden in der Gewerbetabelle 1849 fur den Kr. Bielefeld 2022 Leinengarspinner, »die auf eigene Rechnung arbeiten« mit 3931 Gehilfen, also insgesamt nur 5953 Spinner verzeichnet (STAD M l IG 63). Endlich bemerkte der Amtmann von Brackwede am 18. 12. 1850, daß ein Teil der Spinner »sich gegenwärtig nicht mehr mit Spinnen (beschäftigt), sondern vielmehr mit Handarbeiten, weil sie davon besser leben können« (STAD M2 Bielefeld 407). 431

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190 Vgl. die Hinweise bei: Sälter, S. 53; Meitzen, Boden, Bd. 3, S. 221; Blotevogel, S. 148 ff.; Gülich, Ackerbau, S. 113; H. Rüthing, Das Fuhrmannsgewerbe im alten Lichtenau, in: Westfälischer Heimatkalender 1954, S. 163. 191 Dieser Aspekt verdiente eine nähere Untersuchung. Vgl. die vielen Hinweise in den Zeitungsberichten der Rg. Minden, in: STAM O P 351; Chronik Heepen, Bl. 70; Öff. Anz. Rav., Jg. 1844, S. 352, 363f. Ein Beispiel aus dem Rheinland: H. Weinand, Die Preußischen Staats- und Bezirksstraßen im Regierungsbezirk Koblenz bis zum Jahre 1876, Bonn 1971, S. 133ff. 192 Nachweise in den Schulberichten der Rg. Minden in: STAM O P 2161, Bd. 1-4. 193 Vgl. Öff. Anz. Rav., Jg. 1817, S. 89. 1831 waren auf der Festung Minden 1000 Arbeiter beschäftigt (Zeitungsbericht Rg. Minden, 7. 4. 1831, in: STAM O P 351, Bd. 4, Bl. 124f.). Vgl. F. Meinhardt, Die Festung Minden. Gestalt, Struktur und Geschichte einer Stadtfestung, Minden 1958, S. 40ff. 194 Gülich, Ackerbau, S. 113; Lengerke, S. 210. 195 Vgl. das Standardwerk von Tack; ferner Kuske, S. 180ff.; Kriinitz, Bd. 24 (1789), S. 417-45. Mit Ausnahme eines kleinen Zeitungsaufsatzes gibt es noch keine Abhandlung über die Hollandgänger aus dem Rgbz. Minden. Vgl. Großmann, Ein Beitrag zur Geschichte der Hollandgängerei im Rgbz. Minden, in: Mindener Heimatblätter, Jg. 12, 1934, Heft 10. Zahlen über die Hollandgänger in Anhang 32. Sie sind nicht vollständig, da sie nur die Arbeiter mit Pässen dokumentieren. Am 25. 10. 1819bemerkte aber die Rg. Minden, daß »viele« ohne Pässe gegangen seien (in: STAD M l IP 310). Wahrscheinlich bewirkte die Berücksichtigung der >Illegalen< die aus dem Rahmen fallende Ziffer für das Jahr 1819. Zahlen für das 18. Jahrhundert sind nicht bekannt. Die Verhältnisse haben sich aber seit dem späten 18. Jahrhundert wohl ähnlich entwickelt wie im benachbarten Lippe. Vgl. dazu Fleege-Althoff, S. 62. 196 Zu den Formen der Rekrutierung und Organisation vgl. Fleege-Althoff, S. 105 ff. Die Überanstrengung war schon im 18. Jh. ein Anlaß der Kritik, deren wesentliches Motiv jedoch die merkantilistische Befürchtung eines inländischen Arbeitermangels war. Vgl. Moser, Werke, Bd. 4, S. 77-97. Warnung der Rg. Minden vom 10. 5. 1827 (ABM1827, S. 1 8 9 f f ) : Der Anlaß war eine Krankheits welle unter den Hollandgängern im Jahre 1826; von 1689 Arbeitern waren 66 gestorben und 573 krank zurückgekommen. Die Rg. mahnte zur ausreichenden Ernährung, da erfahrungsgemäß die Arbeiter trotz der Anstrengung am Essen sparen würden, nicht zuletzt durch die Mitnahme von Lebensmitteln, die mit der Zeit leicht verdarben. 197 Rg. Minden, 17. 3. 1817, in: STAD M l IP 310. 198 Lohnangaben nach Fleege-Althoff, S. 97. Anteil der Verheirateten nach S T A M O P 2666, Bd. 1, Bl. 173; STAD M2 Halle 10 (mit Ziffern für 1826 bis 1843, die einen gleichen Anteil von Verheirateten zeigen). Zur Frauensaisonarbeit (in holländischen Gärtnereien und Bleichereien, als Webermädchen in Bremen) vgl. Kuske, S. 181; K. Schwarz, Die Lage der Handwerksgesellen in Bremen während des 18. Jahrhunderts, Bremen 1975, S. 125. 199 Vgl. Tack, S. 9 8 f f ; Gülich, Ackerbau, S. 112. 200 Gülich, Ackerbau, S. 112; LR Kr. Höxter, 13. 9. 1837, in: STAD M l Pr. 477, Bl. 115. 201 Steinbach, Lippe, S. 124. 202 Bericht des Domänenrats Geßner, 8. 10. 1842; Gutachten der Rg. Minden, 31. 3. 1842, beides in: S T A M O P 370, Bl. 130 ff. 203 Zahl der Pässe: Gülich, Ackerbau, S. 133; Obermann, Arbeitermigrationen, S. 157. Für die Zeit nach 1850 vgl. die Berichte in: Jb. f. die amtliche Statistik des Preußischen Staates, hg. v. Königlichen Statistischen Bureau, Bd. 2, 1867, S. 25f., 315ff. Vgl. Rothert, Herkunft, passim; Angermann, S. 189ff.; K. Tenfelde, Arbeiterschaft, Arbeitsmarkt und Kommunikationsstrukturen im Ruhrgebiet in den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts, in: A ß , Bd. 16, 1976, S. 1-61, bes. S. 28ff. 204 Jahresbericht des Direktors des LSG Warburg, 6. 1. 1846, in: STAD M l Pr. 478. 205 Zitat: Obermann, Eisenbahnarbeiter; Zahlen über Eisenbahnarbeiter bei Wortmann,

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Anmerkungen zu Seite 244—247

S. 256; Obermann, Arbeitermigrationen, S. 173 ff.; U. Ernst, Der Bahnbau verschaffte besseren Verdienst, in: Die Warte. Heimatzeitschrift für die Kreise Paderborn und Höxter, Jg. 14, 1977 (Juli), S. 29 f. 206 Die Anteile berechnet nach Anhang 31, auf der Grundlage der Zahl der männlichen Handarbeiter f ü r Stadt und Land. Die O r t s Verbundenheit der Eisenbahnarbeiter in Westfalen war eine Ausnahme. A n d e r s w o konnte die konzentrierte Nachfrage nach Arbeitskräften nicht m e h r durch N a h w a n d e r u n g gedeckt werden. Vgl. Wortmann, S. 74 ff, 237; Obermann, Arbeitermigrationen, S. 150ff. 207 Zeitungsbericht Rg. Minden, 8. 8. 1844, in: S T A M O P 351, Bd. 7, Bl. 207. 208 Vgl. dazu ausfuhrlich Wortmann; zur Interpretation, der ich hier folge: H.-G. Husung, Eisenbahnarbeiter im Vormärz: Arbeitsformen und Konfliktmuster, in: D. Langewiesche и. K. Schönhoven (Hg.), Arbeiter in Deutschland. Studien zur Lebensweise der Arbeiterschaft im Zeitalter der Industrialisierung, Paderborn 1981, S. 209-21. O b w o h l in Minden-Ravensberg weithin ortsverbundene Arbeiter beschäftigt wurden, finden sich in den Quellen öfter Hinweise auf »fremde« Arbeiter, die aber tatsächlich aus benachbarten Gemeinden stammten. Auch diese Terminologie verweist auf die Konkurrenzsituation. 209 Zitat: Wortmann, S. 93. Die anderen Details ebd., S. 9 0 f f , 159;Öff. Anz. Rav.,Jg. 1847, S. 57 f.

VII. Das Heuerlingssystem: Beziehungen zwischen Klassen in der bäuerlichen Gesellschaß 1 Vincke, Bericht, S. 25. 2 (Anonym), Berichtigungen eines Westphalen, S. 680. Einen Hinweis auf die Ausbreitung des Heuerlingssystems (Mieter bei Bauern, über welche diese »jederzeit zu gebieten haben«), wohl vor allem in den westlichen Teilen des Paderborner Landes zu Anfang des 19. Jahrhunderts enthält Schwerz, S. 336; vgl. ebd., S. 305. Die Kopfsteuerlisten v o m Jahre 1738 für das A m t Boke geben einen gewissen Einblick in den familialen Status der»Beilieger« im Paderbornischen: 24% der Beiliegerstellen waren nur mit einer Person, 50% nur mit zwei Personen besetzt. In dieser Quelle sind allerdings Verwandtschaft und Alter nicht erkennbar, so daß offenbleiben m u ß , o b und wie die Beiliegerstellen v o n Jungen oder Alten bzw. Einzelpersonen oder Paaren ohne Kinder besetzt waren (vgl. Tönsmeyer, S. 128f„ 227f., 246, 262, 296f., 321, 324, 407, 443 ff). D e r B e f u n d aus dem A m t Boke deutet eine Ersatzfunktion der Beilieger fur fehlende Gesinde- und Familienarbeitskräfte bei den Bauern an, wie sie auch Mitterauer (Vorindustrielle Familienformen, S. 169ff.) beobachtete. In Ravensberg hingegen waren Heuerlings- u n d Einliegerhaushalte von alleinstehenden Personen oder unvollständigen Kernfamilien selten und repräsentierten w o h l vorwiegend die Altersphase im Lebens- und Familienzyklus. Vgl. das Beispiel f u r Spenge: Mager, Haushalt-Spenge, S. 173. Z u Familiengrößen vgl. auch oben S. 76 f. 3 Auf j e n e n Quellen basiert die folgende Darstellung. Für eine vertiefte Analyse wären einerseits bäuerliche Heuerlings Verträge und andrerseits die Massenquellen für die Familien- und Haushaltsanalyse nötig. Jene sind aber aufgrund der typischerweise mündlichen Verträge nicht überliefert, diese verlangen eine extrem aufwendige Rekonstruktionsarbeit. Allerdings w ü r d e die V e r k n ü p f u n g von Familienrekonstitution, Haushaltsstrukturen und Besitzangaben für Bauern und Heuerlinge besser gesicherte und weiterfuhrende Aussagen, als sie hier möglich sind, erlauben. W . Mager und Mitarbeiter versuchen für Spenge eine solch komplexe Analyse. Eine weitere Quellengruppe zur Untersuchung der sozialen Beziehungen, die Anschreibebücher mit Hinweisen auf die bäuerliche Wirtschaftsführung werden erst injüngster Zeit gesammelt, wobei bisher aus d e m R a u m Minden-Ravensberg nur wenige ermittelt werden konnten. Vgl. Ottenjann и. Wiegelmann; M.-L. Hop f-Droste, Ländliche Anschreibe- und Tagebücher in N o r d w e s t d e u t s c h land, in: Rheinisch-Westfälische Zs. für Volkskunde, Jg. 27/28, 1981/82, S. 248-57. 4 Mager, Protoindustrialisierung, S. 461. Vgl. die Charakterisierung als Landarbeiter bei

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Anmerkungen zu Seite 248—250 Wrasmann, I, bes. S. 72ff.; Gladen, Tecklenburg, S. 129ff. Wrasmann, dessen umfangreiche Darstellung für die landesgeschichtliche Literatur richtungsweisend wurde, sieht die Entstehung des Heuerlings verhältnisses als Folge des bäuerlichen Gesindemangels und der Streusiedlung. Riepenhausen hingegen begreift die Streusiedlung als Folge des Heuerlingswesens und betont, daß der Heuerling »nicht in erster Linie Landarbeiter«, sondern Spinner gewesen sei (Riepenhausen, S. 109f.). Zumindest für den hier untersuchten Zeitraum ist das eine Scheinalternative. In Bezug auf die frühe Neuzeit fehlen allerdings umfassende und quellenpräzise Untersuchungen für Minden-Ravensberg. 5 Schwerz, S. 4f. 6 Vgl. Conze, Arbeiter, in: Brunneru.a. (Hg.), Grundbegriffe, Bd. 1, S. 216f. 7 Vgl. oben S. 24f., 97f. Zu den ostelbischen Verhältnissen vgl. ALR II, 7, § 113-121. Unbezahlte Handdienste von den Heuerlingen forderte auch das Gut Hüffe im Mindenschen unter Berufung auf seine Patrimonialgerichtsbarkeit, stieß dabei aber 1789 auf Widerstand. Die Heuerlinge erklärten, sie seien »freie Leute«, die allein dem König ein Monatsgeld zu zahlen hätten. Das Gericht Hüffe berief sich in seiner Forderung auf die »Observanz«, die aber schwach war, da die Dienste mangels Bedarfselten gefordert worden waren ( S T A B Gut Hüffe, Sign. 261, Bl. 229 ff.). Dagegen ist in einem Heuerlingsvertrag des Gutes Hüffe vom Jahr 1785 keine Rede von Diensten (vgl. Anhang 29), was möglicherweise auch darin begründet ist, daß dieser Vertrag mit einem Heuerling auf adeligem Eigenland, der Arrode, geschlossen wurde, währendjene Forderung sich auf Heuerlinge von Bauern bezog. Der Konflikt, dessen Ausgang aus den Akten nicht ersichtlich ist, zeigt auch: j e schwächer die ökonomische Macht des Adels war, desto schwieriger, weil funktionslos, wurde auch die Erhaltung der Herrschaftsrechte. 8 So ein unbekannter preußischer Beamter, zit. nach Koselleck, Preußen, S. 118. 9 Vgl. Anhang 28. Der Freiherr v. Stein bezeichnete Fischer einmal als einen »geschickten Oekonomen: (v. Stein, Bd. 1, S. 514); vgl. auch die einleitenden Bemerkungen von Angermann zu: Fischer, Denkschrift, S. 79 ff. Eine ähnliche Arbeitszeit für großbäuerliche Heuerlinge um 1900 nennt Wilms, S. 61. 10 LSG Halle, 2. 3. 1823, in: S T A D M l III Ε 180. 11 Schwager, Bauer, S. 59. Rentmeister Fischer, 16. 10. 1809, in: S T A M Regierungskommission Bielefeld 25, Bl. 14f. Fischer erwähnt ebd., Bl. 11, eine weitere Möglichkeit für Heuerlinge, Land ohne Arbeitsverpflichtung zu pachten: die Elocation von Bauernhöfen, d. h. die Verpachtung von Bauernland zur Schuldentilgung; dazu gäben »despotische Gutsherren und schlechte Wirte« immer wieder Gelegenheit. 12 Schwager, Bauer, S. 55, 59. 13 Sander, S. 392. 14 Ähnlich wurden auch die Beziehungen zwischen den ländlichen Klassen in Holstein beschrieben. Köstlin beobachtete anhand der Dorfordnungen der frühen Neuzeit, die einseitig die Interessen der Bauern berücksichtigen, »daß sich die Hüfner im D o r f zunehmend feudal verhalten gegenüber den kleinen Leuten im Dorf, den Kätnern, den Insten. Feudal meint damit nicht den Epochenbegriff, sondern eine Zustandsbeschreibung, eine verinnerlichte Verhaltensweise . . .«. K. Köstlin, Die Verrechtlichung der Volkskultur, in: K. Köstlin u. K. D. Sievers (Hg.), Das Recht der kleinen Leute. Beiträge zur rechtliche Volkskunde. Festschrift für K . - S . Kramer zum 60. Geburtstag, Berlin 1976, S. 119f. 15 So in: Heß (Hg.), Gesellschaftsspiegel, Bd. 1,1845, S. 46 (Zuschrift aus dem Lippischen). Im Protokoll der Versammlung des Landrats mit Honoratioren des Kr. Halle vom 17. 2. 1820, in dem die Verarmung der Heuerlinge festgestellt wird, heißt es: »Der Heuerling duldete und mußte dulden, war jedoch noch im Stande, teils aus den vor sich gebrachten besseren Jahren, teils aus dem Erwerb durch Spinnen bei doppelt angestrengter Arbeit, seinem Gutsherrn die Früchte seines Schweißes zu bringen und sich und die Seinigen notdürftig zu ernähren.« S T A D M l IS 3, Bl. 32. 16 Funke, Heuerleute, S. 67; vgl. aber oben S. 202fF.

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Anmerkungen zu Seite 250—252

17 Schwager, Bauer, S. 55. 18 Vgl. zum Begriff der patrimonialen Herrschaft Weber, Wirtschaft, S. 679ff. Weber beschränkt die asymmetrische Reziprozität ausdrücklich auf den »Boden einer nicht dem Gelderwerb, sondern der Deckung des Eigenbedarfs des Herrn dienenden Herrschaft« (S. 682). 19 Vgl. Rothe, S. 180; Schulz, Landwirtschaft, S. 161; Wrasmann, I, S. 127 f. 20 Wie es im WA 1802, Sp. 194 heißt: »Der Bauer hat Mietsleute, um an ihnen Arbeiter zu haben, er läßt ihnen Wohnung und Land zum alten wohlfeilen Preise, rechnet aber auch den Taglohn wie seine Vorfahren; derjenige Mietsmann also, der weniger zu tun braucht als der andere, wohnt auch am wohlfeilsten.« 21 Ebd., Sp. 195. 22 Vgl. dazu oben S. 205 f. Diese Aspekte sind in Magers, sonst der hier verfolgten Richtung nahestehenden Beschreibung des Heuerlingssystems (s. oben S. 247f.) unterbelichtet. 23 Das ist vielfach bezeugt. Die Schriftlosigkeit des Heuerlingsvertrages war eine Analogie zum »gemeinen Gesinde«, mit dem der Arbeitsvertrag durch ein Handgeld geschlossen wurde (vgl. ALR II, 5, § 22f.). Wahrscheinlich hatte der von Rentmeister Fischer notierte »Weinkauf« (vgl. Anhang 28) eine ähnliche Funktion der Symbolisierung des Abschlusses bzw. der Erneuerung des Vertrages. Einen solchen Weinkauf - eine terminologische Analogie zur Besitzwechselabgabe im grundherrlichen System! - entrichteten die freien Zeitpächter des Gutes Mühlenburg bei der Erneuerung ihrer sechsjährigen Pacht (vgl. Krogh, S. 36). Die in Anhang 29, 30 abgedruckten Heuerlingsverträge bezeugen die »rationellere« Betriebsführung der adeligen Güter. Sie spiegeln aber große Teile des Heuerlingssystems wider, obwohl nicht zu übersehen ist, daß diese Verträge besonders im 19. Jahrhundert häufig Zeitpachtverträge ohne Arbeitsverpflichtung waren (vgl. auch die Sammlung von Heuerlings Verträgen des Gutes Uhlenburg, Kr. Herford, aus den 1850er Jahren, in: STAB Gut Uhlenburg, Sign. 146). Offenbar wurde im 19. Jahrhundert auch jeder kleine Zeitpächter »Heuerling« genannt. Natürlich haben auch manche Bauern schriftliche Verträge geschlossen; die Regel war dies aber offenbar nicht, wie aus den Statuten des unten S. 277ff. dargestellten bäuerlichen »Vereins fur Rechtschaffenheit und Sittlichkeit« zu erschließen ist. Danach sollte Heuerlingen oder Zeitpächtern, die eines Diebstahls überfuhrt waren, die Unterkunft verweigert oder gekündigt werden, »und nur diejenigen . . . welche mit ihren Wirten rechtsverbindliche Contracte auf mehrere Jahre abgeschlossen haben, sollen so lang Quartier behalten, als sie von den Gerichten bei solchen Contracten geschützt werden können«. Die Spannung zwischen mündlichem Herkommen und Schriftlichkeit zeigen auch die Bestimmungen des ALR über Pachtverträge; vgl. ALR I, 21, § 401, 407, 626 ff. Auf diese Bestimmungen wies 1863 ein Heuerling anläßlich einer offenbar Aufsehen erregenden Kündigung hin. Bisher, führte er aus, »haben wir niemals etwas Schriftliches (mit unseren Bauern) gemacht und sie würden es uns gewiß übelgenommen haben, wenn wir etwas Schriftliches von ihnen verlangt« hätten(!). Die »meisten« Bauern seien jedoch »gewöhnt, ihr Wort zu halten«. Gleichwohl forderte er schriftliche Musterverträge und eine gesetzliche Regulierung der Pachtverhältnisse. Der Appell an die liberalen Abgeordneten des preußischen Landtags zeigt, daß der Autor wohl aus der Minderheit von Heuerlingen stammte, die nicht konservativ, sondern demokratisch bzw. liberal wählte. Vgl. die unter Verkaufsanzeigen versteckte Zuschrift: »Ein Heuerling aus dem Amte Schildesche«, mit dem Titel: »An die Heuerlinge der Grafschaft Ravensberg«, in: öfF. Anz. Rav., 1863 (10. 10. 1863), S. 324. 24 So die Forderung des Unterpräfekten Delius, 1. 10. 1810, in: S T A M Regierungskommission Bielefeld 25, Bl. 35; ähnlich der Rentmeister Fischer, ebd., Bl. 17, 19. Zu weiteren Stimmen von Beamten vgl. S. 93, 268f., Anm. 94/VII. 25 J. N . , Hülfe, Einbruch der völligsten Unsicherheit. Grafschaft Ravensberg, in: WA

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Anmerkungen zu Seite 253—256 1802, Sp. 193-201, Zitat: Sp. 195 f. Zur Vorgeschichte vgl. die Berichte in: ST A M Regierungskommission Bielefeld 25. Die Umwandlung der Heuerlings- in eine Erbpacht forderte früher schon der KDK-Beamte Hoffbauer in seinem Gutachten vom 21. 9. 1787, in: STAM KDK Minden III, 431, Bl. 130f., 137f. 26 Zitat: Weber, Referat, S. 78 in Bezug auf den fehlenden Schutz der Landarbeiter im 19. Jahrhundert. Z u m Protest vgl. Mooser, »Furcht«, S. 58ff., 76ff.; zu 1848 vgl. unten S. 359f., 363. 27 (Anonym), Westfälischer Küster, S. 435. Seinen Ausführungen zufolge lebte der Autor in Minden-Ravensberg. Die »Unbilligkeit« des Militärdienstes der Heuerlinge betonte Hoffbauer stark, um damit seine Reformforderungen zu legitimieren. An den Heuerlingen bleibe vielfach allein der Militärdienst hängen, wogegen andere Gruppen Mittel für ihre Befreiung davon hätten; Hoffbauer Gutachten (wie Anm. 25), Bl. 129 f. 28 Vgl. das Armenedikt von 1748, abgedr. bei Holsche, S. 454ff.; Dorfordnung von Minden-Ravensberg von 1755, bes. § 9, in: Wigand, Minden-Ravensberg, Bd. 2, S. 368; Meyer zum Gottesberge, S. 17, 53; Mooser, Gleichheit, 239f., 255ff.; Wrasmann, I, S. 135ff. 29 Weber, Wirtschaft, S. 684. 30 Hoffbauer (wie Anm. 25), Bl. 128f. 31 Zitat: Weber, Referat, S. 66. Max Weber lieferte zwar diese griffige Formulierung, teilte aber die Idealisierung nicht. Besonders idealisierend (»denkbar günstigste Verfassung«), fiel das Urteil von G. F. Knapp aus: ders., Die ländliche Arbeiterfrage, in: Verhandlungen der 1893 abgehaltenen Generalversammlung des Vereins für Socialpolitik (= Schriften des Vereins für Socialpolitik, Bd. 58), Leipzig 1893, S. 8-23. Ähnlich auch G. Schmoller, Die soziale Frage. Klassenbildung, Arbeiterfrage, Klassenkampf, München 1918, S. 229: »Der Heuerling ist vielleicht der glücklichste deutsche Arbeitertypus«, da durch die Verbindung von Bauern- und Heuerlingswirtschaft ein Interessengegensatz fehle. Solche Stimmen ließen sich aus der Literatur nach 1900 häufen. Sie dokumentieren eine selektive historische und soziale Wahrnehmung, die in die landbündische und volksgemeinschaftsromantische Ideologie mündete. Auf »verwandtschaftlichen oder freundschaftlich-nachbarlichen Beziehungen« läßt auch Wrasmann (Teil I, S. 81 ff.) das Heuerlingsverhältnis gründen, ohne zeitlich näher zu differenzieren. 32 Z u r Selbstrekrutierung der Heuerlingsschicht vgl. Anhang 27 u. oben S. 194 ff. Aus dem Umstand, daß im Kirchspiel Quernheim 80% der Heuerlingssöhne wieder Heuerlinge w u r den, folgte, daß 68% aller Heuerlinge schon aus einer Heuerlingsfamilie stammten; vgl. Mooser, Familie, S. 358 u. S. 167ff. über Besonderheiten von Heuerlingen bäuerlicher Herkunft, soweit sie sich im Heiratsverhalten zeigen. 33 Gesindeordnung im ALR II, 5, § 1-208, hier § 57. Die Bestimmungen des ALR gingen nur wenig modifiziert in die preußische Gesindeordnung von 1810 ein. Vgl. allgemein Tenfelde, Gesinde; Th. Vornbaum, Politik und Gesinderecht im 19. Jahrhundert - Vornehmlich in Preußen 1810-1918, Berlin 1981. 34 Koselleck, Preußen, S. 65. 35 Vgl. Koselleck, Preußen, S. 67, 650f.; Kuczynski, Darstellung, S. 224f. Erst das »Gesetz v o m 24. April 1854 betr. die Verletzungen der Dienstpflichten des Gesindes und der ländlichen Arbeiter« (GS 1854, S. 124f.) stellte alle Landarbeitergruppen rechtlich gleich. Es war bezeichnenderweise eine Gleichheit in der Repression. 36 ALR, I, 6, § 66f.; vgl. Hon-Firnberg, S. 78. 37 Verhandlungen des 8. Landtages, 1. Plenum, S. 21. 38 Unentschieden über die Rechtssituation der Einlieger gegenüber dem Haus bleibt Laslett (Hg.), Household, Einleitung Lasletts, S. 26f., 34ff. Rechtliche Analogien zwischen dem Einlieger- und Gesindeverhältnis, aber eine faktisch »gemäßigtere« Form der Hausherrschaft über die Einlieger mit eigenem Haushalt zeigen für die frühe Neuzeit auch: Hon-Firnberg, S. 7 8 f , ; H . Feigl, Zur Rechtslage der unterbäuerlichen Schichten im 15., 16. u. 17. Jahrhundert, in: H. Kittler (Hg.), Wirtschafts- und sozialhistorische Beiträge. Festschrift für A. Hoffmann,

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Anmerkungen zu Seite 256—259 München 1979, S. 247-71, bes. S. 260ff. Vgl. ferner Schaer, S. 66; Mitterauer, Familiengröße, S. 235 ff. 39 Vgl. den Hinweis auf die bessere Behandlung des Gesindes bei den Bauern als auf den Gutshöfen bei Koselleck, Preußen, S. 646. Auffällig ist, daß die Gesindeordnung für MindenRavensberg, Tecklenburg und Lingen von 1753 kein Züchtigungsrecht über das Gesinde einräumte, sondern dessen Vergehen der staatlichen Justiz überantwortete, freilich mit besonders scharfen Strafandrohungen (Holsche, S. 499f.). Vgl. auch Kramer, Grundriß, S. 87 zur Freiheit des Gesinderückens außerhalb Preußens. Zur Lage des Gesindes im späten 19. Jahrhundert, die einige Rückschlüsse auf die früheren Jahrzehnte erlaubt, vgl. Sauermann (Hg.), Knechte. 40 Vgl. Weißer; Kramer, Gesinde, S. 31 ff; Burde-Schneidewind, S. 1 0 4 f f ; Rehbein, S. 9 2 f f , 210ff. Die »Rechtsschutzsagen« kreisen u m die Ruhelosigkeit der Toten, wenn sie zu Lebzeiten ungesühntes Unrecht verübt hatten. Insbesondere die Gespenstersagen schildern solche Toten. Sie artikulieren also gerade das Rechtsbewußtsein deqenigen, die sonst nur geringe Möglichkeiten hatten, Recht zu bekommen. 41 Vgl. Laer, Wirtschaftswesen, S. 178 (lange Arbeitszeiten als Mittel, das nächtliche »Aussteigen« zu verhindern); Rehbein, S. 221 f. Dennoch wurden - wenn auch nicht so sehr in Westfalen - Mägde häufig schwanger (vgl. ζ. B. Kramer, Gesinde, S. 27). - Auch heute noch ziehen Bauern, sofern sie überhaupt noch Gesinde halten, ledige Arbeitskräfte vor; s. Bericht »Das Gesinde hat ledig zu bleiben«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. 2. 1976, S. 5. Die Gründe dafür sind neben Lohnkostenvorteilen die leichtere Integration des unverheirateten Arbeiters in die bäuerliche Familienwirtschaft. Vgl. auch Blankenburg, S. 132ff. 42 S. dazu Rehbein, S. 152ff. 43 Ebd., S. 242. 44 Gesindeordnung für Minden-Ravensberg, Tecklenburg und Lingen vom 16. 6. 1753, abgedr. in: Holsche, S. 484ff. Von der Gesindedienstpflicht ausgenommen wurden in MindenRavensberg und Tecklenburg die bäuerlichen Anerben, in Lingen hingegen die Kinder aus allen sozialen Gruppen. In Lingen wurde die Bedeutung von »auswärtigem Handel und Verdienst« (d. h. Hollandgängerei und Wanderhandel) so hoch eingeschätzt, daß dem freien Arbeitsmarkt keine Grenzen gezogen werden sollten. Aus demselben Grund wurde hier auch kein Lohnmaxim u m festgelegt. Vgl. Tack, S. 86ff ; Rickelmann, bes. S. 144f. 45 N u r nebenbei bemerkte sie in einer Anmerkung der Autor des Artikels »Gesinde« in Krünitz' Enzyklopädie, als er mögliche Ausnahmen von der Dienstpflicht bedachte: »Überhaupt k ö m m t ein Untertan alsdann erst zu Kräften, wenn er erwachsene Kinder hat, weil er alsdann Gesinde ersparen kann.« Krünitz, Bd. 17, S. 569. 46 Vgl. Holsche, S. 484 (Präambel der Gesindeordnung); ähnlich J. M. Schwager, Klagen eines Bauern über sein Weib und seine Kinder, abgedr. in: JBHVR, Jg. 55, 1948/49, S. 150-53; (Anonym), Gesindewesen, in: WA 1801, Sp. 569-72; für das 19. Jahrhundert vgl. das Schreiben des Bielefelder Superintendenten Scherr, 26. 2. 1829, in: ST A D M l IP 960, Bl. 1 ff. (bes. Klage über sexuelle Beziehungen zwischen Knechten und Mägden, gegen die die »Herrschaften« nicht »gehörig« einschreiten würden). Zur relativen Abnahme des Gesindes in proto-industriellen Regionen vgl. Kriedte u. a., Industrialisierung, S. 120f.; sehr deutlich für die Konkurrenz zwischen proto-industriellem Gewerbe und Gesindedienst: Peukert, S. 162f.; Bodemer, S. 51. Vgl. ferner Engelsing, S. 245 ff. 47 Krünitz, Bd. 17, S. 567 f. 48 Bitter, S. 40. 49 Vgl. oben S. 51 f. Weitere Hinweise auf bäuerliche Gesindenot: Steinbach, S. 174. Die Gesindezahlen hingegen, die im späten 18. Jahrhundert, anders als im 19. Jahrhundert, zunahmen, lassen als solche keinen Gesindemangel erkennen. In Minden-Ravensberg nahm das Gesinde auf dem »platten Land« zwischen 1762 und 1802 von 8018 Knechten, Mägden und Jungen auf 11954 zu (vgl. Potthoff, Bevölkerung, S. 18; Krug, Bd. 2, S. 2 0 8 f f ) . Das Gesinde

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Anmerkungen zu Seite 259—263 vermehrte sich entsprechend der Bevölkerung und in den beiden Stichjahren war der Anteil des Gesindes an der ländlichen Bevölkerung mit 8 , 5 % bzw. 8 , 9 % etwa gleich hoch. Zur Entwicklung im 19. Jahrhundert vgl. oben S. 173. 50 Lohntaxe: Holsche, S. 505. Faktische Gesindelöhne: Aufzeichnungen aus dem Kirchenbuch von Heimsen a. d. Weser (Kr. Minden), 1799, in: Rav. ВН., Jg. 12, 1912, S. 2 9 f . ; a u s d e m Paderbornischen.· Henning, Bauernwirtschaft, S. 192; Schwerz, S. 339, 342, 344f.; für den Vormärz: Laer, Materialien, S. 62, 64. Die Naturalentlohnung wurde im 18. Jahrhundert vergeblich verboten (vgl. Holsche, S. 509; Henning, Bauernwirtschaft, S. 191 f.). Zur Wirkungslosigkeit der Lohntaxen, ähnlich den Regulierungen des Gesindearbeitsmarktes durch Gesindescheine im 19. Jahrhundert vgl. Krünitz, Bd. 17, S. 625; S T A D M l IP 954, 955; Graeffi Rönne/Simon, Bd. 3, S. 477 ff. 51 Vgl. Anhang 28; Laer, Bericht, S. 99. Vgl. auch S. 249 das Schwager-Zitat. 52 Bitter, S. 24 (Hervorhebung im Original). Vgl. auch die Erinnerung an das »Verfugen vieler Bauern über die Kinder ihrer Heuerlinge«, zitiert bei Sauermann, Bauernfamilie, S. 33. 53 Ein genaues Lohnkalkül ist unmöglich, weil alle Faktoren (Spinnzeit, Arbeitsleistung, Garnqualität und -preise) nur ungenau bekannt sind. Bei der Kalkulation wurden die Angaben in Anhang 22 und bei Schoneweg, Flachsbau, S. 87 benutzt. In der Senne wurde allerdings sehr feines Garn gesponnen, das teurer, aber auch weniger leicht zu spinnen war. Wie auch immer, diese Spinnpflicht begünstigte den Bauern bei fallenden Garnpreisen, welche den Lohn der Magd aufzehrten, den Bauern aber immer noch ein gewisses Einkommen gewährten. Es ist nicht abzuschätzen, da der Umfang dieser Form des Gesindeverhältnisses nicht bekannt ist, welche Wirkungen diese Konstellation auf die lange Krise der Proto-Industrie hatte. Ein anderes Moment im Heuerlingssystem hemmte zumindest die technische Innovation. Die Abarbeit der Miete ließ die (Flachs-)Bauern die mechanische Brechung des Flachses nicht einfuhren, da dies Geld gekostet hätte, während diese Arbeit sonst der Heuerling von Hand »a conto seiner Miete, also halb umsonst« verrichtete (Bitter, S. 24). 54 Laer, Bericht, S. 100. 55 W D , Bd. 1, 1845, S. 499. 56 Hoffbauer, 13. 12. 1800, zit. nach Mager, Protoindustrialisierung, S. 470, Anm. 66. 57 Am ausfuhrlichsten: Hagemann, S. 71 ff. 58 WA 1802, Sp. 194. Zur »sittlichen Ökonomie« vgl. Thompson, Kultur, S. 67 ff. 59 Bericht des L R v. Ledebur, 26. 11. 1800, zit. nach Mager, Protoindustrialisierung, S. 457f., Anm. 46. 60 Schwager, Bauer, S. 55; vgl. Anhang 28. 61 Bitter, S. 24; zur Holzwirtschaft in der Senne vgl. ebd., S. 77ff. 62 Vgl. Consbruch, S. 24ff.; Rehbein, S. 102. Die Gesindeordnung für Minden-Ravensberg usw. von 1753 erwähnt keine Krankenversorgung für das Gesinde. Dagegen betonte das ALR einen gewissen arbeitsrechtlichen Schutz bei Krankheit (Unterstützungspflicht bei einem Arbeitsunfall), der in der Praxis wohl häufig ignoriert wurde; vgl. ALR II, 5, § 86ff.; Graeffi Rönne/Simon, Bd. 3, S. 492ff. Zu einem Extremfall von Härte gegenüber krankem Gesinde vgl. oben S. 74. 63 Vgl. Mooser, Gleichheit, S. 247f.; Hartmann, Bilder, S. 46, 100; Engel (Hg.), Tagebuch, S. 93; Hagemann, S. 72. 64 Vgl. Schwager, Bauer, S. 68. 65 Rg. Minden, 4. 9. 1817, in: S T A D M 2 Halle, Amt Versmold 98. Die Regierung erinnerte an die Durchsetzung eines Dekretes der französischen Verwaltung vom 14. 7. 1810 (Gesetzbulletin des Königreichs Westphalen 1810, Teil III, S. 314ff.), mit dem die Pflicht eines identischen Familiennamens eingeschärft wurde, um die Verwirrung der Administration durch den häufigen Namens wechsel aufzuheben; es sei aber zum Teil nicht befolgt, zum Teil nach 1813 wieder vergessen worden. Die Verwaltungsakten des Vormärz zeigen, daß sich ein fester Familienname der Heuerlinge in ihrer Erfassung als Staatsbürger durchgesetzt hat, daneben blieb aber noch

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Anmerkungen zu Seite 263—268 die zusätzliche Kennzeichnung »bei Colon . . .« während im nichtstaatlichen Alltag die D o m i nanz des Hausnamen wohl ungebrochen blieb, die sich im bäuerlichen Alltag bis weit ins 20. J h . erhalten hat. 66 Ossowski, S. 61; Tönsmeyer, S. 498 ff. 67 Schwager, Bauer, S. 55; vgl. Moser, Werke, Bd. 4, S. 42-53; Hartmann, Bilder, S. 197 ff. 68 Consbruch, S. 31; W., Der Ravensberger Spinner, in: Mindensche Anzeigen 1796, Sp. 525 f. 69 Schoneweg, Flachsbau, S. 87. 70 Dorfordnung für Minden-Ravensberg von 1755, § 26, in: Wigand, Minden-Ravensberg, Bd. 2, S. 374. 71 Schoneweg, Flachsbau, S. 95 ff. schildert dieses Fest, das auch in anderen Gegenden gefeiert und - vergeblich - verboten wurde. Insbesondere der im oben zitierten Verbot von 1755 ausgesprochene Verdacht des Diebstahls bezieht sich offenbar auf einen Brauch im Zusammenhang dieses Festes. Dem gastgebenden Bauern wurde nämlich das Brennholz gestellt, welches vorher »im Schutz der Dunkelheit« gesammelt wurde. 72 Holsche, S. 140. Zur Empörung der Pfarrer vgl. ζ. B. Hagemann, S. 128 ff. Als eine Form der Jugendkultur schilderte die Spinnstube auch der Pfarrer von Fürstenau (Kr. Höxter) in einer Anzeige im Jahr 1842 (in: S T A D M l IP 966), ähnlich wie die Kreissynode Bielefeld, die in ihren Verhandlungen 1846 protokollierte, daß »unsägliches Unheil« durch das »aufsichtslose Zusammenkommen der Jugend unter dem Vorwande des Spinnens« entstehe (in: S T A D M l II A 50). Weiterführend dazu H. Medick, Spinnstuben auf dem Dorf. Jugendliche Sexualkultur und Feierabendbrauch in der ländlichen Gesellschaft der frühen Neuzeit, in: G. Huck (Hg.), Sozialgeschichte der Freizeit. Untersuchungen zum Wandel der Alltagskultur in Deutschland, Wuppertal 1980, S. 19-49. 73 Beschwerde des Lehrers, 9. 2. 1825, in: S T A D M l IP 966; vgl. oben S. 238. 74 v. Cölln, S. 107. 75 Hoffbauer, 21. 9. 1787, in: S T A M K D K Minden III, 431, Bl. 129. 76 Heldmann, Einlieger, Sp. 215. 77 Regierungsassessor Nolting, Art. »Eingesandt«, in: Bote vom Ravensberge. Eine gemeinnützige Wochenschrift für den Kreis Halle, 10. 6. 1848, Beilage (dieser sonst nicht mehr vorhandenen Zeitung), in: S T A D M l Pr. 504, Bl. 123. 78 Gülich, Ackerbau, S. 31, ähnlich ebd. S. 111. U m 1830 umfaßte im Kr. Tecklenburg eine Heuerlingspacht durchschnittlich 4,5 Mg.; in Ravensberger Gemeinden war das in den 1820er Jahren selten; vgl. Claden, Tecklenburg, S. 135 u. Anhang 19. 79 Für 1800 vgl. Anhang 28; für den Vormärz: Laer, Notstand, S. 4; Eingabe des Kleinbauern Steinsiek in Schildesche, 26. 2. 1839, in: S T A M O P 702, Bl. 7 (10 Rt Miete). Dagegen nennt Laer, Bericht, S. 98 für den Kr. Herford nur eine Wohnungsmiete von 4 Rt. Verläßlichere, auf einer breiten Grundlage erhobene Zahlen fehlen. 80 Eingabe der Heuerlinge von Altenschildesche, 1. 3. 1846, in: S T A M O P 370, Bl. 158. 81 Vgl. Anhang 20. 82 Laer, Bericht, S. 100. Zur Konkurrenz vgl. auch Gülich, Handel, Bd. 4, S. 651; ders., Ackerbau, S. 68, 110; Lengerke, S. 296. 83 Aus den Verpachtungen des Gutes Uhlenberg (Kr. Herford) in den 1850er Jahren geht hervor, daß für 1 M g Wiesenland rd. 6 Rt bezahlt wurden, d.h. ein Drittel mehr als für Ackerland ( S T A B Gut Uhlenburg, Sign. 146). 84 Beamter des Canton Delbrück (Kr. Paderborn), 2. 10. 1831, in: S T A M O P 370, Bl. 21. 85 Vgl. die Kritik und Vorschläge in den Schreiben des Geometers Böckmann, 29. 12.1835; des Domänenrats Geßner, 8. 10. 1842; dazu Bericht des LR Kr. Paderborn, 2. 2. 1836, alle in: S T A M O P 370, Bl. 106ff., 130ff., 1 lOff. Der letztere hatte sich vergeblich bemüht, Bauern zu einer rechtsverbindlichen Verlängerung der Pachten und einer Zuteilung von Markenland an die Heuerlinge zu bewegen. Seine Resignation beschönigte er durch eine entsprechende Dar-

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Anmerkungen zu Seite 269—272 Stellung des Heuerlingssystems: »Nur der schlechte, zurückgekommene Bauer läßt seinen Heuerling ziehen, um von dem neuen einige Taler mehr zu erpressen oder es liegt die Schuld am Heuerling selbst«; solche Fälle seien aber selten. Vincke kommentierte die Vorschläge des Domänenrats Geßner für eine Reform der Pachtverhältnisse hin zum kleinen Grundeigentum ausdrücklich als undurchführbar. - Vom »Leibeigentum« der Heuerlinge ist in den Verwaltungsakten des Vormärz relativ häufig die Rede. Vgl. auch unten Anm. 94. 86 Zitiert nach Bethe, Denkschrift betr. die Resultate der in Westfalen und der Rheinprovinz vorgekommenen Parzellierungen, 15. 3. 1837, in: STAD M l Pr. 477, Bl. 23 f. Wahrscheinlich sind mit den Erschwerungen der Parzellenveräußerung die bald nach den Ablösungsgesetzen eingeschärften strengen gerichtlichen Kontrollen über die hypothekarische Belastung der Grundstücke gemeint. Offensichtlich zogen nämlich überhängende grundherrliche Rechte und die Verschuldung im Grundstücksverkehr viele Probleme und Prozesse nach sich. Vgl. diesbezügliche Verordnungen in: A. Lette u. L. v. Rönne, Die Landes-Kultur-Gesetzgebung des Preußischen Staates, 2 Bde., Berlin 1853/54; A B M 1829, S. 384. 87 Zeitungsbericht Rg. Minden, 7. 5. 1843 in: S T A M O P 3 5 1 , Bd. 7, Bl. 125. 88 Regierungsassessor Nolting (wie Anm. 77). 89 Laer, Materialien, S. 54f.; vgl. Gülich, Ackerbau, S. 32, 119. 90 Beide Zitate: Lengerke, S. 284; vgl. auch Regierungsassessor Nolting (wie Anm. 77); Laer, Bericht, S. 97 f. Im Kr. Lübbecke wurde den Heuerlingen bei der Halbtagsarbeit nur »etwas Plundermilch« gereicht (Bericht des Regierungskommissars v. d. Kerk, 17. 4. 1848, in: STAD M l Pr. 504, Bl. 40). 91 Laer, Materialien, S. 53f.; vgl. Gülich, Handel, Bd. 4, S. 657. 92 Laer, Materialien, S. 70; Meitzen, Bd. 2, S. 109ff. Z u den Gesindezahlen vgl. Anhang 21 und Gewerbetabelle für 1846, in: STAD M l IG 63. 93 Laer, Materialien, S. 55, 58, 60; Heldmann, Einlieger, Sp. 215; zu Paderborn vgl. oben S. 238f., 247. Der »Gutsheuerling« in Minden-Ravensberg wurde anders als der ostelbische Inste nicht in Deputaten entlohnt. Wie dieser war er allerdings ein durch Pacht gebundener Landarbeiter, der im Unterschied zum bäuerlichen Heuerling das ganze Jahr auf dem Gut arbeitete. 94 Schon 1820, in einer Zeit sehr niedriger Garnpreise, wurde festgestellt, daß die »unselige Konkurrenz« die Heuerlinge zu »Leibeigenen der Colonen« mache - »und zwar umso nachhaltiger und zerstörender, da dieses Leibeigentum sich als ein ganz temporäres, einzig von der Willkür des Colonen abhängendes, durch kein Gesetz und Verordnung geregeltes gestaltete«; verschlimmert werde dies durch die ebenfalls drangvolle Lage der Bauern, denen »die höheren reineren Ansichten der Milde und Schonung fremd waren und bleiben«. Protokoll der Heuerlingskonferenz, 17. 2. 1820, in: STAD M l IS 3, Bl. 23. 95 Regierungskommissar v. d. Kerk, 10. 5. 1848, in: STAD M l Pr. 504, Bl. 88. 96 Laer, Auswanderung, S. 7 f. 97 So die Rg. Minden, 28. 3. 1848, in: STAD M l Pr. 504. 98 Vgl. Vedder, S. 14; R. Kohl, Herford 1848, in:JBHVR, Jg. 44, 1930, S. 33; Dunkmann, S. 51. D u n k m a n n schildert das Leben seines Vaters, eines großbäuerlichen Heuerlings in Tecklenburg im späten 19. Jahrhundert. Wiederholt spricht er das »Untertanenverhältnis« zwischen Bauer und Heuerling und den »Herrendünkel« von jenem an (vgl. ebd., S. 33f., 51, 74f., 91, 145). Die Erinnerung an patriarchalische Bindungen sind schwach (ebd., S. 66f.: über die Einbindung in die bäuerliche Nachbarschaft; S. 18: wenig Gespannhilfe). Für den 1902 als jüngstes von neun Kindern geborenen Dunkmann gab es wie fur seine Geschwister, die alle Arbeiter wurden oder heirateten, nur eines: ein »Eigentum«, d. h. ein Haus, das von den Bauern unabhängig machte (vgl. ebd., S. 27f.). 99 Vedder, S. 11 f.; zum Kontext ebd., S. lOff. 100 Jene pietistischen Topoi der Bauernkritik bei Vedder, S. 25ff., 55. Z u m Kontext der Erweckungsbewegung vgl. Mooser, Religion.

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Anmerkungen zu Seite 273—275 101 Vgl. Dunkmann, S. 26. 102 Im folgenden sind von den verschiedenen Typen von Auktionen immer nur die sogenannten außergerichtlichen oder freiwilligen (im Unterschied zu den gerichtlichen Auktionen) und die Kleinhandels-, im Gegensatz zu den Großhandelsauktionen genieint. Die Kleinhandelsauktionen sind offenbar noch ein sehr dunkler Fleck der Forschung; Lexikas und Handbücher erwähnen hauptsächlich die viel älteren Großhandelsauktionen. Wahrscheinlich entstanden jene erst im 18. Jahrhundert in den Städten. Vgl. Krünitz, Bd. 2 (1787), S. 645-48; Sombart, Kapitalismus, Bd. 2/1, S. 483f., 490; W. Roscher, System der Volkswirtschaft, Bd. 3/2, Stuttgart 1917, S. 41 ff.; H. Kellenbenz, Art. Auktion, in: A. Erler u.a. (Hg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 1, Berlin 1971, Sp. 260-63. 103 (Anonym), Über den in der Grafschaft Ravensberg eingerissenen Holzmangel, in: WA 1801, Sp. 113-26, Zitat Sp. 115. Zum Holzmangel vgl. Sombart, Kapitalismus, Bd. 2/2, S. 1137ff.; R.-J. Gleitsmann, Rohstoffmangel und Lösungsstrategien: Das Problem vorindustrieller Holzknappheit, in: Technologie und Politik, Bd. 16, hg. v. F. Duve, Reinbek 1980, S. 104—55; J. Radkau, Holzverknappung u. Krisenbewußtsein im 18. Jahrhundert, in: GG, 9. J g . , 1983, S. 513-43. 104 S T A B Chronik Heepen, Bl. 42. Zur Verbreitung der Holzauktionen vgl. auch die Zuschrift aus dem Lippischen in: Heß (Hg.), Gesellschaftsspiegel, J g . 1, 1845, S. 45: »Nur wenige Holzeigentümer« würden außer durch Auktionen Holz verkaufen. 105 Gülich, Ackerbau, S. 50; W D , Bd. 1,1845, S. 342; S T A B Chronik Schildesche, Bl. 57. 106 Heß (Hg.), Gesellschaftsspiegel, Bd. 1, 1845, S. 45; ähnlich W D , Bd. 1, 1845, S. 342. 107 S T A B Chronik Schildesche, Bl. 87. 108 W D , Bd. 1, 1845, S. 260ff., 341 ff. Mißstände bei den Auktionen wurden auch von den Beamten - vor allem im Hinblick auf die Holzauktionen - häufig kritisiert (vgl. Borchardt, S. 14ff.; Blasius, Gesellschaft, S. 107). Das läßt annehmen, daß die polizeilichen und gesetzlichen Vorschriften nicht sehr wirksam waren. Das ALR war in dieser Hinsicht liberal, enthielt keine besonderen Regelungen für außergerichtliche Auktionen (vgl. ALR I, 11, § 20-25, 3 4 0 362). Daneben gab es eine V O vom 17. 7. 1797, erneuert 1822 und 1841, die Verabredungen bei den Versteigerungen zur Verhinderung der Konkurrenz beim Aufbieten verbot (vgl. Gräffi Rönne/Simon, Bd. 1, S. 570ff.). Die neueren Vorschriften nahmen den Liberalismus teilweise zurück und richteten sich insbesondere gegen den Branntweinausschank bei Auktionen ( V O vom 22. 11. 1836, in: A B M 1836, S. 345) und auf die behördliche Zulassung von außergerichtlichen Auktionskommissaren sowie die Kontrolle von deren Geschäftsführung; vgl. die V O des O P der Provinz Westfalen vom 12. 12. 1842, in: A B M 1842, S. 405ff.; diese V O wurde inhaltlich weitgehend übernommen in das gesamtpreußische Reglement vom 15. 8. 1848, in: A B M 1848, S. 259ff. Auch die allgemeine Gewerbeordnung vom 17. 1. 1845, § 51, verfügte die behördliche Zulassungskontrolle von Auktionskommissaren (GS 1845, S. 51). 109 Eingabe des Bauschulze sen. aus Altenhagen (Kr. Bielefeld), 28. 1. 1854, in: S T A D M l IG 295. 110 S T A B Chronik Heepen, Bl. 42, 46; ähnlich Borchardt, S. 14. 111 Vgl. S T A D M l III Ε 2529. Nach Einrichtung des Kohlenmagazins verhielten sich die Holzdiebstähle wie 1:24 vor dessen Einrichtung. Die Unzulänglichkeit des Magazins mag daraus erhellen, daß die Armenkommission ein Darlehen von 800 Rt gefordert, aber nur 300 Rt erhalten hat. Darüber hinaus mußte manchem Armen erst noch ein Kohleofen zur Verfügung gestellt werden. Am 31. 12. 1840 berichtete der Amtmann von Wohnungsnot, starker Verschuldung an die Holzauktionatoren und von 300 Heuerlingsfamilien im Amt Heepen, die von Kälte bedroht seien, da sie kein Brennholz bezahlen könnten (in: S T A D M2 Bielefeld 417). 112 Vgl. Mooser, »Furcht« S. 64ff.; Blasius, Kriminalität, S. 46ff.; zum städtischen Charakter der Teuerungsunruhen vgl. Gailus, Protest; Husung, Protest; Wirtz, S. 163ff., 226fF. 113 O P Vincke, 8. 1. 1842 in: S T A D M l IP 968, Bl. 14; LR Kr. Bielefeld, 3. 8. 1842, in: S T A D M l IE 216, Bl. 25.

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Anmerkungen zu Seite

276-283

114 Z u m folgenden ausfuhrlicher Mooser, Gleichheit, S. 253 ff. 115 Vgl. dazu die Serie der Heuerlingspetitionen aus Altenschildesche und Braake, in denen die Heuerlinge v o m August 1845 bis Januar 1847 hartnäckig ihre Ziele verfolgten; sämtliche Petitionen in: S T A M O P 370, Bl. 140ff.; vgl. S. 309ff. 116 Vgl. Mooser, Gleichheit, S. 260f.; A. Kraus, Die rechtliche Lage der Unterschicht im Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft, in: H. Mommsen u. W. Schulze (Hg.), Vom Elend der Handarbeit, Stuttgart 1981, S. 243-58, bes. S. 251 ff. 117 Das Folgende gründet hauptsächlich auf den im Dezember 1840 gedruckten Statuten des Vereins, die enthalten sind in: STAD M l IP 968. Sofern nicht anders angegeben, sind im folgenden alle Zitate diesen Statuten entnommen. Andere Nachrichten über diesen Verein sind spärlich. Bemerkens werterweise enthält die Chronik von Heepen keinen Hinweis auf ihn. - Im A m t Heepen standen 1837 441 Grundbesitzer (inkl. Kleinstbauern und Erbpächtern) 1449 Heuerlingsfamilien gegenüber (vgl. STAD M l Pr. 477, Bl. 151 fif.). 118 Selbst wenn man berücksichtigt, daß in einigen Bauerschaften sich angeblich ähnliche, aber separate Vereine bildeten (Statuten, § 10), bleibt die Tatsache, daß die Gesamtheit der Grundbesitzer noch nicht unterschrieben hatte. Z u Spannungen zwischen größeren und kleineren Bauern im Kr. Bielefeld vgl. auch Mooser, Gleichheit, S. 254. 119 Verhandlungen des 3. Westfälischen Landtages (1832), S. 75f.; eine ähnliche Kritik bei Borchardt, S. 41 ff. Vgl. auch Blasius, Gesellschaft, S. 93 ff. 120 Der 2. Westfälische Landtag hatte 1830 vergeblich gefordert: »Erlaubnis zur Verehelichung wird einem zur Gemeinde gehörigen Heuerling oder Einlieger nur dann gegeben, wenn er ein zum Fortkommen einer Familie hinreichendes Vermögen besitzt, das wenigstens in einer Kuh, einem Bette und dem unentbehrlichsten Hausgeräte bestehen muß, und sein mietweises Unterkommen wenigstens auf vier Jahre gesichert ist« (Verhandlungen des 2. Westfälischen Landtages [1830], S. 40). Zu Lippe vgl. (Anonym), Zustand unserer Einlieger, Sp. 782. 121 Vincke an den Cantonbeamten Müller, 9. 6. 1841; Statuten, S. 9. Offenbar gab es eine in den Akten nicht dokumentierte Auseinandersetzung. A m 8. 1. 1842 verteidigte Vincke in einem Schreiben an den Bielefelder LR seine Konzession der Statuten, wenn er auch verärgert war über den offiziösen Anstrich infolge der führenden Beteiligung des Beamten Müller. Gleichwohl hielt er daran fest, daß der Verein »mehr nützlich wie schädlich« sei, da durch ihn die »Spaltung zwischen dem Heuerlingsstande und den Colonen eher gemildert als vermehrt werden könne«. Ablehnender Bescheid der Rg. Minden, 13. 7.1842; alles in: STAD M l IP 968.

VIII. Proto-Industrialisierung und ländliche Klassengesellschaft im Vormärz 1 Marx, Das Kapital, Bd. 3, M E W Bd. 25, S. 342f. 2 Zeitungsbericht des Amtmanns, 1.11. 1807, in: STAM KDK Minden II, 3, Bd. 25, Bl. 351 f.; Schwerz, S. 239, 266; vgl. Rickelmann, S. 74ff., 123. 3 Zitiert nach Potthoff, Leinengewerbe, S. 37. 4 Zur Bittarbeit vgl. Bücher, Bd. 1, S. 288ff. Die genannten Belege interpretieren anders, nämlich als bäuerliches Verlagssystem: Geifer, Elite, S. 56; Uekötter, S. 21. 5 (Anonym), Betrachtungen, S. 25. Der Bericht in bezug auf Heepen ist ohne nähere Qualifizierung auch zitiert bei Potthoff, Leinengewerbe, S. 63. Z u den verlegerischen Webern vgl. oben S. 65f., 68f. Daß ein fließender Übergang zwischen solchen Webern und mittleren Bauern möglich war, zeigt ein Beispiel bei Angermann, S. 171 f. 5a Vgl. zu diesen Bedingungen Potthoff, Leinenleggen, S. 46, 66 (Zitat), 74 ff.; ders., Leinengewerbe, S. 54ff. 6 Z u den Formen des Leinenhandels vgl. Schmidt, Leinen, S. 30ff.; Rickelmann, S. 81, 85 ff.,Potthoff, Leinengewerbe, 73 ff. Holsche, S. 132 kritisierte die Bremer Kaufleute, daß sie im Kommissionshandel ihre westfälischen Kommitenten im unklaren über die Geschäftslage 442

Anmerkungen zu Seite 283—288 ließen. »Es heißt zwar, daß sie nicht mehr als zwei Prozent gewönnen, aber wer kann ihnen das nachrechnen.« 7 Schwerz, S. 239. 8 Nach zwei Listen Bielefelder Leinenkaufleute, die neben dem Namen den Wert ihrer Einkäufe von Leggeleinen angeben. Für 1794 vgl. J. Wilbrand, Zur Geschichte Bielefelder Firmen, in: Rav. Bll., J g . 5, 1905, S. 50f.; für 1832 vgl. S T A D M l Pr. 21. Vgl. auch Schmidt, Leinen, S. 36 u. ders., Delius - Versmold, S. 19 über den schnellen Bankrott neuer Händler, die ohne Kenntnis des Absatzmarktes angefangen hatten. 9 Zitat: Schönfeld, S. 39; ebd., passim, grundlegend zum Garnhandel. Vgl. auch Potthoff, Leinengewerbe, S. 40; A. Schröder, Rietberger Garn, in: Westfälischer Heimatkalender 1960, S. 93-95. 10 So 1781 der Herforder Magistrat, zitiert nach Schönfeld, S. 55. 11 Zitiert nach Potthoff, Leinengewerbe, S. 41. 12 Vgl. dazu oben S. 160; Angermann, S. 180f. Zur vergeblichen Förderung des Flachsbaus gibt es eine relativ breite Broschüren- und Aktenüberlieferung. Eine genauere Studie über den Verfall dieser landwirtschaftlichen Spezialkultur im Kontext einer veränderten Orientierung der Bauern würde sich lohnen. 13 Vgl. Mindener Sonntagsblatt 1845, S. 312 (Korrespondenz aus Bünde); Wadle, Markenwesen, S. 184, Anm. 92. Zu den Vereinen vgl. die Schreiben in: S T A B Amt Heepen, Fach 32, Nr. 4; S T A B Amt Schildesche, Nr. 532b, darin bes. das zitierte Schreiben des Amtmanns Brewitt vom 25. 11. 1851. Zu den Vereinen vor 1848 vgl. auch oben S. 169. 14 Ditt, S. 64; v. Borries, Mitteilungen über die statistischen Verhältnisse und die Verwaltung des Kr. Herford während des Zeitraums 1838 bis 1860, Herford 1861, S. 20. Der Rest des Aktienkapitals stammte von 89 Kaufleuten (22%), 32 Beamten (8%), 19 Spinnern und Webern (4%) und vom Lippischen Fürstenhaus (6%). Vgl. den Gründungsaufrufdes Herforder Vereins vom 10. 10. 1851, unterschrieben von Beamten, Pastoren, Lehrern, Colonen und einigen Kaufleuten, davon aber keiner aus Bielefeld (in: S T A B Amt Heepen, Fach 32, Nr. 4). Vgl. auch Schoneweg, Leinengewerbe, S. 229 ff. 15 Die genannten Zahlen nach der Gewerbetabelle von 1846, Sp. 146 bzw. 159, in: S T A D M l IG 63. 16 Schreiben an den Amtmann, 27. 11. 1818, in: Amtsarchiv Löhne, Nr. 11. Selbst die größeren Garnhändler haben wohl bei weitem nicht den Umsatz und die Gewinne der großen Bielefelder Leinenhändler erreicht. Die größte Garnhandlung in Werther verkaufte ζ. B. 1802 Garn fur 26637 Rt, die kleineren für eine Summe zwischen 10000 und 16000 Rt. Die großen Bielefelder Leinenhändler dagegen kauften jährlich Leinen fur 50000 bis 100000 Rt ein (vgl. Heyland, S. 318; Liste der Kaufleute und Leggeeinkäufe in: S T A D M l Pr. 21). Zur Konzentration des Handelskapitals in Bielefeld vgl. auch oben S. 69 f. und Ditt, S. 20. 17 Zitiertnach Wadle, Markenwesen, S. 167; zu den Auseinandersetzungen über eine Leggereform ebd., S. 163ff.; zu den Funktionen der Legge ebd., S. 158ff. u. oben S. 67f. Ein weiteres erhellendes Beispiel dafür, wie die alteingesessenen großen Handelsfamilien ihre Stellung gegen die Reformen verteidigten, ist ihr Verhalten bei der Einfuhrung der Städteordnung 1831. Ein zweimal durch Mehrheit legal gewählter Bürgermeister, der auch ein kleinerer Leinenhändler war, wurde von ihnen aus dem Amt gedrängt. Vgl. Ditt, S. 34, Anm. 125, S. 40f. 18 Vgl. Wadle, Markenwesen, S. 164f.; Potthoff, Leinenleggen, S. 113ff.; Verhandlungen des 6. Westfälischen Landtags (1841), S. 38 (Zitat). Leggeordnung für Ravensberg und Kr. Lübbecke von 1842 in: A B M 1842, S. 163 ff. Die Versmolder Löwendleinenhändler wiesen das Meistgebot so zurück: Sie hätten unter solchen Bedingungen »kein weiteres Interesse, sich ihre Kundschaft unter den Webern zu erhalten« (zitiert nach Schmidt, Delius-Versmold, S. 64f.). 19 Vgl. oben S. 62. Skepsis gegenüber dem Meistgebot legt die Erfahrung mit einem anderen Versuch zur Gestaltung »solider« Preise nahe, die öffentliche Taxierung des Leinens

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Anmerkungen zu Seite

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durch Beamte nach dem »auf auswärtigen Leggen und Handelsplätzen üblichen Preis«. Diese Vorschrift der Ravensbergischen Leggeordnung von 1791 (nicht in der Bielefelder Leggeordnung!) wurde kaum befolgt, weil die Taxierung angesichts der Vielzahl unterschiedlicher Sorten zu schwierig schien. Vgl. Potthoff, Leinenleggen, S. 66. 20 Vgl. Potthoff, Leinenleggen, S. 72; Schmidt, Leinen, S. 33 ff. In welchem Zwielicht zwischen Selbständigkeit und verdeckter Zulieferung an die etablierten Händler sich manche bewegten, zeigt der Fall des Webers Hagemann. Er wurde 1844 bestraft, weil er ungeleggtes Leinen an eine Bielefelder Firma verkauft hatte. Entgegen seiner Verteidigung, er sei ein »Lohnarbeiter« dieser Firma, bezeichnete der LR ihn als einen »bekannten Zwischenhändler (Hopster), der von Webern Leinen kauft und solches an die größeren Handlungen wieder verkauft« (LR Kr. Bielefeld, 23. 8. 1844, in: STAD M l IU 521). Vgl. aber die glänzenden Aufstiege mancher Kleinhändler, allerdings in einem Baumwollgebiet und im Zusammenhang mit dem technischen Strukturwandel der Weberei bei: R. Braun, Zur Entstehung eines ländlichen »Fabrikherren«-Standes, in: ders. u.a. (Hg.), Industrielle Revolution. Wirtschaftliche Aspekte, Köln 1976, S. 94-108; ähnlich Tanner, S. 164ff. Zur Vorkauferei um 1800 vgl. oben S. 68 f. 21 Vgl. Wadle, Markenwesen, S. 192ff.; Quentin-Zitat ebd., S. 162. 22 WA 1801, Sp. 443. 23 Vgl. (Anonym), Bielefeld am Ende des 18. Jahrhunderts. Kritik eines Zeitgenossen, abgedr. in: Rav. B1L, Jg. 56, 1956, S. 146. Pressefehde über die Neulinge im Handel in: WA 1801, Sp. 440-44, 593-97 u. Beilage zu ebd., Nr. 40 u. 54 (unpag.). Zur Fluktuation vgl. auch Schmidt, Leinen, S. 36. 24 Vgl. Steinbach, S. 61. 25 Eingabe von Bauschulze sen., 28. 1. 1854, in: STAD M l IG 295. Ein weiteres Beispiel fur eine stille Karriere ist der Weg des Vaters der Gebr. Bozi, den Gründern der ersten großen Maschinenspinnerei (vgl. Sartorius, S. 5ff.). Auch manche verlegerische Weber lassen sich dazu rechnen. Sie hat Angermann, S. 171 im Auge mit einer insgesamt zu optimistischen Formulierung, daß es im Leinengewerbe »erhebliche Aufstiegschancen« gegeben habe. Vgl. auch Ditt, S. 35 ff. zur Mobilität der städtischen Unterschichten in Bielefeld während des Vormärz; der intergenerationelle Aufstieg in die Mittelschicht war zwar nicht verbaut, richtete sich aber mehr auf das Handwerk als auf den kaufmännischen Bereich. Ähnlich war es in Quernheim bei einem insgesamt sehr seltenen Aufstieg (vgl. Mooser, Familie, S. 140). Ein nur minimaler Aufstieg der Unterschichten zwischen 1830 und 1859 ist auch im Münsterländischen Borghorst zu beobachten; vgl. R. Schüren, Familie und soziale Plazierung in einer durch Landwirtschaft, Heimgewerbe und Industrialisierung geprägten Gemeinde, in: Коска и. α., Familie, S. 226ff., 362. 26 Z u Kobusch vgl. Schoneweg (Bearb.), Buch der Stadt, S. 408; Wadle, Markenwesen, S. 194; Engel, Webereien, S. 81. Z u m seltenen Aufstieg von Unterschichtenangehörigen zu Unternehmern vgl. Коска, Unternehmer, S. 26, 34, 38, 42; ebd., S. 33 u. Teuteberg, Textilunternehmer, bes. S. 23 ff. zur Kontinuität zwischen altem Handel und Fabrikunternehmern in der Textilbranche. Allerdings gründen diese Aussagen überwiegend auf der Beobachtung der erfolgreichen großen Firmen. Die Geschichte der kleinen, oft nicht weniger erfolgreichen Unternehmer ist i. a. und auch für Ravensberg noch kaum bekannt. Vgl. die unvollständige Übersicht über Bielefelder Firmen des 19. Jahrhunderts in: Schoneweg (Bearb.), Buch der Stadt, S. 339 ff. 27 Vgl. G. Schierholz, Geschichte der Herforder Industrie, Herford o. J., passim. N u r ebd., S. 51 wird ein Webersohn aus Borken im westlichen Münsterland genannt, der 1880 eine mechanische Weberei gründete. Das macht darauf aufmerksam, daß ein mit dem Wegzug möglicher Aufstieg hier unberücksichtigt bleiben mußte. Im übrigen wäre bei einer genaueren Untersuchung der Kleinunternehmer noch die seit den 1840er Jahren expandierende Zigarrenindustrie zu berücksichtigen, über die jedoch keine ausreichenden Informationen in bezug auf die Herkunft ihrer Unternehmer vorliegen.

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Anmerkungen zu Seite

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28 HK Bielefeld 1849/50, S. 12. 29 Zeitungsbericht der Rg. Minden, 7. 1. 1832, in: STAM O P 3 5 1 , Bd. 4, Bl. 191. 30 Vgl. Bericht des Bielefelder Stadtdirektors Consbruch, 23. 11. 1789, in: STAB С 7, 1, Bl. 6 f. 31 Eingabe F. W. Steinsiek, 17. 3. 1840, in: STAM O P 702; vgl. Schoneweg, Flachsbau, S. 104f. über Ausbeutungspraktiken dieser Weber gegenüber den Spinnern. Zur Differenzierung unter den Webern vgl. oben S. 65 f. 32 HK Bielefeld 1849/50, S. 5 (Unterstreichung von mir, J. M.). 33 Ebd., S. 10; vgl. obenS. 65. 34 F. D. Marquardt, Sozialer Aufstieg, sozialer Abstieg und die Entstehung der Berliner Arbeiterklasse, 1806-1848, i n : G G , J g . 1, 1975, S. 43-78, hierS. 63. 35 Steinbach, S. 207. 36 Lüning, S. 506. Die Bedeutung eines »eigenen Ackers« bei den Webern stellte auch die HK Bielefeld heraus (HK Bielefeld 1849/50, S. 10). 37 Vgl. zu diesen Aspekten oben S. 231 ff. 38 Leggeordnung für das Amt Ravensberg vom Jahre 1791, in: Neues Westfälisches Magazin, Bd. 3, 1792, Heft 9, S. 52ff., § 4; vgl. Potthoff, Leinenleggen, S. 67, 88. 39 Vgl. z.B. Potthoff, Leinenleggen, S. 108f.; Kriedte u.a., Industrialisierung, S. 210ff.; Schultz, Handwerk, S. 205; Marx, Grundrisse, S. 409f. Der »Vorschuß« war im übrigen die ursprüngliche Bedeutung des Wortes »Verlag« (B. Kuske, Die Entstehung der Kreditwirtschaft und des Kapitalverkehrs, in: ders., Köln, der Rhein und das Reich, Köln 1956, S. 82). 40 Peters, Landarmut - Statistisches, S. 122; vgl. Schultz, Vorgeschichte, S. 40 (mit dem Verlag ist der »entscheidende Schritt zum Proletarier getan«). 41 Vgl. das Beispiel badischer Weinbauern, die Anfang des 18. Jahrhunderts in einem Kaufsystem mit Basler Kaufleuten standen und sehr hoch an diese verschuldet waren. Mit steigenden Holz- und Weinpreisen konnten sie sich jedoch nach 1750 entschulden. Vgl. A. Straub, Das Badische Oberland im 18. Jahrhundert. Die Transformation einer bäuerlichen Gesellschaft vor der Industrialisierung, Husum 1977, S. 52fF. 42 Vgl. S T A M Regierungskommission Bielefeld 230. Dem Folgenden liegt eine eigene Auszählung der Liste und die Analyse bei Schlumbohm, Besitzklassen, S. 325 f. zugrunde. Vgl. auch Angermann, S. 131 f., wo allerdings die Relationen in den Verschuldungsursachen falsch angegeben sind. 43 Diese Kalkulation des Umsatzes (nicht des Gewinnes!) gründet auf der Annahme, daß pro anno auf einem Webstuhl zwölf Stück »Bielefelder Leinen« gewebt wurden, für das bis 1820 im Durchschnitt 13 Rt pro Stück bezahlt wurden (nach: HK Bielefeld 1849/50, S. 16; Schmidt, Leinen, S. 26). Je nach Feinheit und Breite des Leinens wurde mehr bezahlt, aber bei entsprechend höheren Produktionskosten (vgl. die Beispiele bei Angermann, S. 132; oben S. 82). Angesichts der dürftigen Überlieferung der Leinenpreise ist das freilich nicht mehr als ein grober Hinweis. 44 Ringenberg, Der Grundbesitz des Stiftes Schildesche, in: Rav. Bll., Jg. 25, 1925, S. 7. Die Weberliste von 1814 nennt fur den Verwaltungsbezirk Schildesche 40 Weber, deren Schulden auf Landerwerb zurückgingen. 45 Vgl. Schmidt, Leinen, S. 75 ff., 303 ff.; nur in einem Fall (ebd., S. 77) sind Kleinbauern als Schuldner nachgewiesen. Vgl. auch das Beispiel eines Baumwollverlegers im westlichen Münsterland, dem gegenüber die durchschnittliche Schuldenlast eines Webers nur 2,6 Rt betrug (Schüren, S. 90). 46 Rentmeister Fischer, 16. 10. 1809, in: STAM Regierungskommission Bielefeld, 25, Bl. 27 (Hervorhebung von mir, J. M.). Ähnlich Schwager, Bauer, S. 56; ders., Bemerkungen, S. 369. 47 Bericht des Pfarrers Woltemas, 22. 6. 1834, in: LKA Bielefeld, Bestand 4, Kirchenkreis Herford, Abtlg. II, Stift Quernheim A 2. Z u m jüdischen Kredit vgl. oben S. 118.

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Anmerkungen zu Seite 295—301 48 Mit Vertrag vom 3. 1. 1820 lieh sich der Bauer 2200 Rt vom Herforder Marienstift, um jene Schulden zu tilgen. Vertrag mit Schuldenverzeichnis in: S T A D M 9 Herford, Nr. 37. - Dieses Beispiel ist nur eines von sehr vielen Schuldverträgen und Schuldenverzeichnissen, die sich verstreut in der archivalischen Überlieferung der »freiwilligen Gerichtsbarkeit« befinden. Sehr umfangreiche Bestände, die eine systematische Auswertung lohnen würden, hierzu in: S T A D M 9 (jeweiliger Gerichtsbezirk). Bauern, Beamte und Kaufleute als Gläubiger zeigt auch eine Liste der Schuldner und Gläubiger im Amt Hartum aus den 1840er Jahren, in: S T A D M 2 Minden, Amt Hartum 3. 49 Wie die Ortsnummer Elverdissen 3 nahelegt. Die Ortsnummern waren ursprünglich nach den Abgaben und Leistungen der Bauern geordnet, so daß die größten Bauern immer die ersten Nummern hatten. Noch in den Katasterbüchern des 19. Jahrhunderts zeigt sich dieser Zusammenhang. 50 Zur systematischen Tendenz zur Verschuldung vgl. Kriedte u.a., Industrialisierung, S. 108 ff. 51 Vgl. Henning, Verschuldung westfälischer Bauernhöfe, S. 21 f.; Rehbein, S. 255. Den Kleinkredit innerhalb der Unterschicht betonte 1832 ein Regierungsbeamter, als er sich gegen eine Reform der Pfändungsordnung aussprach: Unter der »ärmeren Volksclasse sind Schuldverhältnisse an Kleinigkeiten sehr häufig. Man würde mithin dem einen Unbemittelten nehmen, was man dem anderen beläßt, und dadurch den gegenseitigen Kredit unter jener Volksklasse häufig gefährden« (Randbemerkung zum Zeitungsbericht des LR Kr. Bielefeld, Mai 1832, in: S T A D M l IS 3, Bl. 85). Zur Pfändungsordnung vgl. unten S. 305f. und Anm. 81. 52 Quelle: S T A D M 9 Herford, Nr. 45, Bl. 59 ff. 53 Soweit erkennbar, drang die reiche städtische Kaufmannschaft in Minden-Ravensberg wenig in den Großgrundbesitz ein. Dabei war sie freilich blockiert durch Adel und Bauern (vgl. oben S. 214ff. u. Anhang 11). Die reichen Leinenhändler in Bielefeld legten ihr Geld eher in städtischem Grundbesitz an, nur zwei von ihnen, Delius und v. Laer, erwarben im Vormärz größere Güter (vgl. Schmidt, Leinen, S. 5, 78, 306f., 310, 314). Vgl. dagegen den umfangreichen bürgerlichen Landbesitz im proto-industriellen Teil Flanderns: F. Mendels, Landwirtschaft und bäuerliches Gewerbe in Flandern im 18. Jahrhundert, in: Kriedte u.a., Industrialisierung, S. 325-50, bes. S. 340ff. 54 Benzenberg, S. 17. 55 Colon Aschen an Amtmann in Gohfeld, 19. 9. 1831, in: Amtsarchiv Löhne, Nr. 23. 56 Vgl. oben S. 251, 265f.; allgemein vgl. M. Graß u. R. Koselleck, Emanzipation, in: Brunner u.a. (Hg.), Grundbegriffe, Bd. 2, S. 191 f. 57 Schwager, Bauer, S. 58. Zum Heiratsalter vgl. oben S. 88 u. Anhang 4. 58 Schwager, Bauer, S. 56 f. 59 Ebd., S. 56. Zu anderen Regionen vgl. Sombart, Kapitalismus, Bd. 2/2, S. 815ff.; Kriedte u.a., Industrialisierung, S. 136ff. Eine schon klassische Studie dazu ist Braun, Industrialisierung, bes. S. 59 ff. 60 Vgl. Schoneweg, Flachsbau, S. 66f.; Rickelmann, S. 48f. 61 Vgl. Mooser, Familie, S. 201 ff. 62 Sombart, Kapitalismus, Bd. 2/2, S. 815. Ein anderes Bild entwickelte dagegen Hans Medick, dem ich in den Grundzügen folge; vgl. Kriedte u.a., Industrialisierung, S. 147ff.; Medick, Kultur, S. 166ff. 63 Gieseler, Über Abschaffung der Feierkleider beim Volke (aus der Grafschaft Ravensberg), in: W A 1805, Sp. 805-809, hier Sp. 809. Die anderen Zitate nach Kriedte u.a., Industrialisierung, S. 138; Schwerz, S. 103f. Weitere Belege für Westfalen: Schwager, Bauer, S. 59f.; Weddigen, Nationalkalender 1800, S. 58; Consbruch, S. 34, 38; Holsche, S. 88; MüllerKönig, S. 118ff. Allgemein zur zeitgenössischen Luxusdiskussion: Krünitz, Bd. 82 (1806), S. 40-94; Gülich, Handel, Bd. 2, S. 437ff.

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Anmerkungen zu Seite 302— 305 64 Zu Kaffee und Alkohol vgl. Consbruch, S. 34; Weddigen, Nationalkalender 1800, S. 62; Rehbein, S. 363ff.; Shorter, S. 539; Medick, Kultur, S. 173ff. 65 Gieseler (wie Anm. 63), Sp. 805. 66 Minden-Ravensbergisches Konsistorium an K D K Minden, 11. 10. 1805, in: S T A M K D K Minden II, 142; ebd. und in S T A M Minden-Ravensbergisches Konsistorium I, 87 noch weitere entsprechende Berichte. 67 Zu den »Gebehochzeiten« - in der Perspektive ihrer polizeilichen Unterdrückung - vgl. S T A D M l IP 970, 971, 972, 973 mit Berichten aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. 1829 wurden die Geschenke verboten und die Feiernden angehalten, das Fest auf den engeren Familienkreis zu beschränken. 68 Über den Zustand unserer Einlieger, in: Vaterländische Blätter, Jg. 1,1843, Sp. 872. Der lippische »Hochzeitsbrief«, der offenbar auch ein Mittel war, die finanziellen Heiratsbeschränkungen zu umgehen, entspricht den minden-ravensbergischen »Gebehochzeiten«, die auch unter den Bauern üblich waren: »Was nun das Geschenkgeben anlangt, so klopft nach vollbrachter Mahlzeit der Hochzeitsbitter mit einem Stock an die Asse ( = Feuerherd, J . M . ) als ein Zeichen zu geben. Ein jeder Gast geht dann zu einem gedeckten Tisch und bringt sein Schärflein. Der Dorfschulmeister aber, der dafür frei mitzehrt, schreibt den Geber und die Summe an.« (Anonym), Beschreibung des Amtes Rahden, S. 263. 69 J. A. Oberndorfer, Theorie der Wirtschaftspolizei oder die sogenannte Nationalökonomik und Staatswirtschaft, auch Volkswirtschaftslehre und Volkswirtschaftspflege genannt, Sulzbach 1840, S. 705. Oberndofer (1792-1871), Sohn eines Metzgermeisters, war Professor in Ingolstadt und München (Vopelius, S. 42f.). 70 Koselleck, Preußen, S. 121 f. 71 Schwager, Bauer, S. 59, 61; vgl. Spannagel, Landesordnung, S. 132 und oben S. 81 f., 188 f. Selbst aus dem Paderbornischen wird berichtet, daß der Bauer in der Zeit hoher Getreidepreise um 1800 »und nach seiner Emanzipation, wenn man sie so nennen darf, mit dem Wohlhabenden seinesgleichen, insbesondere aber gegen Bürger in den Landstädten wetteiferte, sich ebenbürtig und im äußeren Schein und Leben bei vorkommenden Fällen gleichzustellen« (Meyer, Schuldenzustand, S. 10). 72 Pfarrer Wehde an den Amtmann in Gohfeld, 10. 9 . 1 8 3 1 , in: Amtsarchiv Löhne, Nr. 23. 73 Zitat aus einer Denkschrift von 1725 über die kurmärkischen Kaufleute, zitiert nach F. Zunkel, Ehre, in: Brunner u.a. (Hg.), Grundbegriffe, Bd. 2, S. 51, Anm. 302; zum Zitat des märkischen Pfarrers Möller vgl. oben Anm. 19/VI. 74 Zitat: Schwager, Bauer, S. 64; nach Gülich, Ackerbau, S. 123 stellten die jungen Weberburschen und -mädchen den Luxus auch in der Krise nicht ein. Den Sonntagskonsum neben der Werktagsaskese betonte ein Pfarrer aus dem Züricher Oberland, zitiert bei Bräker, Bd. 2, S. 121 f., 128. 75 H. Medick, in: Kriedteu. a., Industrialisierung, S. 141. 76 Vgl. die Hinweise auf die regionalspezifische Verbreitung bestimmter Konsumgüter bei Gülich, Handel, Bd. 3, S. 328. 77 Pfarrer Wehde (wie Anm. 72); ähnlich Schwerz, S. 103. Vgl. Schneer, S. 39 bzgl. Schlesien: »Dieses Leben vom Borgen ist wahrhaft zum Erstaunen. Der Müller, der Bäcker, der Brauer, der Flachshändler, der Garnhändler, alle borgen dieser armen Bevölkerung, deren einzige Hypothek oft allein in den zwei Händen besteht.« 78 Das wirft die Frage nach der Kreditwürdigkeit der Unterschichten bzw. nach den Motiven der kleinen Geldverleiher und Kleinhändler auf, die noch nicht zu beantworten ist. Entwicklung und Funktionen des Kleinhandels sind ein Forschungsdesiderat. Vgl. ein paar Einblicke bei H. Kaiser, Das »Anschreibebuch« einer Landarbeiterfamilie aus Ostfriesland um 1890: Essen und Trinken, Feste und Feiern, in: Ottenjann u. Wiegelmann, (Hg.), S. 205-22. 79 79 Vgl. Medicks Überlegungen in: Kriedte u.a., Industrialisierung, S. 151 ff; ders., Kultur, S. 168f.; damit im Zusammenhang steht womöglich die viel kritisierte mangelnde

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Anmerkungen zu Seite 305—309 Sparneigung. Geldsparen (im Unterschied zum sozialen Sparen) war um 1850 in den Unterschichten zwar nicht unbekannt, aber deutlich weniger verbreitet als ζ. B . bei Bauern und Beamten. Vgl. K. Ditt, »Soziale Frage«, Sparkassen und Sparverhalten der Bevölkerung im Raum Bielefeld um die Mitte des 19. Jahrhunderts, in: W. Conze u.U. Engelhardt (Hg.), Arbeiterexistenz im 19. Jahrhundert. Lebensstandard und Lebensgestaltung deutscher Arbeiter und Handwerker, Stuttgart 1981, S. 516-38, bes. S. 524 ff. 80 Vgl. G. Fabiunke, Martin Luther als Nationalökonom, Berlin/DDR 1963, bes. S. 144ff.; Meyer, Schuldenzustand, S. 31 ff. Eine eindringliche Beschreibung eines Gastwirts, Krämers und »Wucherers« mit »lauernd boshaftem Höllenblick« bei Hebbel, S. 210. Ein Hinweis auf die Funktion des Geldes in sozialen Konflikten bei G. M. Sider, Bande, die zusammenbinden. Kultur und Agrikultur, Eigenheit und Eigentum in der Dorffischerei Neufundlands, in: R. M. Berdahlu. a., Klassen und Kultur. Sozialanthropologische Perspektiven in der Geschichtsschreibung, Frankfurt 1982, S. 108-156, hier S. 139f. 81 LSG Halle, 2. 3. 1823. Eine ähnliche Haltung nahmen auch die Gerichte Minden, Rahden und Herford ein; nur das Bielefelder Gericht schlug einen Schutz der Heuerlinge gegen totale Auspfändungen vor. Die Rg. Minden schloß sich der Mehrheit der Gerichte an. Erst 1843 erging eine V O , daß das Bettzeug von der Pfändung ausgenommen werden solle; alles in: S T A D M l III Ε 180. Vgl. oben Anm. 52. 82 Kaufmann Brune aus Halle an LR Kr. Halle, 29. 1. 1846, in: S T AD M l I U 494, Bl. 210. Zu den Schuldklagen vgl. unten S. 338 f. 83 Zur bäuerlichen Erziehung vgl.: Von der Erziehung des lippischen Landmanns, in: Krünitz, Bd. 79 (1804), S. 408ff.; vgl. J. Schlumbohm (Hg.), Kinderstuben. Wie Kinder zu Bauern, Bürgern, Aristokraten wurden, 1750-1850, München 1983, S. 62 ff. 84 Zitiert nach Peuckert, S. 161. 85 Heuerling Siekmann an Rg. Minden, 24. 11. 1834, in: S T A D M l HI Ε 189, Bl. I f f . (Unterstreichung von mir, J . M.). 86 Vgl. obenS. 289; Mooser, Familie, S. 157ff., 204ff. Hinweise, daß sexuelle Freizügigkeit und Luxus der Jugend von den Eltern geduldet, j a gefördert wurden (vgl. Phayer, S. 158f.; Peuckert, S. 161), erscheinen in diesem Licht fragwürdig. Ein interessantes Detail über Bestrebungen der Eltern, die selbständige Wirtschaft ihrer Kinder in der Kleineisenindustrie zu verhindern, erwähnt W. Schulte, Iserlohn. Die Geschichte einer Stadt, 2 Bde., Iserlohn 1937/38, hier Bd. 2, S. 686, Anm. 1: Im Jahre 1796 bzw. 1798 forderten zwei Väter den Magistrat auf, die Arbeit ihrer Söhne, die zu Konkurrenten geworden waren, zu verbieten. 87 Vgl. auch die Feststellung des Abgeordneten Baumstarck (Greifswald) in der Debatte der Berliner Nationalversammlung über die »Arbeiterfrage«: Auf dem Lande verfalle die Sittlichkeit. »Aber da spricht man von Luxus, das ist der allgemeine Topf, in welchen alles hineingegossen wird, was man nicht erklären kann«. Das »Hauptübel« liege aber in den zu geringen Löhnen; Stenographische Berichte, Bd. 2, S. 832. Zu ähnlichen Dispositionen bei den Beamten vgl. Lüdtke, S. 106 ff. 88 Weber, Wirtschaft, S. 633. 89 Vgl. dazu auch die Überlegungen bei Mooser, Rebellion, S. 5 8 f f ; Beispiele für die genannten Charakterisierungen bei Conze, Pöbel, S. 1 2 4 f f ; Gailus, Politisierung, bes. S. 102ff. 90 Zum Analphabetismus sei hier der Kürze halber verwiesen auf E. Hinrichs, Wieviele Menschen konnten in Deutschland um 1800 lesen und schreiben?, in: Ottenjann u. Wiegelmann (Hg.), S. 85-105. Beispiele für jene Autodidakten sind der Kleinbauer Steinsiek (vgl. S. 354f.) und der schon zitierte Weber Bauschulze; vgl. oben S. 289 und seine Zuschriften in: Öff. Anz. Rav., 1844, S. 4 1 3 f f ; ebd., 1847, S. 394ff. Vgl. Mooser, Rebellion, S. 70ff. 91 Petition an LR Kr. Bielefeld vom 3. 4. 1845 (Abschrift); an Rg. Minden vom 11. 8. 1845 (102 Unterschriften);, an das Finanzministerium vom 29. 9. 1845 (unterzeichnet von Redeker »für sämtliche Heuerlinge«); an den O P in Münster vom 1. 3. 1846 (60 Unterschriften); an den

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Anmerkungen zu Seite 309—3i4

O P v o m 26. 9. 1846 (unterzeichnet von Redeker »namens der sämtlichen Heuerlinge«); an den O P v o m 17. 1. 1847 (84 Unterschriften); alle Petitionen in: S T A M O P 370, Bl. 140-201. Die Regierung M i n d e n erkundigte sich nach der zweiten Eingabe über Redeker und charakterisierte ihn den Recherchen des LR zufolge als M a n n in »ziemlich guten VerögensVerhältnissen«, der sich »zur Erreichung fremder Z w e c k e v o n anderen gebrauchen« lasse (Rg. M i n d e n an O P , 8. 12. 1845, in: ebd., Bl. 154f.). Offensichtlich ist darunter ein Heuerling in relativ guter Lage zu verstehen, denn auch Redeker unterzeichnete als Heuerling. 92 Petition v o m 29. 9. 1843, in: S T A M O P 371. Der handelspolitische Kontext ergibt sich aus einer Reihe anderer Petitionen, die teils sogar von den Kaufleuten angeregt wurden (vgl. Schmidt, Leinen, S. 148ff.). Vgl. auch die Gruppenpetitionen aus sieben Gemeinden in den Kreisen M i n d e n und Lübbecke v o m April 1843 (in: S T A D M l IG 295), die die Forderung nach Verhandlungen mit Frankreich zur Senkung des französischen Eingangszolls unbeholfener, aber weniger devot äußerten: »In nichtgeschehungs fall Sehen wir uns gezwungen an unser Steuer Behörde unsere Abgaben in Leinen oder Leinengarn Statts Cassa zu ergeben.« 93 Z u Nachweisen f u r das Folgende vgl. A n m . 91. 94 Vgl. dazu auch oben S. 165. 95 Vgl. Rg. Minden, 13. 8. 1846 u. 3. 11. 1846, in: S T A M O P 370, Bl. 1 6 0 f „ 195f. Die G r ü n d e fur die ablehnende Haltung der Bauern gehen daraus nicht deutlich hervor. Nach der G e m e i n d e o r d n u n g v o n 1841 konnten Änderungen bei der Kommunalsteuer, die in F o r m von »Zuschlägen« zur staatlichen Klassensteuer erhoben wurde, nur mit Z u s t i m m u n g der Gemeinden v o r g e n o m m e n werden. Eine v o n diesen Verhandlungen unabhängige teilweise Befreiung v o n der Klassensteuer erfolgte durch zwei K O ' s v o m 13. 3.1846 und 17. 4.1847. Die erste К О befreite die Feldzugsteilnehmer v o n 1813-1815 von der Klassensteuer, sofern die Steuerpflichtigen auf der untersten Steuerstufe eingeschätzt waren; die zweite К О verallgemeinerte diese Befreiung fur alle Steuerpflichtigen dieser Stufe, allerdings nur f u r drei Monate; vgl. A B M 1846, S. 87; A B M 1847, S. 135. U n t e r U m s t ä n d e n haben diese Erlasse die Bauern v o n Schildesche in ihrer Haltung bestärkt. Daneben waren sie möglicherweise auch deshalb zurückhaltend, weil sie mit d e m Landwirtschaftlichen Verein des Kr. Bielefeld schon seit 1842 ein anderes Projekt verfolgten, nämlich ein Armen-Arbeitshaus auf der Schildescher Heide, das der Erziehung v o n angeblich arbeitsscheuen A r m e n u n d der Vorbeugung v o n »Auftritten« wie in Schlesien 1844 dienen sollte. Dieser Plan, dessen repressive Intention als ein Pendant zu d e m Heepener »Verein für Rechtschaffenheit und Sittlichkeit« (vgl. oben S. 277ff.) zu sehen ist, scheiterte j e d o c h an den Kosten und der ablehnenden Haltung der Rg. Minden. Vgl. das Schreiben des Landwirtschaftlichen Vereins an O P , 19. 3. 1846; Berichte der Rg. Minden, 18. 3. 1845 u. 10. 7. 1846, alles in: S T A M O P 370, Bl. 169-88. 96 Vgl. zur Interpretation der Petitionen im Kontext der Erweckungsbewegung: Mooser, Religion, S. 3 1 7 f f ; zur scharf b e w u ß t e n Distanz zum B ü r g e r t u m vgl. auch Mooser, Rebellion, S. 77; zu den D e m o k r a t e n und Sozialisten vgl. Schulte, S. 218 ff. 97 So in der Petition an die Rg. Minden, 1 1 . 8 . 1845, in: S T A M O P 370, Bl. 147. 98 Petition v o m 17. 3. 1847, in: S T A M O P 1042, Bd. 1, Bl. 3 8 5 f f „ alle folgenden Zitate daraus; vgl. auch oben S. 174f. 99 Vgl. zu dieser Konstellation Koselleck, Preußen, bes. S. 398ff. Lüdtke, »Gemeinwohl«, passim. 100 Vgl. zu diesem Zusammenspiel Μοοκτ, Religion, S. 309ff.;allgemeins. W. O. Shanahan, Der deutsche Protestantismus vor der sozialen Frage 1815-1871, München 1962. 101 Steinbach, S. 154. 102 Ich folge hier der Interpretation der deutschen Arbeiterbewegung durch Moore, Injustice, S. 119ff.

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Anmerkungen zu Seite 315—324 IX. Pauperismus und Armutserfahrungen im 18. Jahrhundert und im Vormärz 1 Eingabe des »Oeconom« Bruhne u. a., 26. 2. 1831, ST AM O P 550, Bd. 1; zum Armutsbegriffvgl. ζ. B. Engelsing, S. 14f.; Koselleck, Preußen, S. 482f. 2 Engelsing, S. 15; vgl. Hebbel, S. 21 Iff. 3 Zur Pauperismusliteratur vgl. die Auszüge bei Jantke u. Hilger; Kuczynski, Literatur. Z u ihrer Interpretation unter mentalitätsgeschichtlichem Aspekt vgl. Fischer, Armut, S. 56ff.; ders., Soziale Spannungen in den Frühstadien der Industrialisierung, in: ders., Wirtschaft, S. 224ff. 4 Vgl. dazu die Quellen in L. Kroneberg u. R. Schlosser, Weber-Revolte 1844. Der schlesische Weberaufstand im Spiegel der zeitgenössischen Publizistik und Literatur, Köln 1980. 5 Rentmeister Fischer, 16. 10. 1809, S T A M Regierungskommission Bielefeld 25, Bl. 14; vgl. Anhang 28. 6 Vgl. D. Dowe, Methodologische Überlegungen zum Problem des Hungers in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: W. Conzeu. U. Engelhardt (Hg.), Arbeiterexistenz im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1981, S. 202-34; Thompson, Working Class, S. 233f., 256. 7 Vgl. Lüning, S. 504f., 509ff. 8 Laer, Protoindustrialisierung, S. 58 ff, Tabelle XVI. 9 W D , Jg. 1,1845, S. 345; Zeitungsbericht Rg. Minden, 7. 2. 1835, STAM O P 351, Bd. 5, Bl. 173. 10 Bitter, S. 12. 11 Für die Jahre 1830,1840,1850: JWitzen, Bd. 3, S. 435; sonst: ST A D M l ISt 58. 12 Vgl. die Zeitungsberichte der Rg. Minden in den 1840er Jahren, STAM O P 351, Bd. 7; Zitat ebd., Bl. 81. Im übrigen fehlen Beschreibungen des Pauperismus in keiner landesgeschichtlichen Untersuchung; vgl. fur viele Schulte, S. 1 2 4 f f ; Domeyer, passim. 13 Vgl .Jantke u. Hilger, S. 7 f f ; Köllmann, Bevölkerung, S. 61 ff. 14 Conze, »Pöbel«, S. 113f. Zur Armut vor 1800 vgl. V. Hunecke, Überlegungen zur Geschichte der Armut im vorindustriellen Europa, in: GG, 9. Jg., 1983, S. 480-512. 15 F. Engels, Die Lage der arbeitenden Klassen in England, M E W Bd. 2, S. 238. 16 Abel, Massenarmut, bes. S. 2 6 7 f f , 305ff., Zitate S. 302, 399. Eine gleiche Verortung auch bei Fischer, Armut, bes. S. 62. Vgl. als Überblick auch F. D. Marquardt, Pauperismus in Germany during the Vormärz, in: Central European History, Bd. 2, 1969, S. 77-88. Eine wichtige Differenzierung zwischen »vorindustriellem« und »industriellem« Pauperismus (die hier jedoch nicht im Zentrum steht) bei F. W. Henning, Humanisierung und Technisierung der Arbeitswelt. Über den Einfluß der Industrialisierung auf die Arbeitsbedingungen im 19. Jahrhundert, in: J. Reulecke u. W. Weber (Hg.), Fabrik, Familie, Feierabend. Beiträge zur Sozialgeschichte des Alltags im Industriezeitalter, Wuppertal 1978, S. 57-88, hier S. 66 ff. 17 Justi, Bd. 2, S. 403f., vgl. ebd., S. 408. 18 Kriedteu.a., Industrialisierung, S. 164. 19 Bodemer, S. 65; zu Bodemer vgl. Kuczynski, Literatur, S. 11. 20 Krug, Bd. 2, S. 217 f. 21 Vgl. Abel, Massenarmut, S. 2 0 9 f f ; Kriedteu.a., Industrialisierung, S. 1 8 6 f f , 191 (Zitat), 246f. Vgl. auch das Lob der Proto-Industrie bei Krünitz, Bd. 76 (1803), S. 629f. Vom Spinnen und Weben würden indirekt viele gewinnen. »Wenn auch nicht alle ganz hiervon leben, so haben sie doch immer einen beträchtlichen Teil ihres Unterhalts davon. Die große Staatsmaschine wird dadurch bis in ihre entferntesten Zweige belebt, und es trifft das Land seltener Hungersnot und Theuerung als sonst, weil jeder arbeitet und jeder verdient.« 22 Vgl. Kriedteu.a., Industrialisierung, S. 247ff. 23 Bodemer, S. 12, 42, 51. 24 Benzenberg, S. 17, 20. 25 Vgl. den Bericht des Amtmanns von Petershagen (Kr. Minden), Januar 1806: »Manche

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Anmerkungen zu Seite 324—329 Familien gibt es auch, die schlechterdings nicht im Stande sind, bei Anwendung ihres äußersten Fleißes so viel zu erwerben, als ihr Brodbedarf erfordert. Bisher haben diese noch zur Zeit ihren Hunger durch Kartoffeln, die sie Morgens, Mittags und Abends, bloß mit Salz gekocht, genießen, gestillt, allein damit wird es auch bald ein Ende nehmen«, weil die Kartoffelernte schlecht ausgefallen war und die Vorräte infolge des nassen Winters verfaulten; mangels eines Kellers wurden sie nämlich in der Erde gelagert. Ähnliches berichtete 1806 der Amtmann von Schildesche (ST A M KDK Minden II, 3, Bd. 24, Bl. 208 f f , 226f.). Der kompensierende Effekt einer guten Kartoffelernte in Jahren der Getreideteuerung wird erwähnt in: Mindensche Anzeigen 1800, N r . 14, Sp. 344; Neues aus der Cronik Gohfelds, in: Rav. Bll., Jg. 23, 1923, S. 36 (fur 1817/18). Allgemein: Gülich, Handel, Bd. 2, S. 339; Abel, Massenarmut, S. 365f.; zum U m f a n g des Kartoffelanbaus vgl. oben S. 55. 26 Angaben in den monatlichen Zeitungsberichten der Rg. Minden, ST A M O P 351, Bd. 7, besonders: 7. 12. 1843 (Bl. 163); 4. 12. 1845 (Bl. 301); 8. 10. 1847 (Bl. 359f.); 7. 4. 1847 (Bl. 395); 7. 7. 1847 (Bl. 406); 7. 10. 1847 (Bl. 434). Allgemein zur Krise der 1840er Jahre: K. Obermann, Wirtschafts- und sozialpolitische Aspekte der Krise von 1845-1847 in Deutschland, insbesondere in Preußen, in: Jb. f. Geschichte, Jg. 7, 1972, S. 141-74; J. Bergmann, ö k o n o m i sche Voraussetzungen der Revolution von 1848. Z u r Krise von 1845 bis 1848 in Deutschland, in: ders. u.a. (Hg.), Geschichte als politische Wissenschaft, Stuttgart 1979, S. 24-54. 27 Kriedte u.a., Industrialisierung, S. 309ff., ZitateS. 312, 320. 28 Crone, S. 15ff.; Haxthausen, Agrarverfassung, S. 255; Tönsmeyer, S. 192; vgl. die Getreidepreisentwicklung in Anhang 5, 6. 29 Magistrat der Kleinstadt Lübbecke, 25. 5. 1795, S T A M KDK Minden II, 3, Bd. 15, Bl. 75. Die anderen Aspekte ebenfalls nach den Zeitungsberichten an die K D K Minden, insbesondere: Z u f u h r von 4300 Scheffel Roggen im Juni 1799 (ebd., Bd. 19, Bl. 131); Zufuhr von 1000 Scheffel Roggen im Januar 1805 nach Hausberge und Reineberg (ebd., Bd. 24, Bl. 8). v. Stein, Bd. 1, S. 513. 30 Zeitungsbericht des Amtmanns von Schildesche, 17. 1.1806, STAM K D K Minden II, 3, Bd. 24, Bl. 208ff.; Chronik Schildesche, Bl. 7f.; Zeitungsbericht des Amtmanns des Amtes Ravensberg, 2. 2. 1807, STAM KDK Minden II, 3, Bd. 25, Bl. 201. 31 Protokoll, 26. 3. 1832, S T A M O P 3 7 0 , Bl. 57 ff. 32 Jahresverwaltungsbericht der Rg. Minden für 1831, ST A D M l Pr. 20, Bl. 214fT. 33 Bitter, S. 31. 34 Zusammengestellt nach der Beilage zu dem in Anm. 31 genannten Protokoll. 35 H K Bielefeld 1849/50, S. 10. 36 Chronik der Gemeinde Schildesche, passim, Zitat Bl. 104; Chronik der Gemeinde Heepen, passim. 37 1835 berichtet die Heeper Chronik (Bl. 39): »Das gute Garn wird von den Leinewebern sehr gesucht, auch fehlt es an gutem Flachs. Die Spinner erhalten nur 7 Pfund fur 1 Taler und machen denselben nicht gehörig rein, um recht viel Garn daraus zu spinnen. Sie werden auch durch die starke Nachfrage veranlaßt, schlechter zu spinnen. Es liegt hiernach nicht immer an den Handelsconjunkturen, wenn der Leinenhandel schlechter geht, sondern er verschlechtert sich durch die Waare.« 38 Stadtdirektor Consbruch an KDK Minden, 11. 12. 1789, STAB С 7 , 1 . 39 LR Kr. Bielefeld, 26. 2. 1820, STAD M l IS 3, Bl. 18. 40 Vgl. STAD M l IS 3, bes. LR Kr. Herford, 6. 2.1820; LR Kr. Bünde, 24. 2.1820; LR Kr. Bielefeld, 26. 2. 1820; LR Kr. Herford, 26. 2. 1820; Protokoll der Konferenz, 17. 2. 1820. 41 Fortlaufende Hinweise auf Unterstützungen finden sich neben den Spezialakten insbesondere in den Zeitungsberichten der Rg. Minden. Knappe Darstellungen bei Mooser, Gleichheit, S. 255ff.; Lüdtke, S. 363ff. Die vielfältigen gesellschaftlichen und politischen Aspekte der Armen- und Krisenunterstützung während des Vormärz und der Revolution, in der sie stark ausgeweitet wurde, verdienten eine nähere Untersuchung.

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Anmerkungen zu Seite 329— 333 42 LR Kr. Herford, 26. 3. 1820, STAD M l IS 3, Bl. 22; LR Kr. Halle, 17. 2. 1820, ebd., Bl. 47. 43 Protokoll der Konferenz v o m 17. 2. 1820, ebd., Bl. 29; ebd., Bl. 41 ff. Schema der Statistik. In keiner der irgendwie die Lage der Heuerlinge betreffenden und überlieferten Akten der Rg. Minden findet sich ein Hinweis, daß eine entsprechende Erhebung durchgeführt wurde. 44 Vgl. allgemein F.-W. Henning, Die sachliche Umwelt der unterbäuerlichen Bevölkerung des 18. Jahrhunderts als Ausdruck ihrer sozialen Lebenslage, in: M. Agulhon u. a., Ethnologie et Histoire. Forces productives et problemes des transition, Paris 1975, S. 485-500. 45 Consbruch, S. 33; ähnlich Schwager, Bauer, S. 53; Schwerz, S. 342f.; allgemein Teuteberg u. Wiegelmann, Nahrungsgewohnheiten, S. 64ff. 46 Consbruch, S. 33f., 36; vgl. Teuteberg u. Wiegelmann, S. 91. 47 Schwerz, S. 321; zur Viehhaltung vgl. oben S. 57 ff. 48 Das Defizit zwischen Einnahmen und Ausgaben einer Heuerlingsfamilie (vgl. Anhang 28) wurde mit dem Verkauf von Butter und Eiern gedeckt. »Beides könnte ein Heuerling sehr gerne selbst konsumieren, allein dann ist es platterdings nicht möglich, daß er seine Ausgaben deckt.« Rentmeister Fischer, 16. 10. 1809, ST A M Regierungskommission Bielefeld 25, Bl. 30f. 49 Immediateingabe des Abgeordneten Ludovici aus Brakel, 1828, zit. Roebers, Provinzialstände, S. 70. Z u m unterschiedlichen sozialen Prestige von Kartoffeln bzw. Fleisch s. auch Thompson, Working class, S. 348 f. 50 (Anonym), Grafschaft Ravensberg. Uber Übervölkerung, in: WA 1804, Sp. 346. Ähnlich Schwager, Bauer, S. 60f., dessen Ausführungen auch zitiert werden bei Teuteberg u. Wiegelmann, Nahrungsgewohnheiten, S. 315 ff. 51 (Anonym), Über den in der Grafschaft Ravensberg eingerissenen Holzmangel, in: WA 1801, Sp. 115f. Der Autor empörte sich über diesen »Luxus«, da die Zubereitung des Pickerts eine große Hitze erfordere, die einen »verschwenderischen« Holzverbrauch nötig mache und so den Holzdiebstahl vermehre. 52 Vgl. Teuteberg u. Wiegelmann, Nahrungsgewohnheiten, S. 236ff 53 Vgl. die Beschreibungen bei Bitter, S. 11; Gülich, Ackerbau, S. 114 ff; Laer, Materialien, S. 57 f. 54 Gülich, Ackerbau, S. 124f. Ein recht optimistisches Bild der Lebenshaltung der Landarbeiter im Kr. Höxter während der 1840er Jahre zeichnet dagegen in der Erinnerung der Arzt Wilhelm von Waldeyer-Hartz, Lebenserinnerungen, Bonn 1920, S. 18f. 55 Zit. nachJostes, Trachtenbuch, S. 76. 56 Zeitungsbericht des Amtmanns von Brakel, 24. 4. 1830, STAD M2 Höxter 33, Bl. 69f. 57 Auszug aus dem Zeitungsbericht des LR Kr. Warburg, Februar 1826, STAD M l IL 94, Bl. 47ff.; O L G Paderborn, 3. 5. 1826, ebd., Bl. 51f., das den die Mindener Regierung erschreckenden Bericht des LRs bestätigt. 58 In den 1830er Jahren wurden folgende Erleichterungen eingeführt: Verbot der Pfändung von Naturalien in der Saat- und Erntezeit, Senkung der Reise- und Zehrkosten für Gerichtsbeamte und Zeugen (STAD M l IL 94). Vgl. oben S. 118 f. 59 Auszug aus dem Jahresbericht des Direktors des LSG Warburg, 6. 1. 1846, STAD M l Pr. 478, Bl. 8 f. 60 Bitter, S. 57. 61 Vgl. S T A D M l ISt 14, insbes. die detaillierte Übersicht über die Reinerträge, Schulden, Abgaben und Steuern von 42 so unterstützten Bauern im Kr. Minden (Zusammenstellung des LR Kr. Minden, 26. 4. 1846). 62 S. oben S. 178 ff. Beispiel aus der Stadt Herford in: W D , Jg. 3, 1847, S. 540; vgl. auch ebd., S. 151 ff. zur Armut der Volksschullehrer in Bielefeld. 63 Schreiben des Vereins an O P , 28. 10. 1848, ST A M O P 1042, Bd. 2, Bl. 7f.

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Anmerkungen zu Seite 333—340 64 Rentmeister Fischer, 16. 10. 1809, ST AM Regierungskommission Bielefeld 25, Bl. 15. 65 Schwager, Bauer, S. 56. 66 Consbruch, S. 140f. 67 Lüning, S. 498. Vgl. Bitter, S. 13f.; G. Weerth, Die Armen in der Senne (1845), in: ders., Werke, 2 Bde., Berlin/DDR u. Weimar 1974, hier Bd. 1, S. 101-107. 68 Lüning, S. 498 f. 69 Vgl. ζ. B. R. Virchow, Die N o t im Spessart. - Mitteilungen über die in Oberschlesien herrschende Typhus-Epidemie (1852 bzw. 1849), N D Hildesheim 1968. Überblick: D. Blasius, Geschichte und Krankheit. Sozialgeschichtliche Perspektiven der Medizingeschichte, in: GG, Jg. 2, 1976, S. 386-415. Grundlegend jetzt U. Frevert, Krankheit als politisches Problem 1770-1880. Soziale Unterschichten in Preußen zwischen medizinischer Polizei und staatlicher Sozialversicherung, Göttingen 1984. Zur demographischen Reaktion auf die Krise vgl. oben S. 90f. 70 Vgl. unten S. 339, Tabelle 26. 71 Diese Beispiele nach ST A D M9 Herford 42, Bl. 36 ff., 222 ff; STAD M 9 Bielefeld 2, Bl. 201 ff. 72 Gülich, Ackerbau, S. 120; LR Kr. Bünde, 24. 2. 1820, STAD M l IS 3, Bl. 16; Marcard, S. 776. 73 Vgl. ST A M O P 370, Bl. 76 f. (Schätzungen im Jahre 1831). 74 Amt Versmold, Protokoll 9. 3. 1839 und Aktenvermerk 19. 3. 1839, S T A D M 2 Halle, A m t Versmold 1018. 75 Eingabe v o m 1. 3. 1846, S T A M O P 370, Bl. 158. 76 Schmidt, Leinen, S. 148; WD, Jg. 3, 1847, S. 541 f.; Protokoll der Heuerlingskonferenz v o m 26. 3. 1832, S T A M O P 370, Bl. 64. 77 1826-28, also noch vor den Teuerungsjahren, betrug die Zahl der Prozesse bei sämtlichen Untergerichten des OLG-Bezirks Paderborn 186898. Davon waren 164182 ( = 88%) »Schuldklagen aller Art«, die sich nach den Beträgen, die Gegenstand des Prozesses waren, wie folgt aufteilten: 132614 Klagen über Beträge unter 20 Rt (= 81%), 19399 Klagen über Beträge zwischen 20-50 Rt (= 12%) und 12169 Prozesse über Beträge von mehr als 50 Rt (= 7%). Vgl. Anlage zu Vinckes Bericht an das Innenministerium, 1. 12. 1831, S T A M O P 370, Bl. 29. 78 So Vincke, Bericht an das Innenministerium, 1. 12. 1831, S T A M O P 370, Bl. 25f., vgl. Mooser, »Furcht«, S. 65. 79 Zusammengestellt nach Berichten der Direktoren des LSG Bünde (14. 4. 1831) bzw. Büren (6. 8. 1831), S T A M O P 370, Bl. 5 ff. 80 Statistische Darstellung des Kreises Herford 1865, als Ms. gedruckt Herford o. J., in: Kreisarchiv Herford Nr. 200. Unterstreichung von mir, J. M. 81 Kriedte u.a., Industrialisierung, S. 310. 82 So wird noch in den 1880er Jahren aus dem Paderbornischen berichtet: »Durch Ausführung der Separationen sind die früher so schädlichen Gemengelagen fast überall beseitigt und existiert ein Flurzwang nirgends mehr. Gemeinheiten sind jedoch noch vielfach, auch selbst in separierten Gegenden vorhanden, wo gemeinschaftliche Weideplätze reserviert sind. Eine Stütze fur den kleinen Bauer und Tagelöhner sind sie unbedingt; leider aber finden sich viele ohne jegliche Pflege, und schwer hält es, die Gemeinden zu überzeugen, daß durch richtig angewandte Meliorationen die Nutzung bedeutend gesteigert werden könnte.« (Anonym), Bäuerliche Zustände, Bd. 2, S. 19. 83 Vgl. Kamphoeßter, bes. S. 5 7 f f , 1 5 6 f f ; Zahlen über Auswanderung in Anhang 33 und oben S. 85. Z u m Widerstand gegen die Maschinenspinnerei vgl. oben S. 174ff. und unten S. 360f.

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Anmerkungen zu Seite 341—356 X. Konservative

Unterschichten und Revolution

1 Nach einer Formulierung von M. Aymard, Korreferat, in: Bulst u.a. (Hg.), S. 217. 2 Koselleck, Preußen, S. 528. 3 Bitter, S. 36. 4 Ebd., S. 23. 5 Medick, »Freihandel«, S. 278. 6 So 1842 der O P Vincke, vgl. Anm. 121/VII. 7 Immediateingabe des Friedrich Wilhelm Steinsiek, 26. 2. 1839, in: S T A M O P 702. Zur Erweckungsbewegung vgl. Mooser, Religion; zur katholischen Parallele: W. Schieder, Kirche u. Revolution. Zur Sozialgeschichte der Trierer Rockwallfahrt von 1844, in: AfS, Bd. 14, 1974, S. 419-55. Eine stark mobilisierende Rolle fur den politischen Katholizismus spielte das »Kölner Ereignis«, der Mischehenstreit in den späten 1830erjahren. Vgl. F. Keinemann, Das Kölner Ereignis, sein Widerhall in der Rheinprovinz u. in Westfalen, Münster 1974. Vgl. ferner Reif, Adel, S. 435 ff. 8 Das Folgende ist ein gedrängter Essay, der aus der vorliegenden Studie für das regionale wie überregionale Revolutionsgeschehen einige Schlußfolgerungen zu ziehen sucht. Sein vorläufiger Charakter gründet auch darin, daß der hier akzentuierte Konservatismus bzw. die Allianz verschiedener Konservatismen in der Revolution im allgemeinen noch kaum erforscht ist, es andererseits aber nicht ausreicht, diesen bloß als eine regionale Eigenart darzustellen. Die Revolution war trotz ihrer vielen Spaltungen ein zusammenhängender Prozeß, der auf die Region zurückwirkte. Zum Forschungsstand sehr instruktiv: D. Langewiesche, Die deutsche Revolution von 1848/49 und die vorrevolutionäre Gesellschaft: Forschungsstand und Forschungsperspektiven, in: AfS, Bd. 21, 1981, S. 458-98; zur allgemeinen Interpretation der agrarischen Bewegungen: Dipper, Bauernbefreiung, S. 154ff. Zu den Protesten und Bestrebungen der proto-industriellen Unterschichten in der Revolution gibt es m. W. keine übergreifende und zusammenfassende Darstellung. Im folgenden werden nur noch exemplarische Belege angegeben; grundlegende Quellen und Schriften für das regionale Revolutionsgeschehen: Schulte; R. Kohl; Herford 1848, in: J B H V R , Jg. 44, 1930, S. 1 - 1 0 9 ; Renk (eine so abgelegene wie exakte Darstellung); zu den Zeitungen vgl. v. a. Volksfreund; Mindener Sonntagsblatt 1848/49; für die Märzunruhen stütze ich mich ferner u. a. auf folgende Aktenbestände: S T A M O P 492, 684, 693; S T A D M l IP 533; M l III В 102; M l III С 204; M 2 Bielefeld 418. 9 Zu den Unruhen in Nordwestdeutschland, die Dipper, Bauerbefreiung, S. 154 ff. nicht erwähnt, vgl. Gailus, Politisierung, S. 90, lOOff. und die dort angegebene Literatur; ferner: Wrasmann, II, S. 102ff.; Husung, Protest; Plaul, S. 315ff.; Schildt, S. 207fF. In Braunschweig, wo sich ähnliches wie in Minden-Ravensberg zwischen Bauern und Heuerlingen abspielte, forderten am 28. März 1848 Bauern aus 34 Gemeinden die »schleunige Bewaffnung der Grundbesitzer«, erhielten aber keine Militärwaffen. In Minden-Ravensberg, wo über eine ähnliche Massenpetition nichts bekannt ist, wurden hingegen im Mai/Juni an einige ländliche »Sicherheitsvereine« 30 bis 50 Gewehre verteilt, der Sicherheitsverein von Brackwede bei Bielefeld hatte sogar 100 gefordert (vgl. S T A D M l Pr. 380). 10 Vgl. die Verhandlungen der Kreissynode Bielefeld 1848/49, in: S T A D M l II A 50; zu den dahinterstehenden, noch nicht erforschten apokalyptischen Strömungen vgl. die Skizze von W. H. Riehl, Volkstümliche Mystik der Revolution, in: ders., Land und Leute, Stuttgart 1894', S. 343-52. 11 Zu den Wahlergebnissen 1848: Schulte, S. 183ff.; H. Hüffinann, Zur Geschichte der politischen Parteien im Kreise Herford im 19. Jahrhundert, in: 100 Jahre Landkreis Herford, Herford 1966, S. 60; D. J. Mattheisen, Die Fraktionen der preußischen Nationalversammlung von 1848, in: K. Jarausch (Hg.), Quantifizierung in der Geschichtswissenschaft, Düsseldorf 1976, S. 149-67, bes. S. 156; für 1849 vgl. die LR-Berichte in: S T A D M l Pr. 256. 12 Zum preußischen Wahlrecht vgl. Botzenhart, S. 132ff. Über die Handhabung jener

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Anmerkungen zu Seite 3S7—359 Klauseln in Preußen ist wenig bekannt; generell schätzt Botzenhart, daß durch sie bis zu 25% der volljährigen Männer vom Wahlrecht ausgeschlossen wurden (ebd., S. 140f., 156). Hinweis auf eine restriktive Anwendung durch eine plötzlich großzügige Armenunterstützung: Tennstedt, S. 152. Über die Wahlbeteiligung in Preußen ist im allgemeinen nichts bekannt. In Württemberg z.B. lag sie bei der Frankfurter Wahl bei über 75%, in Sachsen und selbst in Leipzig nur bei 40%. Die einzigen auffindbaren Angaben aus dem Untersuchungsgebiet weisen auf große lokale Unterschiede hin. Im Kr. Büren beteiligten sich im Mai 1848 durchschnittlich 45% an den Urwahlen, in manchen Gemeinden aber nicht viel mehr als 10% (STAD M2 Büren 954). Im Januar 1849 beteiligten sich im Kr. Lübbecke 39% der Urwähler an der Wahl zur 2. Kammer (LR Kr. Lübbecke, 23. 1. 1849, in: ST AD M l Pr. 256, Bl. 94). 13 So der Abgeordnete Uhlich in der Berliner Nationalversammlung bezüglich eines Auftritts von Einliegern bei den Wahlen im Magdeburgischen; Stenographische Berichte, Bd. 2, S. 833 (Sitzung v. 16. 8. 1848); vgl. Plaul, S. 317. 14 Eingabe des Bauern Langhorst aus Frotheim (Kr. Minden), 23. 1.1849, in: ST AD IL 32. Zum Wahlverhalten von (Halb-)Analphabeten vgl. H. Brandt, Politische Partizipation am Beispiel eines deutschen Mittelstaates im 19. Jahrhundert. Wahlrecht und Wahlen in Württemberg, in: P. Steinbach (Hg.), Probleme politischer Partizipation im Modernisierungsprozeß, Stuttgart 1982, S. 135-55. 15 Vgl. dazu auch Tennstedt, S. 103 ff., derjene Situation für die Arbeiterbewegungen in den Städten vor Augen hat und die »Distanz nach unten« in Borns »Arbeiterverbrüderung« betont. 16 Bekanntlich haben Konservative schon früh den Kapitalismus radikal kritisiert. Ein Mitglied der preußischen »Kamarilla«, E. L. v. Gerlach, schrieb im Juli 1848 in einem Zeitungsartikel: »Die arbeitenden Klassen mahnen mit Recht daran, daß sie Menschen und keine Maschinen sind, wozu die Industrie nicht übel Lust hätte, sie zu machen. Freilich gären Sünden und Laster aller Art, besonders die revolutionären Sünden des Tages, genährt und vergiftet von arglistigen Führern in diesen unglücklichen Massen, denen nur durch Zucht, die man sie hassen lehrt, zu helfen ist; aber das darf uns nicht abhalten, die tiefe Wahrheit und Berechtigung ihrer Assoziationsbestrebungen, überhaupt ihrer Reaktion gegen die anarchische Gewerbefreiheit und die unbarmherzige Industrie freudig zu begrüßen.« Zit. nach M. Seidel, Die Anfange der katholischen und protestantischen sozialen Bewegung im Vormärz mit besonderer Berücksichtigung Preußens und des Mittelrheins. Eine vergleichende Studie, Hamburg 1970, S. 151. Der aristokratische Gestus sollte nicht davon ablenken, daß diese Rhetorik 1848 populär war. 17 Insofern ist hier von »Konservatismus« immer i. S. einer wissenschaftlichen Kategorie ex post und nicht i. S. eines zeitgenössischen »Begriffs« die Rede. Zur BegrifFsgeschichte vgl. R. Vierhaus, Konservativ, Konservatismus, in: Brunner u.a. (Hg.), Grundbegriffe, Bd. 3, S. 531-65. Zu einem Zeugnis der Selbstbezeichnung aus Minden-Ravensberg vgl. die von der Evangelischen Kirchenzeitung verbreitete Rede des bäuerlichen Abgeordneten Dallmann im Fabruar 1849, deren politische Pointe sich auf »Gott«, »König von Gottes Gnaden« und Eigentum reimt, in der das Wort »konservativ« bzw. »Konservatismus« jedoch nicht vorkommt (Kaeller, S. 66f.). Das von Schulte, S. 355ff. gekürzt abgedruckte Flugblatt »Was wollen wir Conservativen? Ansprache an die Urwähler Minden-Ravensbergs« (so der Originaltitel, vgl. Kopie in: STAB Bibl. Nr. G 500/5) wurde von Schulte fehldatiert. Das von ihm auf den Mai 1848 bezogene Flugblatt kann aufgrund seines Inhalts nur aus der Zeit des preußischen Heeres- und Verfassungskonflikts, wahrscheinlich aus dem Wahlkampf im Juli 1866 stammen (vgl. Kaeller, S. 95). Wohl stimmt die Grundintention mit der Haltung von 1848 überein, aber die einzelnen Ausführungen können sich nicht auf den Mai 1848 beziehen. So ist ζ. B. von einem damals nicht existierenden »Abgeordneten-« und »Herrenhaus« die Rede oder vom »seligen Minister Raumer«, der von 1850 bis 1858 preußischer Kulturminister war und 1859 gestorben ist! 18 Vgl. Anhang 34. Die Tabelle wurde erstellt nach den Verzeichnissen der an die Berliner Nationalversammlung »eingegangenen« Petitionen, die dem stenographischen Protokoll bei-

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Anmerkungen zu Seite 359—363 gefugt sind. Sie nennen auch knapp Verfasser und Themen der Eingaben, manchmal auch den Abgeordneten, über den sie eingereicht wurden. Die thematische Klassifizierung kann daher nur eine grobe sein. Die zahlreichen Petitionen nach Berlin sind nicht mehr erhalten. Die Ausführungen im Text über ihren Inhalt stützen sich auf Abschriften bzw. Entwürfe in den lokalen Archiven, Beilagen zu den Verwaltungsakten und die in den Zeitungen gedruckten Petitionen. 19 Zit. nach Tennstedt, S. 110. 20 »Antrag der Heuerlinge im Amt Heepen«, undatiert, ca. März 1848, mit 69 Unterschriften aus der Bauerschaft Sieker (davon 6 durch Kreuze), in: STAB Amt Heepen, Fach 32, Nr. 6. Vgl. auch oben S. 206. 21 zu den Zielen der Spinner und Weber: »Gehorsamste Bitte der Spinner und Weber in der Grafschaft Ravensberg und der angrenzenden Kreise um kräftigen Schutz der Leinenfabrikation aus Handgespinnst gegen die Concurrenz mit der Fabrikation aus Maschinengarn«, undatiert, in: STAB Amt Schildesche, Nr. 521 b, Bl. 70ff. (eine Petition dieses Titels ging an die Berliner Nationalversammlung; vgl. Stenographische Berichte, Bd. 3, Nr. 2042 der Petitionenliste); Protokoll einer Konferenz über die Probleme des Leinengewerbes am 3./4. 11. 1848 in Bielefeld, in: S T A M O P 1042, Bd. 2, Bl. 19ff. Diese Konferenz versammelte wie ähnliche Veranstaltungen in früheren Jahren Kaufleute und Beamte, nun aber auch Bauern, Spinner und Weber. Das Protokoll läßt die Spannungen nur indirekt erkennen, hauptsächlich in der hinhaltenden und ausweichenden Argumentation der Kaufleute; zur Haltung der Spinner und Weber sehr deutlich: Denkschriften der Wahlmänner (s. Quellenverzeichnis); zur Mitverwaltung im Gnadenfonds vgl. STAD M l IU 528; zur Handelsgenossenschaft und Assoziation: Volksfreund, 27. 4. 1849, S. 72f.; Ditt, S. 51 f. Z u den Gemeinsamkeiten zwischen Wirtschaftsbürgern und Unterschichten in der Schutzzollfrage grundlegend: Best. Allerdings zeigt die regionale Verteilung der Handelspetitionen nach Frankfurt (Best, S. 192ff.), daß alle preußischen Provinzen in dieser Petitionsbewegung nur schwach vertreten waren. Aus Ravensberg beteiligten sich offensichtlich nur einige Bielefelder Kaufleute (ebd., 94ff.). Best unterschätzt im übrigen die der gemeinsamen Forderung zugrundeliegenden möglichen unterschiedlichen Begründungen, die dann doch die »Klassenlinie« stärker hervortreten lassen. In der oben zit. »gehorsamsten Bitte . . .« wurde ausdrücklich ein sozialer Schutzzoll verlangt: »nicht aus Sorge u m bessere Rentabilität eines veranlagten Capitals, sondern der Notschrei einer sehr zahlreichen Bevölkerung, deren Existenz ohne einen solchen Schritt in die höchste Gefahr gerät.« 22 Huchzermeyer an OP, 19. 4. 1850, in: S T A M O P 265, Bl. 160; ebd. weitere Petitionen und Berichte zu der Bewegung von 1850; Potthoff, Einführung, enthält ein Referat dieser Quellen. Vgl. auch den pietistisch getönten Drohbrief an Delius, zit. bei Mooser, Rebellion, S. 82. Vgl. oben S. 174ff. 23 Vgl. STAD M l IU 539-544; Blotenberg, Gnadenfonds, S. lOOff. 24 Vgl. das Zitat oben S. 175. 25 Dipper, Bauernbefreiung, S. 163f. 26 LR Kr. Bielefeld, 6. 11. 1848, über den demokratischen Verein, in: STAD M l IP 361, Bl. 30. Soziale Zusammensetzung und Zahl der demokratischen Anhänger auf dem Land sind nur schwer zu erkennen, zumal die Beamten nur hämisch-vage über sie berichteten, wie ζ. B. der A m t m a n n von Dornberg: »eine große Zahl der Einwohner, fast lauter Nichtshaber, sind unter Rempels Fahne getreten, halten diesen für ihren Messias und politisieren von einem tausendjährigen Reiche« (Zeitungsbericht, 28. 9. 1848, in: STAD M 2 Bielefeld 418). Neben diesem Hinweis auf einen möglichen Chiliasmus darf man mit anderen Indizien wie dem oben S. 360 zit. demokratischen Verein »Mit Gott für das Wohl des Volks« (ein Antiname zu dem konservativen Verein »Mit Gott für König und Vaterland«) vermuten, daß es wie anderswo auch in Minden-Ravensberg spezifische Berührungen zwischen Demokratie und Religion gab, diejedoch noch dunkel sind. Ausführlich zu den Demokraten: Schulte, S. 218ff.; Ditt, S. 40ff.

456

Anmerkungen zu Seite 363—367 27 So der Amtmann von Heepen, 29. 3. 1848, in: ST AD M2 Bielefeld 418; die Bauern haben ihm zufolge die Mieten reduziert, die Löhne erhöht und »die alte Gewohnheit wieder eingeführt©, daß ihre Heuerlinge wieder Essen bekommen, wenn sie bei ihnen arbeiten«. Vgl. dagegen oben S. 360 zu den Forderungen der Heuerlinge im Amt Heepen! 28 Aufruf vom 2. 1. 1849, in: STAD M l IL 32; zu den (schwachen) Anfängen der »agrarischen Bewegung« 1848 in Westfalen vgl. Reif, Vereinswesen, S. 49f.; für die spätere Zeit vgl. ζ. B. die landbündische Schrift von H. Niehaus, Das Heuerleutesystem und die Heuerleutebewegung. Ein Beitrag zur Lösung der Heuerleutefrage, Quakenbrück 1924. 29 Wichtig dazu: Harnisch, Agrarpolitik, S. 108fF.; Reif, Vereinswesen, S. 50; ders., Adel, bes. S. 431 ff. 30 Die - freilich nicht überall gleich stark ausgeprägte - ländliche Klassenkonstellation berücksichtigt Dipper zu wenig, wenn er das auffällige Verschwinden der alten bäuerlichen Utopie der »adelsfreien Agrardemokratie mit königlichem Obereigentum« feststellt, aber sich nicht recht erklären kann, warum die Bauern diese Utopie aufgegeben haben. Dipper, Bauernbefreiung, S. 170 f. 31 Eingabe der Gemeindeverordneten von Valdorf und Exter (Kr. Herford) an die Rg. Minden, 9. 12. 1848, in: STAD M l IP 170 (mit 64 Unterschriften von »Eingesessenen«). Zum Kontext, der Amnestie für Holzdiebstähle vom Juni 1848, wodurch dieses Delikt »maßlos« zugenommen hat, vgl. Mooser, »Furcht«, S. 80. 32 LR Kr. Minden, 1. 5. 1848, in: STAD M l IP 533, Bl. 163 f. 33 Koselleck, Preußen, S. 587. 34 Nipperdey, S. 320. 35 Koselleck, Preußen, S. 637. 36 Die Verbrüderung. Correspondenzblatt aller deutscher Arbeiter, Nr. 4, 13. 10. 1848, S. 20. 37 So ein katholischer Autor 1841 in einer Polemik gegen die protestantische Schrift »Die conservative Partei in Deutschland«, die zur Gründung einer solchen pro-preußischen Partei aufrief. Der Rezensent wandte sich, mit Blick auf die Verfassungsprobleme, gegen das »bloße Beharren«: »Wir sind auf einem großen Wendepunkt der Zeiten angelangt, die keinen absoluten Stillstand, sondern eine richtige Lenkung der Bewegung fordern.« Anonym, Die conservative Partei in Deutschland, in: Historisch-Politische Blätter für das katholische Deutschland, Bd. 8, 1841, S. 705-21, Zitat S. 718; teilweise auch zit. bei Vierhaus, S. 548. 38 So die These von Tennstedt. 39 Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: MEW, Bd. 8, S. 117, 203. 40 Moore, S. 119ff. 41 Gute Darstellungen dieser stummen und zähen, oft unter dem irreführenden Etikett »Arbeiterbauern« firmierenden Arbeiter - da sie weniger proletarisierte Bauern, sondern mehr Nachfahren der besitzlosen Unterschicht sind, die Land erworben haben - finden sich bei Kaschuba u. Lipp; Steinbach; ein aufschlußreiches biographisches Dokument: Dunkmann.

457

Tabellarischer Anhang Anhang 1: Bevölkerungsentwicklung im Rgbz. Minden, 1763-1905 (Absolute Zahlen und Index) Jahr

Minden-Ravensberg

1763 1787 1802

112009 143549 160301

100 128 143

1818 1831 1837 1843 1846 1852

188102 217798 233227 253823 257684 266568

168 194 208 227 230 238

100 116 124 135 137 142

31588 34820 36346 39154 38917 40061

100 110 115 124 123 127

122899 138279 143014 154835 158905 164606

100 112 116 126 129 134

1861 1871 1885 1905

267148 276068 312829 443649

238 246 279 396

142 147 166 236

42537 41601 43696 57314

135 132 138 181

162460 155886 164048 186071

132 127 133 151

Kreis Wiedenbrück

Paderborner Land

(105000)

Quellen: Zusammengestellt und errechnet nach Reekers, Minden-Ravensberg, S. 122f. (17631802); dies., Westfalens Bevölkerung, S. 6ff. (1818,1843,1871,1885,1905); Gülich, Ackerbau, S. 156; Zeitungsbericht der Rg. Minden v. 7. 4. 1838, in: STAM OP 351, Bd. 6, Bl. 23 (1837); Klocke, Anhang 1 (1846); Tabellen u. amtliche Nachrichten über den preußischen Staat fur das Jahr 1852, Berlin 1855, S. 66 (1852); Preußische Statistik, Bd. 5,1864, S. 256ff. (1861). DieZahl in Klammer für das Paderborner Land im Jahre 1802 ist geschätzt; vgl. Reekers, Paderborn, S. 159.

458

Anhang 2: Faktoren der Bevölkerungsentwicklung in den Rgbz. Minden und Münster, 1816-1874 1816-28

1829-40

1841-55

1856-71

1872-74

1. Heiratsziffer (Zahl der Eheschließungen pro 1000 Ew.) Minden 9,72 9,59 8,18 Münster 7,75 7,85 7,38

8,07 7,34

9,58 9,12

2. Geburtenziffer (Zahl der Geborenen pro 1000 Ew.) Minden 41,99 41,62 38,01 Münster 31,11 29,99 29,49

36,48 29,96

38,61 33,49

3. Fruchtbarkeitsziffer (Zahl der Geburten auf 1000 Frauen im Alter zwischen 14 und 45Jahren) Minden 189,4 186,1 163,6 156,6 170,4 Münster 132,8 124,6 123,2 127,3 148,8 4. Sterblichkeitsziffer (Zahl der Gestorbenen pro 1000 Ew.) Minden 27,93 30,76 27,94 Münster 23,51 25,37 24,01

29,29 24,33

29,36 26,87

5. Kindersterblichkeit (Zahl der gestorbenen Kinder pro 1000 Knaben/Mädchen im Alter bis zu 5 Jahren) Minden Knaben 76,25 86,79 77,67 79,66 93,68 Mädchen 67,54 77,22 69,18 70,16 84,04 Münster

Knaben Mädchen

59,91 51,15

65,68 57,51

62,00 55,48

71,22 62,30

82,44 70,96

Quelle: Fircks, S. 138, 20, 27, 53, 58.

459

Anhang 3: Faktoren der Bevölkerungsentwicklung in Minden-Ravensberg und Paderborn im späten 18. und 19. Jahrhundert a) Minden-Ravensberg-Tecklenburg-Lingen,

1780-1805

Eheschließungen pro 1000 Ew. Geburten pro 1000 Ew. Gestorbene pro 1000 Ew.

1780/89

1790/99

1800/05

9,6 40,5 31,8

9,4 40,8 31,6

9,4 41,5 31,7

Quelle: Errechnet nach O . Behre, Geschichte der Statistik in Brandenburg-Preußen bis zur Gründung des Königlichen Statistischen Bureaus, Berlin 1905, S. 450, 460.

b) Vergleich zwischen Minden-Ravensberg/Kr. 1862/64 (durchschnittlich jährlich)

Wiedenbrück und Paderborn, 1820/34 und

Minden-Ravensberg/ Wiedenbrück 1820/34 1862/64 Eheschließg. pro 1000 Ew. Geburten pro 1000 Ew. Gestorbene pro 1000 Ew. Uneheliche Geburten (% aller Geburten)

9,9 43,0 27,7 5,2

8,2 35,5 25,2 5,3

Paderborner Land 1820/34 1862/64 8,8 39,5 28,2 5,7

7,3 35,5 26,4 7,5

Quellen: Hoffmann, Darstellung, S. 97ff., 152ff., 202ff. (für 1820/34); Preußische Statistik, Bd. 10, 1867, S. 191 f. (für 1862/64).

c) Geburten pro 1000 Ew. in den ravensbergischen Kreisen, 1818-1843 Kreis

1818

1825

1834

1837

1843

Bünde/Herford* Halle Bielefeld

43,4 37,9 40,5

50,9 40,9 47,1

51,1 41,7 51,0

48,4 40,5 47,3

(33,2) 43,4

?

* Bis 1825 Kr. Bünde, dann Kr. Herford. Quellen: Geburtenzahlen nach den Veröffentlichungen in: Öff. Anz. Rav., 1828, S. 84; ebd., 1829, S. 172; ebd., 1839, S. 296f.; ebd., 1846, S. 169. Zahl in Klammern für Kr. Halle 1843: Zivilstandsregister der evangelischen Kirche für das Jahr 1844, in: STAD M l IIA 53. Die zugrunde liegenden Bevölkerungszahlen nach: Reekers u. Schulz, S. 3ff. (1818/43); Zeitungsbericht der Rg. Minden, 7. 7. 1826, in: S T A M O P 351, Bd. 3, Bl. 52 (1825); Bericht der Rg. Minden, 16. 3.1837, in: STAD Μ 1 IE 2406 (1834); Zeitungsbericht der Rg. Minden, 7.4.1838, in: STAM O P , Bd. 6, Bl. 23 (1837).

460

Anhang 4: Männliches Heiratsalter nach Altersgruppen (in%) in den Kreisen Herford, Warburg u n d H ö x t e r , 1 8 4 0 - 4 2 u n d 1 8 5 4 - 5 6 Altersgruppe

Unterschichten 1840/42 1854/56

Mittel- u. Oberschichten 1840/42 1854/56

Kreis H e r f o r d unter 24 24-30 über 3 0

21,4 45,5 33,1

12,6 50,4 37,0

12,9 51,1 35,5

8,4 45,7 45,7

Kreis Warburg unter 24 24-30 über 3 0

5,0 47,7 47,2

4,8 43,8 51,2

4,0 42,7 53,3

4,2 36,2 60,0

Kreis H ö x t e r unter 24 24-30 über 3 0

4,6 47,6 47,8

4,2 45,9 49,8

1,9 45,3 52,8

4,7 34,4 60,9

Legende: Als Unterschichten wurden nach der zeitüblichen Terminologie die »Handarbeiter« eingruppiert, d. h. »kleine Handwerker, Gesellen, Fabrik- und sonstige Tagearbeiter, Inlieger und kleine Ansiedler auf dem Lande und dergleichen«. Alle anderen sozialen Gruppen wurden zusammengefaßt zu »den anderen Bevölkerungsklassen«, hier: Mittel-und Oberschichten. Die Zahlen gründen auf landrätlichen Erhebungen aus den Kirchenbüchern sämtlicher Gemeinden der jeweiligen Kreise. Den Prozentangaben liegen folgende Eheschließungsfälle zugrunde (jeweils für 1840/42 und 1854/56): Kr. Herford: Für Unterschichten 1193 bzw. 895, fur Mittel- und Oberschichten 641 bzw. 507 Fälle. Kr. Warburg: Für Unterschichten 511 bzw. 477, für Mittel- und Oberschichten 225 bzw. 235 Fälle. Kr. Höxter: Für Unterschichten 1172 bzw. 973, fur Mittel- und Oberschichten 106 bzw. 128 Fälle. Quellen: Kreisarchiv Herford, Nr. 206; ST A D Μ 1 IP 974.

461

Anhang 5: Martini-Marktpreise fur 1 Berliner Scheffel Roggen, Durchschnitte für Minden-Ravensberg, 1765-1850 Jahr

g.Gr. Pf.

Jahr

g.Gr. Pf.

Jahr

Sgr. Pf.

1765 66 67 68 69 70

34.8 29.9 26.3 27.7 27.4 37.4

1801 02 03 04 05

51.2 62.1 50.3 74.7 74.8

1816 17 18 19 20

100.5 95.9 65.3 49.6 37.2

1771 72 73 74 75

52,38.8 29.9 37.4 39.4

1806 07 08 09 10

67.3 39.9 44.5 41.9 31.5

1821 22 23 24 25

47.1 35.3 29.5 16.10 22.2

1776 77 78 79 80

24.5 24.5 30.25.30.10

1811 12 13 14 15

39.51.5 44.4 41.3 46.2

1826 27 28 29 30

38.7 48.5 47.1 45.11 72.9

1781 82 83 84 85

31.31.10 32.7 27.6 30.8

1831 32 33 34 35

54.10 41.31.1 33.4 33.3

1786 87 88 89 90

33.1 33.10 31.4 .44.32.2

1836 37 38 39 40

33.11 34.4 50.1 47.7 48.6

1791 92 93 94 95

32,43.46.9 42.45.4

1841 42 43 44 45

45.5 54.4 48.8 47.7 47.7

1796 97 98 99 1800

39.8 36.44,48.4 44.9

1846 47 48 49 50

88.9 46.3 28.9 27.6 53.9

Legende: 1 Sgr. =

g.Gr. = 12 Pf.

Quellen: Für 1765-1775: STAM KDK Minden I, 92; für die anderenjahre: Laer, Protoindustrialisierung, Anhang, Tabelle I X / X . Zugrunde liegen Durchschnitte aus den Preisen für die Städte Minden, Herford und Bielefeld. Laers Quellen: ST AD M l IU 258 und die Jahrgänge des ABM.

462

Anhang 6: Martini-Marktpreise fur 1 Paderborner bzw. Berliner Scheffel Roggen im Paderborner Land, 1765-1850 Jahr

Sgr.Pf.

Jahr

Sgr.Pf.

Jahr

Sgr.Pf.

1765 66 67 68 69 70

25.20,17.6 17.6 18.4 30,-

1796 97 98 99 1800

30.25.10 35.35.35,-

1826 27 28 29 30

27.6 33.6 33.4 31.3 57.2

1771 72 73 74 75

42.6 22.6 17.6 25,18.4

1801 02 03 04 05

45.10 60.40.60.60.-

1831 32 33

41.8 27.8 22.4

1776 77 78 79 80

15.4 16.8 19.2 15,23.4

1806 07 08 09 10

37.6 30,36.8 37.6 23.4

1832* 33 34 35

40.4 27.1 30.7 30.-

1781 82 83 84 85

18.4 2025,18.4 19.2

1811 12 13 14 15

40,37.6 30,35,33.6

1836 37 38 39 40

31.32.2 50.4 47.8 43.9

1786 87 88 89 90

26.8 23.4 21.8 37.6 25,-

1816 17 18 19 20

63.4 60.45,35.25.10

1841 42 43 44 45

33.52.2 56.5 48.8 65.3

1791 92 93 94 95

24.2 33.4 33.4 43.4 50,-

1821 22 23 24 25

31.8 30,18.4 10.9 17.6

1846 47 48 49 50

91.54.2 31.10 30.4 59.2

*) Ab 1832: Preisangaben fur Berliner Scheffel Legende: Der Paderbomer Scheffel mit 36,64 Liter Inhalt enthält ein Drittel weniger als der Berliner Scheffel mit 5 4 , % Liter (Henning, Bauernwirtschaft, S. 243). Quellen: Für 1765-1833: Meyer, Schuldenzustand, S. 62ff. Umrechnung der älteren Münzeinheiten durch Meyer. Für 1832-1850 errechnet aus den November-Preisen fur die vier Paderborner Kreise in: A B M 1832-1850. Der Martini- bzw. November-Preis galt als zuverlässigster Indikator für Preistendenzen (Engel, Getreidepreise, S. 266).

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